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Soziologie der Emotionen

Eine Einführung

1001
2002
978-3-8385-2359-0
UTB 

Mit der Bedeutung von Emotionen, Gefühlen und Leidenschaft für Individuum und Gesellschaft haben sich Soziologen seit jeher beschäftigt. Die Soziologie der Emotionen entstand jedoch erst Mitte der 80er Jahre in den USA. In diesem Lehrbuch zeichnet die Autorin die Rolle von Emotionen in den Werken europäischer und amerikanischer Klassiker nach (Simmel, Weber, Durkheim, Cooly, Sorokin, Parsons u.a.), stellt die neueren Forschungsansätze und -ergebnisse dar und beschreibt Funktion und Einfluss von Emotionen in ausgewählten Bereichen wie beispielsweise am Arbeitsplatz oder in der Politik.

<?page no="1"?> UTB 2359 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim · Basel Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien Verlag Barbara Budrich Opladen · Farmington Hills facultas.wuv Wien Wilhelm Fink München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen C. F. 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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2002 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Druck: Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> 5 Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Teil I Klassiker der Soziologie und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Europäische Klassiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Georg Simmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Treue und Dankbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Scham und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Die launischen Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Hass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Simmels Geometrie der Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Takt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Freundschaft und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Max Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Die Protestantische Ethik und die Angst vor Verdammung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Politik und »heiße Leidenschaft« . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Wissenschaft und »das Vollgefühl« . . . . . . . . . . . . . . . 54 Herrschaft und Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Emile Durkheim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Über soziale Arbeitsteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Selbstmord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Egoistischer Selbstmord: Die Abwehrkraft der Leidenschaft und der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Anomischer Selbstmord: Durkheims Theorie des Glücks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Morphologie der Selbstmordtypen und Emotionen . . 75 Kollektivempfindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Die elementaren Formen des religiösen Lebens . . . . . 83 <?page no="5"?> 6 2. Amerikanische Klassiker und Emotionen . . . . . . . . . . . . 90 Charles Horton Cooley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Pitrim A. Sorokin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Talcott Parsons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 3. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Teil II Soziologie der Emotionen heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2. Ausgewählte Ansätze und Forschungsgebiete . . . . . . . . 119 Emotionen im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Der Konstruktivistische Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Der Positivistische Ansatz Theodore Kempers . . . . . . 134 Kultur und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Geschichte der Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Soziale Struktur und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Blanker Neid, blinde Wut - Neckel zu sozialen Strukturen in Deutschland heute . . . . . . . . . 162 3. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Teil III Homo Sentiens - als Produzent, Konsument, Bürger . . . 173 1. Arbeit und Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Organisationen und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Der Mythos des Managers als Träger der Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Manager als emotional men. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Die Vorreiter der Soziologie der Emotionen . . . . . . . 179 Manager als Neurotiker und Schauspieler . . . . . . . . . 183 Manager in der öffentlichen Verwaltung . . . . . . . . . . 184 Manager in Unternehmen mit strong culture . . . . . . . 187 Whistleblowers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Die wahren Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 <?page no="6"?> 7 Die entlohnten Gefühle - Gefühlsarbeit und Gefühlsmanagement . . . . . . . . . . 200 Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 2. Geld und Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Simmel und seine Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Unruhe der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Sorge um die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Der Konsument als Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Der Konsument als König: Rational? . . . . . . . . . . . . 229 Der verunsicherte Konsument . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Geld zwischen Liebe und Abscheu . . . . . . . . . . . . . . 232 Geld und allerlei Besessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Geld und Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Schlussbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3. Politik und Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Staat und Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Die Massen und die Emotionen . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Fundamentalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Massen und Emotionen: Schlussfolgerung . . . . . . . . 296 Ein kurzer Exkurs zu Emotionen in Massenmedien . 297 4. Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 <?page no="7"?> 8 Dank Obwohl es im deutschen Kontext nicht üblich ist, kann ich dieses Buch nicht ohne eine ordentliche Danksagung erscheinen lassen. Ich möchte vor allem Herrn Manfred Müller, meinem Lektor, für die Betreuung danken. Er war von Anfang an davon überzeugt, dass man mit diesem Buch eine Wissenslücke in der deutschen Soziologie schließen könne. Für die äußerst angenehme Zusammenarbeit möchte ich auch der Lektorin des UVK, Frau Uta Preimesser, danken. Meine tiefe Dankbarkeit gilt auch Annelli Moll, die meinen Angriffen auf die deutsche Sprache fast ein Jahr lang schnell und fantasievoll begegnete. Stephan Bloße hat die letzten Sprachkorrekturen des gesamten Buches gewissenhaft und diskret durchgeführt. Jochen Kleres sprang einmal mit Korrekturen ein. Christopher Hutzsch hat fast alle Kapitel gelesen: Dank ihm sind viele Unklarheiten und Gedankensprünge verschwunden, und das Kapitel zu Parsons wurde neu geschrieben. Mit Wolfgang Fachs sehr willkommener Kritik konnte ich das letzte Kapitel besser gestalten. Das Buch hat von dieser Unterstützung nur profitiert. Die noch verbleibenden Fehler sind ganz mein. <?page no="8"?> 9 Einführung Dieses Buch ist gedacht als eine Einführung in die Soziologie der Emotionen. Es zeigt, wie facettenreich die Soziologie mit Emotionen umgeht und deren Ursachen und Wirkungen zu untersuchen vermag. Im ersten Teil des Buches kommen die europäischen Klassiker der Soziologie, wie Georg Simmel, Max Weber und Emile Durkheim, zu Wort. Simmels Sicht, dass diverse Emotionen Institutionen entstehen lassen, während Dankbarkeit und Treue sie zementieren, wird neben Durkheims konträrer Sicht präsentiert, dass nur stark integrierende Institutionen in der Lage sind, in uns starke, positive Emotionen hervorzurufen. Fehlen solche Institutionen durchströmen Sorge und Trauer die Gesellschaft. Nicht nur Simmels und Durkheims Umgang mit Emotionen, sondern auch Max Webers Vorliebe für Leidenschaft wird anhand mehrerer Texte in diesem Kapitel enthüllt und dokumentiert. Den Kenner der amerikanischen Soziologie wird nicht überraschen, dass Charles Horton Cooley Emotionen bei der Herausbildung der Identität, Pitrim A. Sorokin ihnen bei Unterscheidungen zwischen verschiedenen Kulturtypen und Talcott Parsons’ Emotionen bei Herausbildung und Aufrechterhaltung der Moral eine bedeutende Rolle zuschrieben. Im zweiten Buchteil wird die Entwicklung der Soziologie der Emotionen skizziert. Obwohl die Soziologie der Emotionen in den USA und England sehr stark vertreten ist, hat sie bisher in Deutschland nur wenige Befürworter gefunden. Ihr Anfang wird auf Mitte der 1970er Jahre datiert. 1975 erschienen bahnbrechende Texte von Arlie Hochschild und Randall Collins, die Emotionen ins Zentrum der Analyse stellten. Die interdisziplinäre International Society for Research on Emotions wurde 1984 gegründet. Die Etablierung einer Sektion für Soziologie der Emotionen beim amerikanischen Soziologieverband folgte 1986. Drei Jahre später entstand die Sektion für Soziologie der Emotionen beim englischen Soziologieverband. <?page no="9"?> 10 Anfangs faszinierten die Fragestellungen zum Zusammenspiel von Emotionen, Physiologie und Kognition, ob Emotionen als Sozial- oder Kulturprodukte zu verstehen sind und wie Emotionen die Interaktionen auf Mikroebene mit Makrostrukturen verbinden. Bei meiner Literaturübersicht lag mir jedoch viel daran, unterschiedliche Ansätze zu Emotionen zu schildern und einige Untersuchungsgebiete, wie »Kultur und Emotionen«, »Geschichte der Emotionen« und »Soziale Struktur und Emotionen«, vorzustellen. An den relevanten Stellen werden die angebotenen Mikro-Makro-Lösungen besprochen. Der dritte Buchteil bezieht sich noch deutlicher als der zweite auf die Gegenwart. Hier wird mit Hilfe zahlreicher - vor allem neuerer - Schriften, nach Emotionen am Arbeitsplatz, im Umgang mit Geld und im Bereich der Politik gefragt. Es stellt sich heraus, dass sowohl die Manager als auch die Arbeiter viel emotionaler mit der Arbeit, den Arbeitskollegen und dem Arbeitsplatz umgehen, als bis jetzt bekannt ist. Die Gefühle wie Angst, Empörung oder Demütigung, tragen dazu bei, dass diese Manager und Arbeiter nicht immer oder nicht länger dazu bereit sind, ihre offiziellen Rollen gut zu spielen. Humor sowie die nostalgischen und romantischen Bürogeschichten malen das Problematische am Arbeiten aus. Dem ähnlich zeigt die Forschung zu Geld und Gefühl, dass unser Umgang mit Geld von Emotionen sehr stark geprägt ist und das Geld für die meisten Erwachsenen eine immerwährende Quelle der Sorge ist. Mit Geld wird weder souverän noch rational umgegangen. Im Gegenteil, wie die empirische Forschung zeigt, fühlen sich die meisten Menschen beim Geldausgeben tief verunsichert. Ihr Umgang mit Geld ist dazu meist völlig irrational. Im letzten Kapitel, das sich mit „Politik und Gefühl beschäftigt, wird schließlich anhand vieler Beispiele gezeigt, dass die Politiker des westlichen Wohlfahrtsstaates Gefühle wie Scham oder Neid hervorrufen möchten, aber ein unintendiertes Gefühl, wie zum Beispiel Wut, erwecken. Ihre »realsozialistischen« Counterparts dagegen provozierten eine lange Reihe von meistens unintendierten, aber - aus Angst vor Repression - unterdrückten bzw. verborgenen Gefühlen. Die neuesten An- <?page no="10"?> 11 sätze zu Massenprotesten, die Massen als Boten der Freiheit porträtieren, vertiefen unser Verständnis dafür, dass die politischen Systeme bestimmte Gefühle in der Gesellschaft wachrufen, Gefühle wie Demütigung, Furcht, Langweile oder tiefe Sehnsucht nach Freiheit. Diese Gefühle und die Tatsache, dass sie im Alltag unterdrückt bzw. verborgen werden müssen, liefern Protesten ihren Sprengstoff. Der Protest offenbart diese Gefühle. *** In diesem Buch findet man viele unterschiedliche Definitionen von Emotionen. Unter den Klassikern spricht vor allem Max Weber Leidenschaft an. Für ihn hat die Leidenschaft - die für eine intensive, dauerhafte, zwingende, konstruktive Emotion steht - die Fähigkeit, das Individuum aufs Ziel zu richten und ihm dabei zu helfen, bei diesem Ziel zu bleiben, egal welche Hindernisse und Schwierigkeiten es dabei bewältigen muss. Für Weber ist die Leidenschaft die Hebamme der Rationalität. Georg Simmel dagegen interessiert das Subtile an vielen unterschiedlichen Gefühlen - Liebe, Hass, Neid, Eifersucht, Dankbarkeit, Treue usw. Seine Stärke ist, jedes Gefühl facettenreich zu beleuchten, es dabei zu definieren und von anderen Gefühlen abzugrenzen, um am Ende seine Funktionen für die Entstehung, Aufrechterhaltung und den Zerfall der Institutionen zu besprechen. Mehrere moderne Soziologen haben die Freud’sche Sicht der Emotionen übernommen - für sie haben Emotionen eine Signalfunktion. Sie informieren darüber, ob man in Gefahr ist, ob eine Begegnung mit anderen einem schlecht oder gut tut oder ob man durch die Interaktion Macht und Prestige gewonnen oder verloren hat. Andere moderne Soziologen interessieren sich nicht für die Funktionen der Emotionen, sondern viel mehr für ihre Ursachen, wie die Sozialisationsprozesse und die Massenkultur. Für sie stellen Emotionen Sozialisations- und Kulturprodukte dar. Zu untersuchen ist dann, wie sie vermittelt werden und wie sie von Individuen selektiv ausgewählt, verinnerlicht und auspro- <?page no="11"?> 12 biert werden. Für noch andere moderne Soziologen sind Gefühle nicht immer sichtbar oder artikulierbar. Die Kulturinstrumente, wie die Sprache, reichen eben nicht immer aus, um sie zum Ausdruck zu bringen. Das Staunen oder stummes Entsetzen sind die besten Beispiele dafür. Und im Gegenteil verlässt man sich auf die Sprache und andere Kulturkonventionen, um überwältigende Gefühle zu zähmen. Zu erfinden sind dann die Methoden, mit denen man solche höchst intensiven, aber nicht sichtbaren Emotionen trotzdem erforschen kann. Das Spannende an Emotionen ist, dass wir sie konstruieren, kommunizieren und körperlich spüren, aber auch dass sie uns überwältigen, uns preisgeben, uns paralysieren usw. Genauso spannend an Gefühlen aber ist, dass wir ihrer mächtig werden können, wenn wir die ungewünschten Gefühle verbergen, managen oder bewältigen. Dieses Buch zeigt, wie beides erforscht wird. *** Hinter diesem Buch steht eine grundlegende Überzeugung: Soziologie der Emotionen stellt eine neue Soziologie für neue Zeiten dar. Wir leben in einer Welt des sich verrenkenden Kapitalismus, dessen institutionelle Rahmenbedingungen zusammenbrechen und laufend umdefiniert werden. Weder Arbeitgeber noch der Wohlfahrtsstaat vermögen es, Arbeit und Sicherheit anzubieten. Die ganze Weber’sche Nachkriegssoziologie baut aber auf der Annahme auf, dass Individuen langfristig von Organisationen beschäftigt werden: Diese Arbeitsorganisationen bieten diesen Individuen eine Arbeitsstelle, stabile Einkommen und Karrieren an. Sie haben also Ressourcen, die es ihnen erlauben, die Interessen dieser Individuen zu strukturieren und auf sich zu richten. Zugleich bieten sie stabile Orientierungsrahmen an. Im Austausch dafür bekommen sie Leistung und Loyalität. Heute sind aber die Voraussetzungen dieses Modells am Verschwinden. Arbeitslosigkeit ist zur Stapelware geworden - auch für die gutausgebildeten, sozialen Schichten. Arbeitsorganisatio- <?page no="12"?> 13 nen können zu keinem sicheren individuellen Bezugspunkt werden. Sie können aus demselben Grund auch nicht Interessen und Orientierungen gestalten. Die Individuen werden viel mehr sich selbst überlassen, auf eigene Ressourcen gestellt. Da aber ihre Zukunft unsicher ist, kann diese Zukunft kaum stabile Interessen oder Orientierungen suggerieren. Dieser neue Zusammenhang sichert Emotionen einen viel größeren Spielraum zu. Bis Mitte der 1970er Jahren blieben die Wirtschaft und die Erwartungen - sowohl von Organisationen als auch von Individuen - stabil. Die Individuen konnten eine Normalbiographie mit drei Phasen - Schule, Arbeit, Ruhestand - erwarten. Heute gibt es die Normalbiographie nur noch selten. Die beschützende Routine schwindet. Man wird eher mit einem brüchigen Lebenslauf konfrontiert, an dem man selbst basteln muss. Wenn der Bruch ungewollt ist, ist er schmerzhaft und beängstigend. Wenn er aber den gewünschten Wechsel mit sich bringt, bereitet er Freude. Das emotionale Schaukeln wird zum ständigen Begleiter jeder »Bruchbiographie«. Wir leben in einer Welt der Staaten, multinationalen Unternehmen, internationalen Regimes und terroristischen Organisationen. Emotionen spielen eine enorme Rolle bei der Mobilisierung gegen diese Mächte. Wütende chinesische Studenten protestieren gegen ihre Regierung am Tiananmanplatz, Bürger und Studenten demonstrieren voller Verachtung gegen Slobodan Miloševi ´ c orthodoxe Muslime stürmen die amerikanische Botschaft im Iran, französische Bauern marschieren schreiend gegen die EU, traurige Spanier und Basken drängen auf die Straßen gegen die terroristische Baskenorganisation und wütende Konsumenten blockieren ESSO-Tankstellen. Tief betroffene, weinende Europäer sammeln sich nach dem terroristischen Attentat auf The World Trade Center und Pentagon am 11. September 2001. Andere traurige und wütende Europäer finden sich bald darauf zusammen, um gegen den amerikanisch-englischen Truppeneinsatz in Afghanistan zu demonstrieren etc. Man sieht noch viele andere Phänomene, die systematisch zur Emotionalisierung der Massen und zu emotionalen Ausbrüchen <?page no="13"?> 14 führen - die Ausländerfrage, die Prominenten (z.B. Prinzessin Dianas Tod), rechtsextreme Politik, Sport, Ernährung (z.B. Rinderwahnsinn! ) usw. - und die selten mit emotionssensiblen Instrumenten untersucht werden. Sogar die Familie - der Ort des Intimen - wird nur selten im Hinblick auf Emotionen untersucht; vor allem dann, wenn es zu spät ist und es bereits um Gewalt in der Familie geht. Die Soziologie der Emotionen bietet viele neue Ansätze, Untersuchungsinstrumente und Ergebnisse an. Wollen wir ewige Institutionen, wie Familie, in ihrem modernen Gewand oder neue Phänomene, wie die mobilisierten Massen, verstehen, dann sind wir gut damit beraten, einen Blick in die Werkzeugkiste der »Soziologie der Emotionen« zu werfen. Leipzig, Mai 2002 <?page no="14"?> 15 Teil I Klassiker der Soziologie und Emotionen Es wird oft festgestellt, dass die moderne Soziologie in der Abgrenzung von Ökonomie sowie Psychologie entstand. Es heißt, dass die Väter der Soziologie sowohl den Homo Oeconomicus als auch die Emotionen als soziologisch ungeeignete Untersuchungsgegenstände ablehnten. Wie der erste Teil des Buches aber zeigen wird, handelt es sich dabei wohl eher um einen Gründungsmythos. Max Weber hat in seinen wichtigen Schriften Emotionen einen zentralen Stellenwert eingeräumt. Wir finden sie in seiner Protestantischen Ethik, seinen Texten zu Politik und Wissenschaft als Beruf und in seinen Reflexionen über Herrschaft und Charisma. Ebenso schenkte Durkheim Emotionen in seinen Untersuchungen der unterschiedlichen Selbstmordtypen, der modernen Gesellschaft und den Religionen viel Aufmerksamkeit. Georg Simmel erarbeitete ebenfalls viele Studien, die sich ausschließlich mit Emotionen befassen. Er vertrat die These, dass Emotionen die Bindemittel der Gesellschaft sind und deshalb eine große gesellschaftliche und soziologische Bedeutung besitzen. Bekanntlich fand ein Ideenaustausch zwischen den drei Soziologen statt. Simmel war mit Marianne und Max Weber befreundet. Weber unterstützte seine Bemühungen, eine Professur in Deutschland zu bekommen. Durkheim verhalf ihm zu einer Professur in Strasbourg. All dies impliziert, dass weder Weber noch Durkheim eine soziologische Analyse der Emotionen grundsätzlich ablehnten. An dieser Stelle ist eine Vorbemerkung notwendig. Als ich mich mit den klassischen soziologischen Texten auseinandersetze, bemerkte ich bald, dass ich mit meiner Analyse aus der relativ neuen Perspektive der Soziologie der Emotionen in der mir zur Verfügung stehenden Zeit weder diesen Texten, noch deren Au- <?page no="15"?> 16 toren gerecht werden konnte. Jeder Klassiker verdient eine getrennte, intensive Studie seines Umgangs mit Emotionen. Trotz diverser Versuche stellen Emotionen in den klassischen Werken eine noch immer wenig untersuchte Forschungsnische dar. Nach einigen Überlegungen habe ich mich dafür entschieden, diese Forschungsnische anhand von zwei Auswahlkriterien vorzustellen. Der erste Teil des Buches präsentiert zum einen bruchstückhaft die Klassiker zu Emotionen, zum anderen einige bereits erforschte Themen auf diesem Gebiet. Da es mein zweites Ziel war, vor allem Interesse für diese Forschungsnische zu wecken, habe ich mir fast keine kritischen Randbemerkungen zu Inkonsistenzen in klassischen Texten erlaubt, auch wenn es sehr angebracht schien. Diese Aufgabe möchte ich der zukünftigen Forschung überlassen. 1. Europäische Klassiker Georg Simmel Verglichen mit anderen Vätern der Soziologie ist Simmels explizite Erkenntnis, dass Emotionen die Individuen facettenreich aneinander binden und sogar in der Entwicklung von dauerhaften Institutionen eine zentrale Rolle spielen, einzigartig. Aus Simmels Sicht gehören Emotionen, wie Liebe oder Hass, zur Natur des Menschen. Da die Emotionen Individuen aneinander binden, machen sie die Interaktionen, die er Wechselwirkungen nennt, erst möglich. Inhaltlich bestimmen sie auch die Formen, die diese Wechselwirkungen annehmen. Die Emotionen spielen deshalb eine sehr bedeutende Rolle in der Gesellschaft. Daraus folgt, dass man vor allem die bindenden Emotionen und ihre Bindungskraft untersuchen und beleuchten soll. Simmel verwirft die Idee, dass sich die Gesellschaft nur durch ihre Makrostrukturen offenbart. Er vertritt die These, dass die Liebe oder die Freundschaft, genauso wie die Arbeitsteilung oder Über- und Unterordnung, die Individuen aneinander binden <?page no="16"?> 17 und deshalb legitime Gegenstände der soziologischen Analyse darstellen (z.B. Simmel 1999: 291). Obwohl er sich in mehreren Aufsätzen fast ausschließlich auf Emotionen konzentriert, betont er immer wieder, dass die Individuen durch unzählige Fäden aneinander gebunden werden und dass sich die Soziologie deshalb für sowohl Emotionen als auch andere bindende Inhalte und Formen der Wechselwirkung interessieren muss. Aus Simmels Sicht schaffen Individuen die unterschiedlichsten Wechselwirkungsformen, auch dann, wenn sie ihren eigenen Emotionen und deren Logik folgen. Deshalb soll man versuchen, die Logik der Emotionen zu verstehen. Die Emotionen sind als Inhalte des Handelns genauso wichtig wie Triebe oder Eigeninteresse. Emotionen bewegen Individuen nicht nur dazu, Beziehungen miteinander einzugehen, sondern führen sie auch notwendigerweise zu neuen Emotionen, wenn sich bestimmte Wechselwirkungsformen herauskristallisieren. Es ist also wichtig, diese formschaffenden primären Emotionen und die Formen, die sie stiften, zu analysieren wie auch nachzuweisen, dass diese Formen zur Entstehung von sekundären Emotionen führen (Gerhards 1988; Nedelmann 1988). Simmel nennt Gefühle »individual-psychologische Motive« (z.B.: Simmel 1999: 651), obwohl er im Unterschied zu Psychologen ihre Logik, ihre sozialen Voraussetzungen und ihre soziale Wirkung untersucht. Im weiteren Kontrast zu Psychologen ist es Simmel wichtig, ihre bindende oder kontrollierende Kraft nachzuweisen. Man könnte also diese Bezeichnung als Ausdruck seiner Zeit verstehen und deshalb ignorieren. Oder man kann Simmel so interpretieren, dass er zwar Gefühle als das höchst Individuelle am Erleben sah, aber die Einsicht hatte, dass das höchst Individuelle die Fähigkeit hat, uns miteinander zu verbinden (z.B.: Simmel 1999: 658). Im Unterschied zu Interessen, die im besten Fall im glücklichen Nebeneinander bestehen, implizieren sogar die scheinbar negativsten Gefühle, wie Hass, das Miteinander. Emotionen implizieren, dass es uns z.B. um den Wohlstand, den Besitz oder um die Vernichtung des Anderen geht. <?page no="17"?> 18 Nicht nur seine Erkenntnis, dass bestimmte Emotionen, wie die Treue oder die Dankbarkeit, die Institutionen der Gesellschaft aufrecht erhalten und andere, wie das Taktgefühl, sie schützen, sondern auch seine Versuche, die Determinanten der Emotionen zu bestimmen, gehören zu dauerhaften Beiträgen zur allgemeinen Soziologie und auch zur Soziologie der Emotionen. Seine Versuche, die Bestimmung der Emotionen zu analysieren, sind in seiner Geometrie der Gefühle und in seiner Analyse des Hasses am deutlichsten sichtbar. In diesem Kapitel gebe ich zuerst Simmels Ideen zu auffallend bindenden Emotionen wieder. Dann wende ich mich seiner Analyse der Dyade und des Hasses zu, um die Simmel’schen Reflexionen zur Bestimmung und Wirkungen der Emotionen zu beleuchten. Treue und Dankbarkeit Diese zwei Emotionen haben eine außerordentliche Bedeutung, da sie in verschiedensten Wechselwirkungsformen - in Hierarchie wie auch unter den Gleichen, in Freundschaft wie auch in Feindschaft, in Familien wie auch in Staaten, in Liebesbeziehungen wie auch in Berufsgruppen - als Träger der Stabilität wirken (vgl. Nedelmann 1984: 99-101). Simmel behauptet, dass die menschliche Fähigkeit, Treue zu empfinden, »zu den apriorischen Bedingungen der Gesellschaft, zu denjenigen, die diese ... erst möglich machen [gehört] ...« (Simmel 1999: 655,658). Die Treue bindet erst dann, wenn das ursprüngliche Motiv der Beziehung verblasst. Sie garantiert, dass die Gesellschaft nicht zusammenbricht und dass ihre Institutionen eine gewisse Kontinuität besitzen: »Ohne die Erscheinung, die wir Treue nennen, würde die Gesellschaft überhaupt nicht in der gegebenen Weise irgend eine Zeit hindurch existieren können. Die Momente, die ihre Erhaltung tragen: Eigeninteresse... und Suggestion, Zwang und Idealismus, mechanische Gewohnheit und Pflichtgefühl, Lie- <?page no="18"?> 19 be und Trägheit - würden sie vor dem Auseinanderbrechen nicht bewahren können, wenn nicht alle durch das Moment der Treue ergänzt würden ... weil die Treue, in ihrer praktischen Wirkung, immer ein andres Gefühl ersetzt ...« (Simmel 1999: 652) »Es ist eine Tatsache von der größten soziologischen Wichtigkeit, daß unzählige Verhältnisse in ihrer soziologischen Strukturen ungeändert beharren, auch wenn das Gefühl oder praktische Veranlassung, die sie ursprünglich entstehen ließen, verschwunden sind ... Ohne dieses Beharrungsvermögen der einmal konstituierten Vergesellschaftungen würde die Gesellschaft als ganze in jedem Augenblick zusammenbrechen oder in unausdenkbarer Weise verändert werden.« (Simmel 1999: 653) Dank der Treue »erhält ein Verhältnis, das ein fluktuierender, fortwährend sich entwickelnder Lebensprozeß ist, eine relativ stabile, äußere Form« (Simmel 1999: 659). Die Treue stiftet eine Beziehung nicht, sie trägt nur zu ihrer Aufrechterhaltung bei. Sie ist angesichts des fluktuierenden Charakters des inneren Lebens von zentraler Bedeutung, da sie eine Brücke zwischen dem Individuum und der Gesellschaft in Form von Institutionen spannt. Die Dankbarkeit ist »das subjektive Residuum des Aktes des Empfangens oder auch des Hingebens« (Simmel 1999: 662). Sie spielt eine genauso wichtige Rolle in der Gesellschaft wie die Treue. In unzähligen Beziehungen ist es unmöglich, Äquivalente gegeneinander zu tauschen. Die Dankbarkeit wird als Ergänzung des Ausgetauschten dort eingesetzt, wo das Äquivalent fehlt. Sie verhilft den Austauschpartnern zu einer balancierten Austauschbeziehung, wo kein Zwang und/ oder Recht diese garantiert (Simmel 1999: 661). Die Dankbarkeit ergänzt das Recht so, wie es früher Ehre tat. Die Dankbarkeit spüren wir auch für eine Tat oder hinsichtlich außergewöhnlichen Personen. Wir sind ihnen dankbar, »bloß weil sie da sind, weil wir sie erleben« (Simmel 1999: 664). <?page no="19"?> 20 Die feinsten Beziehungen entwickeln sich aus dieser Art Dankbarkeit, die an keinen Austausch gebunden ist. Die Dankbarkeit ist »das moralische Gedächtnis der Menschheit«, das das Potential neuer Handlungen und neuer Annäherungen in sich trägt (Simmel 1999: 662). Der Treue ähnlich steht die Dankbarkeit für »ein ideelles Fortleben einer Beziehung, auch nachdem sie etwa längst abgebrochen, und der Aktus des Gebens und Empfangens längst abgeschlossen ist. Obgleich die Dankbarkeit ein rein personaler oder, wenn man will, lyrischer Affekt ist, so wird sie, durch ihr tausendfaches Hin- und Herweben innerhalb der Gesellschaft, zu einem ihrer stärksten Bindemittel ...« (Simmel 1999: 663). Ohne Dankbarkeit würde die Gesellschaft auseinander fallen. Zu bedenken ist allerdings, dass solange eine Gabe freiwillig ist, wir sie mit keiner Leistung völlig erwidern können und deshalb zu Dankbarkeit verpflichtet bleiben, d.h. unfrei sind (Simmel 1999: 667-668). Die Erwiderung löst die so entstandene Bindung nicht, ebenso wenig wie das Gefühl, das man mit keinem Äquivalent erwidern kann. Wenn man auf Unabhängigkeit Wert legt, findet man eine Gabe deshalb störend. Weil die Dankbarkeit nie völlig nachlässt, bleibt man an andere auch gegen den eigenen Willen gebunden. Auf diese Weise trägt die Dankbarkeit entscheidend zur Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen bei: »Dies eigentümlich Unlösbare der Dankbarkeit, das selbst bei der Erwiderung mit gleicher oder größerer Gegengabe einen Rest läßt ... läßt die Dankbarkeit als ein ebenso feines wie festes Band zwischen den Menschen erscheinen. In jedem irgendwie dauernden Verhältnis erwachsen tausend Dankgelegenheiten, von denen auch die flüchtigsten ihren Beitrag zu der gegenseitigen Bindung nicht verloren gehen lassen ... sie gehört zu jenen gleichsam mikroskopischen, aber unendlich zähen Fäden, die ein Element der Gesellschaft an das andre und dadurch schließlich alle zu einem formfesten Gesamtleben aneinanderhalten.« (Simmel 1999: 670) <?page no="20"?> 21 Scham und Moral Die Scham stellt genauso wie die Treue und die Dankbarkeit eine sehr wichtige Emotion dar. Später stufte Talcott Parsons die Scham explizit als allmächtiges Instrument der sozialen Kontrolle ein. Er war mit Simmels Soziologie vertraut und hatte ursprünglich die Absicht in The Structure of Social Action auch Simmel ein Kapitel zu widmen - er hatte sogar den ersten Entwurf des Kapitels bereits geschrieben (Frisby 1981: 3). Es ist deshalb höchst wahrscheinlich, dass er die Assoziation zwischen der Scham und der Moral von Simmel kannte. In Simmels Formulierung spürt der Einzelne Scham, wenn er das Gefühl hat, dass er eine Norm verletzt hat (vgl. Neckel 1991: 81-106). Andere Personen können dieses Gefühl in uns hervorrufen, sowohl durch Lob als auch durch Tadel an uns. Das Schamgefühl ist an die »parlamentarische Repräsentation der sozialen Gruppe in uns selbst« gebunden und setzt ein »ganz selbständige[s], für sich verantwortliche[s] Ich« voraus (Simmel 1992: 145,147): »Indem man sich schämt, fühlt man das eigene Ich in der Aufmerksamkeit anderer hervorgehoben und zugleich, daß diese Hervorhebung mit der Verletzung irgendeiner Norm (sachlichen, sittlichen, konventionellen, personalen) verbunden ist... Der gefühlte Gegensatz zwischen unserer Subjektivität gegen eine Norm [verwirklicht sich] auf unübersehbar viele Arten. Eine moralische Verschuldung, die uns vorgehalten wird, macht eine solche Divergenz wohl anders, aber nicht mehr sichtbar als ein Lob, das wir nicht oder wenigstens nicht ganz zu verdienen glauben.« (Simmel 1992: 141) Das Schamgefühl ist mit Moral eng verbunden. Es ist ihre ausschlaggebende Voraussetzung. Simmel unterscheidet zwischen gesellschaftlichen und höchst personalen Normen, die verletzt werden und zur Scham führen können. Er impliziert, dass uns <?page no="21"?> 22 diese schamerweckenden Normverletzungen dazu bringen, uns moralisch zu benehmen. In Simmels Analyse der Scham kommen drei Komponenten ins Spiel: zuerst mein Selbstideal, dann was ich über mich selbst im Lichte dieses Ideals denke und fühle, und natürlich was andere von mir halten. Auch ohne die Anwesenheit anderer kann ich Scham fühlen, wenn ich mir überlege, wie weit entfernt mein Selbst von meinem Ideal ist. Was die Auswertungen von anderen, d.h. Lob oder Tadel, in uns ansprechen, sind unsere eigenen Einschätzungen von uns selbst. Ein Kompliment oder eine Geste richtet unsere ganze Aufmerksamkeit auf unsere eigene Person. Unser Selbst dringt plötzlich in unser Bewusstsein, wir werden uns des Kontrastes zwischen unserem Selbstideal und unserem Selbst bewusst, so wie wir bzw. unsere soziale Gruppe es sehen und empfinden (Simmel 1992: 141 - 144). Aus Sicht unseres Ideals ist unser Selbst nie perfekt. Ein Kompliment, eine positive Rückmeldung oder eine Geste machen uns diese Diskrepanz zwischen dem Ideal und dem Selbst bewusst. Wir erleben Scham, weil wir als normative und sozial kompetente Personen unsere Mängel nun bewusst wahrnehmen. Und es gibt noch einen Grund für das Schamgefühl. Er liegt in der umgekehrten Divergenz zwischen dem partiell anerkannten und dem ganzen Selbst. Das partiell anerkannte Selbst verdient vielleicht Tadel oder Mitleid, aber, unserer Meinung nach, reflektiert es nur inadäquat das ganze Selbst. Ob Lob oder Tadel nun angemessen sind oder nicht, die Konsequenzen sind die gleichen. Ein Teil von uns wird mit dem Ganzen konfrontiert, und wir leiden unter diesem Kontrast. Aus Simmels Perspektive stellt das Individuum mit seinem »Seinsollen« und seinem Schamgefühl eine prinzipiell unabhängige Quelle der Moral dar. Unter bestimmten Bedingungen kann die soziale Gruppe die Quelle des moralischen Verfalls des Einzelnen werden. Politische Ämter oder soziale Gruppen, die nach dem Prinzip der anonymen, kollektiven Verantwortung leben und das selbstständige, verantwortliche »Ich« unterminieren, ver- <?page no="22"?> 23 hindern, dass der Einzelne seinem moralischen, besseren Selbst treu bleibt (Simmel 1992: 147 - 148; 112 - 113): »Die Tatsache, daß unsere Ideale und Normen so oft aus den realen Beziehungen und Verhaltungsweisen der sozialen Gruppe gezogen sind, streicht vielfach, sobald wir uns mit einer Gruppe solidarisch fühlen, den Gegensatz zwischen unserem Sein und unserem Seinsollen aus. Dies ist ein so rein formal-soziologisches Geschehnis, daß es von der bloßen Tatsache eines Gruppenwillens oder einer Gruppenkraft, die uns einschließen, ausgeht, oft ganz gleichgültig dagegen, ob diese Gruppe eigentlich berechtigt ist, für unsere Ideale zu vikariieren. So verneint das Befaßtsein in einer Gruppenaktion von beiden Seiten her die Voraussetzungen des Schamgefühls: sowohl die Selbständigkeit, das Befaßtsein in eigener, individuell begrenzter Sphäre, wie die Bildung der normierenden Vorstellung; ohne die eine kann es nicht zu der Betonung, ohne die andere nicht zu der Herabdrückung des Ich kommen.« (Simmel 1992: 147) Weiterhin hat das moralische Selbst keine Chance unter der Tyrannei der Mehrheit oder in korrupten Seilschaften, die sich selbst das Individuum unterordnen und die seine Privatsphäre vernichten. Wie uns die post-simmel’schen Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts gelehrt haben, hat das moralische Selbst auch nur geringe Entfaltungschancen in totalitären politischen Systemen. Simmels Analyse verdeutlicht, wie wichtig Takt für die Aufrechterhaltung des »Ich« und deshalb für die Moral und die gesamte Gesellschaft ist. Takt wird von ihm definiert als Respekt für die Privatsphäre des Anderen (s. unten). Dieser Respekt äußert sich in einer sensiblen, situations- und beziehungsbedingten Distanzeinhaltung den anderen gegenüber. Simmel behauptet, dass es in vielen Gesellschaften so etwas wie ein Schutzrecht der Privatsphäre gibt. Wenn die erforderliche Distanz nicht eingehalten wird, ist die Gefahr groß, dass der persönliche Wert des Individuums, die Sphäre seiner unbedingten Lebensinhalte, die es <?page no="23"?> 24 kennzeichnen, zerstört wird. Die Verbindung zwischen sozialen Gruppen, die sich von dem Prinzip der kollektiven Verantwortung treiben lassen und dem Individuum keine Autonomie einräumen, und Gesellschaften, die keinen Respekt und kein Taktgefühl für die Privatsphäre des Individuums zeigen, ist auffallend. Wo die Kollektivmoral vorherrscht und die Privatsphäre so gut wie vernichtet ist, gibt es für das Schamgefühl und für die Moral des Einzelnen keinen Platz. Das Individuum wird ausschließlich von der Gruppenmoral geleitet. In Gesellschaften, die das Prinzip der Selbstverantwortung des Einzelnen anerkennen, ist Scham aber auch nur begrenzt wirksam. Sie ist unter Bekannten, aber nicht in engen Beziehungen oder unter Fremden möglich. Die Scham bringt uns derjenige, der »uns weder völlig fern noch völlig nah steht« (Simmel 1992: 145). Enge und dauerhafte Beziehungen sind ja mit umfassendem Wissen über den anderen und mit Solidarität verbunden. Eine einzelne Handlung ist nicht in der Lage, das gesamte Bild unseres Freundes oder Geliebten gleich zu verändern. Sie stellt die ganze Person noch nicht infrage. Und wir wissen es. Bei Fremden ist es uns so gut wie egal, was sie von uns halten. Da sie für unser Leben, unser Selbstbild und unsere Selbstachtung keine Bedeutung haben, fällt es uns leicht, ihre Reaktionen auf unsere Handlungen zu ignorieren. Anders ist es bei Bekannten oder Kollegen und Kolleginnen. Da wir mit ihnen nicht so umfassend zu tun haben, kann ihr Bild von uns von einer einzelnen Geste oder Bemerkung abhängig sein. In einer interaktiven Situation können wir nur einige unserer Eigenschaften zeigen. Oder wir spielen eine bestimmte soziale Rolle, die nur einen Teil unserer gesamten Person widerspiegelt. Deshalb kennen Bekannte nicht unsere ganze Persönlichkeit. Wir können sie nicht so leicht wie Fremde ignorieren, die wir nie wieder sehen werden. Zumindest kurzfristig, in einer interaktiven Situation, werden Bekannte für uns zu einem Spiegel. Wir merken uns, wenn auch nur für kurze Zeit, ihre Beurteilungen, selbst wenn sie nur auf einer Facette unserer Persönlichkeit basieren. <?page no="24"?> 25 Dies impliziert, dass eine gewisse soziale Distanz notwendig ist, um die Distanzierung zum eigenen »Ich«, die eine Voraussetzung für das Schamgefühl ist, zu erreichen. Moral kann sich weder in engen Beziehungen noch unter den Fremden, weder zu Hause noch in Metropolen stark entfalten. Das hieße also, dass Bekanntenkreise eine wichtige, obwohl selten verstandene oder geschätzte, Rolle als Wächter der Gesellschaftsmoral spielen. Nur sie rufen stark Moral und Scham hervor. Die launischen Gefühle Simmel ist der Ansicht, dass Emotionen unsere uralten Bedürfnisse oder Triebe darstellen; unser Bedürfnis nach Liebe und Hass ist so mächtig, dass sich diese Gefühle äußern müssen - ihre Objekte werden häufig vom Zufall bestimmt (Simmel 1999: 297 - 301,303). Simmel glaubt, und mit ihm bis heute viele Sozialwissenschaftler, dass die Menschen nie ihre Gefühle kontrollieren können. Mit der wichtigen Ausnahme der Treue oder Dankbarkeit seien die Gefühle instabil und würden Individuen unberechenbar machen. Gefühle sind in ihrer Unvorhersehbarkeit und Eigendynamik mit dem Wetter vergleichbar: »Gefühle [kommen über uns] wie Regen und Sonnenschein und ohne dass unser Wille über ihr Kommen und Gehen Herr wäre« (Simmel 1999: 658). Die Gefühle interagieren auf unterschiedlichste Weise miteinander - ein wichtiger Grund, warum sie so dynamisch und unvorhersehbar bleiben. Unsere Gefühle stellen sich fast immer in vielfacher Form ein. Gefühle können komplementär sein (Nedelmann 1988: 28). Dies trifft zu, wenn wir eine Person lieben und bewundern oder Scham und Taktgefühl stark empfinden. Aber es passiert ebenso häufig, dass die Gefühle antagonistisch sind. Liebe und Hass zur gleichen Person können nebeneinander in uns leben. Außerdem werden unsere Gefühle von anderen Gefühlen entweder verstärkt oder zerstört. Liebe kann durch Bewunderung und Hass kann durch Eifersucht verstärkt werden. Liebe kann aber auch durch Misstrauen und Neid zerstört werden. <?page no="25"?> 26 Gerhards betont, dass Simmel primäre von sekundären Gefühlen unterscheidet (Gerhards 1988: 43 - 47). Die Primären sind für eine Beziehung konstitutiv. Die Sekundären sind Ergebnisse einer Beziehung. Liebe oder Freundschaft sind die besten Beispiele für primäre Gefühle, weil sie einander völlig unbekannte Personen zusammenführen können. Die moderne, romantische Liebe ist eine Voraussetzung für die moderne Ehe, aber auch dafür, dass diese Ehe zerbricht, da sie der Romantik nicht gewachsen sein kann. Hass, der sich aus der Liebesbeziehung oder Freundschaft entwickelt, ist ein gutes Beispiel für sekundäre Gefühle. Man kann typische Mischgefühle oder Mischverhältnisse voneinander unterscheiden: gleichzeitige Sympathie-Antipathie; Liebe-Angst; Loyalität, Widerstand, Wettbewerb; Hass-Schuld usw. (z. B. Simmel 1999: 291 - 293, 298 - 299). Unsere Gefühle, wie ich schon erwähnte, bleiben nicht stabil. Extrem widersprüchliche Gefühle können sich nacheinander ablösen. Aversion kann sich in Liebe und Liebe in Aversion verwandeln. Simmel sprach auch von typischen, sich mit der Zeit entfaltenden Gefühlssequenzen, wie z.B. Liebe, Hass, Schuld. Was an diesen Mischgefühlen und Gefühlssequenzen schwer handhabbar ist, ist gerade ihre subjektiv empfundene inhaltliche Inkompatibilität, die uns belastet oder beunruhigt. Simmel hat sich nicht dazu geäußert (dazu s. Kapitel »Arbeit und Gefühl« zu Hochschilds »Gefühlsmanagement«). Obwohl Simmel den launischen Charakter der Gefühle erkennt, versucht er trotzdem die Determinanten der Gefühle zu bestimmen. Zwei Beispiele werden hier kurz vorgestellt: Seine Analyse des Hasses, die in seinem Der Streit zu finden ist, und seine Analyse der Intimität, die in seiner Quantitativen Bestimmtheit der Gruppe angesiedelt ist. Hass Für die post-parsons’sche Generation der Soziologen war Simmels wohl bekannteste These, dass der Streit positive Funktionen hat. Lewis Coser, der in seinem Buch The Functions of Social Con- <?page no="26"?> 27 flict Simmel, seine Thesen und eigene Reflexionen vorstellte, hat - sich auf Simmel berufend - einer der Grundannahmen der Nachkriegssoziologie, dass sozialer Konflikt und Opposition für die Gesellschaft nur schädlich sind, vehement widersprochen. Er hat mit seinem Buch den Weg für die Konfliktsoziologie gebahnt. Aufgrund des historisch-wissenschaftlichen Kontextes liegt der Akzent in seiner Interpretation, genauso wie in Kurt H. Wolffs Übersetzung von Simmels Der Streit, auf den Funktionen des Konflikts. Dagegen werden, sicher nicht unerwartet, in meiner kurzen Darstellung des Aufsatzes Simmels Emotionen betont. Der Streit verdeutlicht die gegenseitige Beeinflussung von Emotionen und Wechselwirkungsformen. Wie es ebenfalls bei seiner Analyse anderer Emotionen der Fall ist, stellt sich Simmel erneut die Aufgabe zu zeigen, dass Emotionen die Individuen aneinander binden, sogar solch negative Gefühle wie Hass, Neid oder Eifersucht. Seine Hauptthese besagt: Der Hass ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit und drückt sowohl die gegenseitige Anerkennung der Beteiligten als auch ihre antagonistische Einheit aus. Nur in seinen extremen, regellosen Ausdrucksformen ist er destruktiv. Simmels Erkenntnisinteresse liegt im Wettbewerb, in einem geregelten, normierten, friedlicheren Konfliktverfahren, das in der Lage ist, die Konflikte zu entemotionalisieren und ihnen einen gesellschaftlichen Wert zu verleihen. In Der Streit stellt Simmel fest, dass der Kampf (in diesem Text: Konflikt) soziale Kollektive und Organisationen konstituiert und modifiziert (Simmel 1999: 284). Obwohl die dissoziativen Ursachen des Konfliktes solche Emotionen wie Hass und Neid, Not und Begierde, sind, stellt der Konflikt selbst eine Überwindungsformel dar, sobald er Regeln unterworfen wird (Simmel 1999: 296 - 297). In dem Konflikt werden zwei antagonistische Parteien vereint: »Der Kampf selbst ist schon die Auslösung der Spannung zwischen den Gegensätzen; daß er auf den Frieden ausgeht, ist nur ein einzelner, besonders naheliegender Ausdruck dafür, <?page no="27"?> 28 daß er eine Synthese von Elementen ist, ein Gegeneinander, das mit dem Füreinander unter einen höheren Begriff gehört.« (Simmel 1999: 282) Feindseligkeit verleiht sozialen Gruppen ihre scharfen Grenzen, positioniert sie gegenseitig und ist in diesem Sinne direkt produktiv. Mit Feindseligkeit gewinnt die andere Gruppe Relevanz und Signifikanz. Sie ist nicht mehr gleichgültig. Deshalb werden Feindseligkeit und ihre Äußerungen häufig bewusst gezüchtet. Beide Gruppen werden durch die gegenseitige Feindseligkeit zu zwei gegensätzlichen Teilen einer Einheit. Oppositioneller Konflikt ist eine Funktion des Verhältnisses, unter dem wir leiden, und tritt zugleich als ein Mittel auf, es zu retten: Der Konflikt gibt uns ein Gefühl, nicht völlig unterdrückt zu sein (Simmel 1999: 290,289). Er ist ein notwendiges Element des Verhältnisses selbst. Bei sehr oberflächlichen Beziehungen spielt »die Aversion, das Gefühl einer gegenseitigen Fremdheit und Abstoßung« eine ähnliche Rolle (Simmel 1999: 290). Unter den Fremden ist Gleichgültigkeit und nicht der Hass das typische Gefühl. Ohne eine konstante und nuancierte Abwechslung zwischen verschiedenen Stufen der Sympathie, Aversion, Antipathie und einer viel selteneren Gleichgültigkeit - Emotionen, die die Vorstufen des Antagonismus sind und uns Distanzierung und Abwendungen erlauben - wäre beispielsweise das moderne Leben unter den Fremden in einer Metropole unmöglich, da es sehr schnell in Konflikten, in unkontrollierten Ausbrüchen der Feindseligkeit enden würde. Der Konflikt hat sehr viele unterschiedliche Inhalte und Hintergründe; wir finden ihn in intimen Beziehungen, zwischen Verbänden oder politischen Parteien, zwischen Völkern. Deshalb ist es sehr wichtig seine Ursachen, Formen und seine Beendigung zu verstehen. Im Allgemeinen lässt sich argumentieren, dass sich Divergenz und Harmonie, Hass und Sympathie, Opposition und Loyalität miteinander mischen und ihre Mischungen den Inhalt der sozialen Einheit bedingen (Simmel 1999: 291 - 298). Was Feindselig- <?page no="28"?> 29 keit betrifft: Wenn sie in einer Einheit vorherrscht, ihr aber Grenzen oder Regeln gesetzt werden, die zur Loyalität oder Solidarität führen, haben wir es mit einem Grenzfall zu tun. Der andere Grenzfall ist, wenn sich die Kampflust, die durch »Haben- oder Herrschenwollen, Zorn oder Rache ...« verursacht wurde, frei entfalten kann und zum ständigen Kampf führt (Simmel 1999: 297). Simmel betont, dass wenn die Streit- oder Zusammenlebensformen uns auferlegt werden, sie die Entwicklung von formentsprechenden Emotionen bedingen (Simmel 1999: 305,307). Wo die Streitformen unreguliert bleiben, werden die Objekte des Konflikts scheinbar willkürlich ausgewählt und starke negative Emotionen an den Gegner gerichtet, auch wo sie ursprünglich völlig fehlten. Wo die Streitformen auf gegenseitige Anerkennung bauen und stark Spielregeln untergeordnet bzw. entpersonalisiert werden, kommt es zur Versachlichung und zur Entschärfung des Konfliktes. Das objektive Interesse an dem Streit und seinen Ergebnissen bringt das Emotionale und das Persönliche aus dem Spiel. Der Konflikt wird unpersönlicher, emotionsloser. Den Emotionen wie Hass oder Neid oder gegenseitigen persönlichen Vorwürfen und Anklagen kommt eine bedeutend geringfügigere Rolle zu (Simmel 1999: 306 - 310). Simmels wichtigste Beispiele sind der Rechtsstreit, verstanden als ein pures Kampfspiel, und der Klassenkonflikt, nachdem sich der Marxismus in Deutschland und in den Gewerkschaften Englands durchgesetzt und den Konflikt verwissenschaftlicht sowie diszipliniert hat. In beiden Fällen ordnen sich die Gegner rigoros gemeinsamen Regel und Normen unter, um den Konflikt noch besser austragen zu können. Sie bilden eine antagonistische Einheit, die den negativen Emotionen wenig Platz einräumt: »Indem erkannt ist, daß die Lage der Arbeiter durch die objektiven Produktionsbedingungen und -formen bestimmt ist, unabhängig von dem Wollen und Können der Einzelpersonen, geht die persönliche Erbitterung der prinzipiellen wie der lokalen Kämpfe sichtlich zurück. Der Unternehmer ist nicht <?page no="29"?> 30 mehr als solcher schon ein Blutsauger und verdammungswürdiger Egoist, der Arbeiter nicht mehr ... von sündhafter Begehrlichkeit, beide Parteien beginnen zum mindesten, sich ihre Forderungen und Taktiken nicht mehr als persönliche Böswilligkeiten ins Gewissen zu schieben.« (Simmel 1999: 309) Der gegenseitige Hass ist am intensivsten und dauerhaftesten, wenn man unter sich Differenzen entdeckt, aber auch miteinander eng verbunden ist (Simmel 1999: 311 - 318). Der Hass ist leidenschaftlich und dauerhaft, wenn er sich zwischen Individuen oder Gruppen entwickelt, die einander sonst sehr ähnlich sind. Hass ist ebenfalls intensiv, wenn man immer noch durch gemeinsame Lebensinteressen, Territorium, Weltanschauungen und/ oder von Gemeinschaften oder Verbänden, sei es die Familie, die Partei oder der Staat, zusammengehalten wird: »Ja, daß überhaupt eine Differenz der Überzeugungen in Haß und Kampf ausartet, findet meistens nur bei wesentlichen und ursprünglichen Gleichheiten der Parteien statt.« (Simmel 1999: 316) Hass, Verbitterung, Frustration steigern sich, wenn man die Gemeinschaft oder den Verband nicht verlassen will oder darf und das Gefühl hat, dass man diese Einheit gegen den gehassten Gegner verteidigen muss. Als Illustration dürfen eine progressive und eine konservative politische Partei dienen. Sie unterscheiden sich politisch sehr von einander, aber ihre Mitglieder sind äußerst patriotisch und wollen ihr Land dem politischen Gegner nicht überlassen. Oder man stelle sich eine politische Partei vor, eine kommunistische oder eine grüne, in der die unterschiedlichen Gruppen um die Definitionsmacht miteinander kämpfen und keine von ihnen bereit ist, diese Partei den anderen zu überlassen. Simmel behauptet, dass in solchen Fällen die Verbitterung und der Hass intensiver sind als in Fällen, wo nur bloße, pure Feindseligkeit herrscht, und sonst nichts die Feinde miteinander verbindet. <?page no="30"?> 31 Außer Hass heizen ebenfalls Eifersucht, Neid und Missgunst den Konflikt an (Simmel 1999: 318-323). Bei Eifersucht und Neid » ... handelt es sich um einen Wert, an dessen Erlangung oder dessen Bewahrung uns ein Dritter real oder symbolisch hindert. Wo es sich um Erlangen handelt, werden wir eher von Neid, wo um Bewahren, von Eifersucht sprechen ... Dem als Eifersucht bezeichneten ist es eigen, daß das Subjekt auf jenen Besitz einen Rechtsanspruch zu haben meint, während der Neid nicht nach dem Recht, sondern einfach nach der Begehrbarkeit des Versagten fragt; ihm ist es auch gleichgültig, ob das Gut ihm deshalb versagt ist, weil jener Dritte es besitzt, oder ob selbst Verlust oder Verzicht seitens dieses ihm nicht dazu verhelfen würde. Die Eifersucht dagegen wird in ihrer inneren Richtung und Färbung gerade dadurch bestimmt, daß der Besitz uns vorenthalten ist, weil er in der Hand des Anderen ist ... die Empfindung des Neidischen dreht sich mehr um den Besitz, die des Eifersüchtigen um den Besitzer. Man kann den Ruhm jemandens beneiden, auch wenn man selbst nicht den geringsten Anspruch auf Ruhm hat: man ist aber auf ihn eifersüchtig, wenn man der Meinung ist, ihn ebenso und eher zu verdienen, als jener. Das Verbitternde und Nagende für den Eifersüchtigen ist eine gewisse Fiktion des Gefühls - so unberechtigt, ja unsinnig sie sein mag -, daß jener ihm den Ruhm sozusagen weggenommen hat.« (Simmel 1999: 319) Bei Missgunst handelt es sich um das neidische Begehren eines Objektes, nur weil der andere es besitzt. Man findet das Objekt an sich vielleicht sogar uninteressant, ist sogar bereit, das Objekt zu zerstören. Das Hauptanliegen ist, zu verhindern, dass der andere es genießen kann. Besonders interessant ist die Eifersucht insofern, als sie einen extremen Konflikt über den Fortbestand einer Einheit darstellt (Simmel 1999: 320 - 323). Mit all seinen Phantasien, Obsessionen, Hass und Wut klammert sich der Eifersüchtige an eine Ein- <?page no="31"?> 32 heit, die nicht mehr existiert. Der Eifersüchtige empfindet Liebe, aber auch Zorn, Hass, Verachtung und Grausamkeit zu seinem dyadischen Anderen aufgrund des Gefühls der Zusammengehörigkeit, das den Anspruch auf Liebe, Freundschaft oder eine andere Art der Einheit legitimiert. Diese Liebe oder Freundschaft bestimmt das Objekt der Eifersucht. Der Eifersüchtige möchte sowohl diese Liebe als auch die geliebte Person besitzen. Interessant dabei ist, dass das bloße Begehren als Grundlage für einen legitimen Anspruch auf Besitz empfunden wird. Der Anspruch auf eine Art Einheit wird oft von den dyadischen Anderen auch anerkannt, aber die Einheit wird verneint. Dies führt zu einem Gefühl der unerhörten Verbitterung bei dem Eifersüchtigen. Das Schwanken zwischen Liebe und Hass für den Anderen, emotionaler Selbstbetrug, Appelle an das Pflichtgefühl des Anderen, das Klammern an die äußeren Zeichen des (Liebe-)Gefühls sind für die Eifersucht und für diesen Konflikttyp kennzeichnend. Soziologisch ist aber die gleichzeitige Suche nach der Zerstörung und Aufrechthaltung der Einheit von größter Bedeutung: »Indem die Eifersucht den leidenschaftlichsten Haß an den gleichzeitigen Fortbestand der leidenschaftlichesten Liebe knüpfen kann, an das Nachwirken der innigsten Zusammengehörigkeit die Vernichtung beider Teile - denn der Eifersüchtige zerstört das Verhältnis ebenso, wie es ihn zur Zerstörung des Anderen reizt -, ist die Eifersucht vielleicht diejenige soziologische Erscheinung, in der der Aufbau des Antagonismus über die Einheit seine subjektiv radikalste Gestaltung erreicht.« (Simmel 1999: 323) Die wichtigen Eigenschaften der Eifersucht finden wir im Wettbewerb wieder (Simmel 1999: 323 - 325). In einer Form des Wettbewerbs ist die Beseitigung des Gegners nur die erste Voraussetzung für das Erlangen des gewünschten Zieles, aber diese Beseitigung garantiert an sich nicht, dass das Ziel erreicht wird (die begehrte Frau oder die Kundschaft muss zusätzlich gewonnen werden). In der anderen Form reicht der Sieg über den Geg- <?page no="32"?> 33 ner aus - man braucht nicht einmal eine Geste gegen ihn zu richten (Marathon). Dieser zweite Typ des Wettbewerbs ist gesellschaftlich sehr nützlich. Individuelle Subjektivität hilft in diesem Fall kollektive, objektive Werte zu erreichen. So gelangt Simmel über die Analyse des eifersuchtbedingten Konflikts zur Bestimmung der Wettbewerbsformen. Obwohl Simmels weitere Reflexionen in Der Streit interessant sind, verlasse ich Simmel an diesem Punkt, da dabei keine zusätzlichen Einblicke in seine Methode und Befunde verloren gehen. Simmels Geometrie der Gefühle Insgesamt kann man feststellen, dass Simmel in Die Quantitative Bestimmtheit der Gruppe die Anzahl der Personen, die an einer Interaktion teilnehmen, deren Distanz, die Beziehungsdauer, die Intensität der Beziehung und das Beziehungsmanagement als wichtige Determinanten von Beziehungen und Gefühlen betrachtet. Man kann seinen Ansatz als geometrisch bezeichnen gerade, weil er die Anzahl der Komponenten und ihre Distanz zum Gegenstand seiner Analyse macht. In diesem Sinne könnten wir von der Simmel’schen Geometrie der Gefühle sprechen. Distanz taucht in der Analyse der Scham dreimal auf. Erstens, wenn es um die Distanz zwischen den interagierenden Personen geht, wobei eine mittlere Distanz eine Voraussetzung für das Schamgefühl ist. Zweitens, wenn es die Distanz zwischen dem Selbstideal des Einzelnen und seinem Selbst betrifft. Und drittens ist auch die Distanz zwischen dem partiellen und dem ganzen Selbst wichtig für die Entstehung des Schamgefühls. Noch deutlicher wird Simmels Methode bei der Lektüre seiner Analyse der Dyade und Triade, die er selbst Zweizahl und Dreizahl nennt. Nach Simmel bringt die romantische Liebe, genauso wie Freundschaft, zwei Personen zusammen, die teils dieselbe Stimmung erleben können, teils aufgrund der besonderen Mischung von Ähnlichkeiten und Unterschieden eine starke Zuneigung entwickeln. Im Fall der Liebe sehnen sich die zwei Per- <?page no="33"?> 34 sonen nach einer Verschmelzung, die übrigens nur für die moderne, romantische Liebe kennzeichnend ist. Diese Verschmelzung heißt Distanzüberwindung zwischen Personen, die vorher getrennt waren: »Die Leidenschaft sucht die Grenzen des Ich niederzureißen und das eine in das andere aufzuheben ...« (Simmel 1999: 106). Sie ist das Gegenteil von individueller Isolation. Kennzeichnend für die Dyade ist, dass sich in ihr nur zwei Personen gegenüber stehen. Es gibt kein abstraktes Kollektiv, nur zwei Individuen: »Der Austritt jedes Einzelnen würde das Ganze zerstören ...« (Simmel 1999: 101). Im Unterschied dazu, bleibt eine Organisation oder eine Gemeinde bestehen, auch wenn ein Mitglied sie verlässt. Weil die Dyade für ihr Bestehen zwei Personen braucht, stellt sich die generelle Frage nach ihrem Ende oder ihrer Vernichtung viel deutlicher und intensiver als in anderen Beziehungen. Den Partnern ist bewusst, dass der Tod des einen die Dyade vernichten wird. Im Unterschied zur Organisation fühlt sich das Individuum in der Dyade unersetzbar, aber auch mehr oder weniger durch die potentielle Vernichtung der Dyade bedroht (Simmel 1999: 102). Die Dyade wird auf besondere Weise durch die Möglichkeit des Sich-Zurückziehens, des Verschwindens eines Beteiligten aufgelöst. In der Dyade wird nicht, im Unterschied zur Organisation oder zum Kollektiv, die Individualität der Beteiligten bedroht. Stark individualisierte Personen finden ihre Eigenschaften durch die Dyade respektiert, betont und anerkannt, was in einer Organisation nicht der Fall ist. Ein Kollektiv oder eine Organisation müssen sich nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner definieren, der ihre Mitglieder zusammenführt. In der Dyade ist »die Abwälzung von Pflichten und Verantwortung auf das unpersönliche Gebilde« nicht möglich (Simmel 1999: 112). Die moralische Verantwortung und Handlungsinitiative bleiben auch in der Hand des Einzelnen. Wenn Mehrheiten die Entscheidungsregel bestimmen, werden sowohl die Minderheiten als auch die besonderen Eigenschaften des Individuums ignoriert. Mehrheiten können aber in einer Dyade nicht entstehen (Simmel 1999: 116). Intimität ist für die Dyade kennzeichnend in dem Sinne, als sie <?page no="34"?> 35 die Basis der Beziehung ist (Simmel 1999: 104 - 105). Allgemein ist die Intimität das Gegenteil der Distanz. Sie stellt zugleich das Mittel zu ihrer Überwindung dar. Intimität heißt, dass die Beteiligten bestimmte Gesten, Gedanken, Gefühle, Tagesabläufe, das Zugeben von Schwachpunkten usw. nur für die Beziehung reservieren. Eine Art Intimität kann man auch in manchen Gruppen beobachten, aber nur für eine Dyade ist sie konstitutiv. Die intimen Inhalte sind es, die jede dyadische Beziehung prägen. Robert Merton, der amerikanische Soziologe, hat den Begriff »der erwarteten Dauer« einer Beziehung oder eines sozialen Zustandes in die Soziologie eingeführt. In Simmels vergleichenden Reflexionen über die Dyade und die Organisation finden wir eine frühere Version dieses Begriffes. Mit diesem Begriff wird deutlich gemacht, dass unsere gegenwärtigen Vorstellungen und Handlungen von unseren Erwartungen an die Dauer einer Beziehung sehr stark beeinflusst werden. Um ein einfaches Beispiel zu nehmen: In einer Beziehung, die wir als dauerhaft definieren, sind wir altruistischer. An ihr arbeiten wir härter. Für Simmel verbindet sich die Frage nach der Dauer der Beziehung mit der Frage nach Trivialität (Simmel 1999: 103 - 104). Dieser Begriff geht Max Webers Begriff der Veralltäglichung oder Routinisierung voraus. Mit der Zeit wird es in Dyaden schwierig, die Last der Trivialität, d.h. des Alltäglichen, zu tragen. Die Zuneigung, die auf den besonderen Eigenschaften und den besonderen Qualitäten des anderen aufgebaut ist, verliert ihre Intensität, wenn sie häufig oder immer wieder erlebt wird. In einer dyadischen Beziehung, sei es der Liebe, Freundschaft oder Ehe, verdirbt Trivialität jede Beziehung. Die Beziehung wird, in Simmels Worten, farblos. Jeder Dritte wirkt auf die Dyade unvermeidlich störend. Es bildet sich eine größere Einheit und die Beziehung wird weniger intim (Simmel 1999: 106 - 107). Normalerweise kann der Dritte eine Stimmung mit einer, aber nicht mit beiden Personen teilen: »Es gibt kein noch so inniges Verhältnis zwischen dreien, in dem nicht jeder Einzelne gelegentlich von den beiden anderen <?page no="35"?> 36 als Eindringling empfunden würde, und sei es auch nur durch sein Teilhaben an gewissen Stimmungen, die ihre Konzentriertheit und schamhafte Zartheit nur bei dem unabgelenkten Blick von Auge in Auge entfalten können; jedes sensitive Verbundensein von zweien wird dadurch irritiert, daß es einen Zuschauer hat.« (Simmel 1999: 115) Der Dritte kann bei Konflikten den Unparteiischen oder den Vermittler spielen (Simmel 1999: 125, 129, 131, 134 - 135, 143). Er kann dadurch zwei Konfliktpartner zusammenbringen. Als Tertius gaudens kann der Dritte jedoch Macht über die anderen zwei erlangen, entweder weil sich die beiden in Schach halten (lassen) oder weil er sich auf die divide et impera-Strategie verlässt. Der Dritte muss nicht unbedingt ein Erwachsener sein. In einer Partnerschaft spielt das Kind die Rolle des Dritten (Simmel 1999: 107). Das Kind ist zugleich eine wichtige Quelle der Zusammengehörigkeit, aber auch der Uneinigkeit der Eltern. Während der Dritte eine zusätzliche, indirekte Verbindung zwischen den beiden anderen schafft, ist Liebe oder Freundschaft zu dritt problematisch. Die triadische Konstellation beinhaltet die Gefahr, dass sie ihre Stabilität verliert. Aus der Anzahl der Teilnehmer ergibt sich erstens, dass drei verschiedene Dyaden aus einer Triade potentiell entstehen können. In jedem Fall scheidet dann eine Person aus, die die weniger geliebte oder befreundete bzw. unerwünschte Person wird. Zweitens, können sich die Intensität, Qualität, Inhalt und Distanz der Beziehungen drastisch verändern, je nachdem, welche der zwei Personen zu einer Dyade tendieren bzw. ihre dyadische Beziehung auf Kosten der Triade intensivieren. Wie Simmel mehrmals betont, sind Beziehungen mit zwei bzw. drei Beteiligten von größtem Interesse für die soziologische Analyse von Beziehungen. Bei mehr als zwei oder drei Beteiligten definiert und ändert sich die Beziehungen nicht so dramatisch und radikal. Im Gegenteil, es lässt sich zeigen, dass für Beziehungen zu zweit oder zu dritt dasselbe für Individuen wie für Organisationen gilt. Denn auch innerhalb der Organisation entwickeln <?page no="36"?> 37 sich dyadische oder triadische Beziehungen. Der Unterschied ist nur, dass die Bestandteile der Dyade bzw. Triade Gruppen und nicht Individuen sind. Wie Simmel betont, kann man auch Beziehungen zwischen Organisationen, Staaten oder anderen organisierten Kollektiven mit Hilfe des Begriffes der Dyade und Triade analysieren. Seine Geometrie der Gefühle ist in seiner Geometrie der Beziehungen eingebettet. In der Tat haben Simmels Reflexionen auf diesem Gebiet die Netzwerkanalysen inspiriert. Takt Besonders durch Simmels Analyse des Taktes wird klar, wie wichtig Distanz für die gesamte Gesellschaft ist. Umsicht oder Takt definiert er als Respekt vor den Geheimnissen des Anderen, vor dem Willen des Anderen, bestimmte Dinge zu verheimlichen, sowie als unseren eigenen Willen, Distanz zum Wissen über den Anderen zu halten (Simmel 1964: 320 - 321). Simmel meint, dass jede Person von einer Privatsphäre umgeben ist, in die nicht eingedrungen werden darf. Er argumentiert, dass es in vielen Gesellschaften so etwas wie ein Schutzrecht dieser Sphäre gibt. Wenn die erforderliche Distanz nicht eingehalten wird, ist es wahrscheinlich, dass das Individuum mit seinen besonderen Lebensinhalten zerstört wird. Jeder von uns hat ein bestimmtes schwaches oder starkes Taktgefühl bzw. eine geringere oder größere Sensibilität für die Distanz, die dem Anderen am liebsten wäre. Als Personen besitzen wir eine mehr oder weniger ausgeprägte Sensibilität für das Ausmaß und die besonderen Eigenschaften der Privatsphäre, der Lebensinhalte also, die der Andere als privat oder geheim betrachtet. Und umgekehrt hat jede Person ihr eigenes Gefühl dafür, welche Distanz - welchen Radius - ihre Interaktionspartner respektieren sollten. Dieses Gefühl wird von der Gesellschaft gestaltet. Der Begriff der Ehre hilft, genauso wie der Begriff der Prominenz, eine Person, die als ehrenhaft oder prominent gilt, zu beschützen. Privatbesitz, das schwierig zu definierende und zu verteidigende intel- <?page no="37"?> 38 lektuelle Gedankengut inbegriffen, definiert auch die Person und ihre Privatsphäre (Simmel 1964: 321 - 322). In manchen Gesellschaften und historischen Phasen werden diese Begriffe sogar durch das Gesetz untermauert. Werden die Grenzen der Privatsphäre überschritten, kann die Person, deren Rechte verletzt wurden, rechtliche Konsequenzen ziehen. Wenn der gesetzliche Schutz nicht vorhanden ist, müssen wir uns in unseren gegenseitigen Beziehungen auf den Takt, auf unsere moralischen Überlegungen verlassen. Das Taktgefühl ist nichts anderes als das Gefühl, dass jeder Person Privatsphäre mit ihren unmittelbaren Lebensinhalten zusteht. Takt(gefühl) ist also insofern wichtig, als es die Gesetzgebung ergänzt und ersetzt. Das Taktgefühl, also die Sensibilität für die Privatsphäre des Anderen, die eine notwendige Vorbedingung des gezeigten Respekts ist, ermöglicht, nach Simmel, dichte und lebendige Interaktionen. Für enge Beziehungen, für Bekannte und für Fremde gelten jeweils unterschiedliche Regeln der Distanzüberwindung. Das Recht auf Respekt wird aber in bestimmten Situationen außer Kraft gesetzt. Die Gesellschaft kann dieses Recht begrenzen, ebenso wie sich der Arbeitgeber, der Geschäftspartner oder der Ehepartner das Recht nehmen kann, in die innere Sphäre des Anderen einzudringen, weil es in seinem Interesse liegt zu erfahren, ob sein materieller Wohlstand durch den Anderen nicht gefährdet wird (Simmel 1964: 322 - 323). Allgemein lässt sich sagen, dass die individuellen Interessen genauso wie der Zustand der Abhängigkeit zwischen zwei oder mehreren Personen das Gefühl des Taktes systematisch außer Kraft setzen können. Außerdem kann sich unser unabsichtlich gesammeltes Wissen über die andere Person bemerkbar machen, auch wenn wir es nicht wollen. Unsere Geste, die genauso unabsichtlich war wie eine Geste oder ein Wort des Anderen, die uns seine Geheimnisse verrieten, kann unsere Interaktion und sogar die bisherigen Beziehungen gefährden. Interessanterweise werden in der deutschen Sprache die Worte »indiskret«, »taktlos« und »unüberlegt« als Synonyme gebraucht. Die Sprache bestätigt auf ihre Weise, dass der Takt durch unreflektierte spontane Gesten oder Worte <?page no="38"?> 39 gefährdet werden kann. Man könnte hier einfügen, dass die ungewollte Taktlosigkeit, die die Interaktionspartner in Verlegenheit versetzt, häufig mit Vertuschungs- oder Bagatellisierungsversuchen endet, deren Ziel es ist, die vorherige Balance zwischen den Interaktionspartnern wiederherzustellen. Mit dem Taktbegriff kommen wir auch zu dem, was als Technik des Interaktionsmanagements bezeichnet werden kann. Besonders in Freundschafts- und Liebesbeziehungen ist es notwendig, um die Aufrechterhaltung der Beziehung zu sichern. Freundschaft und Liebe Bevor ich einige von Simmels Gedanken zu diesen Themen zusammenfasse, möchte ich anmerken, dass seine Auffassungen, besonders über die Freundschaft als eine männliche Domäne und über den Umgang der Frauen mit Liebe, teilweise veraltet sind. Ich habe deshalb einiges ganz einfach ignoriert und einiges im historischen Kontext verankert. Trotz ihrer altmodischen Züge bieten Simmels Überlegungen klare, interessante Thesen. Der Hauptgrund, warum Freundschaft und Liebe noch heute unsere Aufmerksamkeit verdienen, ist, dass sie, genauso wie Treue, Dankbarkeit und Scham, die Einzelnen, sogar Gruppen, miteinander verbinden. Sie fungieren als Bindemittel der Gesellschaft, ohne welche es nur noch Arbeitsteilung, materiellen Austausch, Geld, Herrschafts- und Abhängigkeitsstrukturen als Voraussetzungen der sozialen Interaktion gäbe (siehe z. B. Simmel 1999: 291). Aus Simmels Sicht sorgen die Stimmungen, Emotionen, Denkrichtungen usw. für die Lebendigkeit und die Lebensinhalte der Gesellschaft. Spezifische Verhältnisse zwischen »Harmonie und Disharmonie, Assoziation und Konkurrenz, Gunst und Mißgunst« geben einer Gesellschaft ihre konkrete Gestalt (Simmel 1999: 286). Deswegen sind Reflexionen über Freundschaft und Liebe von zentraler Bedeutung. Information darüber, wie sie sich in der modernen Gesellschaft entfalten können und auf welche Hindernisse sie stoßen würden, gibt Auskunft darüber, wie stark das soziale Gewebe noch ist oder sein kann. <?page no="39"?> 40 Nach Simmel ist für die Freundschaft charakteristisch, dass sie Personen in ihrer Ganzheit tief emotional verbindet. Die Tatsache, dass diese Personen psychologische Nähe genießen, gegenseitige Aufopferungsbereitschaft zeigen, ihre Phantasie und »Einlebensfähigkeit« nur aufeinander einstellen und voreinander so gut wie keine Geheimnisse haben, grenzt ihre Beziehungen von anderen Beziehungen ab (Simmel 1964: 324 - 325, 326). Nach Simmel ist die Freundschaft heute nicht mehr als eine alles umfassende Beziehung definiert. Weil die moderne Gesellschaft sehr differenziert ist, sind allumfassende, auf Ähnlichkeiten basierende Freundschaften fast unmöglich geworden. Die Individualisierung ist so weit fortgeschritten, dass eine perfekte, gegenseitige Verständigung oder Empfänglichkeit höchst unwahrscheinlich ist (Simmel 1964: 326). Freundschaften in der Moderne, im Unterschied zu denen in der Vergangenheit, sind themenspezifischer. Die differenzierte Gesellschaft ermöglicht es, dass wir mit einer Freundin vielleicht Politik besprechen und mit der anderen unseren Liebeskummer teilen, dass uns mit einem Freund Emotionen, mit einem anderen Intellekt verbindet. Umsicht und Takt unter Freunden sind wichtiger geworden als vorher. Die Freunde sollen sich nicht die Gründe der Zweisamkeit überlegen, weil ihnen dadurch die schmerzhaften Grenzen ihrer Beziehung klar werden könnten. Wenn wir nicht in der Lage sind, uns taktvoll zu verhalten, können wir unsere Freundschaften dadurch zerstören, dass wir Konflikte provozieren, anstatt die einheitsbestätigenden Themen anzusprechen. Takt ist zu einer sehr wichtigen Voraussetzungen für den Fortbestand der modernen Freundschaft avanciert. Auch in der Liebe ist seine Rolle zentral. Simmel behauptet, dass vor der Zeit der romantischen Liebe das Liebesideal nicht so hohe Ansprüche an das Liebespaar stellte. In der Gegenwart müssen die Partner über die richtige Mischung von Selbst-Offenbarung und Selbst-Zurückhaltung entscheiden und einander zugleich Vergnügen, Intimität, Freundschaft, Pflichterfüllung anbieten können (Simmel 1964: 326, 328 - 329). Die moderne Ehe, die den Anspruch an Vollkommenheit <?page no="40"?> 41 und Einheit stellt und deshalb im starken Kontrast zu den frühen Eheformen steht, birgt gerade deswegen die Gefahr der Enttäuschung in sich. Früher existierte eine gesellschaftlich geforderte Trennung von männlichen und weiblichen Lebenssphären, die es heute nicht mehr notwendigerweise, sondern allenfalls infolge einer persönlichen Entscheidung gibt. Sowohl die vielfältigen, an den Partner gerichteten Ansprüche als auch die ungeteilten Lebenssphären stellen höhere Anforderungen an das Taktgefühl. Die Partner können ihre Privatsphäre nicht mehr so gut voreinander schützen oder sie mit gegenseitigem Respekt, mit derselben Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit betrachten wie früher. Doch lässt sich argumentieren, dass die gegenseitige Zuneigung teils auf Unterschieden, teils auf bewahrten Privatsphären basiert. Wenn keine Geheimnisse verborgen bleiben, wenn keine Überraschungen oder überraschenden Eigenschaften mehr ans Licht kommen, setzen die Langweile, die Trivialität und die Routine ein (Simmel 1999: 103 - 105; Simmel 1964: 328 - 329). Auch wenn die erwünschte und erstrebte Verschmelzung zweier Seelen erreicht worden ist, kann die Liebesbeziehung dadurch vernichtet werden, dass sie keine differenzierende Spontaneität, keine besonderen Eigenschaften, keine Freiräume mehr erlaubt. Die Distanz, die die romantische Liebe programmatisch zu überwinden sucht, kann leicht auf Kosten gerade derjenigen besonderen Eigenschaften überwunden werden, die mehr oder weniger bewusst der Grund für die Liebe waren. Erstickt die Verschmelzung das Individuelle, ist die Gefahr groß, dass sie auch die Liebe erstickt. Das moderne Leben, insofern es das Taktgefühl seiner Basis beraubt, schwächt unsere Fähigkeit, dem Ideal der romantischen Liebe nachzugehen. Die moderne Gesellschaft, die einerseits das Ideal der romantischen Liebe fördert und die andererseits das Erreichen dieses Ideales durch die fehlende Trennung der männlichen und weiblichen Lebenssphären erschwert, schafft besonders schwierige Bedingungen für das Gefühl des Taktes. Einerseits ist dieses die Liebe erhaltende Gefühl viel wichtiger als früher geworden, andrerseits ist dieses Gefühl viel schwieriger zu erzeu- <?page no="41"?> 42 gen. Nur sehr starke Persönlichkeiten oder solche mit einem unerschöpflich reichen Gefühlsleben können ständig mehr von sich selbst geben, ohne das Gefühl der eigenen seelischen Verarmung oder das Gefühl einer erzwungenen, die Liebe gefährdenden Pflicht zu erleben. Es war für die Mittelschichten leichter, taktvolles Verhalten zu zeigen, als sie sich noch Wohnungen oder Häuser leisten konnten, die eine geschlechtsspezifische Raumteilung erlaubten. Der Mann arbeitete draußen, die Frau zu Hause. Ihre Pflichten waren durch diese Lebenssphären definiert: Der Mann verkörperte das Materielle und Grobe, die Frau hingegen das Seelische und Behütete. In der Gegenwart sind sowohl die wirtschaftlichen als auch die normativen und ideologischen Grundlagen dieser physischen und seelischen Trennung der Geschlechter verschwunden. Deshalb, unter anderem, ist es schwieriger geworden, sich taktvoll zu verhalten und behutsam mit der Liebe umzugehen. Und doch ist der Takt als eine Voraussetzung der lebendigen Liebe noch nie so wichtig gewesen ... <?page no="42"?> 43 Literatur Coser, L. 1956. The Functions of Social Conflict. New York. The Free Press Flam, H. 1990. »Emotional ›Man‹: I. The Emotional ›Man and the Problem of Collective Action« International Sociology 5, 1: 39 - 56 Frisby, D. 1981. Sociological Impressionism. A Reassessment of Georg Simmel’s Social Theory. London. Heinemann Gerhards, J. 1986. »Georg Simmel’s contribution to a theory of emotions« Social Science Information 25,4: 901 - 924 Gerhards, J. 1988. Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und Perspektiven. München. Juventa Verlag, S. 43 - 51 Georg Simmel. Conflict & The Web of Group-Affiliations. 1955. Translated by K.H. Wolff and R. Bendix. New York. The Free Press Georg Simmel. Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 1999. Gesamtausgabe Band II. Hrsg von O. Rammstedt. Frankfurt a.M. Suhrkamp Neckel, Sighard. 1991. Status und Scham. Zur symbolischen Reproduktion sozialer Ungleichheit. Frankfurt a.M. Campus Nedelmann, B. 1988. »›Psychologismus‹ oder Soziologie der Emotionen? Max Webers Kritik an der Soziologie Georg Simmels« in: Simmel und die frühen Soziologen. Hrsg. von B. Nedelmann. Frankfurt a.M. Suhrkamp, S. 11 - 35 Nedelmann, B. 1984. »Georg Simmel als Klassiker soziologischer Prozeßanalysen« in Georg Simmel und die Moderne: Neue Interpretationen und Materialien. Hrsg. von H.-J. Dahme und O. Rammstedt. Frankfurt a.M. Suhrkamp, S.91 - 115 Simmel, G. 1992. »Zur Psychologie der Scham« in Schriften zur Soziologie. Hrsg. von H.J. Dahme und O. Rammstedt. Frankfurt a.M. Suhrkamp, S. 140 - 150 The Sociology of Georg Simmel. 1964. Translated, edited and with an introduction by K. H. Wolff. New York. The Free Press <?page no="43"?