eBooks

Mikropolitik und Moral in Organisationen

Herausforderung der Ordnung

0101
2006
978-3-8385-2743-7
978-3-8252-2743-2
UTB 
Oswald Neuberger

Mikropolitik - als die auf eigenen Vorteil bedachte Instrumentalisierung Anderer in organisationalen Ungewissheitszonen - wird nicht auf personale Motive oder Haltungen zurückgeführt, sondern als sowohl flexible wie konstruktive Nutzung der Widersprüchlichkeit organisationaler Steuerungsprinzipien verstanden. Nach einem Resümee des empirischen Forschungsstandes wird dafür plädiert, die Erfassung und Differenzierung der mikropolitischen Taktiken in ein umfassendes Handlungsmodell einzubetten, das neben kognitiven Situationsrepräsentationen und Erfolgskalkülen weitere Bedingungen berücksichtigt. Mikropolitik scheint von vorneherein moralisch disqualifiziert zu sein, weil es ihr darum geht, Andere zum Mittel für eigene Zwecke zu machen. Die Reflexion von Mikropolitik aus den Perspektiven dominierender (wirtschafts-) ethischer Positionen erweist eine solche Pauschal-Verurteilung als einseitig und fragwürdig. Mit Blick auf die Möglichkeiten organisationaler Akteure werden drei pragmatische Strategien einer moralischen Rechtfertigung und Kultivierung von Mikropolitik erörtert: moralisches Satisfizieren, Moral lernen und den Widerstreit moralischer Prinzipien aushalten und nutzen.

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim · Basel Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien Wilhelm Fink Verlag München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen C. F. Müller Verlag Heidelberg Ernst Reinhardt Verlag München und Basel Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen Verlag Barbara Budrich Opladen · Farmington Hills Verlag Recht und Wirtschaft Frankfurt am Main WUV Facultas Wien UTB 2743 <?page no="2"?> Mikropolitik und Moral in Organisationen Herausforderung der Ordnung von Oswald Neuberger 2., völlig neu bearbeitete Auflage mit 34 Abbildungen und 24 Tabellen ISBN 978-3-8252-2743-2 (UTB) ISBN 978-3-8282-0330-3 (Lucius & Lucius ) © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH Stuttgart 2006 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com Anschrift des Autors: Prof. Dr. Oswald Neuberger Universität Augsburg Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Psychologie I Universitätsstr. 16 86159 Augsburg E-Mail: Oswald.Neuberger@wiwi.Uni-Augsburg.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen. Druck und Einband: F. Pustet, Regensburg Printed in Germany <?page no="3"?> Vorwort Der Vorläufer dieses Buchs erschien 1995 unter dem Titel "Mikropolitik". Seither hat sich auf diesem Gebiet viel getan. Statt das alte Buch zu aktualisieren, habe ich mich entschlossen, ein völlig neues zu konzipieren, das das alte nicht ersetzen, sondern ergänzen soll. Die neue Akzentsetzung habe ich im geänderten Titel auszudrücken versucht; er erlaubt zwei zirkulär auf einander bezogene Lesarten: a) Die Ordnung wird (durch Mikropolitik) herausgefordert 'In Ordnung sein' oder 'eine Ordnung haben' bedeutet strukturiert, differenziert relationiert, konfiguriert sein; auf Dauer gestellt, stabil, resistent sein; verlässlich, anschlussfähig, berechenbar sein; selektiv, fokussiert, ausgegrenzt und abgeschlossen sein. Kurzum: Ordnung ist eine höchst unwahrscheinliche und gefährdete Errungenschaft. Der 2. Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass Ordnung, wenn nicht gestaltend eingegriffen wird, übergeht in wahrscheinlichere, weniger geordnete Zustände (Negentropie). Auch für den sozialen Bereich gilt, dass Ordnungsmuster (etablierte Institutionen, Regeln, Verträge, Praktiken etc.) instabil sind und - von Zerfall und Auflösung bedroht - mit Aufwand erhalten oder neu erzeugt werden müssen. Im ständigen Abwehrkampf gegen Un-Ordnung besteht die Tendenz zur Überreaktion: Ordnung wird übersteigert und führt zu Erstarrung, 'mechanischer' Routine, Kadavergehorsam, Ordnungsfetischismus, Regelungswut, Bürokratismus, unflexibler Routine. Diesem Risiko wird begegnet durch Um-Ordnungen (Re-Organisationen). Ordnung 'lebt', wenn sie bestritten, in Frage gestellt, auf den Prüfstand geholt, erneuert etc. wird. Es lässt sich das Beinahe-Paradox formulieren: Ordnung wird erhalten, wenn sie durch Um-Ordnung überwunden wird. Mikropolitik ist eine solche - vielleicht so nicht intendierte - lebensnotwendige, ordnungsstiftende Herausforderung und zugleich - zuweilen durchaus intendiert - die Bedrohung der bestehenden Ordnung. Durch deren Unterwanderung, egoistische Ausnutzung, gezielte Regelverletzung werden Impulse zur Vitalisierung der Ordnung gesetzt. <?page no="4"?> IV Vorwort ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ b) Ordnung ist eine Herausforderung Auf der anderen Seite ist organisationale Ordnung (als bestehende, geltende, herrschende, faktische) eine Provokation, weil sie sich als An-Ordnung, Befehl, Ver- Ordnung manifestiert; ihre Imperative sind: Füge dich! Gehorche! Ordne dich ein (oder: unter)! Sei berechenbar! Die Zumutung liegt darin, dass Ordnung durch die Definition und Formatierung des Möglichkeits-Spielraums Handlungen nicht nur absichert, sondern auch einschränkt. Verglichen mit seiner Umwelt, die stets einen Möglichkeitsüberschuss bereithält, ist ein geordnetes System durch Komplexitätsreduktion und Einengung gekennzeichnet. Ordnung, die einerseits durch die Kräfte der Zersetzung und Veränderung bedroht ist, fordert anderer- und ihrerseits Bestimmtes (heraus), z.B. Unterordnungsbereitschaft, Leidensfähigkeit, Folgsamkeit, Denkverzicht usw. Damit aber ruft sie zugleich ihre mühsam beherrschten Gegenpole (ihren Schatten, ihr Unterdrücktes) auf den Plan, nämlich Freiheit, Willkür, Chaos, Durcheinander, Überraschung, Diversität, 'Fremdes', Verwirrung, Zufall, Unvorhergesehenes ... Das Überwunde meldet sich zurück und fordert nun seinerseits die Ordnung heraus. Mikropolitik ist ein solcher Schatten der Ordnung, immer präsent, wenn auch fast immer exkommuniziert. Mikropolitik ist somit nicht dem Machiavellismus oder der subversiven Selbstsucht der Akteure geschuldet, sondern hervorgerufen durch die unerfüllbaren Diktate der Ordnung. Für mich als Autor bestand - die beiden Ansprüche reflexiv auf mich beziehend - die größte Herausforderung darin, über die Provokation der Ordnung durch Mikropolitik und die Funktion der Mikropolitik als Rückansicht und Gegenpol der Ordnung ordentlich (systematisch, strukturiert) zu reden. Prozesse, die sich verworren, undeutlich, heimlich, etc. darstellen, werden schreibend in Ordnung gebracht - und verlieren damit einiges von ihrer Mehrdeutigkeit, Dynamik, Unberechenbarkeit etc. Zugleich wird beim Leser die Illusion genährt, (die Ordnung der) Mikropolitik durchschaut zu haben und sie nun gezielt 'managen' zu können. Der Text ist in fünf Kapitel gegliedert: Im ersten beschreibe ich das Konstrukt Mikropolitik und den auffallenden Umschwung in der Bewertung der damit zusammengefassten Praktiken: Früher galten sie - bei weitgehender Beschränkung auf Trick-Listen - als anrüchig, pathologisch, um nicht zu sagen kriminell ('Machenschaften'), in letzter Zeit <?page no="5"?> Vorwort V ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ aber hat sich die Verwendung von 'Mikropolitik' als generisches Konzept durchgesetzt, mit dem die Strukturation organisationalen Handelns erfasst werden kann. Zunächst mit anderen Namen etikettierte und positiv konnotierte Aspekte (wie eigenverantwortliches Handeln, Intrapreneurship, Organizational Citizenship, Political Skill etc.) werden inzwischen als Facetten des Konstrukts diskutiert. Das zweite Kapitel gibt einen Überblick über Ansätze, Methoden und Ergebnisse der empirischen Taktik-Forschung und erörtert Gründe für den Befund der relativ beschränkten Erfolgswirksamkeit der Taktiken. Im nächsten Kapitel geht es um die Untersuchung der organisationalen Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik. Damit ist explizit die Abwendung von eigenschaftsorientierten Erklärungen verbunden, die mikropolitisches Agieren primär auf Persönlichkeitszüge wie Machthunger, Durchtriebenheit, Zynismus, Selbstsucht etc. zurückführen. Stattdessen wird gezeigt, dass organisationale Steuerungsprinzipien in sich und untereinander widersprüchlich sind und ohne das interessierte Zu-Tun der Beteiligten nicht wirksam werden. Das vierte Kapitel beschreibt Möglichkeiten und Grenzen eines akteursorientierten handlungstheoretischen Zugangs. In Erweiterung des üblichen rational-kognitiven Entscheidungsmodells werden in einer vorläufigen Skizze acht Facetten der Generierung und Implementierung mikropolitischer Handlungen vorgestellt. Auch wenn Mikropolitik organisational gesehen unausweichlich ist, lässt doch ihre konkrete Ausgestaltung großen Spielraum und kreative Kombinationen zu. Das letzte Kapitel gehandelt das spannungsgeladene Verhältnis von Mikropolitik und Moral. Als instrumentalisierendes Verhalten scheint Mikropolitik der Inbegriff amoralischen Handelns zu sein, ganz abgesehen von konkreten Manövern wie Täuschung, Scheinheiligkeit, rücksichtslose Ausnutzung von Informations- oder Machtvorsprüngen etc. In Auseinandersetzung mit der homannschen Konzeption der Wirtschaftsethik (und ihrer Trennung von Spielregeln und Spielzügen) soll gezeigt werden, dass die Strategie der Freisprechung ökonomischen Handelns von moralischen Bewertungen nicht verfängt. Schon im regelgeleiteten Handeln sind Regelverletzung und subjektive Regelinterpretation unvermeidlich. Statt einer puristischen Sonderung von Mikropolitik und Moral werden abschließend drei Möglichkeiten einer Moralisierung der Mikropolitik behandelt: moralisches Satisfizieren, Moral lernen und moralisches Ausbalancieren. <?page no="6"?> VI Vorwort ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Dass das Buch in der vorliegenden Form erscheinen konnte, verdanke ich der tatkräftigen Unterstützung durch meine Sekretärin, Frau Dipl. oec. Regina Dietmair. Sie hat nicht nur die umfangreichen Arbeiten der Literaturbeschaffung übernommen, sondern auch mit großem Sachverstand den Text formatiert, die Tabellen und Abbildungen gestaltet, die Indices erstellt und die Endversion Korrektur gelesen. Besonders dankbar bin ich ihr für die große Geduld, mit der sie meine vielfachen Revisionen ausgehalten hat, für ihre Sorgfalt und Zuverlässigkeit und nicht zuletzt für das interessierte Engagement, mit dem sie den Entstehungsprozess des Buchs begleitet hat. Zu Dank verpflichtet bin ich auch meinem studentischen Probeleser, Herrn Maik Dierkes, der mir einige wertvolle Strukturierungshinweise gegeben hat. Einerseits ist es bedauerlich, dass ich zu einem eigentlich willkürlichen Zeitpunkt das Manuskript an den Verleger schicken muss. Andererseits ist das gut so, denn ansonsten würde ich mit dem Ergänzen, neu Gliedern, Umformulieren und Streichen ewig weitermachen. Es hat zudem den entlastenden Effekt, dass ich das vorläufige Ergebnis in jenen unüberschaubaren Wissensbestand wieder eingliedern kann, von dem ich profitiert habe und an dessen Sichtung, Kritik und Ausbau unbekannte Andere unermüdlich arbeiten, sich in Aneignung und Zurückweisung ihre eigenen Meinungen bildend. Wer glaubt, einmalige und erstmalige Gedanken zu haben, hat nicht genug gelesen (oder nicht ins Internet geschaut) 1 . Wissenschaft ist Recycling; für sie gibt es keinen Abfall oder Müll, nur für unterschiedliche Zwecke brauchbare Wertstoffe. Sie sind in Texten und Praxis verborgen; meine Leistung war das Entbergen und Neubergen. Augsburg, im Juli 2006 Oswald Neuberger 1 Man mag sich damit trösten, dass auch die Großen der Disziplin, könnte man in ihre "gelehrten Eingeweide" (Lichtenberg) schauen, sich dasjenige einverleiben, was Andere angebaut, geerntet und zubereitet haben; angesichts des reich gedeckten Tisches sind selbst sie nicht gefeit vor den Minderwertigkeitsgefühlen, die sich unweigerlich einstellen, wenn man das eigene Zutun am schon Geleisteten misst: "... Eigenes zu schaffen und das Große zu bewahren - beides zugleich geht über Menschenkräfte. Und doch ist jenes Bewahren nicht stark genug, wenn es nicht aus der neuen Aneignung kommt. Es gibt keinen Ausweg aus diesem Kreis und so kommt es, dass die eigene Arbeit bald wichtig erscheint und bald wieder ganz gleichgültig und stümperhaft." Ich (2006) zitiere hier aus Safranski (2000, 354), der aus dem von Storck (1989) herausgegebenen Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Elisabeth Blochmann eine Reflexion von Heidegger (1936) zitiert. <?page no="7"?> INHALT Abbildungsverzeichnis ....................................................................................... XIII Belegverzeichnis ................................................................................................. XV Tabellenverzeichnis.......................................................................................... XVII 1. Das Konstrukt Mikropolitik: Dimensionen, Bewertungen, Abgrenzungen ..........................1 1.1. Mikropolitik als polarisierendes Thema ............................................... 1 1.2. Was ist mit Mikropolitik gemeint? ........................................................ 4 1.2.1. Einige Mikropolitik-Definitionen ........................................................................... 5 1.2.2. Welche Dimensionen liegen den Mikropolitik-Definitionen zu Grunde? .............. 9 1.2.3. Die zusammenfassende Definition ....................................................................... 18 1.3. Polity - Policy - Politics ........................................................................ 27 1.3.1. Spielregeln - Spielstrategien - Spielzüge ............................................................. 27 1.3.2. Resümee ................................................................................................................ 40 1.4. Positive und negative Funktionen der Mikropolitik .......................... 40 1.4.1. Mintzberg - Klein - Ferris; POPS & PSI............................................................. 45 1.4.2. Ist Mikropolitik pathologisch? .............................................................................. 48 1.4.3. Exkurs POP-Skala Zur Operationalisierung einer Mikropolitik-Definition........................................ 51 1.4.4. PSI (Political Skill Inventory)............................................................................... 55 1.5. Mikropolitik als abweichendes Verhalten .......................................... 59 1.5.1. Kontraproduktives Arbeitsverhalten ..................................................................... 63 1.5.2. Extra-Produktives Arbeitsverhalten...................................................................... 72 1.5.3. Ist kontraproduktives Verhalten das Gegenteil von extra-produktivem Verhalten? ............................................................................................................. 76 1.5.4. Die Beziehung von kontraproduktivem und extra-produktivem Verhalten zu Mikropolitik ..................................................................................................... 78 1.5.5. Die Landschaft der Mikropolitik: Zwei Ansichten ............................................... 78 <?page no="8"?> VIII Inhalt ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 2. Mikropolitische Taktiken und Strategien ............................85 2.1. Die Erfassung mikropolitischer Taktiken........................................... 85 2.1.1. Eine kurze Geschichte der Entwicklung von Taktik-Inventaren: POIS und die Folgen ....................................................................................................... 85 2.1.2. Weitere Taktik-Inventare: Beispiele und Synopsen ............................................. 90 2.1.3. Alternative Erfassungsmethoden .......................................................................... 97 2.2. Taktiken-Mix und Strategien ............................................................. 102 2.2.1. Taktiken-Kombinationen .................................................................................... 102 2.2.2. Strategien ............................................................................................................ 107 2.3. Wirkungsanalyse ................................................................................. 111 2.4. Reflexion/ Kritik ................................................................................... 120 2.4.1. Methodologische und theoretische Vorentscheidungen bei der Erfassung von mikropolitischen Taktiken und Strategien ...................................................... 120 2.4.2. Zur Rolle der Operationalisierungen: Das Beispiel 'Rationales Argumentieren'............................................................ 124 2.4.3. Kontextualisierung und Dekontextualisierung ................................................... 127 2.4.4. Alternativen zu den Taktik-Listen? Direkter und indirekter Einfluss .................... 132 2.4.5. Fiktionen beim Einsatz und der Erfassung von Taktiken und Strategien ........... 138 2.5. Fazit ...................................................................................................... 144 2.6. Anhang.................................................................................................. 145 3. Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ...............147 3.1. Mikropolitik: die kreative Nutzung organisationaler Spielräume ...... 148 3.1.1. Bedingungsmodelle in der mikropolitischen Forschung .................................... 154 Die Berücksichtigung von Persönlichkeitsattributen ..................................... 158 Die Berücksichtigung des organisationalen Kontexts.................................... 161 3.1.2. Überlegungen zur Merkmalsauswahl: Ein Demonstrationsbeispiel .................. 163 3.1.3. Druck machen und Einschmeicheln: Wovon hängt der Erfolg ab? .................... 166 3.2. Organisationale Ermöglichungsbedingungen mikropolitischer Taktiken................................................................................................ 170 3.2.1. Antagonismen innerhalb und zwischen Steuerungsprinzipien ............................... 170 3.2.2. Vorüberlegungen zur Bedeutung von Information, Rationalität und Versprachlichung ................................................................................................ 176 3.3. Organisationale Steuerungsprinzipien: Diskussion der Polaritäten.................................................................. 184 3.3.1. Hierarchie und Autonomie.................................................................................. 186 3.3.2. Formalisierung und Improvisation...................................................................... 189 <?page no="9"?> Inhalt IX ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 3.3.3. Exkurs: Einfache und doppelte Kontingenz ....................................................... 193 3.3.4. Differenzierung und Integration ......................................................................... 197 3.3.5. Komplexität und Simplizität ............................................................................... 199 3.3.6. Kooperation und Konkurrenz ............................................................................. 203 3.3.7. Extrinsische und intrinsische Motivation............................................................ 206 3.3.8. Vernetzung und Vereinzelung ............................................................................ 211 3.3.9. Facta und Ficta (Faktizität und Fiktionalität)...................................................... 217 3.3.10. Wandel und Bewahrung...................................................................................... 224 3.3.11. Einbettung und Abgrenzung ............................................................................... 230 3.4. Zusammenfassung ............................................................................... 235 4. Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells .............237 4.1. Mikropolitik aus der Perspektive einer sozialen Handlungstheorie................................................................................. 238 4.1.1. Die dyadische Grundstruktur einer Einflusssituation ......................................... 242 4.1.2. Inhaltliche Erweiterung der Grundstruktur durch acht Handlungskomponenten ..................................................................................... 246 4.2. Diskussion der acht Komponenten des Handlungsstruktur- Modells.................................................................................................. 250 4.2.1. "Ich bin ich": Identität, ein Selbst sein................................................................ 251 4.2.2. "Ich bin verkörpert": Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Materialisierung ................. 260 4.2.3. "Ich weiß": Kognition ......................................................................................... 265 4.2.4. "Ich will": Interessen, Motivation ....................................................................... 270 4.2.5. "Ich kann": Kompetenzen (Fähigkeiten und Ressourcen) .................................. 279 4.2.6. "Ich fühle": Emotionalität ................................................................................... 282 4.2.7. "Ich stehe in Beziehung": Vergemeinschaftung ................................................. 288 4.2.8. "Ich bin in Ordnung(en)": Institutionalisierung, Vergesellschaftung ................. 292 4.3. Erweiterungen: Zur Sozialisierung und Dynamisierung des Modells ....................... 297 4.3.1. Erweiterung zu einem sozialen Struktur-Modell ................................................ 298 4.3.2. Erweiterung zu einem sozialen Handlungs-Modell............................................ 302 Zur Trennung von Täter und Tat.................................................................... 303 Zum Zusammenhang von Täter und Tat ........................................................ 305 Der Täter als Modell und Model .................................................................... 308 Zum Zusammenhang der Merkmale .............................................................. 310 Weitere Handlungsaspekte (Primat der Tat, Prozessualität, Virtualisierung)............................................ 314 4.4. Schlussbemerkung............................................................................... 318 <?page no="10"?> X Inhalt ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 5. Die Moral der Mikropolitik.................................................319 5.1. Was heißt moralisch urteilen und handeln? ..................................... 320 5.1.1. Moral und Politik, Ökonomie und Ethik - sie scheinen sich zu fliehen ............ 320 Ich bin viele - die Organisation ist eine? ....................................................... 321 Achtung: Achtung! ......................................................................................... 324 Geltung und Begründung ............................................................................... 326 5.1.2. Erste Annäherung: Zwei Moral-Definitionen ..................................................... 331 Beispiel 1: Bayertz' Moraldefinition .............................................................. 331 Beispiel 2: Thrasymachos' Definitionen (Platon) .......................................... 332 5.1.3. Nächster Anlauf: Ethik-Theorien........................................................................ 335 Eine kurze Skizze wichtiger Ethik-Theorien ................................................. 336 Fazit: Wider den Monotheismus der einen richtigen Ethiktheorie ................ 342 5.1.4. Wann ist eine Moralbegründung vernünftig? Warum soll sie vernünftig sein? .... 343 Konsistenz (Stimmigkeit, Widerspruchsfreiheit) ........................................... 345 Universalisierbarkeit (Verallgemeinerbarkeit, allgemeine Geltung)............. 345 Prinzipienorientierung (anstelle konkreter Problemlösungs-Ratschläge) ..... 348 5.1.5. Zu typischen Besonderheiten und Voraus-Setzungen ethischen Argumentierens..... 353 Fiktionen und Gedankenexperimente............................................................. 353 Kontingenz und Handlungsspielraum ............................................................ 354 Beschränkung des Spielraums........................................................................ 355 Beobachtung durch Dritte .............................................................................. 356 Bewertungsmaßstäbe...................................................................................... 356 Systematische Differenz zwischen Motiv, Handlung und Konsequenz ........ 358 5.2. Ökonomie und Moral haben sich nichts zu sagen! .......................... 360 5.2.1. Trennungsbeschlüsse: Plädoyers für die Eliminierung der Moral .............................. 360 Wie Peter Drucker und Dieter Schneider den Moralaposteln die Leviten lesen......................................................................................... 360 Luhmanns Warnung, Nietzsches Ekel vor Moral ........................................... 363 Milton Friedmans Als ob ............................................................................... 366 Moral als Steuer? ............................................................................................ 367 Die Klugheit des Amoralisten ........................................................................ 369 Ist Mikropolitik amoralisch oder unmoralisch? ............................................. 372 Im Geschäftsleben ist bluffen ethisch! Carr und seine Kritiker .................... 374 Der Fall Ford Pinto......................................................................................... 378 Zum Abschieben der Verantwortung für moralisches Versagen ................... 381 5.2.2. Dennoch: Argumente zur Rechtfertigung von Unternehmensethik........................ 384 Moral-Thematisierung als Reaktion auf gesellschaftliche Erwartungen ....... 384 Unternehmen können keine Sondermoral oder Moralfreistellung für sich beanspruchen................................................................................. 386 Unternehmen müssen Moral liefern, weil sie nachgefragt wird .................... 387 Moral sichert Transaktionen gegen Opportunismus ...................................... 389 Das Herantasten an die Grenzmoral............................................................... 390 5.2.3. Moral als Steuerungstechnik: Ethische Praktiken im Unternehmen ("Governance Ethik").............................. 393 <?page no="11"?> Inhalt XI ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 5.3. Moralische Rahmenordnung und amoralisches Handeln? ............. 396 5.3.1. Moral ist Kooperationsmoral .............................................................................. 397 5.3.2. Bedingungswandel statt Gesinnungswandel - Wohl-Stand statt Wohl-Wollen........................................................................... 400 5.3.3. Dilemmastrukturen (am Beispiel des Prisoner's Dilemma Game) ..................... 408 Exkurs: Spieltheorie vs. Verhandlungsanalyse (Sebenius) ............................ 411 5.3.4. Die Rahmenordnung als der systematische Ort der Moral ................................. 417 5.3.5. Der Grundkonflikt zwischen Rentabilität und moralischer Akzeptanz .............. 421 5.3.6. Der homo oeconomicus-Test (h-o-Test) ............................................................. 424 5.3.7. Ökonomik als Methode ....................................................................................... 426 5.3.8. Die ideale oder die reale Marktwirtschaft? Marktwirtschaft oder soziale Marktwirtschaft? .................................................. 428 5.3.9. Defizite der weltwirtschaftlichen Rahmenordnung ............................................ 430 5.4. De-Moralisierung und Re-Moralisierung der Spielregeln .............. 435 5.4.1. Ethische Neutralisierung ..................................................................................... 435 5.4.2. Die Erweiterung des Zwei-Stufen-Modells zum Drei-Stufen-Modell................ 439 Diskursethik ................................................................................................... 439 Apels Re-Moralisierungsvorschlag: die Einführung einer dritten Stufe ........ 443 Fazit ................................................................................................................ 447 5.5. Moralische Regeln und moralisches Handeln: eine rekursive Beziehung ....................................................................449 5.5.1. Motto: Weg von der Rahmenordnung, hin zu den Handlungen! ........................ 449 Moralmetaphern ............................................................................................. 450 5.5.2. Was sind Regeln? ................................................................................................ 452 5.5.3. Voraussetzungen kompetenter Regelanwendung ............................................... 454 Offener Anwendungskontext ......................................................................... 455 Interpretierende Regel-Anwendung ............................................................... 457 Selektion aus dem Regelnetz.......................................................................... 458 Regelschutz .................................................................................................... 459 Regeldynamik................................................................................................. 468 Rule taking und rule making .......................................................................... 469 Zwischen-Resümee zu den Bedingungen der Regelbefolgung bzw. -verletzung .......................................................................................... 470 5.5.4. Regelnutzung als sozialer Prozess ...................................................................... 472 Regeln sind Machtinstrumente, Machtindikatoren und Machtgeneratoren........ 472 Die Rolle der Dritten ...................................................................................... 473 Die Anderen: Regelbefolgung als Netzeffektgüter-Produktion ..................... 476 Veraltung von Regeln..................................................................................... 477 5.5.5. Zur mikropolitischen Nutzung von Regeln......................................................... 477 Die Funktionen von Regelbefolgung - und ihre Rückseite ........................... 479 Regelhandhabungskompetenz ........................................................................ 488 Wie Regelverletzungen in Schach halten? ..................................................... 491 5.5.6. Verflucht sei, wer das Gesetz nicht mit Leben erfüllt! Amen. ........................... 492 <?page no="12"?> XII Inhalt ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 5.6. Moralisches Handeln als mikropolitisches Handeln........................ 495 5.6.1. Zur Beziehung zwischen moralischem Urteilen und moralischem Handeln .......... 496 5.6.2. Relativistische Ethik: Das Jones-Tsalikis-Modell .............................................. 499 5.6.3. Das Gute kennen, aber nicht tun. Der Umgang mit 'Anomalien'.............................. 504 5.6.4. Die Bedeutung postdezisionaler und postaktionaler Phasen .............................. 506 Intervention (Änderung)................................................................................. 506 Intra- und interpersonale Abwehrmechanismen ............................................ 507 Rechtfertigungen ('accounts' produzieren)..................................................... 508 5.6.5. Die Bewältigung von Diskrepanzen zwischen Worten und Taten, Absichten und Ergebnissen .................................................................................................. 