> 44 M AX W EBER Zugespitzt lässt sich sagen, dass die Calvinisten sich nie so extrem der Rationalisierung der Welt verschrieben hätten, wenn ihre tiefe Angst vor der Verdammung sie nicht dazu getrieben hätte. Genauso wäre für Max Weber Politik und Wissenschaft ohne Leidenschaft unmöglich gewesen. Letztlich entstehen Webers Propheten und andere charismatische Figuren in ernsthaften, hoch emotional-geladenen gesellschaftlichen Krisen, wobei sie den Ausweg daraus zeigen können. Alle drei Herrschaftsformen setzen Furcht und Loyalität voraus. Die Protestantische Ethik und die Angst vor Verdammung Wenn man soziologische Einführungstexte betrachtet, ob englische oder deutsche, wird deutlich, dass Webers Rationalisierungsthese im Zusammenhang mit seiner Protestantismus-These besonders gern hervorgehoben wird. Es wird sogar betont, dass die strengen protestantischen Sekten die Rationalisierung der Welt vorantrieben. Dann werden die Elemente der calvinistischen Doktrin und ihre Implikationen für die methodisch-rationale Lebensführung rasch aufgezählt. Dabei wird die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, wie bedeutend der Beitrag des Rationalismus zur Entstehung des Kapitalismus sei. Mit einer solchen Interpretation von Webers Text wird man jedoch der Weber’schen These nicht gerecht, da man dabei die Angst vor Verdammung, die nach Weber die Triebkraft der Rationalisierung war, und ihre zentrale Rolle in seiner Theorie nicht berücksichtigt. Weber behauptete, dass sowohl die strenge Prädestinationslehre Calvins, die besagt, dass »ein Teil der Menschen selig wird, ein anderer verdammt bleibt«, als auch Calvins Auffassung, dass es eine Verletzung der Majestät Gottes wäre, seine Ratschlüsse verstehen, hinterfragen oder beeinflussen zu wollen (Weber 1963: 93), einen tiefgreifenden religiösen und kulturellen Wandel verursachten. <?page no="44"?> 45 Weber setzt bei der unerhörten Bedeutung der Prädestinationslehre für den Gläubigen, aber auch bei dem neuen Gottesbild an, wenn er die kulturelle Revolution, die die Entwicklung des Kapitalismus verstärkte und beschleunigte, untersucht. Er stellt fest, dass aufgrund von Calvins Prädestinationslehre neben dem gnädigen und gütigen himmlischen Vater ein Despot auftauchte, dessen Wille unerforschlich blieb. »In ihrer pathetischen Unmenschlichkeit« verursachte die Prädestinationslehre Calvins »ein Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums« und »Qualen« unter den Gläubigen (Weber 1963: 93,105). Aus diesen vorwiegend emotionalen Gründen »[ist] überall da, wo die Prädestinationslehre festgehalten wurde, die Frage nicht ausgeblieben, ob es sichere Merkmale gebe, an denen man die Zugehörigkeit zu den ›elect‹ erkennen könne« (Weber 1963: 104). Selbstzeugnis als Kriterium des Gnadenstandes wird beibehalten, aber, »[s]oweit dabei nicht die Gnadenwahl uminterpretiert, gemildert und im Grunde aufgegeben wurde«, tauchen bei den härteren Versionen des Protestantismus zwei miteinander verknüpfte seelsorgerische Ratschläge auf (Weber 1963 : 105). Einerseits wird es zu einer Pflicht, sich für erwählt zu halten und die Zweifel, die als Anfechtung des Teufels und als Zeichen unzulänglichen Glaubens gedeutet werden, täglich zu bekämpfen - eine ganze Generation von »selbstgewissen ›Heiligen‹«, so Weber, wurde von dieser Art Seelsorge gezüchtet. Andererseits wird »als hervorragendstes Mittel rastlose Berufsarbeit« vorgeschrieben, »um jene Selbstgewißheit zu erlangen«, da »[die Berufsarbeit] und sie allein ... den religiösen Zweifel [verscheuche] und die Sicherheit des Gandenstandes [gebe]« (Weber 1963: 105). Weber betont, dass die Berufsarbeit in der Lage zu sein schien, das Zentralproblem - die Angst vor Verdammnis -, das von der Prädestinationslehre verursacht wurde, zu beseitigen. Berufsarbeit wurde »als das geeignete Mittel zum Abreagieren der religiösen Angstaffekte behandelt« - »die weltliche Berufsarbeit [galt] zu dieser Leistung für fähig ...« (Weber 1963: 106). Abgesehen von der calvinistischen Antwort auf die Frage nach Kriterien zur Entschlüsselung des Gnadenzustandes, existierten <?page no="45"?> 46 weiterhin die Luther’sche und andere »sanfte« Formen des Protestantismus, die die Emotionen viel stärker betonten. Im Lutheranismus durfte sich der Gläubige viel mehr auf sein, allerdings als das höchste religiöse Erlebnis verstandene, Gottesgefühl, »die Empfindung eines realen Eingehens des Göttlichen in die gläubige Seele« als Zeichen der Gnade, verlassen (Weber 1963: 107). Der Gläubige, der sich von Demut - einem »tiefen Gefühl erbsündlicher Unwürdigkeit« - durchdringen lassen sollte, durfte sich der mystischen religiösen Stimmung, der Sehnsucht nach dem Gefühl der Ruhe hingeben, wenn er die Frage nach seinem Gnadenstand verfolgte. Ein ähnlicher Kontrast galt für die religiösen Fachmänner: »Der religiöse Virtuose kann [sich] seines Gnadenstandes ... versichern entweder, indem er sich als Gefäß, oder, indem er sich als Werkzeug göttlicher Macht fühlt. Im ersten Fall neigt sein religiöses Leben zu mystischer Gefühlskultur, im letzteren zu asketischem Handeln. Dem ersten Typus stand Luther näher, dem letzteren gehörte der Calvinismus an.« (Weber 1963: 108) Calvin unterschied sich von Luther und anderen »sanften« Sektenführer dadurch, dass er bloße Gefühle und Stimmungen als trügerisch definierte. Nicht Gefühle, die er grundsätzlich ablehnte, sondern nur eine rationale Lebensführung zur Mehrung von Gottes Ruhm erkannte Calvin als Zeichen der Gnade an und empfahl deshalb nur diese Art der Lebensführung (Weber 1963: 108). Wie Barbalet betont (s. unten), hat Calvin alle Sekten, die Emotionen als Element des religiösen Glauben zuließen, gehasst und abgelehnt. Weber argumentiert, dass eben diese harte Version des Protestantismus den größten und bedeutesten Beitrag zur Rationalisierung der Lebensführung und damit des Kapitalismus leistete. Nach Jürgen Gerhards, einem deutschen Soziologen, der sich intensiv mit der Soziologie der Emotionen beschäftigte, erzeugte die Prädestinationslehre Calvins sowohl eine Angst vor Ver- <?page no="46"?> 47 dammnis als auch die Methode für die Überwindung der religiösen Angst - das calvinistische, rationale Weltbild, das Affektunterdrückung mittels Selbstkontrolle verlangt: »Die Selbstkontrolle der inneren Affekte und Bedürfnisse ist das notwendige Komplement zu einer rationalen Weltkonstruktion nach außen … Der asketische Protestantismus bedeutet in dieser Form eine Neukodierung von Emotionen: Affektive Sinnorientierungen werden als triebhaft-sündhaft interpretiert und müssen zugunsten einer zweckrationalen Weltschaffung unterdrückt und sublimiert werden. Ein so konstruiertes Weltbild läßt sich als Überwindungsformel einer durch die Prädestinationslehre aufgebauten Angst vor der Ungewißheit der eigenen Bestimmung interpretieren. Erst durch eine solche Kodierung der Emotionen wird der Weg zur Ausbildung der Moderne geebnet.« (Gerhards 1988: 31) In dieser Interpretation wird eine Emotion - die Angst vor Verdammung - als Zentralfigur in Webers Darstellung verstanden. Sie treibt die Rationalisierungsprozesse voran. Dieselben Rationalisierungsprozesse aber verlangen, bei Calvinisten auf jeden Fall, die Affektunterdrückung. Der berühmte amerikanische Kultursoziologe Richard Sennett, der in seinen Büchern schon immer eine besondere Sensibilität für Emotionen zeigte, meint, dass der Protestantismus, Luthers gleich dem Calvins, die Menschen in »einen tief schmerzlichen Zweifel« stürzt, weil er ihnen unmöglich macht, die Verantwortung für die eigene Lebensgeschichte zu übernehmen (Sennett 1998: 138). Nur Gott wisse, ob man zu Auserwählten oder zu Verdammten gehöre. Der Protestantismus biete den Gläubigen an, ihren moralischen Wert durch die getane Arbeit zu beweisen, ohne irgendwann einmal die Furcht davor zu verlieren, unzureichend zum Ruhm Gottes beigetragen zu haben. Sie müssen also mit der ständigen Furcht leben. Hier sei nur Sennetts Interpretation von Calvins Doktrin erwähnt, die zum Leben in »permanenter Unsicherheit« führt: <?page no="47"?> 48 »Calvin erklärt in der Institutio, nur Gott wisse, ob eine Seele nach dem Tode gerettet oder verdammt sei; wir dürfen uns keine Vorwegnahme der göttlichen Vorsehung anmaßen. Von ihrer Sündenlast gebeugt, leben die Menschen somit in permanenter Unsicherheit, sie können nicht wissen, ob ihr Leben zu ewigen Höllenqualen führen wird. Dies ist das unglückliche Los der Protestanten, sie müssen sich ihren moralischen Rang verdienen, können aber niemals zuversichtlich [sein] .… Erneut droht dies zum Selbstmordrezept zu werden. Doch dem Protestanten wird statt des Balsams der [katholischen] Rituale eine bittere Medizin angeboten: unbarmherzige, auf die Zukunft ausgerichtete Arbeit. Die eigene Lebensgeschichte mittels harter Arbeit zu organisieren, kann als kleines Licht in der Dunkelheit dienen, ein ›Zeichen der Gnadenwahl‹, daß man zu den vor der Hölle Erretteten zählen könnte.« (Sennett 1998: 140) Aus Sennetts Sicht sind also die Unsicherheit und Furcht so zentral und störend, dass sie zum Selbstmordrezept zu werden drohen. Auch hier stellen die unbarmherzige Arbeit, Selbstdisziplin und emotionale Selbstverleugnung eine Überwindungsformel dar (Sennett 1998: 140 - 141). In seinem Buch thematisiert Sennett die Einsamkeit des berufstätigen Individuums. Auch wenn man glaubt, dass Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus auf einer cartesianischen Weltauffassung beruht, kann man viel mehr über Webers Sicht der Emotionen in diesem Werk sagen, als es die Standardinterpretationen tun. Nach einem australischen Interpreten von Max Weber, Jack Barbalet, der viel zur Soziologie der Emotionen beigetragen hat, war es tatsächlich so, dass Weber, was seine Protestantismus-These betrifft, ein Cartesianer war. Das traf sogar zu, als er das Buch am Ende seines Lebens für die zweite Auflage vorbereitete, nachdem er die Emotionen bereits viel dezidierter in seine Theorien eingeführt und berücksichtigt hatte (Barbalet 2000). Was dieses Buch betrifft, blieb er ein Cartesianer, der nicht wahrgenommen hatte, dass seine Theorie hinsichtlich Emotionen einen Bruch erlebte. <?page no="48"?> 49 Diesen Bruch kann man am besten erkennen, so Barbalet, wenn man Webers Schriften zum Beruf analysiert. Barbalet argumentiert, dass Weber in der Protestantischen Ethik davon ausgeht, dass die Gefühle rationale Handlungen unterminieren und dass es wünschenswert ist, dass die Rationalität den Emotionen widerspricht und sie unterdrückt. Weber setzt den rationalen, asketischen Protestantismus gleich den Rationalisierungstendenzen, die dazu führten, dass Emotionalität tatsächlich vom Alltagshandeln weitgehend vertrieben wurde. In der Protestantischen Ethik versteht Weber Emotionen als impulsiv, ablenkend, desorganisierend, nicht steuerungsfähig. Er sieht sie als Hindernisse. Seine Recherchen führen ihn zu der Auffassung, dass der rationale christliche Asketismus, der im Calvinismus eine weltzugewandte Form findet, eine systematische Methode für die Aufrechterhaltung eines rationalen Verhaltens und zugleich die Gefühlsbekämpfung entwickelte. Lobend spricht Weber davon, dass der Protestantismus den Menschen von der Macht der irrationalen Impulse befreite. Der Protestantismus hat den Menschen einem überlegenen, zielbewussten Willen untergeordnet. Diese Unterordnung ermöglichte es, Handlungen unter kontinuierlicher Selbstkontrolle und unter ständiger Berücksichtung von ethischen Konsequenzen zu belassen. Die calvinistische Auffassung vom Beruf war gleichbedeutend mit der modernen cartesianischen Rationalität - einer Rationalität, die langfristige, bewusste und gezielte Unterdrückung von Emotionen verlangte, dafür aber eine Befreiung von der Herrschaft der Emotionen und der Natur mit sich brachte. Nach Weber konnte nur ein Leben, das ununterbrochen von einem leitenden Gedanken bestimmt war, die Menschen in die Lage versetzen, eine (rationale) Persönlichkeit zu entwickeln. Nur dann kann er die Natur, seine eigene Triebe und Gefühle eingeschlossen, besiegen. Die calvinistische Idee des Berufes war ein solcher Gedanke. Nach Barbalet argumentierte Weber, dass die Idee des Berufes ein einzigartiges Produkt der Reformation war. Beruf bedeutete eine Lebensaufgabe auf einem bestimmten Tätigkeitsfeld samt Pflichterfüllung in der irdischen Welt als die höchste moralische <?page no="49"?> 50 Errungenschaft. Calvin hat diese Luther’sche Idee mit der Prädestinationslehre verflochten und sie damit revolutioniert. Diese Lehre stellt fest, dass alles von Gott vorbestimmt ist und dass die normalen Sterblichen keinen Einfluss darauf nehmen können, wer zu den Auserwählten und wer zu den Verdammten gehört. Die Prädestinationslehre legte Grundlagen für eine extreme Unsicherheit, der nur tiefer Glaube und Selbstvertrauen entgegenwirken konnten. Die Calvinisten erreichten diesen Glaubens- und Selbstvertrauenszustand innerhalb des Berufes und mittels intensiver Vertiefung in weltliche Aktivitäten. Sie widmeten sich einer weltzugewandten und systematischen Akkumulation von guten Taten zum Ruhm Gottes. So hatten sie wenn auch nicht die Gewissheit über Erlösung erreicht, so doch zumindest ihre Angst vor Verdammung zerstreuen können. Berufsausübung wird also vom Calvinismus als eine Demonstration der Gnade Gottes verlangt und stellt die geeignetste Methode dar, der religiösen Angst entgegenzuwirken. Auffallend in Barbalets Interpretation von Webers These ist, dass »Unsicherheit«, »Angst vor Verdammung« und »religiöse Angst« zwar zusammen mit Webers Argumenten wiedergegeben werden, aber keine getrennte Aufmerksamkeit bekommen, obwohl Barbalet, Weber folgend, Berufsausübung und die systematische, asketische Lebensführung als eine Antwort auf diese Emotionen darstellt. Im Unterschied zu Gerhards oder der Autorin schreibt er dieser Angst keine zentrale Rolle zu. Erst viel später in seinem Text kehrt Barbalet zu Calvins Hass auf sündige Emotionen, Aberglaube und ähnlichen Hindernissen der Rationalität zurück. Er betont, dass in diesem Punkt Weber einer Emotion - dem Hass - eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des Rationalismus beimisst. Barbalet argumentiert, dass im ganzen Text Emotionen eigentlich als Einstellungen, also eine milde Mischung von Emotion und Ratio, definiert werden. Er wirft Weber vor, dass er mit diesem Begriff der Debatte über das mögliche Zusammenspiel zwischen Emotionen und Kognition aus dem Weg geht. Leider erklärt er nicht, welchen Stellenwert dieser Begriff in Webers Werk hatte. <?page no="50"?> 51 Mir scheint es aber, dass Weber in diesem Text (und in anderen, wie später gezeigt wird) konsistent bleibt. Er zeigt, wie die Angst vor Verdammung und der Hass auf Emotionen, jede auf seine Weise, zur Rationalisierung des Calvinismus und der calvinistischen Lebensführung beigetragen haben. Dass Weber der Angst vor Verdammung tatsächlich eine zentrale Rolle zuschreibt, kann man auch daran erkennen, dass er betont, dass diese Angst die Suche nach seinen vielen Überwindungsformeln - auch nach neuen Kriterien für die Entschlüsselung des Gnadenzustandes - auslöst. Sogar Barbalet folgt in diesem Punkt Weber, der sagt, dass insofern die Prädestinationslehre selbst nicht gemildert oder aufgegeben wurde, es zur Entwicklung von zwei Unsicherheitsüberwindungsformeln kam: mystisch-emotional sowie asketisch-rational. Diese Formeln und ihre Variationen unterscheiden die protestantischen Sekten voneinander. Calvinismus mit seinen Forderungen nach Selbstkontrolle, deren Zweck die Unterdrückung der Emotionen war, stellte die asketisch-rationale der beiden Formeln dar. Diese Formel wird von Weber und seinen Interpreten bevorzugt diskutiert. Besonders zu beachten ist hierbei, dass Weber die Angst vor Verdammnis von einer neuen religiösen Doktrin, einem Kulturgut, ausgelöst sieht (vgl. Gerhards 1988: 32). Diese Angst trieb dann die Ideenentwicklung bzw. die kulturelle Entwicklung weiter, auch in die Richtung der Affektunterdrückung. In der Protestantischen Ethik hat Weber also eine Verbindung zwischen Ideen und Emotionen sowie Emotionen und Ideen herausgearbeitet, eine häufig übersehene Tatsache. Politik und »heiße Leidenschaft« Weber schreibt über Politik und über Wissenschaft als Beruf (Barbalet 2000; Tester 1999: 569; Heins 1999: 91). In beiden kann man dieselbe grundlegende Idee finden: Leidenschaft ist die Triebkraft der Berufsausübung. Webers Text zur Politik als Beruf beginnt mit der Feststellung, dass es in der Politik um »die Leitung oder die Beeinflussung der <?page no="51"?> 52 Leitung eines politischen Verbandes, heute also: eines Staates« geht (Weber 1999: 5,7,13). Der Staat wird als Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen innerhalb eines Territoriums definiert, ein Herrschaftsverhältnis, das sich auf legitime Gewalt stützt. Politik wird dann u.a. als Streben nach Macht definiert, auch unter Verwendung von Gewalt. Dann stellt Weber seine drei Herrschaftstypen, die Abrisse der Verwaltungsgeschichte und die Geschichte des Politikberufes vor. Im zweiten Teil des Textes geht es vor allem um die These, dass Politik und Gewalt einander implizieren. Auch ein extrem verantwortungsbewusster Politiker muss damit rechnen, dass er eines Tages mit einer bestimmten Situation konfrontiert wird, in der er, trotz seiner konträren Absichten, die Einsetzung von Gewaltmitteln nicht verhindern kann oder will. In den für uns interessanten Passagen seines Werkes, die der Politik seiner Zeit gewidmet sind, definiert Weber einen idealen Politiker. Interessant ist, dass er dem Politiker Freude als den grundlegenden emotionalen Zustand zuschreibt, statt beispielsweise von seinem Nutzen, seinen Interessen oder Werten zu sprechen. Dem Politiker, sagt Weber, bietet Politik »innere Freuden«, vor allem weil sie ein Machtgefühl vermittelt, dass man Einfluss über die Menschen, die Politik oder den Verlauf der Geschichte hat (Weber 1999: 61). Direkt danach fangen seine Überlegungen zum Verhältnis zwischen Ethik und Politik an. Er möchte wissen, womit sich der Politiker seine Freuden verdient. Auffällig dabei ist, dass sein Idealpolitiker nur drei Qualitäten besitzen muss, zwei Emotionen - Leidenschaft und Verantwortungsgefühl - sowie das Augenmaß. Die zentrale Frage ist, so Weber, »wie heiße Leidenschaft und kühles Augenmaß miteinander in derselben Seele zusammen gezwungen werden können? «(Weber 1999: 62). Seine Antwort: Diesselbe Leidenschaft, die einem Politiker zur Stellungnahme und zum Kampf veranlasst, ist die Quelle seiner Hingabe an die »Sache« und zugleich seines Verantwortungsgefühls (Weber 1999: 32,62-63). Eine ausschlaggebende Qualität des Politikers, mit Distanz Dinge, Menschen und sich selbst zu betrachten, hilft dieses Verantwortungsgefühl zu erzeugen. Es ist diese Distanzie- <?page no="52"?> 53 rung, die u.a. den »leidenschaftlichen Politiker auszeichnet, und ihn von den bloßen ›steril aufgeregten‹ politischen Dilettanten unterscheidet« (Weber 1999: 63). In der nächsten Textpassage treffen wir schon wieder auf eine These, die überrascht. Denn Weber schreibt darin nochmals einem Gefühl eine sehr wichtige Rolle zu: »Einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind hat daher der Politiker täglich und stündlich zu überwinden: die ganz gemeine Eitelkeit, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall: der Distanz, sich selbst gegenüber« (Weber 1999: 63). Eitelkeit wird im nächsten Absatz als »[d]ie Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs« charakterisiert (Weber 1999: 63). Diese Sünde gilt es, täglich zu bekämpfen. Der ideale Politiker soll seine Eitelkeit, seine »rein persönliche Selbstberauschung« mit der Macht unterdrücken, sich von sich selbst und anderen distanzieren, damit er in der Lage ist, seinen Beruf mit Hingabe an den Dienst der »Sache« auszuüben. Die Personen, die sich diesen Forderung nicht stellen können, sind für diesen Beruf ungeeignet, genauso wie diejenigen, die keine intensive Leidenschaft für die »Sache« empfinden und deshalb kein Verantwortungsgefühl entwickeln. Auch wenn Weber einige Male versucht auszudrücken, dass Politik mit dem Kopf gemacht wird, zeigen seine eigenen Überlegungen und Fragestellungen, dass es ihm nicht wirklich gelingt. Immer wieder fragt er nach der »Seele« und den Emotionen des Politikers. Aus der Perspektive der gegenwärtigen Soziologie der Emotionen stellen Webers Thesen eine Analyse von typischen Gefühlen dar, die von der Politik im Berufspolitiker hervorgerufen werden, und von dem Gefühlsmanagement, das Politik als Beruf dem verantwortlichen Politiker abverlangt. Seine These zu Distanzierung als ein Mittel gegen Eitelkeit kann als ein Rezept für berufsbedingtes Gefühlsmanagement interpretiert werden. Heute wird bei vielen dienstleistenden Berufen den Anfängern in Form von Unterricht, Übungen, Kursmaterial usw. beigebracht, welche unerwünschten Gefühle bei der Berufsausübung auftauchen, und wie mit ihnen umgegangen werden kann (Hochschild 1990). Aus die- <?page no="53"?> 54 ser Perspektive macht es Sinn, dass Ralf Dahrendorf im Nachwort zur Reclam Ausgabe von Webers Politik als Beruf (1999) diesen Text als eine ausgezeichnete, »lesbare Anleitung zum Beruf der Politik« bezeichnet. Dasselbe lässt sich auch, bis zu einem gewissen Grade, von dem nächsten, kurz analysierten Text behaupten. Wissenschaft und »das Vollgefühl« Eine wichtige Frage, die Weber Studenten, die sich zum Gelehrten berufen fühlen, stellt, lautet: »Glauben Sie, dass Sie es aushalten, dass Jahr um Jahr Mittelmäßigkeit nach Mittelmäßigkeit über Sie hinaussteigt, ohne innerlich zu verbittern und zu verderben? «(Weber 1995: 11). Er fügt hinzu: »ich ... habe es nur von sehr wenigen erlebt, dass sie das ohne inneren Schaden für sich aushielten.« Ohne diese Gefühle direkt zu nennen, vermittelt Weber, dass Frustration, Bitterkeit, Neid, Traurigkeit oder Zynismus den Beruf des Wissenschaftlers begleiten. In Politik als Beruf fügt er noch explizit Eitelkeit, »eine Art von Berufskrankheit«, dieser Palette hinzu (Weber 1999: 63). Er hat bereits seinen Zuhörern klar gemacht, dass im Deutschland dieser Zeit ein junger Wissenschaftler sehr lange unbesoldet auf eine Stelle warten und obendrein damit rechnen muss, dass statt Tüchtigkeit Zufall und Diskriminierung entscheiden, ob er sie je bekommt. Er erzählt weiter von dem Bedürfnis, Scheuklappen der Spezialisierung anzulegen, und sich in die Vorstellung hineinsteigern zu müssen, dass »das Schicksal seiner Seele davon abhängt«, wie er die alltäglichen Details seiner wissenschaftlichen Arbeit erledigt (Weber 1995: 12). In Aussicht stellt er nur, dass es mit harter, spezialisierter Arbeit einem »einmal und vielleicht nie wieder im Leben« gelingt, »das Vollgefühl« zu erleben, eine Leistung von Dauer hervorgebracht zu haben (Weber 1995: 12). Gegen dieses düstere Bild der eingeschränkten, mühsamen, lang unbezahlten und mit Dauererfolg selten gekrönter wissenschaftlicher Arbeit stellt er, »… was man das ›Erlebnis‹ der Wissenschaft nennen kann. Ohne diesen seltsamen, von jedem Au- <?page no="54"?> 55 ßenstehenden belächelten Rausch, diese Leidenschaft … hat einer den Beruf zur Wissenschaft nicht …« (Weber 1995: 12). Die Leidenschaft, die harte Arbeit und die »Gabe«, die auf dem Zusammenspiel der beiden ersten ruht, samt der Phantasie, sind alle notwendig, damit der Berufene mit etwas Glück zu wertvollen Resultaten kommt. Vor allem aber, muss der Wissenschaftler, dem Politiker ähnlich, der Sache und nur ihr dienen, sich ihr mit seiner ganzen Leidenschaft hingeben (Weber 1995: 15). Die Leidenschaft und die Hingabe sind deshalb so wichtig, weil nicht nur die persönliche Seite der Berufsausübung, sondern auch die Operationsprinzipien und der Stellenwert der Wissenschaft in der Moderne Schwierigkeiten implizieren. Die Wissenschaft ist dem Fortschritt verpflichtet. Das bedeutet, dass der Wissenschaftler mit dem Gedanken Frieden schließen muss, sogar lernen muss, Hoffnung bei dem Gedanken zu empfinden, dass im Namen des wissenschaftlichen Fortschrittes seine eigenen Resultate schnell für veraltet und überholt erklärt werden. Da liegt seine »Erfüllung« (Weber 1995: 16-29). Die zweite Schwierigkeit ist, dass die moderne Wissenschaft scheinbar nur zur Intellektualisierung und Entzauberung der Welt, aber nicht zur Sinnstiftung oder zur Orientierung in dieser Welt ihren Beitrag leistet. Auch mit diesen Einschränkungen muss sich der Wissenschaftler abfinden, damit eine zwangsläufige Frustration ihn nicht bei seiner Arbeit behindern kann. Der Text lässt erkennen, dass Weber der Leidenschaft eine zentrale Rolle zuschreibt. Ohne sie wäre der Wissenschaftler nicht in der Lage, seinen Beruf auszuüben. Und damit wäre es auch aus mit der Wissenschaft selbst. Leidenschaft ist ein Zeichen der wahren Berufung und zugleich das einzige, wenn auch nicht perfekte Heilmittel gegen die typischen beruflichen emotionalen Schäden und kontextuellen Schwierigkeiten. Webers Wissenschaftler ist mit noch einem wichtigen Gefühl ausgestattet, ohne welches die Berufsausübung und die Wissenschaft nicht funktionieren könnten: die Hoffnung. Dieses Gefühl der Hoffnung wird dem Wissenschaftler von seiner Berufsethik vorgeschrieben und von Laien erwartet. Im Unterschied <?page no="55"?> 56 zur Leidenschaft aber, die eigentlich eine ganz individuelle Gabe ist, birgt die Hoffnung Frustration und Bitterkeit, da die eigene Leistung zu schnell durch neue Befunde in Frage gestellt wird. Aber die Hoffnung auf den wissenschaftlichen Fortschritt aufzugeben hieße, das Vertrauen in den Sinn der eigenen Tätigkeit zu verlieren. Andererseits hilft Hoffnung, Distanz zu sich selbst zu entwickeln, sich als kleines Rad im Ganzen zu sehen. Hoffnung hilft, mit Demut den eigenen Fortschritt, der vielleicht schon morgen keine Bedeutung mehr hat, zu betrachten. Diese Hoffnung aufgeben heißt, sich Eitelkeit hinzugeben (Weber 1999: 63) oder von der eigenen Arbeit genau so wenig Resultate zu erwarten wie von der Wissenschaft. Weber endet seinen Text mit einer optimistischen Note. Die Wissenschaften, wenn sie von einem gewissenhaften Lehrer vertreten werden, sind in der Lage, Selbstbesinnung zu fördern. Ein »brauchbarer« Lehrer hat die Aufgabe, seine Schüler mit entzaubertem Alltag und unbequemen Tatsachen zu konfrontieren, es ihnen zu erleichtern, selbst zu entscheiden, welches das Böse und welches das Gute ist, und ob die Mittel den Zweck wirklich heiligen (Weber 1995: 32-39). Er soll ihnen die Mittel liefern, mit deren Hilfe es möglich wird, Klarheit zu erlangen und »sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns« (Weber 1995: 39). Herrschaft und Emotion Wie bekannt, ist Webers riesiges Forschungsprogramm - seine vergleichende Untersuchung von Weltreligionen samt unterschiedlichen Wirtschafts- und Herrschaftstypen - von einer leitenden Frage inspiriert: Wie ist es dazu gekommen, dass gerade im Abendland der Kapitalismus zuerst entstand? Wie Collins (1986,1980) argumentiert, hat seine Forschung ihn dazu gebracht, am Ende seines Lebens dem Protestantismus weniger Bedeutung beizumessen und stattdessen viel mehr Bedeutung dem Staat zuzuschreiben. Für unsere Zwecke ist nur seine Herrschaftsdefinition und von den drei Herrschaftstypen - traditionale, legal-bürokratische <?page no="56"?> 57 und charismatische - nur Charisma von Interesse. Nur dort finden wir explizite Überlegungen zur Rolle der Emotionen. Herrschaft wird als eine legitime Form der Macht definiert. Während Macht eine beliebige Basis hat, sei es Schönheit, Charme, Geld oder Gewalt, ruhen die drei Herrschaftstypen auf verschiedenen Typen von Legitimität bzw. Massenakzeptanz. Für uns interessant ist, dass Weber die Herrschaft aus der Sicht des Herrschaftsobjektes - Vasallen bzw. Lehnsmänner, Beamte bzw. Angestellte sowie Gefolgschaft bzw. Jünger - charakterisiert. Er fragt sich, warum gehorcht wird. Seine Antwort, die teilweise die historischen Gegebenheiten wiedergibt, beinhaltet auch generalisierende Statements. Seine Aussage, dass sich Gehorsam immer zwischen Furcht und Loyalität bewegt, gehört zu solchen Statements. Ein Beispiel: der Angestellte spürt eine gewisse Loyalität für seinen Chef bzw. die gesetzte Ordnung, und gleichzeitig fürchtet er sich vor diesem Chef, da dieser gewissermaßen der Träger, die Verkörperung, dieser legitimen Ordnung ist. Außerdem bestimmt er über das Gehalt, die Karrierechancen, kurz: die Lebenschancen des Angestellten. Im Falle des Ungehorsams kann er legitim und mit voller Kraft die durch die gesetzte Ordnung vorgesehenen Sanktionsmittel einsetzen: Genügend Gründe also sowohl für Loyalität als auch Furcht. Diese beiden Emotionen sind wichtig für die Aufrechterhaltung von Gehorsam und damit auch von Herrschaft. Besonders ein Herrschaftstyp - Charisma - ist mehrmals Emotionen verpflichtet. In seiner ursprünglichen, antiken Form tauchte Charisma immer dann auf, wenn der soziale Wandel die alten Sitten und Gesetze außer Kraft setzte, und die Menschen fanden, dass die alten Regeln ihnen nicht mehr helfen konnten. Diese Krisensituation, die man heute als »Systemzusammenbruch« bezeichnen würde, war von hoher Emotionalität geprägt. Man kann das Ganze auch so verstehen, dass sich die Menschen in einem normativen Vakuum oder Chaos befanden, das sie an jedwedem Handeln hinderte. Die Situation steigerte ihre Angst und Verunsicherung, trieb sie bis zu Hysterie. In dieser emotional geladenen Situation versuchen die so ge- <?page no="57"?> 58 nannten Propheten, einen Weg aus der Krise zu vermitteln. Sie konkurrieren mittels ihres Aussehens, ihren magischen Kräften sowie ihren Norm- und Zukunftvisionen miteinander, um Aufmerksamkeit, Bewunderung und Loyalität der Gläubigen zu erlangen. Der extreme Glauben des Propheten daran, dass er seine Erlebnisse und Visionen richtig erfasst hat, ermöglicht ihm, mit immenser emotionaler Intensität seine Verantwortung zu spüren, sich dieser Aufgabe mit großer Hingabe zu widmen. Man kann also sagen, dass die Emotionalität von in Krisen geratenen Menschen eine Entsprechung in der emotionalen Intensität des charismatischen Führers findet. Wenn er Zuspruch erfährt, äußert sich dieser Zuspruch in mehreren Emotionen - Bewunderung, Liebe und Loyalität. Bei charismatischer Herrschaft ist die Anerkennung »psychologisch eine aus Begeisterung oder Not und Hoffnung geborene gläubige, ganz persönliche Hingabe« (Weber 1985: 140). Auch wenn sie Legitimität und eine Gruppe von Jüngern gewonnen hatten, mussten die Propheten von Zeit zu Zeit ihre Anhänger davon überzeugen, dass sie ihr Charisma, ihre außergewöhnlichen Kräfte, ihre Fähigkeit zu Heldentaten, ihre Verbindung zu Jenseits / Magie, nicht verloren hatten. Sie mussten sich bewähren (Weber 1985: 140). Weber nimmt an, dass unabhängig von Bewährungsproben sich der charismatische Führer immer wieder fragen musste, ob er noch zu den Auserwählten gehörte. Vielleicht erlebte er sogar eines Tages tatsächlich, dass seine Gabe spurlos verschwunden war. Sobald er dies spürte bzw. es von seinen Anhängern entdeckt wurde, konnte der Führer davon ausgehen, verjagt und gehasst zu werden. Die Massen kannten keine Gnade. Die charismatische »Gemeinde« bzw. der Verwaltungsstab von Glaubensgenossen, Kriegern, Jüngern oder Parteiverbänden ist nach charismatischen Attributen ausgewählt. Sie stellt eine emotionale Gemeinde dar, »die Jünger oder Gefolgen leben (primär) mit dem Herrn in Liebesbzw. Kameradschaftskommunismus aus den mäzenatisch beschafften Mitteln« (Weber 1985: 141). Nur diese Gemeinde oder »die kleine begeisterte Jünger- und Gefolgen-Schicht ist dazu an sich dauernd bereit«, mäzenatisch von <?page no="58"?> 59 Beute oder von Spenden zu leben (Weber 1985: 144). Aufgrund von materiellen Gründen und hauptsächlich wegen ihres Wunsches nach Sicherheit interessiert sich die übrige Gefolgschaft und Anhängerschaft für die Veralltäglichung des Charisma. Emotionen tauchen also an den verschiedensten Stellen in Webers Analyse von Charisma auf: Die Krise selbst und der Prophet sind höchst emotional. Wenn der Prophet Akzeptanz durch bestandene Bewährungsproben gewinnt, wird er geliebt; wenn er sie jedoch verliert, wird er gehasst. Der Verwaltungsstab bei dieser Form des Charisma ist ebenfalls Emotionen verpflichtet: der Liebe und der andauernden Begeisterung. Barbalet argumentiert, dass Weber die ausschlaggebende Rolle der Leidenschaft zum ersten Mal entdeckte, als er 1916 die jüdischen Propheten untersuchte. So wie den Wissenschaftlern und den Politikern in seinen späteren Aufsätzen (1917/ 1918), positioniert diese Leidenschaft den Propheten in den Dienst der Sache, die viel größer ist als er selbst (Barbalet 2000). Sie verbindet seine Person mit der Sache. Außerdem verstanden die Propheten ihr Charisma als eine Pflicht und erfüllten sie deshalb mit intensiver Hingabe. Obwohl sich Volker Heins (1999: 92-94) Webers Propheten aus einer völlig anderen Perspektive nähert, betont auch er den Fakt, dass Weber sehr von der ungeheuren emotionalen Wucht und der Leidenschaft der Propheten beeindruckt war und in dieser Leidenschaft die Quelle bzw. Begleitung der Frühformen des praktischen Rationalismus sah. Die Parallele zu Webers Protestanten, aber auch zu seinem Politiker und seinem Wissenschaftler, drängt sich regelrecht auf. Vielleicht handelt es sich bei der Weber’schen Soziologie in diesen Punkten um eine riesige Selbstprojektion? Mehrere von Webers Zeitgenossen redeten von seiner Leidenschaft, von der »Dämonie seiner Seele« und von »seiner chthonischen Eruptivität«, die er gelernt hatte zu kontrollieren: »Die Wissenschaft war für Weber eine Art ›Schutzvorrichtung gegen die eigene Seele‹« (Heuss in Dahrendorf 1999: 89). Bekanntlich nicht immer erfolgreich. Weber musste seine Heidelberger Professur für einen Aufenthalt in einer Nervenklinik verlassen. Es kann ja sein, dass <?page no="59"?> 60 seine Dämonen für die Ähnlichkeiten zwischen den Grundgedanken in diesen vier Texten sorgten. Wie ich bald zeigen werde, erinnert Webers Charakterisierung der Krisensituation als der große Erlöser von Emotionen sehr an die Krisensituation bei Durkheim. Auch er argumentierte, dass Anomie, also Regellosigkeit, schmerzvolle Unruhe verursacht und zum Selbstmord treibt. Literatur Barbalet, J. 2000. »Beruf, Rationality, and Emotion in Max Weber’s Sociology« European Journal of Sociology XLI, 2: 329 - 351 Collins, R. 1986. Weberian Sociological Theory. Cambridge. Cambridge University Press Collins, R. 1980. »Weber’s Last Theory of Capitalism: A Systematization« American Sociological Review 45, 6: 925 - 942 Collins, R. 1975. Conflict Sociology: Towards an Explanatory Science. New York. Academic Press Dahrendorf, R. 1999. »Nachwort« in Politik als Beruf. M. Weber. Ditzingen. Reclam Gerhards, J. 1988. Soziologie der Emotionen. München. Juventa Verlag Heins, V. 1999. »Demokratie als Nervensache. Zum Verhältnis von Politik und Emotion bei Max Weber« in Masse - Macht - Emotionen. Zu Einer Politischen Soziologie der Emotionen. Hrsg. von A. Klein und F. Nullmeier. Opladen/ Wiesbaden. Westdeutscher Verlag, S.89 - 101 Hochschild, A.R. 1990.[1983] Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt a.M. Campus Tester, K. 1999. »Weber’s alleged emotivism« British Journal of Sociology 50,4: 563 - 573 Sennett, R.1998. Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin. Berlin Verlag Weber, M. 1999. Politik als Beruf. Ditzingen. Reclam Weber, M. 1995. Wissenschaft als Beruf. Ditzingen. Reclam Weber, M. 1985. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen. Mohr Weber, M. 1963. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), S. 1 - 236 <?page no="60"?> 61 E MILE D URKHEIM Es ist üblich, bei Interpretationen von Durkheim das Kognitiv- Normative seiner Theorie zu betonen. Dekadenlang hat man Durkheim als den Klassiker dargestellt, der die soziale Integration, das Kollektivbewusstsein und, in der Debatte mit Utilitaristen, bindende Normen als die absolut notwendige Voraussetzung für die Geltung von Verträgen thematisiert. Dank der intellektuellen Überlegenheit seiner Argumentation konnte sich somit die neue soziologische Perspektive behaupten (für Kritik: s. Lukes 1972). Die meisten Interpreten Durkheims meinen, dass sein Thema soziale Ordnung, Verstöße gegen Normen und deren Wiederherstellung umfasst. Wenn man das nun folgende, zufällig ausgewählte Zitat zur sozialen Integration liest, verstärkt sich der Eindruck, dass diese etablierte Interpretation von Durkheim, die Kognition als das integrierende Moment in der Gesellschaft betont, seiner Grundargumentation entspricht: »Denn wenn eine ganze Gesellschaft bestimmte Ideen teilt, dann gewinnen diese daraus eine Autorität, die sie sakrosankt macht und jedem Angriff entzieht ... Je mehr Denken und Handeln religiös bestimmt und folglich der freien Kritik entzogen sind, um so mehr ist die Gottesidee in allen Einzelheiten des Lebens gegenwärtig und lenkt den Willen des einzelnen auf ein einziges und gleichbleibendes Ziel.« (Durkheim 1999b: 170 - 171) Über soziale Arbeitsteilung In diesem Werk folgt Durkheim mit seiner Frage zu Arbeitsteilung den Spuren von Adam Smith, dem wahrscheinlich bedeutendsten klassischen Nationalökonomen, der 1776 seinen Klassiker Der Wohlstand der Nationen veröffentlichte. Die Theorie der Arbeitsteilung hat »seit Adam Smith recht wenige Fortschritte gemacht«, und Durkheims Ziel ist es, diesen Zustand zu ändern (Durkheim 1999: 90 - 91,83). Es scheint, dass Durkheim <?page no="61"?> 62 im Unterschied zu vielen anderen Smith’ Werk aufmerksam gelesen hat. Er teilt Smith’ pessimistische Sicht der verschiedenen Auswirkungen der Arbeitsteilung. Ebenso wie Smith, und im Gegensatz zu Liberalen und denen, die anscheinend nur den Anfang des Werkes von Smith gelesen haben, begnügt er sich nicht mit Lobeshymnen. Im Gegenteil, in Über soziale Arbeitsteilung und dann in Selbstmord formuliert er eine liberale Kritik der neuen Wirtschaftsordnung. Uns interessiert aber vor allem, dass er in diesem - seinem ersten bedeutenden - Werk, nach der Fähigkeit der sozialen Arbeitsteilung fragt, ein Gefühl der Solidarität bzw. »Freundesgesellschaften« herzustellen. Es herrscht kein Zweifel darüber, dass er seinen Begriff von Solidarität mit Gefühl verbindet, sogar oft als pures Gefühl versteht: Solidarität heißt, dass sich die Menschen lieben und »aneinander und an ein und derselben Gesellschaft hängen, an der sie teilhaben« (Durkheim 1999a: 173). Seine zu untersuchende These ist, dass die Arbeitsteilung nur eine »wahre« Funktion hat, ein Solidaritätsgefühl zu erzeugen: »... ihre wahre Funktion besteht darin, zwischen zwei oder mehreren Personen ein Gefühl der Solidarität herzustellen. Wie immer dieses Ergebnis auch erlangt wird, diese Solidarität regt diese Freundesgesellschaften an ...« (Durkheim 1999a: 102) Solidarität lässt sich aber nicht direkt untersuchen. Um seine These zu überprüfen, führt Durkheim den Begriff des Kollektivbewusstseins ein. Kollektivbewusstsein ist ein wichtiger Ausdruck bzw. Indikator der Solidarität. Im Unterschied zur Solidarität lässt sich Kollektivbewusstsein jedoch untersuchen, da Verstöße gegen dieses kollektive Bewusstsein eine heftige emotionale Reaktion hervorrufen und rechtlich verfolgt werden. Es wird anfangs als die Gesamtheit von religiösen Überzeugungen und Gefühlen in der Gesellschaft definiert: <?page no="62"?> 63 »Die Gesamtheit der gemeinsamen religiösen Überzeugungen und Gefühle im Durchschnitt der Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft bildet ein umgrenztes System, das sein eigenes Leben hat; man könnte sie das gemeinsame oder Kollektivbewußtsein nennen.« (Durkheim 1999a: 128) Im Gegensatz zur Solidarität ist das kollektive Bewusstsein also messbar. Durkheim schlägt vor, dass »eine Handlung kriminell ist, wenn sie starke und bestimmte Zustände des Kollektivbewusstseins verletzt« und mit einer Strafe, die »in erster Linie aus einer leidenschaftlichen Reaktion« besteht, belegt ist (Durkheim 1999a: 129,135,146). Strafrecht verkörpert solche leidenschaftlichen Reaktionen. Durkheim meint, dass Kollektivbewusstsein als Indikator der Solidarität zumindest in komplexen Gesellschaften anwesend ist. Mit dem Nachweis, dass Strafrecht auch schon zu seiner Zeit einen signifikanten Anteil des Gesetzbuches in Anspruch nimmt, sieht er dies als bewiesen an. Er betont, dass weder schwere Interessenverletzungen, noch Konflikte zwischen abstrakten Ideen eine starke emotionale Reaktion hervorrufen (Durkheim 1999a: 133,148). Auf Seite 148 sagt er des Weiteren, dass es sich erst dann um tiefempfundene Überzeugungen handelt, wenn durch einen Angriff unsere Gefühle aufs Spiel gesetzt werden. Das führt zu intensiven Gefühlsreaktionen und Handlungen. Nur zwei Seiten später werden aus tief empfundenen Überzeugungen Gefühle, die verletzt werden: »Da nun die Gefühle, die das Verbrechen verletzt, im Schoß jeder Gesellschaft die weitaus allgemeinsten kollektiven Gefühle sind, die sie überdies besonders heftige Zustände des allgemeinen Bewußtseins darstellen, ist es unmöglich, dass sie den Widerspruch dulden.« (Durkheim 1999a: 150) Wenn Durkheim unsere Gefühle zu wahren Opfern von beleidigenden Angriffen macht, argumentiert er, dass jede tiefe, nicht nur religiöse, Überzeugung, falls angegriffen, eine starke emotionale Reaktion hervorruft. Es ist, als ob sich sein eigenes Verständ- <?page no="63"?> 64 nis des Begriffes Kollektivbewusstsein im Laufe seiner Analyse säkularisiert hat. Außerdem ist zu spüren, dass sich sein Begriff des Kollektivbewusstseins zunehmend emotionalisiert und sich auf den gemeinsamen, emotionalen Nenner reduziert. Durkheim betont, dass nur besonders »heftige Zustände des allgemeinen Kollektivbewußtseins«, die er mit den »weitaus allgemeinsten kollektiven Gefühlen« gleichsetzt, Verletzungen bzw. Angriffe besonders intensiv spüren und auf sie reagieren (Durkheim 1999a: 150). Wenn diese allgemeinsten kollektiven Gefühle angegriffen werden, stellen unsere erregten Gefühle, wie Wut, einen Appell an zusätzliche emotionale und kollektive Kräfte dar, der die anderen Mitglieder der Gemeinschaft animieren soll, sich uns anzuschließen (Durkheim 1999a: 149 - 150). Durch Gefühlsaustausch verstärken sich ähnliche Gefühle gegenseitig. Gemeinsam produzieren sie eine intensive Reaktion, die notwendig ist, um eine »gewalttätige Genugtuung« zu erreichen. Bei dieser Art fundamentalen Angriffs auf kollektive Gefühle genügt eine »einfache Rückkehr zur gestörten Ordnung« bei weitem nicht - nichts Geringeres als Sühne wird verlangt, da es sich um einen Angriff auf etwas Transzendentes handelt (Durkheim 1999a: 150). »Wenn es sich aber um eine Überzeugung handelt, die uns lieb ist, erlauben wir nicht - und können es gar nicht erlauben -, daß man ungestraft Hand an sie legt. Jede gegen sie gerichtete Beleidigung erzeugt eine mehr oder weniger heftige Gefühlsreaktion, die sich gegen den Angreifer wendet. Wir ereifern uns, wir entrüsten uns über ihn, wir sind ihm böse, und die derart erregten Gefühle können sich nur durch Handlungen Luft verschaffen: wir fliehen ihn, wir halten ihn auf Abstand, wir schließen ihn aus unserer Gesellschaft aus usw. ... Da nun die Gefühle, die das Verbrechen verletzt, im Schoß jeder Gesellschaft die weitaus allgemeinsten kollektiven Gefühle sind, die es gibt, da sie überdies besonders heftige Zustände des allgemeinen Bewußtseins darstellen, ist es unmöglich, daß <?page no="64"?> 65 sie den Widerspruch dulden ... Besonders wenn [sich] dieser Widerspruch ... nicht nur in Worten äußert, sondern in Handlungen, [kann uns] eine einfache Rückkehr zur gestörten Ordnung nicht genügen: wir brauchen eine gewalttätige Genugtuung ... denn nur dank der Intensität der Reaktion kann sie sich wieder erholen und denselben Grad der Energie erhalten ... Da diese [beleidigten] Gefühle aufgrund dieses kollektiven Ursprungs, ihrer Universalität, ihrer Dauerhaftigkeit, ihrer innewohnenden Intensität eine außerordentliche Kraft haben, unterscheiden sie sich radikal vom übrigen Bewußtsein, dessen Zustände viel schwächer sind. Sie beherrschen uns, sie haben sozusagen etwas Übermenschliches, und zu gleicher Zeit binden sie uns an Objekte, die außerhalb unseres zeitlichen Lebens liegen ... Da diese Gefühle Kollektivgefühle sind, sind nicht wir es, die sie in uns repräsentieren, sondern die Gesellschaft. Indem wir sie rächen, rächen wir die Gesellschaft ...« (Durkheim 1999a: 148,150, 151) Die »weitaus allgemeinsten kollektiven Gefühle« sind kollektiven Ursprungs. Insofern sind sie als soziale Tatsachen zu verstehen, da sie die (außerordentliche Kraft der) Gesellschaft repräsentieren (Durkheim 1999a: 114,151). Sie beherrschen uns, drücken etwas Transzendentes aus. Zugleich binden sie an das Transzendente. Mit ihnen verbunden sind die Strafen, die dem Täter Schmerzen zufügen. Die wirkliche Funktion der Strafe und der damit verbundenen Schmerzen ist die Aufrechterhaltung des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft, da den »ehrenwerten Leuten« demonstriert wird, dass die »Kollektivgefühle noch immer kollektiv« und »unangetastet geblieben« sind (Durkheim 1999a: 159): »Denn da [die Strafe] dazu dient, die Wunden zu heilen, die den Kollektivgefühlen beigebracht worden sind, kann sie diese Rolle nur dort erfüllen, wo diese Gefühle existieren, und in dem Maß, in dem sie lebendig sind.« (Durkheim 1999a: 159) <?page no="65"?> 66 Durkheim kommt zu dem Ergebnis, dass das Strafrecht, das diese Art starker kollektiver Gefühle widerspiegelt und somit eine äußerst wichtige integrierende Funktion hat, weniger Platz in modernen Gesetzbüchern einnimmt als das restitutive Recht, das schwache kollektive Gefühle widerspiegelt und auf bloße regulative und wiederherstellende Funktionen beschränkt ist (Durkheim 1999a: 159,200). Seine sehr umfangreiche und detaillierte Tabelle zu »Regeln, die Handlungen verbieten, die den Kollektivgefühlen zuwiderlaufen« (s. S. 67), die ebenfalls beide Rechtstypen umfasst, listet folgende Typen von Kollektivgefühlen auf: Religiöse Gefühle, nationale Gefühle, Familiengefühle, sexuelle Gefühle, Arbeitsgefühle, verschiedene herkömmliche Gefühle, Gefühle hinsichtlich staatlicher Organe, Gefühle die sich auf das Individuum und/ oder seine Güter beziehen (Durkheim 1999a: 208 -210). Um nur ein paar Beispiele aus seiner Tabelle zu zitieren, es werden Gefühle angesprochen, die heilige Stätte, Verrat, Bigamie, Inzest, Begräbnis, Verschwörung gegen die legitime politische Macht, falsches Zeugnis, Vertrauensmissbrauch oder Brandstiftung betreffen. Obwohl, wie bereits Durkheim notierte, sich ihr Umfang verringert hat, sind sie immer noch sehr intensiv. Sie stellen Bestandteile des Kollektivbewusstseins dar. Durkheim empfiehlt, sie an ihrer Universalität, Dauerhaftigkeit, Intensität und ihrem Umfang zu messen (Durkheim 1999a: 151, 205). <?page no="66"?> 67 I Allgemeine Ziele Religiöse Gefühle • Positive (zwingen die Religionspraxis auf) die sich auf Überzeugungen beziehen, die das Göttliche betreffen • Negative die sich auf Kult beziehen die sich auf Kultorgane beziehen (Heilige Stätten, Priester) Nationale Gefühle • Positive (positive Bürgerpflichten) • Negative (Verrat, Bürgerkrieg usw.) Familiengefühle Väterliche, eheliche und kindliche Gefühle • Positive Verwandtschaftliche Gefühle im allgemeinen • Negative die gleichen Gefühle, die sich auf sexuelle Beziehungen beziehen Inzest • verbotene Verbindungen Sodomie Mißheiraten • Prostitution, öffentliche Schamhaftigkeit, Schamhaftigkeit Minderjähriger Gefühle, die sich auf die Arbeit beziehen • Bettelei • Herumtreiberei • Trunkenheit • Strafrechtliche Regelung der Arbeit Verschiedene herkömmliche Gefühle • in Bezug auf bestimmte Bräuche des Berufs • in Bezug auf das Begräbnis • in Bezug auf die Nahrung • in Bezug auf das Zeremoniell • in Bezug auf Gebräuche aller Arten Gefühle, die sich auf das Organ des allgemeinen Bewusstseins beziehen Majestätsbeleidigung • soweit sie direkt verletzt sind Verschwörung gegen die legitime Macht Beleidigungen, Gewalttaten gegen die Autorität. - Rebellion Anmaßung öffentlicher Funktionen durch Einzelpersonen Usurpation - Fälschungen • indirekt Verletzung der Amtspflicht durch Beamte und andere professionelle Verfehlungen Betrug zum Schaden des Staates Ungehorsam aller Art (administrative Übertretungen) II Individuelle Ziele Gefühle, die sich auf die Person des Individuums beziehen • Mord, Verwundungen - Selbstmord Physische Moral (Zwang zur Ausübung der bürgerlichen Rechte) • Individuelle Freiheit Beleidigungen, Verleumdungen • Ehre - Falsches Zeugnis Gefühle, die sich auf die Sachen des Individuums beziehen • Raub ⇒ Hochstapelei, Vertrauensmissbrauch ⇒ Verschiedene Betrügereien Gefühle, die sich auf eine Gesamtheit von Individuen beziehen, sowohl auf ihre Person als auch ihre Güter betreffend • Falschmünzerei - Konkurs • Brandstiftung • Straßenraub - Plünderung • Öffentliche Gesundheit Quelle: Durkheim, Emile. 1999a. Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a.M. S.208-210 R EGELN , DIE H ANDLUNGEN VERBIETEN , DIE DEN K OLLEKTIVGEFÜHLEN ZUWIDERLAUFEN <?page no="67"?> 68 Selbstmord Im Selbstmord beschäftigt Durkheim bekanntlich die Frage, welchen Ursachen Selbstmord zu Grunde liegt. Nachdem er eine lange Liste der verschiedensten denkbaren Faktoren, wie Rasse, Klima oder Nachahmung, untersucht und sie verwerfen muss, demonstriert Durkheim in dem zweiten Hauptteil seines Werkes, dass es sinnvoll ist, drei verschiedene Selbstmordtypen - der egoistische, der altruistische und der anomische - voneinander zu unterscheiden und nach ihren getrennten, sozialen Ursachen zu suchen. Durkheims These ist, dass der Integrations- und Regulationsgrad der sozialen Gruppen, denen das Individuum angehört, die Selbstmordtypen und auch die Selbstmordraten bestimmt. Was an diesem Werk besonders überrascht, ist, dass Durkheim Emotionen kausale Kräfte zuschreibt, die er Individuen und ihren Austauschbeziehungen strikt verweigert (Durkheim 1999b: 171, 346 - 380; Durkheim 1999a). Kollektivgefühle werden noch expliziter als in Über soziale Arbeitsteilung als soziale Tatsachen definiert. Soziale Tatsachen, ein von Durkheim geprägter, zentraler Begriff, beziehen sich auf kollektive Phänomene, die Zwänge auf das Individuum ausüben und so das individuelle Handeln beeinflussen. Sie existieren unabhängig vom Einzelnen und entwickeln Eigendynamik. Darüber hinaus sind sie in der Lage, Individuen zu kollektivem Handeln, aber auch zum Selbstmord zu bewegen. Noch überraschender ist: Durkheim entwickelt eine Theorie des Glücks, die sich gegen eine weit verbreitete Falschinterpretation des Textes Der Wohlstand der Nationen (1776) von Adam Smith, dem klassischen Ökonomen, richtet. Egoistischer Selbstmord: Die Abwehrkraft der Leidenschaft und der Liebe Nach dem sozialen Integrationsgrad der Religion und der Familie untersucht Durkheim den des Staates. Er versteht den Staat als die politische Gesellschaft. Mit Hilfe der Statistik weist er nach, <?page no="68"?> 69 dass dynastische Kriege oder politische Bewegungen, die der Bevölkerung gänzlich fern oder fremd erscheinen, keinen Einfluss auf die Selbstmordraten besitzen. Nur die großen nationalen Kriege oder Revolutionen, »die die Leidenschaft aufrühren« und die Bevölkerung mobilisieren, lassen Selbstmordraten entscheidend sinken (Durkheim 1999b: 229). Man könnte meinen, dass das Wort Leidenschaft Durkheim hier nur »herausgerutscht« ist. Jedoch mit seiner Zusammenfassung der Resultate zum egoistischen Selbstmord am Ende des Kapitels bietet er ein vollständiges Rezept für starke Kollektivkräfte an, das gegen den egoistischen Selbstmord schützen kann. Unter den Ingredienzen finden wir mehrere Emotionen. Nicht nur die Abhängigkeit der Mitglieder von ihrer Gruppe oder die Autorität, die diese Gruppe in den Augen ihrer Mitglieder besitzt, werden erwähnt, sondern auch die Liebe für die eigene solidarische Gruppe, Furcht, die Gruppeninteressen zu verletzen, und Empfindungsaustausch innerhalb der Gesellschaft, der den einzelnen stärkt. Die Liebe, die Furcht und die Empfindungszirkulation werden als Heilmittel gegen jeglichen privaten Kummer dargestellt. In einer stark integrierten sozialen Gruppe sind die Mitglieder fest ans Leben gebunden: »... solange sie solidarisch ... mit einer Gruppe [sind], die sie lieben, halten sie weit eigensinniger am Leben fest aus Furcht, Interessen zu verletzen, denen die eigenen unterzuordnen sie sich gewöhnt haben. Die Bindung an die gemeinsame Sache bindet sie auch ans Leben, und im übrigen hindert sie das hohe Ziel, auf das ihre Augen gerichtet sind, daran, ihren privaten Kummer lebhaft zu empfinden. Schließlich findet in jeder ineinander verflochtenen und lebendigen Gemeinschaft ein ständiger Ideen- und Empfindungsaustausch von allen zu einem, von einem zu allen statt, und es gibt eine Art moralischer Unterstützung, die den einzelnen, statt ihn auf sich selbst zurückzuwerfen, an den kollektiven Kräften teilhaben läßt und ihn dadurch stärkt, wenn er sich am Ende fühlt.« (Durkheim 1999b: 233) <?page no="69"?> 70 Auch in diesem Text ist also Liebe für Durkheim beinahe dasselbe wie Gruppensolidarität. Das Neue in seiner Argumentation in Selbstmord ist, dass Liebe zugleich eine Äußerung der starken sozialen Ordnung ist. Liebe für die eigene Gruppe - egal ob es die Familie, Religionsgemeinde oder Nation ist - mobilisiert den Einzelnen und schützt ihn gegen Selbstmord. Wie im Folgenden noch besprochen wird, äußert sich mangelhafte soziale Ordnung in kollektiver Depression, Enttäuschung und Trauer - Emotionen, die sich sowohl in verstärkten Selbstmordtendenzen als auch in sozialen Unruhen ihren Ausdruck finden (Durkheim 1999b: 239). Anomischer Selbstmord: Durkheims Theorie des Glücks Obwohl sich auch in Durkheims Analyse des altruistischen Selbstmordes Hinweise zur wichtigen Rolle der Gefühle finden lassen, gewinnen sie noch mehr Gewicht in seiner Diskussion des dritten und abschließenden Selbstmordtyps - des anomischen. In diesem Fall wird Durkheims These erst für die ganze Gesellschaft entwickelt und dann auf die geschiedenen Männer bezogen: Wenn die kollektive Ordnung, die mit gerechter Reglementierung, Disziplinierung und Mäßigung von differenzierten individuellen Trieben, Bedürfnissen und Wünschen gleichzusetzen ist, gestört wird, wächst die Selbstmordrate auffallend. Interessant ist, dass Durkheim eine Theorie des Glücks entwickelt, um seine These zu untermauern. Er hatte dieses Thema schon früher in einem Kapitel aus Über soziale Arbeitsteilung angesprochen. Der Titel des Kapitels macht offensichtlich, dass das Hauptthema Durkheims das Glück ist: »Die Fortschritte der Arbeitsteilung und die Fortschritte des Glücks« (Durkheim 1999a: 289). Darin bespricht er psychologische Theorien, die sich auf die Voraussetzungen des individuellen Glücks, wie harmonische Entwicklung, moderate Erregung oder moderates Vergnügen, konzentrieren. Er argumentiert, dass der Mensch so beschaffen ist, dass er nur mittlere moralische, materielle, intellektuelle und physische Tätigkeit vertragen kann. Die Vergangenheit und das Gewohnte halten ihn zurück. Jede Existenzände- <?page no="70"?> 71 rung stellt eine schmerzhafte Krise dar (Durkheim 1999a: 297). Seine Hauptthese lautet: »In Wirklichkeit ist ... unser Glücksvermögen sehr beschränkt« (Durkheim 1999a: 291). In dem Kapitel versucht Durkheim auch die These zu widerlegen, dass Gesellschaften mit komplexer Arbeitsteilung glücklicher sind als Gesellschaften mit einfacher Arbeitsteilung. Dabei sei die Suche nach Glück nicht die Ursache für die Entwicklung der Arbeitsteilung. In Selbstmord entwickelt er seine Theorie des Glücks weiter. Er nimmt an, dass sich das Individuum, genauso wie die Gesellschaft, nur dann wohl fühlt, wenn es sich im Gleichgewicht befindet. Dieses Gleichgewicht ist dann vorhanden, wenn sich die individuellen Bedürfnisse und die verfügbaren Mittel im Einklang befinden (Durkheim 1999b: 279). Man könnte viele Modelle für diese Art Gleichgewicht entwickeln. Durkheim aber schlägt folgendes vor: Dieser Zustand ist nur dann erreicht, wenn es die Gesellschaft vermag, eine übergeordnete moralische Kraft auszuüben, ihre Mitglieder zu disziplinieren, ihre geistigen Bedürfnisse zu regulieren und zu begrenzen. Aufgabe der sozialen Ordnung ist es, Begierden, Bedürfnisse und Wünsche, die in einen Zustand der »schmerzvollen Unruhe« und in »Unbehagen« versetzen könnten, einzugrenzen (Durkheim 1999b: 282). Aus Durkheims Sicht sind sowohl Prosperität als auch Fortschritt völlig überbewertet. Die Entwicklung der Industrie und die Expansion der Absatzmärkte lassen die Verdienstmöglichkeiten unrealistisch groß erscheinen und führen vor allem zur »fieberhafte[n] Betriebsamkeit«, zum »überhitzte[n] Ehrgeiz« und zur völligen »Entfesselung der Begierden« (Durkheim 1999b: 292). Die ganze Gesellschaft leidet unter »Begehrlichkeit«, wobei »die angestrebten Ziele himmelweit über allem Erreichbaren liegen ... Es ist da ein Hunger nach neuen Dingen, nach unbekannten Genüssen, nach Freuden ohne Namen ... [aber] diese unendlich übereinander gehäuften neuen Sensationen [können] keine solide Grundlage für ein Glück bilden ...«, da dem Glück in die Zukunft projiziert und ihm ewig rastlos nachgejagt wird (Durkheim 1999b: 293, 289). <?page no="71"?> 72 Wie aber können die entfesselten Begierden gebändigt werden? Schon wieder sehr überraschend, entwickelt Durkheim eine Schichtungstheorie, die zugleich eine Theorie des Glücks oder eine Theorie des Wohlbefindens ist. Aus seiner Perspektive ist die Natur des Menschen so beschaffen, dass er konkrete, erreichbare Ziele braucht. Er ist unglücklich, wenn er keine Ziele hat oder diese unendlich fern liegen. Eine stark integrierte, respektierte, »gesunde« Gesellschaft ist kraft ihrer moralischen Autorität in der Lage, ihm erreichbare Ziele anzubieten. Das sittliche Bewusstsein der Gesellschaft zeigt ein Gefühl dafür, wie die verschiedenen Dienste zu bewerten sind, und mit welcher Lebensführung sie einhergehen. Eine obere und eine untere Grenze gibt an, was als übermäßiger Luxus bzw. als übermäßige Armut für den Lebensstil jeder Schicht gelten soll. Ein moralisches Individuum macht sich ein Bild davon, was zu seiner Position in der Gesellschaftshierarchie gehört. Es findet Frieden und Zufriedenheit innerhalb der gesellschaftlich definierten Grenzen. Es empfindet »ein Gefühl ruhigen, dabei tätigen Friedens, diese Freude am Dasein und am Leben« - dieses Gefühl entspringt dem Zustand eines »halbwegs Gesättigtsein[s]« (Durkheim 1999b: 285). Durkheim setzt also Glück mit seelischem »halbwegs Gesättigtsein« gleich. Ein Zustand, der nur in einer respektierten und allgemein anerkannten Gesellschaft erreicht werden kann, die befähigt ist, ihre Mitglieder mittels sozialer Hierarchie zu disziplinieren: Durkheims Theorie des Glücks »Der Mensch braucht trotz aller Freude am Handeln, an der Bewegung, an der Anstrengung auch das Gefühl, daß seine Bemühungen nicht vergeblich sind und daß er dabei weiterkommt. Man kommt aber nicht weiter, wenn man ohne jedes Ziel marschiert, oder ... wenn das Ziel ... im unendlichen liegt... [Die Gesellschaft] hat als einzige die nötige Autorität, Recht zu sprechen und den Begierden Schranken zu setzen ... Sie hat auch als einzige die Fähigkeit abzuschätzen, welche Prämie sie zum Besten des gemeinsamen Interesses für jedes Mitglied <?page no="72"?> 73 vorsehen soll ... Und tatsächlich gibt es in jedem Augenblick der Geschichte im sittlichen Bewußtsein der Gesellschaften ein vages Gefühl dafür, was die verschiedenen Dienste wert sind, und für ihre jeweilige entsprechende Belohnung und damit für das Maß an Wohlbefinden, das als Mittelwert den Arbeitenden jedes Berufes zukommt. In der öffentlichen Meinung sind die verschiedenen Funktionen in eine Art Hierarchie eingeteilt und jedem einzelnen wird ein bestimmtes Maß an Wohlergehen zuerkannt, je nachdem, welchen Platz er innerhalb der Hierarchie einnimmt ... Es gibt tatsächlich eine Reglementierung, und wenn sie auch nicht die Form geschriebener Gesetze annimmt, so stellt sie doch relative streng das Maximum an Wohlstand fest, das jede Gesellschaftsklasse erlaubterweise für sich erstreben darf ... Unter dem Druck dieser Meinungen macht sich jeder in seiner Lebenssphäre ein ungefähres Bild davon, wie weit sein Ehrgeiz gehen kann, und er trachtet nach nichts, was darüber hinausgeht ... wenn seine moralische Geistesverfassung gesund ist, fühlt er, daß er nicht gut noch mehr fordern kann. Damit sind seinen Begierden Ziel und Grenze gesetzt ... Diese relative Beschränkung und die Mäßigung, die daraus folgt, bringen es dahin, daß der Mensch mit seinem Schicksal zufrieden ist ... Und aus diesem halbwegs Gesättigtsein entspringt ein Gefühl ruhigen, dabei tätigen Friedens, diese Freude am Dasein und am Leben, die für die Gesellschaft und für den einzelnen als charakteristisches Zeichen innerer Gesundheit angesehen wird ... Das Gleichgewicht seines Glückes ist stabil, weil es begrenzt ist, und einige Enttäuschungen können ihn nicht erschüttern.« (Durkheim 1999b: 281 - 285) Mit dieser Theorie lehnt er in bestimmten Punkten den Liberalismus seiner Zeit ab. Als ein bejubelter Vertreter des Liberalismus behauptete Adam Smith am Anfang von Der Wohlstand der Nationen, dass intensive Austauschbeziehungen Frieden, Glück <?page no="73"?> 74 und Wohlstand der Nation mit sich bringen würden. Nicht Smith’ darauf folgende Kritik des Kapitalismus, die Karl Marx vertiefte (Sennett 1998: 43 - 47), sondern eben diese optimistische These wurde von den Liberalen aufgegriffen. In Über soziale Arbeitsteilung (1893) folgt Durkheim zuerst Smith’ Spuren. Er argumentiert, dass Bevölkerungszuwachs zu dichteren Interaktionen bzw. Austauschbeziehungen zwischen Menschen führt. Auf diese Weise werde eine Evolution, ein Übergang von »primitiven« zu »komplexen« Gesellschaften, initiiert. Schon dort lehnt aber Durkheim die weit verbreitete Falschinterpretation von Smith insofern ab, als er die Idee verwirft, dass Komplexität eine Quelle des Glücks sei. Stattdessen stellt Durkheim fest, dass komplexe Gesellschaften an Anomie leiden, einem Zustand der Regellosigkeit und normativer Desorientierung. Bereits dort wird klar gemacht, dass intensive Austauschbeziehungen kein Glück mit sich bringen, so wie es der Liberalismus gern darstellt: »Der wahre Selbstmord, der traurige Selbstmord ist im Gegenteil nur bei den zivilisierten Völkern zu Hause« (Durkheim 1999a: 303). Das allgemeine Glück der Gesellschaft wird mit fortschreitender Arbeitsteilung geringer und ist, wie das Vorwort zur zweiten Ausgabe Über soziale Arbeitsteilung (1902) verkündet, besonders dort gefährdet, wo Kapitalisten und Arbeiter zusammen stoßen. Gerade diese Aufeinandertreffen rufen in besonderem Maße Anomie hervor. Im Selbstmord schlägt er regelrecht Alarm: »Die steigende Flut der Selbstmorde ist daher nicht als Zeugnis für den Vormarsch unserer Zivilisation zu betrachten, sondern als Signal für eine Krise, eine Störung, die gefahrlos nicht länger andauern kann.« (Durkheim 1999b: 437) Der Schlüssel zum Glück ist nicht Wachstum, sondern moderates Wachstum, das die etablierte soziale Hierarchie nicht gefährdet. Nach Wirtschaftskatastrophen, aber auch nach einem plötzlichen Anwachsen von Macht und Reichtum kann sich die soziale Ordnung den neuen Bedingungen nicht schnell genug anpassen. Sie verliert ihr Gleichgewicht. Die alten Regeln vermögen es <?page no="74"?> 75 nicht, den Neureichen und den Neuarmen zur Seite zu stehen: »Die Hierarchie ist in Unordnung geraten ... Es braucht Zeit, für Menschen und Dinge nach den geltenden Begriffen eine andere Rangordnung zu schaffen ... für eine Zeitlang ist dann jede Regelung mangelhaft. Man weiß nicht mehr, was möglich ist und was nicht, was noch und was nicht mehr angemessen erscheint, welche Ansprüche und Erwartungen erlaubt sind und welche über das Maß hinausgehen«. (Durkheim 1999b: 288) Im Selbstmord (1897) heißt es also, dass weder die Austauschbeziehungen von Millionen von Individuen noch die Smith’sche unsichtbare Hand, sondern nur die normative Kraft der Gesellschaft in der Lage ist, den prinzipiell schmerzvoll unruhigem Individuen der neuen industriellen Zeit den Weg zum Glück zu bahnen. Das wichtige ist nicht der Wohlstand der Nationen, sondern das Wohlbefinden ihrer Mitglieder. Glück lässt sich weder unsichtbar noch auf Umwegen erreichen. Morphologie der Selbstmordtypen und Emotionen Am Ende des zweiten Buches seines Werkes bespricht Durkheim vergleichend und zusammenfassend die drei Selbstmordtypen - den egoistischen, den altruistischen und den anomischen. In diesem Zusammenhang thematisiert er die Gefühle und Deutungsmuster, die Individuen zum Akt des Selbstmords bewegen (vgl. Gerhards 1988: 33 - 37). Der egoistische Selbstmord »steht im umgekehrten Verhältnis zum Integrationsgrad der Kirche, der Familie und des Staats« (Durkheim 1999b: 231,237). Das autonome Individuum und sein Gewissen werden zum vorherrschenden Glaubensgebilde. Das Individuum fühlt sich von der Religionsgemeinde, der Familie, der Heimat entfremdet. Ihm fehlt der Sinn seines Daseins. Daraus ergibt sich eine steigende Selbstmordrate des egoistischen Typs. Die meisten Selbstmordkandidaten diesen Typs erleben vor der Tat eine Phase von Selbstzentrierung, Trauer, Melancholie und Passivität. <?page no="75"?> 76 Der altruistische Selbstmord ist dagegen üblich, wenn die sozialen Strukturen sehr stark sind und dem Individuum keinen Freiraum lassen. Der Pantheismus ist das vorherrschende Glaubensgebilde. Die geringe Schätzung des irdischen Lebens und die dem entsprechende Geringschätzung des Individuums sind typisch für Kollektivvorstellungen. Diejenigen, die am Leben hängen, werden verachtet. Der altruistische Selbstmordtyp bedeutet die Aufopferung des eigenen Lebens für das Kollektiv, das von dem irdischen oder dem himmlischen Herrn repräsentiert wird. Nicht nur die Pflicht, das eigene Leben zu opfern, sondern auch die erlebte Beleidigung oder Enttäuschung führen oft zum Selbstmord. Je nach Kontext erleben die Selbstmordkandidaten Begeisterung und Eifer oder aber Ruhe, die der erfüllten Pflicht entspringt. Der anomische Selbstmord letztlich hängt mit der industriellen Zeit der entfesselten Begierden zusammen. Die soziale Ordnung ist ins Wanken geraten, die regulative Kraft der Gesellschaft vermag es nicht, das Individuum zu lenken. Fortschritt, Prosperität, Neuigkeit, Jagd nach Sensationen, die aber »keine solide Grundlage für ein Glück bilden können«, sind die vorherrschenden Glaubensgebilde dieser Phase (Durkheim 1999b: 293, 289 - 294). Sie verursachen ständige Unruhe und wecken den Hunger nach immer neuen Genüssen, fieberhafte Ungeduld, permanente Sehnsucht nach dem Unendlichen - die ewige Unzufriedenheit erwacht. Nur die Jagd selbst kann noch Freude verschaffen, obwohl der, angesichts schwacher Regulierung verschärfte, Wettbewerb auch sie verderben kann. »Der Zustand der gestörten Ordnung oder Anomie wird also noch dadurch verschärft, daß die Leidenschaften zu einem Zeitpunkt, wo sie einer stärkeren Disziplin bedürfen, weniger diszipliniert sind! « (Durkheim 1999b: 289). Das Individuum erlebt unendliches, ungesättigtes, übersteigertes Verlangen, gemischt mit Enttäuschung und Zorn darüber, dass die Welt ihre Versprechungen nicht hält. Auf Dauer führt dieser Zustand von ungezügelten Wünschen zur Lebensmüdigkeit und zum Selbstmord. Durkheims Analyse verdeutlicht, dass zwar soziale Strukturen <?page no="76"?> 77 Erscheinungsformen Primärcharakter Sekundärerscheinungen Egoistischer Teilnahms- Apathische Schwermut mit Selbstmord losigkeit Selbstbemitleidung Kühle, zynische Überlegung des Skeptikers Grund- Altruistischer Gefühlsmäßige Mit dem ruhigen Gefühl typen Selbstmord oder gewollte erfüllter Pflicht Tatkraft Mit mystischer Begeisterung Mit ruhigem Mut Anomischer Gereiztsein Heftige Vorwürfe gegen das Selbstmord Überdruß Leben im allgemeinen Heftige Vorwürfe gegen eine einzelne Person (Mord mit Selbstmord) Quelle: Durkheim, Emile. 1999b. Selbstmord. Frankfurt a.M. S. 339 eine wichtige Ursache der Selbstmordtypen und Selbstmordraten sind, dass man diese aber ohne Hinweise zu vorherrschenden Glaubensgebilden, Kollektivvorstellungen und Emotionen nicht zufriedenstellend analysieren kann. Diese Glaubensgebilde, Vorstellungen und Emotionen werden zwar individuell erlebt, aber es handelt sich dabei um Kollektivempfindungen, die sich unter dem Druck der sozialen Strukturen entwickeln: »die Wirklichkeit schafft die Vorstellungen« und nicht umgekehrt (Durkheim 1999b: 254). Diese Vorstellungen werden von bestimmten Emotionen begleitet. Die Individuen als ihre Träger handeln unter dem Einfluss von beiden. Dass Durkheim sowohl soziale als auch emotionale Ursachen des Selbstmords für wichtig hielt, wird in seiner eigenen Tabelle deutlich, die hier ohne Mischtypen reproduziert ist: Ä TIOLOGISCH - MORPHOLOGISCHE O RDNUNG DER SOZIALEN S ELBSTMORDTYPEN <?page no="77"?> 78 In seiner Polemik gegen Individualisten seiner Zeit, wie z.B. Tarde, behauptet er, dass sich die Zahl der Selbstmorde nur aus der moralischen Verfassung der Gesellschaft bestimmen lässt und dass jede soziale Gruppe einen Grad der Kollektivanfälligkeit für diesen Akt hat. Die moralische Verfassung des Betroffenen ist nur ein »Echo der moralischen Verfassung der Gesellschaft« (Durkheim 1999b: 346). In diesem Kontext argumentiert er, dass Neigungen und Kollektivgefühle als Kräfte mit Eigenexistenz angesehen werden sollten, die das Handeln von Individuen bestimmen (s. auch Durkheim 1999b: 364, 367). Er meint, dass seine Selbstmordstudie dieses beweist: »Wenn man von Neigungen oder Kollektivgefühlen redet, sieht man normalerweise in solchen Ausdrücken nicht gern mehr als Metaphern und Redensarten ... Man vermeidet es, sie als definitive Größen, als Kräfte mit Eigenexistenz anzusehen, die das bewußte Handeln des einzelnen beherrschen. Aber das ist eigentlich ihre Natur, und gerade das ist es, was wir ganz deutlich aus der Statistik der Selbstmorde ersehen können ... Die Kollektivströmungen führen ein Eigenleben. Sie sind als Kräfte genau so wirklich wie kosmische Kräfte ... Sie wirken auf die einzelnen genau so von außen ein ...« (Durkheim 1999b: 356,359) Interessant ist, dass sich Durkheim Individuen nicht als »soziale Puppen« vorstellt, die im völligen Einklang mit der Gesellschaft agieren, so wie es ihm später von bedeutenden Soziologen und Soziologinnen mehrmals vorgeworfen wurde (Wrong 1961, Hochschild 1979, Schott 1979, Scheff 1990). Seine Individuen agieren nicht auf Befehl von sozialen Strukturen, sondern nur bis zu dem Grad, an dem sie sich »mit der Gruppe eins fühlen und ihr Leben leben, [sind sie] für ihren Einfluß offen« (Durkheim 1999b: 371). Mehr noch, seine Individuen führen ein »Doppelleben« und sind »widerspenstig«, sie versuchen, moralischen Verpflichtungen und Kollektivgefühlen zu entfliehen (Durkheim 1999b: 371; s. auch Durkheim 1999a: 156,181-182): <?page no="78"?> 79 »Und da es niemanden gibt, der nicht dieses Doppelleben führte, ist jeder von uns von zwei Gefühlen zugleich bewegt. Wir werden in die Gesellschaft hineingezogen und versuchen doch unseren persönlichen Neigungen zu folgen.« (Durkheim 1999b: 371-372) Durkheim behauptet, nur wenn Kollektivkräfte intensiv und oft vorkommen, haben sie eine Chance, das Individuum zu prägen. In modernen Gesellschaften sind die meisten sozialen Strömungen weder intensiv noch treten sie häufig auf (Durkheim 1999b: 372, 377). Außerdem besteht die gesamte Gesellschaft aus Teilstücken - Berufen und sozialen Milieus -, die durch verschiedene soziale Ordnungen, Kollektivvorstellungen und Kollektivgefühlen geprägt sind. Ihr Zustand hängt vom Allgemeinzustand der Gesellschaft ab, weist aber auch ihre Eigenart auf. Die kollektiven Kräfte werden von Gruppenkräften vermittelt, verstärkt oder geschwächt (Durkheim 1999b: 375 - 376). Traditionale Berufsgruppen und Glaubensgemeinden verstärken sie, während der moderne soziale Kontext dem Individuum (zu) viel Freiraum und Autonomie lässt. Kollektivempfindungen Man findet bei Durkheim relativ kurze Reflexionen zu Kollektivempfindungen bzw. Gemütsverfassungen in der Gesellschaft, die, zusammen mit seinen Überlegungen zur sozialen Anomie, den sogenannten »Collective Behavior«-Ansatz zu sozialen Bewegungen inspiriert haben (vgl. Smelser 1962). Es ist schwierig zu sagen, ob Durkheim zwischen drei oder vier Typen von kollektiven Empfindungen unterscheidet, da Durkheim selbst ihre Ursachen und Wirkungen nicht systematisiert. Hier wird angenommen, dass es sich um drei Typen handelt. Der erste Typ (A) ist expressiv und hat keine Konsequenzen für die soziale Ordnung der Gesellschaft. Er stellt keine Immunität gegen Selbstmord dar. Der zweite Typ (B), von Unruhe und Unzufriedenheit in einer deregulierten, illegitimen Gesellschaft gekennzeichnet, sprengt <?page no="79"?> 80 die schon geschwächte soziale Ordnung. Der dritte Typ (C), von tiefer Leidenschaft getragen, konsolidiert und mobilisiert. Er rettet aus der Krise und schützt gegen Selbstmord, weil er die Bindungen zwischen dem Individuum und dem Kollektiv stärkt. Außerdem spricht Durkheim von absichtvoll organisierter kollektiver Mobilisierung. In Der Selbstmord unterscheidet Durkheim zwischen verschiedenen Kollektivempfindungen, Gemütsverfassungen und Kollektivgefühlen in der Gesellschaft (Durkheim 1999b: 432 - 433). Er spricht von kollektiver Freude, Traurigkeit, Melancholie und Niedergeschlagenheit, die allesamt eigene soziale Träger besitzen. Obwohl diese Kollektivempfindungen in jeder Gesellschaft zu finden sind und stets in gegenseitiger Balance verbleiben müssen, damit die Gesellschaft funktionsfähig bleibt, sind die pessimistischen Kollektivempfindungen mehr in komplexeren, anomistisch-egoistischen Gesellschaften als in »primitiven« Gesellschaften verbreitet. Der erste Typ der Kollektivempfindung wird im Kapitel zum egoistischen Selbstmord vorgestellt. Dabei überrascht uns Durkheim mit einen kleinen Satz zu seiner Sozialisationstheorie, die gleichzeitig eine Aussage über die Natur des Menschen ist und auch die Rolle der Emotionen betont. Aus seiner Sicht sind wir Menschen zu Mitgefühl, Liebe und dem Bedürfnis nach Aufopferungen für andere erzogen worden: »Der Einfluß der Gesellschaft hat in uns die Empfindungen von Sympathie und Solidarität wachgerufen, vermittels derer wir uns zum anderen hingezogen fühlen« (Durkheim 1999b: 236). Daraus lassen sich folgende Schlüsse ziehen: A. Wenn sich das individuelle Leiden nicht mehr der Kirche, dem Gott, der Familie, dem Vaterland oder der Partei widmen lässt, wenn die Gesellschaft, auf die sich unser besseres Ich orientiert, zerfällt, verliert das individuelle Handeln seinen Sinn. Wenn also die soziale Integration gering ist, hinterlässt sie Spuren, nicht nur am Individuum, sondern auch auf der kollektiven Gemütsverfassung der ganzen Nation (Durkheim 1999b: 238 - 239). Das Individuum »wird ... sich selber unbegreiflich und <?page no="80"?> 81 kann dann der verwirrenden und beängstigenden Frage nicht mehr entgehen: wozu das alles? « (Durkheim 1999b: 237). Depression, Enttäuschung und Trauer setzen ein. In diesem Kontext tauchen expressive Strömungen auf: »So formen sich Strömungen von Depression und Enttäuschung, die nicht etwa von irgendeinem bestimmten einzelnen ausgehen, die vielmehr den Stand des Zerfalls, in der sich die Gesellschaft befindet, deutlich machen. In ihnen spiegelt sich wieder das Nachlassen der sozialen Beziehungen ... Wenn man nichts Gemeinsames mehr hat, dann kommuniziert man doch noch in der Trauer.« (Durkheim 1999b: 239) Bei einer sozialen Krise oder Störung, die soziale Institutionen erschüttert, taucht »ein kollektives Gefühl der Niedergeschlagenheit« auf. Es bleibt jedoch bei »eine[r] Art Unterströmung, was das kollektive Subjekt dunkel fühlt, deren Einwirkung es zwar unterliegt, aber ohne sich darüber genau Rechenschaft zu geben ... diese vagen Stimmungen [erreichen] das Bewußtsein der Gemeinschaft nur in kleinen Wellen« (Durkheim 1999b: 437). Diese Stimmungen äußern sich in resignierten Aphorismen oder in »Sprichwort-Geistesblitze[n] gegen das Dasein« (Durkheim 1999b: 437). Nur wenn diese Gefühle an Stärke gewinnen, bekommen sie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit als pessimistisch-philosophische oder pessimistisch-revolutionäre Theorien - Epikur und Schopenhauer teilen ihre Melancholie, ihre Hass- und Überdrussgefühle samt dem Wunsch, das Reale zu zerstören oder ihm zu entfliehen, mit Anarchisten, Ästheten, Mystikern und Sozialrevolutionären (Durkheim 1999b: 437- 438). Es lässt sich also schlussfolgern: Wenn die soziale Ordnung so geschwächt ist, dass ihre Institutionen, wie Familie, Nation oder Parteien, die Individuen nicht mehr an sich binden können, durchströmen Trauer, Depression und Enttäuschung die Gesellschaft. Wenn die moralische Kraft der Gesellschaft abnimmt, treten kollektive, negative Gefühle auf, die Passivität nur verstärken. Die kollektive Trauer ändert die soziale Ordnung nicht. <?page no="81"?> 82 B. Wenn die Gesellschaft in einer tiefen Krise steckt und nicht in der Lage ist, als moralische Autorität zu fungieren bzw. nur von einem kleinen Teil der Gesellschaft Anerkennung als eine solche Autorität bekommt, dann werden Frieden und Eintracht nicht durch anerkannte moralische Disziplin, sondern mit Zwang oder kraft Gewohnheit erreicht. In solchem Kontext sind »Unruhe und Unzufriedenheit ... latent vorhanden«, die die ganze soziale und politische Ordnung bedrohen (Durkheim 1999b: 286,287- 289). Dies geschieht selten und meist infolge schmerzhafter Krisen oder allzu plötzlicher Wandlungen, wenn soziale Regeln keine Orientierung mehr bieten. C. Im Unterschied zum sozialen Zerfall, der »nur« Trauer, aber keinen sozialstrukturellen Wandeln hervorbringt, und im Kontrast zu sozialpolitischen Autoritätskrisen, die revolutionäre Unruhe verbreiten, führen Revolutionen und Kriege zu tiefen und massiven Kollektivempfindungen und zur Reintegration der Gesellschaft: »... die großen Volksbewegungen wie die großen Kriege Kollektivempfindungen wecken, den Parteigeist ebenso wie Patriotismus, den politischen Glauben wie den nationalen beleben und, indem alle Kräfte auf ein einziges Ziel konzentriert werden und wenigstens für eine Zeitlang eine größere Integration des Ganzen zuwege bringen.« (Durkheim 1999b: 231) Nationale Kriege und Revolutionen rühren mächtige Leidenschaften auf und bewirken sozialen Wandel (Durkheim 1999b: 229). Durkheim impliziert, dass sie die Gesellschaft, die schon an mangelnder, sozialer Integration leidet, aus der Krise retten können. Auf jeden Fall verringern sich zu Zeiten von Kriegen und Revolutionen die Selbstmordraten: Eine weitere Charakterisierung massiver emotionaler Mobilisierung finden wir in Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Große kollektive Erschütterungen, so Durkheim, veranlassen Individuen, sich mit einander oft zu treffen und zu unterhalten. Häufige Versammlungen führen zu »allgemeine[r] Gärung, <?page no="82"?> 83 die für revolutionäre oder schöpferische Epochen kennzeichnend ist ... Man lebt mehr und anders als in normalen Zeiten ... Die Leidenschaften ... sind derart heftig, daß ihnen nur mit gewalttätigen und unmäßigen Handlungen Genüge getan werden kann: mit Heldentaten oder blutrünstiger Barbarei ... der unscheinbarste und harmloseste Bürger [verwandelt sich] in einen Helden oder einen Henker.« (Durkheim 1998: 290 - 291) Zuletzt lässt sich in Durkheims Schriften eine absichtsvoll organisierte, kollektive, emotionale Mobilisierung erkennen. Politische, ökonomische und konfessionelle Parteien rufen regelmäßig zu Versammlungen auf. Sie wissen, dass diese Versammlungen in der Lage sind, kollektive Gefühle zu beleben und den gemeinsamen Glauben, die Gruppensolidarität und die Opferbereitschaft, die sonst verkümmern würden, zu neuem Leben zu erwecken (Durkheim 1998: 289). Die elementaren Formen des religiösen Lebens Dieses Werk von Durkheim, wie auch sein Text mit Marcel Mauss, Primitive Klassifikation (1903), haben sich aus Sicht der Soziologie der Emotionen als besonders interessant erwiesen (Collins 1975: 42 - 43,58; Gerhards 1988: 3 -43; Barbalet 1994; TenHouten 1995). Gerhards und TenHouten haben auf die Argumentation Durkheims in diesen wissenssoziologischen und religionswissenschaftlichen Texten hingewiesen. Durkheim behauptet hier, dass kognitive Kategorien keine festen oder scharfen Grenzen haben. Die Welt wird erst durch unterschiedliche gefühlsmäßige Besetzung von Gedankenkategorien strukturierbar. Differenzierung zwischen sakral und profan, fremd und eigen, nah und fern wird nur dank Emotionen erreicht. Diese Differenzierung ist notwendig, damit wir überhaupt wissen, wie wir zu denken und zu handeln haben. Emotionen ermöglichen also die handlungsbefähigende Konstruktion der Wirklichkeit. Aus unserer Perspektive sind seine Schriften zu religiösen Kulten und Riten interessanter, da sie weitere Einsichten zum Thema Emotionen und Gemeinschaft anbieten. In Die elementaren <?page no="83"?> 84 Formen des religiösen Lebens argumentiert Durkheim, je nach Lesart, dass a) die »gefühlsmäßige Dispositionen der einzelnen [werden] zu einem Kollektivgefühl synchronisiert, und darüber wird erst die Gemeinschaft hergestellt« (Gerhards 1988: 40). Oder b) die Normen bringen die Individuen dazu, ihre individuellen Gefühle nach diesen Normen zu richten (Hochschild in Barbalet 1994: 113 - 114). Oder c) die Kollektivmoral, verstanden als soziale Norm oder Pflicht, die von einer Gruppe auferlegt wird, ruft Kollektivgefühle und Kollektivhandlungen hervor (Barbalet 1994: 113 -114), die zur Erneuerung des Kollektivlebens führen. Gerhards nimmt eine völlig konstruktivistische Position in seiner Interpretation ein. Barbalets Interpretation betont sozialen Zwang, der Kollektivgefühle erzeugt und die Funktionen, die diese obligatorischen Gefühle für die Aufrechterhaltung der Gruppe haben. Hochschilds Interpretation hebt das Individuum hervor, das sich freiwillig für das Management der eigenen Gefühle entscheidet, um sich normkonform zu benehmen. Hier wird Barbalets Interpretation bevorzugt. In Riten äußert sich eine soziale Pflicht, sich der Gruppe emotional und physisch zu widmen. Ihre Hauptfunktion besteht darin, das durch ein Ereignis erschütterte und in Frage gestellte Kollektivleben zu stärken und zu erneuern. »... die Riten sind vor allem die Mittel, mit denen sich die Gruppe periodisch erneuert... Menschen, die sich vereint fühlen, zum Teil durch Blutsbande aber mehr noch durch eine Gemeinschaft von Interessen und Traditionen, versammeln sich und werden sich ihrer moralischen Einheit bewußt ... Die Trauer ist kein spontaner Ausdruck individueller Gefühle. Wenn die Verwandten weinen, klagen und sich zerfleischen, dann nicht, weil sie vom Tod ihres Verwandten persönlich betroffen sind ... Die Trauer ... ist eine Pflicht, die von der Gruppe auferlegt wird. Man klagt nicht, weil man traurig ist, sondern weil man die Pflicht hat, zu klagen. Es handelt sich um eine rituelle Handlung... Die Verpflichtung steht im übrigen unter mythischen oder sozialen Sanktionen ... <?page no="84"?> 85 Andrerseits weiß man, wie sehr sich die menschlichen Gefühle verstärken, wenn sie sich kollektiv offenbaren. Die Trauer wie die Freude erregen sich, werden stärker, wenn sie von Bewußtsein auf Bewußtsein übergreifen und drücken sich in der Folge in Form von überschwenglichen und heftigen Bewegungen aus. Von nun an können wir keine fröhlichen Erregungen mehr beobachten; jetzt sind es Schreie und Schmerzensgeheule. Der Einzelne wird von der Masse mitgerissen. Es entsteht eine Art Trauerpanik. Wenn der Schmerz eine derartige Intensität erreicht hat, tritt eine Art Wut und Verbitterung hinzu. Man fühlt das Bedürfnis, etwas zu zerstören, etwas zu zerbrechen. Man wendet sich gegen sich selber oder gegen andere. Man schlägt sich, man verwundet sich, man verbrennt sich oder man wirft sich auf andere, um sie zu schlagen, zu verwunden und zu verbrennen ... Aber dieser Wandel des Affektzustandes kann nur zeitlich begrenzt sein. Am Anfang der Trauer steht der Eindruck der Schwächung, den die Gruppe empfindet, wenn sie eines ihrer Mitglieder verliert. Aber genau dieser Eindruck hat die Wirkung, die einzelnen Individuen einander näher zu bringen, ihre Beziehungen enger zu gestalten, sie in ein und demselben Seelenzustand zu vereinigen, und aus all dem entsteht ein Gefühl des Trostes, das die anfängliche Schwäche aufwiegt. Wenn man gemeinsam weint, heißt daß, daß man zusammenhält und daß die Kollektivität trotz des Schicksalsschlags nicht berührt wurde. Zweifellos bringt man nur die traurigen Gefühle zusammen. Aber in der Traurigkeit verbunden zu sein heißt, noch immer verbunden zu sein, und jenes Bewußtseinsband, wie es auch zustande gekommen sein mag, erhöht wiederum die soziale Vitalität. Die außerordentliche Heftigkeit der Äußerungen ... beweist sogar, daß die Gesellschaft in diesem Augenblick lebendiger und tätiger ist als jemals zuvor... Die Gruppe fühlt, daß ihr allmählich die Kräfte wieder wachsen; sie beginnt wieder zu hoffen und zu leben. Man läßt Trauer hinter sich ...« (Durkheim 1998: 520, 532, 536 - 537, 538) <?page no="85"?> 86 Riten, sagt Durkheim, erwecken immer starke kollektive Erregungen. Sie verlangen einen gewissen Bewusstseinszustand und drücken zugleich sie positive oder negative Gefühle aus, entweder Freude oder Trauer, Angst und Furcht. Sie sind eine Form kollektiver Kommunikation, in der ein oder mehrere Gefühle vermittelt und geteilt werden. Ihre soziologisch erfasste Funktion - das Kollektivleben zu erneuern - ist immer dieselbe, auch wenn die Riten unterschiedliche Emotionen betonen und äußerst variable Handelsabläufe haben. Barbalet (1994: 116 -120) macht uns darauf aufmerksam, dass Durkheim nicht von irgendwelchen abstrakten Gefühlen, sondern von »verkörperten Emotionen« spricht. Die Gruppenmoral verlangt Emotionen, die nicht so sehr durch ein vorgegebenes, gemeinsames Bewusstsein, sondern vielmehr erst durch kollektive körperliche Koordination und Synchronisation entstehen. Nach Geschlecht und Verwandtschaftsgrad wird die körperliche Arbeitsteilung und Rollenverteilung, das Ein- und Austreten von der rituellen Bühne, abgestimmt. Während eines Rituals wird das Kollektiv durch Emotion und Gesten in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. »Frauen, aus allen Richtungen herbeigeeilt, lagen auf dem Körper des Sterbenden, während andere, rundumher stehend oder kniend, sich mit ihren Grabsticheln, mit denen sie gewöhnlich Jamswurzeln ausgruben, in den Scheitel bohrten und sich auf diese Weise Wunden beibrachten, aus denen das Blut in Strömen über die Gesichter lief. Zur gleichen Zeit stießen sie ununterbrochen Klageschreie aus. Dann kamen die Männer hinzu. Sie warfen sich ebenfalls über den Körper, sobald die Frauen sich wieder erhoben ... Die Individuen, die sich die blutenden Wunden beibrachten ... müssen mit dem Toten in einem bestimmten Verwandtschaftsverhältnis stehen ... der Großvater mütterlicherseits des Verstorbenen, sein Onkel mütterlicherseits, der Onkel mütterlicherseits und der Bruder seiner Frau ... Die Frauen haben besonders schwere Verpflichtungen. Sie müssen sich die Haa- <?page no="86"?> 87 re schneiden, den ganzen Körper mit Pfeifenerde beschmieren; außerdem müssen sie, während der Trauerzeit, die bis zwei Jahre dauern kann, völlig schweigen ... Gruppen von Männern und Frauen sitzen auf der Erde, weinen, klagen und umarmen sich in bestimmten Augenblicken. Diese rituellen Umarmungen wiederholen sich, solange die Trauer andauert ... Man sieht sie zusammengedrängt und ineinander verschlungen, so daß sie eine einzige Masse bilden, aus der geräuschvolles Stöhnen kommt. Zwischendurch verletzen sich immer wieder die Frauen ... Man sieht, wie sich aufeinander stürzen und sich gegenseitig zu verletzen suchen... Bei dieser Raserei, mit der sich jeder schlägt, verbrennt oder Wunden zufügt, kommen ... ähnliche ... Gefühle auf: ein Schmerz ... von Wut begleitet.« (Durkheim 1998: 524 - 525, 528) Es wird von einem Ritualteilnehmer verlangt, an den Kollektivgefühlen, sei es Trauer oder Wut, teilzunehmen. Sich emotional und körperlich mitreißen zu lassen, auch wenn das Ritual verlangt, sich selbst oder anderen Verletzungen zuzufügen. Die Gruppenmoral verlangt, dass man sich und einander verletzt, schlägt, verbrennt, sogar umbringt, um die Kollektivgefühle zum Ausdruck zu bringen. Erst nachdem das ganze emotionale ABC, von Trauer über Wut, Erschöpfung bis hin zur Hoffnung, durchgespielt wurde, ist der Weg für die soziale Erneuerung gebahnt. Durkheim impliziert, dass eine Gruppe einen ganzen Gefühlszyklus durchlaufen muss, bevor Emotionen ihre heilende Wirkung demonstrieren. An mehreren Stellen sagt Durkheim explizit, dass seine Untersuchung in vielerlei Hinsicht allgemeingültig ist: nicht nur in »primitiven«, sondern auch in »komplexen« Gesellschaften wecken Gesellschaft oder ihre Segmente das Gefühl des Göttlichen. Die Gesellschaft wird im Göttlichen hochstilisiert und gefeiert. Wie in den »primitiven«, so macht sich auch in den »komplexen« Gesellschaften die belebende Wirkung der Gesellschaft in leidenschaftserweckenden Versammlungen besonders stark bemerkbar <?page no="87"?> 88 (Durkheim 1998: 289). Aus diesem Grund laden politische, ökonomische und konfessionelle Parteien zu solchen Versammlungen regelmäßig ein. Mit ihrer Hilfe werden Gefühle der Solidarität regeneriert. Ausgestattet mit Barbalets Einsicht können wir feststellen, dass auch in diesem Fall nicht nur seelische, sondern auch körperliche Teilnahme wichtig für die Belebung der politischen, ökonomischen oder religiösen Parteien ist. Auch in diesem Fall ist die Körperlichkeit verlangt, damit das Solidaritätsgefühl seine Verankerung, Belebung und Vervielfältigung findet. Schließen möchte ich mit einem Zitat aus Durkheims Über soziale Arbeitsteilung, um die von Barbalet »entdeckte« Durkheim’sche Körperlichkeit von Emotionen an einer bisher noch übersehenen Parallele zwischen »primitiven« und »komplexen« Gesellschaften zu verdeutlichen. Genau wie in den »primitiven«, verursacht auch in den »komplexen« Gesellschaften eine Verletzung von Kollektivgefühlen Erregung und außergewöhnliche physische Aktivität. Menschen treffen, besuchen, unterhalten sich. Man tauscht Ideen und Gefühle aus, bis der öffentliche Zorn endlich sichtbar wird: »Das Verbrechen bringt also das Bewußtsein... enger zusammen und verdichtet sie. Man braucht nur zu sehen, wie es, besonders in einer kleinen Stadt, zugeht, wenn sich ein Moralskandal ereignet hat. Man bleibt auf der Straße stehen, man besucht sich, man trifft sich an bestimmten Orten, um über das Ereignis zu reden, und man empört sich gemeinsam. Aus allen diesen einander ähnlichen Eindrücken, die ausgetauscht werden, aus all den verschiedenen Zornausbrüchen entsteht je nach Fall mehr oder weniger bestimmter einheitlicher Zorn, der der Zorn eines jeden ist, ohne deshalb ein ganz persönlicher zu sein; der öffentliche Zorn.« (Durkheim 1999a: 153) <?page no="88"?> 89 Literatur Barbalet, J. 1994. »Ritual Emotion and Body Work: A Note on the Uses of Durkheim« Social Perspectives on Emotion.Vol. 2. Edited by W.M. Wentworth and H.Ryan.Greenwich, Conn. JAI Press, S. 111 - 123 Durkheim, E. 1999a. Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt a.M. Suhrkamp Taschenbuch Durkheim, E. 1999b. Der Selbstmord. Frankfurt a.M. Suhrkamp Taschenbuch Durkheim, E. 1998. Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt a.M. Suhrkamp Taschenbuch Gerhards, J. 1988. Soziologie der Emotionen. München. Juventa Verlag Hochschild, A. 1979. »Emotion Work, Feeling Rules and Social Structure«. American Journal of Sociology, 85: 551-575 Lukes, S. 1972. Emile Durkheim: His Life and Work. New York. Harper & Row Scheff, Th. J. 1990. Microsociology: Discourse, Emotion, and Social Structure. Chicago. Chicago University Press Shott, S. 1979. »Emotion and Social Life: A Symbolic Interactionist Analysis«. American Journal of Sociology 84: 1317-1334. TenHouten, W. 1995. »Dual Symbolic Classification and the Primary Emotions: A Proposed Synthesis of Durkheim’s Sociogenic and Plutchik’s Psychoevolutionary Theories of Emotions« International Sociology 19,4: 427 - 445 Wrong, D. H. 1961. »The Oversocialized Conception of Man in Modern Sociology« American Sociological Revue 26: 183 - 193 <?page no="89"?> 90 2. Amerikanische Klassiker und Emotionen Nicht nur in Europa, sondern auch in den USA widmeten die Soziologen Emotionen anfangs viel Aufmerksamkeit. 1902 wurde Charles Horton Cooleys Klassiker Human Nature & the Social Order veröffentlicht und erlebte immer neue Auflagen in den Jahren 1922, 1930, 1964, 1970. In seinem Klassiker bespricht Cooley nicht nur die Struktur des Selbst, sondern auch die Bedeutung von Mitgefühl, Demut, Selbstachtung, Feindlichkeit oder Angst als seine Voraussetzungen. An der Harvard Universität lehrte Pitirim A. Sorokin, der in seinem vierbändigen Hauptwerk Social and Structual Dynamics (1937) seine zyklische Zeitkonzeption vorstellte, nach der sich die Ideational und Sensate Kulturtypen immer wieder ablösen, wobei der Sensate Kulturtyp unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass er das Erleben und die Emotionen betont. Sein Kollege und stets erfolgreicher Konkurrent, der ihn bald überschattete, Talcott Parsons, hat die Emotionen ebenfalls nicht vernachlässigt, als er seine berühmten Pattern Variables definierte. In diesem Kapitel möchte ich sehr kurz an Cooleys, Sorokins und Parsons’ Reflexionen zu Emotionen erinnern. C HARLES H ORTON C OOLEY Als Cooley seinen Klassiker schrieb, lag die Soziologie noch in der Wiege, auch in den USA. Tatsache war, dass nicht nur zu seiner Zeit, sondern auch noch während des Zweiten Weltkrieges die Grenzziehung zwischen Sozialpsychologie, Philosophie und Soziologie nicht sehr scharf war. Cooley galt als Soziologe, obwohl man sein Werk als einen Beitrag zur Philosophie wie auch zur Sozialpsychologie betrachtete. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich nicht sehr von Herbert Mead, der allerdings die Emo- <?page no="90"?> 91 tionen aus seinen Texten zur Herausbildung der Identität verbannte (Hutzsch 2000). Über »Ich« In Cooleys Buch geht es um die Entstehung und die Struktur des Selbst. Seine Ausführungen zum sozialen Selbst und zur Bedeutung von »Ich« beginnt er im Kapitel V mit der Feststellung, dass das Besondere an dem Phänomen, für welche die Personalpronomen »Ich«, »mich«, »mein« und »selbst« stehen, ein Selbstgefühl bzw. unser Sinn für Besitzergreifung ist (Cooley 1970: 171 - 172). Wiederholt weist er die These ab, dass das Selbst ein vorwiegend moralisches, meta-physisches oder intellektuelles Phänomen ist. Aus seiner Sicht ist das Selbst vor allem ein Selbstgefühl, das für das Verständnis von »Ich« entscheidend ist, da nur ein solches Gefühl in der Lage ist, einen bestimmten aufgeregten Zustand in unserem Bewusstseinsstrom zu verursachen: »›I‹ means primarily self-feeling, or its expression ... « (Cooley 1970: 172) Da es sich beim »Ich« nicht um etwas »Kaltes« oder »Mysteriöses«, sondern um ein Selbstgefühl handelt, und da die emotionale Seite dieses Begriffes häufig vernachlässigt wird, findet es Cooley notwendig, dieses Gefühl zu charakterisieren. Er meint, dass wir am besten das Selbstgefühl spüren, wenn wir angeben oder tief empört sind, uns für etwas Besonderes halten oder uns angegriffen bzw. ausgelacht fühlen. Das Selbstgefühl ist ein besonderes Gefühl, aber genau so stark wie das Gefühl der Wut oder Trauer. Hier nur zwei Kostproben von Cooleys Argumentation: »Since ›I‹ is known to our experience primarily as a feeling, or as a feeling-ingredient in our ideas, it cannot be described or defined without suggesting that feeling ... There can be no final test of the self except the way we feel; it is that toward which we have the ›my‹ attitude ... this feeling is quite familiar <?page no="91"?> 92 to us and easy to recall as the taste of salt or the color red ... One need only imagine some attack on his ›me‹, say ridicule of his dress or an attempt to take away his property or his child, or his good name by slander, and self-feeling immediately appears. Indeed, he need only pronounce, with strong emphasis, one of the self-words, like ›I‹ or ›my‹, and self-feeling will be recalled by association« (Cooley 1970: 172 - 173) »Self-feeling of a reflective and agreeable sort ... is strongly suggested by the word ›gloating‹. To gloat, in this sense, is as much as to think ›mine, mine, mine‹, with a pleasant warmth of feeling. Thus a boy gloats ... over his collection of stamps or eggs; a girl gloats over her new clothes, and over the approving words or looks of others; a farmer over his fields and his stock; a business man over his trade and his bank-account; a mother over her child; the poet over a successful quatrain; the self-righteous man over the state of his soul; and in like manner every one gloats over the prosperity of any cherished idea.« (Cooley 1970: 175) Sehr selten bezieht sich das Wort »Ich« auf den eigenen Körper, wie in: »Ich« höre oder sehe (Cooley 1970: 176 - 178). Viel öfter ist es mit Meinungen, Zielen, Wünschen, Forderungen assoziiert, wie in: »Ich« denke, fühle, habe vor, möchte, wünsche mir, will. Das Pronomen »mein« bezieht sich häufig auf Besitz. Das Selbstgefühl ist vor allem mit Machtausübung, Kontrolle und dem Sinn der eigenen Ursächlichkeit eng verbunden. Es etabliert eine Beziehung zwischen der Person und ihrer Umwelt, stellt eine zentrale Voraussetzung für zielorientierte Handlungen dar. Die Bedeutung von »Ich« und »mein« wird genauso gelernt wie jeder andere Begriff. Ein Kind empfindet das Gefühl vom Kontrollieren- oder Besitzenwollens, sieht Gesten oder Gesichtsausdrücke, die es mit diesem Gefühl in Verbindung bringt, und hört dabei das Wort »Ich« oder »mein« (Cooley 1970: 190). Auseinandersetzungen mit anderen über Besitz oder Kontrolle über Objekte beschleunigen den Lernprozess: <?page no="92"?> 93 »... as a rule the child associates ›I‹ and ›me‹ at first only with those ideas regarding which his appropriative feeling is aroused and defined by opposition ...« (Cooley 1970: 193) »... she not only had the feeling herself, but by associating it with its visible expression had probably divined it, symphathized with it, resented it, in others. Grasping, tugging, and screaming would be associated with the feeling in her own case and would recall the feeling when observed in others. They would constitute a language, precedent to the use of first-personal pronouns, to express the self-idea ... She now observed that R., when contentiously appropriating something, frequently exclaimed, ›my‹, ›mine‹, ›give it to me‹, ›I want it‹ ... Nothing more natural, then, than that she should adopt these words ...« (Cooley 1970: 191) Das Selbstgefühl äußert sich sowohl in den primitivsten als auch in den edelsten Handlungsmotiven, sowohl in einer aggressiven, egoistischen Beschlagnahme von allgemeinbegehrten Objekten als auch in der aufopferungsvollen Pflichtverfolgung (Cooley 1970: 180, 171, 177). Cooley nimmt an, dass sich das Selbstgefühl im Evolutionsprozess entwickelte und dabei Individuen hilft, ihre Handlungen zu initiieren und zu koordinieren. Das Selbst entsteht und entfaltet sich nur in der Gesellschaft (Cooley 1970: 181 - 183). Es entwickelt eine Sensibilität für den eigenen Körper und seine Organe nur, wenn sie zum Kommunikationsgegenstand werden und auf diese Weise Signifikanz gewinnen. Das »Ich« bekommt dadurch eine physische Komponente. Aber das Selbstgefühl - das »Ich« - ist immer und vor allem das Bewusstsein von sich selbst und zugleich von den anderen, ein Bewusstsein, das sich in Objekte und Personen, mit denen es sich verbunden fühlt, hinein projiziert. Es überrascht nicht, wenn jemand sagt »Ich fliege«, obwohl es nur sein Drachen ist, der in der Luft schwebt. Das Selbst ist immer sozial, da es ein reflektiertes oder lookingglass self ist (Cooley 1970: 184). Es besteht aus dem eigenen <?page no="93"?> 94 Selbst, so wie es sich im Selbst der anderen reflektiert findet. Das Selbstgefühl, d.h. ob sich das Selbst mit Vergnügen oder aber mit trauriger Enttäuschung betrachtet, hängt von dieser Reflexion ab. Unsere Vorstellung darüber, was die anderen von uns halten, bringt uns dazu, uns in Bezug auf unser Selbst gut oder beschämt zu fühlen. Um es auch dem mit Cooleys Werk längst vertrauten Leser in Erinnerung zu bringen: »A self-idea of this sort seems to have three principal elements: the imagination of our appearance to the other person; the imagination of his judgment of that appearance, and some sort of self-feeling, such as pride or mortification.« (Cooley 1970: 184) Wir vergleichen uns mit anderen, und wenn wir uns dem Vergleich gewachsen fühlen, empfinden wir das gute Selbstgefühl [pride]. Wenn wir uns aber mangelhaft finden, empfinden wir Scham. Es ist immer unsere Vorstellung darüber, was der andere von uns hält, die unser Selbstgefühl bestimmt: »The thing that moves us to pride or shame is not the mere mechanical reflection of ourselves, but an imputed sentiment, the imagined effect of this reflection upon another’s mind ... the character and weight of that other, in whose mind we see ourselves, makes all the difference with our feeling. We are ashamed to seem evasive in the presence of a straightforward man, cowardly in the presence of a brave one, gross in the eyes of a refined one ... We always imagine, and in imagining share, the judgements of the other mind.« (Cooley 1970: 184 - 185) Das Selbstgefühl, das sich auf das Selbst konzentriert, und die Liebe, die das Selbst zum Teil des Universums macht, müssen beide vorhanden sein, damit das Selbst »gesund« - kreativ, liebesfähig, teils frei, teils an anderen orientiert - bleibt. Die Liebe lässt das Selbst expandieren und Enthusiasmus empfinden. Wenn sie fehlt, reduziert und konzentriert sich das Selbst völlig auf sich, <?page no="94"?> 95 ein Zustand, der sich in Habsucht, Arroganz und Einfältigkeit äußert (Cooley 1970: 188). Wenn das Selbst mit einer Idee oder einem Ding verschmilzt, geht es mit beiden zugrunde. Ein gesundes Selbst muss zu einem gewissen Teil frei sein, damit es flexibel und erneuerbar bleibt. In den folgenden Kapiteln bespricht Cooley Egoismus, Selbstgefälligkeit, Selbstvertrauen, Selbstbehauptung, Mitgefühl und Taktgefühl, Stolz und Eitelkeit, Feindlichkeit, Angst und Furcht usw. Diese Kapitel machen deutlich, dass Cooley nicht nur die Entstehung, sondern auch die Eigenschaften des Selbst mit Emotionen eng verbindet. Wenn man seine Diskussion von Egoismus über Egotismus bis zu Taktgefühl auf einen Punkt reduzieren würde, leidet der Egoist aus Cooleys Sicht an der Unfähigkeit, sich in die Emotionen der anderen hineinzuversetzen und die Normen der Gerechtigkeit, Fairness und Höflichkeit einzuhalten (Cooley 1970: 215, 218). Dagegen schließt ein kreatives, gesundes Selbstgefühl Selbstliebe ein, ohne Egoismus zu implizieren. Im Gegenteil, die Selbstliebe stellt eine wichtige Voraussetzung für die Fähigkeit dar, andere zu lieben (Cooley 1970: 224 - 227). Dagegen ist Selbstvernachlässigung, der Furcht vor dem eigenen Selbst zu Grunde liegt, für das Selbst und seine Entwicklung schädlich. Für viele sensible Menschen ist der Stress, der mit Selbstbehauptung verbunden ist, unerträglich. Sie können die Emotionen, wie Scham, Verunsicherung und Eitelkeit, die Selbstbehauptung begleiten, nicht verkraften und lassen sich auf die Aufgabe der Selbstbehauptung gar nicht erst ein. Diese Emotionen müssen mitgetragen werden, allerdings ohne es ihnen zu erlauben, als Hindernis Überhand zu gewinnen. Ein kreatives Selbst verlangt Selbstbehauptung und Selbstliebe. Ein gutes Selbstgefühl [pride] entwickelt sich erst im reifen Alter (Cooley 1970: 232 - 233). Es ist eine Form der sozialen Akzeptanz des Selbst, die als Selbstbilligung in das Selbst hinein projiziert wird. Das gute Selbstgefühl impliziert, dass das Selbst sich sicher fühlt, dass Personen, deren Meinung ihm wichtig sind, ihn wirklich schätzen. Keine demütigenden Selbstbilder schweben <?page no="95"?> 96 ihm vor, und das Selbst ist in der Lage, sich gegen gelegentliche Stiche von Selbstzweifeln und Scham zu wehren. Eine Person mit gutem Selbstgefühl genießt ihre soziale Position, ihre berufliche Stellung, ihre Großzügigkeit oder ihre Integrität - ja, ihr positives Bild von sich Selbst, das, nach ihrem Gefühl, dem entspricht, wie andere sie sehen. Würde dieses Bild je zerstört werden, so wäre damit auch das Selbst mit seinem guten Gefühl für immer völlig vernichtet. Das gute, über lange Zeit entwickelte Selbstgefühl erlaubt, sich von der Meinung der anderen unabhängiger zu machen, eine Stabilität und Zuverlässigkeit des Charakters zu erreichen. Der Nachteil ist, dass es zugleich rigider, verschlossener für Änderungen wird. Ideal ist Selbstbehauptung und Konformität: Eine gut balancierte Mischung von Selbstrespekt und Sorge um die Meinung der anderen - die sowieso nur bruchstückhaft akzeptiert und ins Selbst hinein projiziert wird (Cooley 1970: 236). Demut und verwandte Gefühle wie Scham, Schüchternheit, Selbstverleugnung, Ehrerbietung oder Bescheidenheit sind wünschenswert, da sie das Selbst zur Selbstreform zwingen (Cooley 1970: 243 - 244). Sie entstehen, wenn das Selbst mit einem anderen konfrontiert wird, das ihm aus seiner Sicht überlegen ist und seine Ideale verkörpert. Demut mischt sich mit Bewunderung und Enthusiasmus, die intensiv verspürte Bereitschaft sich zu ändern, um ein besseres Selbstbild bei den anderen und sich selbst zu konstruieren. Solche Gefühle wie Ehrgeiz, Ehre, sogar moderater Stolz und Eitelkeit spielen eine ähnliche Rolle - sie wecken in uns den Wunsch, Ideale und gesellschaftliche Ziele zu verfolgen (Cooley 1970: 248). Einen Kontrast zum guten Selbstgefühl stellt Eitelkeit dar (Cooley 1970: 234 - 235). Sie steht für einen hohen Anspruch trotz schwacher Leistung, die zu einer starken hochgespielt wird, um andere damit zu beeindrucken. Eine eitle Person ist sehr von der Meinung der anderen abhängig. Sie ist dem ausgeliefert und schwebt in ständiger Gefahr, dass ihr fragiles Bild in jeder Sekunde zerstört werden kann. Tatsächlich geschieht dies sehr oft. Ein eitles Selbst hat kein stabiles Bild, lässt sich oft von einer Schmeichelei, d.h. von einem unrealistisch positiven Bild von sich, be- <?page no="96"?> 97 geistern. Zugleich leidet es sehr unter der grundlosen Vorstellung, dass ihn jemand missverstanden, beleidigt oder schlecht betrachtet hat. Eitelkeit macht schwach. Aber wenn sie nicht übertrieben wird, ist sie Grundlage für Offenheit, Sensibilität und Lernfähigkeit, die bei jungen Personen viel wünschenswerter als das gute Selbstgefühl ist. Aus all dem folgt, dass das soziale Selbst eine Quelle »der Mühe, Verantwortung, Zweifel, Hoffnung und Furcht« ist (Cooley 1970: 246 - 248). Als Individuen werden wir ständig schmerzhaft mit einem Konflikt zwischen unserem Selbst mit all seinen Leidenschaften und unseren Möglichkeiten konfrontiert, die von dem Selbst und den anderen Menschen wahrgenommen werden und stets Unzulänglichkeiten suggerieren. Genauso schmerzhaft ist es, wenn das fröhliche, vor Selbstzuversicht strotzende Selbst plötzlich erfährt, dass sein Bild Risse bekommen hat. Nach dieser Entdeckung empfinden wir die Welt als kalt und fremd, wir spüren »kalten Terror«, Furcht und Zweifel. Wenn man allein an die Instabilität der gesellschaftlichen Meinung denkt, wird nachvollziehbar, warum es gelegentlich zu diesen Schmerzen kommen muss. Nur mit riesiger Selbstdisziplin kann man diesen Gefühlen entkommen - physisch oder psychisch. Das Zurückziehen ermöglicht unsere Regeneration, genauso wie Demut oder das Zurückstecken unserer Ambitionen (Cooley 1970: 249 - 251, 254). Wir werden freier und ruhiger, wenn wir Demut hervorrufen, auf das aggressive, soziale, ehrgeizige Selbst verzichten und ein bescheideneres Bild von uns selbst in den Augen der anderen akzeptieren. Cooley behauptet, dass die quasi-anarchistische Gegenwart schonender mit dem Selbst umgeht, als es die Vergangenheit getan hat. Deshalb tritt das Sichzurückziehen seltener auf (Cooley 1970: 258). Trotzdem entdecken ganze soziale Gruppen, wie die Arbeiter, die Immigranten oder die Schwarzamerikaner, dass sie wenige Möglichkeiten für Selbstausdruck, Solidarität, gesellschaftliche Anerkennung und beruflich-soziale Sicherheit finden (Cooley 1970: 261 - 263). Um Selbstrespekt zu bewahren, spüren <?page no="97"?> 98 sie Verdruss, und gelegentlich rebellieren sie. Eine Rebellion verleiht dem unterdrückten Selbst ein notwendiges Machtgefühl. Das Objekt des Selbstgefühls, d.h. die Person, ist durch Vererbung und soziale Faktoren, wie Nation, Klasse, Religion, Beruf und Geschlecht - bestimmt (Cooley 1970: 185 - 186, 202). Von diesen Faktoren hängt ab, welche Ziele, Wünsche, Ideale sich in den Vordergrund drängen und zu Maßstäben des Selbst und der Vergleiche werden. Nach dieser Kostprobe von Cooleys Ideen zu Emotionen und Selbst wenden wir uns Sorokin zu. Seine Ideen verdeutlichen, wie Kultur den Grad bestimmt, zu dem das Selbst emotionsbejahend sein darf. P ITRIM A. S OROKIN Sorokin schrieb sein Werk zur sozialen und kulturellen Dynamik nach der Sowjetischen Revolution, die ihn dazu zwang, sein Land zu verlassen. Es machte ihn zu einem führenden amerikanischen Soziologen. In seiner Einführung schreibt Sorokin, dass, als die Revolution seine Hoffnung auf neue, bessere Zeiten enttäuschte, er sich von der Idee des Fortschritts abwandte und anfing, die Idee des zyklischen Zeitverlaufs ernst zu nehmen. Der erste Band seines Werkes ist den Fluktuationen in Kunstformen wie Malerei, Bildhauerei, Architektur, Musik und Literatur gewidmet. Er schlägt dort vor, die Kulturtypen, die er auf dem Kunstgebiet noch untersuchen wollte, vor allem anhand ihrer Mentalitäten von einander zu unterscheiden, d.h. was ihre Philosophie, Weltanschauung, Religion, Moral, sozialen Beziehungen, ökonomische und politische Organisation und Persönlichkeitstypus betrifft (Sorokin 1937: 66 - 68). Der Kulturwandel bedeutet Wandel in allen Werten und dem vorherrschenden Persönlichkeitstypus. Den Hauptunterschied sieht Sorokin zwischen dem Ideational und dem Sensate Kulturtyp. Sensate Kultur ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nur an sinnlich wahrgenommene, sich stets wandelnde Wirklichkeit <?page no="98"?> 99 glaubt (Sorokin 1937: 73). Die Bedürfnisse und Ziele werden als physisch definiert, ihre Zufriedenstellung soll maximiert werden, indem aktiv in die Umwelt eingegriffen wird. Objekte werden danach bewertet, inwiefern sie als Mittel für die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse einsetzbar sind, wobei immer neue Bedürfnisse entstehen und nach Befriedigung verlangen (Sorokin 1937: 92 - 93). Das Leben wird darauf konzentriert, Objekte zu erwerben, zu gestalten und zu verwenden, die es ermöglichen, augenblickliche Bedürfnisse - Hunger, Durst, Sex, Vergnügen, Ehrgeiz, Ruhm - zu stillen. Diese Kultur glaubt nicht an Transzendenz und sucht nicht nach ihr, sondern im Gegenteil diese Kultur betont, dass das Leben kurz und vergänglich ist. Das zentrale Anliegen ist, keine Chance zu verpassen, dieses Leben in seinem ganzen Reichtum an Freuden, Gelüsten, Anregungen und Erlebnissen in vollen Zügen zu genießen. Eudaemonismus, Hedonismus, Utilitarismus und Sensualismus sind die Träger dieser Kultur (Sorokin 1937: 94). In diesen Moralphilosophien, die von der Sensate Mentalität bestimmt sind, ist das Vergnügen wertvoller als der Schmerz, der Genuss wertvoller als das Leiden, das Glück wertvoller als das Unglück. Sogar Jeremy Benthams und John Stuart Mills philosophische Systeme lassen sich als, allerdings moderierter und kalkulierter, Ausdruck dieser Grundmoralphilosophie verstehen, die nach dem Prinzip des größten Vergnügens für die meisten Menschen gilt. Wie dieses Ziel erreicht wird, bleibt flexibel, hat keinen moralischen Wert in sich. Transzendente Werte werden verpönt und abgelehnt. In dieser Kultur wird das Vermögen sehr hoch geschätzt, da es als Mittel zu Prestige, Wunschverwirklichung, Komfort, Macht, Ruhm und Glück betrachtet wird. Aus diesem Grund wird das Streben nach Vermögen die Hauptbeschäftigung, zum Wertungsmaßstab, zum höchsten Wert und zur Grundlage für die Herausbildung einer Art Aristokratie (Sorokin 1937: 95). Pekuniäre Werte werden zu Messinstrumenten und machen Individuen, die geschickt sind im Geld machen, zu Führern der Gesellschaft. <?page no="99"?> 100 Die Kunst ist als ein Instrument des Sensate Genusses zu verstehen. Ihre Funktion ist, Vergnügen, Freude, Unterhaltung und Glück anzubieten (Sorokin 1937: 680,679). In der Kunst äußert sich dieser Kulturtyp in Schilderungen von realistischen Menschen oder abweichenden sozialen Typen sowie von alltäglichen Handlungen. Der emotionale Ton ist leidenschaftlich, poetisch, sinnlich und sexuell. Gezeigt wird erotische, sinnliche und fleischliche Nacktheit. Die Ideational Kultur stellt einen Kontrast zur Sensate Kultur dar. Die Wirklichkeit wird nicht als materiell oder empirisch wahrnehmbar verstanden (Sorokin 1937: 72 - 73,92). Die menschlichen Bedürfnisse und Ziele sind vorwiegend geistiger Natur. Verlangt wird selbst auferlegte Reduzierung der physischen Bedürfnisse. Dies wird entweder durch den Rückzug aus der Welt oder durch die Reform dieser Welt erreicht. Ein typischer Vertreter dieser Kultur zeigt Gleichgültigkeit gegenüber der materiellen Welt und ist fokussiert auf seine innere, immaterielle Welt. Materielle Objekte besitzen für ihn keinen Wert. Es gilt, sich von ihnen zu distanzieren, sie mit Gleichgültigkeit zu betrachten, um in einer ewigen, unzerstörbaren Welt zu leben. Die für diese Kultur typische Mentalität legt den Wert auf das Absolute und Ewige, ihr Moralsystem betont das Transzendentale (Sorokin 1937: 93). Physische Bedürfnisse, Lüste und Wünsche nach Vergnügen und materiellen Werten werden unterdrückt und eingeschränkt: »Asketismus ist eine Manifestation dessen. Die Gleichgültigkeit der Nirvana ... eine andere ... » (Sorokin 1937: 94,96). In diesem Kulturtyp sind der Gott, das Ewige Leben, die Kategorischen Imperative, das Nirvana usw. das Zentrale. In dieser Kultur spielen Vermögen, Waffen, Komfort, Macht, Luxus keine bedeutende Rolle, da das Erreichen von Komfort, Vergnügen und Glück nicht das Ziel sind. Letztere, ebenso wie das menschliche Leben, werden als vorübergehende, leicht zerstörbare Lebensaspekte angesehen, die entweder gleichgültig oder störend sind und denen deshalb mit Ruhe oder Flucht begegnet wird. <?page no="100"?> 101 Die Kunst verschmilzt mit der Religion und ist fokussiert auf die übersinnliche, ewige Welt, Gott, göttliche Figuren und Heilige (Sorokin 1937: 679 - 680). Der emotionale Ton ist asketisch und anti-sinnlich, lehnt Freuden und Vergnügen dieser Welt ab. Wenn Nacktheit überhaupt gezeigt wird, dann nur in asketischer und fleischloser Form. Sorokins These ist, dass diese zwei Kulturen einander ablösen. Uns bleibt die Feststellung, dass er in seiner Analyse dieser zwei Kulturen ihren Umgang mit Emotionen zu einem wichtigen Unterscheidungskriterium macht. Auf diese Weise ist es ihm gelungen, die Ideational Kultur als emotionsverneinende und die Sensate Kultur als die emotionsbejahende Kultur zu charakterisieren. T ALCOTT P ARSONS Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von The Structure of Social Action - seinem ersten Werk, schrieb Talcott Parsons 1939 seinen Actor, Situation and Normative Pattern: An Essay in the Theory of Social Action (Parsons 1994). In diesem Essay wiederholt er seine These, dass soziale Integration durch gemeinsame Wertorientierungen bzw. gemeinsame Moral garantiert wird und entwickelt seine Handlungstheorie insofern weiter, dass er das Handeln des Aktors mit den Orientierungen des Aktors zu seiner Situation gleich setzt. Obwohl er mehrmals in diesem Essay Emotionen anspricht ( Parsons 1994: 79 - 80, 82 - 86), werden im Folgenden nur Emotionen im Zusammenhang mit Moral/ sozialer Integration und teleologischem Handeln besprochen. Es wird gezeigt, dass Parsons die Idee verwirft, dass zweckrationales Handeln häufig vorkommt oder große Bedeutung hat. Für ihn spielen Emotionen und Werte auch beim zweckrationalen Handeln eine wichtige Rolle. Es wird auch gezeigt, dass Parsons zwei Typen von »moralischen Gefühlen« unterscheidet. Der erste Typ (»A«) trägt zur Aufrechterhaltung der gemeinsamen Moral bei. Der zweite Typ (»B«) hilft diese Moral zu konstruieren. <?page no="101"?> 102 Gefühl und Moral In Parsons’ Definition der Moral spielen Gefühle eine große Rolle. Eine gemeinsame Moral wird bei Parsons, wie auch bei Durkheim, durch die Existenz der moralischen Gefühle »A« bewiesen, die sich bei Verstößen gegen Normen offenbaren (Parsons 1994: 170). Die moralischen Gefühle »A« ermöglichen die Aufrechterhaltung der gemeinsamen Wertorientierung bzw. gemeinsamen Moral. So wie auch bei Durkheim, reagiert der Aktor mit Empörung auf die Normverstöße der anderen. Wenn er selbst die Normen verletzt hat, erwachen Schuldgefühle, Beschämung und Gewissensbisse in ihm. Durch den Hinweis zu den zuletzt erwähnten Gefühlen erweitert Parsons den Durkheimschen Interpretationsrahmen und fügt diesem Rahmen etwas ganz Neues bei. Sogar die unterdrückten Schuldgefühle, die die Psychoanalyse entdeckte, zählt Parsons hier als Reaktion auf eigene Normverstöße auf: »Die Existenz dieser moralischen Gefühle manifestiert sich in typischen Reaktionen der Individuen im Fall des Verstoßes gegen die entsprechenden Normen; im Fall des durch andere begangenen Verstoßes nehmen diese die Form moralischer Empörung an; wenn der Aktor selbst einen Verstoß begeht, sind Schuldgefühle, Beschämung und Gewissensbisse die Folge. Die weite Verbreitung dieser Reaktionen und die Umstände, unter denen sie sich ereignen, geben dieser allgemeinen Analyse reichlich empirischen Beleg. Eine bemerkenswerte Erweiterung dieser Evidenz war die mittels psychoanalytischer Methoden entdeckte überaus große Bedeutung unterdrückter Schuldgefühle der neurotischen Persönlichkeit, die durch die Verletzung oder den Wunsch nach Verletzung von Normen verursacht werden, denen sich das Individuum bewußt überhaupt nicht moralisch verpflichtet fühlt.« (Parsons 1994: 170 - 171) <?page no="102"?> 103 In diesem Aufsatz hat Parsons’ Aktor immer die Wahl, ob er nach den normativen Mustern handelt oder nicht. Er kann die normativen Muster übernehmen oder sie zurückweisen (und mit seinen Schuldgefühlen oder Gewissensbissen leben): »Um ein normatives Muster zu verwirklichen, ist es unerläßlich, daß der Aktor in die Situation interveniert... Im Kontext normativer Orientierung steht der Aktor als aktiver Agent in Beziehung zur Situation. Die Situation besteht für ihn in einer Ansammlung von Mitteln und Bedingungen oder in Hindernissen für die Verwirklichung seiner Zwecke ... Der für die Theorie des Handelns analytisch besonders wichtige Aspekt teleologischer Gerichtetheit scheint mit dem getroffen, was gerade als normative Orientierung umschrieben wurde: mit der Übernahme oder Zurückweisung normativer Muster.« (Parsons 1994: 73 - 74) Bei seiner Diskussion von moralischen Gefühlen »B«, die inmitten seiner Überlegungen zur affektiven Handelsorientierung auftaucht und dem Diskurs zu subjektiv-affektiven Haltungen und subjektiven Lust-Unlust/ Lust-Schmerz-Empfindungen folgt (Parsons 1994: 79 - 82), wendet Parsons moralischer Achtung und moralischer Empörung seine Aufmerksamkeit zu. Er begreift moralische Achtung und moralische Empörung als »[d]ie zweite Komponente affektiver Orientierung« (Parsons 1994: 81 - 82). Diese sind aus seiner Sicht besonders interessant, da sie bedeutsame affektive Korrelate zu normativen Handlungsmustern darstellen. Zusammen mit diesen normativen Handlungsmustern konstituieren sie den Wert-Komplex der Gesellschaft: »Moralische Empörung findet sich nur im Kontext von Verstößen gegen normative Muster, an die sich der betreffende Aktor gebunden fühlt. Ein weiterer Aspekt der besonderen Beziehung zu normativen Mustern zeigt sich in der Unpersönlichkeit moralischer Achtung. Moralische Gefühle scheinen sich in erster Linie an Prinzipienfragen zu knüpfen - an parti- <?page no="103"?> 104 kulare Personen, Objekte usw. nur insoweit, wie diese relativ abstrakte und allgemeine Prinzipien verkörpern. Typische Objekte moralischer Gefühle sind solche Dinge wie Aufrichtigkeit, Treue ... Der Teil des Handlungskomplexes, der einerseits durch den Gehalt mindestens eines wesentlichen Sektors normativer Muster, andererseits durch die affektiven Haltungen moralischen Respekts und moralischer Empörung konstituiert wird, stellt den Kern dessen dar, was in der Theorie des Handelns als Wert-Komplex bezeichnet werden soll.« (Parsons 1994: 82) Für Parsons wird also der Wert-Komplex in seiner Theorie des Handelns durch »objektiv-äußerlich erscheinende« normative Muster und durch die subjektiven, affektiven Haltungen moralischen Respekts und moralischer Empörung konstituiert (Parsons 1994: 79,83). Interessant ist, dass Parsons den Begriff des Wert- Komplexes direkt in seiner Diskussion zur affektiven Handlungsorientierung vorstellt und diesen Wert-Komplex aus (einem besonderen Typ von) Emotionen (Respekt und Empörung) ableitet. Bei Parsons sind es nicht Normen, die Gefühle schaffen, sondern im Gegenteil die moralischen Gefühle »B«, die den Wert-Komplex mitgestalten - ein Komplex, der »in der Struktur sowohl der individuellen Persönlichkeit wie auch der sozialen Systeme eine äußerst wichtige Stellung hat« und - wie wir bereits wissen - für soziale Integration sorgt (Parsons 1994: 83). Parsons wendet sich dem affektiven Handeln nochmals zu, als er Handeln bespricht, in dem konkrete Individuen zu den wichtigsten Objekten von Haltungen werden (Parsons 1994: 153). Er stellt schrittweise seine Argumente vor, die ihm erlauben, den Schluss zu ziehen, dass unsere Liebe für und der Wunsch nach der Anerkennung von Personen, die wir respektieren, die Basis der sozialen Ordnung darstellen. Dieser Wunsch zusammen mit Furcht vor Ablehnung zwingt uns, uns an die gemeinsamen Standards zu halten (Parsons 1994: 155). Parsons’ Argumentation sieht folgendermaßen aus: Das Charakteristische am affektiven Handeln, in dem konkrete Individu- <?page no="104"?> 105 en zu den wichtigsten Objekten werden, ist, dass Reziprozität zum Ziel wird: »Einer der wichtigsten Konsequenzen solcher affektiven Orientierungen liegt in dem Umstand, daß zu den wichtigsten Zielen und Zwecken von Individuen gehört, erwünschte Erwiderungen anderer Aktoren zu erlangen oder unerwünschte zu vermeiden. Darüber hinaus ist die affektive Bedeutung von Individuen in Komplexe symbolischer Beziehungen eingebunden ...« (Parsons 1994: 154) Parsons erinnert uns daran, dass die affektiven Haltungen unser Handeln auch insofern beeinflussen, dass »wir die Dinge besitzen und kontrollieren wollen, die uns Lust verschaffen, und jene meiden oder sogar vernichten, die diesem Hedonismus entgegenstehen«(Parsons 1994: 156). Affektive Haltungen manifestieren sich in positiven oder negativen Emotionen, Gedanken und Handlungen, wenn es um Personen geht: »Wir neigen dazu, im Interesse der Personen, die wir lieben, zu handeln, für sie zu sorgen, uns oder unsere Interessen mit ihnen zu identifizieren, während wir gegenüber Personen, die wir hassen, tendeziell feindselig und aggressiv sind, sie zu behindern oder im extremen Fall zu vernichten versuchen.« (Parsons 1994: 156 - 157) Wir suchen Kontakt mit Menschen, die wir respektieren - wir wünschen uns ihre Anerkennung. Im Gegenteil, wir wollen keinen Kontakt mit Personen, die wir ablehnen. Wenn sie uns bekämpfen, schlagen wir mit denselben Mitteln zurück (s. dazu Parsons 1994: 140 - 152). Es lässt sich vermuten, dass sich die gegenseitigen positiven oder negativen Gefühle verstärken. Der Wunsch, Anerkennung von Personen, die wir respektieren, zu bekommen, stellt eine wichtige Grundlage der sozialen Ordnung dar. Aufgrund dieses Wunsches und aus Furcht vor Ablehnung halten wir uns an die gemeinsamen Standards und gewinnen da- <?page no="105"?> 106 durch Anerkennung von den respektierten anderen (Parsons 1994: 155). Fazit: In Parsons’ 1939er-Thesen spielen Emotionen eine sehr bedeutende Rolle bei der Herstellung und Aufrechterhaltung der Moral. Moralische Empörung und Schuldgefühle helfen, die Normen zu schützen. Moralische Achtung und moralische Empörung hingegen helfen, den Wert-Komplex zu konstituieren. Wie gerade gezeigt, tragen Liebe und Angst vor Ablehnung die schwere Last der sozialen Integration mit. Teleologische Orientierung - 1939 In seiner Handlungstheorie postuliert Parsons drei Handlungsorientierungen: die kognitive, die affektuelle und die teleologische. Im Kapitel zu den drei grundlegenden Orientierungsmodi geht es Parsons um »die primären, funktional bedeutsamen Arten der Beziehung zwischen dem Aktor, seiner Situation und den relevanten normativen Mustern« (Parsons 1994: 69). Wie gleich gezeigt wird, lehnt Parsons die Idee ab, dass sich bei der teleologischen Orientierung Werte und Emotionen ausblenden lassen. In seiner Diskussion der teleologischen Orientierung besteht Parsons darauf, dass sogar bei diesem Typ des zweckorientierten Handelns Normen eine große Bedeutung besitzen. Normen sind aber für ihn mit Gefühlen und Werthaltungen identisch. Wenn er also auf die Bedeutung von Normen bei teleologisch orientiertem Handeln besteht, besteht er zugleich darauf, dass Emotionen (und Werte) auch hier eine Rolle spielen. Er argumentiert wie folgt: Das Zweck-Mittel-Schema, das Normen völlig ausblendet, greift zu kurz. Dieses Schema stellt einen Grenzfall dar, der nur dort passt, wo die Mittel und Zwecke eindeutig formuliert und dem Aktor »in höchstem Grad« bewusst werden (Parsons 1994: 78-79). Die Normen sind sogar bei diesem Grenzfall nicht ganz ohne Bedeutung, allerdings sind die »bei diffuseren, nichtlogischen Modi teleologischer Orientierung« noch viel bedeutender. Ihm scheint ebenfalls, dass Handeln, das auf Gefühlen und Werten beruht, häufiger als zweckorientiertes Handeln auftritt: <?page no="106"?> 107 »Es darf jedoch nicht angenommen werden, normative Elemente wären bei den diffuseren, nichtlogischen Modi teleologischer Orientierung nicht wichtig. Im Gegenteil ist dieser auf Gefühlen und Werthaltungen beruhende Relationsmodus zum Handeln quantitativ wahrscheinlich bedeutender als der auf klar formulierten Zwecken beruhende.« (Parsons 1994: 79) In einem späteren Kapitel - »Die Situation als Objekt affektueller Orientierung: Kathexis« - argumentiert Parsons, dass die Emotionen die teleologische Orientierung auf eine weitere Weise beeinflussen - dort, wo es um das Verhältnis des Aktors zu den Objekten der Situation geht. Die Objekte der Situation sind zugleich Objekte »der Liebe und des Hasses, des Verlangens und Widerstrebens und vieler anderer emotionaler Nuancen« (Parsons 1994: 136 - 137). So wie manche Rational-Choice-Theoretiker der Gegenwart ist er der Meinung, dass Emotionen (ebenso wie die expressiven Symbole) teleologisch orientiertes Handeln untermauern und intensivieren: »Nur insoweit sie ein Motiv dafür bereitstellen, die Verwirklichung eines Zweckes zu erstreben, ist es für Affekte möglich, in teleologisch orientiertes Handeln Eingang zu finden; ... die Intensität des Affekts, die die Anstrengung speist, die motivierende Kraft der Sorge um die Erreichung eines Zwecks. Im reinem Typus rationalen Handelns wird die Mittelwahl als affektiv neutral begriffen. Dies muß nicht der Fall sein.« (Parsons 1994: 137,156) Pattern Variables Die Geschichte der mehrmals umgearbeiteten Fassungen von Parsons’ Pattern Variables ist eine Dekade (1951 - 1960) lang (Parsons 1967; Jensen 1980; Bourricaud 1981; Kahle 1981)). Es ist nicht meine Absicht, sie hier in aller Ausführlichkeit darzulegen. Ich möchte die Pattern Variables nur kurz vorstellen, um dem Leser zu zeigen bzw. ihn daran zu erinnern, dass Parsons die <?page no="107"?> 108 Emotionen nie aus dem Blick ließ, während er an einem seiner bedeutendsten wissenschaftlichen Beiträgen bastelte. Seine Pattern Variables stellen einen weiteren Versuch dar, analytisch zu erfassen, wie der Aktor die Situation definiert und sein Handeln bestimmt. Bei diesem neuen Versuch interessiert Parsons, wie der Aktor die Werte, nach denen er handelt, wählt. Dem Aktor steht es nicht mehr frei, diese Werte abzulehnen - er hat sie längst verinnerlicht. Er hat nur noch die Wahl, nach welchen Werten er handelt. Allein oder in Zusammenarbeit mit anderen (Jensen 1980: 57 - 74; Parsons 1967; Kahle 1981) arbeitet Parsons in mehreren Schritten die sinngebenden Kriterien oder Orientierungen des Handelns heraus, die der Aktor verwendet, um seine Beziehung zu einer Situation, die aus Objekten zusammengesetzt ist, zu definieren. Parsons unit act ist nichts anderes als diese Beziehung des Aktors zur Situation, verstanden als eine Wahlsituation (Parsons 1967: 193). Dichotome Pattern Variables stellen zugleich die sinngebenden Selektionsschritte in diesem Wahlprozess dar: »An actor in a situation is confronted by a series of major dilemmas of orientation, a series of choices that the actor must make before the situation has a determinate meaning for him. The objects of the situation do not interact with the cognizing and cathecting organism in such a fashion as to determine automatically the meaning of the situation. Rather, the actor must make a series of choices before the situation will have a determinate meaning. Specifically, we maintain, the actor must make five specific dichotomous choices before any situation will have a determinate meaning. The five dichotomies which formulate these choice alternatives are called the pattern variables ...« (Parsons / Shils in Bourricaud 1981: 60) Sowohl die Anzahl von Pattern Variables als auch deren Inhalt ändern sich im Laufe der Dekade um einiges, aber Affektivität als Alternative zur affektiven Neutralität bleibt über mehrere Fas- <?page no="108"?> 109 sungen erhalten. Hier die Parsons-Shils Version von 1951, die aus fünf Pattern-Variables besteht und mit der Wahl zwischen Emotionen und emotionaler Neutralität beginnt (Parsons/ Shils in Bourricaud 1981: 61): Affektivität vs. affektive Neutralität Selbstorientierung vs. Kollektiv-Orientierung Universalismus vs. Partikularismus Askription vs. Leistung Spezifität vs. Diffusität Im Laufe der Dekade werden Motivlagen (Affektivität, Neutralität, Spezifität, Diffusität) von Objektmodalitäten (Performanz, Qualität, Universalismus, Partikularismus) getrennt. Als am Ende der Dekade Parsons seinen »unit act« in einen Kontext vom Action System (AGIL) einbettet, vermehrt sich die Anzahl von Pattern Variables bedeutend durch interne Differenzierung und Kreuzung mit anderen dichotomen Variablen (s. dazu Kahle 1981). Affektivität steht im Vordergrund mehrerer Zellen der Parsons’schen Tabelle. In Pattern Maintenance (L) steckt sie hinter dem Bedürfnis nach diffuser Beziehung zu anderen, sagen wir nach gegenseitiger Solidarität, oder aber hinter dem Bedürfnis nach einer spezifischen Beziehung (Parsons 1967: 199,200). In Goal-Attainment (G) finden wir spezifische Objekte der Kathexis - wie die Frau, in die ein Mann verliebt ist. Parsons erlaubt sich hier einen kleinen Scherz: Es kann sein, sagt er, dass »gentlemen prefer blonds«, aber der Verliebte fühlt sich nicht zu allen Blondinen, sondern zu einer bestimmten Frau hingezogen (Parsons 1967: 201). Zum Abschluss möchte ich die Zelle in Adaptation (A) namens »moral-evaluative categorization« erwähnen. Damit die Signifikanz von Normen verdeutlicht wird, so Parsons, ist es notwendig, die Normen als Aspekte einer objektiven Sachlage oder Ordnung zu betrachten, sie aber gleichzeitig mit positiven Affekten zu besetzten. Ein Aktor »cannot be emotionally indifferent to whether or not he feels committed to the norms in question« (Parsons 1967: 207). <?page no="109"?> 110 Der Stellenwert von Affekten in Parsons’ Theorie hat sich zwischen 1939 und der Pattern Variables-Dekade etwas reduziert. Aber einige von Parsons frühen, 1939er-Thesen finden wir in der AGIL-Tabelle wieder. Die »objektiven« Normen sind immer noch von Emotionen untermauert und spezifische Objekte immer noch kathexis-geladen. Obwohl in neue Kleider gehüllt, finden wir auch den alten Gedanken wieder, dass Menschen nach Kontakt mit anderen Menschen suchen. Jetzt heißt es aber, dass diese Suche nach Bindung bei Pattern Maintenance eine große Bedeutung hat. Literatur Bourricaud, F. 1981. The Sociology of Talcott Parsons. Chicago. The University of Chicago Press Cooley, Ch.H. 1970. Human Nature & the Social Order. Introduction by Ph. Rieff and Foreward by G.H. Mead. New York. Schocken Books Hutzsch, Ch. 2000. »Emotionen - ein Schlüssel zur Identität. Eine Untersuchung zur Einarbeitung von Emotionen in Prozesse der Identität« Diplomarbeit im Fach Soziologie, Universität Leipzig Jensen, S. 1980. Talcott Parsons: Eine Einführung. Stuttgart. B.H. Teubner Kahle, G. 1981. »Affektuales Handeln bei Parsons« in Logik des Herzens. Die soziale Dimension der Gefühle. Hrsg. von G. Kahle. Suhrkamp, S. 254 - 282 Parsons, T. 1967. Sociological Theory and Modern Society. New York. The Free Press Parsons, T. 1994. Aktor, Situation und normative Muster: Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns. Hrsg. und übersetzt von H. Wenzel. Frankfurt a.M. Suhrkamp Sorokin, P.A. 1937. Social and Cultural Dynamics. Vol 1. Fluctuation of Forms of Art. New York. American Book Company <?page no="110"?> 111 3. Schlussfolgerung Auf die klassische europäische Soziologie zurückblickend, lässt sich feststellen, dass vor allem Simmel und Durkheim, aber auch Weber den Emotionen eine große Bedeutung in der Gesellschaft zugeschrieben haben. Sowohl Durkheim als auch Simmel waren sehr kritisch gegenüber den neuen Entwicklungen in der Wirtschaft eingestellt und betrachteten mit viel Skepsis die fieberhafte »Jagd nach Glück« und die »Entfesselung der Begierden«, die das neue Wirtschaftssystem mit sich brachte. Beide äußerten Zweifel daran, dass das Glück durch Warenbesitz oder Ankauf immer neuer Reize und Anregungen erreicht werden kann. Durkheim diagnostizierte, dass es den Menschen in der neuen, industriellen Ordnung an Solidarität fehlt. Simmels Analysen implizierten, dass sich Freundschaft und Liebe, welche die Menschen im Alltag aneinander binden, in der Moderne viel schwieriger durchsetzen können. Das Hauptpostulat der Simmel’schen Soziologie war, dass die Emotionen die Individuen aneinander binden und die Gesellschaft durch unzählige Interaktionen konstituieren. Primäre Emotionen leisten einen Beitrag zur Entstehung von verschiedenen Institutionen, die, wenn sie sich verfestigen, neue Emotionen hervorrufen. Spezifische Emotionen wie Treue und Dankbarkeit verhindern, dass die durch andere Emotionen entstandenen Institutionen verschwinden. Durkheim bot das konträre Postulat an: Nur wenn die sozialen Strukturen, Glaubensgebilde und Kollektivvorstellungen stark sind, sind sie in der Lage, die Individuen an sich und dadurch an die Gesellschaft zu binden. Nur dann sind Individuen erst fähig, als soziale Wesen zu handeln - Opferbereitschaft, emotionsbedingte und -geladene Empörung über Normverletzungen und Liebe zueinander unter Beweis zu stellen. Sind die sozialen Strukturen, Glaubensgebilde und Kollektivvorstellungen schwach, tauchen negative kollektive Gemütsverfassungen wie Trauer, Angst, Melancholie oder Nie- <?page no="111"?> 112 dergeschlagenheit auf. Die Individuen fühlen sich isoliert und allein gelassen. Ihre Existenz kommt ihnen sinnlos vor - die Selbstmordraten steigen. Webers Hauptthese war, dass Emotionen, wie seelische Qualen, Angst vor Verdammung und Einsamkeitsgefühl, zur Entwicklung des modernen, rationalen Kapitalismus einen außerordentlich wichtigen Beitrag geleistet haben. Die Berufsausübung des idealtypischen Politikers und Wissenschaftlers beruht, ebenso wie Charisma - die einzige Quelle des radikalen sozialen Wandelns - auch in der modernen, rationalen, entzauberten Welt auf Leidenschaft und tief empfundenen Emotionen. Die Leidenschaft ist sogar ihre Grundvoraussetzung! In den USA, genauso wie in Europa, scheuten die Soziologen nicht vor Emotionen zurück. Im Unterschied zu Weber, der eine lineare Zeitvorstellung vertrat und Rationalisierungstendenzen vorhersagte, arbeitete Sorokin an der Harvard Universität mit einer zyklischen Zeitvorstellung. Mit Hilfe von umfangreichen komparativen Untersuchungen belegte er die These, dass emotionsbetonende Sensate Zeitphasen und die emotionsverneinenden Ideational Zeitphasen einander wiederkehrend ablösen. Auf der Mikroebene setzte Cooley die Grundlagen für seine heute noch sehr hoch angesehene Theorie der Identitätsentwicklung an, deren Hauptmerkmal ihr Bezug auf identitätsschaffende Emotionen wie ein gutes Selbstgefühl, die Selbstliebe, die Selbstgefälligkeit, die Eitelkeit, der Stolz, die Schüchternheit usw. ist. Bereits am Anfang seiner Karriere und ebenfalls auf die Mikroebene fokussiert, konzipierte Parsons, Sorokins Harvard-Kollege, verschiedene Entwürfe seiner Handlungstheorie. Der Stellenwert von Affekten in Parsons’ Theorie reduzierte sich im Laufe der Nachkriegszeit. Es blieb jedoch die These, dass Normen, bestimmte Typen von Interaktionen und Objekte emotionsgeladen sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg, trotz der fortschreitenden kognitiv-normativen Orientierung in den Sozialwissenschaften widmete Peter Blau (1992[1964]: 76 - 85) der Liebe einen Exkurs in seinem Klassiker Exchange and Power in Social Life. Er wies oft in <?page no="112"?> 113 diesem Werk auf Emotionen hin, und Simmels Begriff der Dankbarkeit bekam in seinen Händen ein völlig neues Gewand. Als ein Hauptvertreter der Strukturfunktionalisten hat William Jay Goode ebenfalls mit der Liebe geliebäugelt. Er zeigte, wie Rollenkonflikte mit Liebe spielen und sich an ihr reiben. Solange Blau und Goode von mikrosoziologischen Prozessen fasziniert waren, blühte auch ihre Betrachtung der Liebe. Sowohl Blau als auch Goode waren zusammen mit Robert Merton, der selbst die kognitivistisch-normative Perspektive auf die Gesellschaft und Wissenschaft vertrat, am Institut für Soziologie an der Columbia Universität in New York City. Rückblickend ist es überraschend, dass Merton seine Kollegen Hans Gerth und C. Wright Mills (1970,1981) bei den Arbeiten zu ihrer Studie Character and Social Structure, die sich in einem zentralen Kapitel dem Thema Emotionen widmet, stark unterstützt hat. Eine gesonderte Erwähnung verdient die Soziologie von Erving Goffman, der seinen Doktortitel an der Chicago Universität 1953 erwarb und danach an der Berkeley Universität tätig war. Seine »dramaturgische« Soziologie wurde teils dank ihrer eigenen Überzeugungskraft, teils auf Grund ihrer allgemeinen Popularität sogar an der Columbia Universität salonfähig. Goffman stand zwar für herausragende Betonung mikrosoziologischer Impressionen, aber nicht ohne eiserne Systematik. Bei ihm konnte ein(e) emotionsverhungernde(r) Student oder Studentin strukturfunktionalistischer Professoren, die das Rational-Normative betonten, auf jeden Fall Hinweise auf Emotionen finden. Goffmans Hauptthese hinsichtlich sozialer Interaktionen ist, dass die Individuen immer mit dem Ziel handeln, ihr Gesicht nicht zu verlieren und das äußerst schmerzhafte Auftauchen der damit verbundenen Scham [embarrassment] zu verhindern (Goffman 1967: 97 - 112). Seine Soziologie trennt die Wirklichkeit in eine Vorder- und eine Hinterbühne. Hinter den Kulissen, unweit der offiziellen Interaktionen, können die Beteiligten ihre wahren Gedanken und Emotionen artikulieren und sich mit Gleichen über die störenden, irritierenden oder liebenswürdigen Interaktionspartner auf der Vorderbühne austauschen. <?page no="113"?> 114 Das in Teil 1 dieses Buches quasi-archäologisch ausgegrabene Wissen zu Emotionen in der klassischen Soziologie und der Soziologie der Nachkriegszeit soll nicht darüber hinweg-täuschen: Die Emotionen führten seit dem Zweiten Weltkrieg eine äußerst marginalisierte und verarmte Existenz in den amerikanischen und den durch sie beeinflussten europäischen Sozialwissenschaften bis zu der Zeit, die von der 1968er Studentenrevolte und von den ersten Publikationen in der Soziologie der Emotionen 1975 markiert wurde. Die Soziologie ging mit Emotionen sehr hart um - sie wurden regelrecht ignoriert und, wenn überhaupt wahrgenommen, niedergemacht. Erstens vertraten sowohl die Einführungs- und Theoriekurse als auch die Textbücher die Auffassung, dass die Soziologie eine vorwiegend positivistische Wissenschaft ist, die mit Hilfe von rational-kognitiven, wertfreien Methoden die Wirklichkeit untersucht. Leidenschaft erwähnte da niemand. Die soziologische Grundfrage ist und sei schon immer gewesen: Wie ist die soziale Ordnung möglich? Die richtige Antwort war: dank der gemeinsamen Normen. Und daraus folgte, dass andere Fragen entweder nicht soziologisch oder uninteressant waren. Zweitens verbreitete die Harvard-Columbia-Soziologie ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Eine von Parsons pattern variables, Affektivität vs. affektive Neutralität, wurde (und wird noch heute) so interpretiert, dass Affektivität die Interaktionen der Vergangenheit charakterisiert, dass aber die moderne Gesellschaft mit ihren sekundären Institutionen affektive Neutralität im Umgang mit anderen verlangt (vgl. Parsons 1994: 80; Kahle 1981: 257; Barbalet 1998: 16 - 18). Mit einer großen Dosis der Definitionen des Handelns von Max Weber und seiner Rationalisierungsthese gepfeffert lautete der Urteilsspruch über die Wirklichkeit: Von Normen geprägtes, zweckorientiertes Handeln dominiert die Gegenwart, das expressive Handeln ist abweichend. Als solches gehört das expressive Handeln nicht der allgemeinen, sondern einer Bindestrichsoziologie an und kann nur als Abweichendes oder Kollektives Verhalten studiert werden. Zu dieser Zeit waren die führenden amerikanischen Soziolo- <?page no="114"?> 115 gen fasziniert von den formellen Organisationen und der Bürokratie (vgl. Barbalet 1998: 19). Auch wenn sie sich wie Blau mehr für die Interessen, Austauschprozesse und Machtstrukturen als für die Normen interessierten, besprachen sie die Emotionen nur am Rande ihrer Analysen. Zu organisationssoziologischen Grundannahmen gehörte die Überzeugung, dass die Organisationen in der Lage sind, ihre Ziele unabhängig von ihren Gründern zu definieren und das Verhalten der Angestellten zu kontrollieren (Gouldner 1970: 51). Rückblickend kann festgestellt werden, dass man alles, was nach politischen Extremen und nach dem »irrationalen« Verhalten roch, das zum Zweiten Weltkrieg mit all seiner Gewalt und Zerstörung geführt hatte, gern ausklammern und unter der Bezeichnung der Abweichung fern von Normalität eingeordnet sehen wollte. Man wollte gern glauben, dass der Mensch im Grunde genommen rational und normativ ist oder dass formelle Organisationen die Individuen dazu zwingen können, sich rational zu verhalten. Die Parsons’sche konzeptuelle Akrobatik war am erstaunlichsten - sein unit act verlangte den Glauben daran, dass Individuen stets normativ handeln, auch wenn sie ihre äußerst egoistischen Interessen zu verwirklichen versuchen. Man kann sagen, dass die Studentenrevolte 1968 diese normkonforme, sowohl harmonieals auch rationalitätsbedürftige Nachkriegszeitphase in der Soziologie beendete. Es ist nicht mein Ziel, hier die massive wissenschaftliche Kritik, die zu dieser Zeit ausbrach, wiederzugeben (dazu s. z.B. Gouldner 1970). Ich möchte nur feststellen, dass die Marxisten genauso wie Rational- Choice-Theoretiker oder Symbolische Interaktionisten andere, dringendere Anliegen hatten, als die Emotionen zu erforschen. Für Marxisten stellten sich die Fragen nach Klassenbeziehungen und Machtstrukturen, nach der Ausbeutung und der Entfremdung als zentral dar. Für Rational-Choice-Theoretiker ging es darum, die rationalen Grundlagen des individuellen, egoistischen Handelns zu verstehen (Olson 1963). Der Symbolische Interaktionismus musste erst einmal seine Forschungsagenda, die sich am Anfang auf menschliche Interaktionen, ihren Einfluss <?page no="115"?> 116 auf die Sinnkonstruktion und auf das sinnhafte soziale Handeln auf der Mikroebene konzentrierte, systematisieren und konsolidieren (Blumer 1986[1969]). Insgesamt kann man sagen, dass die Kritiker der vorherrschenden Harvard-Columbia-Soziologie das Fach noch dezidierter als ihre Vorgänger entemotionalisierten. Jedoch bereiteten sowohl die vorherrschende Harvard-Columbia-Soziologie als auch Marxismus und Symbolische Interaktionismus die Grundlagen, auf denen sich die neue Soziologie der Emotionen entwickelte. Im nächsten Kapitel werde ich die Aufmerksamkeit erregende Debatte zwischen den Positivisten und Konstruktivisten vorstellen, die oft als der offizielle Anfang der Soziologie der Emotionen angesehen wird. Literatur Barbalet, J. M. 1998. Emotion, Social Theory and Social Structure. Cambridge. Cambridge University Press Blau, P. 1992[1964]. Exchange and Power in Social Life. New Brunswick. Transaction Publishers Blumer, H. 1986 [1969]. Symbolic Interactionism. Berkeley. University of California Press Gerth, H. and C.W. Mills. 1970 [1954] Character and Social Structure. London. Routledge & Kegan Paul Gerth, H. und C.W. Mills. 1981. »Gefühl und Emotion« in Logik des Herzens. Die soziale Dimension der Gefühle. Hrsg. von G. Kahle. Frankfurt a.M. Suhrkamp, S. 120 - 133 Goffman, E. 1967. Interaction Ritual. New York. Pantheon Books Gouldner, A.W. 1970. The Coming Crisis of Western Sociology. New York. Equinox Books/ Published by Avon Kahle, G. 1981. »Affektuales Handeln bei Parsons« in Logik des Herzens. Die soziale Dimension der Gefühle. Hrsg. von G. Kahle. Suhrkamp, S. 254 - 282 Olson, M. 1963. The Logic of Collective Action. Cambridge, MA. Harvard University Press Parsons, T. 1994. Aktor, Situation und normative Muster: Ein Essay zur Theorie sozialen Handelns. Hrsg. und übersetzt von H. Wenzel. Frankfurt a.M. Suhrkamp <?page no="116"?> 117 Teil II Soziologie der Emotionen heute I. Einführung Der Anfang der Soziologie der Emotionen wird trotz einiger inhaltlicher Variationen auf Mitte der 1970er Jahre datiert (Kemper 1990: 3 - 4; Gerhards 1986: 769; Vester 1991: 13; Barbalet 1999: 20 - 22). Wie Theodore Kemper, einer der Pioniere auf diesem Forschungsgebiet, schreibt, fing alles an mit einem Artikel über Emotionen von Arlie Hochschild (1975) sowie der von Thomas Scheff im selben Jahr organisierten, ersten session zu Emotionen bei dem jährlichen Meeting der American Sociological Association und der Veröffentlichung von Randall Collins Buch Conflict Sociology, in dem Emotionen eine zentrale Rolle spielen. Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre erschienen sowohl Bücher über Soziologie der Emotionen von Kemper (1978a) und Scheff (1979) als auch Artikel von Shott (1979), Hochschild (1979) und Kemper (1978b,1981a, 1981b) in The American Journal of Sociology und The American Sociologist, die eine heute bereits als klassisch zu bezeichnende Debatte zwischen Hochschild-Shotts konstruktivistischer und Kempers positivistischer Sicht der Emotionen beinhalteten. 1983 wurde Arlie Hochschilds bahnbrechendes Buch The Managed Heart und ein Jahr danach Norman Denzins On Understanding Emotion veröffentlicht. Zugleich wendeten sich vor allem Psychologen wie auch Psychoanalytiker, Philosophen, Historiker und Kulturwissenschaftler zunehmend Emotionen zu. Um diese Entwicklung widerzuspiegeln ist 1984 der vom Prinzip her interdisziplinär und international gedachte Verband International Society for Research on Emotions gegründet worden. Die Etablierung einer Sektion für Soziologie der Emotionen bei der American Sociological Association im Jahre 1986 und der von Kemper herausgegebene <?page no="117"?> 118 Sammelband Research Agendas in the Sociology of Emotions (1990), in dem die amerikanischen Pioniere mit ihren unterschiedlichen Ansätzen zu Wort kommen, markierten das Ende dieser ersten Entwicklungsphase. Fünf Jahre nach der Etablierung des internationalen Verbandes entstand 1989 die Sektion für Soziologie der Emotionen beim englischen Soziologieverband, da sie auch in England viele praktizierende Befürworter gefunden hatte. Vier Sammelbände lassen diese Entwicklung besonders gut Revue passieren und gleichzeitig die Spitze des »englischen« Eisbergs erkennen (Harré 1986; Fineman 1993; Harré und Parrott 1996; Bendelow und Williams 1998). Die zahlreichen Sammelbände, thematischen Buchreihen und ein bibliografisches Quellenbuch, die sich breiter Aufmerksamkeit erfreuten, lassen nur die Spitze der kreativen Bemühungen der letzten zwei Jahrzehnte zum Vorschein kommen (Kahle 1981; Plutchik und Kellerman 1980; Scherer und Ekman 1984; Harré 1986; Franks und Doyle McCarthy 1989; Stearns und Stearns 1985; Stearns 1989a, 1989b, 1994; Lewis und Haviland 1993; Cuthbertson-Johnson, Franks, Dornan 1994; Wentworth und Ryan 1994). Diese Sammelbände zeigen leider, dass die Sozialpsychologen und Psychologen gegenüber soziologischen Befunden weitgehend immun geblieben sind - sie schließen nur wenige und allenfalls eher dekorativ soziologische Beiträge ein (Collins 1995: 298 - 300; Barbalet 1999: 21). Wie Toits (1989: 334 - 337) berichtet, entwickelten sich in der Soziologie zuerst Fragestellungen zum Zusammenspiel von Emotionen, Physiologie und Kognition, also vor allem wie einzelne Emotionen fungieren und geschlechtsspezifisch sozialisiert werden, ob Emotionen als Sozial- oder Kulturprodukte zu verstehen sind und wie Emotionen als intervenierende Variablen die Interaktionen auf Mikroebene mit Makrostrukturen verbinden. Man wollte anfangs auch gern verstehen, wie sich die verändernden, historischen Bedingungen auf die Emotionen auswirken. In diesem Kapitel werde ich nicht etwa eine ähnliche Literaturübersicht liefern, sondern den konstruktivistischen und den positivistischen Ansatz skizzieren. Da der Forschungsarbeit von <?page no="118"?> 119 Arlie Hochschild immer noch die meiste Aufmerksamkeit entgegen gebracht wird, soll sie auch im Zentrum dieser Skizze stehen. Außerdem werde ich auf die Forschungsgebiete »Kultur und Emotionen«, »Geschichte der Emotionen« und »Soziale Struktur und Emotionen« eingehen, wobei jeweils entweder ein oder mehrere Ansätze vorgestellt werden. »Emotion und Organisation« wird in einem getrennten Kapitel unter die Lupe genommen. Zunächst aber wird die innovationsreiche Forschungsarbeit von Jack Katz besprochen. 2. Ausgewählte Ansätze und Forschungsgebiete Emotionen im Alltag - Jack Katz Drei Pioniere der Soziologie der Emotionen (Gordon in Thoits 1989: 322 - 323; Denzin 1990: 87 - 89; Kemper 1990b: 12) haben ihr vorgeworfen, dass sie sich keine Zeit lässt, bei den Emotionen als solche zu verweilen. Stattdessen befasst man sich vor allem mit Gefühlsmanagement - dem Versuch, die empfundenen Gefühle in Einklang mit Gesellschaftsnormen zu bringen. Die Forschungsarbeit von Jack Katz, einem Soziologieprofessor an der California Universität in Los Angeles, stellt eine Antwort auf diese Kritik dar (Katz 1999). Seine äußerst spannende Erforschung von Emotionen unterscheidet sich von den üblichen soziologischen Unternehmungen dieser Art, da es sich bei ihr um eine äußerst innovative, theoretisch geleitete Primärforschung handelt. Katz mischt sich also nicht in Debatten zwischen verschiedenen Psychologen oder Philosophen ein, um dann seine Position z.B. zum Zusammenhang von Kognition und Emotion zu formulieren. Ihn interessiert weder die Verbindung zwischen Emotionen, Gesichtsmuskelbewegungen und Nerven noch der Zusammenhang zwischen unserem Gesichtsausdruck und Emotionen als Beweis für die, allerdings etwas beschränkte, Universalität der <?page no="119"?> 120 menschlichen Emotionskultur. Stattdessen führt er eine Reihe von Interviews durch oder macht audiovisuelle Aufzeichnungen, um die Emotionen facettenreich, interaktiv und situationsbedingt zu beleuchten. Um den Reichtum emotionaler Expression in seiner ganzen Breite zu untersuchen, verlässt sich Katz auf verschiedene qualitative Methoden und Untersuchungsinstrumente. Interviews und ethnographische Beobachtungen ermöglichen ihm die Analyse der Emotionen von 150 wütenden Autofahrern in Los Angeles - da man von dieser Wut gut und leicht nachvollziehbar erzählen kann. Audiovisuelle Aufnahmen und/ oder ethnographische bzw. teilnehmende Beobachtungen helfen schwer fassbare Emotionen zu untersuchen. Katz hat sowohl das Weinen eines Kindes im Kindergarten und eines von der Polizei verhörten Mordverdächtigten als auch das Lachen französischer und amerikanischer Betrachter der Zerrspiegel in einem Pariser Park gefilmt und konnte sein Material so Aufnahme für Aufnahme studieren. Hier wären die Berichte der Teilnehmer über sich selbst wenig wert, da ihnen unbewusst ist, was hinter ihrem Lachen oder Weinen steckt. Bloße Audioaufnahmen hätten nichts bei stillen, zurückgehaltenen Tränen oder bei tief empfundener, paralysierender, aber gesichterrötender Scham erreicht. Als empirische Basis diente Katz noch dazu eine Fülle von über die Jahre hinweg akkumuliertem, anekdotischem Video-, Film-, Foto- und Pressematerial samt seiner zahlreichen Feldnotizen. Katz’ Annahme ist, dass durch die Sammlung empirischer Erfahrungen, die mit dem Alltagsspezifischen durchtränkt sind, sich das Mysteriöse an Emotionen - dass wir sie konstruieren, kommunizieren und körperlich spüren, aber auch dass sie uns überwältigen, unsere Identität ausmachen, uns preisgeben, uns paralysieren usw. - in ein zu untersuchendes soziologisches Problem verwandeln lässt (Katz 1999: 2,4). Sein Fokus ist nicht auf einzelne Gefühle oder emotionalen Zustände gerichtet, sondern auf Interaktionssituationen, in denen die interagierenden Menschen Emotionen erkennen. Katz kritisiert die dramaturgische Soziologie Erving Goff- <?page no="120"?