511 Der intuitive Anwalt....................................................................................... 513 Fazit und Folgerungen.................................................................................... 517 Gewissen und gesunder Menschenverstand als Prüfinstanzen einer relativistischen Ethik ....................................................................................... 519 5.6.6. Was tun? Was tun! Drei Strategien..................................................................... 521 Gebrauchsmoral (moral satisficing, bounded morality) ........................... 524 Moral lernen .............................................................................................. 533 Moralisches Austarieren des pluralistischen Widerstreits ........................ 541 5.6.7. Resümee .............................................................................................................. 547 6. Schluss ...................................................................................552 7. Literaturverzeichnis ............................................................................... 559 8. Personenverzeichnis .............................................................................. 593 9. Stichwortverzeichnis ............................................................................. 600 <?page no="13"?> Abbildungsverzeichnis Abb. 1-1: Polity - Policy - Politics ........................................................................................ 28 Abb. 1-2: "Thema mit Variationen": Die Begriffe des Politischen in ihren Beziehungen zueinander ............................. 29 Abb. 1-3: Das Sachliche und das Politische: Zwei Sichtweisen ............................................ 33 Abb. 1-4: Mikropolitik stellt keine eigene Handlungsklasse dar, sondern ist eine bestimmte Qualität des Verhaltens (nämlich: Andere zu eigenen Zwecken instrumentalisieren) .................................................................................................... 81 Abb. 1-5: Mikropolitik als spezifische Handlungsklasse im Spannungsfeld zwischen produktivem (herstellenden) und politischem (kommunikativen) Handeln ............... 84 Abb. 2-1: Der Zusammenhang von Handlungen, Taktiken, Strategien und Haltungen....... 104 Abb. 2-2: Lineare und kurvolineare Zusammenhänge zwischen Intensität des Taktikeinsatzes und Erfolgswirksamkeit.............................................................. 115 Abb. 2-3: Optionen der Erfassung mikropolitischer Taktiken und Strategien ..................... 120 Abb. 3-1: Die Organisation im Mittelpunkt ......................................................................... 149 Abb. 3-2: Einflusstaktiken als abhängige und unabhängige Variablen Links: Yukl, Kim & Falbe (1996) - rechts: Blickle, Wittman & Röck (2002)...... 156 Abb. 3-3: Beispiel Ferris, Russ & Fandt (1989) .................................................................. 162 Abb. 3-4: Beispiel Ammeter, Douglas, Gardner, Hochwarter & Ferris (2002) .................. 162 Abb. 3-5: Antagonistische organisationale Steuerungsprinzipien........................................ 174 Abb. 3-6: Zur Illustration von vier möglichen Beziehungsformen auf einander bezogener Steuerungsprinzipien........................................................................... 185 Abb. 4-1: Die Vernetzung von Bedingungen, Taten und Folgen ......................................... 240 Abb. 4-2: Die archetypische mikropolitische Situation........................................................ 243 Abb. 4-3: Bedingungen der Handlungswahl. Ansatzpunkte für mikropolitische Einflussversuche ................................................................................................... 247 Abb. 4-4: Prozessmodell der Stressbewältigung (nach Folkman & Lazarus 1988)............. 263 Abb. 4-5: Ergänzungen des Stressmodells von Lazarus & Launier (Ausschnitt aus der Abbildung bei Kernen 1997) ................................................ 265 Abb. 4-6: Struktur einer VVR-Einheit (nach Hacker 1986)................................................. 269 Abb. 4-7: Das so genannte "Rubikon"-Modell von Heckhausen (1989).............................. 273 Abb. 4-8: Ein Analyseschema zur Kategorisierung von Kompetenzen (Heyse & Erpenbeck 2004 bzw. Erpenbeck 2004)............................................... 280 Abb. 4-9: Emotionen bei organisationalen Änderungen (nach Roth 2000).......................... 285 Abb. 4-10: Ein Prozessmodell der Emotion (nach Plutchik 1980, in der Fassung von Küpers & Weibler 2005)..................... 286 Abb. 4-11: Einflussbeziehungen in einem sozialen Strukturmodell ...................................... 299 Abb. 4-12: Interdependenz und wechselseitige Konstitution von Handlungskomponenten....... 312 Abb. 4-13: Das Netz der Zusammenhänge zwischen den Handlungskomponenten .............. 313 <?page no="14"?> XIV Abbildungsverzeichnis ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 5-1: Die Auszahlungsmatrix des Gefangenen-Dilemmas............................................ 409 Abb. 5-2: Die 'Rahmenordnung' - wörtlich genommen ....................................................... 419 Abb. 5-3: Unternehmerisches Handeln im Spannungsfeld von Moral und Rentabilität (Homann 1994)..................................................................................................... 422 Abb. 5-4: Die wechselseitige Konstitution von Regel und Anwendungssituation............... 455 Abb. 5-5: Moderatoren der Regelanwendung ...................................................................... 471 Abb. 5-6: Vier Manifestationen von Regeltreue bzw. Regelverletzung............................... 484 Abb. 5-7: Ein Prozessmodell moralischen Urteilens (modifiziert nach Jones 1991 und Tsalikis et al. 2001) ....................................... 502 <?page no="15"?> Belegverzeichnis Beleg 1-1: Beispiele für Mikropolitik-Definitionen .................................................................. 5 Beleg 1-2: Was bedeutet 'mikro-' in Mikropolitik? .................................................................... 7 Beleg 1-3: Übersicht über Definitionselemente für Mikropolitik (Drory & Romm 1990)............................................................................................ 11 Beleg 1-4: Die häufigsten Definitionsmerkmale von Mikropolitik ......................................... 16 Beleg 1-5: Political Skill Inventory (PSI) ................................................................................ 56 Beleg 1-6: Interpersonal and Organizational Deviance Scale (Bennett & Robinson 2000)...................................................................................... 64 Beleg 1-7: Kontraproduktives Arbeitsverhalten (Gruys & Sackett 2003) ............................... 65 Beleg 1-8: Kontraproduktives Arbeitsverhalten (Marcus 2000) ............................................. 65 Beleg 1-9: Zur Dimensionalität 'extra-produktiven' Verhaltens .............................................. 73 Beleg 1-10: Beispiele für eigenverantwortliches Handeln......................................................... 75 Beleg 1-11: Mikropolitik aus aspektualer und konzeptualer Sicht ............................................ 79 Beleg 2-1: Die 14 Kategorien von Einflusstaktiken, die aus den 'How-I-get-my-way'-Essays destilliert wurden (Kipnis, Schmidt & Wilkinson 1980)......................................... 87 Beleg 2-2: Die 9 Dimensionen des IBQ (in der Fassung von Yukl, Falbe & Youn 1993) ..................................................... 89 Beleg 2-3: Beispiele für weitere Taktik-Listen ........................................................................ 90 Beleg 2-4: Die 16 Items des "Blickle Inventars" - Iteminhalte der Einflussskalen (Blickle 2003) ......................................................................................................... 92 Beleg 2-5: Vergleich von sechs Systematisierungen von Einflusstaktiken ............................. 95 Beleg 2-6: Ein Blick auf den Forschungsalltag........................................................................ 96 Beleg 2-7: Alternative methodische Zugänge zur Erfassung mikropolitischer Taktiken .......... 97 Beleg 2-8: Zur Kritik der Fragebogen-Methodik (Miller, Boster, Roloff & Seibold 1987) ............................................................... 118 Beleg 2-9: Methode der Kritischen Ereignisse ...................................................................... 122 Beleg 2-10: Operationalisierungen von "Rationalität" ............................................................ 125 Beleg 3-1: Beispiele für Machiavellismus-Items (aus der Skala von Henning & Six 1977) .............................................................. 160 Beleg 3-2: Beispiel Einschmeicheln....................................................................................... 169 Beleg 3-3: Argumente gegen und für extrinsische Motivation .............................................. 209 Beleg 4-1: Measure of Ingratiating Behavior in Organizational Settings (MIBOS, Kumar & Beyerlein 1991) .................................................................... 252 Beleg 4-2: Impression Management Karriere-Strategien (Rosenfeld, Giacalone & Riordan 2002).............................................................. 254 Beleg 4-3: Das Flow-Erlebnis (nach Csikszentmihalyi 2003, in der Fassung von Küpers & Weibler 2005) ........................................................ 271 Beleg 4-4: Prozessmodelle ..................................................................................................... 291 <?page no="16"?> XVI Belegverzeichnis ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 5-1: Ethik-Theorien - reformuliert als Handlungsmaximen........................................ 341 Beleg 5-2: Die Position Milton Friedmans (1970 bzw. 1990) ................................................ 366 Beleg 5-3: Im Geschäftsleben ist bluffen ethisch! Der Standpunkt Carrs (1968) ................. 375 Beleg 5-4: Exkurs: Der Fall Ford Pinto ................................................................................. 378 Beleg 5-5: Die Positionierung ethischer Grundsätze zwischen antagonistischen Forderungen.......................................................................................................... 394 Beleg 5-6: Ethische Praktiken im Unternehmen .................................................................... 395 Beleg 5-7: Die Struktur des Gefangenen-Dilemmas.............................................................. 409 Beleg 5-8: Der systematische Ort der Moral in Homanns Konzeption ................................. 418 Beleg 5-9: Adiaphorisierung .................................................................................................. 436 Beleg 5-10: Bedingungen eines herrschaftsfreien Diskurses (Ulrich 1981)............................ 440 Beleg 5-11: Schopenhauer und Nietzsche über Kants kategorischen Imperativ...................... 539 Beleg 5-12: Der Hai im Management ...................................................................................... 545 <?page no="17"?> Tabellenverzeichnis Tab. 1-1: Typologie Mintzbergs (1983) (nach Schirmer 2000) ............................................. 49 Tab. 1-2: Die vielen Namen und Facetten kontraproduktiven und extra-produktiven Handelns in Organisationen ................................................................................... 60 Tab. 1-3: Das Kontinuum der Mikropolitik ........................................................................... 61 Tab. 1-4: Extreme devianten Verhaltens................................................................................ 62 Tab. 2-1: Die meistuntersuchten Einfluss-Taktiken (Ferris, Hochwarter, Douglas, Blass, Kolodinsky & Treadway 2002).................. 93 Tab. 2-2: Blickles Zusammenstellung der wichtigsten Einflusstaktiken ............................... 94 Tab. 2-3: Eine Gegenüberstellung von 'neutral' und 'negativ' konnotierten Taktiken ......... 100 Tab. 2-4: Zur Kontrastierung unipolar konzipierter Taktiken mit möglichen Gegenpolen ................................................................................... 101 Tab. 2-5: Ergebnisse der Metaanalyse von Higgins, Judge & Ferris (2003) ...................... 112 Tab. 2-6: Korrelationen zwischen Einflussstrategien von Untergebenen und deren Wahrnehmung durch Vorgesetzte (aus Rao, Schmidt & Murray 1995) ................ 116 Tab. 2-7: Übereinstimmung bei der Beurteilung von Urteilstaktiken aus drei Perspektiven (Blickle 2003) ..................................................................... 117 Tab. 2-8: Einfluss nach unten (Dosier, Case & Keys 1988) ................................................ 145 Tab. 2-9: Einfluss nach oben (Case, Dosier, Murkinson & Keys 1988).............................. 146 Tab. 3-1: Gegenüberstellung der berücksichtigten Persönlichkeits-Konstrukte aus sechs Studien.................................................................................................. 158 Tab. 3-2: Gegenüberstellung von Kontext-Konstrukten aus vier Studien ........................... 161 Tab. 3-3: Bedingungen, die die Beziehung zwischen Taktik und Erfolg beeinflussen können - ein Demonstrationsbeispiel.............................................. 164 Tab. 3-4: Hierarchie vs. Autonomie..................................................................................... 175 Tab. 3-5: Formalisierung vs. Improvisation......................................................................... 175 Tab. 4-1: Informationsasymmetrien in einer Principal-Agent-Beziehung (Breid 1995) ..... 296 Tab. 5-1: Die Ford-Kalkulation im Ford-Pinto-Fall (Shaw 2002) ....................................... 379 Tab. 5-2: Die Modellrechnung der National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) für die Kosten eines Verkehrstoten (im Jahr 1972) (Shaw 2002) ............ 379 Tab. 5-3: Rule taking vs. rule making.................................................................................. 470 Tab. 5-4: Die Folgen von Regeltreue und Regelverletzung................................................. 483 Tab. 5-5: Gegenüberstellung moralischer Entwicklungsstufen (nach Kohlberg bzw. Rest) und mikropolitischer Taktiken ..................................... 535 <?page no="19"?> 1. Das Konstrukt Mikropolitik: Dimensionen, Bewertungen, Abgrenzungen Überblick Das Thema Mikropolitik hat in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Karriere gemacht: In den 80er Jahren noch kaum präsent in der Fachdiskussion, hat sich inzwischen eine intensive, auch empirisch fundierte Auseinandersetzung etabliert. Nach wie vor ist allerdings das Bedeutungsspektrum des Terminus Mikropolitik extrem weit. Der erste Teil des Kapitels ist deshalb der inhaltlichen Analyse des Konstrukts gewidmet. Dazu wird - nach einigen Definitionsbeispielen - in der Art einer Facettenanalyse die dimensionale Struktur herausgearbeitet, die sich aus den Verwendungsweisen des Begriffs rekonstruieren lässt. Die angebotene Arbeitsdefinition enthält nicht alle diese Dimensionen, sondern setzt Akzente. Neben der lexikalischen Analyse wird eine theoretische Einordnung versucht, in der eine Verortung im Rahmen dreier konstitutiver Pole (Polity, Policy, Politics) vorgenommen wird. Die kontroverse Bewertung von Mikropolitik wird demonstriert anhand der Standpunkte prominenter Kritiker und durch die Kommentierung eines verbreiteten Fragebogens, der die Wahrnehmung von Mikropolitik in Organisationen zum Thema hat. Abschließend wird Mikropolitik abgegrenzt von anderen strategischen Arbeitsorientierungen (kontraproduktives und extraproduktives Arbeitsverhalten), die insbesondere in der organisationspsychologischen Literatur einen hohen Stellenwert haben. 1.1. Mikropolitik als polarisierendes Thema Wählt man Mikropolitik als Forschungsthema, muss man sich rechtfertigen. Allzu schnell wird man in eine Schmuddelecke gestellt ("Mikropolitik ist abweichendes, selbstsüchtiges, pathologisches Verhalten! ") oder als Diabolos geoutet (als Durcheinander- und Umwerfer aller Werte und Begriffe). Die Verteufelung <?page no="20"?> 2 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ scheitert, wenn Mephisto als Teil von jener Kraft gesehen wird, die zwar das Böse(? ) will, aber stets(? ) das Gute schafft. Beim Projekt der "Entbösung des Bösen" bzw. der "Malitätsbonisierung" (Marquard 1984, 45f.; 1986, 21ff.) kann man, um das Bösgute oder Gutböse zu erklären (s.a. Musil 1988, 822f.), auf anthropologische Konstanten oder äußere Einflüsse zurückgreifen; dabei werden aber Geister gerufen, die man vielleicht nicht mehr loswird. Sinnvoller erscheint es, das (scheinbar) Negative nicht zu externalisieren, sondern als unverzichtbaren und produktiven Teil des Ganzen zu würdigen. Das ist ein zentrales Anliegen meiner Ausführungen. Mikropolitik hat unscharfe Konturen und zeigt sich in einer Vielzahl von Erscheinungsformen. Der hochgehaltenen Ideologie rationalen Organisierens setzt die Rede von Mikropolitik eine Alternative entgegen, die, weil sie die Hegemonie des herrschenden Paradigmas herauszufordern scheint, heftige Reaktionen ausgelöst hat. Das hat dem Thema anfänglich Aufmerksamkeit gesichert, weil der Kontrast zum gewohnten Diskurs erheblich war: Was sonst in einer eigenen Domäne des 'Politischen' abgesondert und verwahrt blieb, wurde zur Facette alltäglichen, ja sogar erforderlichen Handelns in wirtschaftlichen Unternehmen erklärt. Der vorherrschende Effizienz- und Effektivitäts-Diskurs, der allein sachrationale Argumente gelten ließ, wurde konfrontiert mit einer scheinbar konträren Sichtweise. Nicht mehr um Zielerreichung und Effizienzmaximierung in der gemeinsamen Sache, sondern um die Durchsetzung persönlicher Interessen sollte es gehen. Wie immer, wenn ein bislang tabuisiertes Thema zur Sprache gebracht wird, ist argumentative Lagerbildung die Folge: die Einen, sie seien als Vertreter des geltenden Paradigmas die Abwehrspieler genannt, verteidigen die reine Lehre als in sich stimmig, integrationsfähig und theoretisch wie empirisch bewährt, während die Angreifer auf blinde Flecken, Ungereimtheiten, Praxisferne und Modellplatonismus der Mehrheitsposition hinweisen. Bei ideologiehaltigen Kontroversen erkennt man meist, wenn sich das Kampfgeschrei gelegt hat, dass die Positionen gar nicht so weit auseinander sind. Im herrschenden Rational-Paradigma gab es immer schon Kritik, die auf Anomalien, Lücken und Widersprüche hinwies (s. Neuberger 2002), und einige der mikropolitischen Rebellen erwiesen sich bei näherem Hinsehen als nur in der Wolle gefärbte Orthodoxe, denn auch ihnen ging es um rationale Zielverfolgung, instrumentelle Vernunft und technische Optimierung. Obwohl der Stellungskrieg beendet ist, gibt es immer noch versprengte Partisanen, die bereits geräumte Positionen zurückerobern wollen. Mikropolitik wird meta- <?page no="21"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 3 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ phernträchtig charakterisiert als bösartiges Krebsgeschwür, tückische, äußerst ansteckende Infektionskrankheit, oder gar als Aids der Organisation, die deren Autoimmunsystem zerstört. In Organisationen mache sich Paranoia bereit: Man könne niemand mehr glauben und vertrauen, denn alles komme unter Politikverdacht, der die Wirklichkeit erst herstelle, die er anfangs nur unterstelle. Die Überzeugungskraft und Wucht der eigenen Argumente wird gesteigert, wenn ein Schrecken erregender Popanz aufgebaut wird, den jeder vernünftige Mensch verabscheuen muss. Das Feindbild wird als holzschnittartig vereinfacht und in scharfen schwarz-weiß Kontrasten gezeichnet. Effektvolle (oder effekthaschende? ) Maltechniken sind Einseitigkeit, Extremisierung, Unterstellung etc. Im Klartext lauten die suggestiven rhetorischen Fragen: Wo kämen wir hin, wenn - alle Mikropolitik betrieben? Wenn Mikropolitik zur sozialen Norm würde, der sich niemand mehr entziehen kann, weil er sonst stets 'der Dumme' wäre? Wenn nur noch MikropolitikerInnen das Sagen hätten? - immer, in jeder Situation mikropolitisch gehandelt würde? Zwangsläufig komme es zur spiraligen Eskalation immer raffinierterer Kontertaktiken. - nichts als Mikropolitik existierte, also nicht auch noch anderes Verhalten gezeigt würde, z.B. niemand mehr Sachaufgaben ('Knochenarbeit') erledigte? - Mikropolitik in extremster Form und kompromisslos praktiziert würde (nur noch unverschämte Lügen, dreistes Bestechen, heimtückisches Intrigieren, bedenkenlose Manipulation …)? - Mikropolitik allein in negativer, böser Absicht praktiziert würde (stören, schaden, benachteiligen, ausbooten)? - Mikropolitik technisch perfektioniert auf Basis ausgeklügelter strategischer Pläne systematisch kalkuliert und implementiert würde? - Mikropolitik sich so gut tarnte, dass sie hinter einer schönen, scheinbar sachlichen Fassade gar nicht mehr erkennbar ist? Wenn alles unter Mikropolitikverdacht gestellt werden muss und Paranoia zur gesunden Reaktion wird? Relativierende Sichtweisen bleiben dabei ausgeblendet bzw. werden, dem Prinzip "Wehret den Anfängen! " folgend, als Verschleierungstaktiken denunziert. Die Mobilisierung gegen Mikropolitik bedient sich einer Angst- und Schreckenskulisse. Macht man jedoch die Dämonisierung von Mikropolitik nicht mit, läuft man Gefahr ins andere Extrem der Verharmlosung zu fallen: Dieser Position zufolge werden mikropolitische 'Spielchen' zwar praktiziert, aber nur von Einzelnen, vereinzelt, dosiert, bedingt und reaktiv, häufig gedankenlos und manchmal sogar in produktiver <?page no="22"?> 4 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ bzw. positiver Absicht bzw. Wirkung, sie seien ein Zeichen von Veränderungsbereitschaft oder Lernfähigkeit, ja selbst moralisch reflektierte Mikropolitik gäbe es (Stichwort Whistle Blowing). Auf diese Weise wird Mikropolitik zur Reparaturaktion oder zur verzeihlichen Panne, weil Menschen nun einmal nicht vollkommen sind. Statt sich auf die Realität von Mikropolitik zu fokussieren, kann man auf den Diskurs über sie Bezug nehmen, und ihm - wie jedem Diskurs - mehrere Funktionen unterstellen: - Thematisieren. Ein (Gesprächs-)Gegenstand wird erzeugt, neue Begriffe werden geprägt, um verstreute, verdrängte Erfahrungen zu bündeln. Dadurch wird spezifische Sprachlosigkeit beendet; ein neues Handlungsfeld kann 'in Angriff genommen werden' (Beispiel: Mobbing). Wirklichkeit wird geordnet und orientiert. Die Fokussierung hat auch den Effekt, die knappe Ressource Aufmerksamkeit zu binden. - Normalisieren. Die Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit des Themas wird suggeriert ["Es ist nichts Besonderes, alle machen es! ", "Nichts Neues, gab es immer schon! " (siehe den Diskurs über Sexualität)]. (Un-)Beabsichtigte Wirkungen sind Verharmlosung, Beruhigung und Ent-Schuld(ig)ung; es wird eine richtige oder normale Praxis des Umgangs mit dem Thema etabliert und trainiert; im Weiteren wird diese Praxis perfektioniert oder gar kultiviert. - Polemisieren. Im Unterschied zur Normalisierung geht es hier darum, das Andere der Mikropolitik zu idealisieren und als verlorenen Wert und preisgegebene Tradition zu etablieren. Damit soll - moralisierend, konservativ - Gegnerschaft aktiviert und Rechtfertigungsdruck erzeugt werden. Mikropolitik wird als Fehlentwicklung und Verfallssymptom dechiffriert und denunziert. - Ablenken von anderen Diskussionsthemen und Erfahrungen. Das kann z.B. über 'Personalisieren' geschehen. Beispiel: "Nicht das System ist ungerecht und muss geändert werden, sondern unmoralische Personen pervertieren es! Entferne/ kuriere sie - und alles wird gut! ". Eben damit wird dann Strukturschutz betrieben: nicht die Verhältnisse, das Verhalten soll sich wandeln. 1.2. Was ist mit Mikropolitik gemeint? Um das Terrain abzustecken, auf das sich die Untersuchung bezieht, soll zunächst einmal sondiert werden, was verschiedene Beteiligte meinen, wenn sie sich im Mikropolitik-Diskurs engagieren. Die Kriterien, durch die mikropolitisches Handeln von anderem Handeln (z.B. sachzielbezogenem oder rationalem) abgegrenzt wird, sind außerordentlich umstritten. <?page no="23"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 5 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Will man über stark vereinfachende Typologien hinauskommen, lohnt es sich die den üblichen Mikropolitik-Definitionen zu Grunde liegenden Dimensionen zu untersuchen. Ich werde das im Folgenden in zwei Schritten tun: Zunächst zitiere ich als Bezugsobjekte oder Ideenlieferanten einige Mikropolitik-Definitionen und dann werde ich die darin enthaltenen (oder übersehenen) Dimensionen herausarbeiten. 1.2.1. Einige Mikropolitik-Definitionen Mikropolitik ist - seit Burns den Terminus in die Diskussion eingeführt hat 2 - ein umstrittener Gegenstand. Beleg 1-1: Beispiele für Mikropolitik-Definitionen (Eine gewisse Großzügigkeit ist vonnöten, wenn die folgenden Überlegungen Schopenhauers als Definition von Mikropolitik avant la lettre durchgehen sollen; mir kommt es vor allem auf die letzten 4-5 Zeilen an): "Die Ausübung des Unrechts überhaupt betreffend, so geschieht sie entweder durch Gewalt, oder durch List; welches in Hinsicht auf das moralisch Wesentliche einerlei ist. Zuvörderst beim Morde ist es einerlei, ob ich mich des Dolches, oder des Giftes bediene; und auf analoge Weise bei jeder körperlichen Verletzung. Die anderweitigen Fälle des Unrechts sind allemal darauf zurückzuführen, daß ich, als Unrecht ausübend, das fremde Individuum zwinge, statt seinem, meinem Willen zu dienen, statt nach seinem, nach meinem Willen zu handeln. Auf dem Wege der Gewalt erreiche ich dieses durch physische Kausalität; auf dem Wege der List aber mittelst der Motivation, d.h. der durch das Erkennen durchgegangenen Kausalität, folglich dadurch, daß ich seinem Willen Scheinmotive vorschiebe, vermöge welcher er seinem Willen zu folgen glaubend, meinem folgt" (Schopenhauer o.J./ 1859, Bd. I, 445). Nach Pettigrew (1973) geht es bei organisationaler Politik um das Setzen von Zielen, den Anspruch auf Vorteile (assets) und das Finden/ Organisieren von Unterstützung, um sie zu bekommen. Es ist Mikropolitik, wenn "… Verhalten strategisch geplant wird, um kurz- oder langfristige Eigeninteressen zu maximieren, die entweder übereinstimmen mit den Interessen anderer oder auf ihre Kosten gehen …" (Ferris, Russ & Fandt 1989, 145). Organisationsmitglieder nutzen "… Ressourcen …, um ihren Anteil an einer Transaktion auf eine Weise zu vergrößern oder zu sichern …, die Widerstand auslösen würde, … wenn sie von der oder den anderen Partei(en) der Transaktion erkannt würde" (Gandz & Murray 1980, 238). In Organisationen finden ständig Einflussversuche statt, "… die außerhalb der Verhaltenszonen liegen, die durch die formale Organisation vorgeschrieben oder verboten sind" (Porter, Allen & Angle 1981, 106). 2 "Verhalten wird als politisch identifiziert, wenn in Konkurrenzsituationen Andere als Ressourcen genutzt werden" (Burns 1962, 257). <?page no="24"?> 6 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ "Mikropolitik besteht geradezu aus der strategischen Bezugnahme von Akteuren auf soziale Strukturen - Regeln und Ressourcen -, die mikropolitisches Handeln restringieren und ermöglichen, und die auf diese Weise produziert, reproduziert und unter Umständen Verändert werden" (Ortmann 1995a, 182). "(Mikropolitik ist) … die Bemühung der Akteure die organisationseigenen materiellen und menschlichen Ressourcen zur Erreichung persönlicher Ziele und Befriedigung individueller Interessen einzusetzen" (Hennig 1998, 4). "Damit überhaupt von politischem Verhalten in Organisationen sinnvoll die Rede sein kann, müssen wenigstens - zwei Akteure identifizierbar sein, - mit minimalen wechselseitigen Abhängigkeiten, und - wenigstens von einem Akteur müssen Interessendivergenzen wahrgenommen werden, die - einen (potenziellen) Konflikt umschreiben" (Schirmer 2000, 108). "In Begriffen, die für die Organisationsentwicklung relevant sind, kann Mikropolitik (organizational politics) definiert werden als der Einsatz von Macht, um die Austauschstruktur einer Organisation zu ändern oder zu schützen. Eine Austauschstruktur ist zusammengesetzt aus dem Ressourcenverteilungs-System einer Organisation und denen, die die formale Autorität haben zu entscheiden, für welche Zwecke die Ressourcen eingesetzt werden. Eine Austauschstruktur im Gleichgewicht repräsentiert den Status Quo und ist 'legitim'" (Cobb & Margulies 1981, 50; kursiv im Original). "Mikropolitik ist somit als ein Geflecht von Verhandlungsprozessen im Schatten der Formalstruktur zu bezeichnen, die durch Macht koordiniert werden. Es ist also ein zielgeleiteter politischer Prozess des Aufbaus, der Sicherung und des Einsatzes von Macht" (Naumov 2001, 39). "Wir möchten also den Begriff Mikropolitik als ein organisationstheoretisches Konzept verstanden wissen, das konsequent von der Perspektive Interessen verfolgender Akteure ausgeht, um das Organisationsgeschehen als Gesamtheit von Struktur und Handlung verknüpfender Prozesse zu erklären. In diesen Prozessen erzeugen, nutzen und sichern Akteure organisationale Ungewissheitsbereiche als Machtquellen, um ihre Autonomiezonen aufrecht zu erhalten bzw. zu erweitern; zugleich wird hierdurch kollektives Handeln ermöglicht und reguliert ..." (Küpper & Felsch 2000, 152) (Diese Definition findet sich fast wortgleich auch in Brüggemeier & Felsch 1992, 135). "Ausgehend von der Annahme, dass Organisationen aus interagierenden Individuen und Koalitionen bestehen, bezeichnet Mikropolitik diejenigen intentionalen Aushandlungsprozesse im Spannungsfeld von Individuum und Organisation, die der Verwirklichung und dem Ausgleich unterschiedlicher Ziele und Interessen der Organisationsmitglieder dienen und aus denen sich in der Regel Auswirkungen auf die Machtstruktur des Unternehmens ergeben" (Bone-Winkel 1997, 90). "Im Folgenden wird unter dem Politischen im Unternehmen - womit Politik bzw. politische Phänomene als synonyme Terme eingeschlossen werden - ein kollektives Handlungsmuster individueller Akteure bei Interessendivergenz verstanden" (Huber 2001, 70). "… Organisationale Politik gründet sich auf intra-organisationale Einflusstaktiken, die Organisationsmitglieder einsetzen, um auf verschiedene Weise eigene Interessen oder Organisationsziele zu fördern" (Vigoda 2003, 31). <?page no="25"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 7 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bevor ich die Inhalte dieser Definitionen analysiere, gehe ich noch kurz auf die Vorsilbe 'mikro' ein, die das Politische oder Politisierende qualifiziert. In der englischsprachigen Literatur ist als Synonym für Mikropolitik 'organizational politics' verbreitet. Damit konzentriert sich Aufmerksamkeit auf 'politics' als einem Pol der Trias des Politischen. Auf diese Differenzierung komme ich später noch zu sprechen (siehe S. 27-31). Zunächst aber sollen in einem kleinen Exkurs verschiedene Lesarten von 'mikro-' skizziert werden (siehe Beleg 1-2). Beleg 1-2: Was bedeutet 'mikro-' in Mikropolitik? Die folgenden Möglichkeiten kommen in Betracht: Miniatur-Politik: Damit wird der Kontrast zur Makropolitik herausgestellt. Oft wird diese Opposition in abwertender Absicht verwendet: Von Belang ist nur die 'große', die eigentliche Politik, Mikropolitik ist deren Kümmerform, eine Klein- oder Alltagskunst, der jegliche Aura fehlt. Eine andere Variante ist die kontrastierende Gegenüberstellung von Mikroökonomie und Mikropolitik(s. Pirie 1988, 127ff.). Während sich die Mikroökonomie auf die Modellierung von Akteurs-Entscheidungen in ökonomischen Märkten konzentriert, geht es der Mikropolitik in einer Art Stückwerkstechnologie ohne großartigen Generalstabsplan darum, die ungeplanten, spontanen Entscheidungen und Handlungen von Akteuren in politischen Märkten zu beeinflussen. Inferiore Politik: Auch hier beschränkt sich das mikropolitische Treiben auf die Unterlegenen, Unteren; es ist kurzsichtig auf den Umkreis persönlicher Lageverbesserung beschränkt. Marginalisiert im Makro-Chaos der Großpolitik streben die 'kleinen Leute' einen Mikro- Kosmos an, in dem sie zählen und Ordnung schaffen. "Trautes Heim, Glück allein"; so schief wie dieser Reim ist auch der Versuch, das saubere und ordentlich aufgeräumte Wohnzimmer oder das unkrautfreie, überschaubare und beherrschte Schrebergärtchen zum Modell für den betrieblichen Raum zu machen. Minoritäten-Politik: Es ist nur eine kleine Zahl, die machthungrig, quertreiberisch, rebellisch den Kampf gegen die etablierte Ordnung propagiert; alle anderen machen ihre Sach-Arbeit. Einige wenige scheren aus der Gemeinschaft der Vielen aus, die durch die geltende Ordnung gebunden sind, und leben ihre Phantasien von Befreiung und Selbstbestimmung. Tiefenpolitik: Es geht um die oft verleugneten, anstößigen Unterströmungen der Politik analog der Tiefenpsychologie und "Tiefenmoral". Die Pointe kommt in einem oft zitierten Bonmot zum Ausdruck: Wer Würste und Gesetze (wahlweise: Politik) liebt, sollte nicht zusehen, wie sie gemacht werden. Zu dieser Untergrund-Politik lässt sich eine Halb- oder Unterwelt der Organisation assoziieren, die lichtscheu ihren schmutzigen Geschäften nachgeht. Einen anderen Akzent setzen Frost & Egri (1991b), wenn sie zwischen Oberflächen- und Tiefenpolitik unterscheiden, weil sie auf die Differenz von 'sichtbar, manifest' und 'verborgen, generativ' abheben. <?page no="26"?