> 121 mans für seine Beschränkung auf die Perspektive des Akteurs - auf seine Strategien und seine Selbstdarstellungen -, trotz der Annahme, dass das Soziale stets interaktiv ist (Katz 1999: 312 - 315). Sein eigener Ansatz ist sowohl dem Symbolischen Interaktionismus George Herbert Meads als auch den Philosophen, wie Maurice Merleau-Ponty, Paul Ricoer und Michael Polanyi, stark verpflichtet, die, genauso wie Freud, sich für das Unsichtbare interessieren. Wie diese Denker nimmt auch Katz an, dass nicht das Individuum, sondern das Unreflektierte und das Ausgeblendete als die Voraussetzung der Interaktionen im analytischen Zentrum stehen muss. Mit diesen Denkern, die sich für den situationsüberschreitenden Sinn jeder Situation interessieren und eine situationsüberschreitende, persönliche Identität postulieren, kann Katz auch eine kritische Begrenzung der Ethnomethodologie auf einzelne interaktive Kommunikationsepisoden vermeiden. Der entscheidende Punkt ist, dass Emotionen sowohl situationsbedingte als auch situationsüberschreitende Bezugspunkte haben - sie stellen eine besondere Art doppelter Narration dar und machen dem Selbst und den anderen die Identität des Erzählers deutlich (Katz 1999: 324). Letztlich möchte Katz den Körper weder - wie die Soziologie - nur als Symbol, Diskursthema oder Werbungsobjekt noch - wie die Psychologie - als Sitz der Bedürfnisse und Triebe betrachten (Katz 1999: 334, 340 - 341). Stattdessen untersucht er, wie Emotionen vom Körper erlebt werden - wie der andere unser Erleben penetriert, wie sich seine Gesten, Blicke, Scherze, Angriffe oder die ganze Situation physisch anfühlen, was die Emotionen mit dem Körper machen und wie auf den Körper in emotionsgeladenen Situationen als Ressource zurückgegriffen wird. Katz interessieren also außer der emotionalen Expression selbst vor allem: a) der situationsbezogene und oft unbewusste, situationsüberschreitende Sinn von spezifischen Emotionen, b) die Emotionen als gegenseitig abhängige Interaktionskomponenten und die menschliche Kunst, Emotionen pre-reflexiv, interaktiv, sachgerecht, zielgerecht und sinnschaffend als Kommunikations- und Selbstdarstellungsmittel einzusetzen, und c) der <?page no="121"?> 122 körperliche Aspekt des Gefühlsspürens und das Ein- und Ausblenden des menschlichen Körpers als die Voraussetzung für die unterschiedlichen Typen der sozialen Interaktion (Katz 1999: 5 - 6, 315). Hier einige wenige Illustrationen, die allerdings nicht beanspruchen, den unzähligen Beispielen und nuancierten Interpretationen Katz’ gerecht zu werden: Der Autofahrer wird im Straßenverkehr geschnitten. Er wird plötzlich aus seiner unreflektierten, lockeren Tätigkeit des Fahrens herausgerissen. Die bis zu diesem Moment im Hintergrund stehende Landschaft rückt deutlich ins Zentrum. Nicht nur das Auto, sondern auch das Selbst des Fahrers wird mit seiner Zukunftsorientierung am Vorwärtskommen gehindert. Sein Bewusstsein muss abrupt von seinem Reiseziel und seinen Reiseplänen zurück zur konkreten Situation. Er wird schlagartig von der Zukunft in die Gegenwart, ins »Jetzt« und »Hier« zurückgeholt. Mit seinen Füßen und Händen muss der Fahrer kräftig die Pedale und das Steuer betätigen, sein Auto blitzschnell zum Stehen bringen. Völlig unerwartet wird auch sein ganzer, jetzt erschütterter, bis vor kurzem vergessener Körper, in die Gegenwart und zum Ort des Geschehens hinein katapultiert. Er muss seine Aufmerksamkeit auf den anderen Fahrer und seine Hände und Füße verteilen. Das Geschehen macht ihn sich seiner selbst bewusst. Das macht wütend. Die Wut des Autofahrers lässt sich zugleich als die Anerkennung von und als Protest gegen die gegenseitige Abhängigkeit von interagierenden Individuen verstehen (Katz 1999: 323). Außerdem »ist« der Autofahrer sein Auto mit dem dazu gehörenden Raum vor dem Auto. Sein Auto ist zugleich sein Schutzmantel und markiert seinen Status. Abrupt zum Anhalten gebracht, wird der Fahrer wütend, dass der andere diesen Schutzmantel und Status nicht beachtet. Er fühlt sich angegriffen und klein gemacht. Er flucht. Er gestikuliert. Der andere (und nicht die interaktive Situation der gegenseitigen Abhängigkeit) ist der klare Täter. Das wird der ganzen Welt aufgeregt erzählt, obwohl Zuhörer fehlen. Ihn bewegt nur noch ein Verlangen: Rache! Das Schicksal ist ihm gnädig gesinnt. Er bekommt bald eine Chance, den anderen zu schneiden. Oder ihm den Fin- <?page no="122"?> 123 ger zu zeigen. Stell dir das vor! Jetzt ist der andere frustriert und wütend. Gewonnen! Eine moralische Lektion wurde erteilt. Gerechtigkeit erreicht. Sozialer Status bestätigt. Balance wieder hergestellt. Der Fahrer kann sich langsam wieder entspannen, in den entkörperten Zustand der unreflektierten, lockeren Beschäftigung mit dem Fahren versinken. Katz’ Fallstudien fokussieren auf alltägliche Lebensmomente, in denen die menschlichen Interaktionen problematisch, emotionalisiert und deshalb sichtbar werden (Katz 1999: 317, 18 - 73). Emotionen enthüllen das Verborgene: sie machen das Unsichtbare sichtbar (Katz 1999: 322 - 323). Mit Gesichtsröte, Tränen, Schweißtropfen, Wutausbrüchen, Weinen, Lachen, Seufzen usw. tauchen sie gegen unseren Willen auf, durchbrechen die Grenzen unseres Körpers und vermitteln Informationen über unsere inneren Zustände. Im Extremfall bringen sie die Interaktion zum Stoppen. Emotionsgeladene Momente stellen das Gegenteil der Normalität, die routinemäßig Unsichtbarkeit herstellt, dar. Sie werfen uns auf unseren Körper zurück (Katz 1999: 344). Wie das Weinen des Kindergartenkindes, das die Aufmerksamkeit seiner Betreuerin will, zeigt, gilt auch das Umgekehrte. Schon ein kleines Kind ist in der Lage, die Symptome einer Emotion, wie das Weinen, kunstvoll, rhythmisch und mit Akzentuierungen einzusetzen, um bestimmte Interaktionseffekte zu erreichen. Das Kind in Katz’ Aufnahme, das, vermutlich, situationsüberschreitend seine Mutter vermisst, aber in der gegebenen Situation vor allem die ungeteilte Aufmerksamkeit der Kindergartenbetreuerin haben möchte und an einer von ihr gewünschten Übung mit Bauklötzen wenig Interesse hat, bricht in Tränen aus und verwendet seinen Körper zugleich als Funkgerät, Protestinstrument und Schutzmantel (Katz 1999: 231 - 273, 322). Mit jedem sonst unsichtbarem und unhörbarem Atem kommt ein Weinlaut mehr heraus. Nach mehreren Interaktionsepisoden mit der Lehrerin, deren Handlungen, Worte und Gesten durch das störende Weinen rhythmisch begleitet und situationsbedingt akzentuiert werden, so dass Katz von einer regelrechten Fuge des Weinens spricht, kommt das erlösende Husten. Und dann die <?page no="123"?> 124 ersten Worte. Das Kind nimmt an der Unterhaltung teil. Es hat sich zurück zum »der-Reihe-nach« sprach- und interaktionsfähigen Wesen verwandelt. Das Husten des Kindes markiert den Übergang zur normalen Interaktion, deren Voraussetzung das Ausblenden des Körpers und seiner störenden Funktionen ist. Damit ist die Bandbreite unseres kunstvollen Umgangs mit Emotionen noch nicht erschöpft. Wir sind oft in der Lage, unsere Emotionen und ihre Symptome durch angemessene Inszenierung zu verleugnen, deren Inhalt zu transformieren. Ein kleiner Junge, der gerade den Ball verpasst hat, seine Inkompetenz dadurch demonstriert und vom Scham überwältigt wird, steht kurz davor, in Tränen auszubrechen (Katz 1999: 163 - 164, 193 - 194, 328 - 329). Blitzschnell schreit er, dass das Urteil des Schiedsrichters ungerecht war. Der Schiedsrichter wird zum Täter, er zum Opfer. Jetzt stellen seine Gesichtsröte und Tränen keinen Ausdruck der Scham, sondern moralisch gerechtfertigte Wut dar! Katz argumentiert weiter, dass die Soziologie und die Psychologie die Emotionen und ihre Symptome zu eindeutig und eintönig betrachten. Die Grundannahme ist, dass Scham eine schwere Kindheit reflektiert und/ oder immer ein Lebenshindernis verkörpert. Die Tränen drücken ausschließlich Trauer aus. Aber die Emotionen sind viel ambivalenter und die Emotionskultur ist dualistisch: Eine Mutter schaut ihr Kind beim Spaziergang an und vergießt eine Träne des Glücks. Sie versteckt sie, da ihr Kind zu klein ist, um sie zu verstehen (Katz 1999: 200). Ein Tourist wird sprachlos durch die Bewunderung des Mondaufgangs in Kenia. Der Anblick hat ihn tief gerührt. Er dreht den Kopf ein wenig, damit sein Freund seine Tränen nicht bemerkt. Auch seine Glückstränen offenbaren Emotionen, die Sprache nicht zu artikulieren vermag. Das Kind, der Mond sind das Sakrale. Diesen Zustand können keine Worte, dafür aber Tränen ausdrücken. Das Selbst erlebt in Demut und Bescheidenheit ein Wunder. Ein Vater, der seinen Sohn bei einem Autounfall verloren hat, weint bittere Tränen der Trauer, des Verlustes, des Leidens. Ein Kleinkind, das erst die Augen seiner Mutter sucht, bevor es über seinen Fall im Sandkasten in Tränen ausbricht, drückt auch seine Traurigkeit aus. Die <?page no="124"?> 125 Glücksträne der Mutter tauchte auf, wo die Sprache als Kulturelement nicht weiterhilft. Die Trauerträne des Vaters und die Träne des Sandkastenkindes drücken das Vertrauen aus, dass das Schreckliche erkannt und eingeschränkt wird, wenn sie ihren Gefühlen eine konventionelle, kulturelle Form geben werden (Katz 1999: 331). Das parallele Vorhandensein von Glücks- und Trauertränen unterstreicht die dualistische Form der Kultur. Tränen werden üblicherweise mit Trauer, Trauma, mit schrecklichem, beklemmendem Gefühl und lauten Klagen assoziiert. Sie begleiten aber auch stillschweigend erlebte Glücksgefühle. Katz verbindet seine Befunde mit der Makroebene nur in einem Punkt. Er meint, dass die Situation des beleidigten, wütenden Autofahrers, die sehr an die Erfahrung des Supermarktkunden erinnert, typisch für die demokratische, kapitalistische Gesellschaft ist (Katz 1999: 324 - 327). Diese Gesellschaften haben alltägliche Begegnungen zwischen völlig Fremden in der Öffentlichkeit geschaffen, in denen persönlicher Status auf die eigene Position in Zeit und Raum reduziert wird. Auf der Autobahn und im Supermarkt herrscht »Kulturkommunismus« - alle Unterschiede in Einkommen, Status, Prestige werden weggewischt, Vermögen an sich zählt nicht mehr. Das schnellere Auto oder die geschickte Manipulation des Einkaufswagens bedeuten Macht. An diesen Orten beobachten wir mehr oder weniger unbewusst, ob wir schnell oder langsam vorankommen, das Ziel mühelos oder nur problematisch erreichen. Diese Alltagssituationen sind wie ein Echo unseres modernen Lebens, in dem es um Erfolg, um die soziale Aufstiegsmobilität geht. Respektlose Behandlung auf der Autobahn oder im Supermarkt reduziert einen jeden zu einem Niemand, stellt einen bloß. Sie beraubt einen der eigenen Individualität und des eigenen Status. Man steht nackt, hilflos da, wird sich seines Selbst bewusst. Diese Nacktheit ist der Grund, warum die Emotionen so ungeschliffen, so leidenschaftlich werden. Wie die Begegnungen interpretiert und gehandhabt werden, hängt von situationsüberschreitenden Bedingungen, wie der eigenen Biographie, dem eigenen Status oder von Zukunftsplänen ab. Sicher ist, dass sie emotional, narrativ und moralisch kon- <?page no="125"?> 126 frontiert werden. Die Implikationen sowohl für das »Jetzt« und »Hier« als auch für unsere Zukunft werden sofort gezogen. Vielleicht schaffen wir es sogar, den Eingriff abwertend als eine Lebensgewohnheit eines Primitiven abzuschütteln. Der springende Punkt ist, dass unsere Gesellschaften routinemäßig auf der Mikroebene extreme Emotionen produzieren. Die Mikroebene ist prinzipiell explosionsartig und kommentarbedürftig, auch wenn der Kommentar ein Achselzucken bleibt. Katz’ Ausführungen sprechen implizit Simmels Reflexionen zur Metropole an. Simmel meinte, dass in den Großstädten der Einzelne von ständig wechselnden Stimuli bedroht wird, denen sein Nervensystem nicht gerecht werden kann. Er sprach von einer neurasthenischen Stadtpersönlichkeit, die eine Antwort auf die ständige Konfrontation mit immer neuen Menschen und Dingen ist. In der Metropole wird nicht nur der besondere Wert von Waren durch ihre bloße Menge und ihren gegenseitigen Bezug nivelliert, es kommt auch zwanghaft zur Entwertung der Person (Frisby 1984: 37,39). Die Metropole übt besondere Zwänge aus, sie verlangt Tempo und setzt einen jeden unter einen unerhört starken Selbstdarstellungsdruck: »Die großstädtischen Begegnungen erfordern, daß man so schnell wie möglich auf den Punkt kommt und in der möglichst kurzen Zeit einen möglichst wirkungsvollen Eindruck von seiner Person vermittelt.« (Frisby 1984: 45) Die vorherrschende soziale Reserviertheit und die psychologische Distanzierung dienen als Mittel zur Wahrung der sozialen Distanz und der Selbsterhaltung (Frisby 1984: 37,42 - 43): »Die Ursache dieser Reserve ist nicht nur eine gewisse Gleichgültigkeit - wie bei der Haltung des Blasierten - sondern auch ›eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abstoßung, die in dem Augenblick einer irgendwie veranlaßten Berührung sogleich in Haß und Kampf ausschlagen würde‹.« (Simmel in Frisby 1984: 39) <?page no="126"?> 127 Die blasé-Einstellung stellt also einen gewünschten Zustand dar, einen Zustand des Waffenstillstands unter einer Masse Fremder, die ganz zufällig zusammengewürfelt wurden. Statt Wut oder Feindlichkeit wird den anderen Fremden Gleichgültigkeit entgegengebracht. Katz’ Befunde illustrieren anschaulich, dass Simmels Stadtbewohner - so wie er sagte - nur so lange ruhig und blasé bleiben können, wie sie die Rolle des Zuschauers spielen. Sobald sie aber ein Ziel erreichen möchten - ein Fahrziel oder Einkäufe oder eine spezifische Selbstdarstellung -, sind sie den anderen, ihrer Höflichkeit und ihrem guten Willen ausgeliefert, und von der gegenseitigen Koordination mit ihnen abhängig. Gegenseitige Abhängigkeit und Koordinationsbedarf werden immer wieder in der Metropole der Gegenwart sabotiert. Die Sabotage führt zur jenen Erzürnungen im Alltag, die wir alle so gut kennen. Der Konstruktivistische Ansatz - Hochschild, Shott und Averill Wie am Ende des ersten Teiles dieses Buches erwähnt, baut dieser Ansatz sehr stark auf dem Symbolischen Interaktionismus auf. In Hochschilds Formulierung postuliert dieser Ansatz ein Selbst, das fähig ist, Gefühle zu erleben, zu reflektieren und zu managen. Emotion und Reflexion interagieren, sind in einer interaktiven Situation eingebettet und von der Kultur, die bestimmte Deutungsmuster, ein Gefühlsvokabular und Normen anbietet, abhängig (s. auch Shott 1979 und Averill 1980: 310, 314). Wie auch Shott (1979: 1320) und Averill (1980: 315,321) betonen, werden Emotionen im Laufe von Sozialisationsprozessen erlernt. Shott spricht sogar von einer besonderen, affektiven Sozialisation. Da aber die physischen Symptome von verschiedenen Emotionen sehr ähnlich und manchmal schwer zu unterscheiden sind, und da Individuen aus der symbolisch-interaktionistischen Perspektive Autonomie und Kreativität zugeschrieben werden, folgt, dass es letztlich die interagierenden Individuen sind, wel- <?page no="127"?> 128 che ihre Emotionen im Laufe ihrer sozialen Interaktionen konstruieren. Sie definieren, ob das, was sie empfinden, Angst oder Trauer, diffuse Aufregung oder Vorfreude auf ein konkretes Ereignis ist. Soziale Strukturen und Normen stellen bloß die Rahmen dieser ständigen Konstruktionen dar. Hochschild (1979) und Shott (1979) übernehmen Goffmans Idee, dass sich die Individuen in ihren Interaktionen normkonform zueinander verhalten wollen und als Eindrucksmanager zu verstehen sind. Sie lehnen aber seinen Behaviorismus ab - seine Abneigung, die erlebten Gefühle und ihre aktive Bearbeitung zwecks Konformität zu erforschen. Shott (1979) erinnert uns daran, dass aus symbolisch-interaktionistischer Perspektive die Individuen die Fähigkeit besitzen, sich als Objekte zu betrachten. Ihre Selbstkonzeptionen und Selbstreflexionen beruhen auf ihren Interaktionen mit anderen. Soziale Kontrolle lässt sich auf Selbstkontrolle reduzieren, da die Individuen auf kritische Bilder reagieren, die sie über sich selbst entwickeln oder die ihre Interaktionspartner von ihnen entwerfen. Shott argumentiert, dass man das Phänomen der so verstandenen sozialen Kontrolle nicht ausreichend ohne Hinweise auf Emotionen verstehen kann. Die wichtigste Voraussetzung der sozialen Kontrolle ist die Selbstkontrolle, die ohne unsere Fähigkeit, sich in die Emotionen von anderen einzufühlen, unmöglich wäre (Shott 1979: 1323 - 1325). Shott spricht von role-taking- Emotionen und unterscheidet dabei die selbstreflexiven von den einfühlenden [empathic] Emotionen. Die selbstreflexiven Emotionen, wie Scham, Schuld, Stolz, Eitelkeit, orientieren sich auf das eigene Selbst. Die einfühlenden Emotionen entstehen, wenn man sich in die Rolle des anderen hineinversetzt und dessen Gefühle nachempfindet. In jeder Interaktionssituation entstehen beide Typen von Emotionen. Jeder Interaktionspartner spürt und bearbeitet zugleich sowohl die selbstreflexiven als auch die einfühlenden Emotionen. An dieser Stelle argumentiert Shott, dass beide Emotionstypen moralische Handlungen motivieren und soziale Kontrolle erleichtern. Sowohl die selbstreflexiven als <?page no="128"?> 129 auch die einfühlenden Emotionen signalisieren, dass die Moral, das Selbstbild oder das reflektierte Selbst des Individuums reparaturbedürftig sind und Selbstkorrekturen bewirken. Unter den selbstreflexiven Emotionen spielen Schuldgefühle, Scham und Peinlichkeitsgefühl eine kritische Rolle - sie bringen die Individuen dazu, sich normkonform zu verhalten. Wie die Laborexperimente zeigen, sind Schuld- und Peinlichkeitsgefühl diejenigen unter den einfühlenden Emotionen, die das altruistische Verhalten hervorrufen. Obwohl sie mit teilweise kontrastierendem, theoretischem Rahmen arbeiten, sind Averills und Hochschilds Erkenntnisinteressen sehr ähnlich. Averills (1980: 315 - 324) besonderer Fokus liegt auf den emotionalen Rollen - das Spielen von Wut, Liebe oder Hass. Er behauptet, dass die Individuen lernen, den Sinn von emotionalen Rollen zu verstehen und das eigene Verhalten aus dieser Rollenperspektive auszuwerten. Die Auswertungen sind moralisch und ästhetisch, sie setzen das Verständnis von Intentionalität voraus. Averill beschäftigt die Tatsache, dass die Individuen unterschiedlich stark motiviert sind, diese emotionale Rollen zu spielen. Er betont, dass die Individuen in die emotionalen Rollen mit sehr unterschiedlicher emotionaler Intensität einsteigen: a) rein oberflächlich, ohne großes Engagement (bei Gratulationen oder Beileid), b) mild, aber bereits mit physischen Reaktionen und c) sehr stark, sogar bis zu dem Grad, dass die Selbstkontrolle verloren geht. Er behauptet, dass ihre individuellen, breitgefächerten Anliegen, Sozialisation und Erfahrungen, Persönlichkeit (verstanden als die Breite der individuellen, emotionalen Fähigkeit) und die Aspekte der Situation dabei entscheidend sind. Hochschilds Interesse am Gefühlsmanagement führt sie zu der Annahme, dass die Individuen sich nicht nur normwidrig fühlen, sondern auch in der Lage sind auszuwerten, wann ihre Gefühle nonkonform und managementbedürftig sind (Hochschild 1979: 556 - 557). Das Gefühlsmanagement geschieht nach bestimmten Regeln - so genannten Gefühlsregeln. Die Gefühlsregeln sind Normen, die sich auf Gefühle beziehen. Sie spezifi- <?page no="129"?> 130 zieren, welche Gefühle wann, wie, mit welcher Intensität und mit welcher Dauer zum Ausdruck gebracht werden sollten. Freud folgend, schreibt Hochschild Emotionen Signalfunktionen zu. Sie informieren uns, ob Gefahr droht oder etwas Erfreuliches passiert. Im Unterschied zu Freud aber möchte sie nur die bewussten und nicht die unterdrückten Gefühle erforschen. Sie argumentiert, dass wir mit der Bewusstwerdung der Nonkonformität unserer Gefühle Gefühlsarbeit leisten - wir versuchen die Intensität oder die Qualität unserer Gefühle zu ändern (Hochschild 1979: 561). Gefühlsarbeit unterscheidet sich von dem bloßen Versuch, Gefühle zu kontrollieren oder zu unterdrücken, da es sich dabei auch um die Herstellung und Neugestaltung der Gefühle handelt. Für Hochschild ist Arbeit an einem Gefühl dasselbe wie Gefühlsmanagement oder deep acting - ein Begriff, den sie dem Theatertheoretiker Stanislavsky entlehnt (Hochschild 1979: 561, 558). Hier geht es nicht mehr nur um Eindrucksmanagement mit Hilfe von Körpersprache, sondern um eine echte Modifizierung dessen, was ursprünglich empfunden wurde. Um Gefühlsarbeit zu leisten, werden drei verschiedene Techniken eingesetzt - die kognitive, die physische und die expressive (Hochschild 1979: 562). Bei der kognitiven Technik versucht man, die Interpretation der Situation, die Frames, zu ändern. Man arbeitet mit Ideen oder Bildern. Man definiert vielleicht die Rollen, die gespielt wurden, um oder verleiht konkreten Handlungen einen neuen Sinn. Die zweite Technik besteht darin, die physischen Symptome, die ein Gefühl begleiten, zu kontrollieren oder ihnen entgegenzuwirken. Man versucht nicht mehr zu zittern oder zu lachen. Schließlich kann man versuchen, jene Gesten auszuführen, die ein Gefühl normalerweise begleiten, in der Hoffnung, dass sich dieses Gefühl dann auch einstellt. Die letzte Frage, die aufgeworfen werden soll, ist die nach Emotionen und ihrem sozial-politischen Kontext. In jeder interaktiven Situation, so Hochschild weiter auf Goffman aufbauend, werten die Individuen ihre eigenen Gefühle mit Hilfe von Interpretationsrahmen oder Frames, aus (Hochschild 1979: 566). <?page no="130"?> 131 Diese verleihen jeder Situation einen Sinn und sind mit Gefühlsregeln eng verbunden. Wenn ich eine Entlassung als eine kapitalistische Ungerechtigkeit interpretiere, sagt die mit diesem Frame verbundene Gefühlsregel, dass es legitim ist, sogar von mir erwartet wird, Zorn und Wut über die Entlassung zu empfinden. Wenn ich aber die Entlassung als persönliches Versagen verstehe, folgen Scham, Frustration und Selbsthass als legitime Gefühle. Aus der konstruktivistischen Perspektive auf Emotionen versuchen Eliten und soziale Gruppen in jeder Gesellschaft, ihre Interpretationsregeln und Gefühlsregeln anderen aufzuerlegen und sie zu legitimieren. Konflikt zwischen ihnen zielt dann nicht nur darauf ab, wer in Anwesenheit von wem welche Emotionen ausdrücken sollte, wobei die positiven Gefühle immer nach oben fließen sollten, sondern auch darauf, welche Interpretationsrahmen und Gefühlsregeln Geltung haben sollten (Hochschild 1979). Soziale Bewegungen können dann als die Schöpfer von neuen Interpretationsrahmen und Gefühlsregeln verstanden werden. Die vorherrschende Ideologie wird aber auch durch die bloße Unfähigkeit, die vorgeschriebenen Gefühlsregeln zu akzeptieren, herausgefordert (Hochschild 1979: 567). Wenn man sich aus dieser Unfähigkeit oder aus ideologischer Überzeugung weigert, Gefühlsarbeit zu leisten oder sie nur zögernd und unvollständig ausführt, lehnt man die offizielle Ideologie ab und schwächt dadurch die etablierten Strukturen. In ihrem Buch Das gekaufte Herz (1990) zeigt Hochschild, dass die kapitalistischen Dienstleistungsunternehmen, welche Profite unter einem hohen Konkurrenzdruck erwirtschaften müssen, dazu neigen, ihren Angestellten sehr spezifische Interpretationsrahmen und Gefühlsregeln aufzuzwingen. Hochschilds untersuchte Berufe sind die der Flugbegleiter und Geldeintreiber. Die Flugbegleiterinnen stehen unter dem Druck, den Fluggästen ausschließlich positive Emotionen wie Warmherzigkeit oder Fürsorge entgegen zu bringen. Von den Geldeintreibern wird verlangt, dass sie aggressiv und beleidigend auftreten. Im ersten Fall soll der Status der Kundschaft aufgewertet, in dem zweiten abgewertet werden. Dies setzt Gefühlsmanagement als <?page no="131"?> 132 Teil der eigenen Arbeitsleistung voraus. Die Angestellten müssen zum deep acting greifen, damit sie die erwünschte Gefühlsarbeit leisten können und dadurch ihren Unternehmen Profite sichern. Die eigenen, »echten« Gefühle müssen unterdrückt oder modifiziert werden. Flugbegleiterinnen wird beigebracht, wie sie Gefühlsmanagement am besten erreichen können. Sie sollen sich vorstellen, sie seien die Gastgeberinnen und die Passagiere die Gäste. Der unmögliche Passagier, der sich immer wieder beschwert oder sie belästigt, soll am besten als Kind angesehen und behandelt werden. Hochschild zufolge haben Angestellte eines Unternehmens, die über diese unangenehmen Seiten ihrer Arbeit miteinander kommunizieren oder sich in Gewerkschaften organisieren, eine viel bessere Chance, sich dem Unternehmen, seinem Interpretationsrahmen und Gefühlsregeln zu widersetzen. In The Second Shift (1989), »Ideology and Emotion Management« (1990) und »The Economy of Gratitude« (1993) demonstriert Hochschild, dass nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Gesellschaftsinstitutionen, wie die traditionale Ehe, den Individuen bestimmte Ideologien und Gefühlsregeln sowie Handlungsstrategien auferlegen, dass jedoch die neuen sozialen Bewegungen, wie die Frauenbewegung, eine Alternative anbieten. Sie zeigt auch, dass die Individuen aufgrund von biographischen Erfahrungen ihre Wahl treffen und nach bestimmten Interpretationsrahmen und Gefühlsregeln leben möchten, aber häufig nicht können. Sie möchten zwar gern nach ihrem Idealbild des Selbst leben, schaffen es aber aufgrund ihrer Gefühle nicht. Ihre neue Einsicht ist, dass die Gefühlsregeln nicht in der Lage sind, Emotionen zu bestimmen und dass für viele Individuen die Gefühlsregeln (und Ideologien, die hinter ihnen stecken) selbst mit heftigen Emotionen verknüpft sind (Hochschild 1990: 127, 129). Seit ungefähr 20 Jahren unterstützt der wirtschaftliche Wandel Frauenemanzipation, indem dieser Wandel für die meisten Haushalte eine Beschränkung der Frau auf die Hausarbeit finanziell unmöglich macht und so die traditionale Eheform unterminiert. Im Unterschied zur Nachkriegszeit erlaubt diese Wirt- <?page no="132"?> 133 schaft nicht, dass der Mann die Rolle des Haupternährers erfolgreich spielen und für den erwarteten Lebensstandard allein sorgen kann. Jetzt müssen beide Partner arbeiten und sich irgendwie damit abfinden, dass sie den vorgeschriebenen Rollen nicht gerecht werden. Das culture lag - die Tatsache, dass dieses traditionale Ehebild noch vorherrscht, obwohl es bereits durch die Wirtschaft und die Frauenbewegung in Frage gestellt wird - stellt den zweiten Grund dar, warum die beiden Partner eher unähnliche Vorstellungen von Geschlechterrollen - traditional, transitional und egalitär - mit in die Partnerschaft bringen. Ihre gegenseitigen Erwartungen hinsichtlich Berufsuind Hausarbeit sowie Kindererziehung sind sehr unterschiedlich. Deshalb werden ideologische Konflikte zu Hause erlebt. Auch bei bestem Willen vermögen es die unterschiedlich orientierten Partner nicht, dem anderen das Gewünschte zu geben. Der traditionale Mann »schenkt« seiner Frau harte Berufs- und Reparaturarbeit zu Hause. Er erwartet von ihr dagegen hausgemachte Leckereien und zufriedene, frisch gewaschene Kinder am Abendbrotstisch. Die moderne Frau hätte aber viel lieber Dankbarkeit für ihren Berufsbeitrag zum gemeinsamen Einkommen samt mehr Hilfe bei der Hausarbeit und Kindererziehung. Deshalb kann man von einander verfehlenden Geschenken [mis-giving] reden, die, statt zu gegenseitiger Dankbarkeit und verstärkter Liebe zu Frustration oder Wut führen. Die Ökonomie der Dankbarkeit versagt. Die egalitär orientierte, enttäuschte Frau muss ihre Wut mobilisieren und ihre Liebe ausklammern, damit sie einen Konflikt austragen kann (Hochschild 1990: 129 - 135). Oder aber sie muss ihre Depression und ihren Groll gegen ihren widerspenstigen Ehemann hinunterschlucken. Die dritte Möglichkeit ist, die Hausarbeit bzw. die Kinder zu vernachlässigen und zu lernen, mit der eigenen Scham und den Schuldgefühlen zurecht zu kommen. Das Resultat: Wenn Konflikte nicht helfen, folgen Selbsttäuschungen bzw. gegenseitige Distanzierung als Voraussetzungen des weiteren Zusammenlebens oder die Scheidung. Wie man sehen kann, konzentriert sich der konstruktivistische Ansatz Hochschilds auf Individuen und ihre Interaktionen - ist <?page no="133"?> 134 also zuerst auf der Mikroebene angesiedelt (vgl. Gerhards 1986: 764 - 767; Barbalet 1999: 23). Hochschild verbindet die Mikroebene mit der Makroebene über die Interpretationsrahmen und Gefühlsregeln, die von mächtigen Eliten, Organisationen, sozialen Institutionen oder sozialen Bewegungen formuliert und von Individuen bedingt verinnerlicht werden. Über Ideologien, die als Interpretationsrahmen und Gefühlsregeln zu verstehen sind, werden mächtige Interessen, wie z.B. Profitinteressen oder Geschlechterideologien, zum Ausdruck gebracht und durchgesetzt. Es lässt sich sagen, dass diese Interessen und Ideologien von Makrostrukturen, wie dem Kapitalismus, dem kapitalistischen Unternehmerethos oder der traditionellen Kultur erzeugt werden. Wenn die Individuen bestimmten Interpretationsrahmen und Gefühlsregel folgen, tragen sie dazu bei, diese mächtigen Interessen und Makrostrukturen zu reproduzieren. Wenn sie ihnen nicht folgen oder sie durch neue ersetzen, reproduzieren sie die Makrostrukturen nicht und fordern deshalb die Eliten, Organisationen oder Institutionen heraus. Der Positivistische Ansatz Theodore Kempers In The American Sociologist und in dem American Journal of Sociology setzt sich Kemper zweimal mit dem konstruktivistischen Ansatz auseinander (s. auch Kemper 1981b; Gerhards 1986). Im ersten Artikel äußert er sich vorwiegend ablehnend, während er im zweiten schon eine Synthese zwischen dem konstruktivistischen und seinem positivistischen Ansatz vorschlägt. Hier wird der große Unterschied zwischen den beiden Ansätzen beleuchtet und Kempers Synthese abschließend kurz vorgestellt. Mehr zu Kempers Ansatz kann man im Kapitel zu Emotionen und sozialen Strukturen lesen. Im Grunde genommen lehnt Kemper die Konstruktivisten in drei entscheidenden Punkten ab. Er meint, die Laborexperimente würden zeigen, dass es nur bei sehr schwacher emotionaler Reaktion zu Missinterpretation von Emotionen kommen kann (Kemper 1981a: 340). Außerdem weigert er sich zu glauben, dass <?page no="134"?> 135 die Kultur mit ihren gefühlsspezifischen Normen (Hochschilds Gefühlsregeln) den Inhalt von Emotionen bestimmt - d.h. sowohl die situationsgerechten Emotionen als auch das Gefühlsmanagement (Kemper 1981a: 337). Letztlich lehnt er die Idee ab, dass so gut wie alle Gefühle definiert und interpretiert werden. Kemper stimmt nur insofern überein, dass die Definition der Situation von den Akteuren einen Einfluss auf ihre Emotionen hat (Kemper 1981a: 337). Kemper schlägt vor, dass es echte Emotionen gibt, die von sozialen Strukturen und sozialen Beziehungen, genauer gesagt, von Status und Macht, bestimmt werden. Diese »echten« Emotionen tauchen in interaktiven Situationen auf, egal, ob es die an den Interaktionen beteiligten Individuen wollen oder nicht. Nicht Intentionalität, sondern soziale Strukturen bestimmen die »echten« Emotionen. Strukturelle Emotionen sind also Gefühle, die aus Status- und Machtbeziehungen zwischen Akteuren entstehen. Außerdem gibt es nach Kemper noch antizipatorische und folgernde Emotionen, die sich ebenfalls von sozialen Strukturen - ihrer antizipierten, interaktiven Wirkung und ihren tatsächlichen interaktiven Folgen - ableiten lassen. Soziale Strukturen definiert Kemper als eine hierarchische Gliederung von Akteuren auf der Macht- und Status-Achse. Macht - wie bei Weber - bedeutet die Fähigkeit, die eigenen Ziele durchzusetzen, auch gegen den Widerstand des anderen. Sie impliziert Zwang, Bedrohung, Bestrafung usw. Status spiegelt die Menge von gewollter Gefolgschaft, Respekt, Lob, emotionaler oder finanzieller Unterstützung wider, sogar Liebe, die die Akteure einander geben (Kemper 1981a: 337). Kemper gibt zu, dass wir nicht immer wissen, was wir empfinden oder was ein bestimmtes Gefühl verursacht hat. Aber er argumentiert, dass die Individuen normalerweise sehr wohl in der Lage sind, in einer interaktiven Situation zwischen Lob und Beleidigung ihnen gegenüber zu unterscheiden (Kemper 1981a: 342 - 345; Thoits 1989: 325). Der Situation entsprechend empfinden sie entweder Wut, Scham, Schuldgefühl oder Freude. Wenn man genügend Macht zugesprochen bekommt, führt das <?page no="135"?> 136 zum Sicherheitsgefühl. Wenn man zu viel Macht ausgeübt hat, erlebt man Schuldgefühle. Wenn man genügend Status erhält, empfindet man Freude. Wenn zu viel Status zuerkannt wird, schämt man sich. Wenn zu wenig Status entgegengebracht wird, führt dies zu Depressionen. Die sozialen Strukturen bestimmen auch, was wir bei einem Begräbnis, auf einem Fest oder auf einer Hochzeit empfinden. Wenn andere uns gegenüber zu viel Macht ausüben und/ oder uns zu wenig Status zuerkennen, werden wir traurig und frustriert. Macht und Status, verstanden als soziale Strukturen, bestimmen unsere »echten« Emotionen, was wir mit ihnen dann später unternehmen - ob und wie wir sie managen - ist eine andere Sache. Historisch gesehen, entwickelten sich die sozialen Strukturen vor den normativen Regeln, die bestimmen, welche Emotionen eine Situation oder Institution begleiten sollten. Wie auch Norbert Elias zeigt, sind es Unterschiede in Macht und Status, die die kulturellen Normen, das gute Benehmen und die zu erwartenden Emotionen definieren, und nicht umgekehrt (Kemper 1981a: 346 - 347). Aus Kempers Sicht ist es üblich, dass diese Normen und Definitionen den Erhalt und die Stärkung der vorherrschenden Machtstrukturen als Hauptfunktion haben. Die Normen spielen also eine Rolle, aber sie sind nicht ursächlich. Kultur und Emotionen - Gordon, Denzin, Doyle McCarthy Für die konstruktivistische Perspektive stellen Emotionen Kulturprodukte dar. Durch ihren Gegenstand und die Annahme, dass Emotionen und nicht Interessen oder sogar Normen wichtige Handlungsmotive darstellen, widerspricht sie damit am deutlichsten der Mainstream-Soziologie. Wenn man das Wissen zu Emotionen und Kultur fächerübergreifend betrachtet, lassen sich folgende Annahmen und Fragestellungen ausmachen: Alle Menschen kennen ähnliche, wenn nicht sogar identische Variationen von Gefühlen, die mit Kognition zusammenspielen und <?page no="136"?> 137 von Physiologie untermauert werden; wie Menschen empfinden, ob überhaupt und wie sie Emotionen zum Ausdruck bringen, wird von ihrem Kulturkreis geprägt (Harré 1986; s. Diskussionsübersicht dazu in Thoits 1989: 320 - 321, Vester 1991: 69 - 74, van Brakel 1994). Jede Kultur bietet eine eigene Gewichtung und Aufteilung von Emotionen in legitime und illegitime an. Darüber hinaus spezifiziert jede Kultur Gefühlsregeln, die situationsbedingt das ABC von Emotionen - das heißt das »was, wann, wo, wer, wie« - vorschreiben. Daraus ergeben sich mehrere Erkenntnisinteressen: a) Wie definieren verschiedene Kulturen Emotionen und wie unterscheiden sich Gefühle und Gefühlsregeln zwischen Kulturkreisen oder Ländern (Harré 1986; Vester 1991: 98-181; Kahle 1981; Bellebaum 1994)? b) Wie ändern sich Emotionen und ihre Bedeutung in einem Land, in einem Kulturkreis über die historische Zeit oder im Laufe des individuellen Lebens (Cancian 1987; Stearns/ Stearns 1985; Stearns 1989a, 1989b, 1994; Wood 1986)? c) Welche kulturellen und politischen Unterschiede gibt es für Emotionen, die soziale Kontrolle und Konformität untermauern (Harré und Parrott 1996; Flam 1998)? d) Unter welchen Bedingungen stehen Personen unter besonderem Druck, den vorgegebenen Gefühlsregeln zu folgen? Und wann sind sie nicht in der Lage, die erwarteten Gefühle zu empfinden oder vorzuspielen? Wie bewältigen Menschen solche Situationen? Wie managen sie ihre eigenen Gefühle zugunsten der in verschiedenen institutionellen Zusammenhängen erwarteten Emotionen (Hochschild 1979, 1983, 1989)? e) Wie beeinflussen Mythen, Kunst und Massenmedien typische emotionale Rollen und Handlungsskripte und -strategien? Wie werden mit ihrer Hilfe Identitätsansprüche ausgeformt (Sarbin 1986; Denzin 1990; Doyle McCarthy 1994)? f ) Wie wird über Emotionen im Alltag gesprochen? Wie beeinflussen die Emotionen und die Interaktionen sich gegenseitig? Mit welchen Methoden können Emotionen am besten erforscht werden (Hochschild 1983,1989,1993; Harré 1986; Wood 1986; Denzin 1990; Vester 1991; Flam 1998)? Diese Fragestellungen führen Philosophen, (Sozial-)Psychologen, Psychoanalytiker, Kulturwissenschaftler und Soziologen zusammen. <?page no="137"?> 138 Wenn man sich aber auf die Soziologie begrenzt, ändert sich die Liste der leitenden Erkenntnisinteressen um einiges: »Emotionskultur« und Emotionsgeschichte sind die vielversprechenden Gebiete der Soziologie der Emotionen, auf denen es bis heute eindeutig mehr Fragen und Ansätze als Forschungsergebnisse gibt (Thoits 1989: 322). Drei ähnliche Ansätze - Gordons, Denzins und Doyle McCarthys - werden im Folgenden skizziert, wobei Denzins Forschung ins Zentrum gerückt wird. Gordon und Denzin vereint, dass sie den Schwerpunkt auf erlebte Emotionen legen möchten. Denzins Ansatz wird ausführlich vorgestellt, nicht nur weil er interessant ist und die Bedeutung von kulturellen Institutionen viel dezidierter als Hochschild ins analytische Zentrum stellt, sondern wegen des, trotz einiger begrifflicher Unterschiede, sehr ähnlichen - marxistisch/ symbolisch-interaktionistischen - Forschungsrahmens, den Hochschild und Denzin zu verwenden scheinen. Es geht um die Erforschung von Institutionen und Normen, die dazu führen, dass die spätkapitalistischen Herrschaftsstrukturen und Herrschaftsideologien die Emotionen und die sozialen Interaktionen stark prägen, aber auch im Laufe dieser Interaktionen akzeptiert, modifiziert oder abgelehnt werden. Die Makroebene von Strukturen und Institutionen wird als entscheidend für Interaktionen auf der Mikroebene dargestellt. Die umgekehrte Dynamik, die Prägung der Makroebene durch die Mikroebene, wird jedoch auch angenommen und in die Forschung einbezogen. Nach Gordon - einem der Pioniere der Soziologie der Emotionen - gehören zur Emotionskultur nicht nur das Gefühlsvokabular und die kulturellen Vorstellungen über Emotionen, sondern auch die Gefühlsregeln, Ideologien zu Emotionen, wie »romantische Liebe« oder »Selbstkontrolle«, das Wissen über die typischen Verlaufskurven von Emotionen, die den Anfang, typische Sequenzen und Effekte von emotionalen Erfahrungen beinhalten (Gordon in Thoits 1989: 322 - 323; s. auch Denzin 1990: 86). Gesellschaften betonen bestimmte Emotionen und ihre Ideologien, haben für sie sehr nuancierte Gefühlsvokabulare. Eine wichtige Aufgabe ist, die Emotionskulturen in der eigenen <?page no="138"?> 139 Gesellschaft zu untersuchen und die Unterschiede zu anderen Gesellschaften zu verstehen. Nach Denzin muss man die emotionalen Erfahrungen als Prozesse mit ihren eigenen Verläufen ernst nehmen - man soll untersuchen, wie Personen ihre Gefühle erleben und definieren (Denzin 1990: 87 - 89; Kemper 1990b: 12). Die Frage ist, wie die Interaktionen als erlebte Erfahrungen die Emotionen strukturieren, welche Formen von Gefühl und Intersubjektivität es gibt, in welchem Verhältnis die Emotion zur Zeit steht. Außerdem soll man die gewaltigen, erleuchtenden und erschütternden Emotionen nicht ignorieren - die letzteren veranlassen kritische Änderungen in unserem Leben. Denzin unterscheidet zwischen mehreren selbst-bezogenen Emotionen, die den Körper als Referenz haben, von erlebten Emotionen [lived emotions]. Die »erlebten« Emotionen beziehen sich auf die Emotionen a) wie Verzweiflung oder Freude, die bewusst erlebt und vom Körper-Ego gespürt werden [feelings of the lived body] b) wie Trauer oder Ressentiment, die sich auf Werte orientieren, vom Bewusstseinsstrom »gefühlt« werden und von anderen nachempfunden werden können [intentional value-feelings] und c) wie Seelenfrieden oder Schuldgefühle, die sich auf das Selbst als moralische Person beziehen [moral feelings of the self ] (Denzin 1984: 118 - 128). In einem seiner Forschungsprojekte geht es um Familie, Gewalt und Emotionen. Denzin untersucht u.a. die Gefühle des Täters und des Opfers, gewaltbedingte Interaktionen, verschiedene Gewaltformen, die Vermittlung und Konsequenzen von Emotionen, die mit Gewalt zusammenhängen, die gewalttätigen, emotionalen Handlungen usw. (Denzin 1984: 167 - 200). Denzin definiert die emotionale Praxis [emotional practices] als seinen Untersuchungsgegenstand (Denzin 1990: 89). Unter dieser Praxis versteht er alle verkörperten und sozial eingebetteten Handlungen, wie Fernsehen, Kochen, Arbeiten, Trinken, Schlagen usw. Die emotionale Praxis ist der Hersteller aller - vorhergesehenen und unvorgesehenen - »erlebten« Emotionen bzw. emotionalen Erfahrungsströme. <?page no="139"?> 140 Die »emotionalen« Praxen sind in sozialen und kulturellen Institutionen, wie Film oder Fernsehen, kodifiziert. Die kulturellen Institutionen bieten bestimmte Sinninhalte, Handlungsmuster und Emotionalitätsmodelle an. Diese Institutionen reflektieren und objektivieren emotionale Beziehungen. Zugleich verleihen sie emotionalen intimen Beziehungen spezifischen Sinn. Sie vermitteln bestimmte Vorstellungen von Liebe, Ehe, Begierde, Sexualität, Intimität, Emotionalität, emotionaler Bindung usw. So wie Simmel glaubt Denzin, dass die emotionalen intimen Beziehungen eine Grundform des Lebens und des Zusammenlebens in der Gesellschaft darstellen. Deshalb ist die Frage, wie die kulturellen Institutionen die emotionalen Beziehungen/ Praxen herstellen, definieren und verdinglichen [reify], von größter Bedeutung. Auch Denzin verbindet Mikromit Makrostrukturen mit Hilfe von kulturellen Institutionen und ihrem Emotionsangebot. Die Makroebene steht bei ihm für die spätkapitalistische, postmoderne Gesellschaft, die durch Bürokratisierung und Komodifizierung gestaltet und durch die Massenmedien, nur indirekt und pseudoreal, vermittelt wird (Denzin in Kemper 1990: 13). Zur Makroebene gehören auch die stabilisierenden, geschlechtsspezifischen und andere Herrschaftsideologien zu Freiheit, Demokratie, Effizienz, Rationalität, ökonomischem Zuwachs. Die kulturellen Institutionen vermitteln diese geschlechtsspezifischen und anderen Herrschaftsideologien. Sie beeinflussen die emotionalen Beziehungen als Hauptaspekt »emotionaler« Praxen. Die Inhalte der kulturellen Institutionen werden von den Zuschauern selektiv, je nach ihrer biographischen Erfahrung, verinnerlicht und in der sozialen Praxis ausprobiert. Denzins Hauptthese ist, dass Filme das emotionale Selbst nach den vorherrschenden Geschlechter- und Rationalitätsideologien zu gestalten versuchen. In seinem Forschungsprojekt zu Emotionen und Intimität hat Denzin Erzählungen von Jugendlichen über die wichtigen emotionalen Momente beim Film- oder Fernsehschauen und ihre praktischen Konsequenzen analysiert. Dabei entdeckte er geschlechtsspezifische Liebes- und Intimitätsmuster, die durch die <?page no="140"?> 141 Massenmedien vermittelt werden (Denzin 1990: 92 - 97,98 - 101). Er konnte nachweisen, dass sich junge Menschen tatsächlich geschlechtsspezifische Vorbilder und Emotionsmuster aus Filmen aussuchen und sie in romantischen Annährungen testen. In seinem Forschungsprojekt zur Emotionalität und zum Alkoholismus im Film hat er Inhalte von Hollywoodfilmen als Untersuchungsgegenstand gewählt. Er konnte nachweisen, dass diese Filme Alkoholismus als Ursache von zerstörten Familien und intimen Beziehungen und auch als dramatisierende Krankheit darstellen. Der Alkoholiker wird immer in seinem Niedergang, seiner scheinbaren Heilung, dem Rückfall und seltener in seiner endgültigen Heilung gezeigt. Entweder stirbt er oder er findet zurück zur Familie und Gesellschaft oder er verlässt beide. Vor allem wird der männliche Alkoholiker als erfolgreicher Kämpfer dargestellt, die Frauen scheitern dagegen viel häufiger. Alkohol wird als Maske stilisiert, hinter der sich die schwer zu ertragenden Gefühle wie Scham, Schuld und Minderwertigkeitsgefühl verbergen. Alkohol wird mit sowohl freier, tabuisierter Sexualität als auch Euphorie oder Depression assoziiert (Denzin 1990: 100). Unter seinem Einfluss verwandelt sich die intime Beziehung oder das Familienleben in einen Alptraum aus Angst und Gewalt. Aus Denzins Sicht vermitteln diese Filme das Durkheim’sche Kollektivbewusstsein der Gesellschaft, ihre Gesellschaftsnormen (Denzin 1990: 101). Diese Gesellschaft hat wenig Toleranz für wilde, unkontrollierte Emotionen und Sexualität. Sie honoriert die Familie und ist bereit, die Individuen für diese Familie aufzuopfern. Ihr Grundtenor ist, dass nur normierte, institutionalisierte Emotionen gewünscht werden. Rationalität siegt über Irrationalität, Vernunft über Emotion. Leider kann hier nur ein Teil von Denzins sehr umfassendem Forschungsprogramm widergegeben werden (Denzin 1990: 103 - 108). Obwohl Denzin selbst am liebsten den Zusammenhang zwischen Film und »emotionaler« Praxis erforscht, argumentiert er mit Althusser und Foucault, dass man untersuchen sollte, wie die Herrschaftsideologien auf die »emotionale« Erfahrungen von Interaktionspartnern an verschiedenen Orten [sites] - zu Hause, <?page no="141"?> 142 in der Schule, in der Kirche, vor Gericht, in der Freizeit usw. - wirken (Denzin 1990: 94,97; dazu s. auch Doyle McCarthy 1994: 270 - 273). Daraus folgt, dass zu den wichtigsten Forschungsnischen die Familie, die Schule, der Arbeitsplatz oder die Orte der öffentlichen Unterhaltung, wie Kino oder Sporthalle, gehören. Dort wird eine bestimmte Emotionspolitik betrieben (Grossberg in Denzin 1990: 97). Dort wird aber auch Widerstand geleistet, werden Wahlmöglichkeiten selektiert, Gefühlsmanagement und Gefühlssteigerung (auch mit Hilfe von Drogen oder Alkohol) betrieben. Denzin empfiehlt zu analysieren, wie die kulturellen Institutionen, wie Musik, schöngeistige Literatur oder Film, sich zur Arbeit, Familie, Religion, Geld, Freiheit, Konsum usw. äußern und wie diese ideologischen Äußerungen mit »emotionalen« Erfahrungen von Individuen vor Ort interagieren. Die geschlechtsspezifischen und anderen Herrschaftsideologien leisten einen Beitrag zur Aufrechterhaltung von sozialen Ungleichheiten wie soziale Klasse oder Geschlecht, aber erst mit Hilfe der empirischen Forschung kann nachgewiesen werden, auf welche Weise dies geschieht. Es geht um die Demythologisierung von Mythen [deconstruction of discourses]. Mit demselben Forschungsprogramm kann man auch erst die Frage wirklich beantworten, ob und wie die Individuen die Kultur zu ihrer Emanzipation verwenden und zu welchem Grad die angebotenen Kulturmuster die individuelle Emotionalität definieren und mitgestalten. Hier geht es also um Ermächtigungschancen. Da Doyle McCarthys (1994) Empfehlungen für die Zukunftsforschung von Gordon und Cultural Studies inspiriert sind, unterscheiden sie sich in vielen Punkten nur wenig von Denzin, dessen Beiträge zur Soziologie der Emotionen ihr merkwürdigerweise unbekannt sind. Ihre Empfehlungen illustrieren den neuen begrifflichen Umgang mit den im Grunde genommen gleichen, alten Grundannahmen und Forschungsfragen. Die alte-neue Annahme ist, dass kulturelle Praxis und Produktion autonom sind, und nicht nur eine Funktion der sozialen Strukturen. Statt um die Herrschaftsideologien geht es jetzt um die vorherrschenden, multiplen Machtdiskurse. Diese Diskurse, so wie <?page no="142"?> 143 vorher die Ideologien, konstruieren sowohl die Individuen als auch ihre subjektive und objektive Wirklichkeit. So wie Cultural Studies den Einfluss der Diskurse auf die diversen Kulturpraktiken (Kommunikationstypen, Sprach- und Textarten, Symbole) erforschen, soll die Soziologie der Emotionen deren Einfluss auf Emotionskulturen untersuchen. Vier von Doyle McCarthys Ideen sind erwähnenswert, obwohl oft umformulierungsbedürftig. Seit der Zeit von Parsons’ Struktur-Funktionalismus und Althussers Struktur-Marxismus hat sich eine Grundannahme in der Soziologie unter dem Einfluss der englischsprachigen Cultural Studies stark geändert. Es wird jetzt vehement darauf bestanden, dass die Kultur keine homogene Einheit darstellt, sondern vielmehr als ein facettenreiches und vielschichtiges, pluralistisches Phänomen zu betrachten ist (Doyle McCarthy 1994: 272 - 273). Daraus folgt, dass nicht nur Hochkultur, sondern auch andere Kulturen - Volkskultur, Alternativkultur, Subkultur oder Popkultur - untersucht werden sollten. So wie die Kulturwissenschaftler sollen die Soziologen und Soziologinnen ihren Untersuchungsobjekten in Fernsehenstudios, wissenschaftlichen Labors, Schulen, Therapieeinrichtungen, Krankenhäusern, Einkaufszentren usw. folgen. Doyle McCarthy kennt leider die Geschichte der Soziologie nicht ausreichend, um zu wissen, dass weder das Interesse an diesen unterschiedlichen Kulturen noch die Forschungsnischen, die sie auflistet, neu sind. Sie weiß demzufolge nicht, dass das einzige Neue die Einsicht ist, dass sich weder die Teile der Kultur zu einem homogenen Ganzen zusammenfügen lassen noch dass sich die Mainstream-Kultur mit der Subkultur unter einen begrifflichen Hut bringen lässt. Die Subkulturen werden nicht mehr an der Mainstream-Kultur gemessen und als abweichend abgelehnt. Das Neue ist auch die Einsicht, dass alle diese Kulturen gleichberechtigt sind. Oft werden sie sogar von Wissenschaftlern als Orte des populären Widerstandes gegen dominante Diskurse zelebriert. Doyle McCarthy argumentiert, dass man mit pluralistischen Erkenntnissen Emotionen um manches vielfältiger - in den unterschiedlichsten Forschungsnischen - untersuchen kann. Wenn <?page no="143"?> 144 man die von der Soziologie der Emotionen bis vor kurzem erforschten Nischen betrachtet, lässt sich feststellen, dass kollektive, politische und soziale Veranstaltungen zu lange kaum Beachtung gefunden haben (s. dazu das Kapitel »Politik und Emotionen«). Die Soziologie der Emotionen soll daher untersuchen, welche Emotionen, Emotionsthemen und Machtformen sich in Talk- Shows, Sportereignissen, Rock- und Rap-Konzerten, Selbsthilfegruppen, diversen Beratungsbroschüren und -büchern, Paraden, Demonstrationen, religiösen Kongressen und Superbowls, Parteikongressen, Musicals usw. geltend machen. Auffallend bei diesen Veranstaltungen ist die neue Mischung der Kognition, Emotion und Technologie, das Spielen mit Symbolen der Geschlechter, Familien- und Nationalwerten. Die Frage ist: Gilt immer noch die Elias’sche-Foucault’sche These der Entemotionalisierung und Normalisierung durch Kontrolle? Gehören Sprache, Technologie und Expertenwissen immer noch zu den wichtigsten Kontrollinstrumenten? Eine weitere neue Einsicht von Cultural Studies ist, dass der menschliche Körper zum Ort des politischen Konfliktes geworden ist (Doyle McCarthy 1994: 274). Über den Körper bringt das Individuum die eigene (politische) Identität zum Ausdruck (s. dazu Martin 2000 und Teil 3 in Bendelow und Williams 1998). Er wird nach den Vorschriften und Ratschlägen der Mainstream- Kultur selbst-reflexiv unter vollem Einsatz modernster technischer Mittel geputzt, gepflegt, sportlich geformt, therapiert, chirurgisch modifiziert, modisch gekleidet und so in ewige Bereitschaft für neue Anstellungs-, Heirats- oder Sexmöglichkeiten jung gehalten. Oder aber er wird vernachlässigt bzw. subkulturell stilisiert. Damit wird Gleichgültigkeit oder Widerstand gegenüber der Mainstream-Kultur und der Zugehörigkeit zur ausgewählten Gruppe signalisiert. Der Körper, diesmal aber durch das Prisma der Identität und »Politik der Identität« verstanden, steht auch im Zentrum von Abtreibungspolitik und ethnischer Politik, wobei es um die Emanzipation, Menschenrechte für zugeschriebene Identitäten und um die Selbstverwirklichung geht. Eine wichtige Aufgabe wäre, die Emotionen, die mit der Körperkultur <?page no="144"?> 145 und Identitätspolitik zusammenhängen, zu untersuchen, da sie besonders kräftige Leidenschaften hervorrufen. Letztlich soll nicht vergessen werden, dass heute Emotionen selbst zum Objekt der Analyse und Aufmerksamkeit geworden sind (Turner, Benton in Doyle McCarthy 1994: 275 - 276). Sie bringen das Selbst und seine Identität zur Geltung, setzen es auf den Weg der Suche nach dem wahren Selbst, helfen ihm, sich zu entdecken und zu entfalten. Sie werden als Signale verstanden, die darüber informieren, ob es einem gut oder schlecht geht, ob das authentische Selbst ermächtigt oder entmächtigt wurde. Sie verleihen dem eigenen Selbst Sinn. Die Soziologie der Emotionen sollte versuchen, die Frage zu beantworten, wie es historisch dazu gekommen ist, welche Strukturen dieses Phänomen ermöglichen und welche Konsequenzen es hat. Geschichte der Emotionen - Cancian, Swidler, Stearns Auf diesem Gebiet haben Historiker verständlicherweise mehr geleistet als andere, die sich für die Soziologie der Emotionen interessieren (s. dazu eine Übersicht in Stearns 1993). Zwei Beispiele mögen hier dieses Gebiet repräsentieren. Francesca Cancian (1987) interessierte sich für Love in America, die sie mit mehreren verschiedenen Methoden untersuchte. Um ihren Gegenstand besser zu verstehen, hat sie sich auch mit amerikanischen historischen Werken zu diesem Thema vertraut gemacht. Ihre Analyse ergab, dass sich das Verständnis von Liebe im Laufe der Zeit sehr stark verändert hat. Ihr Erklärungsansatz ist, dass sich der Wandel von Liebes- und Familienidealen mit Hilfe von ökonomischen, familiären, kulturellen und ideologischen Faktoren erklären lässt. Die vor-industrielle Liebe wies vorwiegend auf die Familienliebe hin (Cancian 1987: 15). Die Familie war der Ort der Produktion, Ausbildung, Religion und sozialen Fürsorge. Der Ehemann und die Ehefrau hatten ähnliche ökonomische Aufgaben und trugen die Verantwortung für die Haushaltsmitglieder, zu <?page no="145"?> 146 denen auch Lehrlinge und Diener gehörten. Der Ehemann sollte die Mitglieder des Haushalts anführen, disziplinieren und ernähren. Die Frau sollte sich um den Garten, die Tiere und die Wäsche kümmern. Alle Familienmitglieder sollten liebevoll und zärtlich zueinander sein. Im Unterschied zur Gegenwart brauchte die Liebe nicht so viele Worte, persönliche Bekenntnisse oder starke emotionale Ausdrücke (Cancian 1987: 17). Sie war vielmehr pflichtbewusst und mit Form assoziiert. In der nächsten, der viktorianischen Phase kam es zur Feminisierung der Liebe. Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts war die Trennung zwischen der Familie und der ökonomischen Produktion weit fortgeschritten (Cancian 1987: 16 - 19). Der Mann bekam die Verantwortung für Arbeit und Leistung außerhalb, die Frau für die Liebe, familiäre Bindungen und persönliche Beziehungen innerhalb der Familie. So wurde die feminine Sphäre definiert. Andere Institutionen übernahmen die ökonomische Produktion, Ausbildung und Gesundheitspflege. Die Verpflegung und die Bekleidung der Familie wurden ebenso wie die Sorge um ihre Moral zur Hauptpflicht der Frau. Eine Ideologie, welche die Trennung der »öffentlichen« von der »privaten« Sphäre thematisierte, verstärkte diese Tendenz, wobei sie die große Bedeutung der Privatsphäre, über die die Frau herrschte, nicht genug betonen konnte (Cancian 1987: 19 - 21). Der unabhängige, schlaue, mächtige, leistungs- und wettbewerbsorientierte Selfmade-Ehemann, der eigentlich mehr Sehnsucht nach seiner Unabhängigkeit und Sex als nach einer dauerhaften Liebesbeziehung verspürte, brauchte doch auch die spirituelle, unterstützende, moralhütende Engelchen-Frau als seinen zivilisierenden Gegenpol. Dann kam der letzte - ideologische - Prozess, der die Feminisierung der Liebe vollendete. Der Frau wurde jeder Anspruch auf Vernunft genommen (Cancian 1987: 23 - 24). Sie konnte nur noch lieben. Seitdem wird Liebe privatisiert und nur noch auf Zärtlichkeit, Emotionsausdruck und Schwäche reduziert. Das 20. Jahrhundert, trotz seiner vielen Zäsuren und Regressionen, brachte einen Wandel in dieses Liebesideal. Die Frauen usurpierten für sich das Ideal der maskulinen Unabhängigkeit <?page no="146"?> 147 (Cancian 1987: 30). Da sie sich selbst zunehmend auf dem Arbeitsmarkt befanden und auf Grund der gesunkenen Kinderzahl viel weniger Zeit für deren Erziehung benötigten, konnten sie die Beschränkungen ihrer bisherigen Geschlechterrolle auf Ehefrau und Mutter nicht mehr akzeptieren. Die Konsumindustrie, die allgemeine Kulturrevolution und die Frauenbewegung, welche allesamt die Ideale der Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit verbreiteten und die Bedeutung des Persönlichen betonten, verstärkten das emanzipatorische Streben der Frauen und die Sicht auf die Ehe als Partnerschaft. Gegenwärtig, so heißt es, genießen beide Partner das Recht auf Freiheit, Selbstverwirklichung und flexible Rollen (Cancian 1987: 39). Geschlechter- und Familienrollen können jederzeit neu verhandelt werden, um die gewünschte Flexibilität zu gewährleisten. Das Liebesideal ist Intimität, offene Kommunikation von Wünschen und Bedürfnissen und gemeinsame Problemlösung (vgl. Beck 1986; Beck und Beck-Gernsheim 1990). Liebe liegt genauso in der Verantwortung des Mannes wie in der der Frau. Und ebenso haben angesichts von vorherrschenden Idealen beide Partner Schwierigkeiten, sich festzulegen, commitment zu einem Partner einzugehen (Swidler 1980). Der amerikanische Historiker Peter N. Stearns hat in den letzten 15 Jahren die Erforschung der amerikanischen Geschichte der Emotionen zu seinem Spezialgebiet gemacht. Allein oder mit anderen hat er in mehreren Untersuchungen, die sich mit der Geschichte der Wut, Eifersucht, Liebe usw. beschäftigen, die These bestätigen können, dass in den USA die emotionale Selbstkontrolle zunehmend nachgefragt wurde, obwohl es natürlich auch Ausnahmen gab (Stearns 1994). Stearns stützt sich in seinen Untersuchungen vor allem auf Populärliteratur, Ratgeber, Magazine, Gerichtsdokumente usw. Das bedeutet, wie er selbst gern betont, dass man über den Normenwandel viel lernt, allerdings ohne zu wissen, ob diese Normen auch verinnerlicht wurden. Die gängige Fachliteratur hilft Stearns, seine Befunde zu interpretieren und, wenn möglich, zu erklären. Hier eine kleine Kostprobe seiner American Cool-These (Stearns 1994): In dem Buch über Eifersucht (1989b) zeigt Stearns, dass diese <?page no="147"?> 148 Emotion noch im 18. Jahrhundert zu dem männlichen Liebes- und allgemeinen Familienrepertoire gehörte. Mit ihr wurde vor allem die männliche und familiäre Ehre samt Besitzrechten untermauert, aber auch die Liebe und sexuelle Begierde ausgedrückt und bestätigt. Als sich das Ideal der romantischen, puren Liebe im Laufe der Viktorianischen Ära durchsetzte, wurde die Eifersucht als ein selbstsüchtiger Faktor definiert und verbannt, der die edle Liebe, deren Ziel die Verschmelzung zweier Seelen war, nur verfärben konnte. Eifersucht wurde zunehmend in eine weibliche Eigenschaft umdefiniert, die der Selbstlosigkeit der Liebe widersprach. Auch die Befürworter der freien Liebe meinten, dass sie sich mit Eifersucht, die Besitzrechte hervorhebt, nicht vereinbaren lässt. Nach und nach verlor auch die sexuelle Eifersucht ihre Legitimität und wurde allmählich mit persönlicher Verunsicherung und fehlendem Vertrauen für den Partner assoziiert. Dieselbe Tendenz der Delegitimierung lässt sich auch für die Wut zeigen (Stearns 1994: 3 - 4). Noch um 1890 hatten die leitenden wissenschaftlichen und pädagogischen Autoritäten die amerikanischen Männer dazu aufgefordert, ihre Wut und Empörung offen zu zeigen. Wut garantierte nämlich Erfolg. Fünfzig Jahre später - nachdem die Wut der Arbeiterproteste die Mittelklassen erschreckte und eine Meinungsänderung bewirkte - sollten die Männer ihre Wut auf Konkurrenten kanalisieren und nicht mehr zu Hause auslassen. Frauen sollten ihre Wut völlig unterdrücken. Wut unter Jungen sollte von Müttern und Erzieherinnen nicht mehr geduldet, sondern unterbunden werden. Ganz genauso ist die Sicht auf die Mutterliebe völlig umgedreht worden. Die viktorianische Mutterliebe verlangte Leidenschaft. Seit etwa 1930 werden Mütter vor der leidenschaftlichen Bindung an ihre Kindern gewarnt. Solche Liebe, so hieß es, verhindere die gesunde Entwicklung des Kindes und beraube den Ehemann seines selbstverständlichen Rechtes auf die ungeteilte Zuneigung und Aufmerksamkeit seiner Frau. Insgesamt wurden die Beziehungen in der Familie liebevoller. Diese Liebe, die den Boden für Schuldgefühle und soziale Kontrolle schuf, ersetzte Beschämung und Wutausbrüche als Disziplinierungsmaßnahmen. <?page no="148"?> 149 Stearns argumentiert, dass diese neue Emotionskultur dem neuen, »sakralen« Stellenwert der Familie in der Gesellschaft entsprach (Stearns 1993: 23; 1994: 8). Gleichzeitig war sie besser für die neuen Management- und Dienstleistungsberufe geeignet, die glatte Persönlichkeiten benötigten, die sich ideal für den Warenverkauf einsetzen, mit denen sich aber auch Scheinkollegialität und Scheindemokratie verwirklichen ließen (Stearns 1989b: 187). Mit diesen und verwandten Studien meint Stearns, einen allgemeinen Wertewandel der Mittelklasse belegen zu können, einen Wandel, der sich nicht nur in den USA, sondern auch in Europa vollzog. Zu ihren zahlreichen Ursachen zählten der ökonomische, demographische und sexuelle Wandel, ebenso wie der erzieherische, Freud’sche, psychologische oder industriepsychologische Diskurs. Soziale Struktur und Emotionen - Kemper, Scheff, Honneth, Neckel* und Collins Dem Forschungsgebiet soziale Struktur und Emotionen wird viel Aufmerksamkeit gewidmet. Nicht nur amerikanische, sondern auch deutsche Soziologen haben Ansätze entwickelt, die, obwohl unterschiedlich, eine Hauptthese verfolgen: die Emotionen spielen eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung der sozialen Strukturen. Als Vertreter dieses Forschungsgebietes werden hier fünf verschiedene Soziologen, drei Amerikaner (Theodore D. Kemper, Thomas J. Scheff und Randall Collins) und zwei Deutsche (Axel Honneth und Sighard Neckel) vorgestellt. Sie messen in ihren Analysen sozialer Achtung und den mit ihr verbundenen Gefühlen eine große gesellschaftliche Bedeutung bei, obwohl sie unterschiedliche theoretische Ausgangspunkte haben. Alle fünf Autoren gehen davon aus, mit ihrem Ansatz die Lücke zwischen Makro- und Mikrosoziologie zu schließen. Das hier verfolgte Ziel ist es zu zeigen, dass, obwohl die fünf Autoren sehr unterschiedliche philosophische, sozialpsychologische und soziologische Ausgangspositionen haben, sie dennoch <?page no="149"?> 150 eine sehr ähnliche Hauptthese entwickeln: Kemper, Scheff, Honneth und Neckel betonen, dass die sozialen Strukturen und nicht nur (angeblich unerforschbare) innerpsychische Zustände die Ursachen der Emotionen sind. Alle fünf argumentieren, dass diese Emotionen in der Regel die schon etablierten sozialen Strukturen unterstützen. Die fünf Autoren beschäftigt aus unterschiedlichen Blickwinkeln das Thema, wie »Inklusion und Exklusion« in und aus der menschlichen Gemeinschaft erfolgt. Da Collins Ansatz in vielen anderen Punkten eigenständig ist und von dem Muster bei Kemper, Scheff, Honneth und Neckel abweicht, werden seine Ideen am Ende besprochen. Kemper, Schaff, Honneth und Neckel machen Gefühle zum Produkt sozialer Verhältnisse und zur wichtigen Quelle sozialer und politischer Konflikte. Das Gefühl Scham definieren sie als Hauptinstrument der Selbst- und der sozialen Kontrolle. Ihre Argumentation lautet: In der Regel werden Begegnungen zwischen Personen durch Macht und Status der Interaktionspartner strukturiert. Die Mächtigen sind in der Lage, die Verhaltensregeln zwischen den Inhabern der verschiedenen sozialen Positionen zu ihrem Vorteil zu bestimmen. Dem steht gegenüber, dass jeder Mensch ein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und nach Autonomie hat. Wenn jemand diese Anerkennung und Autonomie wegen zu geringer Macht- und Statusposition in Begegnungen mit anderen nicht bekommt, können sich negative Gefühle wie Enttäuschung, Scham, Traurigkeit, Apathie und vieles andere einstellen. Diese Gefühle werden durch die sozialen Macht- und Statusstrukturen produziert. Zugleich leisten diese Prozesse einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Strukturen, solange sich die Missachteten den Misserfolg selbst zuschreiben und durch ihre Gefühle geschwächt werden. Wenn aber, und das passiert manchmal, die Macht- und Statuslosen sich selbst nicht mehr die Schuld für diesen Zustand geben, dann reagieren sie mit anderen Gefühlen, die sie dazu bringen, soziale Erwartungen bzw. Vorschriften zu verletzen. Sie stoßen auf den Widerstand der Mächtigen, die sich zu wehren wissen. Die unerwünschten Aufsässigen, die am falschen Ort und bei der falschen sozialen <?page no="150"?> 151 Gruppe Respekt und Zuneigung suchen, werden beschämt. Die empörten Aufsässigen, die sich nicht angemessen zu verhalten wissen, werden bestraft. Beide spüren die emotionalen Kosten dieses Prozesses. Der springende Punkt ist aber, dass die sozialen und politischen Asymmetrien weitgehend mit Hilfe von Gefühlen, auch angesichts dieser Art sozialer Bedrohung, erhalten bleiben. Kemper (1978b, 1981a, 1990a) und Scheff (1990) rechnet man zu Pionieren auf dem Gebiet der Soziologie der Emotionen. Aus Kempers theoretischer Perspektive, die in der sozialpsychologischen Forschung ihren Ausgangspunkt nimmt, produzieren soziale Beziehungen, genauer gesagt Macht und Status, »echte« Emotionen (Kemper 1978b: 32 - 33; 1981a: 344; 1990c: 227). Jeder Akteur übt in einer Beziehung mehr oder weniger Macht (Zwang, Druck, Bedrohung, etc.) aus, und jeder Akteur bekommt auch mehr oder weniger Status in Beziehungen, sei es Unterstützung, sei es Zuneigung. »Echte« Emotionen sind als Reaktionen auf Interaktionsergebnisse zu verstehen. Um ein Beispiel zu geben: Wenn ein Akteur sich selbst für die Interaktionsergebnisse die Schuld gibt und empfindet, dass er zu viel Status bekommen hat, spürt er Scham; hat er jedoch zu viel Macht ausgeübt, können ihn Gewissensbisse [guilt] heimsuchen. Wenn aber dem sich selbst belastenden Akteur zu wenig Status zugeschrieben wird, spürt er Verzweiflung oder Apathie; hat er zu wenig Macht ausgeübt, empfindet er Furcht. Die emotionalen Ergebnisse sind anders, wenn der Akteur die Schuld seinem Interaktionspartner zuschiebt (Kemper 1978b: 32 - 33). Seine ursprüngliche These (1978b) erweiternd, schlägt Kemper (1981a) vor, dass die soziale Struktur, die als vertikale Makroebenen-Gliederung der Akteure nach Macht und Status zu verstehen ist, zugleich eine Mikrohandlungsebene darstellt, auf der fehlgelaufene Begegnungen emotionale Reaktionen verursachen. Gegen die sozialen Konstruktivisten - wie Hochschild - argumentiert er, auf Durkheim und Elias aufbauend, dass die mächtigen und privilegierten Eliten immer die Verhaltensregeln, die situationsgeeigneten und situationsungeeigneten Emotionen eingeschlossen, be- <?page no="151"?> 152 stimmen (Kemper 1981a: 345 - 346). Diese Regeln (Kultur) sind deswegen nicht die Determinanten der Emotionen: Wenn ein Afroamerikaner gegen die Rassenregeln verstößt, führt dies zu weißer Wut und zu schwarzer Furcht, weil Statusverluste Wut, Machtlosigkeit und Furcht mit sich bringen (Kemper 1981a: 347). Aus Kempers Sicht leistet Kultur einen wichtigen Beitrag zu Emotionen nur insofern, als sie bestimmt, welche Akteure auf macht- und statusangemessene Weise zu betrachten sind und welche besonderen zeremoniellen Gelegenheiten, bei denen diverse Techniken und Symbole eingesetzt werden, emotionale Erregung und Ehrfurcht als Reaktionen auf Macht- und Statuspositionen erzeugen (Kemper 1981a: 355 - 356). Letztlich spezifiziert jede Kultur Objekte und Verhalten, die zu jeder Macht- und Statusposition passen und in Begegnungen mit anderen, die über oder unter einem in der sozialen Hierarchie stehen, realisiert werden. Scheffs (1990) Erkenntnisinteresse kreist um zwei Typen von Emotionen: das Gefühl der Scham und das des guten Selbstwertgefühls [pride]. Sein Ausgangspunkt ist Durkheims Theorie sozialer Differenzierung, die den Zustand der kontrollierten sozialen Bindung, der zu altruistischem Selbstmord führen kann, definiert, ebenso den Zustand der zu geringen sozialen Bindung, die in einen anomischen Selbstmord mündet (Scheff 1990: 4 - 5, 22 - 24). Scheff jedoch wirft Durkheim und der gegenwärtigen Soziologie vor, dass sie bei ihren theoretischen Betrachtungen den Zustand der »gerade richtigen« oder »normalen« sozialen Bindung beziehungsweise Solidarität außer Acht lassen. In vormodernen Gesellschaften ist das Individuum in der Gruppe »verschlungen«, in der Moderne ist es isoliert (Scheff 1990: 179,12). Die Ideologie des Individualismus und die Verneinung der Gefühle (Verleugnung, Selbsttäuschung) tragen dazu bei, dass das menschliche Bedürfnis nach sozialer Bindung verleugnet wird und sich das Maß an sozialer Bindung abschwächt. Wie kann man dann wissen, ob der wünschenswerte Zustand der Solidarität überhaupt erreicht werden kann? <?page no="152"?> 153 Scheffs Argument lautet, dass sich die Post-Durkheim’sche Soziologie zu sehr auf Kognition und Rollen konzentriert und Personen aus ihren Betrachtungen ausschließt (Scheff 1990: 22 - 24). Eine solche Soziologie ist nicht in der Lage, sich zwischen sozialen Makrostrukturen und normbedingten, jedoch spontanen und gefühlseinschließenden Interaktionen, die zwischen konkreten Personen als Rollenträger auf der Mikroebene stattfinden, analytisch zu bewegen. Goffman, der sich den Interaktionsritualen mit einem behavioristischen Forschungsprogramm widmete, untersuchte nur die individuellen Handlungen, aber nicht Motive oder Emotionen als Reaktionen der Interaktionspartner auf Begegnungen (Scheff 1990: 29,75; s. dazu auch die Originalformulierungen von Hochschild 1979 und von Shott 1979). Wenn man sie einbezieht, kann man die Dynamik der Mikroebene besser verstehen und gleichzeitig die Mikromit der Makroebene verknüpfen. Jede interaktive Situation kann aus zwei Perspektiven analysiert werden, einmal als Kommunikationssystem, das Gedankenaustausch ermöglicht, zum anderen als Emotionssystem, das die gegenseitigen Statuszuschreibungen offenlegt (Scheff 1990: 6). Der emotionale Kern des Interaktionsrituals ist, wie Goffman zeigt, das Streben nach Status(ehre). Dieses Streben impliziert die konstante Mühe, das Gesicht nicht zu verlieren und die Verlegenheitszustände durch Eindrucksmanagement zu verbergen (Scheff 1990: 7, 28 - 29). Gute soziale Bindungen zwischen Personen führen zu gegenseitiger Bestätigung und zur expliziten Anerkennung der anderen als gleichwertige Gesprächspartner oder Gesellschaftsmitglieder. Nach Cooley und Goffman stellen das Gefühl der Scham und das des guten Selbstwertgefühls die zwei zentralen Gefühle dar, die uns über den Zustand der sozialen Bindung informieren (Scheff 1990: 15). Scham signalisiert, dass die soziale Bindung gefährdet, unterbrochen und dieser Zustand als negativ empfunden wird. Das positive Selbstwertgefühl hingegen signalisiert, daß die soziale Bindung funktioniert. Der Zustand der einfühlsamen Intersubjektivität beziehungsweise der gegenseitigen Ver- <?page no="153"?> 154 ständigung kann im Konsens oder im Konflikt erreicht werden (Scheff 1990: 7), wobei diese Konflikte auch zur Modifikation der Beziehungen führen können. Wenn man in der Analyse nicht nur gegenseitige, sondern auch interne Gefühle der Interaktionspartner berücksichtigt, wird es klar, dass jede interaktive Situation ein außerordentlich explosives Potential besitzt (Scheff 1990: 76). Wenn die gegenseitige Bestätigung nicht angeboten oder wahrgenommen wird, löst das eine Kette von Scham- und Wutreaktionen aus, und dies sowohl in einer Person als auch zwischen den Beteiligten. Wenn, wie es oft der Fall ist, Gefühle verleugnet werden (wie bei »by-passed-« und »overt, undifferentiated«-Scham), kann das zu verschiedenen Verhaltensstörungen und im schlimmsten Fall zu Gewalt oder Selbstmord führen (Scheff 1990: 85 - 89,114,117 - 134). In einem anderen Kapitel über »Emotionen und Selbstmord«, in dem er Goethes Werther als Diskussionsgrundlage wählt, zeigt Scheff, dass die herrschenden sozialen Gruppen dominierend bleiben, weil sie nicht nur die Gewalt, sondern auch die Gefühle der anderen sozialen Gruppen kontrollieren (Scheff 1990: 131 - 134). Die herrschende soziale Gruppe (Aristokratie oder die Weißen) unterstreicht ihren gesellschaftlichen Status durch Glamour und heilige Symbole (zum Beispiel durch das Tragen von Kronjuwelen). Das bringt andere Gruppen dazu, die Aristokratie oder die Weißen zu idealisieren und sich für die eigenen Gruppeneigenschaften zu schämen. Häufig wird jedoch gleichzeitig Humor eingesetzt, um die Beherrschten auszulachen und zu beschämen. Gelingt es nicht, die Spannungen zwischen Herrschenden und Beherrschten zu entschärfen, führt Scham zu einer permanenten Unterschätzung der eigenen und zur Überschätzung der herrschenden Gruppe. Die kollektive Dynamik der Scham, die sich in das Individuum verlagert und die der Einzelne nicht überwinden oder unterlaufen kann, zeigt, warum die Herrschaftsverhältnisse als legitim angesehen werden. Das Gefühl der Scham liegt dem falschen Bewusstsein zugrunde. Neckel (1991) zeigt, welcher Zusammenhang zwischen Status und Scham besteht. Seine, auf Weber aufbauende, zu untersu- <?page no="154"?> 155 chende zentrale These ist, dass sich Status nicht nur als ein Verteilungs-, sondern auch als ein Beziehungsphänomen verstehen lässt (Neckel 1991: 195). Eine solche Betrachtung räumt den sozialen Kämpfen und Konflikten einen Platz ein. Webers theoretischer Ansatz, der Status als Verteilung sozialer Macht versteht, erlaubt es nachzuvollziehen, wie soziale Macht die soziale Ungleichheit im Handeln strukturiert. Die Arbeiten von Weber, Kreckel und Parkin bilden den Ausgang für Neckels Studien. »Geld, Zeugnis, Rang und Zugehörigkeit sind ... die Ressourcen ..., die den Akteuren zur Strukturierung ihrer sozialen Beziehungen zur Verfügung stehen und Auskunft über ihre jeweiligen Machtchancen geben... Status ist das Attribut sozialer Anerkennung, das mit der jeweiligen sozialen Position verbunden ist, die aus der eigenen Verfügung über Reichtum, Wissen, Rang und Zugehörigkeit resultiert. Er legt Rechte und Pflichten von Akteuren fest, gewährt Vor- und Nachteile in der sozialen Konkurrenz und ist mit einem distinkten Prestige verbunden ... Status hat also ... immer zugleich eine materielle und eine moralische Komponente ... Da das Ausmaß, in dem bestimmte normative Maßstäbe in einer Gesellschaft Legitimität besitzen, weitgehend eine Funktion der Macht ist, diese Maßstäbe institutionalisieren zu können, gehört es zum Machtvorteil bestimmter Klassen und Gruppen gegenüber anderen auch, die eigenen Maßstäbe sozialer Anerkennung [als dominante Wertesysteme] erfolgreich institutionalisiert zu haben.« (Neckel 1991: 196 - 197) Statusgruppen, die die Klassen aufgrund nationaler, ethnischer, religiöser, berufs- oder geschlechtsbezogener Unterschiede differenzieren, werden durch die Geltung gemeinsamer Normen, die als Instrumente der sozialen Behauptung und Verteidigung fungieren, integriert (Neckel 1991: 198). Das Gefühl der Scham bekommt in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle zugeschrieben (Neckel 1991: 198 - 201). Scham wird empfunden, <?page no="155"?> 156 wenn sich das Selbst im Vergleich mit den geltenden Normen oder, noch wichtiger, mit dem Selbstideal als mangelhaft empfindet. Scham, so schon Parsons, stellt einen subjektiven Kontrollfaktor dar, der für Selbstkorrekturen sorgt. Scham, so Neckel, bedeutet Angst vor dem Verlust sozialer Achtung. Diese Gefühle im Zusammenspiel mit dem als legitim verstandenen, normativen System erklären, warum Beschämungsstrategien, die sowohl gegen die abweichenden, sozial Gleichen als auch gegen die Außenseiter, die Anspruch auf Status erheben, wirksam eingesetzt werden können. Auf Scheff aufbauend, versteht Neckel »Scham und Beschämung als informelle Mechanismen der sozialen Kontrolle ...