> 8 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Subversive Binnen-Politik: Eine Politik, bei der es nicht ums Ganze geht in der Auseinandersetzung mit fremden (Gegen-)Mächten, bei der vielmehr interne Spannungen und Spaltungen erzeugt und genutzt werden, um in Kleinkrieg und Nah-Kampf Geländegewinne zu machen oder in Partisanen- oder Guerilla-Taktik aus dem Hinterhalt anzugreifen, zu sabotieren und zu unterminieren. 3 Das Untergraben etablierter Ordnungen ist verbunden mit dem unbescheidenen Anspruch, an ihre Stelle selbst geschaffene neue setzen zu können. Subpolitik: Damit ist die Entgrenzung, Fragmentierung und Diffusion der Politik gemeint: sie ist nicht mehr den großen Machern reserviert, sondern wird von allen überall betrieben und droht sich in der "Fixierung auf lokale Fragen und Probleme zu verzetteln" … "Die Atopie der Politik hat die politische Utopie abgelöst" (Jain 2005, 2). Dies läuft letztlich auf Entpolitisierung hinaus: Mikropolitik ist so wenig politisch, dass Türk (1989, 1993) sie sogar 'apolitisch' nennt, weil ihr die Merkmale großer, echter(! ) Politik fehlen. Minimal-Politik: Analog fernöstlicher Kampfkunst soll mit kleinstem Kraftaufwand größtmögliche Wirkung erzielt werden; es geht um Meisterschaft im mikroskopisch Kleinen, die mit geringem, aber gezieltem Einsatz ("Druckpunkte"! ) operieren kann, weil sie sich die Energien der anderen Seite zunutze macht. 4 Mickrige Politik: Diese Art von Politik wird als minderwertig, niedrig, degeneriert, unaristokratisch, missraten denunziert; sie ist moralisch klein, verlogen, feige, nicht mutig und direkt, nicht konfrontativ und gerade heraus, heimtückisch, lichtscheu, verschlagen, kriecherisch, verächtlich, gemein, krankhaft … Wie aus dem Beleg 1-2 hervorgeht, lässt sich auch hier kein Konsens, aber eine produktive Deutungsvielfalt feststellen. Gerade oftmals nicht bewusst reflektierte Nebenbedeutungen von Mikropolitik können der zuweilen recht deutlich vorgetragenen Abwertung intraorganisationaler Einflussprozesse zu Grunde liegen. 3 "Macht ist Krieg, der mit anderen Mitteln fortgesetzte Krieg. [Man kann] die Aussage von Clausewitz umkehren und sagen, dass die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist [...] Politik wäre also Sanktionierung und Erhaltung des Ungleichgewichts der Kräfte, wie es sich im Krieg manifestiert" (Foucault 2001, 32). [...] "Nun, glaube ich, besteht das Problem weniger darin zu erfahren, wer den Grundsatz von Clausewitz umgedreht hat, als vielmehr darin, welchen Grundsatz Clausewitz umgedreht hat, oder besser, wer den Grundsatz formuliert hat, den Clausewitz umgedreht hat, als er sagte, der Krieg ist nur eine Fortsetzung der Politik" (a.a.O., 63). "Einhergehend mit dieser Verstaatlichung [z.B. der Armeen, O.N.] verschwand aus dem Gesellschaftskörper, aus der zwischenmenschlichen Beziehung das, was man den alltäglichen Krieg nennen könnte und tatsächlich den 'Privatkrieg' nannte" (a.a.O., 64). Wenn der alltägliche Privat-Krieg je aus den menschlichen Beziehungen verschwunden sein sollte, dann hat er jedenfalls in der Mikropolitik eine Renaissance erlebt! 4 "Das sind spermatische Gründe zu handeln ( σπερματιχοι λογοι rationes seminales). Klein aber wichtig zu VIELEM" (Lichtenberg 2005, 482). <?page no="27"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 9 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 1.2.2. Welche Dimensionen liegen den Mikropolitik-Definitionen zu Grunde? Mikropolitik - so resümieren Fedor, Ferris, Harrell-Cook & Russ (1998) verschiedene Studien - werde unterschiedlich definiert; eine "überwältigende Mehrheit von Definitionen" (a.a.O., 1764) stimme in folgenden Merkmalen überein: 1. Es handelt sich um von der Organisation nicht gebilligtes, selbstdienliches Verhalten, 2. das den organisationalen Zielen oder den Interessen anderer Organisationsmitglieder entgegengesetzt ist und 3. in sich entzweiend und konkurrierend ist und 4. potenziell zum Nachteil Anderer auf die Erlangung individueller Macht gerichtet ist. Nun ist es mit der Übereinstimmung mit der 'überwältigenden Mehrheit von Definitionen' so eine Sache: Eat shit, a million flies cannot err. Vielleicht führt es weiter, von den Abweichungen und den Unterschieden auszugehen, weil von diesen Rändern her das Vorläufige, Suchende und Offene besser zum Ausdruck kommt und das Denken, wenn man den Mainstream verlässt, nicht aufs bloße Nach-Denken reduziert wird. Die Auseinandersetzung über die 'richtige' Definition von Mikropolitik mag als unentscheidbarer Streit um Worte erscheinen. Dem Signifikanten entspricht ohnehin kein reales, objektives Signifikat. Was gemeint ist, wird durch den Verweisungszusammenhang der Begriffe erzeugt, die einander bestimmen. Also müsste, wer einen Begriff gebraucht, auch die anderen nennen, in deren Netz er ihn verortet. Die Frage ist nun, ob alle, die über eine Sache reden, dieselben Referenzbegriffe nutzen und ob sie unter diesen dasselbe verstehen, denn natürlich haben auch die Referenzbegriffe keine fixe, ein-deutige, endgültige Bedeutung. Ein Spiel ohne Ende ist eröffnet. Der Ausweg, sich nicht auf Worte, sondern aufs Tun (Operationalisierung) festzulegen, entrinnt dem Problem nicht, weil Handeln unbegriffen - eben - nicht zu verstehen ist. Welches Netz wird geflochten? Und sieht es für literaturgesättigte Forscher (deutsche, US-amerikanische, israelische, französische) genauso aus wie für die zu Schiedsrichtern ernannten, in diesen Ländern befragten Organisationsmitglieder, denen Items vorgelegt werden, mit deren Hilfe sie den Politisierungsgrad ihrer Organisation zu beurteilen haben? <?page no="28"?> 10 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Ich greife zur Illustration ein Beispiel heraus: Drory & Romm haben in zwei Arbeiten (1988, 1990) das Erleben von 'Organizational Politics' durch Organisationsmitglieder erfasst. In der 1988-Studie befragten sie 156 MitarbeiterInnen mit 15 systematisch variierten, an bestimmten Leitdifferenzen orientierten Szenarien. Beispiel: Item 1: "John und Jack sind Abteilungsleiter in derselben Organisation. John möchte einen Kleincomputer für die beiden Abteilungen kaufen. Um ihn zu überzeugen, geht John informell auf Jack zu und bietet Unterstützung für Jacks Vorschläge bei der nächsten Abteilungsleiterbesprechung an, wenn Jack seinerseits mit ihm in Bezug auf den Computer zusammenarbeitet" (Drory & Romm 1988, 170). In den 15 Items wurden die folgenden Dimensionen variiert: formal vs. informell, legal vs. illegal, gegen die Interessen der Organisation gerichtet (vs. nicht), auf Machtgewinn gerichtet (vs. nicht), Konflikte induzierend (vs. nicht) und von verborgenen Motiven (vs. nicht verborgenen) gespeist. In ihrer israelischen Population fanden sie, dass informelles Verhalten (mehr als formal gedecktes oder illegales) als mikropolitisch erlebt wurde und dass 'Konflikt' bei der Etikettierung eines Handelns als 'mikropolitisch' keine Rolle spielte. Wichtiger aber ist, dass die Ergebnisse nahe legen, dass eine fixe Bedeutung von 'mikropolitisch' (derzufolge bestimmte Begriffselemente gegeben sein müssen) nicht existiert: "Diese Studie weist darauf hin, dass die Bedeutung politischen Verhaltens durch einen Satz von Elementen bestimmt wird, die zueinander kompensatorische Beziehungen haben. Die Natur dieser kompensatorischen Beziehung ist derart, dass, wenn Element A vorhanden ist, das Hinzufügen des Elements B nicht dazu führt, dass die Situation als stärker politisch wahrgenommen wird. Wird jedoch das Element A durch ein anderes ersetzt, kann dasselbe Element B einen deutlichen Beitrag leisten zur Wahrnehmung des Verhaltens als politisch" (Drory & Romm 1988, 178). In ihrer 1990-Studie erweiterten sie das Raster der Definitionselemente. Sie differenzierten nun zwischen drei Kategorien (Ergebnisse, Mittel, Situationsmerkmale) und unterschieden innerhalb jeder Kategorie mehrere Bestimmungsmerkmale. Ich stelle im Folgenden diesen Ordnungsversuch dar und kommentiere aus meiner Sicht die einzelnen Definitionsbestandteile. <?page no="29"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 11 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 1-3: Übersicht über Definitionselemente für Mikropolitik (Drory & Romm 1990) 1) eigennützig (selbstdienlich). 2) gegen Organisationsziele gerichtet. 3) auf die Verteilung von Ressourcen oder Vorteilen gerichtet. 4) Machtgewinn. 5) Einflussversuche. 6) Machttaktiken. 7) informelles Verhalten. 8) Verbergen der eigenen Motive. 9) Konflikt. 10) Ungewissheit in einem Entscheidungsprozess. Kategorie I. Ergebnisse 1) Eigennützig (selbstdienlich). Da in einer (neo-)liberalen ökonomischen Tradition alles Verhalten als eigeninteressiert gilt, taugt dieses Merkmal nicht zur kategorischen Trennung von politischem und unpolitischem Handeln. Die Autoren retten sich in eine quantitative Abstufung: bei politischem Verhalten ist Eigennutz "stärker" ausgeprägt. Die Möglichkeit, dass politisches Verhalten Anderen nicht nutzt oder gar schadet, wird erwähnt, aber nicht weiter verfolgt. 2) Gegen Organisationsziele gerichtet. Die Autoren machen deutlich, dass allgemein(? ) als politisch etikettiertes Verhalten durchaus auch organisationsdienlich sein kann (z.B. Mitarbeiter zu Freizeitverzicht und Überstunden überreden) und dass Verhalten, das eigennützig und gegen die Organisationsziele gerichtet ist, keineswegs immer 'politisch' ist (wenn z.B. ein völlig unfähiger Mitarbeiter einen Antrag auf Beförderung stellt). 3) Auf die Verteilung von Ressourcen oder Vorteilen gerichtet. Die Autoren geben zu bedenken, dass etwas, das für den Einen ein Vorteil ist, für den Anderen ein Nachteil sein kann (z.B. eine Versetzung in eine andere Stadt) und dass die Verteilung durchaus auch rational begründet werden kann (z.B. auf Grund überlegener Leistungen erfolgt). 4) Machtgewinn. Macht gilt als Passepartout, der alle Türen aufschließt, hinter denen die organisationalen Schätze lagern. Dennoch argumentieren die Autoren, dass nicht alles politische Verhalten auf Machtaufbau zielt (es kann auch um Bequemlichkeiten gehen, oder die Unterstützung für einen Freund, romantische/ ero- <?page no="30"?> 12 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ tische Motive, Leistungssteigerung, exzessive Zahlungen an Vorstände, die ohnehin schon alle Macht haben). Einmal mehr läuft es auf die zentrale Frage der verfolgten Absichten hinaus und nicht auf das 'beobachtbare' manifeste Verhalten. Ein guter Fachmann verfügt über die Machtquelle Expertise - aber deren Einsatz zielt nicht unbedingt auf die Verbesserung seiner Machtposition, sondern kann dem Lösen eines herausfordernden Problems dienen und Bewunderung bei seinen Fachkollegen verschaffen. Kategorie II. Mittel 5) Einflussversuche. Alles Verhalten kann, wenn es Folgen hat, politisch sein. Das geht den Autoren zu weit: Für sie ist ausgemacht, dass ein offensichtlich 'selbstdienliches', weil Erleichterung verschaffendes Kratzen am Rücken, kein politischer Akt ist. Können sie sich da so sicher sein? Wäre es, ausgeführt als Staatsgast zu Tisch mit der englischen Königin, nur eine Unhöflichkeit oder schon ein Affront gegen die Repräsentantin einer stolzen Nation? Einfluss - so sagen sie - setzt mindestens zwei Beteiligte voraus: Akteur und Zielperson. Aber das ist unspezifisch, solange nicht die Art der Beziehung zwischen beiden erhellt wird. Ist die wesentliche Qualifikation, dass es um intendierte (und damit natürlich: genau bezeichnete) Veränderungen bei Alter geht, die allein dem Tun Egos zuzuschreiben sind? Unausweichlich ist, das konzedieren Drory & Romm, dass man mit etwas Unbeobachtbarem, aus Indizien Erschlossenen hantiert. Müßig zu sagen, dass solche Attributionen alles andere als sicher sind. Man könnte den Akteur natürlich fragen - aber wer traut schon, wenn er politischem Handeln auf der Spur ist, Selbstaussagen (natürlich niemand, außer den Fragebogenforschern). 6) Machttaktiken. Politische Akteure wollen nicht nur Macht als Universal- Ressource (siehe oben), sie nutzen sie auch als Mittel. Als solches zeigt sie sich in den vielfältigen Taktiken, die die Beeinflusser nutzen; die Mikropolitik- Literatur wird dominiert von Listen solcher Taktiken. Aber hier wäre erst noch zu klären, was man meint: geht es um vorhandene Macht, die sich in verschiedenen Verkleidungen (Taktiken) ausdrückt, oder geht es um zunächst mehrdeutiges, unbestimmtes Handeln, das dadurch definiert (ausgegrenzt aus sonstigem Handeln) ist, dass es Macht erst generieren soll? Wenn es dabei keinen Erfolg hat, war es dann nicht politisch? Kann man Drory & Romm folgen, wenn sie behaupten, dass es überdies Machtausübung gibt, die nicht politisch ist (Ihr Beispiel: Wenn eine Vorgesetzte ihre formale Autoritätsposition nutzt, um das Routineverhalten eines Mitarbeiters zu beeinflussen, dann könne das "clearly be regarded as non-politi- <?page no="31"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 13 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ cal use of power" (a.a.O., 1141). Welches Power Mental Model (PMM) (siehe Fiol, O'Connor & Aguinis 2001) haben die AutorInnen im Kopf? Bei meinem PMM ist, was einen widerspenstigen Anderen auf Linie bringt, politisch, weil es den Anderen vom Verfolg seiner Ziele abbringt und ihn tun macht, was er sonst nicht getan hätte, weil er sich in einer politischen Ordnung oder Struktur findet, die es Ego legitimerweise erlaubt, Forderungen zu stellen und/ oder die Mittel an die Hand gibt, gegebenenfalls Alters Willen zu brechen. 7) Informelles Verhalten. An der Diskussion dieses Merkmals wird deutlich, warum Türk (1989, 1993) Mikropolitik ein apolitisches Politikkonzept genannt hat. Die Autoren sagen, dass die Durchsetzung organisationaler Ziele kein politisches Handeln ist. Sie gehen offenbar von der Normativität des Faktischen aus: Facta sunt servanda. Dass organisationale Ziele politisches Mach-Werk der herrschenden Koalition sind, entgeht ihnen ebenso wie die Tatsache, dass Zielen folgen genauso politisch ist, wie sich ihnen zu widersetzen. Denn: Strukturen, die die Kontingenz des Handelns einschränken, werden durch Gehorsam re-produziert und damit verstärkt. Bleibt der von einigen Forschern beschrittene Ausweg, die Mittel des Handelns auf ihre Politikhaltigkeit zu unterteilen in solche, die von "der Organisation" akzeptiert, gutgeheißen, gebilligt sind und solche, die dieses Gütesiegel nicht haben. Nun weiß man aber seit Machiavelli (1961/ 1513), dass der Zweck die Mittel heiligen kann und die Alltagserfahrung zeigt, dass sich mit einem Hammer nicht nur Nägel, sondern auch Köpfe einschlagen lassen. Also kommen die AutorInnen zu dem Schluss, dass man nur dann von 'nicht gebilligt' reden kann, wenn "jedes Mitglied der Organisation ein klares und gemeinsam geteiltes Verständnis von sowohl Zielen wie Mitteln hat, die von der Organisation gebilligt sind" (a.a.O., 1142). Abgesehen von der völlig unpolitischen Hypostasierung von "der Organisation" dürfte eine solche Klärung der Lage nie gelingen, weil Mittel nicht da sind, sondern fortwährend neu erfunden und verändert werden und weil in ähnlicher Weise das Zielsystem weder fix und widerspruchsfrei, noch operationalisiert, noch lückenlos bekannt oder bekannt gegeben ist. Damit in Zusammenhang steht die Frage, ob illegales Handeln kein politisches Handeln ist, weil und wenn es den Korridor vorgeschriebenen Handelns verlässt und ins Verbotene abdriftet. Aber: Wie genau ist das Vorgeschriebene vorgeschrieben und ist nicht gerade das buchstabengetreue Ausführen des Vorgeschriebenen (Dienst nach Vorschrift! ) eine politische Aktion? Unter Hinweis auf Pfeffer (1981) geben die AutorInnen zu bedenken, dass es Teil des politischen Spiels sein kann, im Interesse der eigenen Vorteilssicherung zu definieren, was als legitim(? ) zu gelten hat. Die Konsequenz: "Wenn das Studium der Mikropolitik beansprucht <?page no="32"?> 14 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ einen mutigen und realistischeren Blick auf die dunklere Seite des Organisationslebens zu werfen, dann sollte es solche Verhaltensweisen nicht unter den Teppich kehren" (Drory & Romm 1990, 1143). Das heißt: Auch illegales (oder illegitimes? ) Handeln kann politisch motiviert sein und sollte in der Liste der Taktiken berücksichtigt werden. 8) Verbergen der eigenen Motive. Tarnen, Verschleiern, Täuschen etc. sind viel genutzte mikropolitische Taktiken, aber das Kaschieren der eigenen Absichten ist kein notwendiger Teil der Mikropolitik-Definition, denn "man kann eine offene Strategie wählen und sich dem folgenden Widerstand stellen". Kategorie III. Situationsmerkmale 9) Konflikt. Gemeint ist die Grundsituation eines Nullsummenspiels: Die Verfolgung eigener Interessen geht auf Kosten der Interessen Anderer. Politisches Handeln ist somit nicht-konsensuelles Handeln. Was immer man tut, ist, wenn es auf den Widerstand Anderer trifft, politisches Handeln - egal welche Mittel, Ziele und Umstände beteiligt sind. Die AutorInnen lehnen zwar die zentrale Rolle von "Widerstand" ab, weil er aus Angst, Selbstunsicherheit, Aufwandskalkülen etc. unterbleiben kann, halten aber fest an der notwendigen Rolle von Konflikt mit der nun aber merkwürdigen Begründung "ohne Rücksicht darauf, ob er den beiden am politischen Tausch beteiligten Parteien klar bewusst ist oder nicht" (Drory & Romm 1990, 1144). Denn das unterscheide politisches Verhalten von prosozialem Verhalten. Auch dieser apodiktischen Setzung muss man nicht folgen: Prosoziales Handeln - wie es zum Beispiel ein Revolutionär für die Sache der Entrechteten definiert - kann durchaus politisch sein [es wendet sich gegen herrschende politische Strukturen und deren Privilegien und Norm(alisierung)en, die einseitig eine bestimmte Gruppe bevorzugen]. 10) Ungewissheit in einem Entscheidungsprozess. Liegen mehrdeutige, unsichere, widersprüchliche Informationen vor, so können verschiedene Handlungen gerechtfertigt werden und in diesem (absichtlich erzeugten? ) Nebel kann man vorteilhafte Optionen wählen, die bei völliger Transparenz und Eindeutigkeit ausgeschlossen gewesen wären. Auch hier wird wiederum eine ideale Grenzbedingung (A) formuliert (vollkommene Information), um das Abweichen davon (B) politisches Handeln zu nennen. Weil aber A nie erreicht wird, ist B alles (und hat damit keinen Unterscheidungswert). <?page no="33"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 15 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Resümee Der Klärungsversuch von Drory & Romm ist verdienstvoll und erhellend. Er führt die Vielzahl der Facetten vor Augen, die in Frage kommen, wenn man sich um eine klare Abgrenzung des Forschungsthemas Mikropolitik bemüht. Und er dokumentiert das Scheitern einer solchen Bemühung, sofern sie darauf gerichtet ist, eine einheitliche, verbindliche, allgemein akzeptierte Definition zu erarbeiten. Es lässt sich kein allgemein akzeptierter Set von Kriterien finden (oder besser: setzen). Das ist auch weder wünschenswert noch notwendig, sofern man offen legt, im Netz welcher Referenzbegriffe die Positionierung vorgenommen wird. Für ein Forschungsparadigma, das auf kumulative Wissensgenerierung setzt, ist das ein unbefriedigendes Resümee. Aber es bleibt - beim jetzigen Stand der Dinge - nichts anderes übrig, will man nicht autoritär dekretieren, was Sache(! ) ist, sondern die interessierten Forscher selbst bezeichnen lassen, was sie meinen und wo sie suchen. Forschung lässt sich nicht auf einen vorgeblich 'one best way' maßschneidern (taylorisieren). Hinzu kommt, dass die Gegenüberstellung von zwei polaren Extremen (legal - illegal, von der Organisation gutgeheißen - nicht gutgeheißen usw.) nicht der Praxissituation entspricht, in der es alle möglichen Zwischenstadien gibt, sodass nicht von einem Entweder-Oder, sondern einem Mehr oder Weniger auszugehen wäre. Die Differenzierungsvorschläge von Drory & Romm machen deutlich, dass man es sich nicht so einfach machen kann wie Mintzberg 1983 oder die Ferris-Gruppe in ihrem 1998-Resümee, Mikropolitik pauschal für dysfunktional und selbstsüchtig zu halten. 5 In der folgenden Übersicht (Beleg 1-4) stelle ich einige der am häufigsten benutzten Definitionsmerkmale von Mikropolitik zusammen, wobei diese Liste nicht als erschöpfende Aufstellung gemeint ist. Mikropolitik-Definitionen benutzen unterschiedliche Subsets von Kriterien und stimmen darin und deshalb nicht überein: 5 In späteren Arbeiten (Ammeter, Douglas, Gardner, Hochwarter & Ferris 2002 und Ferris, Perrewé, Anthony & Gilmore 2000) haben Ferris und seine Mitstreiter ihre Meinung geändert und sind von der dezidiert negativen Einstellung zu 'politics' abgerückt. Im 2002- Aufsatz schreiben die Autoren z.B.: "In diesem Artikel vertreten wir eine deutlich andere Auffassung von organisationaler Politik. Statt uns die Ansicht zu eigen zu machen, Mikropolitik stelle die 'dunkle Seite' des Mitarbeiterverhaltens dar, sehen wir sie als eine neutrale und in sich notwendige Komponente des Funktionierens von Organisationen" (754). <?page no="34"?> 16 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 1-4: Die häufigsten Definitionsmerkmale von Mikropolitik Merkmale Polaritäten 1. Nutznießer (Intentionen) Organisation Akteur 2. Nutznießer (Ergebnisse) Organisation Akteur 3. Sichtbarkeit des Handelns offen heimlich 4. Adressat des Handelns Aufgaben Personen 5. Autorisierung offiziell eigenmächtig 6. Beteiligte alle einzelne 7. Ziel des Handelns Problemlösung Macht 8. moralische Bewertung gut schlecht 9. Sanktionierung der Mittel gebilligt missbilligt 10. Legitimität der Ziele legitim illegitim 11. Lokalisation Verhalten Haltung (oder: Einstellung, Erwartung, Eigenschaft) 12. Analyseeinheit ein Akt (Episode) Systeme, Muster oder Sequenzen von Handlungen 13. Objekt/ Ziel Personen/ Verhalten ändern wollen Strukturen ändern wollen 14. Aktivierung einmalig, unerwartete Chance nutzend alltäglich, typisch, verbreitet 15. Zeitperspektive kurzfristig ("Gewinnen jetzt") langfristig (Weichenstellung, Überlegenheit auf Dauer) 16. Bewertung normal abweichend (pathologisch, kriminell) 17. Motivation Machtgewinn oder -steigerung Macht sichern bzw. Machtverlust vorbeugen 18. Ressourcenverteilung Änderung Bewahrung, Absicherung 19. Legalität legales Handeln illegales Handeln 20. Fairness sich an geltende Regeln halten Heimtücke (Schädigungsabsicht) 21. Informatorische Voraussetzung Ungewissheitszonen, Ambiguität Transparenz 22. Wahrhaftigkeit Vortäuschung anderer Motive/ Ziele Bekanntgabe der wahren Motive/ Ziele 23. Diskursivität tabuisiert, exkommuniziert in der Organisation offen thematisiert 24. Risiko von Sanktionen hoch gering 25. Umgang mit Widerstand brechen/ umgehen nicht entstehen lassen 26. Konfliktsicht Nullsummenspiel Win-Win-Situation 27. Beeinflussungs-Richtung generell (alle Richtungen) speziell (nach oben andere Taktiken als nach unten oder seitlich) <?page no="35"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 17 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zweck dieser Übung ist das Vertrauen in die Möglichkeit einer eindeutigen, abschließenden, konsensuellen Mikropolitik-Definition zu erschüttern. Das gilt auch für die eigene, die ich unten anbiete. Dafür aber handelt man sich die Vorteile eines freieren Blicks und die Möglichkeit zu eigenen Akzentsetzungen ein. Eines wird auf jeden Fall klar: Definitionen des Politischen sind selber politische Akte, mit denen überredet, geordnet, ausgeblendet, betont etc. werden soll. Aus den Merkmalsdimensionen, die im Beleg 1-4 aufgeführt sind, lassen sich die unterschiedlichsten Mikropolitik-Definitionen generieren. Zwei Beispiele sollen das illustrieren: Definitionsbeispiel 1 Mikropolitik ist selbstdienliches, an Machtaufbau orientiertes Verhalten Einzelner, das der Organisation schadet und heimlich inszeniert wird, um das Verhalten anderer Personen zu steuern; mit missbilligten Mitteln werden Ziele verfolgt, die als illegitim und moralisch schlecht qualifiziert werden müssen. Eine solche Definition wäre dem Mintzberg von 1983 aus dem Herzen gesprochen. Es kann aber auch eine andere Begriffsbestimmung konstruiert werden: Definitionsbeispiel 2 Akteure versuchen auf unkonventionelle und eigenmächtige Weise legitime Organisationsziele zu erreichen, von denen sie sich auch persönlich etwas versprechen; zu diesem Zweck gehen sie verdeckt und informell vor und bauen Macht auf, um Problemlösungen zu erreichen, die ansonsten gefährdet wären. Sie setzen eine große Bandbreite von (gebilligten und missbilligten) Mitteln ein. Eine solche Begriffsbestimmung könnte als Definition von "Eigenverantwortlichem Handeln" (oder von Intrapreneurship oder Organizational Citizenship Behavior) durchgehen und fände vermutlich die Zustimmung aller "Wohlgesinnten". Es wäre unhandlich, alle genannten Merkmale zu einer umfassenden Mikropolitik-Definition zu integrieren. Würde sie kumulierend (im Und-Modus) verstanden, fände sich kein konkretes Beispiel; wäre sie im Oder-Modus gedacht, würde nahezu nichts mehr ausgeschlossen. Ein Beispiel für eine wenig ausschließende Definition ist die von Ferris, Russ & Fandt (1989); sie bezeichnen organisationale Politik als strategisch konzipierten sozialen Einflussprozess, der dazu dienen soll, kurz- oder langfristige Eigeninteressen zu maximieren und entweder konsistent ist mit den Interessen Anderer oder auf ihre Kosten geht. <?page no="36"?> 18 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ In reflektierter Subjektivität (oder begründeter Willkür) habe ich eine Auswahl aus den Definitionsaspekten getroffen, die ich für besonders relevant halte. Daraus konstelliere ich die folgende zusammenfassende Definition, deren konstituierende Elemente ich im Anschluss vorstellen werde. 1.2.3. Die zusammenfassende Definition Mikropolitisch handelt, wer durch die Nutzung Anderer in organisationalen Ungewissheitszonen eigene Interessen verfolgt 6 . Dabei ist für eine geeignete Rahmung der Situation und die Rechtfertigung des Vorgehens zu sorgen; dies wird im Idealfall erreicht durch eine Änderung des Ordnungsregimes, die die Durchsetzungschancen strukturell absichert. Verbindet man die Definitionsbestandteile "Nutzung anderer" und "eigene Interessen", dann resultiert die halbblasphemische Kurzform: "Mein Wille geschehe! ", die auch als Verdichtung von Max Webers Machtdefinition 7 gesehen werden kann. Der explizite Bezug zur Instrumentalisierung anderer setzt Mikropolitik in Kontrast zu Kants kategorischem Imperativ: "Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" (Kant 1911/ 1785, 429). Kant meint mit 'Menschheit' nicht das abstrakte Kollektiv aller Menschen, sondern die/ eine Idee der "Menschheit" (des Menschseins oder der Menschlichkeit), die in jeder Person verwirklicht ist, nimmt aber zugleich Bezug auf die jeweilige historische Situation und Person und gesteht zu, dass die Menschen-als-Zweck-Bestimmung nicht ausschließt, dass die konkrete Person auch als Mittel gebraucht wird (dass darin - für andere da zu sein - vielleicht sogar einer ihrer Zwecke liegt). Ein Blick auf die Großtaten und Verbrechen, die im Namen der Menschheit verübt worden sind, lässt zweifeln, ob dieses Kriterium eine unstrittige Orientierung bietet. Auch der Zweck kann instrumentalisiert werden. Wenn Menschen auch als Mittel gebraucht werden, bleibt offen, ob eine solche Nutzung des Menschen einem einzelnen, einem Kollektiv oder 'der Menschheit' zugute kommt. Gebrauch schließt zudem Missbrauch nicht aus, Verwertung kann auch Entwertung bedeuten. Falls letz- 6 Siehe auch die schon vorne (s. Fußnote 1, S. 5 ) angeführte Definition von Tom Burns: "Behavior is identified as political when others are made use of as resources in competitive situations" (Burns 1962, 257). 7 "Macht ist jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht" (Weber 1980, § 16, 28). <?page no="37"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 19 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ teres der Fall ist, müsste geklärt werden, ob sie intendiert und/ oder unbeabsichtigter Effekt ist. Nur wenn sie absichtlich oder unbedacht herbeigeführt wurde, wäre sie 'in der Tat' eine Herab-Würdigung. Für mikropolitisches Agieren ist dies nach meiner Auffassung kein essentielles Definitionsmerkmal, wird andererseits aber auch nicht definitiv(! ) ausgeschlossen. Dies macht die faszinierende und problematische moralische Ambivalenz des Konzepts aus. Die in dieser Definition integrierten Akzentsetzungen lassen offen, ob Anderen oder dem Unternehmen genutzt/ geschadet wird, sie legt auch nicht fest, ob es um Sach- oder Machtfragen geht, ob Täuschung, Formalität, Ziellegitimität, Regelverletzung etc. wichtig sind (siehe die Übersicht über weitere Definitionsaspekte im Beleg 1-4, S. 16). Auf die Elemente dieser Definition gehe ich im Folgenden näher ein. Die Elemente dieser Definition Was ist das spezifisch Mikropolitische an einer Handlung? Sucht man Antworten auf diese Frage in den Operationalisierungen von Mikropolitik in Einfluss-Fragebögen, ist es irritierend zu sehen, dass z.B. "rationales Argumentieren" als mikropolitische Taktik gilt. Vernünftiges, sachlich begründendes, zielbezogenes und abwägendes Räsonnieren wird gemeinhin als das glatte Gegenteil von politischem Taktieren gesehen. Mit welcher Begründung wird es in eine Reihe mit 'Appell an höhere Werte', 'Koalitionsbildung', 'Berufung auf geltende Vorschriften', 'Druck machen' etc. gestellt (wobei man natürlich auch bei diesen anderen Vorgehensweisen fragen kann, inwiefern sie als politische Manöver zu sehen sind)? Eine Bestandsaufnahme, die mit den Etiketten objektiv, neutral, deskriptiv, realistisch etc. operiert, kann den mikropolitischen Gehalt nicht erkennen. Sie würde der erkenntnistheoretischen Fiktion folgen, Wirklichkeit ließe sich unverzerrt beobachten und wahr-nehmen. Eine solche Vorgehensweise könnte sich nicht einmal mit dem Abspielen von Camcorder-Aufnahmen begnügen, denn die zeigen nicht wie es 'wirklich' war, sondern die Momente und Sequenzen, die ein Filmender festgehalten hat; andere haben es (damals) anders gesehen und was vorher und nachher passierte, bleibt verborgen. Auch unkommentierte Tonaufzeichnungen, wortgetreue Transkripte, Zahlentabellen, Grafiken usw. verfehlen das objektive Ideal. Denn all dies ist unausweichlich Re-Präsentation einer Wirklichkeit, die als Original unzugänglich bleibt. Wir erfassen und kommunizieren sie stets in Ausschnitten, Übersetzungen, Ansichten, Abbildungen, Symbolisierungen usw., wir konstruieren sie durch die Selektion und Präsentation, die wir vornehmen. <?page no="38"?