«, die in alltäglichen Begegnungen ausgespielt werden (Neckel 1991: 204). Beschämungen haben allerdings tief greifende Konsequenzen: »Durch Beschämungen stell[en Personen] also soziale Ungleichheit praktisch her, verteil[en] Statuspositionen neu und handel[n] die aktuell gültige Statusordnung aus« (Neckel 1991: 210, 213). Obwohl, wie weiter oben gesagt, sich die Beschämung oft gegen die nicht-konformen Angehörigen der eigenen Gruppe richtet, ist sie genauso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, sobald sie gegen Außenseiter eingesetzt wird. Wenn Statusgruppen ihre Monopolstellung zu sichern versuchen, wenn sie also sowohl ihre materiellen und kulturellen Güter als auch ihr Prestige auf ihre Mitglieder beschränken möchten, wird Beschämung als informelle Strategie zur sozialen Schließung eingesetzt. Sie definieren ihre Eigenschaften und Verhaltensmuster als überlegen, die der Außenseiter als minderwertig. Gegen nicht zur Gruppe gehörende Statusaspiranten setzen sie ihre Definitionen durch, um ihnen den Zutritt zu verweigern. Beschämung ist, neben formellen Kriterien wie Bildungsabschlüssen, voneinander abhängigen Karriereschritten, Beitrittsgebühren und anderen, eine wichtige Strategie zur informellen Ausgrenzung. Diese Ausgrenzungen sind wirksam, egal ob subtil oder rabiat, weil die Aspiranten das Wertesystem der Statusgruppe, zu der sie gehören möchten, antizipatorisch internalisiert haben. Honneths Thesen heben gegenüber anderen Arbeiten die Di- <?page no="156"?> 157 mensionen der Ermächtigung und Entmachtung hervor. Auf Hegel und Mead aufbauend, stellt Honneth (1992) fest, dass der Kampf um Anerkennung von zentraler, gesellschaftlicher Bedeutung ist. Das spontane, kreative, ungezügelte »Ich« strebt nach Bestätigung und Unterstützung und sucht eine Gruppe von Gleichgesinnten. Das »Me« ist das angepasste und honorige Gesellschaftsmitglied, das die »generalisierten anderen« internalisiert hat und die etablierten Normen und Grenzen kennt und diese selbstverständlich akzeptiert. Der erfolgreiche Kampf des »Ich« um Anerkennung ist die zentrale Voraussetzung für die Entwicklung des Selbstvertrauens, der hohen Selbstachtung und der gelungenen Selbstverwirklichung. Dieser Kampf des kreativen, normmissachtenden »Ich« ist zugleich die wichtigste Voraussetzung des sozialen Fortschritts. Aber derselbe Kampf um Anerkennung liegt hinter drei weit verbreiteten Formen der Missachtung, die zu großen Anerkennungsverlusten bei den Missachteten führen (Honneth 1992: 212-225). Die erste Form ist die physische Misshandlung, wie Folter oder Vergewaltigung, die die leibliche und häufig auch die psychische Integrität einer Person verletzt (Honneth 1992: 214). Hier wird die Person ihres elementaren Selbstvertrauens beraubt. Die zweite, weit verbreitete Missachtungsform, die Entrechtung, nimmt die Gestalt des sozialen und politischen Ausschlusses aus der Gesellschaft an und resultiert auf der individuellen Ebene im Verlust an Selbstachtung (Honneth 1992: 215-216). Das Subjekt wird als moralisch unzurechnungsfähig eingestuft, der Erfahrung der Entrechtung kontinuierlich ausgesetzt und des Gefühls beraubt, »den Status eines vollwertigen, moralisch gleichberechtigten Interaktionspartners zu besitzen...« (Honneth 1992: 216). Die dritte Missachtungsform, die Entwürdigung, tritt dann ein, wenn es zur Herabsetzung von individuellen oder kollektiven Lebensweisen kommt. Bestimmte Lebensstile und Überzeugungen werden - zum Beispiel wegen politischer Überzeugungen - als minderwertig eingestuft (Honneth 1992: 217). Individuen und Kollektive, die eine bestimmte Art der Selbstverwirklichung als Lebensentwurf besitzen, wird »Ehre«, »Würde« oder »Status« verweigert. Sie werden <?page no="157"?> 158 beleidigt und erleben einen Verlust an persönlicher Wertschätzung. Der letzte Ansatz, der hier vorgestellt wird, ist von Randall Collins, der zusammen mit Scheff und Kemper zu den Pionieren der Soziologie der Emotionen gehört. Collins wirft Durkheim, Marx, Engels, Mead und Schütz vor, dass sie entweder Emotionen völlig ignorierten oder Emotionen sehr selten ansprachen (Collins 1990: 27 - 30). Goffman hatte die Emotionen nur erwähnt, Garfinkel hatte sie als das Ergebnis seiner Normbrecher- Experimente [breaching experiments] aufgelistet, aber Emotionen ließen beide Soziologen kalt. Collins’ Ansatz lehnt sich am stärksten an Durkheim an, obwohl er auch nach Weber Macht- und Statusdimension explizit thematisiert. Collins, wie bereits Durkheim, stellt sich emergente Effekte bei sozialen Interaktionen vor, die den einzelnen Beteiligten und die ganze Gruppe beeinflussen. Merkwürdig ist, dass Collins genauso wie Durkheim (emotionale) Energie als Produkt von Interaktionen definiert. Diese geht verloren oder wird gewonnen. Collins unterscheidet zwischen drei Interaktionstypen (kritisch und erweiternd dazu Rössel 1999: 28 - 33 und 2000). Zuerst schildert er die pure soziale Interaktion, ohne die Macht- und Statusdimension zu berücksichtigen (Collins 1990: 31 - 34). Wenn mindestens zwei Personen face-to-face, einander wohlbewusst dasselbe Gefühl teilen, interagieren, so rückt die soziale Gruppe als transindividuelle Einheit ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Collins nennt diesen Zustand nach Goffman »Ritual« oder Situationsritual. Seine Eigenschaft ist, dass sich das geteilte Gefühl immer durch das Ritual steigert: die Teilnehmer werden trauriger beim Begräbnis oder heiterer beim Feiern. Der Aufbau von »emotionaler Koordination innerhalb vom Interaktionsritual« führt zur Entwicklung des Solidaritätsgefühls (Collins 1990: 32). Obwohl das gemeinsam Erlebte nur kurzfristig ist, hat es langfristige, emotionale Effekte. Diese langfristigen Effekte nennt Collins emotionale Energie. Er unterscheidet zwischen positiven und negativen Effekten des Rituals. Das Ritual prägt einen jeden sowohl kognitiv als auch emotional. Wenn eine Person die Grup- <?page no="158"?> 159 pe attraktiv findet, von ihr akzeptiert wird und an einem erfolgreichen Ritual teilnimmt, erfährt diese Person außer dem Gefühl der Gruppensolidarität und Zugehörigkeit, auch Selbstvertrauen, Enthusiasmus, ein gutes Selbstgefühl, Zuversicht, positive emotionale Energie usw. Darüber hinaus werden bestimmte Gruppensymbole und normative Regeln akzeptiert. Im kontrastierenden Fall verlässt man die Gruppe deprimiert und leer. Man möchte weitere Begegnungen mit ihr vermeiden, fühlt sich von ihrer Moral und ihren Symbolen entfremdet. Man hat keine neue emotionale Energie empfangen und verfügt demzufolge über keine Energie, die man in weitere Statusrituale einbringen kann. Zu den langfristigen Effekten gehört auch die gesteigerte, individuelle Bereitschaft zum Altruismus und, wenn bestimmte Mitglieder der Gruppe die Gruppensymbole nicht respektieren oder an weiteren Ritualen kontinuierlich nicht teilnehmen, Schock, Empörung und Zorn, vermischt mit der Bereitschaft, Sanktionen zu verhängen. Dies impliziert, dass die bereits entleerten, entfremdeten Individuen genauso wie alle anderen Respektlosen als wahrscheinliche Zielscheiben von mobilisierter Empörung und Zorn noch mit einer zusätzlichen Belastung rechnen müssen. Statusrituale beziehen sich noch dezidierter auf das Ein- und Ausschließungsmoment der Interaktionen und ihre langfristigen sozialen Konsequenzen (Collins 1990: 37 - 39). Sie beeinflussen sowohl die soziale Position als auch die Machtposition des Individuums bzw. der sozialen Gruppe. Das Individuum/ die soziale Gruppe kann entweder sehr respektiert, nachgefragt, sehr engagiert, gut vernetzt, im Zentrum des allgemeinen Interesses stehen oder kann (muss) ohne Popularität, Teilnahme, Bindungen und - was folgt - ohne Respekt, ohne unterstützende Solidarität und Symbole und ohne emotionale Energie auskommen. Sowohl für Individuen als auch für soziale Gruppen ist die emotionale Energie entscheidend für ihre Zukunft. Die Ritualteilnehmer können außerdem kulturelle Ressourcen akkumulieren - welche die Form von Mitgliedschaftssymbolen wie Gesprächsthemen, Schlüsselideen, guten Manieren oder vom personenbezogenen <?page no="159"?> 160 Wissen wie Erinnerungen, Gewohnheitskenntnissen usw. annehmen können (Rössel 1999: 29; Collins 1984: 388 - 389,391). So ausgestattet, haben sie bessere Chancen, erfolgreich an zukünftigen Statusritualen teilzunehmen. Akkumulationsgenauso wie Verlusteffekte verstärken sich im Laufe der Zeit. Durch ihre Teilnahme an immer weiteren Statusritualen, die einigen Individuen bzw. sozialen Gruppen emotionale Energie verleihen und sie anderen wegnehmen, reproduzieren Individuen und soziale Gruppen ihre soziale Position. Machtrituale sind asymmetrisch und spielen sich zwischen Personen ab, die ungleiche Ressourcen besitzen und in einer hierarchischen Beziehung stehen: der eine hat die Rolle des Anweisungsgebers [order-giver] und der andere die des Anweisungsnehmers [order-taker]. Das Machtritual besteht aus dem Anweisungsgeben und -nehmen sowie - obwohl nicht unbedingt - der Ausführung der Anweisung (Collins 1990: 34 - 37). Auch wenn die Anweisungsnehmer manchmal die Anweisungen ignorieren, müssen sie stets Respekt für dieses Geben-und-Nehmen-Ritual zeigen. Hier lehnt sich Collins an Goffman an, um die Leistung der Vorderbühne von der Hinterbühne zu unterscheiden. Die Anweisungsgeber stehen unter dem Druck, Initiative zu übernehmen und die organisationellen Befehlsketten aufrechtzuerhalten. Sie müssen viel Energie produzieren, aber schöpfen auch viel aus dem Machtritual selbst (s. kritisch dazu Kapitel »Arbeit und Gefühl«). Ihre Persönlichkeit wächst oft mit ihrer Rolle zusammen. Das impliziert, dass sie keine Hinterbühne brauchen. Das Gegenteil gilt für die Anweisungsnehmer. Sie treten auf der Vorderbühne unter dem Zwang ihrer geringen Ressourcen auf und bekommen dafür Einkommen, Privilegien oder Beförderungschancen. Sie müssen an den Machtritualen teilnehmen, dabei respektvoll und fügsam auftreten, auch wenn sie es innerlich nicht besonders gut verkraften. Die Anweisungsgeber verlangen außerdem Respekt für die Machtsymbole und verfolgen jegliche Missachtungsversuche. Collins schlägt die Annahme vor, dass die Teilnehmer erfolg- <?page no="160"?> 161 reicher Machtrituale sich miteinander identifizieren und die Gefühle des jeweiligen Gegenübers verinnerlichen, was bedeutet, dass sie sowohl die Dominanzgefühle als auch die Unterwerfungsgefühle - wie gutes Selbstgefühl, Macht, Selbstvertrauen, Überheblichkeit vs. Wut, Angst, Frustration, Depression, Schwäche - empfinden, wenngleich unterschiedlich stark. Beide identifizieren sich auch mit den Machtsymbolen, wobei der Anweisungsgeber mit ihnen positive und der Anweisungsnehmer negative Emotionen verbindet. Wo es keine Freiräume gibt, verinnerlichen die Anweisungsnehmer die Gefühle, Wünsche und Symbole des Anweisungsgebers. Widerstand artikuliert sich, wenn es Freiräume bzw. eine Hinterbühne gibt (dazu s. Scott in den Kapiteln »Arbeit und Gefühl« sowie »Politik und Gefühl«). Widerstand und Entfremdungsgefühl werden dort ausgespielt, wo die Überwachung des Anweisungsgebers endet. Die Entfremdeten rebellieren gegen die Machtsymbole, sei es in Form von Zynismus oder im einmaligen Augenblick der Revolte, wie bei Arbeitern, oder in häufigen Akten des Vandalismus, wie bei chancenlosen Jugendlichen. Der springende Punkt in Collins Interpretation ist, dass die hochrangigen sozialen Gruppen aus Situations- und Machtritualen immer mehr, die anderen Gruppen dagegen immer weniger emotionale Energie beziehen (Collins 1990: 39,41). Emotionen spielen also eine äußerst wichtige Rolle in der Reproduktion der Gliederung nach Status und Macht in der Gesellschaft. Collins verwendet denselben Ansatz, um die wissenschaftlichen Erfolge und erfolgreiche Mobilisierung sozialer Bewegungen zu erklären. Obwohl Collins in einem anderen Artikel (1984) Besitz und Autorität zu Ausgangspunkten seiner Darlegungen macht, bleibt der Eindruck, dass sein Ansatz voluntaristisch ist. Nicht die sozialen Strukturen, deren Träger Individuen sind, bestimmen die interaktiven Erfolgschancen, sondern die früheren Interaktionserfahrungen, die von Collins nie in Besitz- und Herrschaftsstrukturen eingebettet gesehen werden: »Each individual’s ›market‹ position depends on the emotional and cultural resources they <?page no="161"?> 162 have acquired from their previous interactions« (Collins 1984: 391). Demzufolge bestimmen nicht soziale Strukturen die Verhandlungsergebnisse in Interaktionen, sondern die Individuen selbst. Der Markt für individuelle und kollektive Attraktivität scheint nicht nur eine Metapher zu sein, sondern eine Widerspiegelung der Collins’schen Wirklichkeit. Und auf diesem Markt verkauft sich das Individuum so gut es kann mittels seiner emotionalen Energie und kulturellen Ressourcen. Collins scheint zu sagen, dass soziale Interaktionen die sozialen Strukturen bestimmen - ein Gedanke, der angesichts der klassischen und neueren Soziologie schwer zu akzeptieren ist. Collins Ideen werden erst dann sinnvoll, wenn man ihre Gültigkeit auf Interaktionsbereiche begrenzt, in denen Besitz, soziale Herkunft und traditionelle Autorität keine große Rolle spielen sollten - eben die von ihm besonders gern betonten Wissenschaft oder soziale Bewegungen, wo Individuen ohne den üblichen sozialen und kulturellen Ballast freier als sonst auswählen können, welches Kollektiv mit seinen Netzwerken sie attraktiv finden, welchem sie sich anschließen und von welchem sie sich zum Erfolg tragen lassen wollen. Mit seinem Ansatz kann man die Eigendynamik der Erfolge gut verstehen. Blanker Neid, blinde Wut - Neckel zu sozialen Strukturen in Deutschland heute Ich möchte diesen Abschnitt mit der provokativen, spannenden und höchst aktuellen Ausführung Neckels zum Thema soziale Strukturen und Emotionen in Deutschland abschließen. In seinem Artikel (1999) interessiert sich Neckel für »die Erfahrung der Sozialstruktur einer Gesellschaft, wie sie sich in den Gefühlen ihrer Angehörigen repräsentiert, z.B. als Neid oder als aufsteigende Wut. Emotionen solcher Art hat Georg Simmel ›soziale Gefühle‹ ... genannt, weil sie in den Wechselwirkungen zwischen Individuen entstehen und die Interaktionen begleiten. Emile Durkheim bezeichnete sie als ›Kollektivgefühle‹ ... « (Neckel 1999: 147). Neckels Hauptthese lautet: Der Neid und die Wut, die sich <?page no="162"?> 163 übrigens nicht nur in Deutschland bemerkbar machen, stellen soziale Gefühle dar. »... [B]eiden [ist] eigen, Ausdruck eines Gestaltwandels sozialer Ungleichheit zu sein, von dem die eine wie die andere Emotion nur unterschiedliche Seiten ähnlicher Phänomene beleuchten« (Neckel 1999: 148). Der Neid - das Begehren von Werten, die andere erlangt haben - entsteht in Gesellschaften, die auf dem Gleichheitsanspruch ruhen. In Deutschland half bis vor kurzem das Gerechtigkeitskriterium »Leistung«, den Neid zu überwinden. Neckels These ist, dass Leistungsgerechtigkeit aus dem moralischem Horizont der Marktgesellschaft zu verschwinden beginnt. Deshalb taucht der Neid als Kollektivgefühl mit neuer Kraft auf. Der Neid bleibt heute ungezügelt und eskaliert sogar, da das alte Verteilungs- und Gerechtigkeitskriterium - Arbeitsleistung - keinen Sinn mehr macht. Das Ende der Erwerbsarbeit und damit der Leistung als die Eigentums- und Gerechtigkeitsgrundlage hat mehrere Gründe: a) die moderne Arbeitswelt, die berufliche Qualifikationen, Disziplin und harte Arbeit als Leistungskriterien fortschreitend ausschaltet, b) die große Arbeitslosigkeit, die die Arbeit als die Haupteinkommensquelle und das Vermögensakkumulationsprinzip eliminiert - »nur noch vierzig Prozent aller Einkommen... werden gegenwärtig durch Arbeit erlangt, der Rest verteilt sich zu ungefähr gleichen Teilen auf staatliche Transfers an Rentner, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger und auf privaten Vermögenserlös« (Heuser in Neckel 1999: 156), c) die Expansion der staatlichen Versorgung, Aktiengewinne und Erbschaften - die letzten zwei ermöglichen den mühelosen, breiten Vermögenserwerb, wobei allerdings die Investitionen in Aktien mit Risiko behaftet sind, d) die chancenbedingten Karriereerfolge und Statusgewinne in Medien, Finanzwelt, Sport und Popkultur: »Wenn Risiko, Erfolg und Vererbung den Leistungsgedanken ersetzen und hierbei außergewöhnlich ertragreich sind, bleiben Neidgefühle bei denjenigen kaum aus, die sich für die moderne Lebenskunst nicht hinreichend geeignet zeigen«. (Neckel 1999: 159) <?page no="163"?> 164 Genauso wenig wie mit der harten Arbeit und Leistung lassen sich heute die Ungleichheiten mit kollektiven Klassenlagen erklären, da wir in einer weitgehend individualisierten Gesellschaft leben, wo Biographien aus buntem Material gebastelt werden. Umgekehrt: man muss dem erfolgreichen Individuum und seiner reflexiven Gestaltung der eigenen Biographie als Verdienst anrechnen, dass es die Chancen, die sich ihm boten, wahrzunehmen wusste. Wenn aber die zufälligen Chancen und das Individuum zusammenspielen, dann gibt es keine Gerechtigkeit, sondern nur puren Neid. Neid, der zum Kollektivgefühl der Erfolglosen wird, die gleichwohl nie rebellieren werden, da sie stets die Hoffnung haben, eines Tages ihr Stück des (gleichen) Kuchens zu erhalten. Die Wut entsteht unter den Ausgeschlossenen, Jugendlichen und ethnischen Minoritäten, die aus zentralen Institutionen wie Arbeitsmarkt und Sozialpolitik herausgefallen sind (Neckel 1999: 160 - 161): »Die Produktion entbehrlicher Klassen läßt immer größere Gruppen ... in tragischer Weise zurück. Sie nehmen zwar an der populären Kultur teil, können sich aber deren Erzeugnisse und Statussymbole nicht leisten... Die neuen Unterklassen, die sich in ... Armutghettos versammeln ... bleiben ... auf Dauer in Sackgassen stecken ... [In] diesen Milieus [bricht] ungezügelte Wut [aus] - über die eigene Innenwelt wie über die äußere Wirklichkeit, denen gegenüber gleichermaßen ein Gefühl des Ausgeliefertseins existiert. ›Verzweiflung über sich selbst‹, wie Pierre Bourdieu ... die Gefühlslage der Ausgeschlossen nennt, und wahlloser Haß entladen sich dann im alltäglichen Bürgerkrieg von Zerstörung und Selbstdestruktion. Wut - so haben es ... Dubet und Lapeyronnie ... berichtet - ...wird selber zum Handlungsmotiv.« (Neckel 1999: 161) Die Wut entsteht aber auch unter den frustrierten Mehrheiten, »[d]eren Haßobjekte... häufig jene Minoritäten [sind], die <?page no="164"?> 165 heute selber von Wut gekennzeichnet sind. In der Aggression gegen Außenseiter und Fremde, bietet sich ihnen ein Ventil für den Neid auf besser Gestellte und Entlastung von der verborgenen Scham über den eigenen niedrigen Status an. Dann setzt ein emotionaler Teufelkreis von Sozialscham und Verfolgungswut ein, der nirgendwo sonst als in Deutschland seine gefährlichsten Wirkungen zeigte.« (Neckel 1999: 162) Die Wut beider Gruppen bezeugt das Ende des bisherigen Sozialmodells der Industriegesellschaft. Aussichtslosigkeit, Enttäuschung, Hilflosigkeit, Demütigung, Neid und Wut stehen für den Spätkapitalismus. 3. Schlussfolgerung In diesem Kapitel wurden einige Vertreter der Soziologie der Emotionen mit ihren Ansätzen vorgestellt. Wie sich zeigt, unterscheidet sich diese Soziologie nicht sehr von der Soziologie als Fach. Im Grunde genommen ist sie pluralistisch orientiert und erweist wenig formelle Koordination. Nichtsdestotrotz ist sie fähig, interessante Fragen aufzuwerfen und die Wirklichkeit facettenreich zu beleuchten. Zusammen betrachtet, demonstrieren ihre Vertreter, dass Emotionen sowohl auf der Mikroals auch auf der Makroebene angesiedelt sind. Die Emotionen sind nicht nur im Intimbereich, sondern in jedem Bereich des modernen Lebens vorhanden. Im Laufe des Tages - bei der Arbeit, zu Hause, im Supermarkt oder im Café - helfen uns Emotionen, unsere Identitäten sichtbar zu machen. Emotionen verleihen ihnen eine Kontinuität. In unzähligen anderen Alltagssituationen helfen uns die Emotionen, die dramatischen von den rührenden, die angenehmen von den schrecklichen Momenten unseres Lebens zu unterscheiden. Ohne Emotionen wüssten wir gar nicht, dass und wie wir leben. Emotionen, wie Wut, Scham, Traurigkeit und Glück, begleiten unseren Alltag und geben ihm eine Gestalt. <?page no="165"?> 166 Wie Kemper, Scheff, Neckel und Honneth betonen, werden in der Regel Begegnungen zwischen Personen durch Macht und Status der Interaktionspartner strukturiert. Normalerweise sind die Mächtigen in der Lage, die Verhaltensregeln zwischen den Inhabern der verschiedenen sozialen Positionen zu ihrem Vorteil zu bestimmen. Die Mächtigen setzen oft Beschämung ein als eine sehr effektive Exklusionsstrategie sowohl gegen die Abweichenden aus ihren eigenen Reihen als auch gegen die unerwünschten Außenseiter, die bestimmte Regeln missachten. Wenn diese immer noch den Anspruch auf Zugehörigkeit und auf unangemessenen Status und Macht erheben, werden sie bestraft. Beide Seiten spüren die emotionalen Kosten dieses Prozesses in Form von selbstgerechter Empörung bzw. Frustration, Wut oder/ und Scham. Der springende Punkt ist, dass diese Gefühle durch die sozialen Macht- und Statusstrukturen produziert werden und dass die sozialen und politischen Asymmetrien weitgehend mit Hilfe von Gefühlen erhalten bleiben. Katz’ Forschung hilft uns, diese zugespitzte Sicht der modernen Gesellschaft ein wenig zu relativieren. Er zeigt, dass die demokratischen kapitalistischen Gesellschaften durch alltägliche Begegnungen zwischen völlig Fremden in der Öffentlichkeit - auf der Autobahn, im Bahnhof, Supermarkt oder Kino - gekennzeichnet sind. Respektlose Behandlung in diesen Begegnungen reduzieren einen zum Niemand, berauben einen des eigenen Status. Ungeschützt vom Kollektiv, das Status und Prestige verteilt, können wir uns nur noch auf unsere Emotionen verlassen, die zu Angriffs- und Abwehrinstrumenten werden. Leidenschaftlich verteidigen wir unsere Identität und unseren Anspruch auf unsere Territorialrechte. Die Emotionen schießen uns ins Gesicht und wir zahlen es mit barer Münze heim. Nichtsdestotrotz, in der mikrosoziologischen Öffentlichkeit wird der Rowdy zum König. Dass die Emotionen sowohl zu Hause in Partnerschaften und Ehen als auch am Arbeitsplatz in modernen Dienstleistungsunternehmen herausgefordert werden, zeigt die Forschung Hochschilds. Die profitorientierten Unternehmen verlangen von ihren <?page no="166"?> 167 Angestellten Emotionsarbeit, damit sich ihre Konkurrenzchancen erhöhen. Den Angestellten bleibt nichts anderes übrig, wenn sie ihre Stellen nicht aufs Spiel setzen wollen, als die Gefühlsregeln und die Forderung nach Gefühlsmanagement, die ihnen die Unternehmen auferlegen, zu akzeptieren (mehr dazu im Kapitel »Arbeit und Gefühl«). Wie Denzin demonstriert, sind Emotionen ein Fokus der Massenmedien und spielen eine äußerst wichtige Rolle bei Sozialisationsprozessen - nicht nur wenn es um Liebe, Romantik und die »heilige« Familie geht, sondern auch bei den wichtigsten gesellschaftlichen Gefühlsnormen. Die Massenmedien vermitteln die »moderne« Botschaft der gesellschaftlich erwünschten alkohol- und drogenfreien Routineliebe innerhalb und Entemotionalisierung außerhalb der Familie und verstärken so eine Tendenz, welche in den historischen Studien Stearns belegt wird. Wie Hochschilds, Cancians und Denzins Untersuchungen zeigen, ist aber die Familie der Ort, an dem persönliche und gesellschaftliche Probleme auftauchen und an dem Geschlechter- und andere Ideologien aufeinander prallen, was zu heftigen Emotionen, Konflikten und Gewaltausbrüchen führt. Auch die Forschung zu Arbeit und Familie hilft, die Sicht der Wirklichkeit, als von Status- und Machtstrukturen völlig bestimmt, zu relativieren. Sie zeigt nämlich, dass sich sowohl die Angestellten am Arbeitsplatz als auch die im Prinzip Machtlosen zu Hause auf der Hinterbühne oder sogar auf der Vorderbühne zu wehren wissen. Wenn die Vorderbühne zum Handlungsort wird, gelingt es ihnen manchmal mit Hilfe von Forderungen, Verhandlungen und Konflikten, die Interpretationsrahmen und die Gefühlsregeln, vielleicht sogar die Status- und Machtpositionen, wenigstens ein bisschen zu ihren Gunsten zu verändern. Gleichzeitig mit diesen mehr oder weniger erfolgreichen Kämpfen um Anerkennung stellt der Spätkapitalismus kollektiven Neid und Wut als laufende Kommentare über die gegenwärtige Lebenschancenpolarisierung her. Wie Neckel betont, produziert der Spätkapitalismus entbehrliche Klassen, die in Verzweiflung und Wut über ihr Dasein als Ausgeschlossene leben. Sie <?page no="167"?> 168 wenden diese Wut gegen sich selbst und andere. Zugleich entstehen im Spätkapitalismus, der angesichts der steigenden Arbeitslosigkeit, der neuen Erbschaftwelle, schneller Karrieren in der Unterhaltungsbranche und Blitzprofite an der Börse, ohne eine glaubhafte Legitimierung der Verteilung von Lebens- und Einkommenschancen auskommen muss, frustrierte Mehrheiten, die Wut gegenüber den Ausgeschlossenen und Neid gegenüber den Erfolgreicheren spüren. So wie der kapitalistisch-demokratische Alltag, so ist auch der Spätkapitalismus die Hebamme explosionsartiger Emotionen. Anmerkung * Die Erstfassung dieses Textteils entstand auf Anfrage von Ansgar Klein und Frank Nullmeier für Klein, A. und F. Nullmeier, Hrsg. 1999. Masse - Macht - Emotionen: Zu einer Politischen Soziologie der Emotionen. Opladen/ Wiesbaden. Westdeutscher Verlag Literatur Averill, J. R. 1980. »A Constructivist View of Emotion« in Emotion: Theory, Research, and Experience. Edited by R. Plutchik and H. Kellerman. San Diego/ London. 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Obwohl nach dem Zweiten Weltkrieg die Organisationssoziologen Emotionen nicht als einen unabhängigen Analysegegenstand untersuchten, haben sie Emotionen aber auch nicht völlig verbannt. In diesem Kapitel werde ich wiederholt die Texte des Mainstream der Organisationssoziologie erwähnen, um diese These zu untermauern. Jetzt möchte ich den Leser dazu einladen, den Verfasser des folgenden Textes zu erraten: »Kindness and friendliness become aspects of personalized service … rationalized to further the sale … [R]ules and regulations … stereotype … relations with the customer … and loyalty to … organization requires that [they] be friendly, helpful, tactful, and courteous at all times … Many … are quite aware of the difference between what they really think of the customer and how they must act … The[ir] smile … is a commercialized lure … ›Self-control‹ pays off. ›Sincerity‹ is detrimental to one’s job, until the rules of salesmanship and business become a ›genuine‹ aspect of oneself. Tact is a series of little lies about one’s feelings, until one is emptied of such feelings.« Die Leser, die mit Arlie Hochschilds »modernem« Klassiker auf dem Gebiet der Soziologie der Emotionen vertraut sind, denken wahrscheinlich, dass dieser Auszug aus ihrem Buch The Managed Heart stammt. Damit liegen sie leider völlig falsch. Der Autor ist <?page no="173"?> 174 C.W. Mills und es handelt sich um seinen »alten« Klassiker: White Collar. In dem hier zitierten Textteil spricht Mills ein neues Phänomen an - die Arbeit in Warenhäusern, einer neuen Form der formellen Organisation, die auf dem »großen anonymen Markt der Großstadtareale« zu seinen Lebzeiten entstand (Mills 1956: 182 - 183). Mills und Hochschild ziehen sehr ähnliche Schlussfolgerungen hinsichtlich der Arbeit von Angestellten in großen Dienstleistungsunternehmen, die ihre Emotionen für ihren eigenen Zweck der Profitmaximierung instrumentalisieren und Entfremdung zwischen der Person und ihren eigenen Gefühlen verursachen: »Während des normalen Arbeitsganges, wird die Verkäuferin selbstentfremdet, weil ihre Persönlichkeit zum Werkzeug eines fremden Ziels wird« (Mills 1957: 184). Bevor ich mich Hochschilds »Klassiker« samt der Debatten und Forschung, die sie inspirierte, zuwende, wird die Frage behandelt, in welchem Sinne wir die Organisationen als emotional betrachten können. Danach werde ich mich mit Großunternehmen und deren zur Zeit noch wichtigsten internen Hauptakteuren - Managern und Angestellten - beschäftigen, um zu zeigen, welche Emotionen ihnen die wissenschaftliche Literatur zuschreibt. Diese Literatur besteht vorwiegend aus analytisch-empirischen Artikeln mit völlig unterschiedlichen Ansätzen, die über verschiedene Forschungsprojekte berichten. Obwohl ich mein Bestes versuchen werde, um sie zu einem Ganzen zusammenzuführen, sollte in diesem Kapitel kein kohärentes Bild erwartet werden, da es ganz einfach nicht existiert. Nur in einem Punkt stimmen viele Beiträge überein: Sie sind aus der konstruktivistischen Akteursperspektive geschrieben. Wenn ich am Ende dieses Kapitels Hochschilds The Managed Heart und dessen Forschungsecho schildere, bleibt mein Fokus auf Unternehmen und deren Manager und Angestellte gerichtet. Organisationen und Emotionen** Die normale Perspektive auf die formellen Organisationen ist entweder rational oder normativ. Organisationen werden als ko- <?page no="174"?> 175 gnitive, zweckrationale, problemlösende Entscheidungsträger behandelt, die auf Grundlage ihrer eigenen Interessen und Strategien oder ihrer eigenen Wert- und Normsysteme in ihre Umwelt aktiv intervenieren. Bei näherer Betrachtung wird aber deutlich, dass eine große Mehrheit dieser Organisationen als ein Set von legal-rationalen Regeln für Gefühlsmanagement und als ein Substitut für authentische Gefühle analysiert werden kann. In dieser Perspektive stellen diese Organisationen gezähmte, dafür aber quasi-versteinerte Emotionen her, um die launischen und unvorhersehbaren oft unbegrenzten Gefühle zu ersetzen. So kann zum Beispiel ein Wirtschaftsunternehmen - einer der vermutlich rationalsten korporativen, organisierten Akteure - als ein komplexes, legal-rationales System aus Kontrollen, Einschränkungen und Balanceverfahren gesehen werden. Dieses System kontrolliert und beschränkt den sonst unbegrenzten und irrationalen Impuls des Erwerbsstrebens sowie den ebenso unbegrenzten und dem Genuss frönenden Konsumimpuls (Weber 1978: 9). Die Unternehmenssatzung spezifiziert die erwünschte Intensität, Richtung und Dauer des Erwerbsstrebens und des Konsums, indem sie das Profit- und Investitionsniveau vorschreibt, eine friedliche Erwirtschaftung der Profite verlangt und den Zeitrahmen definiert, innerhalb dessen bestimmte Profite zu erreichen sind. Aus derselben Perspektive können solche Organisationsziele wie »Profit« oder »Hilfe für die Bedürftigen« oder »Solidarität« als Intentionen verstanden werden, bestimmte Emotionen zu kreieren und aufrecht zu erhalten. Die Organisationssatzung kann als Regel für das Emotionsmanagement, das vorschreibt, wie diese Emotionen hergestellt und gezeigt werden sollten, verstanden werden. Viele Treuhandfonds, philanthropische Stiftungen, Wohlfahrtsorganisationen und Regierungsbehörden lassen sich als Organisationen verstehen, die etabliert worden sind, damit das sonst flüchtige, willkürliche und ungeplante Mitgefühl für die Bedürftigen einer Stabilisierung, Systematisierung und Reglementierung unterworfen wird (Barber 1983; McGill 1941 - 2: 280). Letztlich haben Berufs- und Handelsorganisatio- <?page no="175"?> 176 nen nicht nur die Konsolidierung und Regulierung der Intragruppensolidarität zum Ziel, sondern auch das Erwecken und langfristige Sichern des öffentlichen Vertrauens (Barber 1983). Webers kultur-historischen Analysen folgend, kann behauptet werden, dass bestimmte Leidenschaften, Gefühle und Sensibilitäten schon lange in unorganisierter, kulturgeschichtlicher Form in der westlichen Welt existiert haben. Manche haben dann die Etablierung von rationalen Organisationen, deren Verwirklichung durch Emotionen stabilisiert und rationalisiert wurde, motiviert. Aber, und hier kommt der strukturelle Teil des Arguments, wenn diese Organisationen bereits gegründet wurden, haben sie, mittels Modifikationen von formellen Regeln und Verfahren, neue Emotionen konstruiert und verfolgt. Diese Emotionen sind zwar anders, aber trotzdem verwandt mit Gefühlen, die den beschriebenen Prozess initiert hatten. Organisationen erschaffen Emotionen auf eine weitere Art und Weise. Sie legen den Individuen, die für sie arbeiten und mit dieser Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen, bestimmte Emotionen auf. Ist dieses Argument akzeptabel, dann folgt daraus, dass viele formelle Organisationen nicht fühlen, aber emotional sind. Organisationsemotionen sollen als intendierte Konstruktionen verstanden werden, die aus verpflichtenden und zwingenden Organisationsregeln hergestellt werden. Formelle Organisationen verlangen »Emotionsdisplay«, »Oberflächenhandeln« und »inneres Handeln« von ihren Mitgliedern, um ihre zielbezogenen Selbstdefinitionen aufrecht zu erhalten. Die Satzung der formellen Organisationen beinhaltet formale Regeln, die fordern, dass die Individuen ihre Gefühlsarbeit auf eine bestimmte Art für die Organisation leisten müssen. Diese Individuen sollen die erwünschten Emotionen zeigen und die unerwünschten Gefühle verstecken und verdrängen. Genauso wie viele Berufe verlangen auch viele Organisationen von ihren Mitgliedern bzw. Angestellten Respekt für Gefühlsregeln, Darstellungsregeln [display rules] und die Fähigkeit zum innerem Handeln [deep acting] (Hochschild 1979: 570). In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass die <?page no="176"?> 177 Individuen, die im Namen von Organisationen agieren, Emotionen zur Präsentation herstellen müssen, um zur Aufrechterhaltung des Selbstbildes der Organisation beizutragen. Die Bankiers sollen sowohl Reserviertheit, Takt und Fingerspitzengefühl demonstrieren als auch Vertrauen und Zuversicht in der Kundschaft erwecken. Idealtypische Beamte und Wissenschaftler sollen »affektive Neutralität« zur Schau stellen, während von führenden Geschäftsleuten erwartet wird, dass sie sich, ihre Position und die Organisation als glaubwürdig, sehr energisch, tadellos, zuverlässig, erfolgreich und »gut drauf« präsentieren (Hochschild 1979: 570). Wie dieses Kapitel zeigen wird, müssen Unternehmensangestellte viele intensive Gefühle bewältigen, damit sie ihre Organisationsrollen spielen und aufrecht erhalten können. Im Besonderen schaffen es die Manager, die gleich besprochen werden, nicht völlig, den Vorschriften des Managements zu folgen. Beamte entfalten Leidenschaft und Enthusiasmus statt Neutralität. Manager in Wirtschaftsunternehmen spielen nur mühsam ihre Rollen, ihren Gefühlen der Furcht, Angst und Desillusionierung zum Trotz. Aber sie schaffen es ganz einfach nicht, dem Skript zu folgen, ihre Rollen perfekt zu spielen. Sie versagen, wenn sie Enthusiasmus empfinden sollten. Von Angst und Furcht geplagt, gehen sie kein Risiko bei ihren Entscheidungen ein. Stattdessen folgen sie Routinen und führen neue bürokratische Regeln ein. Manchmal schockieren sie andere damit, dass sie nicht mehr in der Lage sind, weiterzumachen. Noch schlimmer, manche fallen in die Rolle des öffentlichen Unternehmenskritikers. Die Gefühle der Angst, Furcht oder Enttäuschung, die das schauspielerische Versagen verursachen, sind noch ein wichtiger Grund dafür, dass die Unternehmen ihre Ziele nicht konsistent verfolgen können und sich von ihren ursprünglichen Zielsetzungen immer weiter entfernen. <?page no="177"?> 178 Der Mythos des Managers als Träger der Rationalität Mit relativ großer Zuversicht kann man behaupten, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg die Erforschung von Organisationen, egal ob sie an Soziologie- oder Wirtschaftsinstituten, in Organisation Studies oder Management-Schulen betrieben wurde, immer mehr auf Manager und dessen angeblich »rationale« Entscheidungen konzentrierte. Spätestens mit der Nobelpreisrede Simons (1978) aber wurde der Unternehmensmanager, der bis dahin als Verkörperung der »perfekten Rationalität« galt, als der nackte König entlarvt. Der neue Manager besitzt nur eingeschränkte Rationalität [bounded rationality]. Es stellte sich heraus, dass er hart arbeiten muss, um die Probleme und ihre Ursachen zu identifizieren, um Informationen zu sammeln und zu bearbeiten oder Lösungen zu formulieren. Er muss unter Zeitdruck mit der ungewissen Zukunft kämpfen. Nutzenmaximierung bei der Zielverfolgung konnte nicht nachgewiesen werden. Stattdessen galt für den idealtypischen Manager nur noch »satisficing«: »The classical model calls for knowledge of all the alternatives that are open to choice. It calls for complete knowledge of, or ability to compute, the consequences that will follow on each of the alternatives. It calls for certainty in the decision-maker’s present and future evaluation of these consequences. It calls for the ability to compare consequences, no matter how diverse and heterogeneous, in terms of some consistent measure of utility. The task, then was to replace the classical model with one that would describe how decisions could (and probably actually were) made when the alternatives of search had to be sought out, the consequences of choosing particular alternatives were only imperfectly known both because of limited computational power and because of uncertainty in the external world, and the decision maker did not possess a general and consistent utility function for comparing heterogeneous alternatives .« (Simon 1978: 285) <?page no="178"?> 179 Andere kritische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler trugen dazu bei, den Rationalitätsmythos zu schwächen, als sie, ohne auf die Grundannahme der Rationalität verzichten zu wollen, zugaben, dass Emotionen einen negativen Einfluss auf Entscheidungen haben. Diese Wissenschaftler brachten Entscheidungsfindung mit Emotionen in Zusammenhang. Manche argumentierten, um den Begriff der Rationalität zu retten, dass Emotionen »nur« die Entscheidungskriterien beeinflussen, weil Emotionen die Kosten und Nutzen, die mit verschiedenen Handlungsalternativen verbunden sind, färben (Elster 1999: 284,287,301). Aus demselben Grund schlugen ihre Gegner vor, dass Emotionen einen positiven Einfluss haben, da sie bei unschlüssigen Fällen bei der Entscheidungsfindung helfen und diese somit beschleunigen. Manche gingen weiter und behaupteten sogar, dass Emotionen die Entscheidungsqualität verbessern, indem sie die Individuen dazu bringen, sich auf die wichtigsten Aspekte der Entscheidungssituation zu konzentrieren. Im Großen und Ganzen haben sie also gezeigt, dass die Idee der »puren« und »perfekten« Managementrationalität nicht aufrecht erhalten werden kann. Auf die eine oder andere Weise spielen Emotionen eine wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung. Manager als emotional men Die Vorreiter der Soziologie der Emotionen Wenn wir jetzt diese Perspektive verlassen und die Manager aus der Perspektive der Soziologie der Emotionen analysieren, wird dies uns helfen, die enge Fokussierung des Rational-Choice-Ansatzes auf Entscheidungssituationen aufzubrechen. Stattdessen können wir uns auf den Konflikt konzentrieren, den die Manager zwischen ihren Rollenerwartungen und ihren eigenen Gefühlen erleben. Obwohl wir über nur wenige Untersuchungen mit explizit dieser Perspektive verfügen, werfen sie ein viel breiteres Licht auf die Manager und ihre Situation. Zusammen mit Untersuchungen, die von Mainstream-Organisationssoziologen durchgeführt wurden, unterminieren sie sehr stark die Sicht der Mana- <?page no="179"?> 180 ger als rationale und selbstkontrollierte Entscheidungsträger. Durch diese Mainstream-Untersuchungen, die sich über die letzten fünf Dekaden erstrecken, gewinnen auch die neueren Untersuchungen, die explizit die Perspektive der Soziologie der Emotionen einnehmen, an zusätzlichem Gewicht und Zuverlässigkeit. Beide zeigen, dass vor allem Furcht und Angst, aber auch Enthusiasmus zu immanenten Unternehmens- und Managereigenschaften gehören. Dabei sind diese Eigenschaften nicht nur als Resultate von Strukturwandel und Entlassungen, die die letzten 20 Jahre des 20. Jahrhunderts prägten, zu verstehen. Die Mainstream-Untersuchungen von Gouldner, Kanter, Weick oder Jackall, mit denen ich beginnen werde, möchte ich gern als unintendierte Vorgänger der Soziologie der Emotionen einstufen. Zwar werden in diesen Untersuchungen Emotionen nicht als ein selbstständiges Untersuchungsobjekt betrachtet, aber sie spielen eine äußerst wichtige Rolle in der Analyse. Mit Ausnahme Kanters werden in allen Untersuchungen Entscheidungs- und Versagensängste der Manager betont und als ausschlaggebend für die Organisationsdynamik nachgewiesen. In seiner Sukzessionsstudie von 1950 widmet Gouldner (1980) den Befürchtungen und Ängsten der neuen Tochterunternehmensführer genauso viel Aufmerksamkeit wie denen der Manager und Arbeiter, die in diesem Unternehmen verblieben sind. Der neue Manager, der von der Mutterunternehmensführung gewarnt wurde, dass seine Karriere von seinen Erfolgen abhinge, leidet an Versagensängsten. Die Manager und Arbeiter wiederum befürchten Entlassungen. Gouldner ist es gelungen zu demonstrieren, dass gerade diese Befürchtungen und Ängste, die parallel zu gegenseitig fehlendem Vertrauen verlaufen, zur Formalisierung der Organisationshierarchie und deshalb auch zur weiteren Bürokratisierung des Tochterunternehmens führen. Gouldner zeigt, dass die Emotionen ernsthafte, strukturelle Konsequenzen haben. In ihrer Untersuchung von 1970 zu Machthierarchien in amerikanischen Großunternehmen kritisiert Kanter (1981) sowohl die Organisationssoziologen als auch die Manager dafür, dass sie die Unternehmenswirklichkeit mit Maskulinität und Ra- <?page no="180"?> 181 tionalität gleichsetzen. Egal ob man Taylorismus, Human Relations oder neuere Management-Ansätze näher betrachtet, propagiert wird stets die Meinung, dass die Manager hoch rational, immer selbstkontrolliert und kompetent sind. Frauen und Arbeitern werden Kompetenz und Rationalität abgesprochen. Sie werden als höchst emotional dargestellt, wobei es die Rolle des Managers ist, diese beiden sozialen Gruppen und ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten (Kanter 1981: 404 - 412). Die Betonung der Rationalität und Maskulinität führt zur nicht wahrgenommenen Ausschließung von Frauen und Emotionen aus dem Blickfeld sowohl der Wissenschaft als auch des Managements. Die Manager und ihre Rationalitätsideologie, die von der Organisationssoziologie unterstützt und weiter verstärkt wird, haben die Emotionen in Unternehmen ausbeutbar, mundtot und unsichtbar gemacht. In seiner Analyse von 1970 über Manager bei ihrer Arbeit argumentiert Weick (1981), dass diese, genauso wie die »normalen« Menschen, die Wirklichkeit durch die Übernahme von vielen, schon etablierten Situationsdefinitionen, Vorstellungen und Deutungsmustern konstruieren. Nur - in dem untersuchten Fall geht es um die Wirklichkeit der Organisation. Die Angst vorm Versagen erklärt, warum die Manager viele Handlungsalternativen von vornherein ausschließen, viele gar nicht in Erwägung ziehen, andere als unrealistisch oder zu riskant verwerfen. Die Neuen, statt Risiken einzugehen und innovative Lösungen auszuprobieren, so wie es Organisation Studies und Rational-Choice annehmen, verlassen sich darauf, was nach der Organisationserfahrung Geltung hat. Und das geschieht, obwohl diese Erfahrung zum großen Teil nicht real ist, sondern bloß aus Versagensängsten und Gedankenexperimenten konstruiert wird. Die Neuen wollen auch keine Risiken eingehen. Sie reproduzieren die althergebrachten Entscheidungsstrukturen und damit auch die Entscheidungsprämissen. Als letztes Beispiel möchte ich die Untersuchung von Jackall (1988) anführen, der den Ängsten und Befürchtungen von amerikanischen Managern, die er interviewte, viel Platz einräumt. <?page no="181"?> 182 Zwei Drittel des Buches beschäftigen sich mit der Angst vor Autorität, Karrierechancen sowie vor einem plötzlichen Karrierenende. Auf fast jeder zweiten Seite werden diese Punkte erwähnt. Jackall argumentiert, dass die Manager mit einer schwer belasteten Vorahnung von Organisationswillkür leben. Sie müssen mit Ungewissheit leben, die aufgrund fehlender dauerhafter Loyalitäten, unzuverlässiger Informationen über die Kollegen und Chefs - von denen gerade ihre Karrierechancen abhängig sind - entsteht. Konfrontiert mit ständiger sozialer und wirtschaftlicher Ungewissheit leiden die Manager unter permanenter Angst. Sie stehen aber unter dem Druck, Arbeitsenthusiasmus zur Schau stellen zu müssen (Jackall 1988: 35,69,79). Ihre Angst hat viele Äußerungsweisen - unter anderem bleiben sie viel länger als notwendig im Büro, um dadurch den harten Berufsethos zu demonstrieren, keine Neuigkeiten zu verpassen, sich bei Kollegen und Chefs einzuschmeicheln und um die Solidarität und Loyalität ständig nachzuweisen. Diese Untersuchungen zeigen, wie omnipräsent Emotionen in Unternehmen - den angeblichen Hochburgen der Rationalität - sind. Sie zeigen auch, dass die Emotionen ausschlaggebende Struktur- und Handlungskonsequenzen haben. Schließlich decken sie auf, dass Angst und Furcht hinter den alltäglichen Unternehmensroutinen stecken. Diese zwei Emotionen sind der Schlüssel zum Verstehen der Schwierigkeiten der Manager, ihre Rollen wie vorgesehen zu spielen. Wie uns Jackall informiert, geben Manager, sobald sie frei sprechen können, offen zu, dass sie Angst vor persönlichem Versagen in Karriere und Unternehmen haben. Wie uns Gouldner, Weick und Jackall zeigen, haben die Manager Angst vor Entscheidungen, die gravierende Konsequenzen für sie selbst oder für die Unternehmen, die sie managen, bedeuten könnten. Deshalb gehen sie Risiken nicht ein. Die Angst treibt sie dazu, Entscheidungsroutinen zu verfolgen. Es sind auch Angst und Furcht, die den Manager davon überzeugen, dass mehr bürokratische Regeln von Nöten sind - anstatt mit Untergeordneten zu kommunizieren. <?page no="182"?> 183 Manager als Neurotiker und Schauspieler Männliche Manager kontrollieren die (Gefühls-)Arbeit von anderen - sowohl die der Frauen als auch von weniger mächtigen Männern, von denen verlangt wird, die Gefühle der Kundschaft, der Patienten, der Passagiere oder des Publikums zu managen. »Whether the management of the professions, the state or business, management is centrally concerned with the management and control of emotions ...« (Hearn 1993: 161,160). Manchmal müssen auch die Manager Wut verwenden, um ihre Kontrolle über andere bestätigt zu wissen. Mit anderen Managern erleben sie »a complex mixture of solidarity and competition, with the associated emotions of joy, when these are realized and sadness, anger and fear when they are challenged or threatened« (Hearn 1993: 154). Als Chefs gewinnen sie emotionale Stärke von ihren Sekretärinnen, von denen sie Sympathie und Unterstützung bekommen (Pringle in Putnam and Mumby 1993: 45). Die Sekretärinnen spielen die Rollen von Bürofrauen [office wives], Sklavinnen oder Ammen. Sie kümmern sich um die emotionalen Bedürfnisse ihres Chefs. Von ihnen wird erwartet, dass sie diese Bedürfnisse im Voraus erraten, dass sie die Chefs ermutigen und sich um sie Sorgen machen. Aus der Sicht der neuen psychoanalytischen Perspektive ist selbst die so genannte Rationalität mit ihren vielen, sich wiederholenden Elementen - dem sich Verlassen auf die quasi-wissenschaftlichen Verfahren mit ihren ständigen Planungen, Überwachungen, Auswertungen, Tests und Prognosen - nicht mehr als »... rituals whose function is entirely the allaying of managers’ anxieties in a highly unpredictable and even chaotic environment« (Gabriel 1998: 305). Die Manager erleben oft zwei Gefühle - Furcht und Angst -, die sie regelrecht aus dem Gleis werfen, aber unterdrücken sie genauso, wie sie anderen ihre Gefühle aufdrücken - im Namen der maskulinen Rationalität. Wie Kanter zeigt, scheinen sie dazu bereit zu sein, um ihre Macht im Unternehmen und in ihren Unternehmensbereichen zu behalten. <?page no="183"?> 184 Eine faszinierende amerikanische Untersuchung von entlassenen Managern unterstützt das Bild des Managers als derjenige, für den Kontrolle und Rationalität von zentraler Bedeutung sind, auf den Routine beruhigend wirkt. Basierend auf zahlreichen autobiographischen narrativen Interviews, berichtet Newman (1988; s. auch Koeber 2000) von Schock, Wut, Frustration und tief empfundener Scham, die die entlassenen Manager überwältigen. Da sie Qualifikationen und Leistung als Voraussetzungen des Erfolgs sehen, an die Meisterung des eigenen Schicksals und an den amerikanischen Erfolgsmythos glauben, haben sie keine andere Wahl, als sich selbst die Schuld für die Entlassung zu geben. Plötzlich stehen sie da, ohne ihre Einkünfte, ohne hohe berufliche- und soziale Position und den damit verbundenen Privilegien, die zusammen ihren moralischen Wert bestätigten. Sie erleben Schock, Wut und Frustration. Ihre ganze Welt zerbricht. Viele von ihnen gehen unter der Last der Arbeitslosigkeit und der demütigenden Suche nach einem neuen Job zu Grunde. Die schützende Routine entfällt. Mit Arbeitslosigkeit werden sie auf eine emotionale Schaukel gesetzt. Sie erleben tiefe Angst, intensive Hoffnungen bei jeder neuen Chance, und, wenn sie kein Jobangebot bekommen, eine nicht zu verarbeitende Enttäuschung und Frustration (Newman 1988: 48). Aus Newmans Sicht sind sie Opfer: »They are victims of their belief in meritocratic individualism as much as they are victims of economic adversity« (Newman 1988: 94). Manager in der öffentlichen Verwaltung Unser nicht sehr umfangreiches Wissen über den öffentlichen Sektor in der Phase des Organisationswandels impliziert, dass die Manager auch in diesem Sektor intensive, aber versteckte Emotionen erleben. Vince and Broussine (1996) baten die Manager von sechs unterschiedlichen englischen Organisationen des öffentlichen Dienstes, ihre Gefühle zu der sich gerade entfaltendenden Reform zu zeichnen. Diese Zeichnungen haben die sehr <?page no="184"?> 185 intensiven, manchmal widersprüchlichen Gefühle von Spitzen- und Mittelniveaumanagern ans Licht gebracht. Die Zeichnungen zeigten Wut, Angst und fehlendes Vertrauen sowie Aufregung, Humor und Enthusiasmus. Das Gefühl der Machtlosigkeit war aber vorherrschend: »Some drawings revealed fear or dread, either in terms of the consequence to which [managers] felt emotionally attached. Some managers conveyed powerful images concerning the fear of personal catastrophe resulting from change. For example, one person drew himself receiving his … unemployment card; another drew gravestones; there were miserable faces; and there were menacing clouds on the horizon … In most cases, the mangers felt themselves to be powerless, debilitated, somewhat weakened by change ...« (Vince and Broussine 1996: 14) Auch in diesem Falle war eine wissenschaftliche Untersuchung nötig, damit diese Gefühle, die als emotionale Konsequenzen des Organisationswandels zu verstehen sind, überhaupt gezeigt und artikuliert werden konnten. Vince and Broussine (1996: 3 - 4) argumentieren, dass die Manager, die von der Kultur der Rationalität ihres Unternehmens völlig durchdrungen sind, es schwierig finden, ihre Gefühle zu artikulieren. Sie sind daran gewöhnt, ihre Gefühle als »irrational« und irrelevant bei der Problemidentifizierung und -lösungen einzustufen. Diese Gefühle sollen sie unterdrücken, in sich selbst und in ihrer Organisation, da sie als die Hauptquelle der Ineffizienz wahrgenommen werden (s. auch Kanter 1981: 404,408 - 409). Auch in Jackalls Untersuchung der von Angst dominierten, aber Enthusiasmus vorspielenden Unternehmenswelt wurden die Manager zum Opfer dieser Organisationswelt. Sie verwandeln sich in die hervorragendsten Schauspieler unserer Zeit, die, um Karriere machen zu können, den Spiel- und Displayregeln folgen und mit einer »iron self-control« ihre Emotionen und Intentionen verschleiern (Jackall 1988: 47,51,56 - 62). <?page no="185"?> 186 Auch Albrow postuliert eine riesige Disparität zwischen dem Öffentlichen und dem Persönlichen. Nun ist sein Untersuchungsgegenstand die Staatsverwaltung und seine Zentralfigur eine leidenschaftliche Führungsperson im öffentlichen Dienst. Er verbirgt seine arbeitsbezogenen, intensiven Gefühle vor der Öffentlichkeit. Die leitenden Reformer des British Public Civil Service zwischen 1939 und 1945, genauso wie die Reformer der 1980er, waren Männer, die sich durch ihre außergewöhnliche Leidenschaft, ihren Enthusiasmus und Diensteifer, die sie für ihre Arbeit empfinden, charakterisieren lassen (Albrow 1992: 320 - 323). Sie haben in ihren Untergeordneten Respekt, Enthusiasmus und Euphorie erweckt. Sie haben Charisma im Weber’schen Sinne. Im Gegensatz zu den Unternehmensführern und Managern, die bisher geschildert wurden, waren diese Männer in der Lage, nicht nur positive Gefühle beim Organisationswandel zu erleben, sondern diese Gefühle auch weiter zu vermitteln. Albrow setzt diese Beispiele ein, um zu argumentieren, dass die durch Robert Merton inspirierte Bürokratietheorie der Nachkriegszeit, die später von den Management-Schulen weiter geprägt wurde, völlig falsch liegt, wenn sie die öffentliche Bürokratie und ihre Verwalter als seelen- und gefühlslos schildert. Albrow erinnert uns daran, dass die Managementtheorie, die sich seit 1980 auf das Versagen in Unternehmen der westlichen Welt konzentriert, leidenschaftliche, charismatische Führung propagiert, die in den Angestellten Emotionen wie Enthusiasmus, Zuversicht, Optimismus, Vertrauen erwecken kann. Die Versetzung der Angestellten in ein emotionales Hochgefühl sei der Weg aus der Wirtschaftskrise. In dieser Theorie wird Leidenschaft einseitig mit Führung in der Politik oder Wirtschaft verbunden. Sie wird dem Beamten oder dem Bürokraten abgesprochen (Albrow 1992: 322). Deshalb verbreitet die Managementtheorie das Bild von politischer Führung oder des Entrepreneurs, die heroische Kämpfe gegen die angeblich lebenslosen (staatlichen respektive wirtschaftlichen) Bürokratien führen. Aus dieser Managementperspektive ist die charismatische Führung der <?page no="186"?> 187 Hauptträger der Emotion - Träger von Enthusiasmus, der notwendig ist, um versagende Unternehmen aus der Krise zu retten. Meines Wissens gibt es aber keine systematischen Forschungsprojekte, die diese These bestätigen oder widerlegen. Mit absoluter Sicherheit kann man nur sagen, dass die Managementtheorie der 1980er Jahre die Unternehmensrettung in starken, emotions- und loyalitätserweckenden Unternehmerführern suchte. Die bisher besprochene Literatur impliziert aber, dass nicht Enthusiasmus und Leidenschaft, sondern Furcht und Angst die Unternehmen durchdringen - eine Tatsache, die die Managementtheorie fast völlig ignoriert. Nur wenn sie die Untergeordneten besprechen, sind die meisten Managementtheoretiker in der Lage, Angst, Frustrationen oder Stress zu erwähnen. Das gilt vor allem, wenn es um Managementberatung geht, die empfiehlt, dass Manager Humor als Heilmittel einsetzen sollten. Weil aber diese Beratung die negativen Gefühle, von denen auch die Unternehmungsführung betroffen ist, nicht zu erkennen vermag, bleibt sie auf ihrem eigenen Kompetenzgebiet nicht nur blind, sondern auch ratlos. Manager in Unternehmen mit strong culture Unternehmen mit strong culture gehören insofern zu einem besonderen Unternehmenstyp, als sie von den Angestellten eine sehr starke Identifizierung mit dem Unternehmen verlangen. Die Untersuchung von Höpfl and Linstead (1993: 83 - 85) zeigt, dass es unter strong culture-Unternehmen auch solche gibt, die menschliche Schwächen und Naivität schamlos ausnutzen. Deren Verkäufer werden angestellt, um von Tür-zu-Tür oder von Freund-zu-Freund die Produkte ihrer Firma an den Mann zu bringen. Die Höpfl/ Linstead-Untersuchung zeigt, dass diese Unternehmen vor allem Menschen anstellen, die unter der Last von persönlichen oder finanziellen Problemen leiden. Diese Unternehmen binden die Anfänger an sich, indem sie ihnen Erfolg, <?page no="187"?> 188 Respekt und soziale Anerkennung versprechen und an ihre Emotionen appellieren. Zeremonien mit persönlichen Konvertierungszugeständnissen, regelmäßige Zusammenkünfte sowie expressive und luxus-betonte nationale Unternehmenstreffen dienen diesem Zweck. Teamleitern, denen beigebracht wurde, wie man die neuen Angestellten rekrutiert und wie man sie anhand eines vorgefertigten Skripts während der Arbeit zu motivieren hat, spielen eine Schlüsselrolle beim Bindungsprozess. Sie tragen die emotionalen Schwierigkeiten ihres Teams - eine Arbeit, die verlangt, dass man sich rund um die Uhr in zahlreichen Gesprächen und Handlungen engagieren muss. Wenn die Teamleiter, trotz ihres hohen Einkommens und vieler Privilegien, ihre Illusionen verlieren und nicht mehr in der Lage sind, ihren Glauben an den Erfolgstraum aufrecht zu erhalten, wird dieser Traum »... the source of dread, disgust, aversion« (Höpfl and Linstead 1993: 82). Von diesem Moment an, bis sie das Unternehmen verlassen, müssen sie sich täglich davon überzeugen, dass ihre Arbeit für das Unternehmen irgendwelche Bedeutung hat und emotionale Belohnungen mit sich bringt. Obwohl sie erschöpft und angewidert sind, müssen sie die Last des Weitermachens ertragen [»bear« the effort of carrying on] (Höpfl and Linstead 1993: 76,86). Whistleblowers Erschöpfte und plötzlich skeptisch gewordene Manager stellen keine Ausnahme dar. Jedem Manager kann es passieren, dass er nicht mehr in der Lage ist, die Illusionen, die mit dem Unternehmensleben verbunden sind, aufrecht zu erhalten. Sie verlieren dabei ihre Fähigkeit, ihre Managerrollen weiterzuspielen (Höpfl and Linstead 1993: 89 - 90). Das auslösende Ereignis können Änderungen in Unternehmenswerten sein, »unfaire« Entlassungen, Umweltschäden, »rat-race« oder hohe Raten aufs eigene Haus, Auto und Möbel - irgendeine Sache, die es erschwert, die eigene Sicht auf sich Selbst mit der Unternehmenssicht auf dieses Selbst zusammenzubringen. <?page no="188"?> 189 Wenn ein Manager seine Ambivalenz hinsichtlich des Unternehmes entdeckt, spüren seine Kollegen mit großer Wahrscheinlichkeit ein tiefes Unbehagen. Sie sind beunruhigt, wenden ihren Blick ab, ändern ihre Körperhaltung: »They [become] anxious for the speaker to finish or to comport himself to the task and to remain within the consensual frame of action« (Höpfl and Linstead 1993: 90 - 91). »The show must go on.« Manchmal passiert es aber, dass Junior-Manager anfangen, sich auf zynische Witze, Parodie und Ironie zu verlassen, um sich von der gegenwärtigen Politik ihres Unternehmens oder ihres Senior-Managers zu distanzieren (Rodrigues and Collinson 1995: 742). Eine Studie über Managerhumor in einem großen amerikanischen Computerunternehmen zeigt, dass auch die Senior-Manager auf Humor zurückgreifen, um ihre Unzufriedenheit, Spannung, milde Aggression, sogar offenen Widerstand gegen ihr Unternehmen oder die Regel, die sie einzuführen haben, auszudrücken (Hatch and Ehrlich 1993: 518). Wenn sich Individuen bereits entschieden haben, Mitglieder in einer Organisation zu werden, entwickeln sie eine tiefe Loyalität zu dieser Organisation. Manche werden sogar zu »strong identifiers« (Hirschman 1970; Pizzorno 1986). Obwohl sich ihre Organisation oder ihre Produkte verschlechtern, obwohl sich eine Kluft zwischen ihrer eigenen Moral und der Organisationsmoral entwickelt, bleiben diese Individuen ihrer Organisation treu. Wie Flam zeigt (1993, 1998), gilt diese Aussage sowohl für die Manager als auch für die Arbeiter, sowohl für die Angestellten von westlichen Unternehmen als auch für die Mitglieder der kommunistischen Partei im damaligen Sowjetblock vor dem Zusammenbruch 1989. Wie es die bereits erwähnten Untersuchungen belegen, verlassen sich Manager und Arbeiter lieber auf Humor, anstatt die Organisation mit ihrem Kritikbedürfnis offen zu konfrontieren. Nicht nur die Loyalität und die Selbstidentifizierung mit der Organisation, sondern auch mächtige Befürchtungen und Ängste verhindern, dass die kritischen Organisationsmitglieder ihre neuen Einsichten konsequent umsetzen. Individuen haben <?page no="189"?> 190 Angst, ihre Karrieren, Lebensstandards und Familienmitglieder durch ihre Handlungen zu gefährden. Sie haben Angst, mit der Leere [void] konfrontiert zu werden. Sie müssen ihre Angst vor Autorität überwinden und ihre Vergangenheit, in der sie - nach ihrer neuen, kritischen Sicht der Sache - selbst unmoralisch handelten, verdammen. Nicht nur die Loyalität und Selbstidentifizierung mit der Organisation oder die Selbsttäuschung darüber, dass sie mit ihrem Verbleib in der Organisation das Schlimmste verhindern können (Hirschman 1970), sondern auch diese Furcht und Ängste verhindern den »Exit« - den Austritt aus der Organisation. Dies erklärt, warum die Organisationskritiker oft mehrere Jahre brauchen, bevor sie sich für einen »Exit« entscheiden. Dies erklärt auch, warum so viele diesen Schritt nie wagen. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass Widerstand von der Gruppe der Gleichartigen [peers] oder in der eigenen Gemeinde das Individuum zum Protestverhalten ermutigt (Milgram 1974; Coley 1969; Cole 1980; Fireman et. al. 1979; McAdam 1988; Moore 1978; Rüdig 1990; Scott 1990). Wenn andere kritisch sind, spürt der Organisationskritiker eher Scham über die eigene Feigheit und fühlt gleichzeitig den nötigen Mut, seine kritische Meinung zu äußern. Die wachsende Literatur zum Thema whistleblowers, d.h. Angestellte, die die Öffentlichkeit vor der Gefahr oder den Missständen warnen, die durch ihr Unternehmen verursacht werden, zeigt, dass das Hauptziel von whistleblowers die Unternehmensreform ist. Whistleblowers gehören aus zwei wichtigen Gründen zu einer eher seltenen Spezies. Die Unternehmen pflegen vor allem diejenigen Individuen, die loyal bleiben, da ihnen an Karriere gelegen ist. Diese Individuen erleben ständige Mobilitätsangst und fürchten sich, sowohl vor ihren Kollegen als auch ihren Chefs. Außerdem setzen Unternehmen ihre Angestellten unter permanenten Druck, die vom Unternehmen verursachten Fehler oder Gefahren zu ignorieren oder geheimzuhalten. Die meisten Angestellten handeln deshalb ausschließlich nach der Organisations- oder sogar einer Situationsmoral (Jackall 1988). <?page no="190"?> 191 Unternehmen haben Angst vor whistleblowers (Jackall 1988: 109,111,146,206). Ihre ersten kritischen Anmerkungen werden ignoriert und im Keime erstickt. Wenn sich diese Strategie als ineffektiv erweist und die whistleblowers in der Öffentlichkeit auftreten, reagieren die Unternehmen darauf mit Entlassungen, Schwarzen Listen, Rufschädigung, Verleumdungskampagnen und Verklagungen (Glazer and Glazer 1999: 277 - 278, 291 - 292). Sie sorgen auch dafür, dass ihre Kritiker physisch oder polizeilich bedroht und verhaftet werden. Whistleblowers stellen eine Ausnahme dar - sie sind die Manager oder Angestellten, die trotz ihrer Ängste um ihre Jobs diese riskieren und dabei Familie und Lebenschancen aufs Spiel setzen, um die Vergehen von Unternehmen ans Licht zu bringen (Jackall 1988; Flam 1993: 72 - 73; Flam 1998: 87 - 93; Glazer and Glazer 1999: 280 - 281, 289). Die in den USA, Israel und in der ehemaligen Tschechoslowakischen Republik durchgeführten Interviews weisen darauf hin, dass whistleblowers ihre Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen und ihre Angst vor Isolierung und Ablehnung durch ihre tiefe Überzeugung überwinden, dass die Öffentlichkeit durch das Unternehmen gefährdeter ist als sie selbst. Ihre Wut stärkt sie. Sie motiviert die whistleblowers nicht aufzugeben (Glazer and Glazer 1999: 289 - 291). Manche whistleblowers meinen nur deshalb weiterkämpfen zu können, weil die Gruppe der Gleichartigen [peers] in sie Vertrauen setzt und sie mit Kameradschaft unterstützt. Die wahren Gefühle In Terkels Working (1972) erwähnen die interviewten Personen oft das psychisch schwer zu ertragende Rollenspiel, zu dem sie sich durch ihre Arbeit gezwungen fühlen. Sie erklären, dass sie etwas vorspielen, weil sie Angst um ihre Jobs haben oder die schlechte Behandlung durch den Chef befürchten. Furchtlose Individuen, die sich weigern, ihre Rollen nicht oder nicht überzeugend zu spielen, zeigen Ungehorsam - »insubordination through manner« (Terkel 1972: 82 - 83). Sie bekommen einen <?page no="191"?> 192 schlechten Ruf, werden »trouble-makers« genannt und haben Schwierigkeiten, einen Job zu finden oder zu behalten (s. auch Nowak 1988). Terkels Buch mit ihrer massiven Beweisführung impliziert, dass die westlichen, angeblich rationalen Arbeitsorganisationen von einer wichtigen Ingredienz völlig abhängig sind - Furcht. Hohe Arbeitslosigkeit und die Furcht vor Autorität sind die wichtigsten zwei Voraussetzungen für gehorsame Rollenspiele (Hochschild 1983: 102, 116 - 117). Wenn der Einzelne geringe Chancen hat, eine alternative Arbeitsstelle zu finden, bedeutet dies eine vergrößerte Angst vor Arbeitslosigkeit und dem Chef (Barbalet 1998: 158,160). Faktoren, welche die Arbeitssicherheit fördern, wie entsprechende Gesetze, langfristige Arbeitskontrakte oder starke Gewerkschaften, helfen, diese Ängste zu verringern. In den 1950er und 1960er Jahren befand sich die kapitalistische Wirtschaft in einem Expansionszyklus. Er ermöglichte Vollbeschäftigung und langfristige Karriereorientierung. Der ökonomische Boom brachte auch institutionelle und individuelle Erwartungen hinsichtlich der »Normalbiographie«, mit ihren drei Phasen Ausbildung, Beruf und Rente hervor (Kohli 1985; Sennett 1998: 15 - 27). So lange wie sich die kapitalistischen Unternehmen eine stabile Belegschaft leisten konnten, so lange die kapitalistischen Firmen versuchten, Individuen so zu formen, dass sie sich an den langfristigen Zielsetzungen ihrer Firma orientierten, war die Annahme möglich, dass diese Unternehmen tatsächlich einer Weber’sche Bürokratie ähnelten. Sie boten Arbeitssicherheit, eine Karriere und Einkommen im Austausch für Loyalität und Unterordnung. Nicht nur die Angst vor Autorität oder Stellenverlust, sondern auch Loyalität banden die Angestellten an ihre Firmen. Seit Beginn der Wirtschaftskrise in den frühen 1970ern sind die Unternehmen nicht mehr in der Lage, »Normalbiographien« aufrechtzuerhalten. Newman (1988), Kanter (1991), Sennett (1998), Beck (1986) und Brose et al. (1993) zeigen, dass sich die kapitalistischen Unternehmen für ihr Profitstreben auf neue Methoden verlassen: Sie tun sich zusammen, restrukturieren sich, sie <?page no="192"?> 193 streamline, outcontract und outsource etc. (Brose et. al. 1993: 48). Für die Angestellten bedeutet dies ein wiederholtes Erleben von Entlassungen, Arbeitsplatzsuche, und, falls erfolgreich, eine Reihe von verschiedenen Arbeitgebern. Loyalität verschwindet, nur Angst und Zynismus bleiben (Newman 1988). Eine deutsche Studie aus den frühen 1980ern macht darauf aufmerksam, dass sich die untersuchten Arbeiter tatsächlich mit Hilfe des Weber’schen Modells gut verstehen lassen (Esser, Fach und Väth 1983: 206). Aus ihrer Sicht haben die Arbeiter stets ihre hohe Arbeitsmotivation, Disziplin, Zuverlässigkeit, hohe Produktivität und Loyalität im Austausch für kontinuierliche Einkommensteigerungen, Status und Unternehmensfürsorge angeboten. Als sie entlassen oder umplatziert wurden, fühlten sie sich überrascht und schockiert. Aus ihrer Sicht hatten die Arbeitgeber ihr Vertrauen missbraucht, den impliziten Vertrag nicht eingehalten. Die Arbeitslosen spürten eine intensive Enttäuschung: Sie fühlten sich von den inkompetenten bzw. bösen Arbeitgebern um ihre gerechte Belohnung für ihr Bestes betrogen. Esser, Fach und Väth (1983: 208) behaupten, dass diese Arbeiter ständig in einem Zustand der »organisierten Abhängigkeit« lebten. So lange sie arbeiteten, waren sie von ihren Unternehmen abhängig. Mit der Entlassung änderte sich ihre Verankerung. Sie wandten sich an die »Sicherheitsbürokraten« - die Gewerkschaften, die politischen Parteien und den Staat - mit der Hoffnung, dass diese einen Weg finden würden, ihre Verluste zu kompensieren. Sie meinten, dass ihr vergangenes gutes Verhalten als loyale Gewerkschaftsmitglieder und Staatsbürger ihre Hilferufe rechtfertigte. Sie selbst fühlten sich machtlos und blieben handlungsunfähig. Voller Hoffnung erwarteten sie, dass Hilfe von der Gewerkschaftsführung kommen würde, eine Erwartung, die weitere Handlungsunfähigkeit legitimierte (Esser, Fach und Väth 1983: 208 - 209). Vor und nach der Entlassung akzeptierten sie keine Selbstverantwortung und sie wollten, dass man sich um sie kümmert und sie gleichzeitig in Ruhe lässt. Zahlreiche Untersuchungen haben eine weit verbreitete Unzufriedenheit unter Angestellten gegenüber ihren Firmen nach- <?page no="193"?> 194 gewiesen - sowohl im industriellen als auch im Dienstleistungssektor (Sennett 1980: 106 - 107; s. Barrington Moore in Scott 1990: 91 - 92). Fehlende intrinsische Arbeitszufriedenheit, »unfaire«, »entscheidungsunfähige« oder »inkompetente« Chefs und die materiellen Benachteiligungen sind die Hauptquellen dieser Unzufriedenheit. Soziologen, die gegenüber Emotionen sensibel sind, helfen dabei, die Liste der Quellen zu verfeinern und zu verlängern. Langeweile wie auch Stolz, Furcht, Liebe, Nostalgie, Freude und Wut gehören zu der breiten Palette von Emotionen, die die Angestellten erleben und oft in Form von Erzählungen und Scherzen artikulieren. Nach Barbalet, »boredom is a type or form of anxiety about the lack of meaningfulness of an activitiy, a condition, and (possibly) a life« (Barbalet 1999: 637). Langeweile wird durch eine Verzerrung des Zeitsinns begleitet. Die Zeit scheint zum Stillstand zu kommen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Arbeiter dann Langeweile spüren, wenn ihre Arbeit sozial isolierend und uninteressant ist, einen konstanten pausenlosen Rhythmus verlangt und geringen Einfluss auf den Lohn hat (Barbalet 1999: 637 - 640). Barbalet behauptet, dass Langeweile Unruhe und Irritation verursacht. Die Arbeiter stehen unter dem Druck, nach dem Sinn zu suchen. Barbalet schlägt vor, dass die Langeweile »a ready conduit to participation in intergroup conflict« ist, da Intergruppenkonflikt die Langeweile vertreibt, den eigenen Handlungen Sinn verleiht, die Gruppenkohäsion stärkt und hilft, die eigene Position in einer Gruppe zu definieren (Barbalet 1999: 643; s. auch Barbalet 1998: 181). Wie die nun im Folgenden vorgestellten Untersuchungen implizieren, haben nicht nur Gruppenkonflikte diese Funktionen. Auch Klatsch, Bürogeschichten [organizational stories] und Humor sind genauso wichtig bei der Bekämpfung der Langeweile und bei der Konstruktion der symbolischen Wirklichkeit in Unternehmen. Für sein Forschungsprojekt zu Bürogeschichten und Sinnkonstruktion hat Gabriel 400 Erzählungen von 126 Angestellten aus fünf unterschiedlichen englischen Organisationen aufgenommen (Gabriel 1995: 480). Die meisten von diesen Bürogeschichten <?page no="194"?> 195 drücken Stolz, Vergnügen, Resignation, Bitterkeit und Wut aus. Nur zehn Prozent dieser Geschichten thematisieren Dankbarkeit, Hochschätzung oder Liebe (Gabriel 1995: 489 - 490). Beim ersten Geschichtstyp porträtieren sich die Erzähler als Opfer, Racheengel oder Helden. Sie sehen sich selber als unschuldige Zielscheiben oder Helden, als heldenhafte und siegreiche Überlebende von Konflikten mit Technologie oder Bürokratie (Gabriel 1995: 482 - 485). Im zweiten Geschichtstyp geht es um kurze Begegnungen zwischen dem Erzähler und einem Kollegen, Kunden oder Patienten, der dem Erzähler Dankbarkeit in Form von Wort oder Geschenk für zuvor erwiesene Hilfe oder erwiesenes Mitgefühl ausdrückt (Gabriel 1995: 489 - 491). Im Kontrast zu Bürogeschichten, die den Erzähler als Helden oder Opfer porträtieren, stellen diese Geschichten den Erzähler als Objekt der Zuneigung dar. Liebesphantasien und Büroromanzen tauchen auch oft in typischen Bürogeschichten auf. Die Büroromanzen werden entweder als verbreiteter, gehässiger Klatsch erzählt, der die Zentralfiguren als Dummköpfe erkennen lässt, oder aber sie erzählen von einer Romanze, in der die Subjekte als Objekte der Liebe und Zuneigung auftreten. Ähnlich wie die Opfer- und Heldengeschichten ist Nostalgie ein Mittel, mit dessen Hilfe man sich selbst und den eigenen Handlungen Sinn in einem entpersonalisierten Unternehmen verleiht. Nostalgie dient auch dem Zweck, die Unzufriedenheit mit der Gegenwart zu artikulieren: » … organizational nostalgia tells us more about the discontents of today than about the contents of yesteryear. Like humour, but in a radically different way, it seeks to provide a symbolic way out of the rigours of bureaucracy, seeking to reenchant a long disenchanted world.« (Gabriel 1993: 137) Wie Gabriel (1993: 121 - 31) zeigt, bedeutet Nostalgie eine warme Sehnsucht nach der verlorenen Vergangenheit. Eine nostalgische Erzählung kontrastiert ein idealisiertes Bild der Vergangen- <?page no="195"?> 196 heit mit dem Bild der vergleichsweise mangelhaften Gegenwart. Innerhalb von Arbeitsorganisationen werden die Führung, die sozialen Beziehungen, die Technologien, die Produkte, sogar die neuen Gebäude als mangelhaft empfunden. In einer nostalgischen Erzählung gibt es immer einen symbolischen Scheidepunkt, wie der Umzug, eine Fusion von zwei Firmen oder die neue, computerisierte Technologie, der die verzauberte Vergangenheit von der Gegenwart trennt. Organisationsnostalgie drückt die Sehnsucht nach den vergangenen Standards von Eleganz, Werten, gelegentlichen leutseligen Unterhaltungen mit dem Chef, Geselligkeit und gegenseitiger Hilfe unter den Kollegen und von Seiten des Chefs aus. Das Image der Organisation als Familie ist vorherrschend in nostalgischen Erzählungen. Die Interviewexzerpte aus Gabriels Interviews, aufgenommen in drei verschiedenen Arbeitsorganisationen, illustrieren diese Nostalgie: »The nice thing about Sir Roy … [was that] he was always around, he was quite visible in the dining room having egg and chips for lunch, or in the bar having a pint and people would go and talk to him if they wanted … No matter what he did while he was in power, he always seemed a very human person … The current chairman … I don’t feel I know him at all.« [unspecified company] (Gabriel 1993: 128) »I mean we had, years ago, we had more time to, for people … The old building was a 1920s building, very elegant, it was a shame to lose …« [chemical company] (Gabriel 1993: 124-125) »It used to be like a small community … everyone knew each other, everyone helped each other … just like a family … When we came to this big place here, all those same people were spread across the site and when you pass each other, you don’t have the same contact.« [a hospital] (Gabriel 1993: 124) Nostalgische Geschichten schreiben der organisationalen Vergangenheit Qualität, Altruismus und Fürsorge zu, die sie der Ge- <?page no="196"?> 197 genwart vollkommen absprechen. Die Erzählungen sind von Traurigkeit dominiert. Besonders, wenn verlorene Arbeitskollegen angesprochen werden, tauchen Melancholie, sogar Trauer in den Geschichten auf. Gabriels Studien suggerieren, dass auf die kleineren und älteren Unternehmen viel öfter mit Nostalgie zurückgeblickt wird als auf die großen, modernen Arbeitsorganisationen mit ihrem »Technomanagement«. Eine brasilianisch-britische Untersuchung von Humor am Arbeitsplatz bietet ein militanteres Arbeiterbild an. Der Humor hält sich nicht bei der goldenen, aber längst verschwundenen Vergangenheit auf, stattdessen ist er fokussiert auf die Gegenwart. In den letzten zwei Dekaden haben sich die Managementtheoretiker gegen die Modelle der strikten, bürokratischen Autorität gewandt, im Glauben, dass strenge Autorität für Innovation tödlich sei und Unternehmenserfolge unterminiere (Peters and Waterman 1982). Wie Rodrigues und Collinson (1995: 741 - 743) argumentieren, wird jetzt häufig in der Fachliteratur die Ansicht verbreitet, dass die Manager ihre Kontrolle lockern, die Hierarchie reduzieren und am Arbeitsplatz »Spaß haben« sollten. Aus dieser Perspektive ist Humor notwendig, um die Nervosität der Untergeordneten abzubauen, die gemeinsamen Werte und sozialen Bindungen zu stärken. Rodrigues und Collinson meinen, dass diese Fachliteratur Humor vor allem als Management-Technik sieht, ein neues Werkzeug, mit dessen Hilfe die Macht des Managers untermauert wird (aber s. Dweyer 1991). Eine Ventilfunktionstheorie des Humors empfiehlt Humor am Arbeitsplatz als einen Weg zur Zerstreuung situationsbedingter Spannungen, auch wenn es mal Arbeiter und nicht Manager sind, die scherzen und lachen. Wie Rodrigues und Collinson verdeutlichen, hat der Humor am Arbeitsplatz viele verschiedene Funktionen. Für uns ist hier relevant, dass er »ein Mittel darstellt, Angst und Bedrohung zu handhaben«, er stellt »eine Veteidigungs- und Distanzierungsstrategie für den Umgang mit Unglück« [defensive, distancing strategy for dealing with adversity] dar und wird von Arbeitern verwendet, um offenen, aber trotzdem relativ sicheren Widerstand zu signalisieren (Rodrigues and Collinson 1995: 744,749 - <?page no="197"?> 198 756). Obwohl der Humor von Angestellten viele unterschiedliche Formen hat - von Witzen in Pamphleten bis zu satirischen Cartoons, die in der Gewerkschaftszeitung erscheinen -, hat er immer als Ziel, das Management zu delegitimieren und demystifizieren und die Arbeiter zu glorifizieren. In der Welt des Humors werden Korporationswerte und die korporative Hierarchie auf den Kopf gestellt. Im wahrsten Sinne des Wortes kann man von oppositionellem Humor der Untergeordneten reden. Er konzentriert sich auf gegenwärtige Themen, wie sinkende Arbeitssicherheit, unfaire Entlassungen, überenthusiastische, beleidigende und höchst irritierende Überwachung und Kontrolle, Rekrutierung von Angestellten ohne Qualifikationen, Inkompetenz und Habgier des Managements, Gesundheits- und Arbeitsschutzthemen etc. (Rodrigues and Collinson 1995: 757 - 758) Fazit: der subversive, scharfe Arbeitsplatzhumor drückt die Befürchtungen und Unzufriedenheit der Angestellten aus, fordert den Status Quo heraus. Dabei bietet seine Anonymität Schutz gegen Managementverfolgung. So wie die Nostalgie drückt der subversive Arbeitsplatzhumor die momentane Unzufriedenheit aus und ermöglicht ein bisschen Wiedergutmachung für die Verletzungen, die man in Organisationen erfährt: Der Humor »seeks to offer partial consolation for the injuries sustained … in organizations« (Gabriel 1993: 137). So wie die Nostalgie adelt der Humor den Angestellten und stellt das Management in Frage. Er dreht die Organisationswerte für den Augenblick um. Der einzige Unterschied ist allerdings, dass sich die nostalgischen Mythen mit der Vergangenheit beschäftigen und die Unzufriedenheit zerstreuen, während der subversive Arbeitsplatzhumor sich mit der Gegenwart offen auseinandersetzt und eine bissige Schärfe hat. In seinem hoch geschätzen Buch behauptet James Scott (1990), dass wir keinen grundlegenden Widerspruch zwischen den milden und den starken, versteckten und offenen Formen des Protestes der Untergeordneten sehen sollten. Sein theoretischer Rahmen vernichtet den lang akzeptierten und respektierten <?page no="198"?> 199 Kontrast zwischen der Apathie und dem Protest sowie zwischen dem »falschen« und »wahren« Bewusstsein. Aus dieser Perspektive drücken die Angestellten mit Hilfe von sowohl milder Nostalgie als auch des harten, subversiven Humors solche Emotionen wie Frustration, Wut, Furcht und Angst aus. Egal in welcher Form, sie wehren sich gegen die Demütigung und Erniedrigung, die Langeweile, die Lieblosigkeit, die zu ihrer Arbeits- und Unterordnungserfahrung gehören. Diese Emotionen stellen Reaktionen auf »social experience of indignities, control, submission, humiliation, forced deference and punishment« dar, die mit jeder Form von Herrschaft einher gehen (Scott 1990: 111 - 113). Scott selbst warnt wiederholt davor, dass man seinen theoretischen Rahmen zu sehr ausdehnt. Er entwickelte ihn für die Analyse der absoluten Herrschaftssysteme, wie Sklaverei oder Kastensysteme. Collinsons englische Untersuchung von Maskulinität, dem Scherzen und von Konflikt zwischen männlichen Arbeitern in einer Fabrik gibt Scotts Warnung viel Glaubwürdigkeit. Diese Untersuchung demonstriert, dass autonome, soziale Räume nicht ausreichen, um die momentan weniger gefährlichen, »verborgenen, subversiven Skripte» [Scotts »hidden subversive scripts«] in offene, solidarische Protestformen zu konvertieren (Scott 1990: 20,85 - 86, 111, 114, 118 - 135). In der Tat stellt Collinsons Analyse, die sich gegen die Romantisierung der Arbeiterklasse richtet, den von Scott vorgeschlagenen Zusammenhang zwischen einer autonomen Kultur der Untergeordneten, Solidarität und Widerstand in Frage. Collinson (1988: 182) bezieht sich zuerst auf frühere Studien, die zeigen, dass Humor die Langeweile, die Angst, sogar die Todesangst unter den Kohlearbeitern oder Feindlichkeit zwischen unterschiedlichen ethnischen Arbeitergruppen zerstreut. Sich auf seine zahlreichen Interviews und seinen langen Beobachtungszeitraum beziehend, zeigt Collins des weiteren, dass »Betriebshumor« zutiefst beleidigende Spitznamen, hemmungsloses Fluchen, gegenseitiges Auslachen, sogar böse Streiche einschließt, die Langeweile zerstreuen können. In einer englischen Lastwagenfabrik, die er zwischen 1979 und 1983 untersuchte, unter- <?page no="199"?> 200 stützt Humor, der rund um Maskulinität und manuelle Arbeit kreist, den Zusammenhalt der Arbeiter und die Artikulation von Antagonismus gegen die »Weißhemden« und Manager. Die Humorformen helfen, den Gefühlen der Minderwertigkeit entgegenzuwirken; sie kreieren ein starkes Bewusstsein der Klassenunterschiede und untermauern die eigene ideologische Welt; der Humor dreht sich um die offiziellen Hierarchien von Betriebshalle / Büro, manuell/ nichtmanuell, Arbeiter/ Mittelklasse, unausgebildet/ ausgebildet, höflich/ unhöflich (Collinson 1988: 186 - 187,189, 197 - 198). Humor ist ganz einfach eine weitere Form des Widerstandes am Arbeitsplatz. Zur gleichen Zeit aber stellen die beleidigenden Scherze und Streiche Versuche dar, diejenigen Mitarbeiter zu disziplinieren und zu kontrollieren, die den Arbeitsanteil nicht leisten, von dem der kollektive Bonus abhängt. Bestimmte Scherze, Beleidigungen und Redensarten über Frauen markieren die Grenze zwischen »virilen, unverheirateten Singles«, denen »having a laff« am Arbeitsplatz sehr wichtig ist, und den »verheirateten Ernährern«, denen es vor allem um Einkommensmaximierung geht. Wie sich herausgestellt hat, schafft dieser Humor der Betriebshallen, der die maskuline Unabhängigkeit betont, nur völlig oberflächliche und defensive Beziehungen zwischen den Männern. Als es 1983 zu Entlassungen kam, zeigten sich diese Männer zu zersplittert, um Widerstand leisten zu können. Die entlohnten Gefühle - Gefühlsarbeit und Gefühlsmanagement The Managed Heart, Arlie Hochschilds bahnbrechender Beitrag zur Organisationssoziologie, rief ein starkes Echo hervor. Mit diesem »modernen« Klassiker eröffnete sie nämlich neue Forschungsfelder. Sie platzierte die Emotionen im Zentrum der Analyse und untersuchte, wie sie mit Organisations- und Gesellschaftsnormen interagieren. In dem Buch zeigt Hochschild, dass der relativ neue, aber rapide expandierende Dienstleistungssektor nicht nur Dienstleistungen, sondern auch bestimmte Emotionen <?page no="200"?> 201 von den Angestellten verlangt. Es hängt von Unternehmenszielen ab, welchen Gefühlsregeln die Angestellten zu folgen haben und welche Emotionen sie zur Schau stellen sollten. Jede Firma hat ihre Ziele und diese entscheiden darüber, welche informellen Eigenschaften und expressiven Attribute beim Rekrutierungsprozess eine Rolle spielen. Dieselben Ziele entscheiden, ob und wie intensiv das Personal geschult und überwacht wird, um sicher zu stellen, dass es sich an die verlangten Gefühlsregeln hält und die gewünschten Emotionen ausstrahlt. Hochschild untersucht zwei kontrastierende Berufsgruppen in dem Dienstleistungssektor: die Flugbegleiterinnen und die Geldeintreiber (vgl. S. 131 - 132). Sie zeigt, dass die Flugbegleiterinnen unter dem Druck stehen, nur positive Emotionen, wie Mitgefühl, Herzlichkeit und Freude den Passagieren gegenüber zu zeigen. Ihre Aufgabe ist es - so die Fluggesellschaft -, den Passagieren zu schmeicheln und sie liebvoll zu betreuen, um ihren sozialen Status zu heben. Im Unterschied dazu sollen die Geldeintreiber die Gläubigen mit Aggression und Verachtung konfrontieren. Ihre Rolle ist es, sie zu beleidigen, sie klein zu kriegen, ihren sozialen Status zu minimieren. Beide Berufe verlangen »inneres Handeln« [deep acting] - die Angestellten müssen bestimmte gewünschte Emotionen herstellen, damit sie überzeugend agieren können. Dies verlangt nach Gefühlsmanagement - sie müssen die unerwünschten Gefühle unterdrücken, modifizieren oder verstecken, so dass sie die gewünschten Gefühle ausdrücken können. Nur wenn die Angestellten Gefühlsmanagement betreiben, sind sie in der Lage, die Arbeit auszuführen, für die sie bezahlt werden. Ihnen wird mehr oder weniger intensiv beigebracht, wie sie mit Hilfe von Gedankenexperimenten, Körpertechniken und Spieltechniken ihre »wahren« Gefühle unterdrücken oder verändern sollen. Die Angestellten werden auch überwacht und sanktioniert, damit sie bei der Sache bleiben. Der Stress, den diese Angestellten während ihrer Freizeit spüren, ihre Unfähigkeit, zu ihren »wahren« Gefühlen zurückzufinden, diagnostiziert Hochschild als die neue Krankheit in der Dienstleistungsbranche. <?page no="201"?> 202 Hochschilds Kritiker und Bewunderer, deren Kritik in den ersten beiden Punkten völlig ungerechtfertigt ist, kritisieren folgendes an ihrer wissenschaftlichen Arbeit: Obwohl der steigende Wettbewerb die Manager zwingt, ihre Versuche zu intensivieren, eine totale Kontrolle über den Prozess der Gefühlsarbeit zu erreichen, bleibt diese Kontrolle sehr lückenhaft, inkohärent und widersprüchlich (Taylor 1998: 100; Taylor and Tyler 2000: 88 - 89). Die Angestellten finden es relativ leicht, die Regeln des Managements zu ignorieren oder zu umgehen. Wenn sie gehorchen, dann nicht weil das Unternehmen eine diskursive Macht inne hat, sondern weil es materielle und strukturelle Macht hat. Diese Macht führt zur pragmatischen Akzeptanz von Unternehmensregeln. Hochschild argumentiert, dass die Angestellten, und manchmal die Gewerkschaften, mitbestimmen dürfen, welcher Typ der Gefühlsarbeit geleistet werden muss. Dunkel (1988) betont, dass Arbeitsteams und Berufsethik eine ähnliche, wichtige Rolle spielen. Hochschilds theoretischer Rahmen schreibt den Angestellten ungenügende Autonomie zu. Hochschild übersieht, dass sich die Angestellten, wohlwissend einer Manipulation ausgesetzt zu sein, wehren, indem sie Strategien entwickeln, die es ihnen erlauben, die Manipulation und Überwachung zu umgehen. Sie verhandeln und leisten Widerstand. Nur wenige erleben Entfremdung (Taylor 1998: 94 - 98; Taylor and Tyler 2000: 88 - 90; Bogner and Wouters 1990: 278). Die Verschiebung in der generellen Machtbalance zum Vorteil der Untergeordneten führte in den letzten drei Dekaden des letzten Jahrhunderts zur zunehmenden Informalisierung von Machtverhältnissen (Bogner and Wouters 1990: 272 - 277). Gesellschaftsnormen haben viel von ihrer bindenden Kraft eingebüßt. Das bedeutet, dass die Verhaltensnormen in konkreten Situationen neu interpretiert werden. Für die Stewardessen bedeutet es, dass sie viel mehr Spielraum haben, als ihnen Hochschild eigentlich erlaubt. Es wird sogar von den Flugbegleiterinnen erwartet, dass sie jede Situation spontan und diskret bewältigen. Diese zwei Eigenschaften implizieren mehr Autonomie. Die Flugbegleiterinnen setzen ihre Spontanität und <?page no="202"?> 203 Diskretion ein, um die Passagiere zu disziplinieren, und gewinnen dadurch noch mehr Freiheit und Kontrolle. Zugleich verlangt die neue Arbeitssituation von ihnen viel mehr an kognitiver und emotionaler Arbeit als die alte Arbeitssituation, die noch feste Verhaltensregeln anbot. In jedem Falle scheint Hochschild nicht zu erkennen, dass die »Gefühlsangestellten« [emotional workers] sehr wohl in der Lage sind, sich zu entwickeln und über ihre Emotionen nachzudenken (Barbalet 1998: 182; s. auch nächsten Punkt). Sie können auch ihre Interaktionen mit der Kundschaft spielerisch gestalten. Diese bereichernden Arbeitsmomente fehlen bei der manuellen Arbeit völlig. Emotionen durchdringen den Dienstleistungssektor viel mehr, als es Hochschild bewusst ist. Emotionen werden zum Inszenierungsobjekt, um den Käufer zu manipulieren; sie werden tief empfunden, um die eigenen Arbeitsaufgaben zu erleichtern; und sie tauchen letztlich auch bei der Arbeit an den eigenen Gefühlen auf (Dunkel 1988: 66). Hochschild ist blind dafür, dass »[e]motional labor is an experience which remains within the emotional possession of the employee. The emotions generated by that labor have emotional consequences. These lead the emoting person to apprehend their situation emotionally and to form emotional responses to it« (Barbalet 1998: 181). Der Kontrast zwischen oberflächlichem und innerem Handeln, den Hochschild einführt, ist zu stark und zu einfach (Taylor 1998: 99). Um ihre Arbeitsaufgaben zu erledigen und ihr Einkommen zu steigern, verlassen sich die Angestellten auch auf sophisticated surface acting oder deep acting for pragmatic purposes. Sie haben nicht nur die Wahl zwischen echtem Gefühlsmanagement oder Oberflächenhandeln, sondern können innovativ, distanziert und zynisch viele Mischformen entwerfen. Nur wenige lassen es zu, dass der Job ihre Gefühle beeinflusst oder sogar modifiziert. Hochschild führt eine unzulässige Unterscheidung zwischen authentischen und oberflächlichen Gefühlen ein - eine Unterscheidung, die bei Hochschild parallel zu der Unterscheidung von Privatsphäre mit authentischen Gefühlen und der öffentlichen Sphäre mit falschen Gefühlen getroffen wird. Wenn man <?page no="203"?> 204 die Forschung von Norbert Elias berücksichtigt, ist dieser Kontrast unsinnig (Bogner and Wouters 1990: 266 - 268). Aufgrund von zivilisatorischen Prozessen, die Elias’ Forschung ans Licht brachte, wissen wir, dass wir die Phase der authentischen Gefühle schon längst hinter uns haben. Wir kennen nur die Emotionen, die uns von unserer Zivilisation und unseren nationalen Kulturen auferlegt wurden. Elias’ Forschungsbefunde zur Geschichte der höfischen Kultur weisen auch darauf hin, dass nicht der moderne Kapitalismus als solcher, sondern die Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse den außerordentlich starken Druck auf die Untergeordneten ausüben, den vorherrschenden Spielregeln zu folgen. Hochschild nimmt auch an, dass die Gefühle am Arbeitsplatz viel häufiger Management ausgesetzt sind als die Gefühle zu Hause, in der Privatsphäre. Das ist jedoch eine falsche Annahme, da wir auf das Gefühlsmanagement auch in der Privatsphäre zurückgreifen und die Gefühlsarbeit leisten müssen, um private Beziehungen aufrechtzuerhalten (Bogner and Wouters 1990: 259 - 262). Die Soziologie sollte nicht nur Emotionen am Arbeitsplatz, sondern auch Emotionen in der Freizeit untersuchen. Wir sollten dem Makro-Kontext mehr Aufmerksamheit schenken, in dem der expandierende Wohlfahrtsstaat die Bedingungen des Wettbewerbs seit dem Zweiten Weltkrieg mildert (Wouters 1992). Der Wettbewerb exisiert immer noch, aber in einem zunehmend egalitären Zusammenhang ist er zum Tabuthema geworden. Individuen leiden still an den Effekten des Wettbewerbs. Da sie ein grundlegendes Sicherheitsgefühl haben (und vielleicht den Arbeitswettbewerbsstress los werden wollen), sind sie mehr denn je bereit, Risiko in ihrer Freizeit einzugehen - deshalb wenden sie sich vermehrt dem Risikosport und dem freien Sex zu. Schlussfolgerung Obwohl es keine kohärente Literatur auf dem Gebiet Arbeit und Gefühl gibt, erlauben uns die zahlreichen Untersuchungen die <?page no="204"?> 205 Behauptung, dass sowohl Manager als auch Angestellte und Arbeiter emotionaler sind, als die meisten Wissenschaftler zugeben würden. Sie empfinden sowohl Ängste als auch Frustrationen oder Sorgen am Arbeitsplatz. Aber gleichzeitig werden sie unter Druck gesetzt, ihre Gefühle managen und verbergen zu müssen. Den Managern steht es frei, ihre Wut herauszulassen. Diese Freiheit genießen die Angestellten und die Arbeiter nicht. Im Gegenteil, es wird von ihnen erwartet, dass sie ihren Chefs mit Freude und Respekt begegnen. Sie haben ihre Wut, Erniedrigungsgefühle und Angst hinunterzuschlucken (Scott 1990: 37 - 41). Mit Ausnahme einiger Berufe, wie z.B. Geldeintreiber, wird von den Angestellten außerdem gewünscht, dass sie positive Emotionen bei ihren Begegnungen mit der Kundschaft ausstrahlen. Deshalb überrascht es nicht, dass die Manager die emotionale Unterstützung der Kollegen und Sekretärinnen brauchen, und dass die Angestellten mit Nostalgie und mal mildem, mal bissigem Humor ihrem Arbeitsalltag begegnen. Die kapitalistische Arbeit - egal ob vom Manager oder Angestellten und Arbeiter - verlangt einen schweren emotionalen Preis. Diesem Preis gilt es nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch im breiten Gesellschaftskontext nachzugehen. Anmerkungen * Die Erstfassung dieses Textes mit dem Titel »Corporate Emotions and Emotions in Corporations« entstand auf Anfrage von Jack M. Barbalet für das Themenheft »Emotions and Sociology« der Sociological Review Monographs, hrsg. von Jack M. Barbalet, das 2002 erscheinen wird. Ein gleichnamiges Buch soll ebenfalls in Kürze erscheinen. ** Dieses Kapitel baut auf einem Kapitel aus meinem Artikel »Emotional ›Man‹: II« (1990b) auf. <?page no="205"?> 206 Literatur Albrow, M. 1992. »Sine Ira et Studio - or Do Organizations Have Feelings« Organization Studies 13,3: 313 - 329 Badura, B. 1990. »Interaktionsstress« Zeitschrift für Soziologie 19, 5: 317 - 328 Barbalet, J.M. 1999. »Boredom and social meaning« The British Journal of Sociology 50, 4: 631 - 646 Barbalet, J.M. 1998. Emotion, Social Theory, and Social Structure. Cambridge. Cambridge University Press Beck, Ulrich. 1986. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. Suhrkamp Bogner, A. und C. Wouters. 1990. »Kolonialisierung der Herzen? Zu Arlie Hochschilds Grundlegung der Emotionssoziologie« Leviathan 18,2: 255 - 279 Brose, H.-G., M. Wohlrab-Saar und M. Corsten. 1993. Soziale Zeit und Biographie. Opladen. Westdeutscher Verlag Clegg, S.R., C.Hardy and W.R. Nord, eds. 1996. 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Geld und Gefühl In Deutschland gibt es kaum Beiträge zu einer Soziologie des Geldes (s. dazu Flam und Göbel 1998: 49, Deutschmann 2000 und vgl. Mizruchi und Stearns 1994), obwohl die klassischen sozialwissenschaftlichen Werke zu diesem Thema - von Karl Marx und Georg Simmel - in deutscher Sprache verfasst wurden. Wie auch bei Simmel ist das Hauptthema in diesem Kapitel der moderne Umgang mit Geld und die Wirkung des Geldes. Im Unterschied zu Simmel, der sich sowohl mit Intellekt als auch Emotionen in Bezug auf Geld beschäftigte, werden hier Emotionen betont. Es wird gezeigt, dass, im Kontrast zu Thesen der Wirtschaftslehre, der individuelle Umgang mit Geld weit entfernt davon ist, rational zu sein. Im Gegenteil, bis heute hat sich das Geld nicht als neutrales, objektives Austauschmittel durchsetzen können, sondern ruft tiefe Emotionen im Menschen hervor. Simmel und seine Thesen Viviana Zelizer (1978,1981,1997), eine amerikanische Soziologin, für die das Thema Geld zu einem lebenslangen Interessengebiet geworden ist, behauptet, dass Marx, Simmel, Habermas und Giddens das moderne Geld als universelles, wertnivellierendes Mittel definieren, das in der Lage ist, alle sozialen Beziehungen zu vernichten. Es lässt sich nicht verneinen, dass Simmel tatsächlich eine starke Wertnivellierungsthese formuliert. Simmel argumentiert, dass modernes Geld ein neutrales, charakterloses Mittel ist, das, dank genannter Eigenschaften, die moderne Geldwirtschaft ermöglicht und beschleunigt. Die Geldwirtschaft verwandelt immer mehr Dinge in Waren. Dabei tritt das Geld als ihr einziger gemeinsamer Nenner auf und raubt der Geldwirtschaft so ihre Individualität und dem Käufer seine Subjektivität. Für unsere Entscheidungsfindung werden das Geld und das Quantum viel wichtiger als unsere Gefühle, Nor- <?page no="211"?> 212 men oder Werte. Aus Simmels Sicht fungiert das Geld - als das universale Wertmaß - als Wertnivellierungsmittel. Es vernichtet alle qualitativen Unterschiede zwischen den Dingen: »Und tatsächlich werden auch die Dinge selbst durch ihre Äquivalenz mit diesem für jedes beliebige geltenden Tauschmittel in höherem Sinne entwertet ... damit die Frage, was es wert ist, mehr und mehr durch die Frage, wieviel es wert ist, verdrängt wird ...« (Simmel 1983: 86). Das Geld lehnt jede subjektive Schätzung, jedes Ideal und jede Kategorie ab. Das Geld objektiviert sie insofern, als es allen diesen Werten einen quantitativen, relativen Preis gibt. In einer zugespitzten Form kann man diese Wirkung des Geldes im Börsenhandel beobachten: »Je mehr hier das Geld selbst zum alleinigen Interessenzentrum wird, je mehr man Ehre und Überzeugungen, Talent und Tugend, Schönheit und das Heil der Seele dagegen eingesetzt sieht ...« (Simmel 2000: 334). Aber diese Wertnivellierungsthese erschöpft nicht das Simmel’sche Gedankengut. In diesem Kapitel wird nachgewiesen, dass sowohl Simmel als auch die neuere Forschung zeigen, dass das Geld eine ganze Palette von Einstellungen bzw. Emotionen zu sich selbst und dem Objekt der Begierde verursacht. Simmel kondensiert sie in die Idealtypen des Geizigen, des Asketen, des Verschwenders, des Zynikers und des Blasierten. Diese Einstellungen und Emotionen beeinflussen die Funktionsweise des Geldes - also ob und wie mit dem Geld umgegangen wird. Aus der Sicht des Individuums ist das Geld nie ein neutrales, universelles Austauschmittel. Zweitens ist Simmel für die These bekannt, dass das Geld Anonymität und individuelle Freiheit mit sich bringt. Das Geld erzeugt »auf der einen Seite eine früher unbekannte Unpersönlichkeit alles ökonomischen Tuns, andererseits eine ebenso gesteigerte Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Person« (Simmel 1983: 79; s. auch S. 78,93). Bei dieser zweiten These wird oft der von Simmel postulierte Zusammenhang zwischen Freiheit und der historischen Neuigkeit - die Scheidung oder Trennung des Besitzers von seinem Eigentum - ignoriert. Stattdessen werden Unpersönlichkeit und Anonymität beim Kauf und Verkauf als <?page no="212"?> 213 zentrale Eigenschaften des Konsummarktes dargestellt - Eigenschaften, die dem Individuum zur Freiheit verhelfen. Betont wird die Assoziation zwischen Individuum, Freiheit und Konsum, die Simmel angeblich postulierte (Edwards 2000; Bauman 1988; Bauman 1996). Simmels Metropole, der Ort des modernen Lebens voller Genuss und Vergnügen, dient als Metapher, mit deren Hilfe der moderne Konsummarkt und die Konsumgesellschaft vorgestellt werden. Simmels Blasierter darf die Vorteile der Anonymität einerseits und die Krankheiten der Moderne andererseits - die Abstumpfung jeden Gefühls in Konfrontation mit dem unerhörten und überwältigenden Überfluss an Gütern, Dienstleistungen und Unterhaltungsformen - verkörpern (Featherstone 1993; Edwards 2000; Bergmann, Goll und Wiltschek 1998: 210). Dass der Blasierte nur einer der vielen Simmel’schen Idealtypen ist und seine anderen Idealtypen weitere Emotionen mit Geld und Freiheit verknüpfen, wird nicht thematisiert. Das dritte, weit verbreitete Missverständnis ist, dass Simmel ausschließlich die Parallelität der Entwicklung des Geldes und des Intellektes betont. In der Tat sah er die Trieb- und Affektunterdrückung als eine Art grundlegende zivilisatorische Voraussetzung für das vormoderne Geld, für das Einsetzen von bestimmten Objekten als Austauschmittel: Eine fortgeschrittene Triebkontrolle und »die Schwächung der Affekte« sind wichtige Vorbedingungen für die Entwicklung sowohl des individuellen Bewusstseins als auch eines distanzierten, differenzierten, schattierten Verhältnisses des Subjekts zu dem Objekt (Simmel 2000: 40-49). Er argumentiert weiter, dass abstrakte Gedankenkapazität und das moderne Geld einander voraussetzen. Die Geldzirkulation baut auch auf unserer Fähigkeit auf, mindestens zwei Dinge mittels eines dritten, in diesem Fall des Geldes, miteinander vergleichen zu können (Simmel 2000: 59). Das Geld repräsentiert eine pure, völlig abstrakte Quantität. Es ist ein Symbol des Wertes. Es sagt nichts darüber aus, was dafür gekauft werden kann, wann gekauft wird oder welche Eigenschaften dieser Einkauf haben kann oder wird. Es konnte diesen Symbolcharak- <?page no="213"?> 214 ter erst annehmen, nachdem sich die quantitative, symbolischrepräsentative Denkweise entwickelt hatte. Die Entwicklung des Geldes wird durch die menschliche Fähigkeit bedingt, die Funktion des Geldes zu erkennen und sich die Zukunft vorzustellen. Die Zukunft, in der der Austausch stattfinden wird. Noch abstraktere Gedankenkapazitäten stecken hinter dem Begriff des Geldes, nämlich die, quantitative von qualitativen Schätzungen der Wirklichkeit zu trennen sowie die Symbole und Repräsentationen zu verstehen. Die Expansion des Geldes entspricht einer historisch-kulturellen Entwicklungsphase, in der sowohl der Intellekt als auch seine Bedeutung für das praktische Leben akzeptiert wurden. Das Geld ist nicht nur eine Konsequenz abstrakter Denkweise, sondern leistet auch einen eigenen Beitrag zur Entwicklung der quantitativen Gedankenkapazität. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit meiner Lektüre machen zu wollen, bin ich jedoch bei meinem Literaturstudium auf Thesen Simmels gestoßen, die scheinbar unbekannt waren. Ich werde zeigen können, dass Simmel an Emotionen, die das Geld hervorruft, ebenso wie an deren Parallelität zum Intellekt interessiert war. Gleichzeitig werde ich die gegenwärtigen Forschungsergebnisse, egal welche theoretische Ziele dabei verfolgt wurden, vorstellen, um zu zeigen, dass das moderne Geld heftige Emotionen hervorruft. Dadurch werde ich insofern von der vorherrschenden Sicht auf das Geld, die Warenwelt und Konsum abweichen, als dass ich mich nur mit ihren symbolischen und sozialen Funktionen beschäftigen werde, wenn diese äußerst relevant sind (vgl. Bourdieu 1987; Zelizer 1997; Edwards 2000; Bauman 1988; 1996). Nicht die Symbole und die feinen Unterschiede, sondern die Emotionen stehen im Zentrum meines Interesses. Genau wie Zelizer (1997: 18-19) und Lane (1992) werde ich, gestützt auf facettenreiches empirisches Material, die Annahmen der neo-klassischen Wirtschaftslehre ablehnen. Es wird gezeigt, dass der menschliche Umgang mit Geld eher irrational als rational ist. Aus der emotionalen Sicht gibt es kein homogenes oder qualitätsloses Gut Geld. Sozialstrukturell bedingt verleihen sozi- <?page no="214"?> 215 ale Interaktionen, Deutungsmuster und Emotionen dem Geld seine Heterogenität. Es wird qualitativ, tief subjektiv betrachtet. Tiefgreifende Emotionen führen zu einem - nach sozialen Klasse, Beruf, Ethnie, Geschlecht, Einstellung - sehr differenzierten Umgang mit Geld. Unruhe der Zeit In seinem im Englischen viel zitierten Aufsatz »Das Geld in der modernen Kultur« betont Simmel, dass es oft übersehen wird, dass die neue Freiheit vom Besitz und die damit verbundenen Pflichten, die das moderne Geld ermöglicht, negative emotionale Konsequenzen haben. Erstens verbindet sich mit dem Geldbesitz kein symbolischer, richtungsgebender, tief befriedigender Lebensinhalt. Dies führt zu Unruhe, Unzufriedenheit und Spannung - das gespannte Warten darauf, dass sich der Sinn dieses Lebens endlich offenbart. Zweitens wandelt sich das Geld vom Mittel zum Zweck und wird als Garantie des Glücks verstanden, dem nun rastlos, fieberhaft, sehnsüchtig nachgejagt wird. Mit dem modernen Geld werden also Unruhe, intensive Sehnsucht, Glücksträume, Rastlosigkeit und Fieberhaftigkeit verbunden. Das Geld nährt das ungeheure, moderne Verlangen nach Glück: Wenn man ein Landgut verkauft, verliert man zugleich den Anspruch auf bestimmte Rechte und symbolische Werte, die mit dem Land eng zusammenhängen. Das »Unbezahlbare«, ein »richtunggebender Lebensinhalt«, »das feste Objekt persönlicher Betätigung« gehen verloren (Simmel 1983: 85). Geldbesitz ist kein Äquivalent des Eigentumsbesitzes. Im Gegenteil: der tiefe Grund »für den problematischen Charakter, für die Unruhe und Unbefriedigtheit unserer Zeit« ist, »daß immer mehr Dinge mit Geld bezahlt, durch Geld erreichbar sind« (Simmel 1983: 85). Man lebt »an der spezifischen, ökonomisch nicht ausdrückbaren Bedeutung der Dinge vorüber, die sich nur durch jene dumpfen, so sehr modernen Gefühle gleichsam rächt: daß der Kern und Sinn des Lebens uns immer von neuem aus der Hand gleitet, daß die definitiven Befriedigungen immer seltener werden, daß das <?page no="215"?> 216 ganze Mühen und Treiben doch eigentlich noch lohne« (Simmel 1983: 85). Da das moderne Geld immer mehr Dinge in Waren verwandelt, nivelliert es zugleich ihren individuellen Wert. Die Dinge werden in ihrer Eigenschaft als Waren entwertet, ihre Käufer abgestumpft. Schlimmer noch, das moderne Geld verwandelt sich vom Mittel zum Zweck. Streben nach Geld wird zum Endziel des Menschen: »Indem die Mehrzahl der modernen Menschen den größten Teil des Lebens hindurch den Gewinn von Geld als nächstes Strebeziel vor Augen haben muß, entsteht die Vorstellung, dass alles Glück und alle definitive Befriedigung des Lebens mit dem Besitze einer gewissen Summe Geldes ... verbunden wäre: aus einem bloßen Mittel und einer Vorbedingung wächst es ... zu einem Endzwecke aus.« (Simmel 1983: 87) Da die Menschen in einem Labyrinth von Mitteln stecken und ihre Endzwecke vergessen haben, wird die moderne Zeit einerseits durch ein »Gefühl von Spannung, Erwartung, ungelöstem Drängen - als sollte die Hauptsache noch kommen, das Definitive, der eigentliche Sinn und Zentralpunkt des Lebens und der Dinge« gekennzeichnet (Simmel 1983: 88). Und, andererseits, verbindet sich mit dem Streben nach Geld »die Unruhe, Fieberhaftigkeit, Pausenlosigkeit des modernen Lebens, dem im Gelde das unabstellbare Rad gegeben ist, das die Maschine des Lebens zum Perpetuum mobile macht« (Simmel 1983: 89). Das Geld verspricht völlige Befriedigung der individuellen Wünsche, es erregt die Illusion, dass diese zu erreichen leichter denn je sei: »Mit Annährung an das Glück aber wächst die Sehnsucht danach ... Das ungeheure Glücksverlangen des modernen Menschen ... ist offenbar an dieser Macht und diesem Erfolge des Geldes genährt.« (Simmel 1983: 89) <?page no="216"?> 217 Sicherheit und Ruhe kommen erst mit dem Besitz von Geld, mit dem Gefühl »in ihm den Schnittpunkt der Werte zu besitzen« (Simmel 1983: 90). Oder aber das Geld entpuppt sich als bloßes Mittel und »jene tödliche Langeweile und Enttäuschung« treten ein (Simmel 1983: 87). Durkheim ist einer ähnlichen Meinung: Die soziale Ordnung, die mit der neuen, auf Fortschritt und Prosperität fixierten Wirtschaft nicht Schritt halten kann, ist nicht in der Lage, Begierden, Bedürfnissen und Wünschen, die Menschen in einen Zustand der »schmerzvollen Unruhe« und »Unbehagen« versetzen, Grenzen zu setzen (Durkheim 1999: 279,282). Die Entwicklung der Industrie und die Expansion der Absatzmärkte, die Verdienstmöglichkeiten unrealistisch groß erscheinen lassen, führen vor allem zur »fieberhafte[n] Betriebsamkeit«, zum »überhitzte[n] Ehrgeiz« und zur völligen »Entfesselung der Begierden« (Durkheim 1999: 292). Die ganze Gesellschaft leidet unter »Begehrlichkeit«, wobei »die angestrebten Ziele himmelweit über allem Erreichbaren liegen ... Es ist da ein Hunger nach neuen Dingen, nach unbekannten Genüssen, nach Freuden ohne Namen ... [aber] diese unendlich übereinander gehäuften neuen Sensationen [können keine] solide Grundlage für ein Glück bilden ...«, da das Glück in die Zukunft projiziert und ihm endlos rastlos nachgejagt wird (Durkheim 1999: 293,289). Gegenwärtig finden Simmels Ideen mindestens zwei verschiedene sozialwissenschaftliche Entsprechungen. Einerseits wird in der Literatur zur Konsumgesellschaft der Konsument als das Opfer aufgefasst. Andererseits wird in Wuthnows Untersuchung zu der Verwandlung von The American Dream festgestellt, dass sich der typisch amerikanische Glaube daran, dass die harte, rastlose Arbeit zum Erfolg und zu Geld führt, allmählich verringert. Für uns noch wichtiger ist, dass sich die Amerikaner ständig um Geld sorgen. Aber da Geld ein tabuisiertes Gesprächsthema ist, werden die Geldsorgen in Isolation ertragen. <?page no="217"?> 218 Sorge um die Zeit »Die Geldwirtschaft etabliert das Prinzip der Dauersorge um die Sicherung des eigenen Vermögens. Sie rechnet nur mit Fristen.« (Luhmann in Baecker 1995: 120) Ein englischer Bürgerverein berichtet, dass er mehr als 1.000 Telefonanrufe jährlich von besorgten »Geldausgebern« [worried spenders] bekommt, die mit ihren Schuldbergen nicht zurecht kommen (Edwards 2000: 124). Kreditvereine sind ebenfalls der Überzeugung, dass Verschuldung zu einem großen Gesellschaftsproblem geworden ist. Eine amerikanische Untersuchung zeigt, dass weder die Mittelklasse noch die Arbeiterklasse von finanzieller Sorge frei ist (Wuthnow 1996: 227 - 229). Da aber die Frauen und Männer aus der Arbeiterklasse weniger Ressourcen besitzen, machen sie sich häufiger Sorgen als die höher qualifizierten Berufstätigen mit größerem Verdienst, wie Ärzte, Anwälte oder Manager. Beide Gruppen leiden unter der Dauersorge, ob das Geld auf dem Konto genügt, um die Miete zu bezahlen und/ oder eine unerwartete Rechnung zu begleichen. Wie Wuthnows Untersuchung zeigt, wird der Kummer in Isolation ertragen, da sich die Amerikaner als vollkommen selbstverantwortlich für ihre Finanzen betrachten. Auch wenn sie nur zu gut wissen, dass es fast unmöglich ist, ihren Lohn oder ihre Familienausgaben zu kontrollieren. Fast keine Familie arbeitet mehr mit einem Haushaltsbudget - stattdessen pendelt man zwischen dem Verzicht und dem Sich-Gönnen von exklusiven Hochgenüssen (Wuthnow 1996: 230). Die Frauen und Männer aus der Arbeiterklasse versuchen ihre Ausgaben einzugrenzen, machen sich aber Sorgen über eventuelle Fehlkäufe, wie die Bank es sehen würde. Die Finanzierung des College-Besuches der Kinder oder die Reparatur des eigenen Autos wird zur Last. Für viele verkörpert die Konsumwelt das Böse. Sie verwandelt sich in eine Besessenheit, die man immer überwachen und der man mit Schuldgefühlen begegnen muss (Wuthnow 1996: 233). <?page no="218"?> 219 Auch wenn man sich wehrt, steht sowohl die Mittelals auch die Arbeiterklasse unter dem ständigen Druck der steigenden Preise und der Begierde nach mehr Geld (Wuthnow 1996: 139 - 140). Da Geld und Privatfinanzen ein Gesprächstabu sind, leidet man unter fast völliger Isolierung. Ehepartner streiten sich über Geld oder werden von dem Dauerstreiten zum Schweigen gebracht (Wuthnow 1996: 151 - 153). Auch wenn sie der Mittelschicht angehören, machen sie sich Sorgen über die finanzielle Absicherung im Alter, ob sie nach den richtigen Normen (Sparsamkeit vs. Konsum) leben, ob sie gute finanzielle Entscheidungen treffen und ob Männer der Rolle des Ernährers angemessen entsprechen. Sie leben das Prinzip der höchst persönlichen, finanziellen Verantwortung. Mit dieser Verantwortung gehen Kummer und Angst Hand in Hand. Geldängste der Frauen Eine Untersuchung von Oppenheimer Funds im Jahre 1997, die nicht nur unter Männern, sondern auch unter mehr als 1.000 amerikanischen Frauen durchgeführt wurde, zeigt: • In Partnerschaften sind die meisten Frauen für das tägliche Management der Haushaltsfinanzen verantwortlich: 62% rechnen die Bilanz des Scheckbuches aus, 56% bezahlen alle Rechnungen und 44% kümmern sich um das Haushaltsbudget (Briles 1999: 1 - 2). • Aber nur 15% Frauen in dieser nationalen Stichprobe haben, im Unterschied zu 38% Männer, eigene Investitionsentscheidungen getroffen. Weniger als 13% der Frauen beschreiben sich selber als »sehr gut informiert« auf dem Investitionsgebiet. • Nur 25% der Befragten beider Geschlechter glaubten, dass Börsenmakler und Finanzberater Frauen mit demselben Respekt behandeln wie ihre männlichen Kunden. • Von den befragten Frauen wünschten sich 85%, dass sie im Elternhaus mehr über Geld und Investitionen gelernt hätten. <?page no="219"?> 220 Judith Briles, deren Erfahrungen hier vorgestellt werden, hat sich 15 Jahre mit Finanzen als finanzielle Ratgeberin, Börsenmaklerin, Zeitungs- und Radiojournalistin, Buchautorin und Organisatorin von Workshops beschäftigt. Über ihren Beruf kam sie auch mit vielen Frauen in Kontakt. Sie schreibt, dass die größte Angst unter amerikanischen Frauen ist, im Alter ohne Geld da zustehen (Briles 1999: 4,10,22). Sie werden am häufigsten von dem Bild der Bag Lady oder einer alten Dame, die sich von Katzenfutter ernähren muss, verfolgt. Sie stellen sich auch sehr häufig vor, dass sie ihr Geld, den Wohnsitz und Freunde verlieren werden oder das College für ihre Kinder nicht finanzieren können. Sie befürchten den Verlust ihrer Autonomie - dass sie von ihren Verwandten und Freunden abhängig leben müssen. Die amerikanischen Frauen leben auch mit der wiederkehrenden Angst, mittellos zu werden, wenn sie nicht mehr arbeiten oder ihr Mann stirbt. Wie auch Arlie Hochschild (1990), argumentiert Briles, dass Scheidungen aus demselben Grund gefürchtet werden. Briles spricht mehrmals Ängste bezüglich des amerikanischen Kranken- und Rentenversicherungssystems an. Aber man gewinnt schnell den Eindruck, dass sie diese Ängste den Frauen unterstellt. Außerdem erinnert sie den Leser daran, dass nicht existente oder unterbrochene Erwerbsverläufe der Frauen, plötzliche Entlassungen, steigende Scheidungsraten und die niedrigere Lebenserwartung der Männer dafür sprechen, dass Frauen ihr Leben ganz oder teilweise ohne eine Einkommensquelle verbringen. Sie erinnert den Leser auch an amerikanische Untersuchungen, die wiederholt zeigten, zu welch geringem Teil Rentner finanziell abgesichert sind (Briles 1999: 4). Eine Untersuchung der National Commission on Retirement zeigt, dass 1998 Social Security die Haupteinkommensquelle von 75% der älteren Personen war. Dreiviertel der Älteren, die unter der Armutsgrenze lebten, waren Frauen. Darüber hinaus spüren vor allem ältere Frauen mit Kind den so genannten vertikalen Druck [vertical squeeze] - sie sollen sich sowohl um ihre bereits hilfsbedürftigen Eltern als auch um ihre Kinder finanziell und <?page no="220"?> 221 emotional kümmern (Briles 1999: 22). Aus diesen Gründen täten die Frauen am besten, sich Sorgen um ihre finanzielle Zukunft zu machen und sie vorausschauend zu planen. Da sie aber weniger als Männer verdienen, ist ihre Angst, das Geld durch falsche Investitionen zu verlieren, viel größer als bei den Männern (Briles 1999: 13 - 19). Und dazu kommt ihre Angst, sich über Geld/ Investitionen zu unterhalten, und dass man sie für dumm halten könnte, falls sie diesbezüglich eine falsche Entscheidung treffen. Nach Briles’ Erfahrung leiden auch Männer unter der Angst vor finanziellem Versagen (s. auch Wuthnow 1996), aber sie sind besser in der Lage, mit diesen Ängsten umzugehen (Briles 1999: 15,19). Sie lassen sich von ihren Verlusten nicht so leicht paralysieren. Frauen haben, vielen Männern ähnlich, die Angst, Kredite aufzunehmen, besonders wenn sie die Kinder oder die Enkelkinder der Generation sind, die die Great Depression erlebten (s. auch Wuthnow 1996: 163 - 166). Der Einfluss der (Groß-)Eltern und des Partners ist sehr wichtig. Die (Groß-)Eltern sind vielleicht extrem sparsam, glauben, dass nur mit Bargeld bezahlt werden sollte. Sie leben vielleicht immer noch in ständiger Angst, ihr Vermögen zu verlieren - sie weigern sich, ihr Geld den Banken anzuvertrauen oder es zu investieren. Der ehemalige Mann hat vielleicht die Angst vor Geld und Krediten verstärkt, da er nicht mit dem Geld umgehen konnte und deshalb riesige Schuldenberge anhäufte. Die meisten Frauen haben Angst vor Selbstverantwortung und vor langfristiger finanzieller Planung. Sie schenken ihrem Berater zu viel Vertrauen. Frauen verlassen sich gern auf Finanzberater, mit denen sie befreundet sind. Bei ihnen bleiben sie auch trotz falscher Ratschläge (Briles 1999: 19). Wie auch viele Männer, kontrollieren Frauen weder ihre Berater noch die Entwicklung ihrer Investitionen, denn sie haben kein Vertrauen in das eigene Urteilsvermögen. Viele Frauen haben tatsächlich Angst davor, auf dem Investitionsmarkt Erfolg zu haben, da dies ihre Beziehungen zu Männern, denen sie eigentlich unterlegen sein sollten, gefährden wür- <?page no="221"?> 222 de (Briles 1999: 20). Sie leben nach traditionellen Rollenvorstellungen - die Männer sollen die Macht und Kontrolle über das Geld sowie Investitionen besitzen. Auch wenn Frauen zu Hause die Haupternährerinnen sind, fürchten sie sich doch vor dieser Rolle der Hauptinvestorin. Teilweise ist ihr Entscheidungsstil der Grund dafür. Im Unterschied zu Männern, die autonom entscheiden, sind sie daran gewöhnt, alle Entscheidungen gemeinsam mit ihrem Partner zu treffen, um seine Gefühle nicht zu verletzen. Dies ist auch der Grund dafür, dass Frauen es nicht wagen, die Fehlinvestitionen ihrer Partner zu kritisieren oder sogar diese finanzielle Aufgabe zu übernehmen. Das Auftreten der Frauen auf der Finanzbühne ist aus historischen Gründen ein relativ neues Phänomen. Noch vor drei Dekaden arbeitete nur eine Minderheit der Frauen des amerikanischen (und auch deutschen) Mittelstands. Eine typische Hausfrau verfügte kaum über ihr eigenes Geld. Wie Wimbauer, Schneider und Ludwig-Mayerhofer (2002: 268 - 269) berichten, hat Jan Pahl in ihren drei bahnbrechenden Studien zur finanziellen Seite des Familienhaushaltes bereits in den 1980er Jahren nachgewiesen, dass in relativ wohlhabenden Familien der Hauptverdiener seiner Frau nur das Haushaltsgeld und »Taschengeld« zur Verfügung stellte. Nur in Familien mit niedrigen Einkommen fand sie ein konträres Bild, mit dem übrigens die englischsprachige »labour history« und »social history« schon längst vertraut sind. Die Frau durfte fast das gesamte Einkommen ihres Mannes behalten. Ihr wurde die Dauersorge aufgebürdet, die knappen Ressourcen zu verwalten. Zelizers (1997: 36-70) Befunde zum Umgang mit der historischen Neuigkeit - dem Lohn der Frau - in Ehen bestätigen, dass die Geschlechterrollen den weitgehend irrationalen Umgang mit Geld bestimmen. Obwohl das Geld Geld bleibt, wird es in qualitativ unterschiedliche Geldtypen kategorisiert. In diesem empirischen Fall wird der Geldtyp nach seiner Quelle definiert. Und diese Quelle bestimmt dann die angemessenen Konsumptionsziele. Schon seit sehr langer Zeit wird in der Ehe der Lohn des Mannes für die wichtigsten Haushaltskosten ausgegeben. Das Ein- <?page no="222"?> 223 kommen der Frau wird nicht als ihr Lohn und als wichtiger Beitrag zur Familienkasse anerkannt. Früher unterstützten die Frauen aus der Arbeiterfamilie den Familienhaushalt dadurch, dass sie Untermieter aufnahmen oder die Wäsche und Putzarbeiten für andere erledigten und / oder selbstgemachte Waren, wie Konfitüren oder Strickpullis, verkauften. Nicht nur der Mann, sondern auch die Gerichte weigerten sich, ihr Einkommen als Lohn zu definieren. Eine Frau aus dem Mittelstand dagegen hatte entweder ein von ihrem Mann erbetteltes »Taschengeld« oder einen jährlichen Betrag für ihre Bedürfnisse und Haushaltsausgaben bekommen. Es konnte passieren, dass dieses Geld nur für allgemeine Haushaltsbedürfnisse ausreichte und für die Frau selbst dagegen nichts übrig blieb. Ihre Aufopferung für die Familie fand keine Beachtung. Mit dieser Vorgeschichte und diesen Geschlechterrollen erklärt Zelizer die modernen Erscheinungen desselben Verhaltens: auch wenn die moderne Frau fast oder sogar genau so viel wie ihr Mann verdient, wird ihr Lohn in einer großen Mehrheit von Ehen als eine Lappalie oder ein Zusatzverdienst betrachtet, der - im bewussten Einverständnis beider Ehepartner - nur für Extras ausgegeben wird. Der Mann und sein Einkommen bleiben per Definition, wenn auch häufig nicht mehr in der Praxis, die Haupthaushaltsträger. Der qualitative Unterschied zwischen den beiden Geldtypen, genauso wie die Definition des Konsumziels, richtet sich in den meisten traditionellen Ehen danach, wer das Geld nach Hause bringt. Auch wenn die verdienten Summen quantitativ genau gleich sind, bleiben sie qualitativ getrennt. Sie werden auch kaum je für die Absicherung der Zukunft investiert, um die sich die meisten Frauen so viel Sorgen machen. Wie die langjährigen Erfahrungen Briles’ zeigen, die weitgehend mit Forschungsresultaten Pahls, Wuthnows und Zelizers übereinstimmen, werden Frauen zu finanziellen Opfern ihrer Geschlechterrolle. Die Konsequenzen der treu gespielten Frauenrolle, mit denen sie später konfrontiert werden, sind tragisch. Wie bereits erwähnt, machten Frauen 1998 in den USA 75% jener älteren Personen aus, die unter der Armutsgrenze lebten. <?page no="223"?> 224 Neue Geldarrangements zwischen den Geschlechtern? Angesichts des sozialen Wandels und des jungen Alters der Sozialforschung auf dem Gebiet Frauen und Geld, sollen die obigen Forschungsergebnisse mit einer Prise gesunder Skepsis betrachtet werden. Das Bild der Frau als Finanzopfer muss relativiert werden, aber es ist unklar inwiefern. Sowohl in den USA als auch in Deutschland arbeiten heute viel mehr Frauen, als es früher der Fall war. Dementsprechend verfügen mehr Frauen über ihr eigenes Einkommen. Die Frage bleibt, wie ihr Geld definiert, ausgegeben und gespart wird. Wimbauer, Schneider und Ludwig-Mayerhofer (2002) stellen anhand von Umfragedaten des 1994-International Social Survey Program fest, dass in der Bundesrepublik eine Mehrheit der Befragten berichtet, dass sie ihr Geld gemeinsam mit dem Partner verwalten. Im Osten trifft dies mehr als im Westen Deutschlands zu. Vergleichbare Ergebnisse findet man in allen modernen Industrieländern, wobei in Skandinavien dieses Muster stärker als im Süden Europas ausgeprägt ist. Ihre vorläufigen Untersuchungsergebnisse zeigen aber auch, dass sich die (Ehe-)Paare oft phantasievollen Illusionen beim Definieren vom »gemeinsamen« und »individuellen« Geld hingeben, wobei die Frauen eher dazu tendieren, ihr ›eigenes‹ Geld in die Beziehung zu investieren (s. mehr dazu unter Geld und Liebe). Eine empörte Newsweek-Journalistin wendet sich gegen das verzerrte Bild der amerikanischen Frau als unfähige und verschüchterte Barbiepuppe im erschreckenden Finanzland (Bryant Quinn 2001: 23). Sie schreibt, dass nach dem amerikanischen Employee Benefit Research Institute 70% der arbeitenden Amerikaner für ihre Rente sparen. Diesbezüglich gibt es keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Andere Untersuchungen zeigen, dass mehr Frauen als Männer ab ihrem 33. Lebensjahr in den USA weit verbreitete Betriebssparpläne anlegen, wobei bei bestimmten betrieblichen Sparplanformen Frauen selektiver vorgehen und dabei mehr anlegen. <?page no="224"?> 225 Bezogen auf Emotionen würde dies darauf hindeuten, dass beide Geschlechter in den USA Angst vor niedrigem Einkommen bzw. Armut im Rentenalter haben, nicht nur die Frauen. Angesichts der Schwäche des US-amerikanischen Wohlfahrtstaates und Wuthnows Ergebnissen zu finanziellen Sorgen der amerikanischen Mittel- und Arbeiterklasse ist es eigentlich keine Überraschung. Diese Befunde zeigen aber auch, dass die arbeitenden Frauen keine Finanzopfer der traditionalen Geschlechterrollen sind. Die Frauenrolle hält sie nicht davon ab, einen Teil ihres Einkommens für sich und somit für ihre späteren Bedürfnisse zu reservieren. Eine weitere Untersuchung, die von einem Finanzprofessorenteam an der University of California in Davis durchgeführt worden ist, zeigt, dass sich Frauen auf dem Aktienmarkt weniger risikofreudig als Männer verhalten (Bryant Quinn 2001: 23). Ihre Untersuchung von fast 38.000 Aktienkontos ergab auch, dass die weiblichen Investoren ein bisschen bessere Investitionsergebnisse erreichen als ihre männliche Counterparts. Eine andere Untersuchung widerspricht diesen Befunden insofern, als sie feststellt, dass es ab dem 55. Lebensjahr keine Unterschiede im Investitionsverhalten der Geschlechter gibt. Eine andere, 1998 durchgeführte Untersuchung von Frauen, deren Einkommen jährlich mehr als $100.000 beträgt, demonstriert, dass sie gern ihr Geld investieren. Dabei unterscheidet sich ihr Investitionsverhalten kaum von dem der Männer. Aber auch jene empörte Newsweek-Journalistin vermag nicht, den Fakt zu verbergen, dass, wenn man alle Amerikanerinnen betrachtet, die Hausfrauen eingeschlossen, Frauen weniger sparen oder investieren als Männer. Erklären kann man den Unterschied mit fehlenden Gelegenheiten und Erfahrung, aber dieser kleine Unterschied mit allen seinen schrecklichen Folgen - wie Armut im Rentenalter - bleibt. Vermutlich sind es vorwiegend die arbeitenden und jüngeren Frauen, die den Schritt jenseits der traditionalen Geschlechterrollen und der Rolle der Finanzopfer wagen. Die älteren Hausfrauen sitzen in ihren Barbiepuppen-Häusern fest. Sie überlassen das Geldmanagement ihren Männern (Bryant Quinn 2001: 23). <?page no="225"?> 226 Der Konsument als Opfer Das Bild des Konsumenten als der König, der rational und souverän ist, konkurriert mit dem gesellschaftskritischen Bild vom Konsumenten als Opfer (Edwards 2000: 12,18 - 20). Drei Vertreter der Frankfurter Schule - Theodor Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse - sahen die neue Werbeindustrie, die neuen Massenmedien und die neuen Konsummärkte als notwendig an für die Aufrechterhaltung und Expansion des Kapitalismus. Sie argumentierten, dass die Werbeindustrie eine neue Massenkultur, neue »falsche« Bedürfnisse und eine Jagd nach immer neuen Produkten kreierte. Zusammen verwandelten diese neuen Marktphänomene ausgebeutete Arbeiter in Konsumenten, die durch ihre »falschen« Bedürfnisse davon abgehalten wurden, die wahren gesellschaftlichen Verhältnisse zu erkennen. Aus der Sicht der Frankfurter Schule, die immer noch viele Anhänger hat, ist der Konsument am besten als ein Opfer zu verstehen, als passiver Naiver, Gefoppter, Leichtgläubiger und Ausgetrickster. Zahlreiche amerikanische Wissenschaftler haben seitdem versucht, die These empirisch zu untermauern, dass, als die amerikanischen Kapitalisten in den 1920ern die Kontrolle über den Produktionsprozess trotz des Widerstandes der Arbeiterklasse an sich rissen, sie gleichzeitig Konsumfreiheit anboten - Konsumfreiheit sollte auch die verlorene politische Bedeutung der Arbeiterklasse kompensieren (Ewen 1977; Flam 1985). Bauman (1988) bietet ein kondensiertes Echo ähnlicher Ideen, die in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Habermas, Offe und Goldthorpe formulierten. In seinem Buch Freedom geht er aber über diese ursprünglichen Argumente hinaus. Bauman behauptet, dass der Konsummarkt dem Einzelnen zum einen ermöglicht, Freiheit zu erleben und seine individuelle Identität in Abgrenzung zu anderen zu kreieren. Zum anderen integriert der Konsummarkt die Individuen durch Konsumpflicht und Konsumgenuss in die Gesellschaft. Er bleibt bei der Ansicht, dass sich der Einzelne vom Kapitalismus hintergehen lässt. Sein Kommentar ist voller Ironie: Wenn unter Konsumpflicht das <?page no="226"?> 227 Verzehren von appetitlichen Speisen und wohlriechenden Getränken, entspannende Autofahrten, Bummeln gehen oder der Einkauf von glänzenden, ansprechenden, anziehenden Waren bedeutet, wer braucht dann noch Kontrolle über die Produktion? (Bauman 1988: 77) Kurz gesagt: »Der Konsummarkt in seiner Ganzheit kann als ein institutionalisiertes Exit aus der Politik gesehen werden« (Bauman 1988: 82). Bauman teilt die Konsumenten in die finanziell abgesicherten Verführten und die staatlich unterstützten, armen Unterdrückten ein (Bauman 1988: 98; Edwards 2000: 38,92). Beide sind eigentlich als Opfer zu verstehen. Die Verführten sind subjektiv arm, weil sie dem Glück über den Konsum nachjagen. Sie werden auch subjektiv arm bleiben, da ihren Begierden keine Grenzen gesetzt werden und es ihnen scheint, dass sie, verglichen mit dem reichen Angebot, jämmerlich wenig besitzen. Als Durkheim über die entfesselten Begierden und Simmel über die rastlose Jagd nach dem Glück mittels Geld schrieben, meinten sie wahrscheinlich diese Gruppe. Für die Sozialhilfeempfänger sind die neuen Bedürfnisse und Pflichten viel problematischer als für die finanziell Abgesicherten, weil ihre Ressourcen so viel mehr begrenzt sind. Für sie ist die Distanz zwischen sich als Subjekt und dem Objekt ihrer Begierde viel größer. Die unterdrückten Sozialhilfeempfänger werden nicht nur aus der Gesellschaft aufgrund ihrer begrenzten Ressourcen und ihrer Unfähigkeit, soziale Kontakte zu pflegen, ausgeschlossen, sondern auch weil sie ihre Entscheidungen, auch im Konsumbereich, nicht frei treffen können. In einer Gesellschaft freier Konsumenten verursachen die vom Staat diktierten Vorschriften über Geldzuteilung und dessen Verwendung Scham (Abel-Smith/ Townsend und Donnison in Bauman 1988: 85; s. auch Flam und Göbel 1998: 68 - 75; Neckel 1991). Man vermutet, dass die wichtigste Ursache für solche Krankheiten wie Depressionen das Fehlen von Ressourcen ist (Edwards 2000: 124). Untersuchungen zeigen, dass das Einkaufen dem Einzelnen zum besseren Selbstbild und Selbstgefühl verhilft. Der Einzelne bekommt beim Einkaufen ein Machtgefühl. Die Ar- <?page no="227"?> 228 men werden zwar eingeladen, am Konsum teilzuhaben, aber ihre Mittel sind zu begrenzt, um diese Einladung wahrzunehmen. Depression ist eine Folge, die andere ist Überschuldung und Kaufsucht (Korczak und Pfefferkorn in Haubl 1996: 924). Bei zwanghaften und süchtigen Käufern sind Impulskäufe vorherrschend - sie »neigen stärker zum Kredit(karten)mißbrauch ...« (Haubl 1996: 927). Untersuchungen zeigen, dass Shopaholics ihren Selbstwert erheblich niedriger einschätzen als »normale« Käufer. Sie haben das Gefühl, viel weniger als diese zu besitzen und leiden an intensiveren Neidgefühlen. Sie sind allerdings nicht neidisch auf den Besitz von Gütern, sondern auf Prestige und sozialen Status, die die Besitzer in ihren Augen genießen (Scherhorn et al. in Haubl 1996: 927). Beim Einkaufen versprechen sie sich Erregung, Freude oder Besserung der depressiven Stimmung. Nach dem Kauf - den sie als Kontrollverlust erleben - fühlen sie sich ängstlich, schuldig und beschämt. Eine neue englische Untersuchung belegt, dass es in England mehr als 700.000 Shopaholics gibt (Elliot in Edwards 2000: 124). Ähnliche statistische Untersuchungen aus Deutschland, Kanada und den USA zeigen, dass diese Gruppe zwar aus allen sozialen Schichten, aber aus jüngeren Altersgruppen stammt (Haubl 1996: 925,928,931; Edwards 2000: 124). Die Mehrheit sind Frauen - sie haben ein durchschnittliches Einkommen und leben sehr isoliert. Nicht nur die Kaufsucht, sondern auch der Warendiebstahl werden im Alltagsbewusstsein mit Frauen assoziiert, obwohl sich dieses Delikt auf alle soziale Gruppen gleich verteilt. Jung und alt, arm und wohlhabend, Frau und Mann sind in der polizeilichen Kriminalstatistik Deutschlands vertreten (Lange, Kaiser in Haubl 1998: 202). Die Frauenquote bewegte sich Anfang 1990 zwischen 37% und 39,4%. Das Einzige, das man möglicherweise Frauen unterstellen könnte, ist, dass sie Warendiebstahl gegenüber anderen Formen des Verbrechens bevorzugen: Frauendelikte stellen ungefähr 25% der Gesamtdelinquenz in der Bevölkerung dar, Warendiebstahl liegt mit ca 37 - 40% über diesem Prozentsatz. <?page no="228"?> 229 Der Konsument als König: Rational? Das Bild des Konsumenten als König ist multidimensional (Edwards 2000: 11,56 - 57). Sie sind gut ausgebildet, wohlhabend, kalkulierend, selbsicher. Sie können als Avant-Guardians oder Classical Consumers auffallen - sicher ist, das sie am Maximieren ihres persönlichen Einkommens interessiert sind. Dieses Bild ist mit dem Begriff des souveränen Konsumenten kompatibel. Letztlich stellt der rationale Konsument eine Hauptsäule der Wirtschafslehre dar - sein rationaler und flexibler Umgang mit dem neutralen Mittel Geld ist eine Grundannahme der Nationalökonomie. Nicht nur Simmels Idealtypen, sondern auch die neuere Forschung sowohl zur Konsumentenberatung als auch zu Einstellungen gegenüber dem Geld zeigen, dass a) der Umgang mit Geld und Warenwelt sehr verunsichernd und emotional ist, b) die meisten Menschen irrational mit dem Geld umgehen. Die Frage ist nur, wie man diese Irrationalität anhand von Idealtypen darstellen sollte. Der verunsicherte Konsument Bauman (1996: 202) meint, sobald uns die Experten und die Werbung davon überzeugt haben, dass wir bestimmte neue Bedürfnisse besitzen, empfinden wir Scham, wenn wir uns diese Bedürfnisse nicht erfüllen. Wenn wir nichts unternehmen, obwohl wir wohl wissen, dass ein neuer Typ von Hygiene-, Elektro- oder Haushaltsartikel angeboten wird, spüren wir, dass wir unseren Verpflichtungen nicht nachgehen. Wir schämen uns und haben ein schlechtes Gewissen. Wir verraten uns als unfähige Ernährer oder Beschützer, die nicht in der Lage sind, sich angemessen um die Familie und/ oder den eigenen Körper zu kümmern. Dadurch verlieren wir ein bisschen von unserem Anspruch auf Selbstrespekt und auf den Respekt anderer. Um diesen (Selbst-) Respekt neu zu gewinnen, damit wir uns wieder als ein stolzer Besitzer von angesagten Gegenständen präsentieren <?page no="229"?> 230 können, müssen wir uns diese plötzlich notwendigen Objekte anschaffen. Es geht nicht nur um unsere Familie oder uns selbst. Wie schon Veblen (1994 [1899]: 86 - 87; s. auch Warde 1997: 103) behauptete, trägt die moderne Organisation der Produktion dazu bei, dass wir anonym unter Fremden leben, die wir nur dann mit unserem pekuniären Vermögen [pecuniary ability] beeindrucken können, wenn wir unsere Kaufkraft demonstrieren können. Unsere Kauffähigkeit wird in typischen Sammlungslokalen - dem Restaurant, Einkaufszentrum, Theater, Kino, Hotel, Park, Café, Club und der Kirche - gezeigt und wahrgenommen. Reichtum wird immer öfter nicht mit Muße und unbegrenzter Freizeit [leisure], sondern mit ostentativem Konsum [conspicuous consumption] in Zusammenhang gebracht. Wie eine deutsche Untersuchung zeigt, ist die Anschaffung von notwendigen Objekten bei weitem keine einfache Unternehmung. Diese Untersuchung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass wir in einer Beratungsgesellschaft leben, in der wir durch die Massenmedien - Buch, Zeitschrift, Radio, Fernsehen, Telefon, Internet -, aber auch face-to-face massiv beraten werden: »Unter den Titeln, die die Bundesbürger in öffentlichen Bibliotheken ausleihen, stehen Ratgeber und Sachbücher laut einer aktuellen Infas-Untersuchung mit rund zwei Dritteln an erster Stelle. Nach einer repräsentativen Umfrage des Börsevereins und der Stiftung Lesen aus den Jahren 1992/ 93, deren Ergebnisse von Marktforschern auch für 1994 bestätigt wurden, schmökern 86 Prozent derer die Bücher lesen, in Ratgebern. Im Hörfunk- und Fernsehbereich gibt es kaum einen Sender, der nicht wenigstens ein eigenes Beratungsprogramm zur prime time ausstrahlt ...« (Bergmann, Goll und Wiltschek 1998: 144) Themen der Beratung variieren sehr stark, lassen sich aber wie folgt kategorisieren: a) Biographische Übergänge - Beratung für werdende Mütter, Trauernde, Jugendliche, Väter mit pubertie- <?page no="230"?> 231 renden Söhnen, zukünftige Eheleute usw. b) Problem- und Krisensituationen - für Suizidgefährdete, Krebskranke, Schuldner, Mobbing-Opfer usw. c) Entscheidungssituationen - sowohl bei Lebensentscheidungen hinsichtlich des Berufes oder der Ehe als auch bei Alltagsentscheidungen über Einkäufe, Urlaub, Mode (Bergmann, Goll und Wiltschek 1998: 150 - 152). Die Adressaten der Beratung sind vor allem Einzelpersonen, obwohl Beratung ebenfalls für Gruppen und Organisationen relevant werden kann. Für uns besonders interessant sind die Befunde dieser Untersuchung hinsichtlich den Entscheidungssituationen, da hinter dieser Kategorie der angeblich rationale Konsument steckt. Die Untersuchung enttarnt ihn als ein verunsichertes und emotional bedürftiges Individuum, das zwar in der Lage ist, sich zu informieren, aber ohne emotionale Unterstützung und Bestätigung keine Entscheidung treffen kann. Es zeigt auch, dass die neue, zum großen Teil wild wachsende Beratungsindustrie kaum in der Lage ist, diese Unterstützung zu bieten: »Alle Beratungseinrichtungen - vorrangig natürlich die, bei denen es um psychosoziale Probleme geht - müssen sich darauf einstellen, daß Beratungsprozesse nicht nur eine kognitive, sondern auch eine affektive Seite haben ... Eine zusätzliche, sekundäre Emotionalisierung erfahren Beratungssituationen durch die Desorientierung der Ratsuchenden, die sich ihren Weg durch das dichte Gestöber an oft widersprüchlichen Informationen suchen müssen und sich dabei häufig überfordert fühlen. Zwar treten in dieser Situation keine Sinnkrisen auf, doch die Selbstverständlichkeit des Handelns und Entscheidens wird doch erheblich beeinträchtigt. Viele Klienten kommen mit einem deutlich gesteigerten Gefühl der Verunsicherung in die Beratung. Sie mußten erfahren, daß das übliche Mittel, Unsicherheit durch ein Mehr an Informationen zu bekämpfen, nicht nur nichts hilft, sondern ihre Desorientierung noch vermehren und manchmal bis zur Angst und Hysterie steigern kann. Beratungen haben denn auch für zahlrei- <?page no="231"?> 232 che Klienten in erster Linie eine Bestätigungs- und Beruhigungsfunktion. Sie wissen in der Regel verhältnismäßig viel über ihr Problem, haben auch eine Vorstellung möglicher Handlungsoptionen und Lösungsmöglichkeiten und sind doch oft wie gelähmt vor Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen ... So klientenzentriert Beratung auch sonst sein mag, sie betrachtet es weder als ihre Aufgabe noch verfügt sie über das hierfür erforderliche kommunikative Repertoire, um den Klienten bei der emotionalen Bewältigung ihrer Probleme zur Seite zu stehen.« (Bergmann, Goll und Wiltschek 1998: 209 - 210) Im Kontrast zu diesem »Verunsicherungsansatz« argumentiert der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1987) in seinem »modernen« Klassiker Die feinen Unterschiede, dass schon unsere Eltern dafür sorgen, dass wir uns einen unserer sozialen Klasse angemessen Habitus aneignen, der uns weitgehend beim Einkaufen entlastet. Der Habitus der höheren Schichten weckt ihre Vorliebe für Wein statt Bier und führt ihre selbstsicheren Schritte zum Feinkostgeschäft statt um die Ecke zu McDonalds oder in den Supermarkt. Geld zwischen Liebe und Abscheu Eine der interessanten, bereits erwähnten Thesen Simmels ist, dass sich das Individuum mit einer Warenwelt konfrontiert sieht, die es nicht bestimmen oder zu kontrollieren vermag. Marx’ These zum Warenfetischismus wird zu Simmels Entfremdungsthese. Nach Simmel ist die individuelle Einschätzung verschiedener Objekte nicht mehr nur subjektiv durch die eigenen Gefühle, Wünsche, Träume, dem Nutzen oder Normen bestimmt. Vielmehr ist diese Einschätzung durch den Zirkulationsprozess definiert, in dem die Werte verschiedener Objekte in Beziehung zueinander sowie zum Geld gesetzt werden und somit einen Tauschwert erhalten. Außerdem ist unser Verhältnis zur Welt der Objekte nicht mehr direkt, sondern durch das Geld selbst ver- <?page no="232"?> 233 mittelt: »Seit der Geldwirtschaft stehen uns die Gegenstände des wirtschaftlichen Verkehrs nicht mehr unmittelbar gegenüber, unser Interesse an ihnen wird erst durch das Medium des Geldes gebrochen, ihre eigene sachliche Bedeutung rückt dem Bewusstsein ferner, weil ihr Geldwert diese aus ihrer Stelle in unseren Interessenzusammenhängen mehr oder weniger herausdrängt« (Simmel 2000: 665 - 666). Da unsere Beziehung zur Welt der Gegenstände durch Geld vermittelt ist, wird es von kritischer Bedeutung, die Beziehungen zwischen uns und dem Geld zu analysieren. Aus Simmels Sicht geht es hier um das Verhältnis zwischen dem Subjekt und Objekt, um das Verhältnis des Wunsches zu seiner Erfüllung - ein Verhältnis, das einmalig durch das neue Phänomen Geld unterbrochen wird (Simmel 2000: 315). Mit Hilfe von Idealtypen stellt Simmel den modernen Umgang mit Geld samt seiner historischen Wurzeln dar - diese Wurzeln werden hier allerdings ausgeblendet: Der Geizige: Er liebt das Geld. Ihn reizt die scheinbar absolute Macht des Geldes, das unbegrenzte Möglichkeiten des Genießens impliziert und gleichzeitig »den Genuß noch völlig unangerührt läßt« (Simmel 2000: 313). »Indem die auseinandergesetzte Art des im Geld verkörperten Könnens ihm ein sublimiertes Machtgefühl gerade vor seinem Ausgegebenwerden zuwachsen läßt - der fruchtbare Moment ist in ihm gleichsam zum Stehen gekommen -, ist der Geiz eine Gestaltung des Willens zur Macht und zwar, den Charakter des Geldes als des absoluten Mittels beleuchtend, so, daß die Macht wirklich nur Macht bleibt und sich nicht in ihre Ausübungen und deren Genuß umsetzt« (Simmel 2000: 318). Hinter dem Wunsch nach Macht verbirgt sich erstaunlicherweise eine gewisse Verletzbarkeit, durch das Objekte unserer Begierde überrascht oder enttäuscht zu werden. Im Unterschied zu anderen ersehnten Objekten ist das Geld völlig farblos: »Als absolut qualitätsloses Ding kann es nicht, was doch sonst das armseligste Objekt kann: Überraschungen oder Enttäuschungen in seinem Schoße bergen. Wer also wirklich und definitiv Geld will, ist vor diesen absolut sicher« (Simmel 2000: 316). <?page no="233"?> 234 Der Verschwenderische: So wie der Geizige ist auch der Verschwenderische von dem Geld fasziniert, aber er lässt diese Faszination nicht Oberhand gewinnen. Er spielt Gleichgültigkeit vor. Das Geld wird von ihm demonstrativ zerstört, verspielt, verschenkt oder großzügig ausgegeben: Sein Wertgefühl wächst in dem Augenblick des Überganges des Geldes in andere Wertformen. Und zwar mit solcher Intensität, dass er sich den Genuss dieses Augenblicks um den Preis erkauft, alle konkreten Werte zu vergeuden (Simmel 2000: 323). Er genießt die käuflichen Objekte, so lange er mit dem Gedanken ihres Kaufes spielt, aber sobald er sie besitzt, »... ist sein Genießen mit dem Fluche behaftet, nie Rast und Dauer zu finden« (Simmel 2000: 326). Der Geizige und der Verschwenderische unterscheiden sich nur in Nuancen voneinander - man findet oft beide Einstellungen in ein und derselben Person, sei es in ihren verschiedenen Lebensbereichen oder Lebensphasen. Der Asket: Er lehnt das Geld, seinen Besitz und den Besitz als solchen völlig ab: »Wo das Heil der Seele als Endzweck empfunden wird, da erscheint häufig die Armut in manchen Doktrinen als ein ganz positives und unerläßliches Mittel« zu diesem Zweck (Simmel 2000: 329). Sobald die Armut als sittliches Ideal auftaucht, ist es deshalb auch der Geldbesitz, den sie als die schlimmste Versuchung, als das eigentliche Übel verabscheut. Das Geld wird zum Symbol des Teufels, gerade weil seine scheinbar unschuldige, in Wahrheit aber verführerische Kraft es so gefährlich macht. Das Wesentliche ist, dass die Organisation des seelischen Lebens häufig verlangt, dass die Bindung an das Eigentum gelöst wird: »... [D]as Geld [wird] zu einem Gegenstand der Furcht und des Abscheus, die Armut zu einem eifersüchtig gehüteten Besitz ...« (Simmel 2000: 331). Der Zyniker: Er sucht die Entwertung der Dinge. Aber ein Zyniker findet Freude daran, dass Geld das universale Wertmessungsmittel ist und alle qualitativen Unterschiede zwischen Dingen, <?page no="234"?> 235 Menschen und Idealen nivellieren kann. Der Zyniker weiß, dass Alles und Alle käuflich sind. Es geht nur darum, den richtigen Preis zu finden. Mit Ausnahme vielleicht des Geldes sind ihm keine Werte heilig. Für einen Zyniker, so Simmel, ist es auf jeden Fall klar, dass das Geld jede subjektive Schätzung, jedes Ideal und jede Kategorie ablehnt. Das Geld objektiviert sie insofern, als es allen diesen Werten einen quantitativen, relativen Preis gibt. Ein gutgelaunter Zyniker fällt in eine spöttische und frivole Stimmung, wenn er sich ansieht, wie das Geld und sein Wert gegen Schönheit und das Heil der Seele, Ehre und Überzeugungen, Talent und Tugend eingesetzt werden. Die Börse, sagt Simmel, wimmelt von Zynikern. Diese Personen werden durch die Erfahrung erregt, wie viel für Geld zu haben ist. Sie haben ein positives Lustgefühl. Der Blasierte: Im Gegensatz zu dem Zyniker wird der Blasierte reaktionsunfähig. Er besitzt Vermögen, kann sich alles kaufen. Er muss auch nicht arbeiten oder sich anstrengen, um Dinge zu erwerben. Jeder Reiz ist ihm deswegen abhanden gekommen. Alles ist wertlos und farblos. Die Tatsache, dass sich Alles und Alle kaufen lassen, raubt ihm Lust und Freude. Das Geld und die Käuflichkeit der Dinge beraubt ihn jeglichen Geschmacks und macht auch die meist kontrastierenden Dinge gleich. Seinen Ausweg sucht er in extremen und immer schneller wechselnden Eindrücken, Beziehungen und Belehrungen. Er fragt sich nie, ob und wenn ja, welche Werte hinter diesen Eindrücken stecken. Aber je mehr er sie sucht, desto weniger reizen sie ihn. Im Gegensatz zu denen, die das Heil der Seele auf verschiedene Weise suchen, ist der Blasierte ein Opfer seiner eigenen Überzeugung, dass das Geld doch ein Schlüssel zur Freude sei. Er ist nicht in der Lage, ohne die Vermittlung des Geldes Reize zu suchen. »So sind Zynismus und Blasiertheit nur die Antworten zweier verschiedener, manchmal auch gradweise gemischter Naturelle auf die gleiche Tatsache: bei zynischer Disposition erregt die Erfahrung, wie vieles für Geld zu haben ist, und der Induktionsschluß, daß schließlich Alles und Alle käuflich sind, ein <?page no="235"?> 236 positives Lustgefühl, während für den zur Blasiertheit Neigenden eben dasselbe Bild der Wirklichkeit ihm die letzten Möglichkeit raubt, ihm zu Reize zu werden. Während deshalb der Zyniker seine innere Lage in der Regel gar nicht abzuändern wünscht, ist dies beim Blasierten doch oft genug der Fall ...« (Simmel 2000: 336) Es scheint, dass nur zwei Formen des Umgangs mit dem modernen Geld - der asketische und der verschwenderische - einen erfolgreichen Versuch darstellen, die eigene Subjektivität gegen die Objektivität des Warenmarktes durchzusetzen, die Entfremdung gegenüber der Warenwelt zu überwinden. Der Asket setzt seine Subjektivität durch - insofern, als er sich von Geld und Besitz befreit und sein Seelenheil dadurch sichert. Ein moralischer Sieg impliziert den Rückzug aus der »normalen« Welt, eine Art von Ghettoisierung oder, im besten Falle, eine parallele Lebenswelt. Der Verschwenderische, wie der Blasierte, egal wie viel und wie demonstrativ er auch immer ausgibt, kann die objektiven Funktionen des Geldes oder seine intersubjektive, gesellschaftliche Hochschätzung in der Gesellschaft nicht ändern. Aber für sich selbst, im Moment der Verschwendung, gelingt es ihm, der Logik des modernen Geldes Widerstand zu leisten. Sicher ist, dass der Zyniker diesen Widerspruch zwischen seiner Subjektivität und der Objektivität des Warenmarktes nicht erlebt - er genießt die wertnivellierenden Konsequenzen des Marktes. Der Blasierte seinerseits scheint einen verlorenen Kampf zu kämpfen, da er sich vom Geld nicht genügend distanzieren kann und deshalb nicht versteht, dass Geld eigentlich keine Garantie, kein Mittel zum Glück ist. Im Gegenteil, er lebt gerade die weit verbreitete Illusion, von der schon Simmel sprach, dass Geld tatsächlich Glück bringe. Der Blasierte Simmels muss nicht dem Geld nachjagen, da er es reichlich besitzt. Seine fieberhafte Rastlosigkeit gilt nicht dem Verdienen, sondern dem Ausgeben. Der Blasierte ist aber enttäuscht, verwundert, immer mehr abgestumpft, weil, egal wie viel Geld er zu seinem Vergnügen ausgibt, er kein Glücksgefühl mehr erlebt. Das moderne Geld löst sein Versprechen nicht ein. <?page no="236"?> 237 Askese und Blasiertheit bei der französischen und amerikanischen Upper-Middle Class Eine vergleichende Studie von Michèle Lamont verdeutlicht, dass mindestens zwei von Simmels Einstellungen zum Geld ihre empirischen Entsprechungen besitzen, die asketische und die blasierte. Lamont (1992: 67 - 68) behauptet, dass negative Einstellungen zum Geld, die sie bei zwei von drei Gruppen der französischen upper-middle class entdeckte, dem Katholizismus verpflichtet sind. Im Grunde genommen sind ihre Einstellungen »asketisch«. Für beide Gruppen ist das Geld bedrohlich und beschämend. Sie sehen das Geld entweder als etwas nicht Ursprüngliches, das sie oft in Verlegenheit bringt und potentielle Beziehungen zu Kunden oder Institutionen bedroht, oder als etwas, dessen Zweck die Aufrechterhaltung des traditionalen Lebensstils ist - Besuche von Restaurants, Theatern oder von anderen Kulturveranstaltungen sowie Empfänge von Freunden und Verwandten. Auf jedem Fall assoziieren sie das Geld nicht mit sozialer Position oder einem Aufstieg auf der Konsumleiter, wie ihre amerikanische Gegenparts. Unterhaltungen über Geld, Preise oder Einkäufe sind selten. Edle Wertschätzung verdient nicht das Geld, sondern der Altruismus und immaterielle Werte. Der Wert einer Person wird nicht durch ihr Einkommen bestimmt. Durch das ununterbrochene Rennen nach dem letzten Schrei auf dem Konsummarkt als die Verkörperung des Glücks, und die erlebte Enttäuschung, wenn man das Neueste schon besitzt, erinnert die amerikanische upper-middle class an den Blasierten. Eine bereits erwähnte vergleichende Untersuchung von der französischen und amerikanischen upper-middle class, d.h. erfolgreiche Akademiker, Manager und Geschäftsleute, zeigt, dass die amerikanischen Vertreter dieser sozialen Klasse viel häufiger als die Franzosen Geld mit Freiheit, Glück und Sicherheit assoziieren (Lamont 1992: 69 - 70). Erfolg bedeutet für die Amerikaner dieser Schicht, dass man mit dem verdienten Geld ein erwünschtes »Komfortniveau« erreichen kann. Ein Niveau, das den beruflichen Erfolg des Einzelnen bestätigt und eine Selbstverwirkli- <?page no="237"?> 238 chung erlaubt. Zu diesem Niveau gehört sowohl der Besitz von Häusern, Autos und elektronischen Geräten als auch die eigenen Freizeitaktivitäten und die der Kinder: Piano, Ballett, Tennis, Computer, Golf und diverse Reisen. Da aber das Komfortniveau unbestimmt bleibt, verbringt man das Leben mit der ständigen Suche nach immer mehr Luxusgütern. Die Begierden sind entfesselt, ohne Glück zu bringen. Ein New Yorker Computerspezialist erzählt dazu: »Ich sehe mich selbst [I see myself admiring] die neuesten Autos, die neuesten Kleider bewundernd, ich möchte den neuesten Urlaubsort besuchen ... Dies sind nicht Dinge, die mich glücklich machen, aber trotzdem möchte ich das neue Auto, die neueste Stereoanlage ... Es gibt viele Dinge, die ich haben möchte, die ich nicht habe.« (Lamont 1992: 70) Geiz und Verschwendung - die Yuppies Barbara Ehrenreich (1994), die den Wandel des Selbstverständnisses in der amerikanischen Mittelklasse und deren Angst vor dem Absturz untersuchte, argumentiert, dass sich diese Klasse zwischen dem Verzicht und dem Sich-Gönnen als die zwei Lebens- und Erziehungsprinzipien bewegt. Dies kommt häufig im Leben des Einzelnen zum Ausdruck, aber auch besonders stark in bestimmten historischen Phasen. In den Nachkriegsjahren war der systematische Verzicht in Form von Familienersparnissen unabdingbar, da es eine wichtige Voraussetzung für die Anschaffung von modernen Möbeln, Autos und den ultimativen Statussymbolen, den neuesten High-Tech-Haushaltsgeräten, war. Dreißig Jahre später ist das Sich-Etwas-Gönnen zum Hauptlebensprinzip bei der amerikanischen Mittelklasse geworden. Ehrenreich nimmt besonders die Yuppies - die über 60% der Mittelklasse repräsentieren - unter ihre Lupe (Ehrenreich 1994: 194, 208 - 209). Diese Young-Urban-Professionals sind von Beruf Manager, Anwälte, Berater, Makler und andere in der Wirtschaft beschäftigte Akademiker. Mitte der 1980er litten viele bereits als <?page no="238"?> 239 Studenten an »vorzeitigem Pragmatismus«, da sie jegliches Ideal ablehnten und den finanziellen Wohlstand als das höchste Ziel ansahen. Für die Armen oder für die Berufe, die sie zum Verzicht verpflichtet hätten, fehlte ihnen jedes Interesse. Nur solche Fächer wie Wirtschaft oder Recht kamen deshalb für sie in Frage. Seit den späten 1970er Jahren konnten Absolventen dieser Fächer, wenn sie von den besten Privatuniversitäten stammten, bereits im ersten Berufsjahr sehr viel verdienen. An der Wall Street »war das Ziel, mit dreißig Millionär zu sein, weder ungewöhnlich noch völlig realitätsfern. Milchgesichtige Senkrechtstarter hatten Hochkonjunktur, und New Yorks Nobelrestaurants waren gegen Ende der achtziger Jahre voll besetzt mit knapp volljährigen Leuten mit rosigem Teint« - diesen »Wunderkindern der Hochfinanz« (Ehrenreich 1994: 210). Nach Ehrenreich zeigten Yuppies einen »an Sucht grenzende[n] Drang zum Erwerb«: »Der Bilderbuch-Yuppie hatte ein ausländisches Auto für 40.000 Dollar, fuhr zu jeder Jahreszeit energisch in Urlaub, und sein Traum war eine Eigentumswohnung mit einer Ehrfurcht gebietenden Anschrift. Doch auch wer sich den wahren Luxus - Eigentumswohnung und Porsche - nicht leisten konnte, gönnte sich im Alltag ein paar extravagante Kleinigkeiten: Salatdressing aus Himbeeressig und Walnußöl, Mineralwasser aus Frankreich, Turnschuhe für 100 Dollar oder ein Essen für 50 in einem Trendrestaurant. Die Art und Weise, wie die Yuppies Geld ausgaben, war eine beispiellose Kapitulation vor der Konsumkultur: ein zwanghafter, an Sucht grenzender Drang zum Erwerb...