> 20 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die Etikettierung eines Verhaltens als 'mikropolitisch' charakterisiert somit die spezifische Art der Hinsicht, die, wie jede Beobachtung, eine Unterscheidung ist und damit eine andere Seite - die Wegsicht - hat. Als Differenz-Merkmale sollen die folgenden untersucht werden: Interpretation, Intention/ Interesse, Inszenierung/ Invisibilisierung, Instrumentalisierung, (De-)Legitimation. Interpretation, Rahmung: Was Sache (besser: Tat-Sache) ist, wird gedeutet, mit Sinn versehen, in einen Rahmen eingeordnet, der Bedeutung verleiht. Nichts spricht für sich, und es gibt auch keine eindeutige Signifikant-Signifikat-Beziehung, sondern allein Verweisungszusammenhänge. Nur wer schon etwas weiß (und damit buchstäblich vor-eingenommen ist) kann Neuem Sinn geben, indem er es anähnelt ans Bekannte. Die Diagnose 'politisch' stellen, heißt ein Schema aufrufen oder nutzen, das die danach folgenden Ein-Ordnungen determiniert (und zugleich unterminiert): Interpretation 1 . Was auch immer passierte, es muss, wenn es weiter verarbeitet werden soll, verstanden werden und zwar nicht als solches (an sich), sondern von jemand (für sich). Im Regelfall sind die Einordnungen nicht total idiosynkratisch (das würde den Einordnenden als 'Idioten' kennzeichnen), sondern folgen erlernten Konventionen und sozialen Erwartungen. Man weiß, wie man Situationen lesen soll/ muss und was sich gehört. Wenn von solchen präformierten Schemata abgewichen wird, muss die Grund-Lage von Interpretation 1 verlassen und neuer Sinn gemacht werden: Interpretation 2 . Beides - bereitliegende, erworbene Schemata und aktive Sinngebung - bestimmen die Deutung eines Handelns als 'politisch' und in beidem liegt ein Moment des Subjektiven, das es erschwert, politisches Handeln als ein Datum zu fassen, denn es ist immer eine interpretierende Zu-Tat, ein Faktum. Wenn jemand zu Förderung seiner Interessen bemüht ist rational zu argumentieren, dann kann es sein, dass er den Anforderungen nicht genügt, die der Adressat an Rationalität stellt, oder dass dieser Adressat das aktuelle Geschehen anders rahmt, indem er z.B. Gründe und Folgen hinzudenkt und damit zu ganz anderen Sinngebungen kommt als denen, die angeboten werden oder scheinbar auf der Hand liegen. Auf die große Bedeutung von 'Interpretation' kommt auch Blickle (2003, 50) zu sprechen, wenn er nach Begründungen sucht für die niedrige konvergente Validität, die er beim Vergleich von Selbstbeschreibungen mit Beschreibungen durch Vorgesetzte, Kollegen und Unterstellte gefunden hatte (siehe das auf S. 117f. abgedruckte Zitat von Stohl & Redding). Intention und Interesse: Absicht, das deutsche Wort für Intention, gibt einen Fingerzeig: Man hat es auf etwas abgesehen und sieht von vielem ab, was auch in <?page no="39"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 21 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Frage käme. Es ist offenbar eine bewährte und deshalb zum soziobiologischen Erbe gehörende Routine in sozialen Situationen Motivforschung zu betreiben: Warum tut jemand, was er tut - gerade jetzt und so? Die Suche nach Handlungsgründen kann abgleiten ins pathologische Extrem der Paranoia (s. die Fallstudie von Kramer & Hanna 1998 über den US-Präsidenten Lyndon B. Johnson) und zur alternativenlosen Generalisierung "Alles ist Mikropolitik" verleiten. 8 Allzu schnellen Verweisen auf "die gemeinsamen Anliegen", "sachlich geboten" oder "das Unternehmensziel" ist mit Skepsis zu begegnen, weil dabei die Gefahr besteht, dass der Akteur hinter den Fiktionen "Kollektiv" oder "Sache" verschwindet. Wer 'rational argumentiert' tut das nicht um des rationalen Argumentierens willen, sondern will damit etwas erreichen, was er anders nicht oder nicht so gut/ schnell/ leicht erreichen könnte. Um dieses 'Etwas' geht es bei der Politik-Vermutung; nicht dass etwas gemacht wird (vernünftig reden, Koalitionen bilden, sich beraten lassen usw.), sondern wozu es gemacht wird, steht zur Debatte. Dabei kann es durchaus reflexiv zugehen: Rationales Argumentieren kann rationales Argumentieren als mikropolitische Taktik entlarven (und das Gleiche gilt für die anderen Taktiken). Unbenommen aber bleibt, dass die Bewertung 'politisches Handeln' unterstellt, dass andere oder mehr als die verkündeten oder erwarteten Interessen im Spiel sind und dass dies nicht offen kommuniziert, eventuell sogar verschleiert wird. In sozialen Situationen ist einseitige Interessendurchsetzung meist nur ein Grenzfall. Normalerweise sind die Chancen, die eigenen Interessen zu verwirklichen größer, wenn die andere Seite nicht in die Rolle des Unterlegenen und Opfers gedrängt wird, sondern auch einen Teil ihrer Interessen realisieren kann. Wer dazu einen maßgeblichen Beitrag leistet und diesen Beitrag auch verweigern kann (Ungewissheitszone! ), gewinnt Macht. Insofern kann Mikropolitik als der Versuch angesehen werden, wechselseitige Abhängigkeit zum eigenen Vorteil zu asymmetrisieren. Die Akteure benötigen einander (Interdependenz), um ihre Interessen 8 Bei meinen Thesen "Mikropolitik ist allgegenwärtig" und "Mikropolitik ist unvermeidlich" (s. Neuberger 1996) habe ich mich nicht zur Totalisierung verleiten lassen. Denn 'allgegenwärtig' bedeutet nicht 'das allein Existierende' oder 'alles, was der Fall ist', sondern 'immer auch da' (Für einen Christen ist Gott allgegenwärtig, aber nicht alles, was ist, ist Gott). Und 'unvermeidlich' ist Mikropolitik nicht bei jeder einzelnen Tat, sondern im Ensemble des Handelns in Organisationen (Um im religiösen Rahmen zu argumentieren: Mikropolitik ist die Erbsünde, die den befleckt, der aus dem Überfluss des Paradieses vertrieben wurde und nun unter den irdischen Bedingungen der Knappheit und Ungewissheit seine Ziele verfolgt. Also mit Ausnahme weniger Heiliger: jeden). Diese Differenzierungen nimmt z.B. Robbins (1976, 1983 2 bzw. 2001 9 ) nicht vor, wenn er davon ausgeht, dass alles Verhalten in Organisationen politisch ist, weil alles Verhalten eigennützig (self-serving) ist. <?page no="40"?> 22 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ besser realisieren zu können - und andererseits konkurrieren sie miteinander um knappe Ressourcen. Wir brauchen und wir gebrauchen die Anderen und sie brauchen und gebrauchen uns. Wenn wir es schaffen, dass sie uns mehr brauchen als wir sie, sind sie (leichter, besser) zu gebrauchen. Diese Situation sorgt für eine nie völlig beherrschbare Dynamik, die zu den wesentlichen Charakteristika mikropolitischer Einflussversuche gehört. Undurchsichtigkeit und Inszenierung: Partielle Intransparenz, unvollständige Information, Mehrdeutigkeit und Ungewissheit sind Situationsparameter, die politisches Handeln sowohl ermöglichen wie erfordern - eben weil nicht einfach eine passende Regel angewandt oder eine bewährte Praxis fortgeschrieben werden kann. Diese Bedingung ist grundsätzlicher als die These, die Praxis der Mikropolitik scheue das Licht der Öffentlichkeit, denn nur dann, wenn sie unbemerkt durchgehe, könne sie ihre volle Wirkung ungestört entfalten. Es wäre allerdings selbstwidersprüchlich, würde ein Akteur offen ankündigen: "Ich werde nun versuchen, getarnt als Dienst an der Sache und dem Gemeinwohl, meine eigenen Interessen durchzusetzen! " Handeln findet grundsätzlich unter Ungewissheit statt und das ständige Vergegenwärtigen dieser Tatsache würde immobilisieren, weil vor jeder Entscheidung der unabschließbare Prozess der Suche nach vollkommener/ vollständiger Information stünde. Das weiß auch die andere Seite und deshalb ist jeder Entscheider mit dem Argument angreifbar, nicht alle Fakten berücksichtigt zu haben. Man muss deshalb den radikalen Zweifel ausblenden, Surrogate der Sicherheit liefern oder das Geschehen unauffällig, der Aufmerksamkeit der anderen Seite entzogen, gestalten. Sie wird nicht 'auf dumme Gedanken' gebracht und/ oder die eigenen Machenschaften werden getarnt, z.B. in die Form der rationalen Kommunikation verkleidet, nur um hinter diesem täuschenden Deckmantel umso ungestörter die eigenen Belange verfolgen zu können. Das lenkt auf falsche Fährten und spart Aufwand für die Bekämpfung von Widerstand. Unsichtbar machen heißt also zum einen wegzaubern ("Aus den Augen, aus dem Sinn"), zum anderen möglichst eindrucksvolle nach dem Leben gemalte Kulissen aufstellen, um den Blick auf das Geschehen dahinter zu verhindern. Das vernünftige Räsonieren ist dann lediglich Fassade, der Appell an höhere Werte scheinheilige Maskierung eigener Interessen und die Berufung auf Präzedenzfälle ein Ablenkungsmanöver. Heimliche Absprachen oder verdeckte Koalitionen können nur wirken, wenn der Gegenseite oder der Öffentlichkeit verborgen bleibt, was geschieht; sie werden im Glauben gewiegt, al- <?page no="41"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 23 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ les gehe mit rechten Dingen zu und wenn sie das Spiel durchschauen, ist es womöglich schon gelaufen. Allerdings liegt darin das Risiko für den Trickser; für dieses Spiel mag es für den Übertölpelten zu spät zur Gegensteuerung sein, aber für die nächsten Runden wird er sein Sicherheitssystem aufrüsten. Der Täter, der beim Lügen, Suggerieren, Verfälschen, Täuschen und Spuren-Verwischen ertappt wurde, muss künftig mit deutlich höheren Transaktionskosten rechnen (z.B. Garantieleistungen, Eskalation des Verkleidungsaufwands, Ausschluss aus dem Geschäftsverkehr). Wer der Ehrliche, und damit der Dumme war, wird sich in Zukunft wappnen und jenes wache Misstrauen entwickeln, das - wie schon erörtert - hinter dem Gesagten das Nicht-Gesagte zu ent-decken sucht. Will sich Mikropolitik nicht ihr eigenes Grab schaufeln, muss sie hohe Kreativität entwickeln, um - wie das AIDS-Virus - die Immunreaktionen durch immer raffiniertere Mutationen zu überlisten. Die spezifische Unsichtbarkeit von Mikropolitik macht denen Angst, die auf ein 360 o -Panoptikum setzen, um vor Überraschungen gefeit zu sein. Mikropolitisches Taktieren durch Appelle an Offenheit, Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit etc. eindämmen zu wollen, ist ehrenwert, aber naiv, denn das Verfehlen dieser Ideale ist nicht (nur) der angeborenen Charakterschwäche oder unbezähmbaren Selbstsucht der Menschen geschuldet, sondern (auch) ihren schlechten Erfahrungen und der Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit von Handlungen. Ein gewisses(? ) Maß an Vorsicht, Misstrauen und Argwohn macht soziales Handeln schwieriger, aber auch enttäuschungsfester. Die Rede von Doppelbödigkeit, Doppelleben, Doppelmoral erinnert daran, dass zwischen Schein und Sein ein Unterschied zu machen ist, der sich taktisch nutzen lässt. Schon eines der wichtigsten Management-Worte - Performance - enthält diesen Doppelsinn: es bezeichnet zum einen Aufführung (Vorstellung, Inszenierung) und zum anderen Leistung. Insofern steckt auch in jeder objektiven Leistung eine Darstellung, die auf etwas anderes verweist. Deshalb lohnt es sich nicht nur bei elektronischen Botschaften, sie auf Viren, Würmer, Trojaner usw. zu scannen; auch im wirklichen Leben steckt in den Interaktionen mehr, als eine verträumte Schulweisheit glauben macht. Instrumentalisierung und Intervention: Auch dieses vierte Bestimmungsmerkmal von politischem Agieren hat als Differenzbegriff oder Gegenpol das Konzept des autonomen Akteurs, der 'rein sachlich' und eigenverantwortlich seine klar definierten oder offen proklamierten Ziele verfolgt. Wie anderes soziales Handeln auch ist Einflusshandeln geprägt durch die Grundbestimmung, dass das Objekt ein Subjekt ist; mit dem Eigensinn dieser "nicht-trivialen Maschine" ist zu rechnen. Bevor aber ins Loblied der operationellen Geschlossenheit und Selbsterschaffung eingestimmt wird, ist der Überschwang zu dämpfen. Soziales Mitein- <?page no="42"?> 24 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ander ist nur möglich, wenn die scheinbar autonomen Subjekte durch 'strukturelle Kopplung' so ausgerichtet sind, dass sie füreinander berechenbar werden. Man muss sich deshalb nicht darauf gefasst machen, dass der jeweils Andere irgendeine seiner theoretisch möglichen 10 10+x Handlungsmöglichkeiten aktiviert, sondern kann sich darauf einstellen, dass es eine recht überschaubare Zahl von Alternativen ist, aus denen gewählt wird. Für diese Einschränkung (und Ermöglichung) sorgen Erziehung, Institutionen, Regeln, Anreize, Ressourcenknappheit, Gruppendruck und andere situative Gegebenheiten bzw. historische Prägungen. Als Sonderform sozialen Handelns geht politisches über diese allgemeine Bestimmung hinaus. Alter ist nicht nur Adressat von Erwartungen und Forderungen Egos, die ihn konditionieren; er soll darüber hinaus zum Vorteil Egos (aus-)genutzt werden. Ego wirkt auf Alter ein, damit dieser etwas tut oder lässt, was Ego zugute kommt. Entscheidend ist somit die Indirektheit der Aktionen: Ego produziert nicht selbst die erhofften Wirkungen, sondern lässt produzieren. Politisches Handeln geht einen Umweg, es ist mediatisiertes Handeln. Ein Anderer wird als Mittel oder Instrument benutzt, um für den politischen Akteur Nutzen zu stiften. Wer z.B. durch rationale Analyse ein Problem löst und einen Wert schafft, handelt, auch wenn er Delegierter ist, auf eigene Rechnung. Wer aber vernünftiges Argumentieren dazu nutzt, einer Anderen ihre Überzeugungen und Pläne auszureden, um sie für eigene Interessen, Werte, Vorhaben oder Ziele einzuspannen, handelt politisch. Daran ist zunächst nichts Ehrenrühriges oder Verdammenswertes, denn es mag sein, dass ein durch zwangslosen Zwang des besseren Arguments gefundener neuer Weg auch für die Umorientierte Vorteile bietet. Anders sieht es aus, wenn die Ver-Führte gar nicht weiß oder merkt, wie ihr geschieht. Das aber macht den Löwenanteil der mikropolitischen Taktiken aus: die Zielperson handelt unwissentlich und unwillentlich zum Vorteil eines Dritten (was nicht ausschließt, dass sie daraus nicht auch selbst einen Vorteil zieht). Der Appell an höhere Werte macht sich verdächtig, niedere Werte zu verbrämen. Was als Maxime kolonialistischer Missionstätigkeit entlarvt wurde, zeigt die Doppelmoral derjenigen auf, die den Sklaven das Seelenheil retteten: "Sie predigen das Evangelium, aber sie meinen Baumwolle! " (Aktualisiert: "Sie predigen Demokratie und meinen Öl! "). Was ist auszusetzen an 'Tauschhandel' als politischer Taktik? Nichts, wenn er fair ist; viel, wenn ein paar wertlose Glasperlen oder Flinten gegen Menschen oder Land 'getauscht' werden. Das Modell des ökonomischen Gütertausches sieht ihn als ein abgeschlossenes Hin (z.B. Geld) und Her (z.B. Ware). Dieser Tausch hat aber auch eine politische Komponente: er setzt außerökonomische Normierungen und Regulierungen für den Gütertausch voraus, die den Tausch konditionieren und durch ihn reproduziert oder <?page no="43"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 25 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ verändert werden. Politisches Handeln ist deshalb nicht Perversion oder Behinderung sachlichen Herstellens oder Tauschens, sondern deren Voraussetzung, weil es die institutionellen Sicherungen schafft, die Produktion und Handel ermöglichen. Wird Instrumentalisierung als Charakteristikum mikropolitischer Einflussnahme aufgefasst, dann werden zwei Bedingungen unterstellt: a) ein Anderer als der Nutznießer erbringt die Leistung und b) der, der zum Werkzeug gemacht wird, merkt dies nicht (etwa bei der Taktik des Einschmeichelns), kann sich nicht wehren (etwa bei 'Druck machen', 'Sanktionen', 'Blockade') oder willigt ein, weil es sich für ihn auszahlt oder weil 'es sich gehört' (Traditionen, Verträge, Reprozitätsnormen usw.). Damit wird eine extrem weite Begriffsbestimmung vorgenommen, die zur Folge hat, dass der größte Teil des Handelns in Organisationen 'politisch' ist. Handelt man im Verbund, dann produziert man zusammen mit Anderen für Andere (das macht ja den Witz von Organisation aus) und ein großer Teil des Tuns ist fremdbestimmt (auch das gehört zum Witz von Organisation). Eine ökonomische Perspektive versucht das Kalkül der Betroffenen nachzuvollziehen, in dem sie die Kosten der Fremdbestimmung (Unterordnung, Arbeitsleid, Zwangskontakte etc.) mit deren Nutzen (Einkommen, Arbeitsfreude, Denk- und Verantwortungsentlastung usw.) ins Verhältnis setzt. Eine politische Perspektive kann, das hedonistische oder utilitaristische Kalkül der Nützlichkeit ergänzend oder ersetzend, weitere Maximen in Anschlag bringen, z.B. kontraktualistische (Abmachungen binden) oder deontologische (aufgeklärt-reflektierte, freie Bejahung als Pflicht). Diese erfordern aber außerökonomische Voraussetzungen und Absicherungen. (De-)Legitimation: Organisationales Handeln ist unter Beobachtung und muss sich rechtfertigen, wenn/ weil es die Erwartungen und Ansprüche Dritter (der 'Stakeholders') berührt. Die neo-institutionalistische Organisationstheorie hat darauf aufmerksam gemacht, dass Organisationen nicht (nur) nach dem Rationalprinzip operieren, sondern auch versuchen, den Erwartungen gerecht zu werden, die das gesellschaftliche Umfeld an sie heranträgt (und die innerorganisatorisch von Stakeholders geltend gemacht werden). Vernachlässigen sie dies, droht ihnen der Entzug entscheidender Ressourcen (Reputation, Kreditwürdigkeit, Vertrauen etc.). Politik dient dem Aufbau, der Nutzung und Veränderung sozialer Ordnungen (Institutionen), um in ihrem Rahmen eigene Überzeugungen und Interessen (besser) durchsetzen zu können. Das heißt konkret, dass gleichzeitig mit dem Handeln auch seine Legitimation mitproduziert werden muss; allen Beobachtern muss sig- <?page no="44"?> 26 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ nalisiert werden, dass man sich an die geltenden Regeln hält und den herrschenden Werten und Normen entspricht. So erklärt sich z.B. auch die Rolle rationalen Argumentierens als mikropolitischer Taktik (denn rationales Entscheiden und Handeln ist eine Supernorm in erwerbswirtschaftlichen Organisationen und wer gegen sie verstößt, riskiert Ressourcenabfluss). Auch andere Legitimationsgrundlagen (z.B. Achtung der Hierarchie, höherrangige Werte, Professionalität, Festhalten an Traditionen) können aktiviert werden (siehe etwa die mikropolitischen Taktiken 'höhere Instanzen einschalten', 'Anrufung übergeordneter Werte/ Grundsätze', 'Berufung auf Expertise/ Erfahrung', 'Zitieren von Präzedenzfällen'). Das Merkmal der Legitimierung verwirklicht ein Kernprinzip des Handelns eines zoon politikon: es ist vergemeinschaftet und vergemeinschaftend, vergesellschaftet und vergesellschaftend, d.h. es ist durch Abhängigkeitsbeziehungen zu Anderen und durch geltende Ordnungen bestimmt, die im Tun reproduziert werden. Wer diesen Konsens aufkündigt (z.B. durch rücksichtsloses, egoistisches, kriminelles Handeln), sieht sich bald als isolierter Einzelner der Koalition aller Anderen gegenüber, die ihre gebündelten Ressourcen und Zwangsmittel einsetzen können. Dieser Gefahr kann durch Spaltung dieser Koalition entgegen gewirkt werden (divide et impera! ) oder aber durch Berufung auf Recht und Ordnung, Tradition und Sitte. Wer tut, was erlaubt und geboten ist, hat keine Sanktionen zu befürchten. Weil Recht und Sitte nicht als solche wirken, sondern von jemand geltend gemacht werden, kommt als weitere Strategie in Frage, die Wächter von Sitte und Recht - z.B. durch Heuchelei oder Bestechung - auf seine Seite zu bringen (womit eine weitere Eskalationsstufe in der Aushöhlung von Legitimität erreicht wird). Die Komplementärstrategie zur Legitimierung eigenen Tuns ist die Delegitimierung des gegnerischen Handelns. Gelingt es, die Opponenten ins unrechte Licht zu rücken, wird die schon erwähnte Koalition der Gerechten gegen sie in Stellung gebracht, womit die Transaktionskosten der so buchstäblich Diskreditierten ganz erheblich steigen. Es ist deshalb nicht überraschend, wenn in vielen Definitionen von Mikropolitik die Aspekte der Billigung/ Missbilligung (Sanktionierung), Legalität/ Illegalität, Legitimität/ Illegitimität und Regeltreue/ Abweichung hervorgehoben werden. Wer die Prüfung auf Rechtmäßigkeit bestanden hat, ist ohne weiteres autorisiert zu tun, was er vorhat; wer durchgefallen ist, muss mit hohem Aufwand versuchen diesen Nachteil wettzumachen. <?page no="45"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 27 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Diese erste Inhaltsbestimmung von Mikropolitik soll im Folgenden in einen weiteren Rahmen gestellt werden, wenn verschiedene Facetten des Politik-Begriffs differenziert werden. 1.3. Polity - Policy - Politics 1.3.1. Spielregeln - Spielstrategien - Spielzüge Mikropolitik als Miniatur der (Makro-)Politik spiegelt in sich deren Bedeutungsvielfalt. Dieses Vorverständnis des Politischen soll im Folgenden entfaltet werden. Dabei werde ich mich nicht auf eine der genialsten Definitionen von Politik stützen, die sie als die Kunst des Möglichen bezeichnet. "Das Mögliche" ist einer jener seltenen differenzlosen Begriffe, die ihre Negation einschließen: auch das Unmögliche ist eine Möglichkeit. So gesehen ist Politik alles und die so genannte 'Realpolitik' ist keine. 9 Die für den Politik-Diskurs etablierte Differenzierung von Polity, Policy und Politics (siehe z.B. die Diskussion in Hill 1993, 4368) darf nicht einengend verstanden werden, sodass für 'Politics' (Mikropolitik) nur der isolierte Part der Schachzüge, Listen und Manöver übrig bleibt. Ergiebiger ist es, von einem wechselseitigen Abhängigkeits- oder besser: Erzeugungs- oder Konditionierungsprozess auszugehen. Die Trias der Perspektiven wird somit auch für Mikropolitik genutzt. Die Polity markiert die Verfassung, in der die basalen Prinzipien kodifiziert sind, die eine Ordnung charakterisieren. Die Polity ist notwendigerweise allgemein und abstrakt gehalten: sie muss - wie man so schön sagt - gelebt und ausgefüllt werden, soll sie nicht bloß auf geduldigem Papier stehen. Gerade im sog. wirklichen Leben zeigt sich, dass es so viele Interpretations- und Streitfälle gibt, dass ein letztentscheidendes Höchstes Gericht eingesetzt werden muss, das mit der 'verfassungsgemäßen' Auslegung betraut ist. Im historischen Prozess führen die Abweichungen der Verfassungswirklichkeit vom Text immer wieder zu dessen Aktualisierung (und sei es im Richterrecht). Die Polity formuliert Grund-Sätze, legt aber 9 Einen Beleg dafür hat die frisch gewählte Bundeskanzlerin Merkel in ihrem ersten Brief an die Bürger geliefert, der den kryptischen Satz enthält: "Überraschen wir uns damit, was möglich ist und was wir können! " Die grenzenlosen, überraschenden Möglichkeiten der Politik werden hier sogar in unmöglicher Formulierung demonstriert. Toyotesisch muss man registrieren: Nichts ist unmöglich! <?page no="46"?> 28 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ nicht positiv fest, welche der erlaubten Möglichkeiten wie zu realisieren sind und wie die vorhandenen Ressourcen und Kräfte gezielt ausgerichtet werden. Diese Aufgaben übernehmen Policies; sie sind aus der Rahmenordnung abgeleitet oder auf sie bezogen und geben die strategische Ausrichtung der Aktivitäten bei der Umsetzung der Grundordnung vor (im Unternehmen konkretisiert sich das z.B. in Investitions-, Finanz-, Personal-, Produkt-, Marketingusw. -Politiken). Policies sind strategische Pläne, systematische Entwürfe, Konzepte zielorientierter Handlungsbündelungen, die als solche eine nur virtuelle Existenz haben (und durch die Politics verwirklicht werden müssen). Als Leit(! )linien(! ) sind Politiken Straßenmarkierungen, die die Akteure auf Kurs halten und ihnen eine Vorstellung von der Ideal-Linie geben, die zu den formulierten Zielen führen soll. Dabei ist der Rückkopplungsprozess von großer Bedeutung, weil er die konkreten Erfahrungen einbringt, die den Ist-Zustand und damit den Abstand zum proklamierten Soll kennzeichnen und gegebenenfalls zu Änderungen der Policy oder aber der Umsetzungsmaßnahmen anleiten. Die Politics schließlich kennzeichnen die konkrete Handlungsebene, quasi das Alltagsgeschäft der Konkretisierung der Rahmen-Ordnung und der strategischen Beschlüsse bzw. Orientierungen. Es besteht jedoch kein linear-einseitiges deduzierendes Ableitungsverhältnis von Polity über Policy zu Politics; vielmehr können die Konzepte eher in einem Dreiecksverhältnis vorgestellt werden, bei dem jede Ecke die anderen beiden (mit-)gestaltet und von ihnen (mit-)geformt wird. Abb. 1-1: Polity - Policy - Politics Polity Spielregeln Policy Spielstrategien Politics Spielzüge <?page no="47"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 29 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ In der folgenden Abb. 1-2 werden einige variierende Darstellungsweisen angeboten, um für die implizite Lenkung durch die gewählte Präsentationsform zu sensibilisieren. Jeder neuen Art der Visualisierung liegt eine andere Konzeption zu Grunde. Stellt man die drei Begriffe wie in Spalten einer Tabelle nebeneinander, haben sie nichts miteinander zu tun; ihre gegenseitige Unabhängigkeit wird betont, sie können je für sich oder aber alle zusammen in Anschlag gebracht werden. Ordnet man sie hierarchisch geschichtet an, suggeriert man eine Bedeutsamkeits- oder Kausalitätsfolge: die Grundordnung (polity) determiniert die Möglichkeiten der policies und diese die der politics. Abb. 1-2: "Thema mit Variationen": Die Begriffe des Politischen in ihren Beziehungen zueinander Die oben gewählte Dreiecks-Darstellung, die alles mit allem in Beziehung setzt, kann dynamisiert werden durch (in Ellipsen visualisierte) Rekursionsbeziehungen: die möglichen dyadischen Beziehungen verändern oder stabilisieren einander fortwährend; was ist, ist nur eine Momentaufnahme in einem wechselseitigen Konstitutionsprozess. Denn auch auf der konkreten Ebene der Politics wirkt das gleiche Grundprinzip wie bei Polity und Policy: es gibt Freiheitsgrade und sowohl Entscheidungsspielräume wie Entscheidungszwang. Was Weick (1985) fürs Denken formuliert hat (How can I know what I think before I see, what I say) kann man fürs Tun paraphrasieren: Wie kann ich wissen, was ich gewollt habe, bevor ich sehe, was ich angerichtet habe! Zu politics muss der politische Akteur greifen, weil die Pläne und Strategien, so wie sie verabschiedet und dokumentiert sind, fast nie realisiert werden (können); aber über diese Lückenfüller-Funktion hinaus sind politics polity policy politics polity policy politics polity politics policy <?page no="48"?> 30 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ auch eine Möglichkeit für die Akteure auf die policies und letztlich sogar auf die polity gestaltend und zu ihren Gunsten einzuwirken. Wie in der Abb. 1-1 schon eingetragen, lassen sich die Inhalte der drei Politik- Aspekte in einer weiteren Analogie-Bildung konkretisieren und fortführen, wenn man als basales Konstrukt für politisches Agieren in Organisationen das Spiele- Konzept heranzieht (so vor allem Crozier & Friedberg 1979; siehe dazu auch die ausführliche theoretische Diskussion in Schirmer 2000 und die pragmatischen Anwendungen in Kühl (2000, 2004) und Scott-Morgan 1994). Die Spielregeln konstituieren das Spiel, machen es in seiner Besonderheit und Einmaligkeit aus; die Spielstrategien bezeichnen Grundsatzentscheidungen über Muster oder Bündelungen von Vorgehensweisen, die im Hinblick auf bestimmte Spielziele praktiziert werden sollen, die Spielzüge schließlich setzen einerseits die Strategien um, reagieren andererseits aber auf die Zwänge und Möglichkeiten, die sich in konkreten Spielsituationen ergeben. Mikropolitik zeigt sich auf der Ebene der Spielzüge, bleibt aber wegen des wechselseitigen Zusammenhangs der drei Determinanten eines Spiels nicht darauf beschränkt. Mit den Regeln und Strategien verbinden sie Abhängigkeits- und Einflussbeziehungen. Gerade die Spielmetapher rückt noch eine weitere wichtige Größe ins Blickfeld: Sie macht deutlich, dass das Regel-Strategien-Aktionen-Schema abstrakt bleibt, solange nicht 'äußere' Bedingungen berücksichtigt werden, soll ein wirklich gutes Spiel gelingen. Beim Beispiel "Fußball" könnten das sein: die Qualität des Rasens, der Regen oder die Hitze im Stadion, die Stimmung in der Fankurve, die Unbestechlichkeit des Schiedsrichters oder der Schiedsrichterin, die ausgesetzte Siegprämie, die Güte des Balls oder der Schuhe, die Anwesenheit von Fernsehteams oder des/ der BundestrainerIn, der gerade erst überstandene Bänderriss und nicht zuletzt natürlich Klasse, Spielwitz und Trainingsstand der SpielerInnen … Zwar gehört zur Definition des Politischen (s. Carl Schmitt 1963/ 1932) das Widerstreitende, Antagonistische und Polemische. Diese Tendenzen können aber in den Hintergrund treten und somit eine Zeitlang verborgen bleiben. Eine glatte, ruhige Oberfläche ist womöglich nur die Ruhe vor oder nach dem Sturm bzw. Beben. Es kann jederzeit wieder losgehen; dann werden die Verhältnisse 'zum Tanzen gebracht' und ihr (verborgenes) Inneres nach Außen gekehrt. Die gegebene, selbstverständliche Ordnung wird in Frage gestellt und herausgefordert durch Alternativen. Damit wird die Kontingenz des Bestehenden offenkundig; es wird als eine Möglichkeit und nicht als die alleinige erkannt. Das Existierende kommt <?page no="49"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 31 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ unter Rechtfertigungsdruck und wird als "interessierte Ordnung" (ein Zustand, der bestimmte Interessen und Interessenten befriedigt) entschlüsselt, damit aber auch als veränderbar bestimmt. Gelingt es diese Kontingenz unsichtbar zu machen, hat die als Versachlichung kaschierte Politisierung einen wichtigen Teilsieg errungen: was ist, wird als unstrittig, normal, natürlich, als buchstäblich 'in Ordnung' hingenommen (siehe Foucaults Thesen zur Normalisierung). Mikropolitik stört den scheinbar überwältigenden Zwang der Verhältnisse, öffnet (wenn auch nur einen Spalt breit) das stählerne Gehäuse der Hörigkeit: "Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles" (Adorno 1982, 391). Das Sachliche ist das Politische Aus diesem Grund sind Konstruktionen, die imperativ Sachlichkeit fordern oder das "rationale Modell" als das Korrekte und Erstrebenswerte hinstellen, selbst wiederum politisch, weil sie einen möglichen Zustand oder eine Facette der realen Vielfalt isolieren und als das eigentlich Normale hinstellen. Es ist ein politisch(! ) geschickter Schachzug zu behaupten, aus organisationaler Perspektive sei "politicking" von Übel, weil es Energien in persönlicher partikulärer Vorteilssuche vergeude und letztlich die gesamte Organisation korrumpiere: Es sei zu befürchten, dass schließlich - und in dieser Verabsolutierung und Extremisierung liegt die Pointe - nur noch Politik gemacht wird, anstatt (Sach-! )Aufgaben wahrzunehmen! Aus einer solchen, das Sachliche verabsolutierenden Perspektive gilt Mikropolitik als dysfunktional, weil ihre Protagonisten bezichtigt werden, sich von der rationalen Verfolgung der Ziele der Organisation verabschiedet zu haben. Das 'Politische' ist bei Autoren wie Mintzberg und Pfeffer extrem einseitig als das die rationalen Kreise Störende, Illegale, Perverse gebrandmarkt. Setzt man die Akzente anders, ergeben sich andere Oppositionen von Politischem und Sachrational-Ökonomischem. Das Politische entsteht beim Übergang von der Einzahl zur Mehrzahl. Der autistische homo oeconomicus hat Folgendes zu lernen: - Die Anderen sind nicht nur Objekte; er selbst ist kein homo clausus (s. Fußnote auf S. 288). - Der Akteur ist auf Andere angewiesen, er braucht, (be-)nutzt und fürchtet sie und wird andererseits auch von ihnen instrumentalisiert und objektiviert, gebraucht und gefürchtet. <?page no="50"?