« (Ehrenreich 1994: 225) In ihrem Konsumstil schien diese Gruppe nicht nur auf Simmels Verschwenderischen zuzutreffen - sie übertraf ihn über jede Vorstellung hinaus. Die Yuppies fanden Porsche, Rolex-Uhren und Schickeria-Delikatessen unendlich reizvoll. Nach Newsweek entwickelten sie eine neue Bewusstseinform, die des transzendentalen Kaufrauschs (Ehrenreich 1994: 191). Die Yuppies lebten ihre Erwerbslust im wahrsten Sinne des Wortes aus. <?page no="239"?> 240 Geld und allerlei Besessenheit Zahlreiche neuere Untersuchungen bestätigen, dass unsere Beziehung zum Geld sehr vielfältig und teilweise krankhaft ist. Eine Zusammenfassung bietet Robert E. Lane an (1992). In seinem Artikel weist er viele wirtschaftswissenschaftliche Annahmen zurück, die zusammen die Annahme der Konsumrationalität ausmachen. Wie schon erwähnt, heißt es in der Wirtschaftslehre, dass Geld nur ein neutrales Einkaufsmittel ist, dass der Konsument beim Kaufen flexibel und lernfähig ist, dass er bestimmte Präferenzen ablehnt und andere bevorzugt, um den Nutzen maximieren zu können. Lane zeigt aber, dass Geld keineswegs neutral ist. Es ist ein geladenes Symbol. Es ist auch mit unterschiedlichen Ängsten, Besessenheit und Hemmungen verbunden, was seine Dienstleistungskraft vermindert. Diese Emotionen und die Besessenheit tragen dazu bei, dass Geld unsere Wahrnehmung und Präferenzen verdreht. Es hält uns davon ab, die gewünschten Waren zu erwerben, und treibt uns dazu, Ungewünschtes zu kaufen. Lanes zentraler Kritikpunkt ist: Rationalität als Begriff steht für eine kognitive Kontrolle der Gefühle. Die aufgelisteten Untersuchungsergebnisse zeigen aber, dass die Annahme, Konsumenten würden rational mit dem Geld umgehen, völlig falsch ist. Eine sehr verbreitete Tendenz ist, dass die Individuen dem Geldbesitz ein außergewöhnliches Gewicht beimessen. Sie meinen, dass Geld genauso wichtig wie Gesundheit ist. Sie ziehen Geld dem Vergnügen vor, meinen, dass Geld das einzige ist, was überhaupt zählt. Zu dieser Kategorie gehören auch diejenigen, die fast ständig vom Geld träumen. Die entgegengesetzte Tendenz ist die Abwertung des Geldes, seine Bedeutung zu unterschätzen. Dazu gehören diejenigen, die das Geld als »schwach«, »unzufriedenstellend«, »unwichtig« ansehen. Lane meint, dass solche Besessenheit mit der wirtschaftswissenschaftlichen Annahme der Flexibilität nicht vereinbar ist. Emotionen, wie Angst, verkürzen die Zeitperspektive und beeinträchtigen den Sinn für die Realität. Untersuchungsergebnisse <?page no="240"?> 241 deuten darauf hin, dass Geldangst Individuen vielleicht am stärksten voneinander unterscheidet. Individuen mit der chronischen Angst, nicht genug Geld zu haben, bilden eine Gruppe. Der Gegenpol sind diejenigen, die berichten, dass sie Geld ausgeben, um sich besser zu fühlen. Diese Einstellungen sind vom jeweiligen Einkommen unabhängig. Auch die Einstellung zum Geldausgeben ist einkommensunabhängig. Bereits Simmel konnte dies feststellen: »... ob jemand leicht erheblicheres Geld auf einmal aufwendet oder ob er vielerlei kleinere Ausgaben zu machen vorzieht; ob der Gewinn einer größeren Summe ihn zur Verschwendung oder gerade doppelter Sparsamkeit anregt ... Das alles sind individuelle Differenzen, die in die Tiefen der Persönlichkeit hinabreichen, aber erst innerhalb der Geldwirtschaft so prägnant oder überhaupt in die Erscheinung treten ...« (Simmel 2000: 415) Zwei Kategorien von Geldausgebern lassen sich von einander unterscheiden: Auf der einen Seite diejenigen, die nie wissen, wie viel Geld sie haben, zwanglos Geld ausgeben, dabei regelmäßig zu viel aufwenden und sich möglicherweise verschulden. Auf der anderen Seite diejenigen, die immer genau wissen, wie viel sie besitzen und strenge Kontrolle über ihre Finanzen ausüben. Wenn sie sich etwas kaufen wollen, sparen sie zuerst oder sie nehmen Abstand von ihrem Vorhaben und vergessen es. Für sie ist die Kontrolle über das Geld das wichtigste. Die eine Gruppe gibt übermäßig viel Geld aus, die andere spart übermäßig. Diese zweite Gruppe, wie Lane später sagt, verbindet mit Geld Gefühle der Sicherheit, des Vertrauens, der Loyalität usw. Keine von diesen beiden Gruppen verhält sich dem Geld gegenüber neutral. Nutzenmaximierung mit Hilfe des Geldes ist bei ihnen nicht zu finden. Bei denen, die regelmäßig zu viel Geld ausgeben, treten häufig gleichzeitig Gefühle der Inkompetenz und der Sorge auf. Auch andere Untersuchungsergebnisse deuten darauf hin, dass Geldausgeben nicht neutral ist. Individuen berichten, dass <?page no="241"?> 242 sie sich ständig sagen, dass sie sich etwas nicht leisten können. Viele erleben nie eine Freude beim Kaufen oder/ und bekommen Schuldgefühle sogar beim Erwerb von notwendigen Dingen wie Kleidung. Für diese Gruppe ist das Geldausgeben nicht neutral, sondern mit hohen psychologischen Kosten verbunden. Deswegen ist ihre konsistente Präferenz, sich Waren zu versagen. Noch eine deutliche Kategorie wird durch die »Eindrucksmanager« gebildet. Für sie ist das Geld ein Mittel für eine Reihe sozialer Zwecke. Sie wollen andere mit ihrem Besitz beeindrucken, meinen, Sympathie mit Geld kaufen zu können - egal, ob es um potentielle Freunde oder um die Restaurantbedienung geht, sind sie sehr großzügig. Als andere, nicht-rationale Einstellungen finden wir bei Lane: a) Misstrauen - viele Individuen berichten, dass sie stets befürchten, dass man sie betrügen will. Sie diskutieren oder beklagen sich über die Preise, erwarten einen Betrug und versuchen, sich dagegen zu wehren. Sie versuchen, das Risiko betrogen zu werden, zu minimieren, was ihnen wichtiger ist als ihre Präferenzen, d.h., sich zu wehren ist für sie wichtiger als die Ware, die sie sich eigentlich kaufen wollen. b) Geldmasochismus - tritt unter Finanz- und anderen Experten auf. Obwohl sie es aus beruflichen Gründen besser wissen sollten, lassen sie sich in dubiose Geschäfte ziehen, auch wenn sie ahnen, dass es nicht gut gehen kann. Diese Tendenz wird als ein Ergebnis der Angst vor Erfolg interpretiert. Für solche Emotionen, die auch viele Karrierefrauen erleben, gibt es in der Wirtschaftslehre keinen Raum. c) Zu einer letzten Einstellungskategorie gehören diejenigen, die Geld als moralisch unakzeptabel ansehen. Für sie ist es eine Verkörperung des moralisch Bösen [moral evil]. Das Geld beschreiben sie mit Adjektiven wie »unehrlich«, »unfair« oder »nicht aufrichtig«. Zu dieser Kategorie gehören vielleicht auch noch diejenigen, die Geld als beschämend oder degradierend empfinden. Diese Kategorie erinnert stark an Simmels Asketen. <?page no="242"?> 243 Lane beendet diesen Teil seines Artikel mit der Feststellung, dass viele Menschen sowohl positive als auch negative Emotionen und Symbole mit dem Geld verbinden. Deswegen ist das Einkaufen so gut wie nie Mittel zur Zufriedenheit, wie es die Wirtschaftslehre vermutet. Auch Manager zum Beispiel, die eigentlich mit Geld Entspannung und Freude verbinden, geben zu, dass sie Geld auch mit negativen Werten oder Gefühlen assoziieren. Geld und Liebe Mit Simmels Geizigen und Lanes Geldträumern sind wir schon einer Menschengruppe begegnet, die das Geld liebt. In diesem Teil möchte ich aber nicht die Liebe zum Geld, sondern das Geld als Liebesausdruck besprechen. In ihren frühen Schriften zeigt Viviana Zelizer (s. z.B. 1978, 1981, 1987), dass, als in den USA und Westeuropa Ende des vorigen Jahrhunderts das Sakrale - sprich das Menschenleben - dem Profanen - sprich dem Geld in Form der Lebensversicherung - begegnete, das Geld nicht vermochte, das Sakrale zu profanisieren. Stattdessen wurde die Lebensversicherung, d.h. das Geld, das systematisch gespart und im Todesfall als runde Summe der Witwe oder den Eltern ausgezahlt wurde, sakralisiert. Die Befürworter dieser Versicherung lehnten erfolgreich die Versuche ab, die Versicherung als Einkommensverlustversicherung zu interpretieren. Im Falle der Lebensversicherung für Erwachsene definierten sie sie stattdessen als einen Weg hin zur »sozialen« oder »wirtschaftlichen« Unsterblichkeit und als Ausdruck der väterlichen und ehelichen Liebe (Zelizer 1978: 604 - 605). Die Lebensversicherung für Kinder spiegelt die fortschreitende Sakralisierung des Lebens des Kindes wider. Allmählich ließ man diese Police zum Symbol der Elternliebe für ein zwar wirtschaftlich wertloses, aber emotional preiswertes Kind emporsteigen (Zelizer 1981: 1047 - 1048). In ihrem Buch zeigt Zelizer (1997), dass, sobald Geld in andere Hände wechselt, seine Bewegung mit Sinn belegt wird. Wenn ein falsches Quantum gegeben wird oder wenn es an die <?page no="243"?> 244 falsche Person oder zu einem falschem Zeitpunkt gezahlt wird, kann eine soziale Beziehung irreparabel zerstört werden. Zum Beispiel durfte früher der wohlhabende Verlobte seiner Braut nie Geld, eine Wohnung, ein Auto oder Pelze vor der Heirat schenken, weil das als Bezahlung für Prostitution angesehen worden wäre (Zelizer 1997: 102,106). Seine Geschenke durften nicht zu teuer sein, um den Verdacht zu vermeiden, er wolle die Frau kaufen. Aber zu billig durfte das Werben auch nicht ausfallen, weil sie ihn sonst vielleicht als respektlos oder als billig ablehnen könnte. Zur Verlobung konnte der Mann einen Pelzkragen oder eine ähnliche Kleinigkeit schenken. Nach der Heirat sollte seine Frau ihn dazu bewegen, keine Geschenke mehr zu machen, sondern eher seinen Lohn für die Haushaltsausgaben zu reservieren. Wenn er ihr aber Geld schenken wollte, sollte er es in eine Schmuckdose oder in ein dekoratives Portemonnaie legen, damit sich das Geldgeschenk vom gewöhlichen Taschengeld bzw. Haushaltsgeld der Frau unterschied. Eine 1998 veröffentlichte ethnographische Studie über 76 englische Haushalte, die sich nördlich von London befanden, zeigt, dass, wenn Frauen Lebensmittel kaufen gehen, sie diese Aktivität als Zeichen ihrer Liebe und eine Möglichkeit betrachten, die persönlichen Beziehungen aufrecht zu erhalten (Miller in Edwards 2000: 120 - 121). Aus ihrer Sicht drückt die für Vorratsbeschaffung aufgewendete Zeit ihre Liebe für den Partner und die Kinder aus. Dieselbe Emotion veranlasst sie, das Geldausgeben zu kontrollieren, ihre eigenen Präferenzen beim Shopping zu verneinen oder gelegentlich einen schmackhaften Gaumenschmaus [treat] für sich und andere auszusuchen. Geld wird im Namen der Liebe nach den abwechselnden Prinzipien der Sparsamkeit und des Exzesses ausgegeben. Eine noch laufende deutsche Untersuchung (Wimbauer, Schneider und Ludwig-Mayerhofer 2002: 282) zeigt anhand dreier ausgewählter Paare, in der jeder Partner eigenes Einkommen hat, dass Frauen dazu tendieren, ihr Geld der Beziehung zur Verfügung zu stellen (s. dazu auch Haubl 1998: 35-47). So wie bei der Vorratsbeschaffung, so auch im Umgang mit Geld: Geld wird zum <?page no="244"?> 245 Zeichen der Liebe. So vorläufig wie dieser erste Untersuchungsbefund betrachtet werden muss, deutet er ganz eindeutig darauf hin, dass Frauen das selbst verdiente Geld nicht als ›eigenes‹, sondern als ›gemeinsames‹ Geld verstehen. Das Paar entscheidet dann gemeinsam über die individuelle Verfügbarkeit dieses ›gemeinsamen‹ Geldes. Es sind eher die Männer, die dazu tendieren, mit Hilfe des ›eigenen‹ Geldes ihre Statusansprüche zu gestalten. Nicht nur Frauen aber opfern sich im Namen der Liebe. Richard Sennetts und Jonathan Cobbs berühmte Studie The Hidden Injuries of Class, für die zwischen 1969 und 1970 150 Tiefeninterviews mit Arbeitern durchgeführt wurden, zeigt, dass diese Arbeiter ein intensives, verstecktes Schamgefühl für ihre niedrige Gesellschaftsposition - den fehlenden Schulabschluss und ihre manuelle Arbeit - empfinden. In einer Gesellschaft, in der Glück mit hoher Ausbildung, nichtmanueller Arbeit und materiellem Erfolg gleichgestellt wird, ist es nicht überraschend, dass sie Frustration, Wut und Enttäuschung spüren. Mit der Begründung, dass sie viel Geld verdienen müssen, damit es ihren Kindern besser geht, arbeiten sie immer hart und lang, obwohl sie dasselbe den eigenen Eltern übel nahmen und sich selbst geschworen hatten, diesen Fehler zu vermeiden. So wie die gerade geschilderten englischen Frauen, geben sich die Arbeiter einer Aufopferungsroutine hin (Sennett und Cobb 1972: 122 - 135). Sie investieren das einzige, was ihnen zu Verfügung steht - die Zeit -, um ihren Kinder das College bezahlen zu können. Sie nehmen Ängste und Druck auf sich, damit sie mit dem verdienten Geld Liebe zeigen können. Dabei wird der Erfolg in die Zukunft und auf ihre Kinder projiziert - Kinder, die das Ganze häufig als den letzten Versuch, (Selbst- )Respekt zu gewinnen, durchschauen, sich dadurch manipuliert fühlen und auf das College sowieso keine Lust haben. Fehlende Dankbarkeit im Austausch für Vaters Aufopferung im Zeichen der Liebe. Bereits Veblen (1994[1899]), lenkte unsere Aufmerksamkeit darauf, dass das moderne anonyme Leben auch den Mittelstand dazu zwingt, seine Kaufkraft mittels Kleidung und Autos in der Öffentlichkeit zu zeigen. Der Ehefrau kommt eine völlig neue <?page no="245"?> 246 Rolle des passiven Statusobjektes zu. Das finanzielle Vermögen des Ehemannes wird dadurch demonstriert, dass seine Frau nicht einmal im Haushalt arbeiten darf. Sie soll aber jederzeit ostentativ modisch und kostspielig gekleidet sein, um ihre repräsentative Funktion statusgerecht erfüllen zu können. Aus der Sicht der Emotionen impliziert dieses neue Verhältnis, dass der Mann als Haupternährer seine Liebe mit harter, disziplinierter Arbeit und großzügigen Geschenken zeigt, die Frau hingegen mit Einkäufen, die das gemeinsame Heim modernisieren und verschönern (Ewen 1977; Friedan 2000[1963]). Auch aus der Sicht der Werbebranche, die für ein schönes Aussehen beider Geschlechter modische Kleidung und Kosmetika für Körperpflege anbietet, sind die neuen Verhältnisse klar: Er soll seinen Job behalten, sie ihren Ehemann. Die zahlreichen Eheprobleme, die sich aus dieser Konstellation ergeben, sind bekannt (s. dazu z.B. Hochschild 1990; Beck und Beck-Gernsheim 1990). Hier soll nur auf die psychotherapeutische Forschung hingewiesen werden, die entgegen den meisten Ansätzen dem Ehemann seine Liebe nicht aberkennt und ihm die Opferrolle nicht verweigert. Diese Forschung berichtet von Frauen, die ihre Kaufsucht und ihr luxuriöses Unverständnis für die familiären Finanzen so weit treiben, dass der Mann - unfähig, seine Sorgen angesichts seiner Rolle zu artikulieren oder der für ihre Artikulation mit Liebesentzug bestraft wird - unter dem finanziellen Druck zusammenbricht. Auch Mütter und Geschwister, tun ihren Söhnen und Brüdern Ähnliches an (Haubl 1998: 51 - 59). Aus dieser Sicht ist Verschwendung ein Zeichen weiblichen Hasses gegen die Männer oder aber ein Produkt des modernen Kapitalismus, der als Voraussetzung zu seiner Aufrechterhaltung sowohl einen asketischen Mann als auch eine hedonistische Frau braucht (frei nach Sombart in Haubl 1998: 59). Diese Konstellation schafft »die angstbesetzte Männerphantasie der unersättlichen Frau, die sich ihre Liebe materiell vergüten läßt und dabei den Mann solange unter Druck setzt, ihr immer mehr Konsumchancen zu verschaffen, bis er sich um ihrer Liebe willen ruiniert hat« (Haubl 1998: 59). <?page no="246"?> 247 In einem Luxushaus im prestigeträchtigen Norden des hoch begehrten Wohnortes Summit, New Jersey, erzählt ein Spitzenverdiener im Marketing seiner Interviewerin, dass er sein Leben hasst (Lamont 1992: 62 - 63). Er hasst seinen Job, seinen Boss, seine Kollegen. Sein Luxushaus und sein Lebensstil halten ihn fest. Mit seinem Bedürfnis nach Freiheit fühlt er sich völlig isoliert. Jede Person in seiner Umgebung - sein Boss, seine Kollegen, seine Nachbarn und letztlich seine Frau - glaubt an den Wert von immer mehr Arbeit, immer mehr Geld und immer mehr Macht. Sie messen den Erfolg an dem Bildungs- und Berufsgang, an der Größe des Hauses, Marke des Autos, an Pelzen, Rolexuhren usw. Nur die Erfolgreichen und nie die Verlierer dürfen sich mit ihnen bekannt machen. Trotz des riesigen inneren Drucks und Stresses, trotz der Last, auferlegt von seiner Frau, die an dem Lebensstil hängt, macht er weiter. Aus Liebe? Schlussbilder Im Hauptteil habe ich mich dem Geld von der Konsumseite her genähert, die durch Kapitalismus bedingt ist und die Gesamtwirtschaft beeinflusst, aber uns viel mehr über den Einzelnen als über bestimmte Gruppen oder Nationalökonomien sagt. Das Kapitel möchte ich mit Bildern zu Geld und Gefühl in zwei politischen Systemen - Kapitalismus und Kommunismus - abschließen. Wie dieses Kapitel offensichtlich macht, lässt sich der Kapitalismus als die Hölle oder bestenfalls als Vorhof zur Hölle verstehen. Es wird als ein Wirtschaftssystem dargestellt, in dem einerseits Geld vergöttert wird und andererseits werden ihm schöpferische Kräfte zugeschrieben. Von einem Mittel zum Zweck verwandelt es sich rasch in den Zweck - vielen Menschen scheint es, dass das Geld eine Voraussetzung für Glück ist. Sie jagen dem Geld rastlos nach, ihre Begierden werden entfesselt. Da immer mehr Dinge käuflich werden und der Expansion des Konsummarktes keine Grenzen gesetzt sind, können Begierden ins Unendliche expandieren. Werbung, technikverliebte Experten und <?page no="247"?> 248 allerlei Berater spornen den Konsumenten an, der, statt souverän, eher tief verunsichert seinem Glück und verlorenem Respekt nachjagt, ohne diese zu finden. Das konträre Bild, das in diesem Kapitel kaum angesprochen wurde, da es nicht das Geld, sondern den Konsumenten und sein Vergnügen ins Zentrum der Analyse stellt, porträtiert Kapitalismus als berauschendes Paradies. Dieses Bild verdanken wir vor allem Walter Benjamin, der sich auf den flâneur - den verträumten, unverbindlich in Läden vorbeischauenden Betrachter - konzentriert. Der flâneur spaziert bezaubert durch romantische, surrealistische Kaufpassagen. Er lässt sich von der phantasievollen Welt der glänzenden Schaufenster und Waren verführen (Benjamin in Edwards 2000: 20 - 22,107,114). Der flâneur ist modisch gekleidet, er sieht und will gesehen werden. Er ist zugleich ein Voyeur und Exhibitionist - ein typischer, zynischer Großstadtmensch, der sich entzaubert fühlt und vergebens nach Genuss sucht. Simmels Blasierter ist sein Pendant. Im Kontrast zum Kapitalismus, der das Individuum zu verführen versucht und das individuelle Verlangen nach Geld, Besitz und Einkaufen voraussetzt und pflegt, haben die kommunistischen Regime durch Verzicht auf Geld, Besitz und Konsum das Seelenheil gesucht. Die Führer glorifizierten anfangs häufig die Armut und verzichteten auf Reichtum. Ihr Lebenstil war asketisch, gleich den Mönchen. Sie haben mehr an die konstruktive und schöpferische Wirkung der Ideologie und der politischen Macht geglaubt als an die Macht des Geldes (Jowitt 1992). Die Gesetzgebung reflektierte ihre Einstellung zu Geld und Besitz. Sie haben die private Geldakkumulation unmöglich gemacht und den privaten Geldbesitz hart bestraft. Die kommunistischen Regime haben sich immer durch den Unterschied zu den kapitalistischen Systemen definiert. Vor allem wollten sie einen neuen moralischen Menschen schaffen. Auf ihre Weise wollten sie die Seelen der Massen retten. Statt diese Seelen zu retten, kreierten die kommunistischen Regime einen fast permanenten Zustand des Gütermangels und der Massenunzufriedenheit. Die Mangelwirtschaft veranlasste <?page no="248"?> 249 manche dazu, lieber Verzicht zu üben und asketisch zu leben als sich dem Begehren nach Gütern hinzugeben und ständige Frustrationen zu erleben. Die wenigen, meist halbleeren Läden, bereiteten wenig Freude. Es war eher demütigend, dass man mit dem ehrlich verdienten Geld nicht viel oder nur über erniedrigende Umwege, d.h. »Beziehungen«, etwas bekommen konnte. Erst in den frühen siebziger Jahren erlaubte man sowohl in der DDR als auch in Polen Westvalutabesitz. In der DDR durfte man Deutsche Mark besitzen und in Polen Dollars. Man konnte auch ganz legal Westvaluta-Bankkonten eröffnen. Die politische Ideologie hatte bis dahin Blockgrenzen für den Besitz und die Zirkulation westlicher Währung geschaffen. Diese Blockgrenzen wurden in den siebziger Jahren nicht nur für den legalen Besitz, sondern auch für eine, allerdings limitierte, Westvalutazirkulation aufgehoben. Es gab in Polen und in der DDR Geschäftsketten, in Polen hießen sie Pewex und in der DDR Intershops, in denen man Waren für Westvaluta kaufen konnte. Damit haben beide Regime teilweise vor den Wünschen der Masse, Geld zu besitzen und zu akkumulieren sowie westliche Waren zu kaufen, kapituliert. Literatur Baecker, D. 1995. »Die Unruhe des Geldes, der Einbruch der Frist« in Rätsel Geld. Annäherungen aus ökonomischer, soziologischer und historischer Sicht. Hrsg. von W. Schelkle und M. Nitsch. Marburg, S. 107 - 123 Beck, U. und E. Beck-Gernsheim. 1990. Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt a.M. Suhrkamp Bauman, Z. 1988. Freedom. Milton Keynes. Open University Press Bauman, Z. 1996. Thinking Sociologically. Oxford. Blackwell Bergmann, J. R., M. Goll und S. Wiltschek. 1998. »Sinnorientierung durch Beratung? Funktionen von Beratungseinrichtungen in der pluralistischen Gesellschaft« in Moral im Alltag. Sinnvermittlung und moralische Kommunikation in intermediären Institutionen. <?page no="249"?> 250 Hrsg. von Th. Luckmann. Gütersloh.Verlag Bertelsmann Stiftung, S.143 - 218 Bourdieu, P. 1987 [1979]. Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M. Suhrkamp Dr. Briles, J. 1999. 10 Smart Money Moves for Women. How to Conquer your Financial Fears. Chicago, Ill. 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Diese Sachlage hat den Nachteil, dass die Konturen und die thematische Prägung dieses Forschungsgebietes noch sehr schwammig sind. Es gibt auch keine gebietsumfassenden Ansätze, sondern viele individuelle Versuche, themenbezogene Ansätze zu formulieren. Zugleich ist es aber vorteilhaft und spannend, Neuland ohne große theoretische Lasten von früher untersuchen und beschreiben zu dürfen. Die Risiken sind allerdings, wie bei jedem neuen Unternehmen, hoch. In diesem Kapitel wird zunächst der moderne westliche Staat und sein Anspruch auf »Glücksversorgung« kritisch untersucht. Es wird argumentiert, dass er tatsächlich nicht nur Glücksmomente anbietet, sondern auch Scham, Neid und Wut unter seinen Bürgern erweckt. Dieser Staat wird dann mit dem osteuropäischen »sozialistischen« Staat verglichen, der den Anspruch erhob, die »Glücksversorgung« planmäßig liefern zu können. Eine kritische Auswertung dieses Staates ergibt, dass er stattdessen Angst und Furcht, Demütigung, falsche Hoffnungen und Frustration, Sehnsucht nach Freiheit sowie eine schmerzhafte Unterdrückung eben dieser Gefühle verallgemeinerte. Auffallend ist, dass die Politiker des westlichen Wohlfahrtsstaates Gefühle wie Scham oder Neid hervorrufen möchten, die anderen jedoch - wie zum Beispiel Wut - völlig von Politik unintendiert sind.* Sie unterscheiden sich dadurch von ihren »realsozialistischen« Counterparts, die eine lange Reihe von meistens unintendierten, aber - aus Angst vor Repression - unterdrückten bzw. verborgenen Gefühlen provozierten. <?page no="252"?> 253 Es muss zugegeben werden, dass diese Argumente auf relativ begrenztem, unausgewogenem Material aufbauen. Ich musste mich auf die zugängliche Literatur verlassen, die politikbezogene Gefühle sicherlich nicht erschöpfend oder systematisch schildert. Es handelt sich deshalb mehr um Illustrationen als um Beweisführung. Aber das Ziel ist vor allem, Anregungen zu liefern und dadurch eine fundierte empirische Forschung zu motivieren, wo es heute noch Polemiken gibt. Es geht darum, über die traditionelle »Zufriedenheitsforschung« hinauszublicken, die uns nur sehr generell darüber informiert, dass die Bevölkerung mit ihrem Lebensstandard, dem ökonomischen oder politischen System (un)zufrieden ist, aber die Gründe dieser (Un-)Zufriedenheit nicht beleuchten kann (z.B. Zapf und Habich 1996; Seifert 1996; Pankoke 1998: 143 - 144). An zweiter Stelle werden in diesem Kapitel mobilisierte und sich mobilisierende Massen behandelt. Gegen die in Deutschland verbreitete Sicht, dass sich Massen vor allem durch das Prisma des Nationalsozialismus verstehen lassen, wird anhand von mehreren Ansätzen und empirischen Beispielen gezeigt, dass die protestierenden Massen auch als Boten der Freiheit auftreten (können) und sich als solche adäquat analysieren lassen. Hannah Arendt steht in diesem Kapitel stellvertretend für die traditionelle Sicht der Massen, die als Objekte der Verachtung und des Hasses lange Zeit in der Geschichte auftauchten. Für die neuen Perspektiven und Ansätze stehen James Scott und Guobin Yang. Gemeinsam ist allen drei Ansätzen, dass sie in der Massenmobilisierung die Emotionen sehr stark betonen. Diese Emotionen erklären nicht nur, warum es zur Mobilisierung kommt, sondern auch, welche Formen sie annimmt und welche Konsequenzen sie für die Individuen und die Gesellschaft hat. Letztlich wird ein Beispiel fundamentalistischer Mobilisierung kurz analysiert, um zu zeigen, dass sich diese Mobilisierung mit üblichen rationalistischen Ansätzen, die Marginalisierung und Ausgrenzung betonen, erklären lässt. Dabei wird eine ursächliche Kette verfolgt, die von Ausgrenzung über Demütigung, Scham und Wut zur gewalttätigen, explosionsartigen Mobilisierung führt. Die neueren <?page no="253"?> 254 Ansätze zu Massenprotesten, die die Massen als Boten der Freiheit porträtieren, vertiefen unser Verständnis dafür, dass die politischen Systeme bestimmte Gefühle in der Gesellschaft hervorrufen, Gefühle wie Demütigung, Furcht, Langweile oder tiefe Sehnsucht nach Freiheit. Diese Gefühle und die Tatsache, dass sie im Alltag unterdrückt bzw. verborgen werden müssen, liefern Protesten ihren Explosionsstoff. Der Protest lässt sich aus dieser Perspektive als der Moment verstehen, in dem sich die bisher verborgenen Gefühle offenbaren. Wie Yang uns zeigt, bieten sie die Möglichkeit, der Alltagsroutine zu entfliehen und extreme Emotionen zu erleben. Ein kurzer Exkurs zum Postemotionalismus und zu internationalen Beziehungen schließt dieses Kapitel ab. Staat und Emotionen Ich möchte diesen Abschnitt mit ausgewählten Überlegungen Manfred Prischings (1998) zum Thema Staat und Glück beginnen, bevor ich mich dann anschließend dem westeuropäischen Wohlfahrtsstaat und dem realsozialistischen Staat zuwende. Jeder dieser Staaten erzeugt unter seinen Bürgern ein anderes, spezifisches Set von Emotionen. Prisching ist es sehr gut gelungen, im Hinblick auf Glück die moderne politische Geschichte kurz Revue passieren zu lassen. Er erinnert uns daran, dass Hobbes das Menschenleben als von Egoismus, Raub, Krieg und Furcht geprägt schilderte und deshalb für den starken Staat als Erlöser plädierte. Aus der Hobbes’schen Sicht ist »die erste Glücksverpflichtung des Staates, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, selbst wenn das durch einen Autoritarismus erkauft wird« (Prisching 1998: 21). Der Staat muss das Gewaltmonopol erreichen und durchsetzen, damit Unglück vermieden und öffentliche und private glücksschaffende Aktivitäten verfolgt werden können. Der Staat stellt also nur den friedlichen äußeren Rahmen zur Verfügung. Damit wird der liberale Staat also nicht zur Schmiede des Bürgerglücks - um sein Glück muss sich das Individuum schon selbst kümmern. <?page no="254"?> 255 Erst seit dem 18. Jahrhundert wird der zentralisierte Rechtsstaat zum Wohlfahrts- und Glücksbringer erklärt (Prisching 1998: 22 - 23). Der aufgeklärte, säkularisierte und rationalisierte Fürst und seine Bürokraten meinten, das Glück des Volkes zu verfolgen. Ohne die Meinung des Volkes dazu hören zu wollen, setzten sie ihre paternalistischen modernisierenden Glücksvorstellungen durch. Bei der Verwirklichung dieser Art von Glücksvorstellungen galt Demokratie als ein Hindernis. Im Westen Europas des 20. Jahrhunderts bevorzugten der Experte und der Bürokrat die angeblich wertfreien, technokratischen Kriterien der Glücksbeschaffung und Verteilung. Für sie ging es um Optimierung, Effizienz, statistische Erfassung und Vermehrung des Glücks (Prisching 1998: 24 - 25). Unreflektiert setzten sie ihr eigenes Glückskonzept durch, das der Vorstellung der oberen Mittelschicht entsprach. Im Osten Europas sollte Glück nach Plan produziert und verteilt werden, wobei die Lehre des Marxismus-Leninismus die modernisierenden Glücksprinzipien lieferte: »Hier wurde der Staat für die umfassendste Version des Glücks verantwortlich«, das aber äußerst ineffizient hergestellt wurde (Prisching 1998: 25). Sowohl im Westen als auch im Osten wurde der kritisch mobilisierte Bürger mit eigener Glücksvision als irrational, abweichend und bedrohlich definiert. Im Osten Europas wurde er zum definitiven Glücksentzug verurteilt, im Westen eher marginalisiert und verpönt. Der westeuropäische Wohlfahrtsstaat - Sicherheitsgefühl, Scham, Neid, Unzufriedenheit und Wut »Die modernen europäischen Staaten sind ›Wohlfahrtsstaaten‹. Sie suggerieren allein in diesem Begriff schon ihre Glücksverpflichtungen. Die freigesetzte Wirtschaft hat nämlich zunächst nicht zu jenem allgemeinen Wohlstand geführt, den man sich erwartet hatte, sondern zu Ungleichheit und Armut« (Prisching 1998: 30 - 31). Der Rechtsstaat fungiert als der äußere Garant privat geordneter, bürgerlicher Verhältnisse und erkennt die Un- <?page no="255"?> 256 abhängigkeit individueller und kollektiver Akteure an. Eine seiner Hauptaufgaben ist es, die unerwünschten Folgen der freigesetzten Wirtschaft, die als soziale oder politische Probleme thematisiert werden, zu korrigieren oder zu kompensieren. Dieser Staat, so Prisching, ermöglicht »eine Gesellschaft, in der Wachstum und Dynamik mit Sicherheit und Menschenwürde vereint werden. Für viele ist er die Realisierung jenes Traums, den die sozialdemokratische Bewegung am Ende des vorigen Jahrhunderts geträumt hat. Es ist weder gegen städtische Schwimmbäder noch gegen effiziente Schneeräumung, weder gegen Pensionen noch gegen Familiengelder etwas einzuwenden, und es spricht einiges dafür, dass die Menschen damit recht glücklich sind« (Prisching 1998: 31). Prisching meint, dass der moderne Wohlfahrtsstaat mit seinen multiplen Dienstleistungsangeboten ein Glücksgefühl bzw. tiefe Zufriedenheit bei den Bürgern hervorrufen sollte, dass aber sowohl seine Rolle als Anbieter von Dienstleistungen als auch die enorme Zahl dieser Leistungen ganz unintendiert die Bürger immer wieder dazu bewegt, ihre Unzufriedenheit zu äußern und immer neue und verbesserte Dienstleistungen zu verlangen. Erwartungsinflation steht dem allgemeinen Glück im Wege. Wohlwissend, dass es tiefe Unterschiede zwischen den europäischen Wohlfahrtsstaaten hinsichtlich ihrer vorherrschenden Ideologien und Leistungsprofile gibt, möchte ich jetzt typische Gefühle, wie Sicherheitsgefühl (bei van Stolk und Wouters: Gemütsruhe), Scham und Neid, die er in seinen Bürgern hervorruft, der Reihe nach vorstellen. Um bei Prischings relativ optimistischer Einschätzung dieses Staates erst einmal zu bleiben, wende ich mich nun der Gemütsruhe-These von Bram van Stolk und Cas Wouters (1987) zu. Scham wird mit Hilfe Sighard Neckels, Neid mit Hilfe Schoecks und Wut mit Hilfe von Bourdieu sowie Dubet und Lapeyronnie geschildert. Die ersten der genannten Autoren vertreten die These, dass es dem niederländischen Staat gelungen ist, soziale Sicherheit in ein persönliches Sicherheitsgefühl (»Gemütsruhe«) zu verwandeln und unter den Frauen Interesse am Glück zu erwecken. Sie <?page no="256"?> 257 haben Frauen in einem südniederländischen Heim für Krisenhilfe, Aufnahme und Unterbringung von Müttern mit Kindern 1979/ 1980 untersucht. Sehr überraschend für die beiden war der Befund, dass sich diese Frauen, die vorwiegend aus der Arbeiterklasse stammten, keine Sorgen um ihre finanzielle Lage machten. Dies obwohl die meisten als Hausfrauen kaum gute Arbeitschancen hatten und sowohl der Aufenthalt in diesem Heim als auch eine eventuelle Trennung oder Scheidung kostspielig waren. Es stellte sich heraus, dass »es die Frauen im Bongerd ganz normal [fanden], dass durch Einrichtungen des Sozialwesens für sie gesorgt wurde« (van Stolk und Wouters 1987: 73). Dies war so selbstverständlich, dass es nicht thematisiert wurde. Nur direkt gefragt, dachten manche Frauen über die Möglichkeiten nach, eine Arbeitsstelle zu finden. Wenn sie kein ausreichendes Einkommen aus Arbeitslohn oder Alimenten erwarteten, »wiesen sie kurz und manchmal erstaunt auf die Sozialleistung hin, die ihnen zweifellos zustehen würde ...« (van Stolk und Wouters 1987: 75). Als Erklärung für diesen Zustand bieten van Stolk und Wouters die These an, dass es dem niederländischen Staat, der ein neues Sozialhilfegesetz als »Schlussstein« der Sozialgesetzgebung 1965 einführte, gelungen ist, mit Hilfe der Kirche und massiven Aufklärungskampagnen die Bevölkerung mit der Parole »Sozialhilfe ist kein Almosen, sondern ein Recht« zu erreichen (van Stolk und Wouters 1987: 72 - 73). Die Kampagnen hatten als Ziel, dass weder Scham noch Verlegenheit die Menschen davon abhielten, von dem neuen Gesetz Gebrauch zu machen. Soziale Sicherheit sollte bestehen, und sie ist zur Selbstverständlichkeit für jeden Bürger geworden. Das Sozialhilfegesetz hat den Menschen die Angst vor Geldschwierigkeiten genommen, ohne sie der Selbstachtung zu berauben - ihre Gemütsruhe ist die Gemütsruhe des Wohlfahrtsstaates: »Das System von Sozialgesetzen, durch das der Wohlstand verbreitet und allen Mitgliedern der Gesellschaft soziale (sprich: materielle) Sicherheit geboten wurde, ist offenbar in <?page no="257"?> 258 der relativ kurzen Zeit seines Bestehens bereits zu einer so fraglosen sozialen Tatsache geworden, dass die Angst vor (künftigen) Geldschwierigkeiten größtenteils verschwunden ist. Insofern haben sich die Regelungen unseres Wohlfahrtsstaates in der Persönlichkeit der Frauen im Bongerd niedergeschlagen: ihre Gemütsruhe in finanzieller Hinsicht ist die Gemütsruhe des Wohlfahrtsstaates. Nur da, wo der niederländische Sozialstaat versagt hat, bei der Behebung der Wohnungsnot, fehlte diese Gelassenheit: Wohnungsprobleme beunruhigten die Frauen. Die soziale Sicherheit, die der Wohlfahrtsstaat bietet - das wird an unseren Interviews deutlich -, ist in einem gewissen Grad verinnerlicht und zu einer persönlichen Sicherheit geworden.« (van Stolk und Wouters 1987: 75 - 76) Die beiden Autoren kontrastieren den niederländischen Staat mit den USA, wo der Wohlfahrtsstaat weniger Sozialhilfe anbietet und wo die Arbeiter in nagender Angst vor Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Abbau von Überstunden, Entlassung und Kurzarbeit leben. Vergleichend gesehen meinen sie, dass der niederländische Staat einen Abbau der Ängste herbeiführte, so dass soziale Sicherheit zu persönlicher Sicherheit werden konnte (van Stolk und Wouters 1987: 80 - 81,65 - 67). Zum großen Teil aufgrund dieser finanziellen Unterstützung des Wohlfahrtsstaates hat sich die Machtbalance zwischen den Geschlechtern verschoben. Die Frauen aus der Arbeiterklasse sind von ihren Männern unabhängiger geworden, können es sich leisten, diese Männer und ihr Verhalten nach neuen Maßstäben zu bewerten und demütigende Beziehungen, wenn auch nur kurzfristig-symbolisch, abzulehnen. Mit dem steigenden Wohlstand und der sozialen Sicherheit haben sich auch die Erwartungen in den Intimbeziehungen geändert. Der schlechte Mann ist nicht mehr als schicksalhaft geduldet, sondern wird vielmehr als ein vermeidbares »Unrecht« verstanden. Der Wohlfahrtsstaat hat durch die Elias’schen gesellschaftlichen Verflechtungen unabsichtlich die Emanzipation der Frauen gefördert und auch in ihnen das Interesse am Glück geweckt. <?page no="258"?> 259 Van Stolk und Wouters war bewusst, dass bereits zum Zeitpunkt ihrer Untersuchung der niederländische Wohlfahrtsstaat im Begriff war, seine Dienstleistungen zu begrenzen. Sie meinten, dass sich diese verminderte »Gemütsruhe« im Wohlfahrtsstaat in einem neuerlichen Aufbau von Ängsten widerspiegeln würde und eine neue Schamschwelle ebenfalls zu erwarten wäre. Der deutsche Wohlfahrtsstaat wird international als weniger großzügig verstanden, verglichen mit dem niederländischen oder schwedischen (Pioch 2000). Wie Neckel (1991: 73 - 76) und Röhler (1996: 14) im Kleinformat - anhand einer öffentlichen Zeitungsanzeige bzw. eines Informationsblatts des Sozialamtes - zeigen, kommen die deutschen Politiker und Ämter, auch wenn sie es versuchen, nicht von dem Gedanken weg, dass Armut und Sozialhilfe prinzipiell beschämend sind. Dazu kommt, dass die Unterscheidung aus dem 19. Jahrhundert zwischen den »würdigen« und »unwürdigen« Armen sie noch im Griff hält. Der moderne deutsche Wohlfahrtsstaat baut auf der Idee auf, dass Arbeit die Hauptsäule der Respektabilität, Zugehörigkeit und des Anspruches auf die Solidarität der anderen ist. Wer keine Arbeit hat und Sozialhilfe braucht, ist prinzipiell selber schuld an seinem Elend. In offiziellen Texten, die sich an die Bedürftigen richten, wird gleichzeitig das eventuelle Selbstverschulden des Antragstellers an seiner Lage und das allgemeine, allerdings immer überprüfte, Recht auf Sozialhilfe postuliert. Es wird auch immer impliziert, dass es unter den Antragsstellern und Sozialhilfeempfängern eine Gruppe Selbstverschuldeter gibt. Die ambivalente offizielle Einstellung zur Armut und zum Gebrauch von Sozialhilfe wird damit sichtbar und wirksam, selbst wenn der Text einer sozialamtlichen Broschüre den Titel »Sozialhilfe - Ihr gutes Recht« trägt (Röhler 1996: 14). Die Assoziation zwischen Armut und Scham bleibt auch dann erhalten, wenn die Texte danach streben, den Sozialhilfeempfängern das Stigma der Abnormalität abzunehmen: »Es sind also ganz normale Mitbürger, die sich in einer schwierigen Lage befinden - so wie es jedem passieren kann ...«. Wobei man sich unter den normalen Mitbürgern z.B. »einen Arbeitslosen, einen <?page no="259"?> 260 Querschnittsgelähmten, ... eine Mutter, die ihren Mann durch einen Unfall verlor« vorstellt (in Röhler 1996: 14). Also nur eine (schwere) chronische Krankheit, der Tod oder die Ökonomie sind in der Lage, Erbarmen beim amtlich-moralischen Urteil zu erwecken. Diese Texte machen klar, dass die Sozialhilfe vor allem für Menschen in unverschuldeter Notlage bestimmt ist, Menschen die nicht nur einen ökonomischen, sondern auch äußerst moralischen Anspruch auf diese Hilfe besitzen. Dies hebt u.a. das Wort »wirklich« in dem Titel einer Anzeige hervor, die der damals sehr populäre Berliner Politiker, Senator für Gesundheit und Soziales, Ulf Fink, in Der Tagesspiegel am 1. Februar 1987 erscheinen ließ: »Betrifft: Jede Hilfe den wirklich Bedürftigen - Verschämte Altersarmut braucht es nicht zu geben« (in Neckel 1991: 73). Wie Neckel zeigt, beschämt der Text gleichzeitig die »schamlosen Mißbraucher« und die »anstandlosen Kinder«, die ihren armen Eltern nicht helfen und dadurch sowohl zu deren Armut beitragen als auch die Staatskasse eventuell belasten. Implizit argumentiert die Anzeige, dass die Verantwortlichen keinen Missbrauch tolerieren. Sie appelliert an die vermuteten Ressentiments der Öffentlichkeit. Neckel thematisiert, wie die Politiker auf die Ressentiments des arbeitenden Bürgers gegen die Sozialhilfeempfänger reagieren. Dem nächsten Autor, Helmut Schoeck, geht es darum, wie die Politiker die Ressentiments derselben Gruppe gegen die Reichen stimulieren und zur Staatspolitik machen. Der Soziologe Helmut Schoeck hat vor 30 Jahren mit seinem Buch Der Neid und die Gesellschaft (1966) internationale Anerkennung und lobende Worte sowohl von Karl R. Popper als auch Peter L. Berger bekommen. In seinem Buch macht er deutlich, dass seine Ideen auch viel Empörung und viel Hass verursachten. Es handelt sich also um eine umstrittene Polemik. Für uns relevant sind hier vor allem seine Thesen zu Staat und Neid, die er, vorwiegend auf den philosophischen Texten von Francis Bacon, Friedrich Nietzsche oder Max Scheler basierend, formuliert. Aus Schoecks Sicht müssen die Menschen gleichzeitig einan- <?page no="260"?> 261 der beneiden und diesen Neid sublimieren, damit sie zielstrebig, erfolgsorientiert, aber auch einordnungsfähig werden (Schoeck 1966: 270). Der Neid ist für ihn ebenfalls eine wichtige Voraussetzung der Rechtstaatlichkeit, die günstige Bedingungen für das Ausleben des sublimierten Neides schafft und so eine dynamische Wirtschaft ermöglicht. Letztlich ist der Neid der Kern des Wunsches nach Gleichheit und Gerechtigkeit, in ihm findet man auch die Wurzel sozialer Kontrolle, ohne die man sich Gesellschaft nicht denken kann (Schoeck 1966: 182 - 183). Deshalb möchte Schoeck den Neid nicht ganz verbannen. Falsch aber ist für Schoeck der Gedanke, dass die Gesellschaft von einer Politik des unbegrenzten Neides profitiert. Utopisch ist für ihn die Idee, dass man mit Wohlstand bzw. absoluter Gleichheit Menschen »entneiden« und Konflikte verschwinden lassen kann (Schoeck 1966: 270). Schoecks Hauptthese ist, dass der Neid hinter dem Gleichheitsstreben des modernen demokratischen Wohlfahrtsstaates steckt. Dieser Neid hat für ihn einen ambivalenten Charakter. Er ist einerseits wünschenswert, denn er hilft, Demokratie im Sinne von Gleichheit vor dem Gesetz und Rotation machthabender Politiker zu gewährleisten, aber andererseits auch zerstörerisch, wenn er keine Grenzen kennt. Für Schoeck wirkt der Neid negativ, wenn er mittels Gesetzgebung (oder sozialistischer Staatsform) eine ökonomische Gleichheit zum Ziel hat: »Die Situation ändert sich aber, wenn dieselben Bürger, die eifersüchtig über die Gleichheit vor dem Gesetz wachen und von ihr täglich Gewinn haben, nun erneut an den Staat herantreten und verlangen, er solle den Grundsatz der Gleichheit vor dem Gesetz dort durchbrechen, wo er es einigen Bürgern ermöglicht hat, wirtschaftlich (oder auch bildungsmäßig) Ungleiche zu werden.« (Schoeck 1966: 197 - 198) Schoeck widerspricht sich in einem für uns interessanten Punkt. Manchmal behauptet er, so wie in dem obigen Zitat, dass die Bürger neidisch auf die Reichen sind, manchmal aber auch, dass <?page no="261"?> 262 sie nur von Politikern für die Politik des Neides mobilisiert werden: Die Politiker - so Schoeck - hatten entdeckt, wie leicht sie mit diesem einzigen gemeinsamen Nenner die Stimmen der Wähler bekommen (Schoeck 1966: 203). Zu untersuchen wäre also, ob die Bürger von den Politikern mit Neid als Motiv für »strafende, rachsüchtige, konfiskatorische Steuern und Verordnungen: progressive Einkommens- und Erbschaftssteuern ...« mobilisiert werden (Schoeck 1966: 201 - 203,200,133 - 134). Verwenden die Politiker tatsächlich Neid als Mobilisierungsinstrument? Ist es so, wie Schoeck argumentiert, dass eine Politik des Neides viel leichter ist, da das Wegnehmen weit unproblematischer ist, als etwas neues - Arbeitsplätze, Kapital - zu schaffen? Einer Untersuchung wert ist auch Schoecks These, dass die Politik des Neides, die »sich als allgemeine Nivellierungspolitik fiskalisch« institutionalisiert, den gut Ausgebildeten und den Unternehmer verjagt - und dadurch möglicherweise der Wirtschaft schadet (Schoeck 1966: 217). Schwieriger zu überprüfen wäre die nächste Behauptung Schoecks, dass die Politik des Neides auch jegliche Innovationen unterminiert und die Aufrechterhaltung der Kultur und Wissenschaft unmöglich macht (Schoeck 1966: 137). Mit Gefühlen wie Sicherheit, Scham und Neid ist die ganze Gefühlspalette des westeuropäischen Wohlfahrtsstaates noch nicht erschöpfend geschildert. Die Enttäuschung, Empörung und Wut gehören ebenso dazu, wie Pierre Bourdieu (1997), François Dubet und Didier Lapeyronnie (1994) zeigen. Die Wut entsteht unter den Bürgern, deren Aufstiegsträume gescheitert sind und die sich vom Wohlfahrtsstaat vergessen und vernachlässigt fühlen (z.B. Bourdieu 1997: 53 - 62, 63 - 74). Für sie werden ihre ausländischen Nachbarn, die aus ihrer Sicht von der Kommunalverwaltung und dem Staat bevorzugt unterstützt werden, zum unerträglichen Problem. Ihre Wut richtet sich vor allem gegen diese Ausländer, ihre tiefe Enttäuschung und Empörung gegen die Behörden. Eine Mischung von Wut und Resignation empfinden auch die vielen Arbeitslosen, die sich von den langsamen, bürokratischen Behörden allein gelassen fühlen (z.B. Bourdieu 1997: 445, 453 - 455). <?page no="262"?> 263 Noch aus einem anderen Grund wird der westliche Wohlfahrtsstaat regelmäßig zum Wutobjekt. Er wird als der Gatekeeper verstanden, der die Anzahl der Ausländer in dem Land zu verantworten und zu regulieren hat. Saskia Sassen erwähnt zwei Zeitpunkte - Mitte der 70er und Mitte der 80er Jahre -, da »selbst in relativ offenen Ländern wie Frankreich … Proteste gegen die Einwanderung laut [wurden]: Invasionsängste wuchsen« (Sassen 1996: 116). Aus Sassens Sicht ist »[d]ie Geschwindigkeit und Intensität, mit der sich solche Veränderungen fast schon zyklisch vollziehen, ... äußerst auffällig« (Sassen 1996: 116). Die Invasionsängste intensivieren sich, wenn sich die ökonomische Lage verschlechtert - nach der Ölkrise 1973/ 1974 und als die Arbeitslosigkeit Mitte der 80er Jahre weiter anstieg. Sie werden durch die Statements der miteinander konkurrierenden politischen Parteien, die sich der rechtsextremen Verführung nicht zu widersetzen vermögen, noch verstärkt. Die Wut entsteht aber auch unter Jugendlichen und ethnischen Minoritäten, die sich selbst überlassen werden und mit einem Gefühl von Hilflosigkeit, Verzweiflung und Hass in den neuen Armutsghettos leben: »Das Leben in den Siedlungen ist für die dortigen Bewohner nicht nur haltlos und unberechenbar, es wird von dem Gefühl belastet, daß man ausgegrenzt ist ... Bedenkt man ... noch den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit, die sich an diesen Siedlungen festmachen, so kann man sich leicht vorstellen, wie drückend das Gefühl sein muß, ausgegrenzt zu sein ... ›Wut‹ wird zum Handlungsmotiv« ( Dubet und Lapeyronnie 1994: 106,108,113; Bourdieu 1997). Diese Wut äußert sich in alltäglichen Akten der Zerstörung und Selbstdestruktion, in einem Bürgerkrieg aller gegen alle (s. dazu Neckel 1999 im Teil 2 »Soziologie der Emotionen heute«). Sie kann aber auch zu einer kollektiven Mobilisierung für Gleichheit sowie gegen Rassismus, Polizeibrutalität und staatliche Politik der Ausgrenzung führen (Dubet und Lapeyronnie 1994: 150 - 160). Ein Blick - wenn auch literarischer Art (Kureishi 1995) - auf ein ähnliches Londoner Armutsghetto bestätigt, dass sich die französischen Befunde verallgemeinern lassen. Nur die ethnische Zusammensetzung ist anders <?page no="263"?> 264 - dort die »Araber«, hier die »Pakis« mit den rassistischen, ähnlich ausgeschlossenen und vernachlässigten Weißen gemischt. So erklärt sich der junge Shahid, der Romanheld, warum der militante Islam an Glaubwürdigkeit gewinnt und die Gewaltbereitschaft unter den Ausgeschlossenen immer größer wird: »Eine junge Frau ... sagte, sie sei einmal kurz fortgegangen, um sich arbeitslos zu melden, und da hätte man ihr die Wohnung ausgeräumt: Teppiche, Heizkörper, Glühbirnen, Betten, Spielzeug, alles weg. Wer schlau ist, sagte sie, der räumt sämtliche Sachen in einen Raum mit verstärkter Stahltür, wenn er ausgehen will. Oder er besorgt sich einen Rottweiler, bloß würde der halbverhungert sein, weil man sich das Futter nicht leisten konnte ... Die Typen, die Initiative zeigten, die nicht untergehen wollten ... streunten umher, raubten Autos und Wohnungen aus, verkauften Gras und Koks ... Gab es da nicht diese Geschichten von Typen wie ihnen, die BMWs fuhren ... und süße Babys hatten? Bloß daß das Geld nicht auf der Straße lag. Das einzige, was man hier bekam, waren schlechte Angewohnheiten, Narben im Gesicht und fünf Jahre Knast, Minimum. Manchmal mußte Shahid sich eingestehen, dass er mit Riaz einer Meinung war. Besaßen diese Menschen denn nicht genug, um ein erträgliches Leben führen zu können? Keiner von ihnen war am Verhungern... Aber hier gab es keinen Gott, keine politische Überzeugung und keine geistige Nahrung. Welche Regierung oder Partei kümmerte sich schon um diese Menschen? Sie bekamen nur die schlechtesten Jobs. Die Frau [die Shahid mit seinen Freunden gegen die rassistischen Ausbrüchen der Nachbarn zu schützen versuchte] hatte zu Shahid gesagt, ihre Bedingungen würden sich wohl nur dann ändern, wenn sie die Aufmerksamkeit auf sich lenken konnten. ›Und wie wollen Sie das erreichen? ‹ ›Indem wir diese ganze Scheißgegend abfackeln.‹« (Kureishi 1995: 209 - 211) <?page no="264"?> 265 Der sozialistische Staat Osteuropas - Angst, Demütigung, Resignation, Wut und Hoffnung Die Literatur zum Totalitarismus (Friedrich and Brzezinski 1965; Aron 1969; Lefort 1986; Feher and Heller 1987: 243 - 278) hat menschliche Gefühle, wie Furcht und Angst, ohne zu zögern angesprochen, da es darum ging, die Schrecken eines politischen Systems zu zeigen, das alle Typen der Macht zu monopolisieren versucht und mit Gewalt alle, auch imaginäre, Hindernisse auf seinem Weg dorthin beseitigt. Besonders stark hoben die Sowjetologen und Vergleichstheoretiker, die sich mit der Sowjetunion und Hitler-Deutschland beschäftigten, den enormen Überwachungs-, Verfolgungs-, Bestrafungs- und Vernichtungsapparat hervor, der dem System eigen war. Konzentrationslager, Gefängnisse und psychiatrische Anstalten, so das Argument, auch wenn sie unsichtbar waren, prägten repressiv das Bewusstsein der Bürger, jagten ihnen eine unvorstellbare Furcht um ihr Leben ein. Diese Furcht erklärte, warum die Menschen Hitler-Deutschlands und in Stalins Sowjetrussland Gehorsam und sogar Enthusiasmus für die Führung und das System aufbrachten. In meiner vergleichenden Untersuchung (Flam 1998; 2000: 49 - 128) von zwei kommunistischen Regimen, Polen und der DDR, habe ich basierend auf u.a. 100 Interviews gezeigt, dass in der post-stalinistischen Phase ideologischer und polizeilicher Terror nicht mehr als die Haupttriebkräfte des Kommunismus galten. Es ist der Kommunistischen Partei gelungen, Kontrolle über Arbeit, Bildung, Wohnen usw. an sich zu reißen und sich als kontrollierende Herrscherin der Lebenschancen zu etablieren. Deshalb bezogen sich in der post-stalinistischen Phase die menschlichen Ängste viel mehr auf die Lebenschancen als auf die Überlebenschancen. Diese Ängste waren ganz unterschiedlich, je nachdem in welchem Land man wohnte und ob man Mitglied der staatsführenden Partei, ein Dissident oder ein unengagierter »Zuschauer« war. In der folgenden, vergleichenden Analyse der gesellschaftlichen Gefühlslagen in der DDR und Po- <?page no="265"?> 266 len werde ich mich teils auf meine Forschung und teils auf die praxisnahen Reflexionen von Hans-Joachim Maaz beziehen. Auffallend bei der Analyse ist, dass die beiden »realsozialistischen« Regime Glücksherstellung als Intention hatten, dass sie aber im Gegensatz dazu viele, meistens unintendierte, negative Gefühle herstellten. In seinem viel zitierten, aber kontrovers diskutierten Buch Der Gefühlsstau stellt Hans-Joachim Maaz (1972) die Gefühlslage der DDR-Bevölkerung vor. Mich interessiert vor allem Maaz’ Charakterisierung der Gefühle, die das Regime von Individuen verlangte und die es in den Individuen hervorgerufen hat. Die Tatsache, dass Maaz auch die strengen Gefühlsregeln, die dieses Regime den ostdeutschen Bürger auferlegte, analysiert, macht seine Untersuchung hoch interessant. Zu Hause und in Schulen - »die Zuchtanstalten der Nation« - war »die Gefühlsunterdrückung die absolute Norm: Selbstbeherrschung, Kontrolle, Tapferkeit, und Fügsamkeit gegenüber der Autorität ... waren die geforderten Tugenden« (Maaz 1992: 34 - 36,30,63). Auf der Unerwünschtheits-Liste befanden sich Traurigkeit, Schmerz, Pein, Tränen, Aggressivität, Toben und Schreie genauso wie Zärtlichkeit, Liebe und Lebenslust. Sie wurden verlacht oder bestraft. Die »sozialistische Moral« lehnte jede Art Spontaneität ab. Sie ähnelte sehr der protestantischen Moral, da die Ziele Strebsamkeit, Sparsamkeit und Disziplin waren. »Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl stellten den äußeren Rahmen dar ...« für die Repression, Einschüchterung und Konditionierung, die sich im Inneren des Landes breit machten (Maaz 1992: 15,17). Das Typische für das ostdeutsche Regime war, dass es keine innovative Aktivität oder Kreativität duldete und sich permanenter Disziplinierung und Demagogie mit Leidenschaft hingab. Der Anpassungsdruck war enorm. Wie meine Untersuchung zeigt, erlebten viele DDR-Bürger täglich Schmerzen, die der Verlust der Freiheit ihnen bereitete. Man fühlte sich eingesperrt, eingeengt, fürchterlich verängstigt: <?page no="266"?> 267 »Ich erzähle fast eher lieber Heldengeschichten, ... weil ich das blanke, heulende Elend bin, wenn ich an diese Angst denke, die ich die ganze Zeit gehabt habe. Und es, ich glaube, es war wirklich Angst pur. ... fürchterliche Situationen, wo man sich so endlos ausgeliefert gefühlt hat... Ich bin nach Berlin ... zwar mit großen Erwartungen gekommen, aber ich war, ich hab’ mich dann gleich auf dem Boden der Realitäten oder besser gesagt, in die Fänge des Staates zurückgeholt gefühlt. Und das war übel. Ich bin, ich kann mich erinnern, dass ich mittags, obwohl ich angeboten bekam, mit Mittag zu essen mit den Leuten. Ich bin rausgegangen, ich hab’ gesagt, ich hätte was zu erledigen, bin bis vors Tor gegangen und da hab’ ich durchgeatmet und bin angefangen zu laufen und bin ungefähr 30 Minuten gelaufen nur... weil ich es, weil ich wirklich mich wenigstens in dieser halben Stunde der Illusion hingeben wollte, dass mich keiner aufhalten kann, dass mich keiner festhalten kann und einengen und mir sagen kann, was er will. Ich hab’ manchmal Leute angerempelt, weil ich immer nur gelaufen bin. Ich konnte [nicht aufhören]. Und ich hab’ mich sehr eingesperrt gefühlt und politisch ungeheuer gemaßregelt.« (Flam 1998: 234) Angst, Gefühle der Isolation, Resignation und Apathie waren genauso typisch wie das Gefühl des Eingesperrtseins. Das Regime arbeitete sehr effizient mit Hilfe von Beschämung und Ostrazismus. Wenn man trotz repressiver Erziehung zu Hause und demütigender und beängstigender Repression in Schulen und Arbeitsstellen immer noch nicht mit quälendem Schweigen, sondern mit Empörung auf irgendwas reagierte, wurde man »ausgelacht, getadelt, beschämt und sozial geächtet, indem man zum Außenseiter, zum ›Klassenfeind‹ erklärt wurde, zu einem, der nicht im ›rechten Bewußtsein‹ sei. Und das Allerschlimmste daran, man blieb in der Regel wirklich allein ... [Z]u wissen, daß viele ganz ähnlich dachten, aber sich lieber raushalten wollten und dem Blick verschämt auswischen, dieses Alleingelassensein hat <?page no="267"?> 268 immer tief getroffen ...« (Maaz 1992: 29). Bittere Enttäuschung und Apathie folgten. Dazu kam das Bewusstsein der äußeren Rahmenbedingungen, der Glaube daran, dass Widerstand immer mit Gewalt vernichtet wird: »[d]ie tödliche Gewalt am 17. Juni 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei... [die das] Land immer wieder mit lähmender Angst und Resignation überzog« (Maaz 1992: 15). Meine eigene Untersuchung relativiert ein wenig Maaz’ Bild der DDR-Wirklichkeit. Viele Ostdeutsche suchten sich mühsam eine Ausbildungs- oder Berufsnische, die sie gegen die schlimmsten Reglementierungseffekte und die Konfrontationen mit den Regimevertretern, vor denen sie sich fürchteten, schützte. Sie suchten Selbstverwirklichung und Sicherheit durch und im Beruf. Die akute Angst, die einige von ihnen erlebten, als ihre Berufsnische durch die Stasi bedroht wurde, deutet darauf hin, wie zerbrechlich und dennoch für sie selbst unentbehrlich diese Nische war. Ohne diese Nische fühlten sie sich dem mächtigen Partei- und Stasiapparat völlig ausgeliefert. Nur dank der Nische war ihr DDR-Dasein erträglich. Die Sozialwissenschaftler sind sich nicht einig, ob dieses Nischen-Dasein möglich war, weil sich die Partei zurückzog oder weil sich die Menschen ihrer Überwachung entzogen (Koch 1989). In der DDR spielte Hass als Mobilisierungsinstrument eine wichtige Rolle. Offiziell durfte man nur den »Klassenfeind« oder die »antisozialistischen Kräfte« hassen. Aber das Regime scheiterte mit dieser Art Hasslenkung. Der Alltag war von gegenseitiger Aggressivität, Schadenfreude, Hohngelächter und Hänseleien - nicht nur unter Kindern - geprägt. Diese Sicht des Alltags wäre aber nicht komplett ohne Berücksichtigung der Bedingungen und Gefühle, die die Aggressivität einerseits verstärkten und andererseits auf sie hemmend wirkten. Die Mangelwirtschaft bedeutete, vor offiziellen Läden stundenlang Schlange zu stehen, Hoffnung und dann tiefe Enttäuschung zu durchleben, wenn die Ware dann doch nicht ausreichte. In den staatlichen Läden selbst wurde man entwürdigend und aggressiv behandelt. <?page no="268"?> 269 Die Mangelwirtschaft presste zum Organisierenmüssen. »[E]in eigenartiges Netz von Bestechung, Schieberei, Korruption und Abhängigkeit ... auch die häufigen kleinen Diebstähle aus Betrieben und Baustellen gingen auf diese Verhältnisse zurück« (Maaz 1992: 65). Genauso wie die Bürger in Polen waren die DDR-Bürger immer auf der Suche nach Waren, die sie brauchten, und Personen, die bei der Beschaffung hilfreich sein könnten. Diesen Personen brachte man nur die besten Gefühle, Höflichkeiten und kleine Gegenleistungen entgegen. Genauso wie in Polen fanden die Bürger in der DDR die Tatsache demütigend, dass sie mit ihrem ehrlich verdienten Geld nicht viel und dann nur über diese erniedrigenden Umwege an die Waren und Dienstleistungen kamen (Wedel 1986; Flam 1998; Maaz 1992: 65). Sie nahmen an dem Korruptionssystem teil, und gleichzeitig - auf jeden Fall in Polen - schämten sie sich und lehnten diese beschmutzende Teilnahme ab. Der zentralplanende Einparteienstaat hinter der Mangelwirtschaft verursachte also nicht nur die Gefühle der Demütigung, Enttäuschung, Frustration und Aggressivität im Alltag, sondern auch die Hoffnung sowie die Höflichkeit und sogar gegenseitige Sympathie innerhalb der funktionierenden Austauschnetzwerke. Die DDR-Bürger, die das permanente Eingesperrtsein erlebten, litten mehr unter der Mangelwirtschaft als die Polen. Ihr Alltag war grauer und unfreier, auch wenn sie sogar viel mehr Fleisch pro Kopf als die BRD-Bürger aßen und viel besser mit Fernseher oder Kühlschränken als ihre sämtlichen Sowjetblockbrüder ausgestattet waren! Obwohl mit Unterbrechungen hatten die Polen seit Giereks Liberalisierungspolitik der 1970er Jahre die Möglichkeit, in den bunten und freien Westen zu reisen, dort ehrlich und schnell genug Geld zu verdienen, um nach ihrer Rückkehr ein Jahr oder länger das berauschende Gefühl der Unabhängigkeit und moralischen Reinheit genießen zu können. Mit Hilfe von westdeutschen Verwandten, die Pakete schickten, konnten einige DDR- Bürger zwar ein bisschen Luxus genießen, aber nicht dasselbe berauschende Freiheitsgefühl. Eine Urlaubsreise nach Polen musste <?page no="269"?> 270 Vielen als - wenn auch erholsamer und bereichender - Ersatz reichen. In Polen spielten die Westreisen, die katholische Kirche, die katholischen Klubs, die halb-offiziellen und inoffiziellen Universitätsseminargruppen, die Jazz- und Filmklubs, die diversen Subkulturen und eine lange Reihe von offiziellen Zeitschriften, Theatern und Kunstgalerien die Rolle der seelischen Zufluchtsorte. Diese Orte erlaubten einem, sich aus der unbeliebten, für manche sogar unerträglichen sozialistischen Wirklichkeit »zu entfernen«, sie »zu vergessen«, sich gar über sie kritisch oder künstlerisch »zu erheben« (Flam 1998: 242). Dort erlebte man die Geborgenheit, die man in der offiziellen Wirklichkeit nicht fand und die die Ostdeutschen vor allem in ihren Datschas, aber punktuell auch unter Freunden oder Arbeitskollegen erfuhren. Sonst war der polnische Alltag dem ostdeutschen in seiner Schizophrenie ähnlich. Man durfte nicht sagen, was man dachte. Man musste strenge Gefühlskontrolle in der Anwesenheit von Parteifunktionären ausüben, an die Angst einjagende und demütigende Zensur denken: »... diese Angst... war wie ein stabiler Wasserstrom unter der Oberfläche... wir alle hatten eine sehr gute Vorstellung darüber, wie lang unsere Ketten waren... Besonders wenn es um Zensur ging... Eine Pyramide der Angst ... « (Flam 1998: 240) Giereks Liberalisierungspolitik in den 1970er Jahren machte es auch vielen polnischen Bürgern möglich, in dem legalen wie auch dem illegalen großen Privatwirtschaftsektor viel Geld zu verdienen. Das neue Antlitz des Staates machte viele Polen euphorisch. Für sie war Giereks Polen das neue El Dorado. Jene Dekade sah zugleich eine Massenausreisewelle polnischer Bürger, die für das Regime und seine »surrealistische«, teils marxistisch-leninistische, teils völlig korrumpierte westliche Wirklichkeit nur noch eine tiefe Abneigung empfanden. In der gleichen Zeit steigerte sich auch der Zorn der arbeitenden Bevölke- <?page no="270"?> 271 rung, die sich in ihrer Armut mit unerhörtem Reichtum der Parteifunktionäre und Wirtschaftsprofiteure konfrontiert sah. Die Solidaritätsbewegung brachte diesen Zorn zum Ausdruck - vor allem in Betrieben, wo man die Listen der Namen korrumpierter mehrmaliger Käufer knapper Konsumwaren aufhängte und sie dann rechtlich verfolgte. Als die nichtstaatliche Gewerkschaftsbewegung Solidarno ść , die nach ihrer staatlichen Anerkennung 1980 ca. 10.000.000 Mitglieder innerhalb von drei Monaten hatte, nach moralischer Erneuerung rief, brachte sie auch den Überdruss der Massen mit dem Zwang, in einem korrupten und erniedrigenden Arbeits- und Konsumwelt leben zu müssen, zum Ausdruck. Die ostdeutsche staatsführende Partei hat im Unterschied zu der polnischen auf viel mehr offiziellen Purismus und Asketismus bis zu ihrem Ende 1989 bestanden. Zwar nahm man westliche, vor allem westdeutsche Kredite auf, um die eigene Wirtschaft anzukurbeln, aber - verglichen mit Polen - nur in sehr begrenztem Umfang. Man hat den Konsumwünschen der Bevölkerung auch auf verschiedene Weise nachgegeben - vor allem, als man in den 1970er Jahren einen winzigen Privatsektor, den Privatbesitz von DM und die Intershop-Läden erlaubte. Aber im Unterschied zu Polen ließ die SED keine großen Konjunkturschwankungen und auch kein Konsumfieber zu. Die DDR-Bürger erlebten ihre Konsummöglichkeiten als sehr begrenzt, den Lebensstil als spartanisch. Ihnen schien es, dass sie im Zustand des ständigen Verzichts lebten. Sie beneideten den Wohlstand ihrer westlichen und die Freiheit ihrer östlichen Nachbarn, ohne die Idee des Sozialismus abzulehnen. Als sie das wahre Wandlitz-Gesicht im Fernsehen 1990 sahen, explodierte ihre Wut. Dass sich ihre eigenen Eliten, die Verzicht propagierten, problemlos in ihren überfüllten Geschäften mit Luxus versorgen konnten, erzeugte wahrhafte Empörung. Ihnen wurde die Verlogenheit der Parteiführung in dem Moment schlagartig klar. Sie fühlten sich verraten. Wie die Krise des westeuropäischen, demokratisch-kapitalistischen Wohlfahrtsstaates in den letzten zwei Dekaden, so hat auch der Zusammenbruch des Sowjetblocks »entbehrliche Klassen« <?page no="271"?> 272 produziert. Interessanterweise wird die Lage der ostdeutschen Jugend in Plattenbausiedlungen sehr ähnlich wie die Lage ihrer westlichen Counterparts geschildert. Man meint, dass diese Jugendlichen genauso wie ihre westlichen Counterparts in tragischer Weise aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Auch sie fühlen sich enttäuscht, wütend, gedemütigt und in Sackgassen steckend. Im Unterschied zu der Zeit des DDR-Regimes werden sie seit der Wende weder ganztägig betreut noch beruflich gelenkt oder abgesichert (Zirk 1996: 103,76). Stattdessen werden sie sich selber überlassen. Ihre Eltern können oder wollen nicht die erzieherischen Aufgaben übernehmen, da sie lange Arbeitszeiten haben und/ oder mit dem eigenen sozialen Abstieg während der Nachwendezeit beschäftigt sind. Die Lehrer, von denen 80% schon zu DDR-Zeiten tätig waren, besitzen in ihren Augen keine Glaubwürdigkeit mehr. Wie ihre Counterparts sind diese Jugendlichen von dem kapitalistisch-demokratischen System enttäuscht. Im alten System waren sie die Eliten und die Zukunft des Landes, heute sind sie als »Ossis« zu Bürgern zweiter Klasse geworden. Sie leben in einer Wirtschaft, die mit Arbeitslosigkeit und Aussichtslosigkeit droht. Ihre Ressourcen reichen aus, um die populäre Kultur wahrzunehmen, aber nicht, um an ihr teilzuhaben. Die Hauptunterschiede zu ihren westlichen Counterparts liegen darin, dass sich für diese Jungendlichen die durchaus gut organisierten Neonazigruppen und rechtsextremen Parteien stark interessieren und sie als Mitglieder gewinnen wollen (Zirk 1999: 76 - 78,102 - 104). Deshalb werden der Hass und die Wut nicht wahllos entladen oder auf sich selbst gerichtet. Das Hauptziel der Aggression ist auch nicht die vorher vertraute Welt der Erwachsenen, die jetzt aus der Sicht dieser Jugendlichen nur aus »Wendehälsen« und Wendeverlierern besteht. Die Wut führt nicht zum alltäglichen Bürgerkrieg untereinander. Im Gegenteil, die Neonazigruppen - so die Analytiker - bieten Nähe und Wärme in einer gleichgültigen Welt. Zugleich legitimieren sie den empfundenen Hass und die Wut. Diese beiden werden mit Hilfe von nationalsozialistischen Thesen auf die anderen, schwachen <?page no="272"?> 273 Gruppen gelenkt. Solcherart gelenkte Entrüstung mobilisiert die Jugendlichen zu Gewalttaten gegen Ausländer, Schwule, Lesben und Behinderte. Die Wut wird gegen diese spezifischen Gruppen kanalisiert und auf sie entladen. Die Massen und die Emotionen Einführung Heute werden die Massen, die in Eliten sehr lange nur eine Mischung aus Verachtung und Furcht erweckten, viel differenzierter behandelt. Als Boten der Freiheit werden sie dann gesehen, wenn sie sich gegen Diktatoren mobilisieren können. Als barbarisch und bedrohlich werden die Menschenmassen wahrgenommen, wenn sie unserer Meinung nach gegen demokratische Werte protestieren und/ oder wenn sie Gewalt als Protestinstrument verwenden. Im Folgenden nehme ich Hannah Arendts Studien als Beispiel an für eine traditionale Sicht auf die Massen - als die größte politische Gefahr für die Eliten -, obwohl sie in ihren Schriften von den Mainstream-Analysen insofern abweicht, als sie auch den Eliten, ihren Organisationen und der Presse, also nicht nur den Massen, die Schuld für die Gefährlichkeit und Verachtungswürdigkeit der Massen zuweist (Arendt 2001: 246 - 247). Die neue Sicht der Massen als Boten der Freiheit lasse ich vor allem von James C. Scott - einen von den englischsprachigen sozialen Bewegungstheoretikern sehr verehrten amerikanischen Politologen - vertreten. Für Scott steht jedes Herrschaftssystem nicht nur für die ökonomische Ausbeutung, sondern auch für das tägliche Erleben sowohl von Demütigung, Entwürdigung und Angst als auch zurückgehaltener Wut und Frustration. Das Verlangen nach Freiheit erwächst aus diesen Emotionen und der Tatsache, dass sie täglich unterdrückt bzw. verborgen werden müssen. Scott baut teilweise auf Michail Bachtins Analysen auf und beruft sich somit auf eine Ikone der Gegenwart - einen Literaturkritiker und Philosophen (1895 - 1975), der in der Sowjet- <?page no="273"?> 274 union als junger Mann Verhaftung und Verbannung und dann eine lange schmerzvolle Marginalisierung erlebte (Dentith 1995: 4 - 7). Erst am Ende seines Lebens gewann er in der Sowjetunion eine gewisse, im Westen aber eine enorme Popularität. Bachtin (1990) und seiner Analyse von Rabelais ist die neue Auffassung der Massen als Boten der Freiheit und Herausforderer der Eliten und ihrer Herrschaftsformen teilweise zu verdanken. Dieser Ansatz wird anhand eines Falles - der Belgrader Protest gegen Miloševi´c 1996/ 1997 - illustriert. Als Drittes möchte ich einen Ansatz von Guobin Yang (2000) vorstellen, der am deutlichsten die Emotionen, die sich sequentiell bei einem Massenprotest entwickeln können, mit der Protestdynamik verbindet. Nach Yang bietet der Protest eine Chance, außergewöhnliche, extreme Emotionen jenseits der Alltagsroutine zu erleben. Dies stellt seine besondere Attraktivität dar. Da sich die Individuen über ihre Emotionen definieren, hilft ihnen ein kollektiver Protest, sich selbst zu definieren, die eigene Identität Ereignis für Ereignis, Emotion für Emotion schrittweise zu gestalten. Zugleich kristallisiert sich die kollektive Identität der gemeinsam protestierenden Individuen durch das ähnliche Empfinden von und die dichte Kommunikation über die eigenen Reaktionen und die Reaktionen des Gegners heraus. Yang betrachtet genauso wie Scott und Bachtin die Freiheitsbewegung. Aber während Scott und Bachtin das Fröhliche und das Lachen mit Protest verbinden, verknüpft Yang den Protest mit der Scham und der Wut. Abschließen werde ich diesen Abschnitt mit der Analyse von muslimischer Radikalisierung, um zu zeigen, dass sich diese genauso wie die extremistischen westlichen sozialen Bewegungen als Reaktion der Ausgeschlossenen auf sozial-ökonomische Marginalisierung, fehlende politische Vertretung bzw. Einfluss und geringe symbolische Bedeutung verstehen lassen. Als Beispiel wird hier die Rushdie-Affäre in Großbritannien 1988 angeführt. Nur aus der Perspektive eines unwissenden Außenstehenden erscheinen fundamentalistische Bewegungen als völlig irrational. Die Expertenanalysen zeigen, dass sehr wohl Interessen und <?page no="274"?> 275 Symbole im Spiel sind, und dass die analytische Perspektive Hannah Arendts, die das Zusammenspiel zwischen den Eliten, ihren Organisationen und ausgegrenzten Massen betont, immer noch nützlich ist (vgl. Kamal 1998, 1999). Um den Leser nicht mit noch einem Beispiel zu ermüden, habe ich darauf verzichtet, dies anhand Kamals Analyse der islamischen Revolution im Iran (Kamal 1998, 1999) darzulegen. Oder aber die Expertenanalysen zeigen, dass uns aufgrund geringer soziologischer Phantasie nur Arendts Erklärungsmodell einfällt. Der Mob - Hass, Wut, Furcht und Neid als Emotionen der Ausgeschlossenen Einführend lässt sich sagen, dass bei Arendt für den Mob charakteristisch ist, dass er aus Deklassierten, Studenten, Kriminellen, Perversen und erfolglosen Künstlern zusammengesetzt ist; sie leben losgelöst von sozialen und politischen Strukturen. Der Mob empfindet Frustration, Wut und Hass gegen die Welt, von der er sich entfremdet fühlt. Seine Sehnsucht ist die nach einem Führer und nach Gewalt. Er wird von seinen Führern (samt Eliten und der Presse) gesteuert und lässt sich leicht zu Gewalttaten bewegen. Die Massen setzen sich aus bisher apathischen Massen und aus Normalbürgern - Arbeitern und dem gesamten Bürgertum - zusammen. Die Bürger werden von sozialen Klassen losgelöst und von politischen Parteien allein gelassen. Sie empfinden ebenfalls Frustration, Wut und Hass - vor allem gegen die Politiker, von denen sie sich im Stich gelassen fühlen. So wie sein Mob-Counterpart fühlt sich der Massenmensch wertlos, verbittert und verzweifelt. Aber er empfindet Sehnsucht nach einer historischen Aufgabe und nach einer neuen Weltordnung - einer Weltordnung, in der das aufgelöste Selbst der Einzelnen durch die Eingliederung in eine Gemeinde an Bedeutung und Gewicht gewinnen würde. Dem Mob sind keine Werte heilig. Die Massenmenschen dagegen bangen um ihre Sicherheit und den Familienwohlstand. Sie initiieren den Terrorismus nicht so wie der <?page no="275"?> 276 Mob, jedoch lassen sie sich vom Terrorismus des Mobs teils terrorisieren, teils begeistern. Organisiert und zu Mitschuldigen gemacht, werden sie erst von der totalitären Bewegung nach deren Machtergreifung. Sie verwandeln sich in eine rational-bestialische Vernichtungsmaschine. In Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (2001, 1973) stoßen wir zum ersten Mal auf den gefährlichen und tobenden Mob, als sie die antisemitische Dreyfus-Affäre analysiert, die Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich stattfand. Dreyfus war ein Armeeoffizier jüdischer Herkunft, der aufgrund gefälschter Beweismittel des Landesverrats angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. In der Dreyfus-Affäre spielte der Mob eine äußerst wichtige Rolle. Arendt analysiert ihn, weil sie in ihm einen wichtigen Vorgänger des nationalsozialistischen Mobs sieht. Der französische Mob zur Zeit der Dritten Republik setzt sich aus »allen Deklassierten« zusammen, er ist »das Volk in seiner Karikatur« (Arendt 2001: 247). Seine Art ist die Art der Ausgeschlossenen. Sie spiegelt seinen Hass gegen die Gesellschaft und gegen das politische System wider, die ihm keinen Platz einräumen. Er ist ein Träger des Wunsches nach der Führerherrschaft. Seine Methoden der Politik sind die niedrigsten - Akklamation des Führers und Steinigung des Feindes. Der Mob sehnt sich nach Unterwerfung (Arendt 2001: 247). Im Unterschied zu den konservativen Denkern, die den Mob verachten, fürchten und unterbinden wollen, ohne sich Gedanken über seine Anliegen, Ursprünge oder Verbindungen zu machen (s. dazu die Literaturübersicht in König 1999, Heins 1999: 94 -100, Genett 1999 und Sloterdijk 2000, der aber die Menschen, die Bürger, den Mob und die Massen gleichstellt), stellt Arendt die These auf, dass der Mob von den Gesellschaftseliten und der Politik seiner Zeit erzeugt wird. Für Arendt ist klar, dass in der Dritten Republik die Elite und die Politiker ein Zusammengehörigkeitsgefühl, eine Art elterliche Verbundenheit mit dem Mob empfanden. Sie bewunderten und fürchteten ihre eigene Kreation: <?page no="276"?> 277 »[Sie] fühlten diesem Produkt ihrer Regierung gegenüber ein gewisses aus Angst, schlechtem Gewissen und Bewunderung gemischtes Zugehörigkeitsgefühl [felt a tender sentiment of parental familiarity with their offspring, a feeling mixed with admiration and fear]. Der Mob war Fleisch von ihrem Fleisch und Blut von ihrem Blute.« (Arendt 2001: 247 - 248 und Arendt 1973: 107) Der Mob blieb nur so lange ruhig, bis sich die Verteidiger von Dreyfus - Clemenceau, Emile Zola, Anatole France und eine Hand voll Gleichgesinnter - drei Jahre nach seiner Verhaftung mobilisierten. Dann folgte der »blutige Aufruhr der Straße, ein in jedem Fall offener Versuch, zu terrorisieren, einzuschüchtern, zu erpressen«, wobei die antisemitische Armee und die Presse den Mob gegen Dreyfus’ Verteidiger, jüdische Läden und Juden lenkte und die Polizei ihn beschützte (Arendt 2001: 253 - 255) Die Koordination von oben wurde am besten sichtbar, als an einem Tag gleichzeitig im ganzen Land der antisemitische Mob mit dem gemeinsamen Schrei »Tod den Juden« einen massiven Angriff gegen die Juden und ihre Verteidiger unternahm (Arendt 1973: 111). Mehr dazu müssen wir nicht erfahren, um Arendts Schlussfolgerungen zu verstehen: Den Mob gab es schon immer. Neu war die Allianz zwischen der Elite, den Politikern und ihm, die Kapitulation der meisten Intellektuellen vor ihm und die Tatsache, dass der Mob Bestialität mit einem Gerechtigkeitsprinzip vereinte. Neu »war die Organisation des Mobs und die Heldenverehrung, die seinen Führern von Seiten der guten Gesellschaft und der Elite gezollt wurde« - die Elite sah in diesem bestialischen Mob, der im Namen Frankreichs tobte, einen Vollstrecker der Gerechtigkeit und einer eigenen Version von Nationalismus (Arendt 2001: 256 - 257). Die Allianz zwischen dem Mob, der Elite und den Politikern setzte parlamentarische Politik außer Kraft. Die vielen Parallelen zu Hitler-Deutschland sind allzu klar, und nicht unerwartet beschäftigt sich Arendt damit im dritten <?page no="277"?> 278 Teil ihres Buches »Das zeitweilige Bündnis zwischen Mob und Elite«. Dieses Bündnis, das um die Jahrhundertwende entstand, lässt sich als Ursprung des Nationalsozialismus begreifen. Hier wird deutlicher als zuvor, dass Arendt unter Elite die geistige und künstlerische Elite versteht (Arendt 2001: 702 - 703). Sie versucht zu beleuchten, warum diese Elite den Mob so attraktiv fand und seine Führer enthusiastisch unterstützte. Ihre Antwort: Auch Hitler appellierte an die tiefsten Leidenschaften dieser Elite, verstand ihre Weltanschauung und Emotionen zu vertreten. Diese Elite fand die bürgerliche Welt nur scheinbar sicher, erstarrt, langweilig, heuchelnd, ekelhaft und verächtlich (Arendt 1973: 328 - 331). Sie räumte weder Tapferkeit, Ehre und Männlichkeit noch tiefem, selbstvernichtendem Mitleid für die Unterdrückten einen Stellenwert ein. Mit Leidenschaft hoffte diese Elite auf den Untergang dieser Welt, zog deshalb begeistert in den Ersten Weltkrieg und erlebte während des Krieges, trotz aller Enttäuschungen, das Ideal der Gleichheit, der Vernichtung und des gemeinsamen Leids. Charakteristisch für sie war eine überwältigende »... Sehnsucht ... diese ganze Welt des Humbugs mit ihrer künstlichen Sicherheit, ihrer Scheinkultur und ihren zur Fassade erstarrten ›Werten‹ in Trümmern zu sehen« und »[d]as leidenschaftliche Verlangen nach Gleichheit und Gerechtigkeit, nach dem Übersteigen enger und sinnlos gewordener Klassenschranken, nach der Aufgabe törichter Vorrechte und Vorurteile« (Arendt 2001: 706 - 707). Nach dem Krieg fand diese von der Kriegserfahrung und von Nachkriegsleiden geprägte Untergangselite, dass »Hitler ... im Beginn seiner Laufbahn ... fast ausschließlich an diese Gefühle der Frontgeneration appelliert [hatte]« (Arendt 2001: 705 - 706). Die Elite fand Hitler und seinen Mob auch deshalb anziehend, weil beide die falschen Ansprüche und die Doppelmoral der Gesellschaft entlarvten und lächerlich machten. Nationalsozialistische Gewalttaten und gelungene Machtdemonstrationen fielen auf den Boden »ihrer geistvollen, paradoxen und oft brillanten Verherrlichung von Gewalttätigkeit, Macht und Grausamkeit« (Arendt 2001: 709). <?page no="278"?