> 32 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - Der Akteur wird durch die Anderen beurteilt, von ihnen wahrgenommen und durch sie - auch in seiner Identität - bestimmt. Er ist nur, weil sie sind. - Der Akteur kann mit den Anderen Kontakt aufnehmen, in Beziehung treten: sie lassen mit sich reden (Sprache! ). - Er kann von ihnen lernen, sie imitieren. - Gemeinsames Handeln verspricht Kooperationsrenten oder Ausbeutungsgewinne gegenüber Dritten. - Eigennütziger marktregulierter Tausch setzt "Ordnung" bzw. Institutionen voraus. Pfeffer steht mit seiner Meinung, dass durch politics die rationality erodiert wird, nicht allein. Die geradezu panische Angst vor politics kann dazu (ver-)führen, das andere Extrem zu verabsolutieren. Dies lässt sich am Beispiel des Personalcontrollings zeigen: Wenn man der Überzeugung anhängt, dass man nur managen kann, was man messen kann, dann ist es nicht weit zur Folgerung, dass jede betriebliche Funktion, natürlich auch 'Personal', Zahlen vorweisen muss, wenn es zählen möchte. Man darf nicht "über den eigenen 'subjectivity myth' stolpern" (Wintermantel & Mattimore 1997, 21; siehe auch Fitz-enz 1984, 7f.). Damit wird ein säuberlich trennendes Zwei-Welten-Modell eingeführt, bei dem es entweder objektive Tatsachen oder politische Spiele gibt. Statt diese beiden Phänomene (Erscheinungsformen! ) jedoch streng voneinander zu scheiden und gegeneinander auszuspielen, ist es fruchtbarer, sie in einer Strukturationsbeziehung zu sehen: sie sind wechselseitig Bedingung füreinander (siehe Abb. 1-3). 10 Die beiden Wirklichkeitsaspekte lassen sich nicht kategorisch trennen. Tatsachen sind keine unverrückbaren Fakten: sie werden gesehen und ausgeblendet, gedeutet und benutzt. In einer komplexen und kontingenten Welt sind objektive Fakten nicht fixe Weltbausteine, sondern selber Bauwerke: Konstruktionen [s. auch Chias (1995) Kritik am "Ziegelsteinmodell"]. Man könnte alles auch anders sehen und anders machen. Greift man gezielt eine Episode heraus, dann kann die Reinheit der Sache durch Mikropolitik verschmutzt erscheinen; in einem solchen Aus- 10 Foucault hat in seinen frühen Schriften das Politische in zwei Modellen polarisiert: das des Konsenses (Recht, Verträge, 'Souveränität') und das des Kriegs (Kampf, Widerstand, Unterwerfung). Diese Opposition hat er später zu einem Dreiecksverhältnis ausgeweitet, als er das Konzept der 'Gouvernementalität' eingeführt und die Selbstführung der Subjekte bzw. die "Führung der Führungen" postuliert hat. Das 'Sachliche' war (als Wissen oder Wahrheit) für ihn immer Machteffekt und -produzent. <?page no="51"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 33 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 1-3: Das Sachliche und das Politische: Zwei Sichtweisen Schnitt wird ein Standbild oder - welch passendes Oxymoron - ein Stillleben präsentiert. Lernen die Bilder laufen und rückt überdies der situative Kontext ins Blickfeld, dann sieht man, dass es voreilig war, das Gezeigte(! ) für das Allein- Wahre gehalten zu haben. (Dieses Problem der selektiven Wahrnehmung und 'interessierten' Interpretation spielt bei der Erfassung mikropolitischer Taktiken eine Rolle, wenn diesbezügliche Aussagen von Akteurs- und Zielpersonen auf ihre Übereinstimmung geprüft werden - siehe dazu S. 116f.). Regiert (wie im vorherrschenden Wirtschaftssystem) das Eigeninteresse, darf man nicht auf die Beschwörung von Sachlichkeit, Rationalität, Gemeinwohl oder gar Menschlichkeit 11 hereinfallen und auf die wohltätig ordnende unsichtbare Hand warten. Vielmehr muss man jenen auf die Finger schauen, die bei diesem Poker mitspielen. Bei Poker kann oder muss man bluffen - das gehört zu den Regeln. Aber eben diese Regeln (und Meta-Regeln, wie z.B. Fair Play) verbieten es Karten aus dem Ärmel zu ziehen oder Kameras, Spiegel, Informanten günstig zu platzieren usw. Solche schmutzigen Tricks zerstören das Spiel (und zuweilen den Spieler, was man in fast jedem Western besichtigen kann). Unsichtbare Hände sind leider oft schmutzige Hände; andererseits kommt, wer die nötige Drecksarbeit macht, selber oft nicht ohne dreckige Hände davon - gemäß einer Ableitung 11 Für 'Menschlichkeit' trifft sinngemäß zu, was Carl Schmitt zum politischen Gebrauch der Phrase 'Menschheit' gesagt hat: "Der Begriff der 'Menschheit' ist ein besonders brauchbares Instrument imperialistischer Machterweiterung. In seiner ethisch-humanitären Form ist dieses Wort sogar ein ganz typisches Werkzeug des ökonomischen Imperialismus. Hierfür gilt, mit einer naheliegenden Modifikation, ein von Proudhon geprägtes Wort: wer 'Menschheit' sagt, will betrügen" (Schmitt 1933, 37). Das Sachliche Sich gegenseitig erzeugende Wirklichkeitsbereiche Das Sachliche Das Politische Das Politische Getrennte Wirklichkeitsbereiche <?page no="52"?> 34 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ aus Murphy's Law: Wenn etwas sauber werden soll, muss etwas anderes schmutzig werden: Mikropolitik als Spülwasser der Organisation? Der Verzicht auf radikale Rationalität wird auch nahe gelegt durch die Beobachtung des emergenten Charakters von Politik. Sie wird nicht vorab exakt geplant und buchstabengetreu exekutiert, sondern reagiert auf Gelegenheiten und ihre eigenen Wirkungen. Politics sind Innovationen und damit eine "Reise ins Ungewisse" (Angle & Van de Ven 1989). Es ist mit bounded rationality zu rechnen und gerade deswegen gehen die schlauesten Rechnungen oft nicht auf. Attribute des Politischen Die Assoziationslandschaft des Politikbegriffs weist viele Markierungspunkte auf: Komplexität und Kompliziertheit, Fragilität (Brüchigkeit), Intransparenz/ Unübersichtlichkeit, Inkohärenz, Inkonsistenzen (Widersprüche), Pfadabhängigkeit und Verriegelung, Widerstände, Offenheit; lückenhaftes, unvollständiges Wissen ("Schwimmen"), Unabgeschlossenheit, selektive Wahrnehmung der situativen Bedingungen (Skotomisierung, Rationalisierung, Verleugnung der Realität ...), "kognitive Zurechtlegung" und "interpersonelle Verständigung" (Wollnik 1993, 286), viele (konfligierende) Ziele und mehrere stakeholders, Nichtlinearitäten, Ungereimtheiten, Dilemmata, (Rollen-)Konflikte, Verschiebungen, Sprünge, kontraintuitive Effekte, Reversionen & Irreversibilität, Simultaneitäten, Betroffenheit mehrerer Ebenen und Übergänge, Unvollständigkeit, Unvollendetheit, Indeterminiertheit (Unbestimmtheit), Prekarität, Fehlerhaftigkeit bzw. Irrtumswahrscheinlichkeit, "wheeling and dealing" (hin und her, eigenartige Machenschaften), Überraschung, nicht Entweder-Oder, sondern Sowohl-Als auch ... Man bekämpft(! ) externe Inkonsistenz nicht durch interne Stringenz, sondern puffert sie durch die Zulassung interner Inkonsistenzen, man reagiert auf Intransparenz nicht durch Klarheit und Eindeutigkeit, sondern durch Nutzung und Verstärkung der Undurchschaubarkeit. Überraschung fängt man nicht durch ausgefeilte Normalisierungsmechanismen auf, sondern kontert sie mit Überraschungen usw. Zu den Charakteristika politischen Handelns gehören Pragmatismus und die "Kunst des Unverbindlichen" (Wrapp 1967); "strategischer Opportunismus" (Isenberg 1987), "geplante Planlosigkeit" (Schirmer 2000, 125), die Etablierung 'konkurrierender Rationalitäten' (Crozier & Friedberg 1979), bei denen die Akteure <?page no="53"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 35 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ "Gefangene der Mittel sind, die sie zur Lösung der Probleme kollektiven Handelns gefunden haben." Kanter (1988) nennt als wichtige Merkmale politischer Prozesse, dass sie grenzüberschreitend sind (mehrere Subsysteme oder Stakeholders berühren, die nach anderen Gesetzmäßigkeiten operieren), unsicher (unvorhersehbar in Verlauf und Ergebnis, nicht ausrechenbar in Dauer und Kosten) und umstritten (es gibt stets mehrere Wege zum Ziele und verschiedene Möglichkeiten Ressourcen zu verteilen) sind. Singuläre und konsequente Rationalität sind unter solchen Bedingungen nicht möglich. Für Pettigrew (1977, 85) geht es bei 'Politics' "... um das Schaffen von Legitimität für bestimmte Ideen, Werte und Forderungen". Frost & Egri (1991b) sprechen von "deep structure politics" (the power to set the frame, also: die verfestigten selbstverständlichen Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster und die Regeln machen/ kontrollieren) (s.a. ihre vier Strategien zur Nutzung der Tiefenstrukturen; in Schirmer 2000, 90). Prämissenkontrolle ist als eine besonders wirksame Form der unmerklichen, unaufdringlichen control anzusehen - siehe Perrow 1986 3 , 130). Wie oben schon erwähnt, scheint für Mintzberg (1983) 'organizational politics' auf den ersten Blick eine Art Organisationskrankheit zu sein, die aber nicht nur negative Funktionen hat. Sie ist eher mit einem Fieberzustand zu vergleichen, der einen Selbstheilungsprozess indiziert. So gesehen ist politics nicht die Krankheit selbst, sondern die Reaktion auf eine Krankheit. Die Lage ändert sich radikal, wenn ein Akteur den Bereich des von ihm Überschauten und Kontrollierten verlässt und das eigene Tun mit dem der Anderen konfrontiert wird. Der Akteur wird genötigt die Perspektive nachzuvollziehen, die der Beobachter immer schon innehat, nämlich nicht nur sich selbst, sondern auch die Anderen in Rechnung zu stellen und zwar nicht als Objekte der eigenen Kalküle, sondern als Subjekte ihrer eigenständigen und eigensinnigen Aktionen. Jedem Akteur sind (wenn überhaupt) die eigenen Angelegenheiten transparent, nicht aber die der Anderen; das Ensemble ihrer Vorhaben und Aktionen ist oft genug jedem von ihnen intransparent. Daraus folgt für diese fiktive Urszene: Obwohl alle Einzelnen für sich rational denken und/ oder handeln, sind sie für einander rätselhaft. Das undurchschaute Ganze, das aus rationalen Individuen besteht, agiert für jedes seiner Elemente - und damit insgesamt - irrational. <?page no="54"?> 36 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Ist Politik rational, arational oder irrational? Wer auf das Paradigma der Rationalentscheidung setzt, kann damit beim Individualakteur politisches Agieren erklären, wenn er konzediert, dass das angestrebte Ziel nicht unbedingt das offiziell proklamierte sein muss und/ oder dass nicht alle Organisationsmitglieder ein und dasselbe Ziel verfolgen, sondern dass es multiple, widersprüchliche Ziele geben kann. Wer im Rahmen des politischen Modells argumentiert, wird auch betonen, dass es ganz verschiedene Wege zum Ziel geben kann (sofern ein solches deklariert ist), die, wenn nicht entscheidungsrational, so doch durchaus handlungsrational sein können. Der zu einem fiktiven Entscheidungszeitpunkt entworfene und ratifizierte Plan kann sich schnell als undurchführbar oder irrational erweisen, weil unerwartete Einflüsse wirksam wurden. Dies liegt daran, dass die relevanten Entscheidungen im Regelfall unter Ungewissheit getroffen werden (wenn es denn überhaupt so etwas wie Entscheidung und Entscheidungszeitpunkt gibt). Selbst wenn das Risiko einkalkuliert wurde, kann es im konkreten Fall Überraschungen geben und dann kommt derjenige weiter, der alternative Wege kennt, improvisieren oder neue Ressourcen aktivieren kann, ein untrügliches 'Bauchgefühl' für Stimmungen hat, Abstriche an Zielkriterien macht (in der Hoffnung, die Stakeholders später überzeugen zu können), etc. Der politische Ansatz scheint sich vor allem in der Durchsetzungsphase, der rationale in der Konzeptionsphase zu bewähren. In Organisationen zählt letztlich (und das kann dauern! ) nicht die gute Idee, sondern ihre Umsetzung. Das Versöhnliche und Verbindende ist, dass schon das Entwerfen ein aktives, Zeit und Ressourcen konsumierendes Handeln ist und dass, um es etwas kompliziert zu formulieren, ohne ein Konzept der Realisierung des Konzepts die Realisierung Zeit und Ressourcen vergeudet. Politisches Handeln beginnt nicht erst bei der Umsetzung von Zielen, sondern schon in ihrer Definition. Das politische Paradigma ist buchstäblich radikaler als das der Rationalentscheidung, weil es nicht von gegebenen Zielen ausgeht (die schlüssig aus einer wohlstrukturierten Präferenzordnung abgeleitet sind), sondern die organisationale Zielsetzung problematisiert. Sie ist ein politischer, d.h. umkämpfter, interessengeleiteter, verabredeter und machtvoller Akt. Erklärte Ziele sind womöglich nur Fassaden, die absichtlich auslegungsfähig gehalten werden, damit heterogene Interessen subsumiert und aktuelle Anpassungen vorgenommen werden können. Ziele werden manchmal erst retrospektiv formuliert, wenn sich gezeigt hat, was erreicht wurde. Der politische Ansatz erklärt das ausführende Handeln nicht zum Diener der souveränen Ziele, sondern bindet es in einen zirku- <?page no="55"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 37 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ lären Strukturationsprozess (Struktur-Aktions-Prozess) ein. Handeln findet immer unter konkreten Bedingungen statt, zu denen unter anderem Ziele gehören, die für allgemein verbindlich erklärt wurden. Es wird von diesen Bedingungen mitbestimmt. Zugleich aber anerkennt, bestätigt, re-produziert oder modifiziert es die Bedingungen, die es ermöglicht oder erzwungen haben. Eine frühe strukturationstheoretische (avant la lettre) Perspektive formulieren Lawler und Bacharach: "Ein politisches Modell der Organisation verweist auf einen grundsätzlichen Wandel in der Art, wie Wissenschaftler Organisationen sehen und analysieren, nämlich unter anderem (1) einen Wechsel in der Analyseeinheit von der Gesamtorganisation zu Akteuren innerhalb der Organisation; (2) die begriffliche Fassung der Organisationsstruktur als zugleich ein Resultat des Machtkampfs und ein Satz von Bedingungen oder Parametern, die künftigem Machtkampf zu Grunde liegen; und (3) eine Behandlung von Koalitionen als wichtigsten taktischen Mechanismen zum Gewinn, Erhalt und Einsatz von Macht in Organisationen" [...] "Im Kontext eines politischen Modells, ist Mikropolitik ein fundierender Begriff, der sich auf die Anstrengungen sozialer Akteure bezieht, Unterstützung für und/ oder Opposition gegen Grundsätze, Regeln, Ziele und Mittel zu mobilisieren, an denen sie einiges Interesse haben" (Lawler & Bacharach 1983, 84). "Wir definieren organisationale Politik wie folgt etwas breiter: Organisationale Politik ist die Anstrengung von Individuen oder Gruppen in Organisationen Unterstützung für oder Opposition gegen organisationale Strategien, Leitideen oder Praktiken, an denen sie beteiligt oder interessiert sind, zu mobilisieren. … Aus politischer Perspektive sind Organisationen Arenen, in denen Akteure interdependent und zweckgerichtet (instrumentell oder zielorientiert) sind und die aktuellen oder künftigen Handlungen Anderer innerhalb und außerhalb der Organisation in Rechnung stellen (Responsivität)" (Bacharach & Lawler 1998, 69). Die "Mobilisierung von Unterstützung und/ oder Opposition" ist motiviert durch die Antizipation einer gefährdeten Zukunft. Sie "in den Griff" zu bekommen, gelingt nie absolut, sondern nur graduell. Im Konzept des Risikos ist das aufs Wort gebracht, aber noch nicht gemeistert. Risiko ist beherrschbar, wenn die frei Handelnden paradox reagieren und ihre Freiheit zu Gunsten von Ordnung aufgeben, die ihnen Freiheit erst ermöglicht. Im Chaos unkonzertierter Einzelner regierte allein der Augenblick. Das ist der Clou der ökonomischen Theorie: In einer Welt knapper Ressourcen bilden die eigensüchtigen und habgierigen Einzelnen - gewollt oder ungewollt, geplant oder spontan - Institutionen, Strukturen und Verfahren aus, die ihren Eigennutz beschränken, damit sie ihn umso besser verfolgen können. <?page no="56"?> 38 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die institutionelle Ökonomie operiert mit Regulierungskonstrukten wie Vertrag, (Transaktions-)Klima, Koalition, Vertrauen, Gesetzesordnung, staatlichen Rechtsgarantien etc. Entscheidend ist der Sprung vom zweiseitigen Vertrag zum 'Gesellschaftsvertrag'. Er wird nicht souverän ausgehandelt, sondern vorgefunden und schützt die herrschenden Interessen (die Interessen der Herrschenden). Solche allgemein gültigen Regelungen garantieren und konditionieren Handlungsanschlüsse, obwohl die künftigen Situationen und die in ihnen getroffenen Entscheidungen dritter Akteure nicht bekannt sind. Es werden nämlich nicht Inhalte geregelt, sondern Verfahren und Rahmen vorgegeben, die für jeden denkbaren Gegenstand die Restriktionen formulieren, denen alle Handelnden unterliegen. Dieses strahlende Bild geordneter Freiheit wird getrübt durch die dem Ordnung Schaffen immanente Tendenz zur perfektionierenden Übertreibung. Weil Wenn- Dann-Regeln in beiden Komponenten notwendigerweise unvollständig formuliert sein müssen (siehe die Ausführungen dazu in Kap. 5), sind undurchschaute Fälle das Übliche und ein beständiger Anreiz, sie durch noch präzisere Regeln zu beherrschen - bis das Regelungsdickicht die freie Aktion lähmt und an sich selbst zu Grunde geht, weil es Handeln nicht mehr ordnet, sondern verhindert. Für diese unausweichliche Dilemma-Situation haben sich Lösungen herausgebildet. Die Regeln werden z.B. zwar streng formuliert, aber locker gehandhabt (Système D), die Gesetze werden nicht nach dem Buchstaben befolgt, sondern nach ihrem Geist (und der richtige muss durch mentale Programmierung - Erziehung, Indoktrination, culture management - gewährleistet werden). Mikropolitik ist 'in Ordnung', aber nicht ordentlich Mikropolitik setzt bei den Akteuren und Aktionen an, die sich im Rahmen der institutionalisierten polity, der Grundordnung, bewegen und nutzt offensiv sowohl Schwächen wie Möglichkeiten dieser Ordnung, die sie auf keinen Fall entbehren kann, wenn sie wirksam sein will. Mikropolitik ist nötig und möglich, weil es Ordnung gibt, die wiederum (auch) durch Mikropolitik entwickelt und verändert wird. Mikropolitik ist deshalb nicht parasitär und pathologisch: sie operiert innerhalb der Form der Ordnung und renoviert oder vitalisiert sie. Aber - und das ist entscheidend - sie selbst kann nicht wiederum 'in Ordnung gebracht' werden, denn sie ist zugleich deren Antagonist. <?page no="57"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 39 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die Ordnung, die nötig ist, damit die Dinge am Laufen gehalten werden, muss immer wieder neu hergestellt werden, weil sie fortwährend auf vielfältige Weise herausgefordert wird (Informationsmangel und -überflutung, unterschiedliche Interessen, unvorhergesehene interne und externe Entwicklungen, Versagen von Programmen und Technologien usw.). Organisationen haben für die Bewältigung dieser existenziellen (also nicht bloß unglücklichen Umständen geschuldeten) Herausforderung ihrer Ordnung eine Reihe von Mechanismen entwickelt; einer davon ist den Akteuren Handlungsspielraum zu geben, damit sie korrigierend in den Reproduktionsprozess der Ordnung eingreifen können. Man kann diese paradoxe 'kontrollierte Freiheit' als ein Pharmakon sehen, das wie jedes Medikament drei Wirkungen hat: helfen, schaden, abhängig machen. Um die Metapher ein Bisschen zu strapazieren: in Organisationen existieren graue Märkte für das (Un-)Heilmittel Mikropolitik, es gibt Drogendealer und fehlende Kontrolle der Szene, die organisationsinternen 'Ärzte und Apotheker' (z.B. Vorgesetzte oder Controller) kennen nicht alle Risiken und Nebenwirkungen und vor allem: mit Pille, Spritze, Salbe, Zäpfchen werden Symptome gelindert, aber nicht Krankheiten geheilt. Mikropolitik ist nicht die schwärende Wunde der Organisation (Herausschneiden! Antibiotika! ), vielmehr sind offene, eiternde, stinkende, schmerzende, eklige Ausscheidungen Symptome, die den Abwehrkampf sichtbar machen. Eine solche dramatische Zuspitzung der Lage darf aber nicht vergessen machen, dass die Abwehr normalerweise unauffällig funktioniert, immer, ununterbrochen in Betrieb und im Betrieb ist. Die Abermilliarden Keime, die pro Kubikmillimeter in unseren Därmen sind, sind überlebensnotwendig; sie zu vernichten bedeutete nicht das Heil, sondern das Ende. Das Bild lässt sich noch weiter ausmalen: man kann die Umwelt sterilisieren, um allen möglichen Infektionen vorzubeugen oder aber aus therapeutischen Gründen das Abwehrsystem durch Inanspruchnahme stärken. Damit kann es aber auch überfordert werden, entgleisen oder sich selbst zerstören. Wie die Immunabwehr produziert auch Mikropolitik nichts Konkretes, aber sie ist die Bedingung der Möglichkeit von Produktion, die nun einmal nicht im klinisch sauberen Reinst-Raum stattfindet. Alles, was man anfasst, ist von Keimen übersäht; gut, wenn man damit leben kann (und ohne die wimmelnde Unterwelt unserer Bakterien könnten wir das gar nicht). Wenn der Organismus aus eigenen Kräften mit der Bedrohung fertig wird, kann er gestärkt aus der Sache hervorgehen. Mikropolitik ist aus dieser Sicht eben kei- <?page no="58"?> 40 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ne von außen verabreichte Medizin, sondern ein Teil des Autoimmunsystems der Organisation: sie ist eine Krankheit, die heilt. Eine der Grenzen der medizinisch-organismischen Metapher liegt darin, dass ein Organismus als körperliche Einheit und Ganzheit existiert und sich autopoietisch reproduziert. Die Freiheitsgrade einer Organisation sind in Bezug auf Muster und Programme wegen ihrer 'lockeren Kopplung' vermutlich erheblich größer. Mikropolitik ist an diesem Gestaltungsprozess in doppelter Weise beteiligt, weil sie nicht nur an der Realisierung von Zielen, sondern auch an deren Setzung mitwirkt: sie prägt nicht nur das Funktionieren, sondern auch die Konstitution der Organisation. 1.3.2. Resümee Mikropolitik ist kein Störfall im ansonsten wohlgeordneten Betrieb, sondern eine der Bedingungen dafür, dass der Betrieb überhaupt läuft. Sie ist möglich und nötig, weil der Betrieb nur funktioniert, wenn nicht alles vorab verbindlich geregelt und fixiert ist und/ oder wenn sich nicht alle immer an alle Regeln halten (dazu Näheres im Kap. 5.5.5. auf S. 477ff.). 1.4. Positive und negative Funktionen der Mikropolitik 'Politics' die Rück- oder Schattenseite der Sachorientierung zu nennen bedeutet nicht sie zu glorifizieren. Es gibt - aus der Sicht betroffener Stakeholders - positive und negative Funktionen der Mikropolitik und es ist sinnvoll, nicht nivellierend von "der" Mikropolitik zu reden, sondern die Bandbreite ihrer Erscheinungsformen zu vergegenwärtigen. Positive Funktionen von Mikropolitik Vigoda (2003) und Huber (2001, 303-308) haben dazu Befunde und Meinungen zusammengetragen (z.B. von Madison, Allen, Porter, Renwick & Mayes 1980, 92, Mintzberg 1991, 248f., Kumar & Ghadially 1989, Al-Ani 1993, 151f., Bosetzky 1972, 34f., Elsik 1998, 89f.): <?page no="59"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 41 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - Mikropolitik produziert wertvolle und nutzbare Fähigkeiten und Tugenden. - Sie fördert (langfristig) die Überlebenstüchtigkeit sozialer Systeme. - Sie stellt Handlungsfähigkeit her und löst Verwicklungen antagonistischer Systemimperative auf. - Sie erlaubt maßgeschneiderte Sofortlösungen, die befreit sind von Ressourcen verzehrender Begründungspflicht und bürokratischer Normierung. - Sie stärkt die organisationale Immunabwehr und stimuliert Gegenkräfte. - Sie forciert die Auslese der Tüchtigsten. - Durch Ablenkung auf Mikro-Aktivitäten wird Strukturschutz betrieben. - Mikropolitik wirkt als Ventil, um mit Enttäuschungen, Frust und Protestpotential fertig zu werden. - Mikropolitik hat einen Demokratisierungseffekt, weil nicht mehr nur einige wenige 'Insider', sondern alle politisch agieren und Chancen haben, ihre Interessen zur Geltung zu bringen. - Mikropolitik kann Koalitionsbildung, Netzwerke und Kontaktintensität fördern. - Sie ermöglicht die Realisierung von Zielen und Vorstellungen, die auf formale Weise unerreichbar gewesen wären. - Mikropolitik passt zur Makro-Verfassung des Wirtschaftssystems, in dem Eigennutz die fundamentale Triebkraft ist. Dysfunktionen von Mikropolitik Die folgende Übersicht stützt sich auf Zusammenstellungen in Vigoda (2003, 23f.) und Huber 2001, 308ff.; Huber berücksichtigt auch die Überlegungen von Schreyögg (1998), Al-Ani (1993, 148f.) und Bosetzky (1991, 35f.). - Mikropolitik kann ausufern und unkontrollierbar werden. Bislang latente Konflikte brechen in offenen Kämpfen aus. - Jede isolierte Steuerungsstrategie hat selbstdestruktive Wirkungen, wenn sie überhand nimmt. - An strategischen Stellen sitzen fachlich Inkompetente, aber politisch Raffinierte. - Mikropolitik höhlt ihre eigenen Grundlagen aus, wenn sie als schrankenloses Verfolgen von Eigeninteressen praktiziert wird. - Das Ideal der wohlstrukturierten Ordnung wird als politisch motiviertes, ideologisches Trugbild entlarvt; Klimaverschlechterung und Zynismus sind die Folge. <?page no="60"?> 42 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - Mikropolitik löst Ängste aus bei jenen, die sich nicht zurechtfinden in dem scheinbar regellosen Durcheinander, das sie produziert und darstellt. - Das Wuchern von Mikropolitik setzt eine Misstrauensspirale in Gang, die den sozialen Verkehr mit sehr hohen Transaktionskosten belastet. - Ressourcen werden für den Ausbau von Machtpositionen eingesetzt, statt produktiv genutzt zu werden; es kommt zur 'Bunkerung', also dem vorsorglichen Beiseiteschaffen von Ressourcen für möglichen späteren Gebrauch. - Der universelle Mikropolitikverdacht begünstigt - und bestätigt in selbst erfüllender Prophezeiung - die Entwicklung von Misanthropie. - Die Steigerung von Intensität und Extensität der Mikropolitik kann zu Organisationsversagen führen, unter dem alle leiden. Es kommt zur Ressourcenvergeudung, - Zuweilen wird ein diffuses Unbehagen artikuliert. Irgendwie passt einem die ganze Richtung nicht, weil sie bisher gehegten und propagierten Erwartungen widerspricht. Wenn von "der" Mikropolitik geredet wird, verzichtet man auf mögliche Differenzierungen. Es gibt Taktiken, die übereinstimmend als positiv, und solche, die einhellig negativ bewertet werden: Negativ bewertete Taktiken: Intrigieren, Anderen Fehler in die Schuhe schieben, Druck ausüben, die Atmosphäre vergiften, jemand öffentlich bloßstellen, kompromittieren, diskreditieren, ignorieren; erpressen, drohen, angreifen, konfrontieren, einschüchtern, auf die Nerven gehen, auflaufen lassen, hängen lassen (nicht helfen), blockieren; bestechen; schmeicheln, Doppelzüngigkeit; Informationen sperren/ filtern, vernebeln oder manipulieren; Eindruck schinden; Seilschaften bilden, nicht mit einflusslosen KollegInnen oder Vorgesetzten zusammenarbeiten, Opponenten 'abschießen', wegbefördern oder aufs Abstellgleis schieben; heimliche Absprachen treffen, Kuhhandel treiben; Zuständige oder Berechtigte übergehen ... Positiv bewertete Taktiken: Anderen Vorteile verschaffen, geschickt loben; begeistern, charismatische Inspiration, an höhere Werte appellieren, symbolträchtig handeln; mit Expertise überzeugen, rationale Begründungen bieten, Ziele und Entscheidungskriterien vorteilhaft definieren; (sich/ jemand) in Netzwerke und Koalitionen integrieren, Gegner <?page no="61"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 43 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ neutralisieren oder kooptieren, in Vorabsprachen Positionen klären und Verbündete suchen, Talente fördern; faire Tauschbeziehungen aufbauen; sich Informanten und Mentoren erkenntlich zeigen; Beziehungen pflegen, Gefallen erweisen, in Vorleistung gehen, freundliche Atmosphäre schaffen, Humor zeigen; sich informell Unterstützung bei höheren Vorgesetzten/ KollegInnen/ Unterstellten/ Externen holen; organisationale Regeln oder Praktiken geschickt nutzen; gute Ratschläge geben/ einholen, Gegner das Gesicht wahren lassen, Kompromisse vorschlagen, Konfrontationen abbauen; ein gutes Image aufbauen, die eigenen Leistungen sichtbar machen ... Diese kurzen Aufzählungen zeigt, dass manches in beiden Listen (mit anderen Worten) vorkommt und dass nahezu alles, was man tun kann, als 'mikropolitisch' identifiziert werden kann - ein Beleg dafür, dass auf der Ebene beobachtbaren Verhaltens eine Differenzialdiagnostik häufig nicht gelingt. Man braucht vielmehr Hintergrundinformationen, Dechiffrieranleitungen, Kenntnisse dessen, was in einer bestimmten Situation 'eigentlich' erwartet wird, üblich ist oder als normal gilt; nötig sind auch Informationen über persönliche Empfindlichkeiten, Präzedenzfälle, offene Rechnungen, Freundschaftsverpflichtungen etc. Jedenfalls macht schon ein kursorischer Überblick über Taktiken 12 und ihre Bewertung deutlich, dass Mikropolitik nicht grundsätzlich und einseitig als böse, pathologisch oder dysfunktional abgewertet werden sollte. Das verdiente sie nur, wenn das Bestehende sakrosankt - doppelt heilig! - gesprochen würde. Der Wider-Spruch bricht den Bann des "stummen Zwangs der Verhältnisse". Nicht dass plötzlich schreiende Ungerechtigkeiten hörbar würden, es genügt, wenn das politisch' Lied, das in allen organisationalen Dingen schläft, aus seinem Zauber erlöst die ganze Welt (es reicht eigentlich schon die Geschäfts- oder auch nur die Tagesordnung) zum Singen 13 bringt. Die hässliche Seite der (Mikro-)Politik ist nicht zu beschönigen. Dagegen helfen weder der Traum von der heilen Welt, noch die sehnsüchtige Beschwörung des Goldenen Zeitalters der Rationalität und Sachlichkeit oder der Tugend und Sittlichkeit. Wie man weiß: Goldene Zeitalter hat es nie gegeben, aber jede Kultur kennt sie. Die unerfreuliche (weil für einen selbst oder die Organisation schädliche) Facette der Mikropolitik ist andererseits nicht alles, sondern 'nur' eins der beiden äußeren Enden der Normalverteilung von Mikropolitik. Im großen Bauch 12 Siehe die ausführliche Diskussion in Kap. 2, S. 85ff. 13 durchaus auch im Sinne der Gaunersprache gemeint. <?page no="62"?> 44 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ der Glockenkurve, in dem über 95% aller Fälle liegen, ist das, was man alltäglich tut und/ oder hinnimmt: Fünf gerade sein lassen, jemand entgegenkommen und dabei Vorschriften dehnen; unkonventionell handeln; mal ein Auge zudrücken; es mit den Regeln oder Vorschriften nicht so genau nehmen, eine Hand wäscht die andere, Beziehungen pflegen, nicht die ganze Wahrheit sagen, Notlügen akzeptieren, Absprachen im Vorfeld treffen, den Schneid abkaufen, in taktischer Absicht Vorleistungen erbringen, Opponenten auflaufen lassen, sich stur stellen, eine Show abziehen, Nebel werfen (sich hinter viel- oder nichts sagenden Formulierungen verstecken), sich gut verkaufen, Eindruck schinden, mit Versprechungen ködern, mit Komplimenten hofieren, sich als 'professionell' inszenieren … Am einen Ende, in den 'positiven' 2%, findet man die heroischen Dinge: Spontaneität, Mitdenken, eigenverantwortliches Handeln, Supra-Rollen-Verhalten, Intrapreneurship, Organizational Citizenship Behavior, rückhaltloser Einsatz im Dienst der Sache, Whistle Blowing, den Geist der Vorschrift (nicht ihren Buchstaben) leben … Und am 'dunklen' Gegenpol, wenn man schon strikt manichäisch zwischen Licht und Finsternis unterscheidet, versammeln sich Sabotage, Mobbing, Intrige, Korruption, Vetterleswirtschaft ... Paulus hat im Römer-Brief (1, 25/ 29) mit seiner Beschreibung der Heiden, die durch "die Begierden ihrer Herzen in den Schmutz der Unsittlichkeit" versunken sind, die 'negativen' 2% plastisch personalisiert: "... sodass sie alle Ungebühr verüben: sie sind erfüllt mit jeglicher Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, voll von Neid, Mordlust, Streitsucht, Arglist und Niedertracht; sie sind Ohrenbläser, Verleumder, Gottesfeinde, gewalttätige und hoffärtige Leute, Prahler, erfinderisch im Bösen, ungehorsam gegen die Eltern, unverständig, treulos, ohne Liebe und Erbarmen ..." Wie eng ist doch die Parallele zu den 'Organisationsheiden', die vom Herrn (dem Prinzipal) und den von ihm eingesetzten Vorstehern (Agents) ab- und dem Diabolos anheim gefallen sind! 14 14 In Voltaires 'Candide' findet sich ein Dialog des blauäugigen Optimisten Candide mit dem 'letzten Manichäer' Martin, der die Welt als Reich der Finsternis sieht: "'Glaubt ihr', sagte Candide, 'dass die Menschen sich immer gegenseitig umgebracht haben, wie sie es heutzutage tun? Dass sie immer Lügner, Betrüger, Treulose, Undankbare, Räuber, Schwächlinge, Unbeständige, Feiglinge, Neidhammel, Fresssäcke, Trunkenbolde, Geizhälse, Streber, Blutsäufer, Verleumder, Wüstlinge, Fanatiker, Heuchler und Dummköpfe waren? ' - 'Glaubt ihr', sagte Martin, 'dass die Sperber immer Tauben gefressen haben, wenn sie welche kriegen konnten? ' -'Ja, gewiss', sagte Candide. - 'Nun wohl', sagte Martin, 'wenn die Sperber immer den gleichen Charakter hatten, warum wollt ihr, dass die Menschen den ihren geändert haben sollen? '" (Voltaire 1989/ 1759, Kap. 21, S. 91). <?page no="63"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 45 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ In keiner Gesellschaft leben nur Gute. Es gibt immer auch einen anscheinend stabilen Bodensatz von Schlechten, Gefängnisinsassen, unentdeckten Groß- und Kleinkriminellen, die in der jeweiligen Gesellschaftsordnung als die 'bösen' Abweichler und Unnormalen stigmatisiert werden (und mehr oder weniger klar von den unverschuldet Abweichenden - die man dann Kranke, Unzurechnungsfähige, Fahrlässige, Pechvögel usw. nennt - unterschieden werden). Wäre dem nicht so, könnte man sich Strafgesetze und erhebliche Teile des Justizapparats sparen. Wegen dieser wenigen Promille 15 wird ein erheblicher Aufwand getrieben, aber - und das ist wichtig - er ist nicht so groß, dass damit jegliches Fehlverhalten ausgeschlossen würde. Wollte man das, müsste man prohibitiv hohe ökonomische und juristische Mittel einsetzen und dabei würden gleichzeitig andere wertvolle Güter notwendigerweise beschädigt (Schutz der Privatsphäre, informationelle Selbstbestimmung, Versammlungsfreiheit, freie Entfaltung der Persönlichkeit etc.). Es gibt also (worauf noch einzugehen ist) so etwas wie Grenzmoral (Briefs 1957) und das optimale Kriminalitätsniveau in Gesellschaften (Wiese 1994); analog kann man von einem optimalen Mikropolitik-Niveau in Organisationen sprechen. Das negative Ende der Verteilung nimmt man zähneknirschend in Kauf (und sucht es mit anderen Mitteln in Schach zu halten, d.h. nicht weiter ausufern zu lassen). Die demonstrative Verfolgung des 'negativen Endes' hat Signalwert für die 'Mitte', in der ja Tendenzen zum Extrem durchaus vertreten sind. Die Abschreckung soll Dämme errichten und den 'guten' Willen bestärken. Aber das Lotteriespiel der Abweichung ins negative Extrem kann damit nicht eliminiert werden. Winken hohe Vorteile und ist die Entdeckungswahrscheinlichkeit gering, wird's versucht werden. 1.4.1. Mintzberg - Klein - Ferris; POPS & PSI In seiner Attacke gegen den Mythos vom politischen Dschungel in Organisationen argumentiert Jonathan Klein (1988) scheinbar konstruktivistisch: Der Glaube(! ) wird verbreitet, Mikropolitik sei unausweichlich. Er wird dann zum Mythos, wenn er unreflektiert bleibt und als unangreifbar gilt; in selbst erfüllender Prophezeiung ist Mikropolitik dann tatsächlich unausweichlich. Um ihre Ziele zu erreichen, fühlten sich nämlich alle genötigt 'wie die anderen auch' vorzugehen. Dass man politisierendes Handeln nicht sehen kann, sondern erschließen muss, macht den Mythos noch hermetischer. Für die unerwarteten und unverständlichen 15 In der Bundesrepublik sind im Jahresdurchschnitt ca. 60.000 bis 70.000 Menschen in Gefängnissen inhaftiert. <?page no="64"?> 46 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Entwicklungen, die man tagtäglich in der Organisation erleben kann, wird ein unsichtbarer verborgener Grund angenommen: politische Manöver. Weil diese sich maskieren, kann man sie auch nicht direkt angehen (und die These der umfassenden Politisierung auch nicht widerlegen). Mikropolitik wird so zur konstruierten Normalität in Organisationen, was zur Folge hat, dass jeder seine politischen Fertigkeiten schulen und perfektionieren muss, wenn er mithalten möchte. Kleins Ausgangspunkt ist jedoch in Wahrheit antikonstruktivistisch, weil er eine eigentliche, ursprünglich von Mikropolitik nicht verunreinigte Wirklichkeit unterstellt: 'An sich' würden Organisationen ohne Mikropolitik perfekt funktionieren, d.h. ihre Ziele auf rationale Weise besser, schneller, einfacher erreichen. Den Leuten wird aber das Gegenteil eingeredet ("Alle agieren politisch! "), sodass in einem naturalistischen Fehlschluss aus dem Sein das Sollen folgt. Mikropolitik, die es nicht geben müsste, die sogar schädlich ist, wird so - wenn und weil 'alle' sie praktizieren - funktional, weil man ohne sie nichts mehr erreicht und ohnehin alles Verhalten unter Mikropolitikverdacht steht. Wer nicht an sie glaubt, muss daran glauben. Es wird ausdrücklich vorausgesetzt, dass im Naturzustand der Organisation alle Menschen rational sind und sachbezogen im gemeinsamen Interesse handeln. Stillschweigend werden die folgenden Voraussetzungen hinzugefügt: Es gibt eine objektive und unstrittige Welt der Fakten und über sie eindeutige Informationen; die Akteure haben ein gemeinsames klar formuliertes Ziel und nutzen ihre Handlungsspielräume zur Erreichung dieses Ziels. Der Sündenfall der Mikropolitik aber verdirbt die Menschen guten Willens und Wissens. Klein weitet sein Argument ins Paradoxe aus: Jener Taktiker gewinnt, dem es gelingt alle Anderen auszubooten. Er unterbindet deren politisches Verhalten und unterwirft sie seinem Willen: "Mit anderen Worten: Politische Aktivität ist funktional, wenn sie der intraorganisationalen Politik ein Ende setzt. Man kann nur dann unterstellen, dass das Aufhören des politischen Handelns erstrebenswert ist, wenn es dieses Verhalten selbst nicht ist. Politische Funktionalität unterstellt deshalb politische Dysfunktionalität" (Klein 1988, 4; kursiv im Original). "Es ist deshalb kein Zufall, dass zur Unterdrückung politischen Verhaltens politisches Verhalten empfohlen wird. Wie generell bei Konflikt ist die Wirkung politischen Verhaltens eine autokonteraktive" (Klein 1988, 5; kursiv im Original), also eine sich selbst negierende, die eigenen Grundlagen zerstörende. <?page no="65"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 47 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Man muss im politischen Dschungel den Eindruck erwecken über politische Fertigkeiten zu verfügen: "Weil der Dschungel die Bewertung einer Person erst zum Thema macht, kreiert der Glaube an den Mythos eben jene Bedürfnisse, die er anspricht" (Klein 1988, 7). Der Tunnelblick des Monomanen fixiert Klein auf Eines, das er zum Alles macht. Um seine Art des Schließens an einem Beispiel zu illustrieren: In der Erdatmosphäre ist Sauerstoff überall vorhanden (und unausweichlich), also ist alles in der Luft Sauerstoff. Weil Klein sich darauf festgelegt hat, dass Politisierung dysfunktional ist und 'eigentlich' nicht sein müsste, geraten seine Ratschläge zur Kontrolle von Mikropolitik ziemlich einseitig oder idealistisch. Zu seinen Empfehlungen gehören: die Bedeutung von Management-(statt Politik-)Fertigkeiten hervorheben, Managementkompetenz messbar machen, Verantwortung an die Unterstellten delegieren (sodass sie selbst für die Ergebnisse stehen müssen und nicht mehr ihre Führungskraft beeindrucken und manipulieren müssen/ können), den Beitrag jedes einzelnen sichtbar machen. Kurz, humanistische Managementpraktiken einführen: "Denn die vorgeschlagenen Strategien sind nichts anderes als partizipatives Management, Demokratie am Arbeitsplatz und McGregors Theorie Y" (Klein 1988, 11). Das Irritierende an Autoren wie Klein ist, dass ihre Argumentation verführerisch realistisch klingt, aber weltfern ist. Mikropolitik ist für sie eine Abkehr vom Pfad der Tugend, denn es müsste sie nicht geben, wenn sie den Menschen nicht eingeredet würde. Deshalb muss man sie ihnen wieder ausreden. In seiner Argumentation gegen Politisierung der Organisation geht Klein selbst politisierend vor (baut z.B. Strohmänner auf, die sich leicht anzünden lassen). Damit gerät er in einen argumentativen Selbstwiderspruch von der Art, wie er genial in einem Antikriegs- Graffito ausgedrückt wird: Fighting for peace is like fucking for virginity. 16 Letztlich befinden sich die Eiferer im Krieg gegen Mikropolitik in ungewollter Komplizenschaft mit den Verharmlosern: Sie biegen sich ihre Wirklichkeit so zurecht, dass sie zu ihren unumstößlichen Gewissheiten passt. Beiden kommt zupass, dass es 'die' Wirklichkeit nicht gibt, die sich objektiv erkennen ließe. Wir sind zu Konstruktionen genötigt. Ob eine Konstruktion einer anderen überlegen ist, kann anhand unterschiedlicher Kriterien geprüft werden: innere Stimmigkeit (keine argumentativen Selbstwidersprüche), Vorhersagequalität, Unterhaltungswert, Ästhe- 16 Genau genommen sind die Plädoyers von Klein, Mintzberg, Ferris usw. für eine "Rückkehr zur Sache" selbstwidersprüchlich. Sie fordern eine Entpolitisierungspolitik. <?page no="66"?> 48 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ tik, Sparsamkeit, Akzeptanz von Basisannahmen etc. Die empirische Tatsachenfeststellung: "Es ist so! " (Es gibt Mikropolitik) muss sich die Herausforderung gefallen lassen: "Es ist nicht notwendig so! " (oder nicht überall und/ oder nicht immer so). Damit beginnt die nach meiner Meinung fruchtbarere Suche nach den Bedingungen, die für Existenz oder Nichtexistenz bzw. für das Mehr oder Weniger verantwortlich sind. Das Phänomen Mikropolitik wird zur abhängigen Variable und ist nicht länger eine Art Sozialkonstante, also kein hinzunehmendes Fatum, sondern ein Faktum oder - in den Worten von Marquard - kein Schicksal, sondern ein Machsal. Wenn es in Organisationen Zonen oder Zeiten ohne jede Mikropolitik gibt, dann ist das genauso begründungsfähig und -pflichtig wie die Behauptung, dass es Mikropolitik 'überall' und 'immer' gibt. Für den Fall von mikropolitikfreien Räumen liegen zwei Begründungen nahe: Vorhandene Mikropolitik wurde getoppt durch noch raffiniertere, die sie unsichtbar machte - wie Klein vermuten würde - oder es gibt keine Mikropolitik, weil die Bedingungen (der Nährboden), die Mikropolitik gedeihen lassen, fehlen. Wenn, was mit Mikropolitik erreicht werden soll, auf andere Weise leichter gelingt, dann kann man auf sie verzichten. Politik in Organisationen ist ein Mittel, zu dem es funktionale Äquivalente gibt; sie reagiert auf Organisationsversagen. Weil damit immer zu rechnen ist, gibt es die Nachfrage nach dem Heilmittel. Es setzt an den Steuerungslücken an, die andere Organisationsmittel offen lassen. Die Gefahr nicht unerheblicher Nebenwirkungen lässt es ratsam erscheinen, mit diesem Mittel sorgsam umzugehen. 1.4.2. Ist Mikropolitik pathologisch? Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich jener Teil der akademischen Diskussion betrachten, der Mikropolitik als pathologisch oder zerstörerisch etikettiert. 17 Als Vorreiter dieser Position gilt Mintzberg, der in seiner viel zitierten Definition 'politics' als Negativvariante bezeichnet hat (ähnliche Akzente setzen auch Drory 1993, Farrell & Petersen 1982, Klein 1988, Williams & Dutton 2000, Gebert 1996, 2002): 17 Mit einer kalauernden Wort-Herleitung ironisieren Ferris, Perrewé, Anthony & Gilmore (2000, 25) die negative Bewertung von 'Politics': "Only in America do we use the word 'politics' to describe the process so well; 'poli'* in Latin* meaning 'many' and 'tics'** meaning 'blood-sucking creatures'! " [* sic! ** 'ticks' sind Zecken]. <?page no="67"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 49 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ "(Mikro-)Politik bezieht sich auf Person- oder Gruppenverhalten, das informal, scheinbar auf den eigenen Bereich beschränkt, typischerweise entzweiend und vor allem im technischen Sinn illegitim ist - gedeckt weder durch formale Autorität oder akzeptierte Ideologie, noch durch erwiesenes Expertentum (obwohl sie all das in Anspruch nehmen kann)" (Mintzberg 1983, 172). Woran erkennt man eine durch und durch politisierte Organisation? Mintzberg (1983) kombiniert dazu zwei Analyseperspektiven: Konfliktintensität und Konfliktreichweite (siehe die folgende Tab. 1-1). Obwohl die resultierende Typologie relativ grobe Akzente setzt, führt sie doch vor Augen, dass sich hinter dem allgemeinen Etikett 'Politisierung' durchaus heterogene Erscheinungsformen verbergen können. Intensität des Konflikts Reichweite des Konflikts schwach stark begrenzt brüchige Allianz Konfrontation umfassend politisierte Organisation vollständig politische Arena Tab. 1-1: Typologie Mintzbergs (1983) (nach Schirmer 2000,70) Dieses Modell verdeutlicht, dass die Politisierung von Organisationen nicht als Entweder-Oder-Variable, sondern als Mehr-oder-weniger-Ausprägung zu behandeln ist. Einschränkend ist anzumerken, dass als Voraussetzung für Politisierung Konflikt unterstellt wird. Damit wird ausgeblendet, dass auch oder gerade das (scheinbar) konfliktfrei Bestehende Ausdruck vorgängiger und/ oder latent gehaltener politischer Gestaltung ist. Sucht man den positiven Pol (von dem Mikropolitik in unerwünschter Richtung abweicht), dann wird deutlich, dass Mintzberg rational-bürokratisches Verhalten zur Orthodoxie erklärt: Es ist formal reguliertes Handeln, das die Interessen der Gesamtorganisation im Auge behält, verbindend agiert und legitim ist, d.h. durch formale Autorität, geltende Ideologie und nachgewiesene Expertise gedeckt ist. Natürlich kann Mintzberg definieren, wie er will. Er wählt mit seinem technizistischen, den (vor-)herrschenden Umständen Tribut zollenden Organisationsverständnis eine buchstäblich irreale Kontrastfolie, die den Vorteil hat, dass die alltäglichen Abweichungen von diesem Idealbild sehr prägnant sichtbar werden. <?page no="68"?> 50 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Genau genommen wird Mikropolitik verharmlost: sie ist der Sammelname für die kleinen, egoistischen und zersetzenden Regelverstöße, die sich die Akteure herausnehmen. Wie die Sache ausgeht, lässt Mintzberg offen, er legt sich nicht darauf fest, dass Mikropolitik auf jedem Fall schädlich ist. Mintzberg hat in einer späteren Arbeit (Mintzberg, Ahlstrand & Lampel 1999) ein ausgewogeneres Urteil abgegeben. Nach der Summierung negativer Folgen von 'organizational politics' heißt es: "In fast allen Organisationen gibt es drei Systeme, deren Mittel als legitim bezeichnet werden können, das heißt, deren Macht offiziell anerkannt ist: formale Autorität, herrschende Kultur und nachgewiesene Sachkenntnis. Doch diese Mittel werden manchmal eingesetzt, um illegitime Ziele zu erreichen (zum Beispiel dazu, notwendige Veränderungen zu verhindern). In solchen Fällen kann ein viertes System, die Politik, eingesetzt werden, um Ziele zu erreichen, die eigentlich legitim sind, obwohl die Mittel (nach unserer Definition) formal nicht legitim sind" (a.a.O., 276). Vier Funktionen werden ausdrücklich hervorgehoben: "Die Politik als System der Einflussnahme kann eine evolutionäre Funktion haben und dafür sorgen, dass die stärksten Mitglieder einer Organisation in Führungspositionen gelangen" […] "Politik kann dafür sorgen, dass alle Facetten einer Angelegenheit ausreichend beleuchtet werden, während die anderen Einflusssysteme möglicherweise einer bestimmten Perspektive den Vorzug geben." […] "Politik kann erforderlich werden, um notwendige Veränderungen herbeizuführen, die von den legitimeren Einflusssystemen blockiert werden." […] "Politik kann den Weg für die Durchführung von Veränderungen ebnen" (a.a.O., 276f.). Die Legitim-Illegitim-Differenzierung wird auch von Zanzi & O'Neill (2001) benutzt, die (wie auch Mayes & Allen 1977 und Vredenburgh & Maurer 1984) zwischen gutgeheißenen (positiv sanktionierten) und missbilligten (negativ sanktionierten) Taktiken unterscheiden. Zu den ersten gehören ihrer Meinung nach Netzwerk-Arbeit, Koalitionsbildung, rationales Argumentieren, Imagepflege, Expertise und Appell an höhere Ziele/ Werte, während sie zu den letzteren 'Günstlinge befördern', 'Kooptation', 'Manipulation', 'Platzierung von Vertrauten', 'Einschüchterungen und Beleidigungen', 'Informationskontrolle', 'Andere kritisieren und angreifen' zählen. Für die Nutzung der gebilligten Taktiken wurden von ihren Befragten deutlich höhere Häufigkeitswerte (und höhere soziale Erwünschtheit) berichtet als für die 'verbotenen' (Zanzi & O'Neill 2001, 257). Darauf stützen sie auch die Folgerung, dass die Nutzung mikropolitischer Taktiken nicht unbedingt negativ zu bewerten ist (weil ganz offenkundig gebilligte Taktiken sehr häufig eingesetzt werden). Sie diskutieren auch die Möglichkeit eines Methodenartefakts <?page no="69"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 51 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ bei direkten Fragen nach dem Taktikeinsatz. Es mag sein, dass die nicht gebilligten Taktiken - weil sie als unerwünscht gelten - öfter verleugnet und geheim gehalten werden, was aber nichts besagt über die Häufigkeit ihrer tatsächlichen Nutzung. Auch Gebert hat seine ursprünglich (1996) radikale Ablehnung von Mikropolitik revidiert. Er differenziert (Gebert 2002, 116f.) drei Positionen beim Umgang mit Mikropolitik: Tabuisierung, Pragmatismus und Dramatisierung. Tabuisierung bezeichnet die Leugnung der Existenz von Mikropolitik ("Gibt es nicht! "); Dramatisierung sieht - so die Neuberger 1996 attestierte Position - Mikropolitik als omnipräsent und unvermeidlich an und ruft sie eben deshalb hervor bzw. stabilisiert sie. Wenn der Eindruck erweckt wird, jeder betreibe sie, muss sich auch jeder beeilen, sie selber kompetent zu praktizieren, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Die oben skizzierte kleinsche Spirale eskalierender Überbietung ist eröffnet. Pragmatismus - die vermittelnde Position, die Gebert für sich in Anspruch nimmt - ist "randbedingungssensibel" und eröffnet Möglichkeiten zur Begrenzung von Mikropolitik: Diese wird also nicht rundweg zurückgewiesen und verdammt, sondern darf/ soll unter bestimmten Bedingungen kontrolliert eingesetzt werden. Damit diese Sichtweise nicht zum puren Machiavellismus degeneriert ("Der Zweck/ die Bedingungen heiligen die Mittel"), müsste Gebert sachliche(! ? ) Kriterien für zulässige Bedingungen nennen. Oder ist es schon mikropolitische Kunst, die Zulässigkeit geltend zu machen? Wie sehr Vorannahmen über die Natur der Mikropolitik deren empirische Erfassung determinieren, kann am folgenden Beispiel der POPS illustriert werden. Muss, wer die Befragten instruiert, nur die roten Objekte in ihrer Umwelt wahrzunehmen, sich wundern, wenn die so beschriebene Welt rot ist? 1.4.3. Exkurs POP-Skala Zur Operationalisierung einer Mikropolitik-Definition In mehreren Studien (1992, 1996, 1998, 2004, 2005) hat sich Gerald Ferris (zusammen mit verschiedenen KoautorInnen) mit der Wahrnehmung des Politik- Klimas in Organisationen befasst und einen Fragebogen dazu entwickelt, der POPS genannt wurde (Perceptions of Organizational Politics Scale). Die entscheidende Akzentsetzung ist, dass der subjektive Eindruck des befragten Organisationsmitglieds erfragt wird in Bezug auf die politischen Manöver, mit denen es üblicherweise rechnet. Entsprechend ihrem Vor-Urteil, dass 'organizational politics' dysfunktional (für wen? ) seien, haben die Autoren Items zusammengestellt, die den negativen Pol von Erfahrungen und Erwartungen in Bezug auf 'Politisierung' auf den Punkt <?page no="70"?> 52 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ bringen. Die Folge der Vorentscheidung ist, dass die POPS wie eine Abfalltonne anmutet, in die Beschreibungen gekippt wurden, die 'politics' als bedenkliches, leistungsfeindliches, unfaires, schädliches und egoistisches Treiben erscheinen lassen. Es ist deshalb auch keine Überraschung, wenn die POPS die Lizenz zum Dampfablassen gibt: "Was Sie schon immer über die unfairen Zustände im Unternehmen gewusst haben und sich nie offen zu sagen getrauten! " Die verschiedenen Fassungen der POPS können als anklagende und abwertende Aufstellungen von "Wahrnehmungen" Tugendhafter und/ oder Frustrierter gesehen werden, die zum Ausdruck bringen, dass ihr Unternehmen den normalen (oder hohen) Anforderungen nicht gerecht wird, die Rational- oder Moralprinzipien stellen. Damit wird zwar ein von mehreren Autoren (wie dem frühen Mintzberg, Klein oder Gebert) geprägtes und gepflegtes negatives Vorurteil quasi inventarisiert, aber gleichzeitig die Chance vertan, auch die positiven Seiten der politics zu beleuchten. Im dem Maße, wie - etwa ab 1995 - eine solch balancierte Bewertung Platz greift, hat sich auch das Interesse an der POPS und ihrer einseitigen Perspektive abgeschwächt. Die Ferris-Gruppe hatte inzwischen sogar ihr Damaskus- Erlebnis und sich vom Verächter zum Bewunderer von 'political skills' gewandelt. Beleg ist u.a. ihr PSI (Political Skill Inventory), mit dem sie nach dem Vorbild der golemanschen 'Emotional Intelligence' das Konzept der 'Political Skills' promoten. Nun ist eines die abstrakte verbale Definition, ein anderes die Konkretisierung in Fragebogen-Items. Insofern ist es aufschlussreich, die Entwicklung der POPS zu skizzieren. Sie ist eine Abfolge von Einkreisungsversuchen, die sich von der ursprünglichen kategorialen Konzeption abgekoppelt haben und mit immer neuen Ergebnissen aufwarten. In ihrer 1991-Studie analysierten Kacmar & Ferris sowohl eine 31-Itemwie eine 40-Item-Version der POP-Skala und eruierten für die 40-Item-Version die folgenden 5 Faktoren: (1) allgemeines politisches Verhalten, (2) 'mitmachen, um voranzukommen', (3) Kollegen, (4) Vorgesetzte und (5) Bezahlung & Beförderung. In der 31-Item-Fassung dagegen fanden sie eine in Teilen andere Struktur: (1) Mitmachen, um voranzukommen (go along to get ahead), (2) selbstdienliches Verhalten, (3) KollegInnen, (4) Cliquen, (5) Bezahlung und Beförderung. Eine auf Grund von Itemanalysen auf 12 Items reduzierte Kurzfassung wurde von Nye & Witt (1993) analysiert und als eindimensional interpretiert. Auch Vigoda <?page no="71"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 53 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ (2003) verwendet bei seinen verschiedenen Studien eine 12-Item-Version (202), aber auch eine 6-Item-Version (196). 1992 legten Ferris & Kacmar einen Fragebogen vor, der aus folgenden fünf Items bestand: 1. Günstlingswirtschaft statt Leistung bestimmt, wer vorankommt. 2. Hier ist kein Platz für Jasager; gute Ideen sind erwünscht, auch wenn das bedeutet, dass man mit Vorgesetzten uneins ist. (umgepolt) 3. Hier kannst du vorankommen, wenn du ein netter Kerl bist, ohne Rücksicht auf die Qualität deiner Arbeit. 4. Mitarbeiter werden dazu ermuntert ihre Meinung offen heraus zu sagen, auch wenn sie sich kritisch zu etablierten Ideen äußern. (umgepolt) 5. Es gibt 'Cliquen' oder 'Insider-Gruppen', die hier die Effektivität behindern. Die Faktorenanalyse ergab eine 1-Faktorenlösung, die 44% der Gesamtvarianz abdeckte. Die interne Reliabilität dieser Kurz-Skala betrug .74. 1996 haben Ferris, Frink, Galang, Zhou, Kacmar & Howard für die 40-Item- Version der POPS eine hohe interne Reliabilität (.93) ermittelt. Kurz darauf widmete sich die Ferris-Gruppe (Fedor, Ferris, Harrell-Cook & Russ 1998) u.a. der Frage, ob man es bei POP mit einem ein- oder mehrdimensionalen Konstrukt zu tun habe. Einige andere Studien hatten nämlich Hinweise dafür erbracht, dass Subdimensionen wichtig sein könnten, z.B.: - Klarheit vs. Ambiguität (etwa bei der Definition der Entgelt- und Beförderungspolitik), - Belohnungen, die von dem oder der Vorgesetzten kontrolliert werden, - Wirkung einflussreicher oder dominanter Anderer. In dieser Studie, die mit der 31-Item-POPS arbeitete, wurden wiederum 5 Faktoren eruiert, die jedoch mit der früheren Lösung (1991) nichts gemein haben. Jene 16 Items, die mindestens .50 auf einem Faktor und nicht höher als .15 auf einem anderen Faktor luden, wurden für ein bereinigtes Instrument beibehalten. <?page no="72"?> 54 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die 16 Items und Faktoren sind im Folgenden wiedergegeben (angeführt sind die Item-Nummern der Originalfassung): I. Wichtige Andere (key others) 07. Gewöhnlich kannst du hier kriegen, was du willst, wenn du die richtige Person kennst, die du fragen musst. 06. Normalerweise braucht ein neuer Mitarbeiter ein paar Monate bis er herausbekommt, wem er besser nicht in die Quere kommen sollte. 09. In dieser Abteilung hat es immer eine einflussreiche Gruppe gegeben, an der nie jemand vorbeigekommen ist. II. Belohnungen (rewards) 17. Leute, die bereit sind ihre Meinung zu sagen, scheinen 'besser' dazustehen als die, die das nicht tun. 16. Belohnungen bekommen in dieser Organisation nur diejenigen, die hart arbeiten. (U = Umgepolt) 12. Es scheint, dass Personen, die in Zeiten von Krisen oder Unsicherheit Standvermögen zeigen, diejenigen sind, die vorankommen. 18. In dieser Abteilungen bekommen im allgemeinen Top-Leister Beförderungen (U) III. Verzerrung (distortion) 20. Ich habe erlebt, dass - um persönlich zu profitieren - Personen Informationen, die andere erbeten haben, absichtlich verfälscht haben, sei es, dass sie sie zurückgehalten oder selektiv weitergegeben haben. 25. Die Regeln und Richtlinien in Bezug auf Bezahlung und Beförderung sind fair; aber wie die Vorgesetzten die Richtlinien handhaben, das ist unfair und dient ihren eigenen Interessen. 23. Ich habe erlebt, dass Veränderungen in Richtlinien vorgenommen wurden, die allein den Zielen weniger Personen dienen, nicht aber der Arbeitsgruppe oder Organisation. 22. In dieser Organisation kommst du nach oben, wenn du Andere runtermachst. IV. Image 30. Wenn Kollegen Unterstützung anbieten, dann tun sie das, weil sie sich davon etwas erwarten (z.B. eine gute Figur machen, eine Gegenleistung bekommen usw.) und nicht, weil sie sich wirklich kümmern. 13. Sofern Handlungen Anderer mich direkt betreffen, kümmere ich mich um das, was sie tun. 28. Wenngleich vieles von dem, was mein(e) Vorgesetzte(r) hier tut (z.B. kommunizieren und Feedback geben usw.) darauf gerichtet scheint den Mitarbeitern zu helfen, geschieht es nur in der Absicht sich selbst zu schützen. 14. Wenn mein(e) Vorgesetz(r) mit mir kommuniziert, will er/ sie damit besser dastehen, nicht mir helfen. V. Klarheit 31. Bezahlungs- und Beförderungs-Richtlinien werden normalerweise in dieser Organisation klar kommuniziert (U) 24. Insgesamt gesehen sind hier die Regeln und Richtlinien, die Beförderung und Bezahlung betreffen, detailliert und klar definiert. (U) <?page no="73"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 55 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Der Fragebogen erscheint als eine recht willkürliche Sammlung von persönlichen Eindrücken, Ressentiments, Gruppenmeinungen usw.; von einer konzeptionell oder theoretisch orientierten Vorselektion ist wenig zu erkennen. Unexpliziert bleibt auch, aus welchem (strukturierten) Universum von Fragen gerade diese ausgewählt wurden, denn - wie andere Instrumente zeigen - man hätte durchaus auch andere Dimensionen ansprechen können. Es überrascht bei dieser Ausgangssituation nicht, dass ein und dasselbe Item in verschiedenen Substichproben auf jeweils anderen Faktoren laden kann (s. die Ergebnisse in Kacmar & Ferris 1991). 1.4.4. PSI (Political Skill Inventory) Den Mängeln der POPS haben Ferris, Treadway, Kolodinsky, Hochwarter, Kacmar, Douglas & Frink (2005) mit der Entwicklung eines 'Political Skill Inventory' (PSI) nur teilweise abgeholfen. Sie postulieren gegenüber einer früheren eindimensionalen 6-Item-Fassung nun eine 18-Item-Version, die sie per Item- und Faktorenanalyse aus einem Pool von insgesamt 40 Items destilliert haben. Diese 40 Items wurden nach inhaltlichen Überlegungen zusammengestellt, weil 'political skill' nach Meinung der Autoren vier Dimensionen hat: soziale Gewitztheit (astuteness), Netzwerkfähigkeit, interpersonaler Einfluss und scheinbare Aufrichtigkeit; 'Politisches Geschick' kann in Analogie zur Emotionalen Intelligenz quasi als 'Politische Intelligenz' betrachtet werden. Items, die auf diesen vier (und - möglichst rein - auf nur jeweils einer dieser vier) Dimensionen hoch laden, wurden in der Endfassung belassen (s. dazu den Beleg 1-5, in dem die 6-Item-Urfassung, die 40- Item-Version und die 18-Item-Form zusammengestellt sind). Es ist kaum zu erwarten, dass ein willkürlich-oberflächliches Sammelsurium von Fragen zu einem besseren Verständnis mikropolitischer Prozesse führt. Die Beliebigkeit der Itemzusammenstellung ist umso überraschender, als Ferris und seine KollegInnen ein politisches Analysemodell zu Grunde legen, in dem sie vier Klassen von Vor-Bedingungen 18 unterscheiden. Statt die offenbar unterstellten Einflussprozesse in den Items nachzubilden, werden heterogene Aspekte zusammengewürfelt. Zwar werden auf diese Weise große Datenmengen produziert und 18 Nämlich: organisationale (z.B. Zentralisierung, Formalisierung, hierarchische Ebene), arbeitsplatzbezogene (z.B. Aufstiegsmöglichkeiten, Zeit seit der letzten Beförderung, Zeit seit der letzten Personalbeurteilung) und personbezogene (z.B. Geschlecht, Alter, Dienstalter) und abhängige Größen (z.B. Arbeitszufriedenheit, Firmentreue, Stress und Angst, Engagement) (siehe Abb. 3-3 auf S. 162). <?page no="74"?> 56 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 1-5: "Political Skill Inventory" (PSI) Ferris, Gerald R., Treadway, Darren, C., Kolodinsky, Robert, W., Hochwarter, Wayne A., Kacmar, Charles, J., Douglas, Ceasar & Frink, Dwight, D. (2005): Development and Validation of the Political Skill Inventory. Journal of Management 31, (1), 126-152; hier: 149-150. 1. I find it easy to envision myself in the position of others. Es fällt mir leicht mich in der Position anderer zu sehen. 2. In social situations, it is clear to me just what to say and do. In sozialen Situationen ist es mir klar, was ich im Augenblick sagen oder tun muss. 3. I spend a lot of time and effort at work networking with others. Ich verwende eine Menge Zeit und Mühe darauf, mich mit anderen zu vernetzen. (NA) 4. I am good at getting others to work well together. Ich bin gut darin andere dazu zu bringen gut zusammenzuarbeiten 5. I am able to make most people feel comfortable and at ease around me. Ich schaffe es, dass die meisten Leute um mich herum sich wohl und bequem fühlen. (II) 6. I am good at making myself visible with influential people in my organization. Ich bin gut darin einflussreiche Personen in meiner Organisation auf mich aufmerksam zu machen. 7. I am able to adjust my behavior and become the type of person dictated by any situation. Ich bin dazu fähig, mein Verhalten anzupassen und die Art von Person zu werden, die die jeweilige Situation erfordert. 8. I am able to communicate easily and effectively with others. Ich bin fähig mit anderen ungezwungen und effektiv zu kommunizieren. (II) 9. It is easy for me to develop good rapport with most people. Es fällt mir leicht mit den meisten Leuten gut zu harmonieren. (II) 10. I am good at reading social situations, and determining the most appropriate behavior to demonstrate the proper impression. Ich bin gut darin soziale Situationen zu durchschauen und das bestgeeignete Verhalten zu finden, um den richtigen Eindruck zu machen. 11. I am very conscious of how I am perceived by others. Ich bin mir sehr bewusst, wie ich von anderen wahrgenommen werde. 12. I have always prided myself in having good savvy, street smarts, or political skill at work. Ich war immer stolz darauf, dass ich gutes Gespür, einen richtigen Riecher oder politisches Geschick bei der Arbeit habe. 13. I understand people very well. Ich verstehe Menschen sehr gut. (SA) 14. I am the one who can get people to work well together. Ich bin derjenige, der Menschen zu guter Zusammenarbeit bewegen kann. 15. I try to make people feel important by what I say and do. Ich versuche Menschen das Gefühl der Wichtigkeit zu geben bei dem was ich sage und tue. 16. I am good at building relationships with influential people at work. Ich bin gut darin Beziehungen mit einflussreichen Leuten in der Arbeit aufzubauen. (NA) 17. I am good at getting others to respond positively to me. Ich bin gut darin andere dazu zu bringen, positiv auf mich zu reagieren. 