> 279 Das enge Verhältnis zwischen Elite und Mob soll nicht darüber hinweg täuschen, dass weder die Elite noch der Mob eine Rolle spielten, nachdem die totalitäre Bewegung an die Macht kam. Stattdessen traten die Menschenmassen auf die historische Bühne (Arendt 2001: 703). Wenden wir uns nun kurz diesen Massen zu. Die Sehnsucht der hasserfüllten und wütenden Massen nach einer heroischen Aufgabe Wenn die Klassengesellschaft zusammenbricht und die Demokratie mit ihrem Parteiensystem demzufolge ihre Legitimität verliert, entstehen für Arendt die Massen des 20. Jahrhunderts, aber nur in Ländern, in denen große Menschenmassen überflüssig sind (Arendt 2001: 667 - 671,676; Arendt 1973: 311 - 312). Einerseits spricht Arendt von den ignorierten Massen, die bisher als apathisch und unpolitisch galten. Diese hatten historisch gesehen keinen Kontakt mit politischen Parteien und empfanden ihnen gegenüber nur Feindseligkeit. Sie waren von der Kunst der Argumentation und Verhandlung unberührt. Sie hielten nicht viel von der Kraft der Überzeugung oder vom Verfahren der Meinungsfindung. Stattdessen zeigten sie Vorliebe für Methoden, die sich auf Schrecken stützten und Tod implizierten. Diese Massen des 20. Jahrhunderts ähnelten dem Mob des 19. Jahrhunderts in ihrer Verachtung der Parteien und in ihrem sozial-politischen Außenseiterstatus. So wie der Mob waren auch sie von den Gewalttaten der Führer der totalitären Bewegung beeindruckt (Arendt 2001: 660,674). Andererseits spricht Arendt von den Massen, die mit dem Wegfall der Klassenstruktur und des politischen Systems entstanden sind. Als die Klassen und ihre Ideologien an Bedeutung verloren, verwandelten sich die »Mehrheiten, die bisher hinter jeder Partei gestanden hatten, in eine unorganisierte, unstrukturierte Masse verzweifelter und haßerfüllter Individuen, die nichts verband außer der allen gemeinsamen Einsicht«, dass die Politiker verantwortungslos, gemein oder dumm waren (Arendt 2001: <?page no="279"?> 280 677). Ihre Verzweiflung wuchs im selben Maße wie die wachsende Arbeitslosigkeits- und Inflationsrate. »Furchtbare negative Solidarität« (Arendt 2001: 677) entstand. Mitglieder verschiedener Klassen empfanden aus völlig verschiedenen Gründen nur Hass und Wut für die Politiker. Selbst hatten sie jedes Selbstgefühl und jede Art Bezug zur Welt verloren. Mit unerhörter Intensität verspürten sie Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach einer historischen, heroischen Aufgabe: »Diese Masse verzweifelter und ressentimenterfüllter Individuen wuchs sehr rasch nach dem Ersten Weltkrieg ..., wo Inflation und Arbeitslosigkeit in kurzen Abständen der militärischen Niederlage ... gefolgt waren ... [W]as sie interessierte, seien nur ›weltanschauliche Fragen‹ und ›das große Glück, auserwählt zu sein, an einer Aufgabe mitzuarbeiten, die in Geschichtsabschnitten rechnet und deren Spur auch nicht in Jahrtausenden untergehen kann.‹« (Arendt 2001: 678 - 679, Himmler in Arendt 2001: 679 - 680; Arendt 1973: 315 - 316) Angesichts dieser Entwicklung verwundert es nicht, dass es der totalitären Bewegung gelungen ist, »die individuelle Identität des einzelnen für die Dauer seines Lebens, und nicht nur für die Dauer einer einzigen heroischen Aktion [auszulöschen]« (Arendt 2001: 674). Die totalitäre Bewegung verlangte eine totale, inhaltsunabhängige Loyalität ihrer früher völlig atomisierten und isolierten Mitglieder: »Die totalitären Bewegungen sind Massenorganisationen atomisierter und isolierter Individuen, von denen sie eine, verglichen mit anderen Parteien und Bewegungen, unerhörte Ergebenheit und ›Treue‹ verlangen und erhalten können.« (Arendt 2001: 697; Arendt 1973: 323) Nach der Machtübernahme wurden die Menschenmassen innerhalb weniger Jahre von der totalitären Bewegung kontrolliert. Nicht nur Repression spielte dabei eine Rolle. Zum großen Teil <?page no="280"?> 281 beruhte der Erfolg darauf, dass der »Massenmensch« Angst um seine Sicherheit und das Wohlergehen seiner Familie hatte: »Der Massenmensch, den Himmlers Organisationskünste unschwer zum Funktionär und willigen Komplizen der größten Verbrechen, welche die Geschichte kennt, machten, trug deutlich die Züge des Spießers, nicht die Züge des Mobs; hier waren keine Leidenschaften, verbrecherische oder normale, im Spiel, sondern lediglich eine Gesinnung, die es selbstverständlich fand, bei der geringsten Gefährdung der Sekurität alles - Ehre, Würde, Glauben - preiszugeben. Nichts erwies sich leichter zerstörbar als die Privatmoral von Leuten, die einzig an die ununterbrochene Normalität ihres Lebens dachten ...« (Arendt 2001: 723) Der totalitäre Staat hatte aus Allen Verbrecher gemacht, Alle in Mitschuldige verwandelt und so die Schuldgefühle verallgemeinert. Nicht nur die Führung der totalitären Bewegung, die in unzählige Verbrechen verwickelt war, und deren einzelne Mitglieder, die sich aufgrund dessen in Schach halten ließen, litten am schlechten Gewissen oder waren durch die gemeinsame Schuld miteinander vereint (Arendt 1973: 408). Die deutsche Gesellschaft der Nazizeit wurde aufgrund der gemeinsamen Komplizität solidarisch. »...hier galt es nur, jeden durch Mitwisserschaft oder Teilnahme an Verbrechen so weit zu kompromittieren, dass eine Rückkehr in das bürgerliche Leben unmöglich würde. In der voll errichteten totalen Herrschaft erstreckt sich diese Komplizität dann auf das ganze Volk, das so organisiert wird, dass alle schuldig sind; dadurch stellt sich... eine Solidarität gegen die nichttotalitäre Welt ...« (Arendt 2001: 847- 848) <?page no="281"?> 282 Die gedemütigten und wütenden Massen als Boten der Freiheit James Scotts Domination and the Arts of Resistance ist gedacht als eine Aussage zu totalen Herrschaftssystemen wie der Sklaverei, dem Kastensystem oder dem Totalitarismus, obwohl Scott dieser programmatischen Selbsteinschränkung nicht gerecht wird (Scott 1990: 23). Sein Erkenntnisinteresse gilt der Kultur der Untergebenen. Scott behauptet, dass die Marx’sche Unterscheidung zwischen den apathischen und den revolutionären Massen falsch ist - es gibt kein falsches Bewusstsein (Scott 1990: 77 - 78). Es handelt sich um ein und dieselbe Gruppe, ein und dasselbe Bewusstsein. Auch die scheinbar apathischste Gruppe leistet Widerstand. Ist die Herrschaft aber absolut und grauenvoll, so ist es für sie sehr kostspielig, sich offen zu wehren. Nur anonyme versteckte Formen des Widerstandes, die mit geringen Entdeckungs- und Bestrafungschancen assoziiert sind, tauchen dann auf. In solch einem Kontext entwickeln die Untergebenen ihre Tarnungs- und Anonymitätspolitik [politics of disguise and anonymity], die die Herrschaftsverhältnisse und die Herrschaftskultur in versteckter Form auslachen und in Frage stellen. Diese Tarnungspolitik beinhaltet Gerüchte, Klatsch, Volksweisheiten, Witze, Lieder, Riten, Chiffren und Euphemismen - vieles von dem, was als Volkskultur gilt (Scott 1990: 19). Sie entfaltet sich im öffentlichen Raum, aber da die Inhalte doppelte Bedeutung tragen und ihre Autoren anonym bleiben, kann diese Art Politik für die Untergebenen als Ventil dienen und zugleich beschützend wirken. Die tarnungspolitischen Diskurse fließen in den zweiten Diskurstyp ein, der auch von den Untergebenen getragen wird. Scott spricht von hidden transcripts of subordinates. Diese werden nur dann entwickelt, wenn die Herrschaftsverhältnisse Freiräume bzw. Hinterbühnen für Kommunikation unter den Untergebenen zulassen (Scott 1990: 18,85,119 - 124). Frei von Überwachung entwickelt sich dann eine politische Kultur der Dissonanz. <?page no="282"?> 283 Die Hinterbühne ermöglicht den Ausdruck von Emotionen wie Wut, Rache, Selbstbehauptung, die in der Anwesenheit der Machthaber unterdrückt werden müssen. Aus Scotts Sicht stellt Bachtins Karneval solch eine Hinterbühne jenseits der Herrschaft dar. Wie Bachtin aber meinte und wie das empirische Beispiel Belgrads gleich zeigen wird, kann er auch als Rebellion verstanden werden. Während des Karnevals, so Bachtin, agieren die Massen als anti-autoritäre Rebellen mit ihrem eigenen Diskurs, eigenen Emotionen und Verhaltensregeln. Für Bachtin steht der Karneval der Renaissance, der immer auf dem Markt stattfand, für eine anti-autoritäre Kraft, die sich gegen die offizielle Kultur der Kirche und des Staates mobilisierte (Bachtin 1990; kritisch s. Dentith 1995: 73 - 79 und Scott 1990: 172 - 182). Für ihn besitzt er die Fähigkeit, die Werte samt sozialen und politischen Hierarchien in Frage zu stellen. Während des Karnevals erleben die Menschenmassen Gleichheit, Gemeinschaft und Freiheit. Der Karneval steht für die Festlichkeit und das Festessen - für die Fülle. Man frisst, scherzt, lacht und vergnügt sich. Das Lachen befreit - auch die Sprache. Besonders interessant ist, dass Scott mit seinen Reflexionen zur Hinterbühne, die illegitime Emotionen zulässt, eine zentrale Annahme Marx’ ergänzt. Scotts These besagt, dass die Unterdrückungserfahrung nicht nur ökonomisch oder politisch, sondern auch emotional durchdacht werden muss. Die Erfahrung der Untergebenen besteht auch aus Demütigung, Entwürdigung, Überwachung, abverlangtem Respekt für den Herrschenden, Entmächtigung, Bestrafung und Schmerz (Scott 1990: 111); und auch aus der Tatsache, dass dem Untergebenen, oft mit Gewalt, früh beigebracht wird, sich selbst zu verleugnen, seine wahren Emotionen zu verbergen, sie zu unterdrücken. Der Abschnitt zu den sozialistischen Staaten Osteuropas (s.o.) sollte derartige emotionale Kosten der Herrschaft illustrieren. Eine unerhörte psychische Energie wird in emotionale Unterdrückung, in Selbstkontrolle investiert (Scott 1990: 37, 28 - 29). Daraus folgt, dass jedes Herrschaftssystem, das auf Ausbeutung, alltägliche Entwürdigung, öffentliche Demütigung, Schlägen, Auspeitschung, Verge- <?page no="283"?> 284 waltigung, Verachtung usw. beruht, die Kontrolle des natürlichen Impulses zu Wut, Rachegefühlen und Gewalt impliziert und zugleich zu unerhörter Frustration führt, da diese Art Reziprozität für das Individuum gefährlich ist. Nichtreziprokes Verhalten ist eine Frage des Überlebens. Wenn das Vorhandensein einer Hinterbühne es ermöglicht, können aber Frustration und Wut artikuliert werden. Dabei spielt die Sprache und die eigene Gruppe eine disziplinierende Rolle. Es ist die eigene, nicht unbedingt egalitäre Gruppe, welche Ereignissen und bestimmten Verhältnissen Signifikanz verleiht (Scott 1990: 119,130 - 131). Dort wird der Diskurs der Würde, Gerechtigkeit und der Dekompensation zusammengeschmiedet, dort entstehen die hidden transcripts (Scott 1990: 114). Die Rebellion kommt oft unerwartet, auch für den Untergebenen, der erlebt, wie seine unterdrückten Emotionen plötzlich mit voller Kraft gegenüber den Herrschenden explodieren (Scott 1990: 9,222). Diese Emotionen erklären, wie die hidden transcripts den Weg in die Öffentlichkeit finden. In der Rebellion, dem Bruch mit der öffentlichen Normalpolitik, welche die Herrschenden ehrt und legitimiert und das Mitmachen der Untergebenen als freiwillig und enthusiastisch darstellt [official transcript] (Scott 1990: 86), werden die hidden transcripts und die jahrzehntelange, mühsame Arbeit, die in ihre Herstellung investiert wird, sichtbar. Die Herrschaftssysteme werden herausgefordert in jenen selten Augenblicken, in denen die hidden transcripts öffentlich werden, wenn die Untergebenen ihre ehrlichen Meinungen und Emotionen vor den Herrschenden artikulieren. Der Belgrader »Karneval« 1996/ 1997 Zwischen November 1996 und Februar 1997, nachdem die Wahlergebnisse in mehreren serbischen Städten annulliert wurden, gingen die Studenten und Bürger Belgrads auf die Straßen. Durch ihre fast ununterbrochenen Spaziergänge, Spiele und Straßenfeste demonstrierten sie der herrschenden Clique ihre Einheit und Macht. Als sie durch die Straßen zogen, brach der Bann der Furcht (Petronijevi´c 1998: 269). Die Proteste machten auch an- <?page no="284"?> 285 dere Gefühle sichtbar: die Sehnsucht nach Freiheit, die Verachtung für Miloševi´c und die herrschende korrupte, machtliebende Clique sowie die Angst vor der Repression. Ihr Mut und ihre Sehnsucht nach Freiheit drückten die Protestierenden vor allem mit ihren Spaziergängen aus. Ein regelrechter Kampf um die Kontrolle der Stadt entwickelte sich so zwischen den protestierenden Massen und der Polizei, wobei nicht nur das Zentrum, sondern viele andere Orte zum Gegenstand der Auseinandersetzung wurden. Es handelte sich um mehrere Straßen und einen Platz, auf denen sich die Menschenmassen ununterbrochen bewegten, wobei sie mehrmals die Richtung änderten. Insgesamt formte die Route einen Kreis. Innerhalb dieses Kreises, den die Protestierenden die »demokratische Topographie« Belgrads nannten, war das eroberte Gebiet zuerst begrenzt. Manchmal verhinderte der Polizeikordon die Spaziergänge, aber sobald dieser weg war, fing man wieder an, sich zu bewegen. Die Protestierenden versuchten, nach und nach die Route zu verlängern, dabei die Polizeikräfte zu umgehen, die Spazierroute auch spielerisch zu ändern. Die Polizei begann erst von Februar an, Menschenmassen ohne jeden Unterschied barbarisch zu verprügeln, sie mit Wasserwerfern und anderen Gewaltmitteln zum Stadtzentrum zu drängen, so dass die Menschen in Panik nach Hause liefen (Petronijevi´c 1998: 282). Trotz der Gewalt, die den Menschenmassen Schrecken einjagte und mehrmals Panikzustände auslöste, machten die Protestierenden am nächsten Tag weiter. Die Demonstranten verließen sich auf die Wirkung von Parodie, Humor, Groteske, Krach und Lachen. Mit diesen Mitteln verlangten sie, dass das Wahlgesetz respektiert wird. Damit konnten sie auch ihre Gefühle ausdrücken. Ihre Verachtung für die herrschende Miloševi´c-Clique nahm mehrere Ausdrucksformen an. Auf den Bürger- und Studentenrouten befanden sich sowohl viele symbolische historische Gebäude als auch der Sitz von Macht und Massenmedien. Das Parlament, das Rathaus und das Fernsehen wurden regelmäßig mit roter Farbe und Eiern beworfen (Petronijevi´c 1998: 272, 273, <?page no="285"?> 286 275 - 276). Da im Serbischen das Wort »Eier« mit dem Wort »Dieb« im Serbischen verwandt ist, hatte die Aktion eine klare Bedeutung. Man hielt sich auch die Nase zu oder warf Toilettenpapier auf die Gebäude, in denen das serbische Fernsehen, die Zeitung Politika und die offizielle Zeitungsagentur ihren Sitz haben. Eines Tages, ganz unerwartet, legten die Studenten Blumen vor den Gerechtigkeitspalast sowie Kondome und einige Gesetzbücher vor den Höchsten Gerichtshof. Durch den Lärm drückten sie ihre Verachtung gegenüber den Herrschenden aus, und zugleich machte er Mut. Pünktlich um 19: 30 Uhr fing man an, Krach zu schlagen - egal womit -, um ihre Verachtung und Überdrüssigkeit gegenüber Lügen in offiziellen Nachrichten zu demonstrieren. Krachmacher befanden sich auch an Fenstern und auf Balkonen. Die Krachaktion endete immer pünktlich um 21: 00 Uhr. Zwischen 100.000 und 130.000 Protestierende nahmen an dieser Aktion an 30 verschiedenen Orten teil. Sehr beliebt war auch Pfeifen - besonders wenn der Name des gehassten und verachteten Präsidenten fiel. Der Rekord war ein 22 Minuten langes Massenpfeifen. Oft schrie man auch »Diebe, Diebe« oder »Rote Gang«, um sich Mut zu machen. Karnevalistische Proteststrategien machen die Angst vor der Repression sehr deutlich erkennbar. In einer bestimmten Straße konnte man Schach oder Fußball spielen, Straßenlesungen, Ballett-Gruppen oder Musikkonzerte besuchen. Das Straßenfestival legitimierte die Menschenmassen. Dasselbe galt für das sehr populäre »Gassigehen« - auch wenn es sich um Papageien, Hamster, Aquarienfische, Katzen, Vögel in Käfigen oder ein bestimmtes Pferd handelte. Historisch gesehen waren die »Aktionen«, wie die Protestierenden ihre Tätigkeit nannten, eher untypisch (aber s. dazu Misztal 1992 über die polnische Orange Alternative vor 1989). Zugleich zeigten sie, dass die Zeit der Furcht und Unterwerfung vorbei war, dass der diktatorische Präsident Miloševi´c, seine Clique und die Staatsgewalt nicht allmächtig sind. Immer wieder mussten sie ihre Routen einschränken, aber nach drei Monaten war die Wanderroute und damit der »Freiheitsraum« viel größer <?page no="286"?> 287 als am Anfang. Mit dem drei Monaten währenden heroischen Spaziergang haben die protestierenden Massen erreicht, dass die Regierung zum ersten Mal seit 50 Jahren eine legale Opposition duldete. Der »Belgrader Karneval« war der Anfang vom Ende des Diktators Slobodan Miloševi´c. Die Tragödie am Tiananmen Platz Yang (2000) zeigt, dass sich die Gefühle bei einem Massenprotest sequentiell entwickeln. Sie sind von der Protestdynamik abhängig und zugleich beeinflussen sie den weiteren Verlauf des Protestes. Yang argumentiert, dass eine Protestbewegung für das Außergewöhnliche steht. Ein gelungener Protest stellt eine großartige emotionale Leistung dar. Sie bietet eine Chance, Aufregung und extreme Emotionen zu erleben. Die Protestteilnehmer nehmen diese Chance wahr. Sie gestalten zugleich diese Chance für sich selbst und die anderen mit. Yang zeigt, dass die Gleichgültigkeit des Gegners beschämend ist und zu Wut führt, während die Unterstützung der Öffentlichkeit Freude hervorruft. Hannah Arendt und viele andere Theoretiker, die die Massen analysierten, argumentieren, dass diese Massen die bereits atomisierten Individuen völlig verschlucken. Es bleibt nur noch die kollektive Identität übrig. Yang beweist, dass dies nicht der Fall ist. Die Massen, die er beschreibt, setzen sich sowohl aus Individuen als auch aus Organisationen zusammen. Manche ziehen sich nach bestimmten Protestphasen zurück, andere machen weiter. Yang zeigt auch, dass ein monatelang dauernder Protest, den harten Kern der Teilnehmer immer größer werden lässt. Nur dieser Kern identifiziert sich immer mehr mit dem Protest - bis zu dem Grad, dass sie sich bereit erklären, für ihre Protestziele zu sterben. Genauso wie Scott und Bachtin spricht Yang eine kollektive Mobilisierung für Freiheit an. Nur handelt es sich bei Yang nicht um einen Karneval oder eine Groteske, sondern um eine Tragödie, in der die Helden eine Niederlage erleben, weil sie an ihren Idealen und Gefühlen konsequent festhalten. Die studentischen Proteste in China 1989 illustrieren diesen Ansatz. <?page no="287"?> 288 Als Hu Yaoban 1986 seine Position als Generalsekretär der chinesischen kommunistischen Partei aufgrund seiner Sympathie für die studentische Bewegung verlor und drei Jahre später starb, durchlebten Studenten Trauer und Wut, die zu ersten Protesten in Form beschriebener Wandplakate gegen die Parteiführung führten (Yang 2000: 599 - 600). Drei Tage später versuchte eine Gruppe Studenten, ihre Forderungen bei der Regierung einzureichen. Als sie ignoriert wurden, reagierten sie mit Sitzstreiks. Die Studenten wurden mit Polizeibrutalität konfrontiert, die nicht nur Schock und Wut in ihnen auslösten, sondern auch zu Verletzungen führten. In vielen Protestgedichten wurden Wut und furchtloser Heroismus ausgedrückt. Die Plakate riefen zum Protest auf und verlangten, dass die Verantwortlichen für diese Brutalität identifiziert und für das Blutvergießen bestraft werden. Der erste Unterrichtsboykott, die ersten Protestorganisationen an der Beijing-Universität und der Volks-Universität und die ersten 200.000 Demonstranten und Zuschauer, die sich auf dem Tiananmen Platz versammelten, um auf die Begräbniszeremonie von Hu zu warten, prägten den nächsten Tag. Nach der Begräbniszeremonie früh am folgenden Tag blieben die Studenten vor der Great Hall of the People stehen und verlangten den Dialog mit der Regierungsführung. Drei Studenten brachen durch die Polizeilinie, stiegen die Treppe hoch und knieten vor ungefähr zehn Regierungsvertretern nieder um ihre Petition, so wie zur Zeit des Kaisers, zu präsentieren. Die Regierungsvertreter ignorierten die Studenten völlig. Diese verharrten vielleicht 20, vielleicht 40 Minuten lang auf den Knien. Keine Reaktion. Sie fühlten sich gedemütigt und empört und schluchzten laut. Mit dem Niederknien hatten die Studenten die Regierungsvertreter beschämt, kritisiert und herausgefordert. Zugleich aber hatten sie über sich selbst und andere Studenten mit dieser traditionalen Geste des Dieners Scham gebracht. Die Passivität der Regierungsvertreter wurde als Unverschämtheit und Gleichgültigkeit gedeutet (Yang 2000: 601). Sie empörte die Studenten und machte sie wütend. Diese Emotionen untermauerten ihre Entschlossenheit, weiterzumachen. <?page no="288"?> 289 Weitere studentische Protestinitiativen und Organisationsbestrebungen markierten die nächsten drei Tage. Am Abend des dritten Tages konnte jeder aus dem Radio erfahren, dass die studentische Bewegung nichts mehr als ein Tumult, die Demonstrationen und Organisationen illegal waren und sofortige Regierungsaktionen zu erwarten seien. Viele Studenten waren erschrocken, aber gleichzeitig verspürten sie Wut. Sie unterhielten sich aufgeregt miteinander und begannen zu Demonstrationen aufzurufen. Die kurz davor gegründete Federation of All Beijing College Student Unions, die die ganze Stadt umfasste, rief zu einer Versammlung auf (Yang 2000: 602). Aber es herrschte große Uneinigkeit darüber, ob und wie die Proteste fortgesetzt werden sollten. Manche Studenten entschieden sich gegen eine weitere Teilnahme. Andere Studenten waren entrüstet darüber, dass die Regierung ihren Protest als Tumult bezeichnete. Für sie war es geradezu beschämend, sich ausgerechnet dann zurückzuziehen, wenn die Regierung sie mit Repression bedrohte. Die historische Demonstration am 27. April auf dem Tiananmen Platz stellte den Höhepunkt des Protests dar (Yang 2000: 602). Unter den sich früh versammelnden Studenten herrschten Furcht und Angst. Niemand wusste, was passieren würde. Man erwartete Repression. Viele hatten sich auf den Tod vorbereitet und ihr Testament verfasst. Am Abend, als bereits die Massen auf dem Weg nach Hause waren, kippten die Emotionen. Erleichterung, Freude, Aufregung hingen in der Luft. Man hörte Schreie, Lieder und sah viele Menschen, die Fahnen schwenkten. Die Furcht vor Repression war weg. Die Studenten spürten ihre kollektive Macht. Die nächsten zwei Wochen waren für die Protestteilnehmer von Langeweile geprägt (Yang 2000: 602 - 603). Die studentische Bewegung verlor ihre Intensität. Eine friedliche Demonstration endete ohne Resultate. Es drohte eine Rückkehr zur Alltagsroutine. Die Entscheidung, die Regierung mit einem Hungerstreik zum Dialog zu zwingen, wurde getroffen, so Yang, aus purer Langeweile. Als der Hungerstreik begann, las man eine Deklaration vor, in der es hieß, dass man auf ein gewaltiges, nachhaltiges <?page no="289"?> 290 Echo hoffte und bereit war, für Demokratie und Freiheit zu sterben (Yang 2000: 606). Heroismus und Opferbereitschaft kündigten den Hungerstreik an. Der Hungerstreik heizte die Emotionen auf. Er setzte die Opfer der Studenten klar gegen die Gleichgültigkeit der Regierung. Mit diesem neuen Fokus fühlte, reflektierte und kommunizierte man erneut sehr intensiv. Sowohl Studenten als auch ihre Sympathisanten waren stolz, dass sie immer noch tiefe Sympathie und Mitgefühl empfinden konnten. Sie nahmen diese Chance wahr, ein aufgeregtes, außergewöhnliches, tief zufriedenstellendes öffentliches Leben zu leben. Sie erzählten einander traurige Geschichten über die hungernden Studenten und plädierten gegenüber der Regierung dafür, Mitgefühl zu zeigen - die Nachrichten im Fernsehen vermittelten die heroischen Zeugenappelle. Der Streik dauerte vom 13. Mai bis zum 19. Mai. Zwischen 16. und 18. Mai kamen jeden Tag 1.000.000 Menschen - Studenten und sich solidarisierende Stadtbewohner, Bauern oder Eltern - zum Tiananmen Platz. Am fünften Hungerstreiktag spürten alle Stadtbewohner eine intensive Kameradschaft mit den Studenten und untereinander. Sogar die Stadtdiebe streikten aus Solidarität! Dann kamen Gerüchte auf, dass eine gewaltsame Zerschlagung des Streiks zu erwarten war. Furcht und Angst verbreiteten sich erneut. Man diskutierte stundenlang, und die Organisatoren waren eigentlich für einen Abbruch. Um Mitternacht am 19. Mai wurde der Ausnahmezustand angekündigt (Yang 2000: 604 - 605). Für Beijing - historisch friedlich sogar zu Kriegszeiten - war dies ein Schock. Erschrecken, Scham und Wut, Tränen und Schreie folgten. Die arrogante Stimme des Staatsratspremiers erregte unerhörte Empörung. Innerhalb von wenigen Minuten entschieden 300.000 Studenten, sich sofort zum Tiananmen Platz zu begeben, um den Protest weiterzuführen. Während der Nacht schlug die Wut um in tiefe Solidarität. Früh am nächsten Tag arrangierte man sich in Eckformationen, aber es verbreitete sich die Einsicht zur Gewaltfreiheit. Helikopter flogen über die Massen und verbreiteten Schrecken. Dann verschwanden sie <?page no="290"?> 291 wieder. Gleichzeitig blockierten die solidarischen Stadtbewohner die Zugänge zur Stadt, um den Einmarsch der Soldaten zu verhindern. Die studentischen Massen fühlten mal Hoffnung, mal Schrecken. An diesem Tag waren 200.000 beteiligt, drei Tage später waren es schon 1.000.000 Menschen, die die erfolgreiche Eingangsblockade feiern wollten. Aber nur sechs Tage später waren plötzlich nur noch 10.000 Protestierende anwesend. In der letzten, tragischen Nacht vom 3. Juni befanden immerhin noch 3.000 bis 5.000 Demonstranten einen Rückzug für unmöglich, auch dann, als sie dem Tod ins Antlitz blicken mussten. Yang argumentiert, dass sie eine große Sehnsucht nach dem Authentischen und Heroischen verspürten (Yang 2000: 605 - 606). Er meint, dass ihre den Tod herausfordernde Leidenschaft nur angesichts ihrer langfristigen Beteiligung an den Protesten, die sich durch eine kontinuierliche Steigerung des emotionalen Commitments charakterisierte, nachvollziehbar ist. Jede Geste der Regierung, die ihre Arroganz und Gleichgültigkeit bewies, führte zu einer immer tieferen Identifizierung mit der studentischen Bewegung und zu einer gleichermaßen ernsthaften Verpflichtung, die Ehre der Studenten bis zum Tode zu verteidigen. Angesichts des eigenen Commitments und der mehrmaligen öffentlichen Versprechen konnten sie nicht anders agieren. Es hätte unerhörte, unerträgliche Scham bedeutet, die Beteuerung der eigenen Todesbereitschaft zu missachten. Fundamentalismus Um die Entstehung von Fundamentalismus zu erklären, beruft sich Meyer (1999) auf den Soziologen Peter Berger und seine, der Frankfurter Schule ähnlichen, These, dass viele Menschen mit der Wahlfreiheit nur schwer umzugehen verstehen und nach ontologischer Sicherheit suchen. Sie finden die Offenheit der modernen Kultur bedrohlich und beängstigend. Im Fundamentalismus finden sie eine Antwort, eine »Immunisierung« gegen die moderne Kultur mit ihren vielen verunsichernden und verwirrenden Weltanschauungs- und Lebensstilangeboten. <?page no="291"?> 292 Derselbe theoretische Rahmen gilt für den Norden wie auch für den Süden: »Die Offenheit der modernen Kultur mit ihrer Chance, für viele unterschiedliche Lebensweisheiten und Ethiken, die gleichermaßen Legitimität beanspruchen können, ... [führt] prinzipiell ein Doppelproblem herbei, da die Offenheit außer als Chance auch als Bedrohung und als Quelle von Angst empfunden werden kann. Die moderne Kultur kann und will nämlich keine besondere Lebensweise mehr schützen... Diese Verunsicherung kann in Angst umschlagen und in den Willen, die eigene Lebensweise und Weltanschauung gegen Infragestellung durch Kritik und Alternativen künstlich zu immunisieren ...« (Meyer 1999: 79) Der Fundamentalismus lässt sich am besten als die Kehrseite der Moderne und als ein Protest gegen die Moderne verstehen. Aus Meyers Sicht wollen »[f ]undamentalistische Bewegungen ... fast immer die Ausschaltung oder strikte Unterordnung aller religiösen bzw. weltanschaulichen Alternativen in ihrem eigenen Wirkungsbereich, damit ihr eigener Herrschafts- und Überlegenheitsanspruch gesichert ist ... die Fundamentalisten [stehen] prinzipiell mit Rechtsstaat, Pluralismus und Demokratie auf Kriegsfuß ... Pluralismus, Demokratie und die absolute Geltung der Menschenrechte erscheinen den Fundamentalisten ... eher als Hindernisse auf dem Weg zu Wahrheit und Heil ...« (Meyer 1999: 77) Im weiteren Text wird klar, dass die Expertenanalysen eigentlich eine andere Erklärung anbieten - eine Erklärung, die von Meyer leider nur als Ergänzung und nicht als Alternative zu seinem theoretischen Rahmen wahrgenommen wird. Die Experten zeigen nämlich, dass die moderne Kultur eben nicht alle Lebensethiken gleich betrachtet. Es ist nicht der metaphysische Leerraum, son- <?page no="292"?> 293 dern die Marginalisierung und die Ausgrenzung, die Angst und Schmerz verursachen. Die soziologischen Untersuchungen über den islamischen Fundamentalismus im Iran und den protestantischen Fundamentalismus in den USA, auf die sich Meyer beruft, belegen, dass die traditionalen sozialen Milieus bzw. sozialen Schichten mit der Gefahr der eigenen Auflösung, der niedrigen gesellschaftlichen Wertschätzung und der sozialen Entwertung durch die Moderne systematisch konfrontiert werden (Meyer 1999: 79). Es ist also nicht die diffuse Angst vor der Freiheit, sondern die ganz konkreten Alltagserfahrungen von Leiden und Kränkungen, die hinter dem Fundamentalismus stecken: »Es sind in der Regel vor allem Teile der Mittelschichten, die in den Prozessen der ... Modernisierung ... solche Kränkungen ihrer sozial-kulturellen Identität und Wertschätzung erleiden und in fundamentalistischen Immunisierungs- und Einflussstrategien ein wirkungsvolles Gegenmittel zu finden hoffen.« (Meyer 1999: 79) Auf der folgenden Seite heißt es, dass die fundamentalistischen Führer Mobilisierungserfolge sowohl unter den von der Modernisierung Ausgeschlossenen als auch von der Modernisierung Verunsicherten erreichen, unter den Menschen also, »die sich in der Offenheit der modernen Kultur nicht einrichten können - weil ihnen die Chance verweigert wird - oder wollen ...« (Meyer 1999: 80; kursiv von H.F.) Der große Unterschied zwischen Diskriminierung und eigener Wahl wird aber nicht weiter kommentiert. Aus einer emotionssoziologischen Perspektive auf den Fundamentalismus ist es Meyers Analyse zu verdanken, dass Emotionen wie Angst, Verunsicherung, Kränkungsschmerzen usw. als Mobilisierungsursachen betont werden. Wenn wir aber die Analyse des Fundamentalismus dabei belassen, übertreiben wir die Bedeutung von Emotionen und sprechen diesen Bewegungen jegliche Rationalität ab. Und da wir selbst vor allem Rationalität respektieren, entwerten wir dadurch diese Bewegungen und ihre Mitglieder. Aus diesem Grund möchte ich einen Fall der funda- <?page no="293"?> 294 mentalistischen Massenmobilisierung in der üblichen rationalistischen Sprache kurz analysieren. Diese rationalistische Analyse hilft allerdings, die Wut der Massen zu verstehen. In dem Beispiel geht es um mangelnde soziale Anerkennung und Würde. Ein Blick auf die Rushdie-Affäre in England In September 1988 wurde Salman Rushdies Buch Die Satanischen Verse veröffentlicht. Viele Muslime waren darüber empört, dass Rushdie den Propheten Muhammed und seine Familie respektlos schilderte.** Die Muslime schrieben an den Verlag des Buches, Viking/ Penguin zahlreiche Beschwerdebriefe und riefen an, um eine Zurücknahme des Buches zu erreichen. Bald wurde das Buch in Indien, Bangladesch, Südafrika, Sudan, Kenia und Venezuela verboten. Vor allem in England kam es zu Anti-Rushdie-Demonstrationen, die vorwiegend friedlich verliefen. Im Oktober wurde dem Verlag eine Petition mit Tausenden von Unterschriften für die Rücknahme des Buches überreicht. Briefe und Petitionen an Politiker, Parlamentsabgeordnete und an die UN samt Demonstrationen folgten. In November 1988 ersuchte der Präsident des Council of Mosques die Premierministerin Margaret Thatcher um ein Verbot des Buches. Alles ohne Erfolg. Im Dezember 1988 versammelten sich 8.000 Muslime in der bisher größten Demonstration religiöser Minderheiten in Bolton zu einem Protestzug. Die Reaktion der Politiker war sehr begrenzt. Die Presse erwähnte kaum die muslimischen Proteste. Die Muslime fühlten sich in ihrer Empörung völlig isoliert. Im Januar 1989 verbrannten einige Demonstranten ein Exemplar von Rushdis Buch in Bradford, West Yorkshire. Bradford hat nach Birmingham die größte Konzentration von Muslimen und wird oft das britische Islamabad oder City of Islam genannt. Die Bradforder und Birminghamer Muslime, die vorwiegend aus Pakistan stammen und der Barelvi-Sekte angehören, sind für ihre religiöse Ehrfurcht und traditionelle Frömmigkeit bekannt. Sie erleben die schlimmste Alltagsdiskriminierung, darunter Pakibashing, und gehören zu den sozial am meisten benachteiligten <?page no="294"?> 295 Minderheitsgruppen Englands. Nach Umfragen werden die Einwanderer aus Pakistan am stärksten abgelehnt. Die Bradforder Organisationen und Aktivisten streben am intensivsten nach der ihnen verweigerten offiziellen Anerkennung. Die Muslime aus Bradford und Birmingham spielten in der Rushdi-Affäre eine tragende Rolle im Unterschied zu den 60.000 Muslimen aus Bangladesh, Indien, der Türkei, Zypern und der Arabischen Welt. Eine Deutung der Situation ist, dass sie mit der symbolischen Buchverbrennung die Aufmerksamkeit der Presse auf sich ziehen wollten, da sie mit friedlichen Methoden keine Erfolge erreichen konnten. Ein Monat nach der Buchverbrennung verkündete das iranische Staatsoberhaupt Ayatolla Khomeini die fatwa gegen Rushdie und sein Buch. Eine iranische Wohlfahrtsorganisation versprach eine Million Dollar für seine Ermordung. Die drei Ereignisse wurden schnell miteinander verknüpft. In der Öffentlichkeit - auch der europäischen - wurden alle Muslime Englands mit Fundamentalisten und Nazis gleichgesetzt. Sie sahen sich mit allen politischen Parteien, der Presse, den Intellektuellen Englands, den Rassisten und dem Prinzip der Meinungsfreiheit konfrontiert. Im selben Jahr versuchten die muslimischen Organisationen, sich auf ein Blasphemie-Gesetz, welches die anglikanische Religion schützt, zu berufen. Nach diesem Gesetz ist die Diffamierung des christlichen Glaubens strafbar. Die British Muslim Action Front beantragte eine Ausweitung dieses Gesetzes auf den Islam, aber ihre Argumentation wurde von dem High Court in London 1989 und vom Oberhaus des britischen Parlaments 1990 zurückgewiesen. 1991 scheiterte ein weiterer Versuch. Aus der Sicht des Gesetzgebers dürfe das Gesetz nicht auf andere Religionen ausgedehnt werden. Auch wenn dies nicht die Intention des Gesetzgebers war, fühlten sich viele Muslime missachtet, diskriminiert und abgewertet. Die Rushdie-Affäre bewirkte eine klare Ausgrenzung der Muslime durch die britische Gesellschaft. Vermutlich verstärkte sie die fundamentalistischen Tendenzen. <?page no="295"?> 296 Massen und Emotionen: Schlussfolgerung Abschließend lässt sich sagen, dass verschiedene Ansätze den Emotionen der Massen einen unterschiedlichen Stellenwert beimessen und an sie auch unterschiedlich herangehen. Bei Hannah Arendt erklären die Emotionen des Mobs bzw. der Menschenmassen, warum sie mobilisierbar sind und sich für bestimmte Zwecke organisieren lassen. Bei James Scott erklären die unterdrückten Emotionen der Untergebenen, warum sich hidden transcripts und Volkskultur herrschaftskritisch und emotionsreich gestalten. Sie erklären auch, warum es plötzlich zur explosionsartigen, offenen Rebellionen kommt, die die unterdrückten Emotionen zum Vorschein bringen. Wie uns Petronijevi´c anhand der Belgrader Proteste 1996/ 1997 zeigt, gehören zu diesen Emotionen sowohl Angst vor dem Herrschenden und seinem Repressionsapparat als auch verzweifelte Sehnsucht nach Freiheit und tiefste Verachtung für den Herrschenden. Bei Guobin Yang spielen die Emotionen mehrere Rollen. Das Versprechen, dass man beim Massenprotest extreme Emotionen erleben sowie der Langeweile des Alltags und der Abstumpfung entfliehen kann, wirkt mobilisierend. Es hilft auch neue Proteststrategien, die die Emotionen intensivieren, auszuwählen. Die Emotionen, die unter den Protestierenden einerseits und zwischen den Protestierenden und dem Gegner andererseits entstehen, tragen, je nach ihrem Inhalt, sowohl zur Demobilisierung als auch zum weiteren, vertieften Engagement bei. Manche Emotionen müssen zusammen mit anderen Emotionen betrachtet werden, bevor sich feststellen lässt, ob sie mobilisierend oder demobilisierend wirken. So führt bloße Angst vor Repression zur Demobilisierung. Sie verhindert aber die Mobilisierung nicht, wenn sie mit Frustration und Wut gegenüber dem Gegner verbunden ist. Wie Yang zeigt, werden Frustration und Wut individuell empfunden, aber kollektiv zu Extremen gebracht. Mit Hilfe von zusätzlichen Faktoren, wie Commitment und Scham, wird die Mobilisierung aufrecht erhalten. <?page no="296"?> 297 Das Beispiel der muslimischen Mobilisierung illustriert, dass institutionelle Diskriminierung, Marginalisierung und Verachtung tiefe emotionale Wunden verursachen, die als Grund für Eigenmobilisierung verstanden werden können. Gefühle wie Angst, Leiden, gekränktes Selbstwertgefühl, die sich unter Umständen mit Verachtung oder Hass gegen den Verursacher dieser Kränkungen vermischen, offenbaren sich explosionsartig in Massenprotesten. Bei offener Revolte gegen die etablierten Herrschaftsstrukturen handelt es sich nicht nur um eine jahrelang geduldete Missachtung und gekränkte Gefühle. Erst wenn politisch-demokratische Institutionen ihre Unnachgiebigkeit und Voreingenommenheit demonstrieren, wird Wut empfunden und werden Gewalt und Straßenproteste als Strategien gewählt. Ein kurzer Exkurs zu Emotionen in Massenmedien Dieses Kapitel möchte ich mit einem höchst aktuellen Thema abschließen. Es geht um den massenmedialen und politischen Umgang mit nationalen Gewaltopfern. Ich werde zwei kontrastierende Fälle vorstellen, um zu zeigen, wie man diesen Umgang anhand von Unterschieden in den manifestierten Emotionen analysieren kann. Stjepan G. Meštrovi ć (1996, 1997) hat den massenmedialen und politischen Umgang mit dem Balkan-Konflikt mit Hilfe von Postemotionalismus erklärt. Sein Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass viele respektierte Institutionen - US State Department, the CIA, the Helsinki Watch, the Red Cross, the International Court of Justice in the Hague, the International War Crimes Tribunal in the Hague usw. - und die Massenmedien den Serben die Schuld für den Völkermord an Kroaten und bosnischen Muslimen, der etwa 1991 begann, gaben (Meštrovi ć 1996: 4,10,7). Eine UNO- Untersuchung stellte 1995 außerdem fest, dass die Serben eine systematische Politik des Völkermordes gegen Muslime führten, indem sie die muslimischen Frauen massenweise vergewaltigten. Trotzdem wurde den Serben Sympathie entgegengebracht. Die Politiker verhandelten mit Miloševi´c als ein gleichrangiges <?page no="297"?> 298 Staatsoberhaupt. Die europäischen Politiker und die Clinton- Regierung agierten, als ob Serben die Opfer wären und die Schuld für die Opfer und die Existenz des Konfliktes allen Seiten gleichermaßen zufiele (Meštrovi ć 1996: 6,19). Meštrovi ć erklärt dieses Phänomen mit Postemotionalismus. Seine Hauptthese ist, dass die modernen Massenmedien nicht nur ein inhaltliches, kognitives Chaos mit Hilfe eines Durcheinanders von Bildern und Fiktionen verursachen, sondern auch für ein emotionales Chaos sorgen. Die Massenmedien verkaufen und manipulieren Emotionen auf eine bestimmte Weise. Im Fall des Balkan-Konflikts war das Wichtigste, dass sie die längst vergessenen Emotionen aus der Geschichte hervorholten und sie an die gegenwärtigen Ereignisse hefteten (Meštrovi ć 1996: 11,5,13). So wie die Geschichte und die Gegenwart ineinander übergingen, so vermischten sich auch die vergangenen mit den gegenwärtigen Emotionen. In den Massenmedien, genauso wie unter den Politikern und den breiten Massen, hieß es demzufolge, dass nicht die Kroaten oder Moslems, sondern die Serben die eigentlichen Opfer waren, die breite Sympathie und Verständnis verdienten. Die Begründung fand man in: a) der Verfolgung und dem Terror, welche die Serben während des 2.Weltkrieges von der kroatischen faschistischen Organisation Ustascha erleiden mussten; b) den serbischen Verlusten beim Kampf gegen die Muslime 1389. Die Massenmedien und die Politiker zeigten auch Sympathie und Verständnis für die parallel erfolgte serbische Rechtfertigung von Massenmorden an Kroaten und bosnischen Muslimen - es hieß, dass die Serben sich vor der Wiederholung von einst erlebter Verfolgung und erlebtem Terror fürchteten. Der Hinweis auf die vergangene Furcht und die Furcht vor der Wiederkehr der vergangenen Furcht wurden von den westlichen Politikern als legitime Argumente akzeptiert. Eine zusätzliche Besonderheit wiesen die amerikanischen Massenmedien auf: So wie es in den USA üblich geworden ist, verglichen die dortigen Massenmedien die Opfer des Balkan-Konflikts mit den jüdischen Holocaust-Opfern. Da die Serben als Opfer galten, verdienten sie tiefste Sympathie. Gegen Kroaten und <?page no="298"?> 299 bosnische Muslime richteten sich dann die Empörung und der Zorn. Da in dieser Debatte dem ganzen kroatischen Volk die Verantwortung für die faschistischen Verbrechen aus der Zeit des 2.Weltkrieges zugeschrieben wurde, war man der Meinung, dass sein aktuelles Leiden unter den Serben gerechtfertigt war. Eine andere Argumentationslinie lautete: Sowohl Serben als auch Kroaten sind barbarische, gewalttätige Völker jenseits des zivilisierten Westens. Wenn sie einander umbringen, dann haben sie es nicht besser verdient. Es ist gut so, und uns geht das sowieso nichts an. Zwei Interpretationen verbinden Postemotionalismus mit der langsamen Reaktion der Europäer und der NATO auf den Balkan-Konflikt (vgl. Meštrovi ć 1996: 12). Die erste sieht Postemotionalismus als Erklärung für das ewige Zögern. Die zweite sieht Postemotionalismus als Resultat des Zögerns und des damit einhergehenden schlechten Gewissens. Die Ansicht, dass sich die eurozentrischen Politiker nicht engagieren wollten, bleibt, egal welche Interpretation man akzeptiert. Das Gegenteil - die spontane, eifrige Bereitschaft, tiefe Sympathie für eine Seite zu äußern und ihr schnell zu helfen - wird beim nächsten Fall deutlich. Nach dem Angriff auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington D.C. am 11. September 2001 wurden die Empörung, Trauer und Wut (auch wenn der amerikanische Präsident Bush »kalte Wut« empfahl) über die westlichen Massenmedien weltweit transportiert. Fünf Tage lang wiederholte man mit wenig Variation die Sätze und Gesten, die Trauer und Wut vermittelten. Die erste Reaktion war also völlig emotional. Die westeuropäischen Politiker stellten sich umgehend hinter die USA und versprachen sofort ihre volle politische Unterstützung. Sogar bevor Präsident Bush vom Krieg unserer Zivilisation gegen die Barbaren und Fanatiker sprach, noch bevor er den Gegner klar identifizierte, waren der englische Premierminister Blair und der deutsche Kanzler Schröder bereit, ihre Unterstützung zu zeigen und gegen die Gegner der USA sogar in den Krieg zu ziehen. <?page no="299"?> 300 In der sich erst am sechsten Tag entfaltenden Diskussion zu den terroristischen Anschlägen und zu der darauf folgenden USmilitärischen Mobilisierung durfte man allerdings nicht nach Ursachen des Anschlages in der Vergangenheit suchen. Die Teilnehmer an öffentlichen Debatten, die die USA als einen imperialistischen Staat oder als eine Supermacht darstellten, die ihre Interessen in der 3. und 4.Welt auf Kosten der einheimischen Bevölkerung durchsetzt, wurden sofort als Feinde der USA klassifiziert. Es klingt einem noch heute der Satz von Präsident Busch in den Ohren: »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.« Auch waren Kommentatoren unerwünscht, die fragten, warum Westeuropa keine Tränen für Opfer des Terrors außerhalb der USA vergossen hatte oder warum die amerikanische Tragödie so viel emotionaler als Völkermorde auf dem Balkan und in Afrika erlebt wurde. Man durfte auch kein Mitgefühl mit der Bevölkerung der 3. und 4. Welt zeigen. Nach den Attentaten galt die ganze amerikanische Bevölkerung als unvergleichbares Opfer. Sogar als die Bombardierung Afghanistans ebenfalls unschuldige Opfer verlangte - wie Frauen, Kinder und Ältere - durfte man kaum Solidarität mit diesen Opfern aussprechen. Vertreter der UNICEF in Deutschland berichteten, dass man fast keine Spenden für Kinder Afghanistans bekommen hatte. Im Gegensatz dazu spendeten die Deutschen enorme Summen für die amerikanischen Attentatopfer. Nach einer Weile bemühte man sich darum, die gegnerischen Terroristen von alliierten Muslimen und Arabern bzw. von muslimischen und arabischen Mitbürger zu unterscheiden, aber die Trennungslinien fehlte es an Schärfe, da Busch sowohl vom »Krieg gegen Terrorismus« als auch vom »Heiligen Krieg« sprach. Gegen diese unklaren Feinde - sowohl die Terroristen als auch die Muslime - richtete sich dann mit voller Kraft die westliche, jüdisch-christliche Wut und Empörung. Anders als im Fall des Balkan-Konfliktes machte sich der Postemotionalismus nach den Anschlägen vom 11. September 2001 kaum bemerkbar. Im Gegenteil: die Versuche sich auf die Vergangenheit und vergangene Emotionen zu berufen, um die An- <?page no="300"?> 301 schläge zu verstehen und die Täter als die Opfer einzurahmen, wurden kategorisch unterbunden, obwohl es sich nicht verneinen lässt, dass manche Fernsehberichte über die Person Ossama bin Laden, seine persönliche Empörung über die Rolle der USA in Saudi-Arabien, im Sudan und anderen muslimischen Staaten beleuchteten und seine terroristische Aktionen mit dieser Empörung erklärten. Aber auch in solchen Fällen porträtierte man bin Laden nicht als unschuldiges Opfer, wie es bei Miloševi´c der Fall war. Ein anderer Kontrast bestand darin, dass die Schuldigen klar von den Opfern abgegrenzt wurden. Die Bereitschaft Englands und Deutschlands, sich auf die amerikanische Seite zu stellen, wurde ohne Zögern deklariert. Der Eurozentrismus, der im Fall des Balkan-Konfliktes europäisches Engagement lange verhinderte, wurde in diesem Fall vergessen. Die Zugehörigkeit zur westlichen Zivilisation nahm Oberhand. Man wollte die USA sofort militärisch unterstützen. Anmerkungen * Ich möchte Wolfgang Fach für seine Ideen und seine konstruktive Kritik danken. Wie in solchen Fällen oft üblich ist, konnte der Kritisierte dem Anspruch des Kritikers nicht gerecht werden. ** Meine Schilderung der Rushdi-Affäre verdanke ich Alexandra Frosch (1999: 66-70), die sich auf Texte von Yunas Samad, Tariq Modood und Koopmans/ Statham beruft, die bei uns nicht zugänglich sind. <?page no="301"?> 302 Literatur Arendt, H. 2001. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München. Piper Arendt, H. 1973. The Origins of Totalitarianism. New York. Harcourt Brace Jovanowich Aron, R. 1969. Democracy and Totalitarianism. New York. Frederick A. Praeger Bachtin, M. 1990. Literatur und Karneval. Frankfurt a.M. Fischer Taschenbuch Verlag Bourdieu, P. et.al. 1997. Das Elend der Welt: Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz. UVK Verlagsgesellschft Dentith, S. 1995. Bakhtinian Thought: An introductory reader. London. Routledge Dubet, F. und D. Lapeyronnie. 1994. Im Aus der Vorstädte: Der Zerfall der demokratischen Gesellschaft. Stuttgart. Klett-Cotta Feher, F. and A. Heller. 1987. Eastern Left, Western Left. Totalitarianism, Freedom and Democracy. Cambridge. Polity Press Flam, H. 1998. Mosaic of Fear: Poland and Germany before 1989. Boulder. East European Monographs. Columbia University Press Flam, H. 1999. »Soziologie der Emotionen heute« in Masse-Macht- Emotionen: Zu einer Politischen Soziologie der Emotionen. Hrsg. von A. Klein und F. Nullmeier. Opladen/ Wiesbaden. Westdeutscher Verlag, S.179 - 199 Flam, H. 2000. The Emotional ›Man‹ and the Problem of Collective Action. Frankfurt a.M. Peer Lang Friedrich, C.J. and Z.K. Brzezinski. 1965. Totalitarian Dictatorship and Autocracy. Cambridge. Mass. 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Zum ›Glanz des Glücks‹ deutscher und europäischer Einigungen« in Staat und Glück: Politische Dimensionen der Wohlfahrt. Hrsg. von A. Bellebaum, H. Braun und E. Groß. Opladen/ Wiesbaden. Westdeutscher Verlag, S.134 - 156 Petronijevi ´c , E. 1998. »Streets of Protest: Space, Action and Actors of Protest 96/ 97 in Belgrade« Polish Sociological Review 3,123: 267-286 Prisching, M. 1998. »Glücksverpflichtungen des Staates« in Staat und Glück: Politische Dimensionen der Wohlfahrt. Hrsg. von A. Bellebaum, H. Braun und E. Groß. Opladen/ Wiesbaden. Westdeutscher Verlag, S. 16 - 52 Röhler, H. 1996. »Amtliche Sicht auf Klientelbetroffenheit - Obdachlose in der Wahrnehmung der Leipziger Stadtverwaltung« Dimplomarbeit. Institut für Soziologie. Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig Sassen, S. 1996. Migranten, Siedler, Flüchtlinge: Von der Massenauswanderung zur Festung Europa. Frankfurt a.M. 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Auf die eine oder andere Weise spielen Emotionen eine wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung. Wenn man die Manager aus einer breiteren soziologischen Perspektive betrachtet, lassen sie sich als diejenigen verstehen, die die (Gefühls-)Arbeit von anderen kontrollieren - sowohl die der Frauen als auch die von weniger mächtigen Männern. Letztere sind dafür zuständig, die Gefühle der Kundschaft, der Patienten, der Passagiere oder die des Publikums zu managen. Wie soziologische Untersuchungen zeigen, sind die Manager oft nicht in der Lage, viele intensive Gefühle zu bewältigen, obwohl dies von ihnen verlangt wird, damit sie ihre Organisationsrollen richtig spielen und ihre Organisationen aufrecht erhalten können. Manager in Wirtschaftsunternehmen werden mühsam diesen Rollen gerecht, ihren Gefühlen der Furcht, Angst und Desillusion zum Trotz. Von Versagensängsten geplagt, gehen sie oft keine Risiken bei ihren Entscheidungen ein. Stattdessen folgen sie der Routine und führen neue bürokratische Regeln ein. Ihre Gefühle veranlassen sie, die bürokratischen Strukturen zu manipulieren und zu ändern. Manchmal schockieren die Manager andere damit, dass sie außer Stande sind, weiterzumachen. Noch schlimmer: manche verfallen in die Rolle des öffentlichen Unternehmenskritikers. Ganz anders als erwartet, findet man nicht unter den Mana- <?page no="305"?> 306 gern im Privatsektor, sondern eher unter den Spitzenbeamten im öffentlichen Sektor den ansteckenden Enthusiasmus, der notwendig ist, um andere mit sich zu reißen und Reformen durchzuführen. Zugleich aber zeigt eine Untersuchung, dass Reformen im staatlichen Sektor sowohl Enthusiasmus als auch Furcht im mittleren Management auslösen. Von den Angestellten erwartet das Management, dass sie der Kundschaft und den Chefs gegenüber positive Emotionen ausstrahlen. Ihre Wut, Erniedrigungsgefühle und Angst sollen sie hinunterschlucken. Aus Angst um ihre Jobs oder aus Furcht vor schlechter Behandlung durch den Chef erfüllen die Angestellten diese Erwartungen. Die empirischen Untersuchungen zeigen aber auch, dass es ihnen oft gelingt, der Überwachung zu entkommen und teilweise dem Zwang der Organisationsrollen zu entfliehen. Einem unangenehmen Kunden wird dann eben nicht, ganz nach Vorschrift, emotional unterstützend und höflich begegnet, sondern nur kalt und sachlich bzw. ironisch oder zornig. Die Angestellten reagieren auf ihre Ausbeutung und auf ihren oft langweiligen, demütigenden oder unpersönlichen Arbeitsalltag mit Nostalgie und mal mildem, mal bissigem Humor. Eigene Heldentaten, Liebesphantasien und Büroromanzen tauchen auch oft in typischen Bürogeschichten auf. Sowohl die Nostalgie als auch der subversive Arbeitsplatzhumor drücken diese Unzufriedenheit aus. Beide adeln den Angestellten, stellen das Management in Frage und drehen die Organisationswerte des Augenblickes um. Die Nostalgie beschäftigt sich aber mit der Vergangenheit, und insofern mildert und zerstreut sie die Unzufriedenheit. Der subversive Arbeitsplatzhumor dagegen richtet sich auf die Gegenwart. Er hat eine bissige Schärfe und wird als Waffe - oft mit Erfolg - gegen das Management eingesetzt. Wenn die kapitalistische Arbeit als ausbeuterisch oder entwürdigend erlebt wird, steht für viele der Konsummarkt immer noch für Freiheit. Auch wenn die Arbeiter den Kampf um die Kontrolle über den Arbeitsprozess spätestens nach dem 2. Weltkrieg in den USA und Westeuropa verloren hatten, dürfen sie als Konsumen- <?page no="306"?> 307 ten Souveränität erleben und werden über Konsumgenuss in die Gesellschaft integriert. Wie die - allerdings immer noch zu wenigen - empirischen Untersuchungen aufdecken, ist das Geldausgeben aber eher schmerzhaft als vergnüglich, eher emotional als rational. Viele Verbraucher machen sich Sorgen um ihre Haushaltsökonomie, ob das Geld ausreichen wird, ob sie es richtig ausgeben. Als Konsumenten fühlen sie sich oft verunsichert und suchen deshalb Beratung und Berater auf, wobei Letztere der emotionellen Seite der Beratung nicht gewachsen sind. Obwohl die Konsumenten durch die vorherrschende Ideologie und Werbung ständig dazu aufgefordert werden, immer mehr auszugeben, sich ständig zu beschenken und sich etwas zu gönnen, pendeln die meisten zwischen Disziplin und Genuss, zwischen Sparsamkeit und ungezügeltem Ausgeben, wobei sie sogar beim gelegentlichen Genuss mit einem schlechten Gewissen rechnen müssen. In niedrigeren sozialen Schichten ist Genuss aus ökonomischen Gründen sowieso fast nie denkbar - für viele Frauen sind Einkäufe und die Auswahl seltener Leckereien ein Zeichen der Liebe. Unter den Yuppies - der kontrastierenden Gruppe - ist der ständige Kaufrausch zum Standard geworden. Die Yuppies zeigen eine extreme Form der ständigen Suche nach immer mehr und immer neuen Luxusgütern, die sehr charakteristisch für die amerikanische upper-middle class geworden ist. Sowohl die Yuppies als auch diese soziale Klasse verbinden Geld mit Freiheit, Glück und Sicherheit, stellen aber oft fest, dass sich dieses Versprechen nicht erfüllt. Die französische upper-middle class hingegen findet das Geld bedrohlich und beschämend, ein Objekt, das sie oft in Verlegenheit bringt und droht, ihre Beziehungen zum Kunden zu zerstören. Nur gezähmt - also als Ausgabe für Freunde, für Geselligkeit, Unterhaltung oder zum Gütererhalt - ist Geld akzeptabel. Statt rational oder souverän mit dem Geld umzugehen, lehnen die Konsumenten es völlig ab (Simmels Askese) oder behandeln es mit Habgier, Zynismus, Blasierheit usw. Manche stehen unter dem psychischen Zwang, ihr Geld und Bankkonto ständig zu kontrollieren, während andere, ganz im Gegenteil, keine Ah- <?page no="307"?> 308 nung haben (wollen), wie viel sie ausgeben. Überall in den USA und Europa ist die Schuldnergruppe zum riesigen Problem geworden. Manche Konsumenten haben Angst vor einem Betrug, was ihre Einkaufsfreude zerstört, während andere, die es eigentlich besser hätten wissen müssen, sich auf verdächtige Investitionen einlassen. Kaufsucht und Ladendiebstahl, die sich sowohl unter Frauen als auch unter Männern lawinenartig verbreiten, sind als emotionsgeladene Massenphänomene nicht mehr vom Konsum wegzudenken. Zusammen betrachtet, stellen sowohl der emotionale Umgang mit Geld als auch Kaufsucht und Ladendiebstähle nicht nur die Idee des Konsumparadieses in Frage, sondern auch die Annahme, dass der Konsument rational und souverän ist. Wenn das Individuum am Arbeitsplatz und auf dem Konsummarkt unterschiedlichste Gefühle erlebt, auslebt und zu managen versucht, wie ist es dann mit ihm als Bürger bestellt? Wie das letzte Kapitel zeigt, verbreitet der moderne Wohlfahrtsstaat mit seinem Anspruch auf »Glücksversorgung« nicht nur Glücksmomente unter seinen Bürgern, sondern auch Scham, Neid und Wut. Im Gegensatz dazu verursachte der totalitäre Staat mit Hilfe seines riesigen Überwachungs- und Verfolgungsapparates solche Gefühle wie Furcht und Angst. Dieser Apparat prägte repressiv das Bewusstsein der Bürger, jagte ihnen eine unvorstellbare Furcht um ihr Leben ein. Im Sowjetblock der post-stalinistischen Phase galten Angst und Furcht der Bürger nicht mehr ihren Überlebenschancen, sondern eher der Gestaltung der eigenen und familiären Lebenschancen. Schon in der stalinistischen Ära erhob der »sozialistische« Staat den Anspruch, die »Glücksversorgung« planmäßig liefern zu können. Stattdessen hat er bis zum Ende sowohl Angst, Demütigung und Sehnsucht nach Freiheit als auch die Unterdrückung eben dieser Gefühle veranlasst. Unterdrückte Gefühle dieser Art führen zu Massenmobilisierung gegen das Regime, das Glück verspricht, aber negative Gefühle liefert. Die Erfahrung der Demütigung, der Scham und Wut sowie die Tatsache, dass diese Gefühle nicht offiziell artikuliert werden dürfen, verleihen Protesten ihre enorme Emotiona- <?page no="308"?> 309 lität und ihr Gewaltpotential. Die Mobilisierung lässt sich dann erstens als der Moment verstehen, in dem sich das bisher Versteckte, aber Erlebte offenbart und das Regime dadurch kritisch beleuchtet wird. Die Mobilisierung lässt sich aber auch als der Versuch der mobilisierten Bürger verstehen, ihre bisher versteckten Gefühle und Identitäten auszuleben und sie teils neu und teils kollektiv weiter zu konstruieren. Für manche steigert sich graduell das Engagement und die Identifizierung mit dem Massenprotest, so dass sie sogar bereit sind, dafür extreme Opfer aufzubringen. Andere loten immer wieder die Anschluss- und Distanzierungsmöglichkeiten aus. Kontinuierlich fragen sie sich selbst, ob ihre Selbstdefinitionen und Gefühle ihnen erlauben, sich den protestierenden Menschenmassen anzuschließen oder ob es bereits für sie persönlich angebracht ist, sich davon lieber zu distanzieren. Neu bei dieser Sicht der protestierenden Menschenmassen ist, dass sie sowohl als emotional als auch als freiheitsstrebend verstanden werden. Dieses Verständnis der Massen steht im starken Kontrast zum üblichen, der NS-Zeit verpflichteten Bild, nach dem die Menschenmassen immer irrational, gewalttätig und freiheitsberaubend wirken. Die letzten Kapitel weisen darauf hin, dass die Bereiche der Arbeit, des Konsums und der Politik hoch emotional sind und dass ein Ignorieren der Gefühle von Arbeitern, Konsumenten und Bürgern die Vernachlässigung eines riesigen Wirklichkeitsausschnittes bedeuten würde. Zusammen betrachtet schwächen die letzten drei Kapitel auch den Rationalitätsmythos, da sie zeigen, dass the rational man in Wirklichkeit sehr emotional ist. Egal ob bei Arbeit, Konsum oder Politik, er erlebt eine Gefühlspalette - von Langeweile, Sorge und Demütigung bis zu Enthusiasmus und Wut. Diese Gefühle - auch wenn gemanagt - prägen und bestimmen sowohl seinen Alltag als auch die seltenen Momente der politischen Mobilisierung. <?page no="310"?> 311 Sachregister Abscheu 234 Adaptation 109 Affektunterdrückung 213 Aggression 189, 201, 272 Aggressivität 268 f. Akzeptanz 59 Alkoholismus 141 Alltag 165 Alltagsdiskriminierung 294 Alltagsroutine 274, 289 Alltagssituationen 125 Altruismus 159, 196, 237 Ambivalenz 189 Anerkennung 105, 150, 157 Angst 50, 57, 90, 95, 111, 182 f., 185, 187, 190, 199, 205, 219 - 221, 225, 240, 242, 245, 257, 265, 267 f., 270, 273, 292 f., 296 f., 305 f., 308 Angst vor Ablehnung 106 Angst vor Freiheit 293 Angst vor Repression 286 Angst vor Selbstverantwortung 221 Angstaffekt 45 Ängste 191 Anomie 74, 76, 79 Anonymität 198, 212 f. Antipathie 28 Apathie 199, 267 f. Arbeit 54 f., 246 Arbeiter 97 Arbeitsorganisation 196 Arbeitsteilung 61, 86 -, soziale 62 Arbeitswelt 163 Armut 259 Askese 237 Asket 212, 234, 242, 249 Asketismus 271 Außenseiterstatus 279 Austausch 73 f. Austauschprozesse 115 Autonomie 150, 202 Aversion 28 Begierde 27 Behaviorismus 128 Beratung 307 Beratungsgesellschaft 230 Beruf 49, 51, 53 - 55, 79, 112 Berufsarbeit 45 Berufsethik 55 Beschämung 102 Bescheidenheit 96 Besessenheit 218, 240 Bewegung, totalitäre 279 Bewegungen, soziale 161 Bewusstsein 22, 86, 139, 213, 233 -, falsches 199, 282 -, wahres 199 Beziehungen, intime 140 Bindemittel 20, 39 Bindung 110 -, soziale 152 f. Bindungskraft 16 Bitterkeit 54, 56 Blasé-Einstellung 127 Blasierter 212, 235, 248 Blasiertheit 235, 237, 307 Bürogeschichten 194, 195 Bürokratie 115, 195 Bürokratietheorie 186 Charisma 57 -59, 112, 186 culture lag 133 Dankbarkeit 11, 18 - 20, 25, 111, 113, 133, 195 Dauersorge 222 deep acting 130, 132 <?page no="311"?> 312 Demut 46, 90, 97 Demütigung 26, 273, 283, 309 Depression 70, 227 f. Desorientierung, normative 74 Determinanten 33 Dienstleistungsberufe 149 Dienstleistungssektor 194, 200 f., 203 Diskriminierung 293, 297 Distanz 23, 37 f., 52, 56, 126 Distanzierung 133 Disziplin 307 Dominanzgefühle 161 Dramaturgische Soziologie 120 Dreyfus-Affäre 276 Dyade 33 - 36 Effekte, emergente 158 Ehe, moderne 40 Ehepaare 224 Ehre 96 Ehrerbietung 96 Ehrfurcht 152 Ehrgeiz 96 Eifersucht 11, 27, 31 f., 148 Eindrucksmanagement 153 Eindrucksmanager 128 Eitelkeit 53 f., 95 -97, 112 Eliten 134 Emotion, extreme 287 -, unterdrückte 284 Emotionales Chaos 298 Emotionalität in Krisen 58 Emotionalitätsmodell 140 Emotionen 49, 51 -, ABC von 137 -, als Bindemittel 15 -, als Sozialisations- und Kulturprodukte 11 -, Definitionen 11 -, echte 135 -, einfühlende 128 -, erlebte 139 -, Körperlichkeit von 88 -, Logik der 17 -, normierte 141 -, primäre 17, 111 -, sekundäre 17 -, selbstrefllexive 128 -, unterdrückte 296 -, Ursachen der 150 -, verkörperte 86 Emotionskulturen 138 Emotionspolitik 142 Empfindungszirkulation 69 Empörung 102, 111, 166, 262, 294, 299, 300 f. -, moralische 103 Energie, emotionale 158 - 162 Engagement 296 Entfremdung 236 Entfremdungsthese 232 Enthusiasmus 159, 186, 187, 306, 309 Entrüstung 273 Entscheidung 222 Entscheidungsfindung 179, 305 Entscheidungssituation 179, 231 Entscheidungsträger 180 Enttäuschung 262, 268 Entwürdigung 273 Erfahrungen, emotionale 139 Ermächtigung 157 Ermächtigungschancen 142 Erregung 151 Erwartungsinflation 256 Ethnomethodologie 121 Exit 190, 227 Exklusionsstrategie 166 Expression, emotionale 120, 121 Expressive Strömungen 81 face-to-face 158 Familie 141 Familienideal 145 Feindlichkeit 90, 95 <?page no="312"?> 313 Feindseligkeit 28 Feminisierung der Liebe 146 Finanzopfer 224 f. flâneur 248 Form der Kultur, dualistische 125 Frame(s) 130 f. Frauenemanzipation 132 Frauenrolle 223 Freiheit 247, 253, 269, 271, 291, 306 f. Freiheitsraum 286 Freiräume 41, 161, 282 Freizeit 230 Fremde 24, 28 Fremder 127 Freude 52, 80, 85, 205, 228, 234, 287, 305 Freundschaft 26, 39 f., 111 Frieden 73 Frustration 30, 54, 56, 184, 187, 205, 249, 269, 275, 284 Fundamentalismus 291, 293 Furcht 44, 47 f., 57, 69, 183, 187, 273, 275, 289, 298, 305 f. -, vor Autorität 192 Geborgenheit 270 Gefühl, sequentielles 287 Gefühle 33 -, antagonistische 25 -, authentische 175, 204 -, Geometrie der 33, 37 -, instabile 25 -, interne 154 -, kollektive 64, 66, 83 -, komplementäre 25 -, launische 25 -, moralische 103 -, primäre 26 -, sekundäre 26 -, unterdrückte 252 -, wahre 191 Gefühlsangestellte 203 Gefühlsarbeit 176, 183, 202, 305 Gefühlsbekämpfung 49 Gefühlskontrolle 270 Gefühlslage 265 Gefühlsmanagement 53, 119, 129 f., 132, 167, 175, 201, 203 f. Gefühlsregel(n) 131, 132, 137, 176, 201, 266 Gefühlssequenzen 26 Gefühlsunterdrückung 266 Gefühlsvokabular 127 Gehorsam 265 Geiz 238 Geiziger 212, 233, 243 Geld 99, 211, 214 Geldausgeben 241, 244, 307 Geldmanagement 225 Geldträumer 243 Gemütsruhe 256 f., 259 Genuss 226, 307 Geschlechterrolle 133, 147, 222 f., 225 Gesellschaft, komplexe 74, 87 Gesellschaft, primitive 74, 87 Gesprächstabu 219 Gesten 92, 121 Gewalt 139, 275, 278, 285, 297, 309 Gewaltmonopol 254 Gewaltopfer 297 Gewissensbisse 102 f. Glaubensgebilde 75 - 77, 111 Gleichgewicht 71 Gleichgültigkeit 28, 127, 234, 287 f., 291 Glück 70, 71, 73,75, 99, 165, 215 - 217, 227, 236 - 238, 245, 247 f., 254 f., 258, 305, 307 -, des Volkes 255 -, Theorie des 70, 71 - 73 Glücksbeschaffung 255 Glücksgefühl 256 Glücksverpflichtung 254 <?page no="313"?> 314 Glücksversorgung 252, 308 Glücksvision 255 Goal-Attainment 109 Gruppe, soziale 28 Gruppenkohäsien 194 Gruppenkonflikt 194 Gruppenmoral 24 Habgier 307 Habitus 232 Haltung, affektive 105 Handeln, affektives 104 -, expressives 114 -, inneres 201 -, zweckorientiertes 106, 114, -, zweckrationales 101 Handelnsorientierung 103, 108 Handlungsmuster 103 Handlungsorientierung 106 -, affektive 104 Handlungstheorie 101, 106, 112 Harvard-Columbia-Soziologie 114, 116 Hass 11, 26 f., 30, 32, 50, 247, 263, 268, 272, 275, 279, 297 Herrschaft 56 - 58, 199, 282 Herrschaftsideologie(n) 140, 142 Herrschaftsstrukturen 138, 297 Herrschaftssystem 273, 283 f. Herrschaftstypen 57 Herzlichkeit 201 hidden transcript 284 Hinterbühne 113, 282 - 284 Hoffnung 55 f., 87, 184, 193, 265, 291 Humor 154, 185, 189, 194, 197 - 200, 205, 285, 306 Hysterie 57 Ich 23, 25, 80, 91 - 93, 157 Ideal(e) 22, 96 Ideational Kultur 100 f., 112 Ideen 51 Identität 145, 226, 309 -, individuelle 280 -, kollektive 274 Identitätsentwicklung 112 Ideologien 134, 138 Impulskäufe 228 Individuen, atomisierte 287 Industriegesellschaft 165 Institutionen 16, 19, 81, 111, 114, 138 Inszenierung 124 Integration, soziale 80, 82, 101, 104, 106 Intellekt 214 Intentionalität 129 Interaktionen, soziale 162 Interaktionsrituale 153 Interpretationsrahmen 131 f., 134 Intimität 35 Intimitätsmuster 140 Islam 264, 295 Isolation 267 Kampf 27 Kapitalismus 134 Karneval 283, 286 Karriere 163, 180, 182, 192 Kauffähigkeit 230 Kaufrausch 239, 307 Kaufsucht 228, 246, 308 Klasse, soziale 275 Klassenbewusstsein 200 Klassenkonflikt 29 Klassenstruktur 279 Klatsch 194 f., 282 Kognition 61, 153 Kognitive Kategorien 83 Kollektiv 37 Kollektivbewusstsein 62 - 64, 141 Kollektivempfindungen 77, 79f., 82 Kollektivgefühl(e) 65, 68, 78 f., 84, 87f., 163 f. Kollektivmoral 24 <?page no="314"?> 315 Kollektivvorstellungen 76 Kommunikation 153 -, kollektive 86 Konflikt(e) 133, 150, 155, 167 Konkurrenz 167 Konstruktivismus 116, 131, 136, 151 Konstruktivistischer Ansatz 134 Konsum, ostentativer 230 Konsument als König 226, 229 Konsument als Opfer 226 Konsument, rationaler 229, 231 Körper 93, 121 - 124, 144 f. Körpersprache 130 Körpertechnik 201 Kosten, emotionale 151 Krise 59, 82 -, soziale 81 Krisensituation 57 Kultur 98 - 100, 143 - der Untergebenen 282 Kulturkommunismus 125 Kulturprodukt 136 Kulturtyp, Ideational 98 -, Sensate 98 Kulturtypen 98 Kunst 100 f. Lachen 120, 123, 283 Ladendiebstahl 308 Langeweile 194, 199, 289, 296, 309 Lebenschancen 191, 265 Lebenschancenpolarisierung 167 Lebensführung, Rationalisierung der 46 Legitimität 57 f. Leidenschaft(en) 11, 52, 55 f., 59, 69, 80, 82, 97, 112, 114, 148, 176, 186 f., 278 Liebe 11, 26, 32 f., 39 f., 69 f., 94, 104, 106, 111, 113, 148, 195, 243 - 246, 307 -, romantische 41 Loyalität 44, 57 f., 182, 189 f., 192 f., 241, 280 Macht 115, 135 f., 151, 202, 233, 247 -, des Geldes 233 Machtdiskurse 142 Machtgefühl 98, 227 Machthierarchie 180 Machtlosigkeit 185 Machtrituale 160 f. Machtstrukturen 167 Mainstream-Kultur 144 Makro 125, 134, 138, 140, 149, 153, 165, 204 Mangelwirtschaft 248, 268 f. Marxismus 115 f. Maskulinität 199 f. Masse 85 Massenakzeptanz 57 Massenmedien 140, 167 Massenmobilisierung 253, 308 Massenprotest 309 Melancholie 75, 80, 111, 197 Methoden, rational-kognitive 114 Metropole 126, 213 Mikro 126, 134, 138, 140, 149, 153, 165 Mikroebene 112 Mischgefühle 26 Missachtung 157 Missgunst 31 Misstrauen 242 Mitgefühl 90, 95, 201, 290, 300 Mitleid 278 Mittelklasse 149 Mob 275 - 279 Mobilisierung 253, 263, 268, 293, 309 -, emotionale 82 f. -, kollektive 287 -, muslimische 297 Mobilitätsangst 190 <?page no="315"?> 316 Moral 21f., 25, 49, 73, 78, 82, 84, 87, 99, 101 f., 106, 129, 146, 189, 278 -, sozialistische 266 Muslime 294 f., 300 Muster, normative 104 Neid 11, 27, 31, 54, 162 - 165, 252, 261 f., 275 Normalbiographie 192 Normalität 123 Norm(en) 21, 58, 61, 75, 84, 95, 102, 106, 109 f., 112, 114 f., 128, 135 f., 202, 219 Normverletzungen 22, 111 Nostalgie 195 f., 198, 205, 306 Not 27 Nutzenmaximierung 178 Oberflächenhandeln 203 Opfer 298, 300 f., 309 Ordnung, soziale 70, 76, 81, 104 f., 114 Organisation(en) 34 f., 37, 115 -, formelle 174, 176 Organisationsemotionen 176 Organisationsrollen 306 Organisationssoziologie 173, 200 Organisationsziele 175 Orientierung, kognitiv-normative 112 -, teleologische 106 f. Partnerschaft 147 Pattern Maintenance 109 Pattern Variables 108 f. Peinlichkeitsgefühl 129 Perspektive, kognitivistisch-normative 113 Politik 51 - 53, 144 -, des Neids 262 -, parlamentarische 277 Positivismus 116 Postemotionalismus 298 ff. Prädestinationslehre 44 - 46, 50 Praxis, emotionale 139 f. Prestige 125 Protest 198 f., 274, 286, 292, 294, 297 Protestbewegung 287 Proteststrategie 296 Puppen, soziale 78 Rache 283 Rational-Choice 181 - Ansatz 179 - Theoretiker 107, 115 Rationalisierung 44 Rationalisierungsprozess 47 Rationalisierungstendenzen 112 Rationalisierungsthese 44, 114 Rationalismus 59 Rationalität 11, 49, 179, 181, 183, 185, 240, 305 -, eingeschränkte 178 -, perfekte 178 Rationalitätsideologie 181 Rationalitätsmythos 309 Rebellion 98, 284 Recht 63, 66 Rechtsstreit 29 Reform 184, 306 Repression 289, 296 Resignation 195, 262, 265, 267 Ressentiment 260, 280 Reziprozität 105 Risiko 182, 204, 305 Riten 84, 86 Ritual 158 role-taking 128 Rolle(n) 86, 130, 153, 222, 305 -, soziale 24 -, emotionale 129 Rollenkonflikt 113 Rollenperspektive 129 Rollenspiel 191 f. <?page no="316"?> 317 Routine 41, 184 Ruhe 217 Rushdie-Affäre 274, 294 Sakrales 124 satisficing 178 Scham 21 f., 94, 96, 113, 120, 124, 152, 154 - 156, 166, 184, 227, 229, 252, 257, 259, 262, 274, 288, 308 Schamgefühl 21, 33, 245 Schichtungstheorie 73 Schließung, soziale 156 Schmerz 293 Schock 193 Schrecken 290 f. Schüchternheit 96 Schuld 136, 150 Schuldgefühl(e) 102 f., 106, 218, 242, 281 Schuldnergruppe 308 Sehnsucht 196, 275, 278 - 280 - nach Authentischem 291 - nach Freiheit 285, 308 - nach Heroischem 291 Selbst 22 f., 91, 93 - 98, 122, 145 Selbstachtung 90 Selbstbilder 95 Selbstdarstellung 126 Selbstdisziplin 97 Selbstgefühl 91, 93 f., 112, 227 Selbstideal 156 Selbstidentifizierung 190 Selbstkontrolle 49 Selbstkonzeptionen 128 Selbstliebe 95, 112 Selbstmord 68 - 70, 74, 76, 152 -, anomischer 70 -, emotionale Ursachen des 77 Selbstmordrate(n) 68, 82, 112 Selbstmordtypen 68, 75 Selbstrespekt 96 f., 229, 245 Selbstvertrauen 95 Selbstverwirklichung 157 Selbstwertgefühl 152 f. Selbstzweifel 96 Sensate Kultur 100 f., 112 Shopaholic 228 Sicherheit 217, 241, 262, 291, 307 -, soziale 258 Signalfunktionen 130 Situation 108, 121, 129, 136 Situationsdefinitionen 181 Situationsmoral 190 Situationsrituale 161 Solidarität 24, 29, 62 f., 83, 88, 97, 109, 111, 152, 259, 280 f., 290, 300 Solidaritätsgefühl 62 Sorge 218, f., 225, 309 Soziale Kontrolle 128 Sozialisation, affektive 127 Sozialisationstheorie 80 Soziologie der Emotionen 117 Sparsamkeit 244, 307 Spätkapitalismus 168 Sprache 125 Staat 52, 68 -, totalitärer 308 Stabilität 18, 36 Status 122, 125, 131, 135 f., 151, 154, 246 Statusgruppen 156 Statusrituale 160 Statusstrukturen 150 Statussymbole 238 Stimmung 36, 39 Stolz 95, 112 Streitformen 29 Stress 95, 187, 201, 247 Strukturen, soziale 76, 111, 135, 142, 149, 161 Struktur-Funktionalismus 143 Struktur-Marxismus 143 Subkultur 143 Symbolische Interaktionisten 115 <?page no="317"?> 318 Symbolischer Interaktionismus 116, 121, 128 Sympathie 28, 183, 242, 269, 290, 298 Takt 23, 37, 40 Taktgefühl 38, 41, 95 Taktlosigkeit 39 Tarnungspolitik 282 Taschengeld 223 Tatsachen, soziale 65, 68 Team 188, 202 Tränen 120, 123 Trauer 70, 75, 81, 84 f., 87, 111, 288, 299 Traurigkeit 54, 80, 85, 124, 197 Treue 11, 18 f., 25, 111, 280 Triade 33, 36 Trivialität 35, 41 -, Last der 35 Trost 85 Überwindungsformel 27, 47 f., 51 Ungleichheit 164 unit act 108 f., 115 Unruhe 215 - 217 Unsicherheit 48, 50 Unterdrückung, emotionale 283 Unterdrückungserfahrung 283 Unterwerfungsgefühle 161 Unzufriedenheit 79, 194, 198, 215 Upper-middle class 237 Verachtung 273, 284 - 286, 297 Verbitterung 30 Verdammnis, Angst vor 44 - 47, 50 f., 112 Vergnügen 195 Vermittler 36 Versagensängste 180 f. Verschwender 212 Verschwenderischer 234 Verschwendung 238, 246 Vertrauen 193 Verunsicherung 57, 293 Verunsicherungsansatz 232 Verzicht 218, 238, 271 Verzweiflung 263, 280 Viktorianische Ära 148 Volkskultur 143 Vorderbühne 113, 160 Wachstum 74 Wahl 108 Warendiebstahl 228 Warenfetischismus 232 Weinen 120 Wert-Komplex der Gesellschaft 103 f. Wertnivellierungsthese 211 Wertorientierung 102 Wettbewerb 32 Wettbewerbsformen 33 Whistleblowers 188 ff. Widerstand 200, 202, 282 Wirklichkeit, Konstruktion der 83 Wissenschaft 54 Wohlfahrtsstaat 10, 12, 204, 254 ff., 271, 308 Wohlstand 74 Wut 85, 87, 122 f., 148, 162, 165 f., 183 - 185, 191, 252, 262 f., 265, 272, 274 f., 283 f., 287 f., 290, 296, 299 f., 306, 308 f. Wutobjekt 263 Yuppies 238 f., 307 Zorn 88, 270 f., 299 Zufriedenheit 248, 253 Zweck-Mittel-Schema 106 Zyniker 212, 234 f. Zynismus 54, 193, 307 <?page no="318"?> Hermann Korte Soziologie 2004, 192 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2518-6 Hans Peter Henecka Grundkurs Soziologie 8. überarb. Aufl. 2006, 240 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-1323-4 Rainer Diaz-Bone Statistik für Soziologen 2006, 284 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2782-0 Sabina Misoch Online-Kommunikation 2006, ca. 220 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-2835-4 Werner Fuchs-Heinritz, Alexandra König Pierre Bourdieu Eine Einführung 2005, 354 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2649-2 Boike Rehbein Die Soziologie Pierre Bourdieus 2006, 270 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2778-2 Pierre Bourdieu et al. Das Elend der Welt Mit einem Vorwort von Franz Schultheis Gekürzte Studienausgabe 2005, 446 Seiten, Großformat, broschiert ISBN 3-8252-8315-1 Stephan Moebius, Lothar Peter (Hg.) Französische Soziologie der Gegenwart 2004, 492 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2571-2 Matthias Grundmann Sozialisation Skizze einer allgemeinen Theorie 2006, 270 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2783-9 Jörg Strübing, Bernt Schnettler (Hg.) Methodologie interpretativer Sozialforschung Klassische Grundlagentexte 2004, 482 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2513-5 UVK bei UTB <?page no="319"?> Alfred Schütz Strukturen der Lebenswelt 2003, 694 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2412-0 Hubert Knoblauch Wissenssoziologie 2005, 384 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2719-7 Ronald Kurt Hermeneutik Eine sozialwissenschaftliche Einführung 2004, 280 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2572-0 Hans-Georg Soeffner Auslegung des Alltags - Der Alltag der Auslegung Zur wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik 2004, 330 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2519-4 Rainer Schützeichel Soziologische Kommunikationstheorien 2004, 384 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2623-9 Christian Etzrodt Sozialwissenschaftliche Handlungstheorien Eine Einführung 2003, 360 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2411-2 Gregor Fitzi Max Webers politisches Denken 2004, 304 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2570-4 Helena Flam Soziologie der Emotionen Eine Einführung 2002, 318 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2359-0 Peter-Ulrich Merz-Benz, Gerhard Wagner (Hg.) Der Fremde als sozialer Typus Klassische soziologische Texte zu einem aktuellen Phänomen 2002, 196 Seiten, broschiert ISBN 3-8252-2358-2 UVK bei UTB