18. I usually try to find common ground with others. Ich versuche gewöhnlich eine gemeinsame Basis mit anderen zu finden. 19. I think a lot about how, as well as what, I say when presenting an idea to others. Ich denken viel darüber nach wie und was ich sage, wenn ich anderen eine Idee vorstelle. 20. I check up situations before deciding how to present an idea to others. Ich prüfe die Situation, bevor ich entscheide, wie ich anderen eine Idee präsentiere. <?page no="75"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 57 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 21. I am particularly good at sensing the motivations and hidden agendas of others. Ich bin besonders gut darin, die Motivationen und geheimen Anliegen anderer zu erspüren. (SA) 22. I am good at reading others' body language. Ich bin gut darin, die Körpersprache anderer zu verstehen. 23. When communicating with others, I try to be genuine in what I say and do. Wenn ich mit anderen kommuniziere, versuche ich in dem, was ich sage und tue, aufrichtig zu sein. (AS) 24. I have developed a large network of colleagues and associates at work whom I can call on for support when I really need to get things done. Ich habe bei der Arbeit ein großes Netzwerk von Kollegen und Verbündeten geknüpft, auf deren Unterstützung ich mich verlassen kann, wenn ich wirklich etwas in die Tat umsetzen möchte. (NA) 25. At work, I know a lot of important people and am well connected. Bei der Arbeit kenne ich eine Menge wichtiger Leute und bin gut integriert. (NA) 26. I spend a lot of time at work developing connections with others. Ich verwende viel Zeit darauf, Beziehungen mit anderen aufzubauen. (NA) 27. I try to get others to talk about themselves. Ich versuche andere dazu zu bringen über sich selbst zu reden. 28. I listen carefully and attentively when people talk to me. Ich höre sorgfältig und aufmerksam zu, wenn Leute mit mir sprechen. 29. I am good at getting people to like me. Ich bin gut darin andere dazu zu bringen mich zu mögen. (II) 30. It is important that people believe I am sincere in what I say and do. Es ist mir wichtig, dass Leute mich für aufrichtig halten in dem was ich sage und tue. (AS) 31. I try to show a genuine interest in other people. Ich versuche ein echtes Interesse an anderen Leuten zu zeigen. (AS) 32. I am good at using my connections and network to make things happen at work. Ich bin gut darin, meine Verbindungen und Netzwerke zu nutzen, damit etwas geschieht bei der Arbeit. (NA) 33. I try to see others' points of view. Ich versuche den Standpunkt anderer zu verstehen. 34. I try to find solutions to problems that incorporate others' views and opinions. Ich versuche solche Problemlösungen zu finden, die die Ansichten und Meinungen anderer integrieren. 35. I am good at coordinating the efforts and talents of team members to bring about effective team outcomes. Ich bin gut darin, die Anstrengungen und Talente von Gruppenmitgliedern zu koordinieren, sodass effektive Gruppenleistungen resultieren. 36. I am conscious of getting myself in the best position to take advantage of opportunities. Ich weiß, wie ich mich in die beste Ausgangsposition bringen muss, um Chancen nutzen zu können. 37. I have good intuition or savvy about how to present myself to others. Ich habe eine gute Intuition oder Geschicklichkeit, wie ich mich anderen darstellen muss. (SA) 38. I always seem to instinctively know the right things to say or do to influence others. Ich scheine immer instinktiv das Richtige sagen oder tun zu können, um andere zu beeinflussen. (SA) 39. I pay close attention to people's facial expressions. Ich achte sehr auf den Gesichtsausdruck der Leute. (SA) 40. Sometimes I feel like an actor because I have to play different roles with different people. Ich fühle mich manchmal wie ein Schauspieler, weil ich bei verschiedenen Menschen verschiedene Rollen spielen muss. <?page no="76"?> 58 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Auf jedes der Items war im Likert-Format zu antworten; es gab jeweils folgende Antwortalternativen: 1 = strongly disagree 2 = disagree 3 = slightly disagree 4 = neutral 5 = slightly agree 6 = agree 7 = strongly agree Die fett eingerahmten Items sind Bestandteile der 18-Item-(Schluss-)Version des PSI. Die grau unterlegten Items sind Bestandteile der ursprünglichen 6-Item-Fassung des PSI. Dimensionen des PSI: Die Angaben in Klammern hinter den 18 PSI-Items geben die Zugehörigkeit zu den vier vorausgesetzten und faktorenanalytisch bestätigten Dimensionen des PSI an: NA = Networking Ability (Netzwerkfähigkeit); II = Interpersonal Influence (interpersonaler Einfluss); SA = Social Astuteness (soziale Cleverness/ Durchtriebenheit/ Gewitztheit); AS = Apparent Sincerity (scheinbare Aufrichtigkeit). Kommentar: a) Drei Formen der Itemformulierung Sieht man sich die konkrete Itemformulierung an, dann scheinen drei Formen der Verbalisierung vorzuherrschen: 1. Eigenschaften: Ich bin gut, ich bin fähig, ich weiß viel 2. Bemühungen: Ich versuche … 3. Verhaltensweisen: Ich tue, mache, habe entwickelt, höre zu … b) Zur Konstruktdefinition: Warum greifen die Autoren vier und nur diese 4 Konzept-Dimensionen heraus? Sie bieten keine theoretische Begründung für den Befund, dass bei ihrer 18-Item-Lösung nur eine Submenge der insgesamt angebotenen 40 Items bestätigt wurde? Was ist - näher besehen - "interpersonal influence" (gutes Klima schaffen, Sympathie erwecken, gut kommunizieren)? c) Welche Voraussetzungen werden gemacht? Bei der Konstruktvalidierung wird durch weitere Fragebogen, die gleichzeitig ausgefüllt wurden, die Abgrenzung zu 'Soziale Intelligenz', 'Sozialkompetenz', 'Emotionale Intelligenz', 'Allgemeine Intelligenz' geprüft. Obwohl wegen niedriger Korrelationen das 'common method variance"-Argument zurückgewiesen wird, ist dieser Selbst-Freispruch nicht überzeugend, weil es für niedrige Korrelationen zwischen Sets von schriftlichen Skalen (mit je 5-20 Items) auch noch andere Gründe gibt. Es gibt keine Reflexion darüber, warum die Mehrzahl der Items (22 von 40) nicht eindeutig auf den 4 postulierten und bestätigten Dimensionen lädt. Welche Annahmen liegen der Strategie zu Grunde, auf Basis von Itemanalysen (Item-Gesamtwert(! )-Korrelationen) Items auszusondern? Schleicht sich nicht doch wieder die Fiktion eines homogenen Traits "Political Skill" ein? Wenn Political Skill keine stabile Eigenschaft (Trait) ist, sondern auch veränderbar/ lernbar ist: unter welchen Umständen lernt man wie viel in welcher (Sub-)Dimension? <?page no="77"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 59 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ mit sophistizierten statistischen Verfahren verarbeitet, aber die durchwegs recht schwachen Zusammenhänge werfen mehr Rätsel auf als sie lösen. Das ist an sich ja kein schlechtes Resultat, wenn damit eine Forschungsstrategie abgearbeitet werden könnte. Wer sich aber auf Zufallstreffer verlässt, hat dann auch nur die Erfolgswahrscheinlichkeit eines Lottospielers. 1.5. Mikropolitik als abweichendes Verhalten Als Oberkategorie für sowohl extra-produktiv wie kontraproduktiv abweichendes Verhalten eignet sich "deviantes" Verhalten. Tab. 1-2 gibt einen Überblick über die Varianten, die in der Forschungsliteratur diskutiert werden. Spricht man von deviantem Verhalten, stellt sich die Frage, wovon ein solches Verhalten abweicht: von den vorherrschenden informellen Normen oder von formalen Organisationsvorschriften oder gar von Gesetzesnormen? Das wird deutlich in der Vierfelder-Typologie von Danielle Warren (2003), die sie durch die Kreuzung von zwei bipolaren Dimension konstruiert hat: 1. Referenzgruppen- Normen vs. Hypernormen (allgemeine kulturübergreifende moralische Standards) und 2. Konformität vs. Abweichung. Man hat es in Unternehmen immer mit deviantem Verhalten zu tun, wenn man davon ausgeht, dass es eine Vielzahl von Stakeholders (Normengebern, Erwartungsträgern) gibt, die unterschiedliche Vorstellungen von richtigem oder angemessenen oder vertraglich vereinbartem Handeln haben. Greift man aus der Menge der in Tab. 1-2 genannten Beispiele ein bestimmtes normabweichendes Verhalten heraus (z.B. Intrapreneurship), dann geht ein solch engagiertes, innovatives, unternehmerisches Handeln sicher über "reguläres", übliches, normal(isiert)es Verhalten hinaus, das sich darauf beschränkt, die Pflicht (oder was einem gesagt wird) zu tun. Devianz ist keineswegs stets negativ, im Gegenteil, es gibt eine Fülle von - zumindest aus dem Prinzipal- Standpunkt - positiv bewerteten Normabweichungen. Man kann sich - worauf später noch ausführlich eingegangen wird (s. Kap. 5.5., S. 449ff.) - sogar fragen, ob es überhaupt die Möglichkeit des konsequenten rule following gibt - oder ob nicht jedes scheinbar regeltreue Verhalten gleichzeitig auch eine kreativ interpretierende, Regeln (an-)wendende Leistung ist - worauf hinzuweisen Ortmann (2003b, 2004) nicht müde wird. <?page no="78"?> 60 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Deviantes Verhalten Kontraproduktives Arbeitsverhalten Extra-Produktives Verhalten Misbehavior in Organizations (Vardi & Wieser 1996) Misconduct at Work (Vardi 2001) Deviance in Organizations (Raelin 1994, Warren 2003) Workplace Deviance (Robinson & Greenberg 1998; Bennett & Robinson 2000) Deviant Workplace Behaviors (Robinson & Bennett 1995) Noncompliant Behavior (Puffer 1987) Dysfunctional Work Behaviors (Griffin, O'Leary-Kelly & Collins 1998) Counterproductive Work Behavior (CWB) (Marcus et al. 2002, Gruys & Sackett 2003, Fox & Spector 2004; Sackett & DeVore 2001) Counterproductive Job Performance (Collins & Griffin 1998) Discretionary Behavior at Work (Dalal, Sims & Spencer 2003) Employee Sabotage (Giacalone, Riordan & Rosenfeld 1997) Antisocial Behavior in Organizations (Giacalone & Greenberg 1997) Illegales, (wirtschafts-)kriminelles Verhalten (Baucus & Baucus 1997) KPMG, McKinsey, PriceWaterhouseCoopers Mobbing bzw. Bullying, Harassment, Abuse (Leymann 1993, Neuberger 1999 3 ) Prosoziales Verhalten Extra-Role-Behavior (Van Dyne & LePine 1998), Supra-Role-Behavior, Counter-Role- Behavior (Staw & Boettger 1990) Commitment (Moser 1996, Van Dick 2004, Meyer, Allen & Smith 1993) Eigenverantwortliches Verhalten (EVH) Koch 2001, Koch, Kaschube & Fisch 2003 Organizational Citizenship Behavior (OCB) bzw. Citizenship Performance (Organ 1988, Staufenbiel 2000, Staufenbiel & Hartz 2000, Muck 2003, 2006, Coleman & Borman 2000, Borman & Penner 2001) Contextual Performance (CP) Coleman & Borman 2000, 39; Borman & Motowidlo 1993. Soziale Verantwortung (Bierhoff 2000) Innovation, Kreativität (Gebert 2002) Intrapreneurship (Pinchot 1985) Organizational Spontaneity (George & Brief 1992) Whistle Blowing (Miceli & Near 1997) (Deiseroth 2001, Löhr 2001) Principled Organizational Dissent (Graham 1986) Voice (Hirschman 1978) Freiwilliges Arbeitsengagement (Hertel, Bretz & Moser 2000) Tab. 1-2: Die vielen Namen und Facetten kontraproduktiven und extra-produktiven Handelns in Organisationen Sieht man Mikropolitik als abweichendes Verhalten, sind drei Fragen zu klären: 1. Wie und von wem ist der Bezugsbereich des Normalen definiert, von dem abgewichen wird, 2. in welche Richtung wird abgewichen und 3. wie wird die Abweichung bewertet? <?page no="79"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 61 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zu 1.: Der Normalbereich kann nicht das Faktische sein (denn das ist mikropolitisch geprägt), er wird vielmehr kontrafaktisch fingiert und müsste eigentlich Normbereich heißen. Er bezeichnet ein richtiges Verhalten, das so ist, wie es/ man sein soll (Zum Beispiel: Alle tun immer ihre Pflicht, halten sich an die Abmachungen und geltenden Regeln, denken mit, vergeuden keine Ressourcen, sind kooperativ und belastbar usw.). Zu 2.: Devianz kann unipolar bestimmt sein (alles Nicht-Normale ist abweichend) oder multipolar, im einfachsten Fall bipolar (die Devianz kann im Sinne einer Überbietung oder Unterbietung der Normalwerte erfolgen). Man tut zum Beispiel erheblich mehr als vorgeschrieben ist (engagiert sich weit über die Pflichten hinaus: Supra- oder Extra-Rollenverhalten) oder man bleibt deutlich hinter den Anforderungen zurück (verfehlt die Standards von Arbeitsquantität und -qualität, Kundenfreundlichkeit, Gewissenhaftigkeit usw.). Eine multipolare Abweichung würde darin bestehen, dass eine definierte Dimension (z.B. Produktivität) durch eine andere ersetzt wird. Kriminelles Handeln ist unter Umständen keine Untererfüllung von Erwartungen, sondern 'ganz anderes', unerwartetes Verhalten (absichtliche Verletzung von Sicherheitsvorschriften oder Drogenkonsum bei der Arbeit können zu Unfällen führen, die Leib und Leben anderer gefährden; Ähnliches gilt für Mobbing, Diebstahl, Urkundenfälschung usw.). Zu 3.: Nicht jedes Supra-Rollenverhalten ist positiv zu werten: Eifer kann in Richtung Übereifer, Sorgfalt in Richtung Pedanterie, Folgsamkeit in Richtung Unterwürfigkeit etc. übersteigert werden und wäre dann negativ konnotiert. Auch die Verletzung von Normen muss nicht immer dysfunktional sein. Eine Führungskraft verletzt z.B. ihrerseits Normen, wenn sie geringfügige Normverletzungen ihrer Unterstellten nicht wie vorgeschrieben ahndet, sondern Verständnis zeigt, ein Auge zudrückt, für ihr Entgegenkommen Zugeständnisse des Mitarbeiters einhandelt etc. defizient, pathologisch normal ideal bösartig, diabolisch, Kavaliersdelikte, Gutmenschentum, charakterlos, prinzipienlos, vereinzelte Fehltritte, "edel, hilfreich und gut", von Ehrgeiz zerfressen, gelegentliche Ausrutscher, Altruismus, Aufopferung, hinterhältig, rücksichtslos, keine ganz reine Weste, Fehlerfreiheit, gerissen Schnellschüsse, Notlösungen, (Zero-Defect-Persönlichkeit), pragmatische Kompromisse, vorbildlich fünf gerade sein lassen Tab. 1-3: Das Kontinuum der Mikropolitik <?page no="80"?> 62 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Wenn Mikropolitik definiert wird als die Herstellung und Nutzung von Gelegenheiten für die Instrumentalisierung Anderer zum eigenen Vorteil, dann können die Motive und/ oder Folgen dieser Ver-Mittelung je nach Interessentenstandpunkt positiv, neutral oder negativ bewertet werden. Wenn z.B. die kalkulierte Einschüchterung eines Mitarbeiters diesen fügsam und konzessionsbereit macht, kann ein Manager das als Erfolg einstufen, der Betroffene selbst kann sich erpresst und missbraucht fühlen und Kollegen freuen sich, wenn es den Richtigen getroffen hat, haben Angst, dass ihnen das gleiche blüht oder solidarisieren sich, um den Übergriff abzuwehren. Wird Mikropolitik als eine Variante devianten Verhaltens charakterisiert, dann ist damit das letzte Wort über ihre Bewertung nicht gesprochen - anders als es etwa die Perception of Organizational Politics Scale (POPS, siehe S. 54f.) suggeriert. Betrachtet man die in der Tab. 1-4 polar gegenübergestellten Extreme als Manifestationen devianten Verhaltens, dann wird deutlich, dass nicht die Tatsache der Abweichung vom fiktiven Norm(al)bereich relevant ist, sondern deren Billigung, Legitimität, soziale Erwünschtheit, Folgekosten, Nutzenbeiträge etc. Kontraproduktives Verhalten Extra-Produktives Verhalten Diebstahl, Betrug Supra-Rollen-Verhalten Gewalttätigkeiten Extra-Rollen-Verhalten Sabotage Eigenverantwortliches Handeln Entwürdigung Organiz. Citizenship Behavior Psychoterror principled dissent ('voice') Autoritätsmissbrauch Intrapreneurship Tab. 1-4: Extreme devianten Verhaltens Nur als deviantes Verhalten gesehen, ist der rechte Pol der 'positiven' Überbietungen immer auch eigenmächtiges und eigensinniges Handeln. Es wird meist gerechtfertigt durch die Begründung, dass dies den Organisationszielen diene (siehe Solga & Blickle 2003, 227). Spiegelbildlich ist die Situation beim kontraproduktiven Arbeitsverhalten, das z.B. von Gruys & Sackett (2003, 30) definiert wird als "... jedes absichtliche Verhalten von Seiten eines Organisationsmitglieds, das von der Organisation als gegen ihre legitimen Interessen gerichtet angesehen wird." <?page no="81"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 63 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Wer aber bestimmt, was 'die' Organisations-Ansicht ist? Gilt allein die Management- Perspektive? Und wer legt fest, was 'legitime Interessen' der Organisation sind? Wird abweichendes Handeln positiv bewertet, dann nicht wegen seiner ehrenwerten Motive, sondern nur, weil und wenn es erfolgreich war. (Im Soldaten-Jargon wird das Prinz-von-Homburg-Dilemma lakonisch reduziert auf: "Wenn du einem Befehl zuwider handelst, bekommst du entweder einen Orden oder eine standgerichtliche Erschießung"). Ob etwas 'produktiv' war, weiß man erst im Nachhinein, wenn sich eine stimmige Geschichte erzählen lässt; dabei kann eine erhebliche selbstdienliche Verzerrung (self-serving bias) wirksam sein und zudem wird ein Erfolg nicht von allen Beteiligten gleichermaßen als solcher gesehen, weil die Homogenität der Interessen, die die Rede von den Zielen 'der' Organisation unterstellt, nicht gegeben ist. Je nach Stakeholder-Perspektive kann die Erfolgseinschätzung variieren. Aus gesellschaftlicher Perspektive mag zum Beispiel ein mutiger Einspruch gegen illegales oder illegitimes Handeln führender Organisationsmitglieder (whistle blowing, voice) lobenswert sein, für den Protestierenden aber hat er normalerweise fatale Konsequenzen (s. Leisinger 2003, Löhr 2001, Deiseroth 2001). Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über die Inhalte, die mit kontraproduktivem und produktivem Verhalten assoziiert werden und diskutiere dann abschließend den Bezug zu Mikropolitik. 1.5.1. Kontraproduktives Arbeitsverhalten "Kontraproduktives Verhalten" ist ein zwar eingebürgerter, aber dennoch recht unscharf definierter Begriff; meist ersetzen illustrierende Beispiele eine systematische Taxonomie. Im Regelfall werden höchst heterogene Aktivitäten in den einen Topf des kontraproduktiven Verhaltens geworfen: Bestechlichkeit, Untreue, Diebstahl, Blaumachen, gewalttätiges Verhalten usw. Kontraproduktives Verhalten zeigt, wer abweicht vom Idealbild des guten, willigen, braven, unkomplizierten, einsatzfreudigen Mitarbeiters. Der 'gute Arbeiter' wird dabei beschrieben wie in den Arbeitstugend-Katechismen zu den Anfangszeiten der Industrialisierung. Die Fragebogen zum kontraproduktiven Verhalten lesen sich wie Beichtspiegel, Selbstbezichtigungen, 'öffentliche Selbstkritik', verinnerlichte panoptische Kontrolle. Dies soll an einigen Beispielen illustriert werden. <?page no="82"?> 64 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bennett & Robinson (2000) haben eine "Interpersonal and Organizational Deviance Scale" entwickelt, deren Items im folgenden Beleg 1-6 abgedruckt sind: Beleg 1-6: Interpersonal and Organizational Deviance Scale (Bennett & Robinson 2000) Interpersonale Abweichung Sie haben sich über jemand bei der Arbeit lustig gemacht. Sie haben bei der Arbeit etwas Verletzendes zu jemand gesagt. Sie haben bei der Arbeit ethnische, religiöse oder rassische Bemerkungen gemacht. Sie haben jemand bei der Arbeit mit Flüchen beschimpft. Sie haben jemand bei der Arbeit einen üblen Streich gespielt. Sie haben jemand bei der Arbeit unverschämt behandelt. Sie haben jemand bei der Arbeit öffentlich in Verlegenheit gebracht. Organisationale Abweichung Sie haben von der Arbeitsstelle Eigentum ohne Genehmigung mitgenommen. Sie haben zu viel Zeit auf Phantasieren oder Tagträumen statt Arbeiten verwendet. Sie haben einen Beleg gefälscht, um für Geschäftsspesen mehr Geld als ausgegeben vergütet zu bekommen. Sie haben eine inakzeptable zusätzliche oder längere Pause an Ihrem Arbeitsplatz genommen. Sie sind ohne Erlaubnis zu spät zur Arbeit gekommen. Sie haben Ihre Arbeitsumgebung verschmutzt/ unaufgeräumt hinterlassen. Sie haben es unterlassen, den Anweisungen Ihres Vorgesetzten zu folgen. Sie haben absichtlich langsamer gearbeitet als Sie können. Sie haben vertrauliche Firmeninformationen mit unbefugten Personen diskutiert. Sie haben bei der Arbeit eine illegale Droge genommen oder Alkohol konsumiert. Sie haben sich bei der Arbeit zu wenig angestrengt. Sie haben Arbeit in die Länge gezogen, um Überstundenzuschläge zu bekommen. An der Einteilung von Bennett & Robinson fällt auf, dass die Autorinnen selbstschädigendes kontraproduktives Verhalten nur als Alkohol- oder Medikamentenkonsum berücksichtigen, aber z.B. exzessives Arbeiten (Stress, Burnout), riskantes, gesundheitsgefährdendes Arbeiten (Missachtung von Sicherheitsvorschriften), 'Schlucken' von Beleidigungen und Benachteiligungen etc. unbeachtet lassen. Gruys & Sackett (2003) unterscheiden die folgenden 11 Kategorien kontraproduktiven Verhaltens: <?page no="83"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 65 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 1-7: Kontraproduktives Arbeitsverhalten (Gruys & Sackett 2003) - Eigentumsdelikte (Diebstahl und Ähnliches) - Zerstörung von Eigentum (z.B. Sabotage) - Informationsmissbrauch - Zeit und Ressourcen missbräuchlich verwenden - Gefährdendes Verhalten (Beeinträchtigung der Arbeitsplatzsicherheit) - Fehlzeiten (Absentismus) - qualitativ schlechte Arbeit liefern - Alkoholkonsum - Drogenkonsum - unangemessenes Verbalverhalten (z.B. Beleidigungen, Beschimpfungen) - unangemessenes körperliches Verhalten (z.B. Gewalttätigkeit) Marcus reiht Kontraproduktivität ein in die Sequenz Delinquenz - Devianz - antisoziales Verhalten - Sabotage - Aggression - Wirtschaftskriminalität … Im Einzelnen untersucht er (2000, 845ff.) die im Beleg 1-8 genannten Hauptklassen. Beleg 1-8: Kontraproduktives Arbeitsverhalten (Marcus 2000) - Diebstahl - Absentismus und Arbeitsverweigerung - Alkohol- und Drogenmissbrauch - Aggression und Gewalt (incl. Mobbing, sexuelle Belästigung) Das Universum, aus dem selektiert wird, ist nicht bestimmt; die Kategorien, in die das Verhalten sortiert wird, sind recht heterogen. Während etwa Gruys & Sackett 2003 elf Kategorien vorgegeben haben, nutzen Marcus et al. 2002 nur die genannten 4 Kategorien und können 1 / 3 (! ) ihrer insgesamt 50 Items keiner dieser Kategorien zuordnen, sondern müssen sie in einer Restkategorie ('miscellaneous') unterbringen. Die Fragebogen, in denen die Kategorien konkretisiert werden, enthalten auch Operationalisierungen, die nicht rundweg negativ zu werten sind. Es kommt also auf das 'naming' und 'framing' an. An ein paar Beispielen soll illustriert werden, dass leicht veränderte Formulierungen ganz andere Bewertungen nahe legen: - Phantasieren oder Tagträumen Entwicklung von Visionen - Arbeitsplatz unaufgeräumt hinterlassen kreatives Chaos lieben <?page no="84"?> 66 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - Längere Pausen machen beim Golfspielen Geschäftsgespräche führen - Jemand unverschämt behandeln, Verletzendes zu jemand sagen ein ungeschminktes Feedback geben - Dienstwagen oder Dienst-Handy privat nutzen immer im Dienst sein - kollegiales Fehlverhalten decken eine verschworene Gemeinschaft sein, sich aufeinander verlassen können Das Beunruhigende an den meisten 'kontraproduktiven' Verhaltensweisen ist (in den Augen der Arbeitgeber), dass sie durch ihre Alltäglichkeit vielfach zum Quasi-Gewohnheitsrecht werden. Sie sind üblich, und können deshalb nicht mehr geahndet werden, ohne informelle Normen zu verletzen. "Zero tolerance" ist nicht mehr möglich. "Zusammenfassend handelt es sich also bei kontraproduktivem Verhalten um eine Gruppe einzelner Handlungen, die zwar unerwünscht sind und deshalb in empirischen Untersuchungen die bekannten Probleme 'heikler' oder 'sensitiver' Fragen aufwerfen, als Einzelfall betrachtet aber in aller Regel wenig spektakulär sind und deshalb nicht immer als Problem wahrgenommen werden" (Marcus 2000, 84). Hinzu kommt der Unterschied zwischen "etwas tun" und "etwas nicht tun" bzw. unterlassen. Es ist wohl weniger problematisch, positives Verhalten zu konstatieren (z.B. "jemand schlagen", "etwas stehlen"); viel schwieriger und strittiger dürfte es sein festzustellen, ob jemand "nicht hilft" oder "nicht (ausreichend, rechtzeitig) informiert". Wird die jeweilige lokale Kultur (Gruppennormen oder -standards) berücksichtigt, dann kann es in Teilen der Organisation Normen des Zulässigen oder Üblichen geben, die in anderen Bereichen als unangemessen betrachtet werden. So berichten zum Beispiel Marcus et al. (2002), dass Bierkonsum während der Arbeit in einem Industriebetrieb als okay beschrieben wurde, während er in einer Einzelhandelskette verpönt war. Verhält sich einer anders als es die Gruppennormen vorsehen, läuft er Gefahr, ausgeschlossen oder gemobbt zu werden (z.B. der Mitarbeiter, der entgegen den Bräuchen die Arbeitspausen korrekt einhält). Fragebogen zum kontraproduktiven Verhalten sind ein letztlich vergeblicher Versuch, alle möglichen oder die wichtigsten Abweichungen vom Arbeitsideal aufzulisten. Vieles ist nämlich nicht explizit/ formal geregelt (z.B. in Arbeitsvertrag, Betriebsordnung, Direktionsrechten), oft gibt es Ermessensspielräume, tolerierte Abweichungen, Gegengeschäfte (wenn die Vorgesetzte "ein Auge zudrückt" muss der Mitarbeiter mit entsprechendem Entgegenkommen zurückzahlen) usw. <?page no="85"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 67 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die formalen Regelwerke sind zu einem hohen Anteil relational: sie bedürfen der Ausfüllung und des 'guten Willens' oder Vertrauens. Sieht man sich die Inventare zur Erfassung kontraproduktiven Arbeitsverhaltens an [z.B. neben den in den Belegen 1-6 bis 1-8 genannten auch noch Fox, Spector & Miles (2001) oder - besonders plastisch - die Mobbing-Literatur (Leymann 1993; Neuberger 1999 3 )], dann findet man all die 'Verfehlungen', die vermutlich jedem Personaler und Arbeitsrichter aus Abmahnungen bekannt sind: Blaumachen, privates Email-Schreiben/ Kopieren/ Internet-Surfen/ Telefonieren bei der Arbeit, Schlägereien oder Gewalttätigkeiten, sexuelle Diskriminierung oder Belästigung, falsche Zeiten stempeln, eigene Fehler vertuschen, den Firmenwagen privat nutzen, aus Wut Firmeneigentum zerstört, wichtige/ relevante Informationen nicht an Kollegen/ Vorgesetzte weitergegeben, Diebstahl (eigener oder Nicht-Meldung von Kollegen-Diebstahl), Firmenunterlagen fälschen (nicht nur das Lieblingsbeispiel Reisespesen), Sicherheitsvorschriften umgehen/ verletzen (und dabei sich selbst/ andere gefährden), an andere adressierte vertrauliche Post oder sonstige Informationen lesen, verbilligte Waren oder Leistungen an Freunde etc. abgeben, absichtliche Produktions- oder Produktsabotage, falsche Angaben machen im Einstellungsverfahren, unter (Nach-)Wirkung von Drogen/ Alkohol arbeiten, die zu Hause/ am Arbeitsplatz konsumiert wurden, mit Kollegen/ Kunden/ Vorgesetzen/ Unterstellten Streit anfangen, sie anschreien, sich ihnen in sexueller Absicht nähern, Gerüchte verbreiten, sich über Kleinigkeiten formell beschweren, die eigene Arbeit/ Firma bei Dritten schlecht machen, Arbeitsverweigerung, jemand anderen für eigene Fehler verantwortlich machen, Informationen oder Werkzeuge verstecken, sodass ein anderer sie nicht findet, erbetene telefonische Rückrufe nicht machen, Bestechlichkeit und Bestechung ... Ein kleiner, höchst unvollständiger Auszug aus Grundrechten und juristischen Tatbeständen zeigt, dass die Gesellschaft mit all den "Unproduktivitäten" rechnet und Vorkehrungen zu ihrer Sanktionierung getroffen hat: Verletzung der Würde oder der freien Entfaltung der Persönlichkeit, Verletzung der körperlichen Unversehrtheit oder der Versammlungs- und Meinungsfreiheit, Benachteiligung, Beleidigung, sittenwidriges Handeln, üble Nachrede, Verleumdung, (gefährliche, fahrlässige) Körperverletzung, Gesundheitsgefährdung, Misshandlung von Schutzbefohlenen, Nötigung, Bedrohung, unterlassene Hilfeleistung, Sachbeschädigung, Diebstahl, Missachtung sexueller oder informationeller Selbstbestimmung, Vorteilsnahme, Vorteilsgewährung, Unterschlagung, Bilanzbetrug, Urkundenfälschung ... Die bunte Vielfalt dieser 'Abweichungen' von Pflicht- und Tugendkatalogen des Arbeitsverhaltens kann zwar auf der Basis empirisch ermittelter Korrelationen in einigen Haupt-Kategorien zusammengefasst werden, damit ist aber - wie erwähnt - noch kein theoretischer Fortschritt erreicht. Der wird erst möglich, wenn man die <?page no="86"?> 68 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bedingungen der Möglichkeit solchen Handelns mit berücksichtigt und allgemeinere Handlungsmodelle konzipiert (darauf wird mit Fokus auf Mikropolitik in den Kapiteln 3 und 4 näher eingegangen). Wie bei jeder Verhaltensbeobachtung spielen auch bei der Diagnose kontraproduktiven Verhaltens die Probleme der Perspektivität des Beobachtenden, der Selektivität seiner Beobachtungen und der Unausweichlichkeit von Interpunktion und Attribution eine Rolle. Zum Beispiel kann aggressives Verhalten unter Umständen anders attribuiert oder qualifiziert werden, wenn ihm eine offenkundige Benachteiligung oder eine grobe Beleidigung vorausgegangen ist. Insofern müsste man prüfen, ob im Sinne der Equity-Theory Adams' die scheinbar eindeutig kontraproduktiven Verhaltensweisen Leistungsboykott, Fehlzeiten, Qualitätsmängel etc. 'Ausgleichszahlungen' sind. Aggressives Verhalten, Nicht-Informieren, Nicht-Helfen etc. können Reaktionen auf viele vergebliche Versuche sein, einen unsolidarischen Kollegen zu Räson zu bringen. Zuweilen wird in den Fragebogen-Items mitgenannt, wozu ein bestimmtes Verhalten gezeigt wird (um zu schaden, bloßzustellen etc.). Damit wird - leider nicht systematisch - daran erinnert, dass Handeln eingebettet und intentional gerichtet ist. Die Nach-Frage nach dem Warum oder Wozu eines (scheinbar) kontraproduktiven Verhaltens könnte zugleich eine Gliederungsheuristik inspirieren. Mögliche Qualifikatoren sind: - Unbeherrschtheit, mangelnde Selbstkontrolle (so Marcus et al.); - Wiederherstellung eines Gleichgewichts (equity), Vergeltung, Rache, Zurückzahlen, sich entschädigen für erlittenes Unrecht; - Selbstschutz: um sich nicht zu überfordern (burnout! ), werden Leistung oder Engagement zurückgefahren; - politics: um die Ernsthaftigkeit geltender Regeln zu testen und gegebenenfalls im eigenen Interesse zu 'dehnen'; - erzieherische Kontrolle fremden Verhaltens (Mores beibringen, jemand zur Normenkonformität zurückbringen). Bei den üblichen Fragebogen zum kontraproduktiven Verhalten entsteht der Eindruck, dass nur an Büro, Werkshalle oder Verkaufsraum gedacht wurde. Von den möglicherweise produktivitätssenkenden oder -lähmenden Maßnahmen des Managements wird kaum geredet, ganz zu schweigen von den wirtschaftskriminellen Handlungen, die auf Topmanagement-Ebene begangen werden (Betrug, Bilanzfälschung, Bereicherung, ...). Um das Bewertungsproblem auf die Spitze zu trei- <?page no="87"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 69 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ben (oder auf den Punkt zu bringen): Kann man es nicht 'Misbehavior' nennen, wenn Manager aufgrund von Planungsfehlern oder Fehleinschätzungen Werke stilllegen und Personal entlassen, wenn sie Mitarbeitern Lohnkürzungen zumuten, sich selbst aber durch exorbitante Gehaltssteigerungen belohnen, wenn sie durch unüberlegte Expansion Kapital verbrennen, wenn sie durch exzessive Kontrolle, Zerstückelung der Arbeit, Arbeitsplatzunsicherheit, schlechte Arbeitsbedingungen, Verweigerung von Mitspracherechten, unfaire Entgeltsysteme Desinteresse und Widerstand bei den Arbeitenden schüren? Die Zeitschrift Wirtschaftswoche nennt (2003, 94) in Auswertung einer Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young in der Reihenfolge der Zahl aufgedeckter Delikte die folgenden wirtschaftskriminellen Handlungen: Diebstahl/ Unterschlagung - Schutzrechtsverletzung - Untreue - Betrug - IT-Delikte - Bestechung/ Begünstigung - Wirtschaftsspionage - Erpressung/ Nötigung - Bilanzmanipulation. Große Unternehmensberatungsfirmen (z.B. Ernst & Young, PriceWaterhouseCoopers, KPMG) geben jährlich Reports über die Entwicklung von Wirtschaftskriminalität in den Unternehmen heraus (nicht zuletzt um ihre eigenen Beratungsleistungen auf diesem Bereich verkaufen zu können). Ein pikantes Detail: KPMG musste 2005 selbst 460 Millionen $ Strafgeld bezahlen wegen wirtschaftskrimineller Praktiken (steuerverkürzende Investitionsmodelle)! Dass das Projekt der Untersuchung kontra- oder extra-produktiven Verhaltens noch nicht in der Konsolidierungsphase ist, zeigt sich auch in den vorgegebenen Antwortalternativen für die Fragebogen-Items. Dabei werden recht unterschiedliche Distraktoren angeboten: - Bewertung: starke Zustimmung bis starke Ablehnung (Podsakoff et al. 1990), - Häufigkeit: Wie häufig praktiziert die Bezugsperson das Verhalten (siehe Marcus et al. 2002), - Typizität: Wie gut charakterisiert das Verhalten die Bezugsperson (Organ 1988), - Schwere, Schädigungspotenzial (schwerwiegend - geringfügig), - Zusammenvorkommen (Gruys & Sackett 2003), - Umstände (an bestimmte Auslösebedingungen geknüpft, unter keinen Umständen, unter allen Umständen, s. Gruys & Sackett 2003, 33). Offen bleibt, ob das beschriebene Verhalten tatsächlich 'kontraproduktiv' oder nur 'unproduktiv' ist. Produktivität ist im ökonomischen Diskurs eine reine technische Größe, die eine Input-Output-Relation beschreibt. Arbeitsproduktivität ist z.B. das Verhältnis von eingesetzten Arbeitskräften (oder investierter Arbeitszeit) zur Ausbringungsmenge (oder zum monetär bewerteten Output). <?page no="88"?> 70 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ In seiner ausführlichen und kritischen Diskussion des Produktivitätskonzepts macht Ortmann (1995a, 98ff. und 390f.) darauf aufmerksam, dass jede quantifizierende Bestimmung der Produktivität einen 'Schnitt in die Welt' voraussetzt. Der Globalbegriff 'Output' verdeckt die inhaltlichen Festlegungen, die nötig sind, wenn man das Produktions-Ergebnis messen möchte. Eine Reihe der Folgen (z.B. Umweltverschmutzung, Abfallprodukte, Schadstoffe, Gifte, Krankheiten etc.) wird externalisiert und geht deshalb nicht ins Produktivitätskalkül ein. Produktivität ist nicht länger problemlos zu operationalisieren, wenn man sie als multi-attributives Phänomen sieht (Menge, Qualität; Kurzfrist-, Langzeitfolgen; Stakeholderperspektiven) und insbesondere die Unwägbarkeiten ihrer Monetarisierung berücksichtigt. Überträgt man diese Überlegungen auf das Problem der '(Kontra-)Produktivität' von Arbeitsverhalten (und insbesondere von Mikropolitik), dann kann man sich nicht damit zufrieden geben, irgendeine verfügbare 'abhängige Variable' zu erfassen, sondern muss, wie es häufig schon auf der Inputseite passiert, mehrere Größen in ihren Zusammenhängen und Abhängigkeiten erfassen. Wie es fast schon Standard ist, neben relevanten Verhaltensweisen auch demografische Daten, Persönlichkeitsvariable (beliebt: die Big Five 19 , internale Kontrolle, Machiavellismus etc.) und Organisationsmerkmale (Größe, Branche, Struktur) zu erfassen (siehe dazu Näheres im Kap. 3), so müsste es auch auf der Outputseite zur Gewohnheit werden, nicht nur verschiedene Größen zu messen (Arbeitszufriedenheit, Fehlzeiten, 'performance' (meist über Expertenratings), sondern sich auch um ihre Konstellation in einem nomologischen Netz zu bemühen, um von punktuellen Resultat-Collagen zu theoretisch inspirierter Wissensakkumulation fortschreiten zu können. Im Kontext der Diskussion über 'kontraproduktives Arbeitsverhalten' steht der 'technische' Produktivitätsbegriff (als Effizienz) nur scheinbar im Vordergrund. Statt der Bestimmung einer quantitativen hochaggregierten Verhältnis-Kennziffer geht es eher um ein meist unexpliziertes Kausalmodell, dem inhaltliche Zusammenhangserwartungen zu Grunde liegen. Die Zielgröße (explanandum) ist dabei ein im Regelfall nicht operationalisiertes Leistungsergebnis (Output), gesucht wird nach jenen Verhaltensweisen, die die Zielerreichung gefährden oder blockieren. Im Allgemeinen wird mit Plausibilitätsargumenten gearbeitet: Wenn MitarbeiterInnen streiten, Drogen konsumieren, fehlen, stehlen usw. beeinträchtigt das die Effizienz 19 Extraversion, emotionale Stabilität (Neurotizismus), Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit, (intellektuelle) Offenheit. <?page no="89"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 71 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ oder Rentabilität ihrer Arbeit. Ein Produktionsergebnis, das an sich möglich wäre, kann nicht realisiert werden. Offenkundig wird auch hier mit Fiktionen der Normalität gearbeitet. Für das Gegenstück (produktives Verhalten) gilt Analoges: Wenn MitarbeiterInnen überdurchschnittliche Einsatzfreude, Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Spontaneität, Kooperationsbereitschaft, Eigeninitiative etc. zeigen, werden sie die vorgegebenen Ziele mit geringeren Arbeitskosten, höherer Zuverlässigkeit, niedrigeren Kontrollkosten usw. erreichen. Was aber, wenn solche MitarbeiterInnen dann auch ein größeres Stück vom Kuchen, mehr Mitsprache oder Privilegien wollen? Entsteht dann nicht die Gefahr, dass die Produktivität (wegen des gestiegenen Inputs) reduziert wird und produktives Arbeitsverhalten plötzlich kontraproduktiv ist? Um ein differenziertes Kausal- oder Netzmodell systematisch zu entfalten und zu prüfen, müsste offen gelegt werden, auf welchem Weg und in welchem Maße die einzelnen Verhaltensweisen die Zielerreichung fördern/ blockieren, von welchen dritten Einflüssen sie abhängen und wie sie miteinander zusammenhängen bzw. sich gegenseitig stimulieren oder hemmen. Solch elaborierte Modelle werden nicht vorgelegt. Man begnügt sich meist mit dem scheinbar Offenkundigen und personalisiert. Borman, Penner, Allen & Motowidlo (2001) haben in einem Up-Date einer früheren Meta-Analyse von Organ & Ryan (1995) ein umfangreiches Überblicksreferat über die Beziehungen zwischen Persönlichkeitsfaktoren und Citizenship Performance vorgelegt. Gewissenhaftigkeit und Verlässlichkeit scheinen höher mit 'Bürger-" als mit Leistungsverhalten zusammenzuhängen. Auch Muck (2006, 557) resümiert, dass von den Big Five-Persönlichkeitsfaktoren (niedrige) "Gewissenhaftigkeit" der beste Prädiktor von kontraproduktivem Verhalten ist - oder sollte man eher von Familienähnlichkeit reden? Muck betont dabei vor allem die Bedeutung von "Selbstkontrolle" (Diszipliniertheit, internale Kontrollüberzeugungen) und die Fähigkeit, das Übergewicht der langfristigen negativen Konsequenzen des eigenen Tuns gegenüber den kurzfristigen Vorteilen einzukalkulieren (Impulskontrolle). Allerdings erklärt dies bestenfalls das Unterlassen von kontraproduktivem Verhalten, nicht aber dessen Produktion. Geht man von stabilen Persönlichkeitsdispositionen zu unerwünschtem Verhalten aus, dann liegt es nahe, solche Einsichten für ein Aussondern (screening) entsprechend anfälliger Mitarbeiter zu nutzen. Mit den so genannten 'integrity tests' wer- <?page no="90"?> 72 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ den dafür Instrumente bereitgestellt (siehe dazu Marcus, Funke & Schuler 1997, Marcus 2000; Mumford, Connelly, Helton, Strange & Osburn 2001). Kontrovers wird diskutiert, ob 'Integrität' ein Trait (oder vielmehr situativ induziert) ist, und ob sie ein Trait ist (oder ein Bündel unterschiedlicher Dispositionen). Am Gegenbegriff Heuchelei (Scheinheiligkeit, Bigotterie) lässt sich zeigen (siehe Ortmann 1995a, 1995b), dass Organisationen (besser) funktionieren, weil/ wenn es nicht (immer) integer zugeht. Strukturelle (organisationale oder gesellschaftliche) Bedingungen werden allerdings seltener systematisch und theoretisch reflektiert mit dem Counterpruductive Work Behavior in Beziehung gebracht. Es muss schließlich möglich sein (oder gar: leicht gemacht werden) dieses Verhalten zu zeigen. Solche Ermöglichungsbedingungen können sein: lasche Kontrolle durch Vorgesetzte, fehlendes Prozesscontrolling, geringe Interdependenz der Gruppenmitglieder (keine gegenseitige Überwachung) etc. Solch apersonale Bedingungen können dazu beitragen, dass z.B. Mütter mit kleinen Kindern häufiger fehlen, ohne demotiviert zu sein, dass das Mitgehenlassen von Kleinwerkzeugen oder Büromaterialien üblich ist, dass während der Arbeitszeit im Internet gesurft wird ... Aber es ist keineswegs gesichert, dass Derartiges kontraproduktiv ist. Genauso wie sich gezeigt hat, dass 'Büroschlaf' (power napping) die Produktivität steigert, kann das auch für privates Telefonieren, nur scheinbar Zeit vergeudenden small talk mit KollegInnen, Verletzung von Vorschriften, heftige verbale Auseinandersetzungen etc. gelten. Nach den Überlegungen zum kontraproduktiven Arbeitsverhalten soll noch kurz auf die ebenfalls heterogene Klasse der 'extra-produktiven' Verhaltensweisen eingegangen werden. 1.5.2. Extra-Produktives Arbeitsverhalten Um einen ersten Überblick über die Inhalte zu geben, die mit den verschiedenen Konstrukten des Extra- oder Supra-Rollenverhaltens assoziiert werden (siehe dazu die rechte Spalte in Tab. 1-2, S. 60), drucke ich in Beleg 1-9 Einteilungen verschiedener AutorInnen ab. <?page no="91"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 73 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 1-9: Zur Dimensionalität 'extra-produktiven' Verhaltens Unter 'produktivem' Verhalten verstehe ich in diesem Zusammenhang Verhaltensweisen, die über das normale geforderte Rollenverhalten hinausgehen. Dafür hat sich eine Reihe von Bezeichnungen eingebürgert, denen gemeinsam ist, dass sie das freiwillige, engagierte und überschüssige (nicht einklagbare) Zu-Tun der Arbeitskräfte thematisieren. Im folgenden Überblick nenne ich Beispiele für die Subdimensionen, in die verschiedene Autoren die jeweiligen Globalkonstrukte aufgefächert haben. In der ersten Veröffentlichung zum Thema 'Organizational Citizenship Behavior' (OCB) - mit dem bezeichnenden Untertitel: "The Good Soldier Syndrome" - nannte Organ (1988) fünf OCB-Hauptfaktoren: Altruismus/ Hilfsbereitschaft, Fairness/ Nehmerqualitäten (sportsmanship), Gewissenhaftigkeit, Rücksichtnahme (courtesy) und Bürgertugend (Civic Virtue). Van Dyne, Graham & Dienesch (1994) operationalisierten ihr OCB-Konstrukt mit drei Faktoren: Loyalität ("Stellt die Organisation gegenüber Außenstehenden gut dar"), Pflichterfüllung ("Produziert zu jeder Zeit so viel er/ sie kann"), Partizipation ("Gibt großzügig Ideen für neue Projekte oder Verbesserungen weiter"). Staufenbiel & Hartz (2000) extrahierten 5 OCB-Faktoren: Hilfsbereitschaft ("... hilft anderen, wenn diese mit Arbeit überlastet sind"), Gewissenhaftigkeit ("... macht keine zusätzlichen Pausen"), Unkompliziertheit ("... versucht immer, aus der Situation das Beste zu machen"), Eigeninitiative ("... informiert sich über neue Entwicklungen im Unternehmen"), Rücksichtnahme ("... respektiert die Rechte und Privilegien anderer"). Coleman & Borman (2000) berichten vier "Citizenship Performance" (CP)-Dimensionen: anderen helfen und mit ihnen kooperieren, Organisationsziele billigen, unterstützen und verteidigen, Organisationalen Regeln und Verfahren folgen, mit Enthusiasmus und Extraanstrengung Ausdauer zeigen bei der Erfüllung eigener Aufgaben. Van Dyne & LePine (1998): Hilfsbereitschaft ("... engagiert sich, um seiner Arbeitsgruppe zu nutzen"), sich zu Wort melden (voice): ("... engagiert sich in Fragen, die die Qualität des Arbeitslebens in seiner Gruppe betreffen"), Rollenverhalten ("... genügt Leistungserwartungen"). Hertel, Bretz & Moser (2000): Freiwilliges Arbeitsengagement setzt sich nach Meinung der AutorInnen zusammen aus: Organizational Citizenship Behavior, Organizational Spontaneity, Prosocial Organizational Behavior und Contextual Performance. Bierhoff (2000): Soziale Verantwortung besteht aus Erfüllung der berechtigten Erwartungen anderer, Beachtung der sozialen Spielregeln (z.B.: "Ich gehöre zu der Art von Menschen, auf die sich andere verlassen können", "Ich erledige meine Aufgaben im Allgemeinen so gut ich kann", "Wenn jemand davon abhängig ist, dass ich für ihn einspringe, zögere ich nicht." Borman & Motowidlo (1993, 73, 82f.) unterscheiden bei Contextual Performance fünf Faktoren: Freiwillige Übernahme von Aufgaben, die nicht zur eigentlichen Arbeitsauf- <?page no="92"?> 74 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ gabe gehören; Angehen eigener Aufgaben mit Nachdruck und besonderem Enthusiasmus oder zusätzlicher Anstrengung; Hilfeleistung für andere und Kooperation mit ihnen; Befolgen von Regeln der Organisation, selbst wenn sie der eigenen Arbeit entgegenstehen; Verinnerlichung, Unterstützung und Verteidigung der Organisationsziele (nach Muck 2006, 541). Coleman & Borman (2000, 39) gliedern Contextual Performance (CP) in drei Domänen: Interpersonal (Altruismus, Conscientiousness), Organizational (Allegiance/ Loyalty, Compliance) und Job/ Task (Ausdauer, Enthusiasmus u. Extra-Anstrengungen). Moser (1996) nennt in Zusammenfassung der Dimensionen, die verschiedene Autoren für 'Commitment' vorgeschlagen haben u.a. Identifikation (z.B.: "Ich bin irgendwie stolz darauf, für diese Organisation zu arbeiten"), Involvement (z.B.: "Die wichtigsten Dinge, die mir passieren, haben mit meiner Arbeit zu tun"), Loyalität (z.B.: "Ich könnte mir ziemlich gut vorstellen, den Rest meiner Karriere in dieser Organisation zu verbringen"), Einsatzfreude ("Ich bin bereit, mich viel mehr anzustrengen als es üblicherweise erwartet wird, um beim Erfolg dieser Organisation zu helfen"). Um diese dimensionalen Gliederungen inhaltlich zu veranschaulichen, greife ich im Folgenden das Beispiel des 'eigenverantwortlichen Handelns' (EVH) heraus. Was tut jemand, der 'eigenverantwortlich' handelt? Wie der folgende Beleg 1-10 zeigt, der aus Angaben in Koch 2001, Koch, Kaschube & Fisch 2003, Meifert 2003 und Ripperger 1998 zusammengestellt wurde, ist dieser Typus von Handeln dadurch ausgezeichnet, dass der Akteur sich in engagierter und (intendiert) organisationsdienlicher Weise über bestehende Regeln, Praktiken und Gewohnheiten hinwegsetzt; er geht seinen eigenen Weg, um das, was er für seine Aufgabe hält, umso effektiver ausführen zu können. Die Konstrukte des zugleich extrafunktionalen und extra funktionalen Handelns (EVH oder OCB, CP, Intrapreneurship etc.) zeichnen das idealisierte Bild eines Mitarbeiters, der sich als souveräner 'Unternehmer der eigenen Arbeitskraft' sieht. Er stellt die Ziele der Organisation nicht in Frage, im Gegenteil: er macht sie sich zu eigen und setzt alles daran, mit Kreativität und Ausdauer die Hindernisse zu überwinden, die sich durch Trägheit, Desinteresse, Bürokratie, Konfliktscheu, Duckmäusertum, einschläfernde Routine usw. der Zielverwirklichung entgegenstellen. Kein Wunder, dass ein solch sowohl intelligenter und einsatzfreudiger wie zugleich auch fügsamer und loyaler Mitarbeiter das Traumbild jedes Arbeitgebers verkörpert. <?page no="93"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 75 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 1-10: Beispiele für eigenverantwortliches Handeln - Arbeitsabläufe verbessern (auch wenn etwas anderes im Handbuch steht); - proaktiv handeln: nicht warten, bis einem ein Auftrag erteilt wird; sich selbstständig neue herausfordernde Ziele setzen und unkonventionelle Wege gehen, sie zu erreichen; - neue effektivere Arbeitsmethoden einführen/ ausprobieren, egal was in der Stellenbeschreibung steht, hohe Experimentierfreude zeigen, sich nicht durch Traditionen und Privilegien Anderer aufhalten lassen; - bürokratische Hindernisse aus dem Weg räumen; Vorschriften umgehen, wenn sie dem Erfolg im Weg stehen; - auch gegen Widerstand von oben eigenen Überzeugungen treu bleiben, beharrlich seiner Vision folgen ("Es ist besser, um Verzeihung als um Erlaubnis zu bitten"); - gute Ideen möglichst schnell umsetzen, ohne auf Genehmigung oder Prüfung zu warten; - sich ohne Rücksicht auf den Dienstweg bei den Personen Informationen und Ressourcen holen, die kompetent und hilfreich sein können; - jede Gelegenheit nutzen, um Kontakte zu knüpfen, die für die Arbeit hilfreich sein können; - Beziehungen mit anderen Abteilungen pflegen, obwohl das eigentlich die Aufgabe Anderer (z.B. des/ der Vorgesetzten) wäre; - sich Rückendeckung (bei Kollegen, höheren Vorgesetzten, Expertinnen) holen, bevor man Neuerungen einführt; - hohes Risiko eingehen, um viel zu gewinnen; - sich um Dinge kümmern, die nicht im eigenen Verantwortungsbereich liegen; - wenn sich Chancen ergeben, eigenmächtig vorgehen und notfalls die eigenen Befugnisse überschreiten; - Probleme lösen, ohne genau auf die Vorschriften zu schauen; - auch mal fünf gerade sein lassen, wenn es den Prozess beschleunigt oder das Ergebnis verbessert; - keinem Konflikt aus dem Wege gehen, wenn man eine Chance sieht zu gewinnen. Damit die verschiedenen Konzepte des freiwilligen dedizierten Arbeitsengagements als Beispiele für positives deviantes Handeln gelten können, sind einige Bedingungen ihrer Erfolgswirksamkeit stillschweigend vorauszusetzen: - Keine Entscheidung wird punktgenau getroffen, keine Stellenbeschreibung ist vollständig, aktuell und operational. Es gibt immer Handlungsspielräume. Gesunder Menschenverstand und Mitdenken sind erforderlich, um unvorhergesehene Chancen nutzen und unerwartete Schwierigkeiten bewältigen zu können. <?page no="94"?> 76 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - Eigentlich müsste jedes Organisationsmitglied so handeln, wie es Arbeitsvertrag, Stellenbeschreibung oder Anweisungen vorsehen. Unter bestimmten Umständen aber ist es sinnvoll (weil erfolgsträchtig), sich über diese Vorgaben hinwegzusetzen. - Es gibt Arbeitsteilung und deshalb weiß/ kann keiner alles Nötige allein. Diese Abhängigkeit lässt sich produktiv nutzen; auch unterstellte MitarbeiterInnen haben Verfügungsmacht über Ressourcen, die sie produktiv einsetzen, aber auch zurückhalten können. - Vorgesetzten-Entscheidungen und Verfahrensanwendungen folgen keiner perfekten Rationalität; Sympathie, Vorlieben, Gewohnheiten, Geltungstrieb, Machthunger etc. spielen womöglich eine Rolle. Um möglichen Fehlentwicklungen zu begegnen, müssen/ können Akteure auch unautorisiert intervenieren und sich dabei durch die taktische Berufung auf 'übergeordnete' Ziele absichern. - Alle Vorgesetzten haben selbst wieder Vorgesetzte, die abweichende Zielvorstellungen haben und/ oder benötigte Ressourcen kontrollieren. Man kann den offiziellen Dienstweg verlassen, um Unterstützung für wichtige Projekte zu erhalten, Blockaden aufzulösen oder Fehlentwicklungen zu verhindern. Weil Regeln und Anweisungen nicht (immer) eindeutig, widerspruchsfrei und situationsangemessen sind, kann man ihnen nicht buchstabengetreu folgen. Die unausweichliche Intransparenz, Mehrdeutigkeit, Konflikthaftigkeit und Unvorhersehbarkeit der Verhältnisse bieten für 'Alltagsdelikte' oder aber: eigenverantwortliches 'produktives' Handeln ein günstiges Milieu. 1.5.3. Ist kontraproduktives Verhalten das Gegenteil von extraproduktivem Verhalten? Counterproductive Work Behavior (CWB) scheint der Negativkontrast zu sein zum extra-produktiven Verhalten (E-PV). In diesem Kontext wäre auch die Frage zu diskutieren, ob das sog. kontraproduktive Verhalten immer und/ oder nur dysfunktional ist oder auch positive Funktionen haben kann (siehe Warren 2003). Ein Indiz wäre, wenn z.B. E-PV und CWB positiv oder nicht, oder allenfalls nur schwach negativ miteinander korrelierten. Sackett & DeVore (2001) fanden jedoch eine mittlere Interkorrelation zwischen den beiden Domains von etwa -.60; andere Studien berichten deutlich niedrigere Werte (siehe Dalal, Sims & Spencer 2003, 7). Allerdings müsste man bei einer solchen Prüfabsicht Sorge dafür tra- <?page no="95"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 77 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ gen, dass nicht - wie üblich - alle OCB-Items 20 positiv, alle CWB-Items aber negativ formuliert sind (von all dem Guten und Erwünschten, das ein Organisationsbürger tut, tut ein Kontraproduktiver nichts oder das Gegenteil); kontrolliert man diesen Methodeneffekt nicht, muss man mit formal bedingten, nicht inhaltlichen Clustern rechnen. Dazu gibt es Hinweise. Dalal, Sims & Spencer (2003) haben sowohl aggregierte Querschnittsdaten in einer größeren Population (n = 1130) erhoben wie auch in einer kleineren Stichprobe von 49 Personen über drei Wochen hinweg eine experience sampling method (ESM) eingesetzt und fünf Mal pro Arbeitstag mittels 'handheld computer' auf einen programmierten Piepston hin registrieren lassen, was die Person gerade tat (je 6-Item-Fragebogen zu CWB und OCB) und wie sie sich dabei fühlte. Ihre Ergebnisse: In der Querschnitts-Studie stellten sich OCB und CWB als relativ getrennte Faktoren heraus (Interkorrelation -.18). In der ESM-Studie erreichte OCB-Verhalten in den insgesamt erfassten 2079 Verhaltensepisoden etwa die Hälfte des theoretischen Maximums, während CWB-Verhalten nur ca. ein Zehntel des theoretischen Maximums erreichte. OCB-Verhalten wurde in fast 90% aller Episoden berichtet, während CWB-Verhalten nur in ca. 50% registriert wurde. Die intrapersonale Varianz war bei CWB-Verhalten wesentlich höher als bei OCB- Verhalten, sodass die Vermutung, es handle sich um entgegensetzte Ausprägungen desselben Kontinuums, nicht gestützt wird. Es sind eher voneinander verschiedene Dimensionen, die durchaus zusammen vorkommen können - was sie auch in gut 40% aller Vorkommnisse taten. Jedenfalls kann der Umfang kontraproduktiven Verhaltens nicht zuverlässig vorhergesagt werden aus dem Umfang von OCB- Verhalten im selben Zeitintervall. Zwischen OCB- und CWB-Verhalten fand sich in der aggregierten Gesamtgruppe praktisch keine Korrelation (-.11), allerdings variierten die Korrelationskoeffizienten von Person zu Person erheblich. Die Autoren geben zu bedenken, dass sie vielleicht nicht genügend zwischen zielspezifischen Verhaltensweisen differenziert haben: "So können Sie z.B., wenn Ihre Vorgesetzte Sie harsch kritisiert hat, über sie sehr verärgert sein, nicht aber über Ihre KollegInnen und Sie können gegenüber der Vorgesetzten kontraproduktives Verhalten zeigen, während sie fortfahren OC-Verhalten gegenüber den KollegInnen zu zeigen" (Dalal, Sims & Spencer 2003, 34). 20 In der Dalal et al.-Studie wurde OCB als Platzhalter für E-PV untersucht. <?page no="96"?> 78 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die Aktivitätsstichproben fokussieren nicht, was man 'üblicherweise' tut (dies ist das Frageschema in Querschnittserhebungen), sondern was man in den letzten 5 Minuten tatsächlich getan hat. Das böte auch eine Chance [die Dalal, Sims & Spencer (2003) nicht nutzen konnten], das Verhalten einzuordnen in Sequenzen: Nicht aus heiterem Himmel fängt eine Person Streit an, sondern weil sie provoziert wurde oder weil alle seit Tagen unter extremem Zeitdruck arbeiten müssen, oder weil ihr eine Versetzung angekündigt wurde, die eine Verschlechterung bedeutet; nicht aus Charakterschwäche nimmt jemand Büromaterialien mit nach Hause, sondern weil es alle tun; nicht aus Boshaftigkeit informiert jemand den Chef nicht über brisante Entwicklungen, sondern aus Rache, weil er/ sie sich schlecht behandelt fühlt ... 1.5.4. Die Beziehung von kontraproduktivem und extra-produktivem Verhalten zu Mikropolitik Wichtig ist, dass nicht alles 'extra-produktive' oder 'kontraproduktive' Verhalten gleichzusetzen ist mit Mikropolitik. Mikropolitik ist die Nutzung der Ressourcen anderer, um die eigenen Interessen zu fördern und zwar so, dass neue Regeln (Ordnungen) zur Geltung kommen. Mikropolitik ist definitionsgemäß nicht einseitig gegen Interessen anderer gerichtet, sie nutzt (zwar zum eigenen Vorteil, aber) womöglich auch ihnen. Andere nutzen schließt Anderen nutzen und anderen Nutzen nicht aus. Wie die Bezeichnungen Kontra- und Extra-Produktivität schon andeuten, geht es bei ihnen um ein (scheinbar klar definiertes) Ziel: das Hintertreiben oder Fördern von Produktivität. Demgegenüber beschreibt Mikropolitik ein Arsenal von Methoden (rational argumentieren, einschmeicheln, Druck machen, Koalitionen bilden etc. - siehe dazu ausführlich Kap. 2), mit deren Hilfe Eigen-Interessen mittels der Instrumentalisierung Anderer verwirklicht werden sollen. Als politisches Handeln ist Mikropolitik überdies darauf gerichtet, Standards der Legitimität nicht (wie kontraproduktives Handeln) offen zu verletzen bzw. ihre allfällige Verletzung als Begründung neuer Standards zur Geltung zu bringen. 1.5.5. Die Landschaft der Mikropolitik: Zwei Ansichten Die vorgeschlagene Unterscheidung setzt andere Akzente als die in Beleg 1-11 zusammengefasste Dichotomisierung von Brüggemeier & Felsch (1992) und Küpper <?page no="97"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 79 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ & Felsch (2000). Während die im Folgenden präsentierte erste Perspektive mit dem 'aspektualen' Verständnis der Hamburger Autoren parallelisiert werden kann, verortet die an Hannah Arendts Typologie orientierte zweite Perspektive Mikropolitik in einem anderen Kontext. Beleg 1-11: Mikropolitik aus aspektualer und konzeptualer Sicht Brüggemeier & Felsch (1992) und Küpper & Felsch (2000) haben zwischen einem aspektualen und einem konzeptualen Verständnis von Mikropolitik differenziert. Beim aspektualen Ansatz stellt Mikropolitik eine bestimmte Qualifizierung des Handelns der Akteure dar (was in pragmatisch-rezeptologischer Verkürzung auf das übliche kunterbunte Sammelsurium von Tricks und Finten hinausläuft, mit denen eigene Interessen durchgesetzt werden sollen). Demgegenüber versteht der konzeptuale Zugang Mikropolitik als eine organisationstheoretische Basismetapher. In Verbindung der strategischen Handlungsanalyse von Crozier & Friedberg (1979) und der Strukturationstheorie Giddens' (1995) definieren die Autoren: "Wir möchten also den Begriff Mikropolitik als ein organisationstheoretisches Konzept verstanden wissen, das konsequent von der Perspektive Interessen verfolgender Akteure ausgeht, um das Organisationsgeschehen als Gesamtheit von Struktur und Handlung verknüpfender Prozesse zu erklären. In diesen Prozessen erzeugen, nutzen und sichern Akteure organisationale Ungewissheitsbereiche als Machtquellen, um ihre Autonomiezonen aufrecht zu erhalten bzw. zu erweitern; zugleich wird hierdurch kollektives Handeln ermöglicht und reguliert ..." (Küpper & Felsch 2000, 152). In Analogie zu der in der Unternehmenskultur-Debatte viel zitierten Unterscheidung zwischen "Kultur haben" und "Kultur sein", steht der aspektuale Zugang für "in der Organisation ein Repertoire mikropolitischer Taktiken haben", während für den konzeptualen Zugang die Organisation als Ganzes eine mikropolitische Veranstaltung ist, weil sie als "unfreiwilliges Kooperationsgebilde" (Brüggemeier & Felsch 1992, 135) durch den zentralen Steuerungs- und Regulierungsmechanismus Macht geprägt ist, mit dem Strukturen und Prozesse erklärt werden. Die root metaphor "Organisation als politisches Konstrukt" hat somit die gleiche Erkenntnis leitende Funktion wie z.B. "Organisation als Nexus von Verträgen" oder "Organisation als System rationaler Entscheidungen." 1. Mikropolitik als spezifische Qualität des Handelns Grundthese ist, dass jegliches Handeln in Organisationen als mikropolitisch motiviert interpretiert werden kann. Mikropolitik wäre dann keine eigenständige Verhaltenskategorie, sondern eine besondere Ausrichtung oder Qualität des Handelns, dass dann als mikropolitisch qualifiziert werden kann, wenn es die Absicht <?page no="98"?> 80 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ der Instrumentalisierung anderer für eigene Zwecke verfolgt. Es wird dann nicht primär aus der Perspektive seines Beitrags zu Erreichung vorgegebener ('organisationaler') Ziele gewürdigt, sondern aus dem Blickwinkel betrachtet, ob es dem Akteur gelingt, durch sein Handeln andere Akteure für die Erreichung der eigenen Ziele einzuspannen. Um es an einem Beispiel zu veranschaulichen: Fehlzeiten (im Sinne von Blaumachen) können Ausdruck von Arbeitsunlust, Unsolidarität/ Unkollegialität, Vordringlichkeit anderer Interessen (z.B. Familienpflichten) usw. sein. Sie können aber auch gezielt eingesetzt werden, um z.B. Vorgesetzten deutlich zu machen, dass sie abhängig sind, dass sie ihr Verhalten ändern sollen, dass sie für bessere oder fairere Arbeitsbedingungen sorgen sollen etc. Im zweiten - mikropolitischen - Fall wäre Blaumachen eine Waffe im alltäglichen Arbeitskampf, die eingesetzt wird, um für sich eine Verbesserung der Lage herauszuholen. Der Nutzen der Taktik(! ) Blaumachen wird nicht daran gemessen, ob man sich einen schönen Lenz machen konnte, ob eine dringend nötige Erholung von Erschöpfung möglich war, ob ein krankes Kind versorgt werden musste, sondern wie ernst die andere Seite den Warnschuss oder Hilferuf genommen hat, ob sie 'verständnisvoll' reagiert oder ob sie das Ganze ihrerseits als Kampfansage interpretiert, formalistisch mit Strafaktionen kontert und damit den Konflikt zur Machtprobe eskaliert. Der zentrale Unterschied liegt darin, ob ein gezeigtes Verhalten unmittelbar 'konsummatorisch' ist (also ohne Zwischenschaltung Anderer und deren intervenierendem Handeln ein Bedürfnis befriedigt) oder ob eine mit Ungewissheit belastete 'Umwegproduktion' erfolgt: Erst wenn der Adressat tut, was ihm nahe gelegt wurde, ist die mikropolitische Initiative erfolgreich. Wegen dieser Abhängigkeit vom richtigen Dekodieren und nützlichen Re-Agieren der Zielperson ist jeder Mikropolitik-Versuch riskant. Das in der Abb. 1-4 benutzte Raster zur Einordnung von mikropolitisch relevanten Handlungen bildet Dimensionen nach, die bei der organisationsinternen Bewertung häufig herangezogen werden: Förderung/ Beeinträchtigung von (deklarierten, autorisierten) Organisationszielen und Befolgung/ Verletzung geltender offizieller Regeln. Dabei zeigt sich, dass z.B. kriminelles Verhalten (wie z.B. Korruption) nicht in jedem Fall organisationale Regeln verletzt und unter Umständen positive Folgen für die Organisation haben kann. Oder: Intrapreneurship und Eigenverantwortliches <?page no="99"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 81 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 1-4: Mikropolitik stellt keine eigene Handlungsklasse dar, sondern ist eine bestimmte Qualität des Verhaltens (nämlich: Andere zu eigenen Zwecken instrumentalisieren): Jedes der Verhaltensbeispiele kann auch mikropolitisch genutzt werden (Erläuterungen im Text). Handeln missachten oder brechen geltende Organisationsnormen und werden dennoch im Allgemeinen als organisationsdienlich angesehen. Offenkundig inakzeptables Verhalten, wie etwa die Mobbing-Variante des 'Bossing', kann durchaus Partialziele der Organisation erreichen helfen (wenn z.B. ansonsten kaum kündbare Mitarbeiter durch Schikanen so zermürbt werden, dass sie freiwillig und ohne Abfindung kündigen oder als arbeitsunfähig ausscheiden). Die beiden abgebildeten Dimensionen sind keineswegs die einzig denkbaren; man könnte auch - mikropolitisch relevant - die Erreichung individueller Zielsetzungen oder die Beachtung/ Verletzung informeller Gruppennormen zur Bewertung heranziehen oder zusätzlich differenzieren zwischen kurz- und langfristigen Effekten, Haupt- und Nebenwirkungen, Kostengünstigkeit usw. Eine solche Sicht der Dinge macht deutlich, dass die Abwertung von Mikropolitik als parasitär, pathologisch oder schädlich recht willkürlich einen oder zwei Quadranten des Bewertungsportfolios herausgreift und die anderen Möglichkeiten stillschweigend übergeht. Die perspek- Organisationalen Zielen schaden Organisationale Ziele fördern EVH OCB Dienst nach Vorschrift Suprabzw. Extra- Rollenverhalten Diebstahl, Betrug, Unterschlagung, Sabotage Bestechung Blaumachen Missbrauch von Alkohol, Drogen, Medikamenten Intrapreneurship Commitment CP CWB Geltende Regeln befolgen Geltende Regeln verletzen <?page no="100"?> 82 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ tivische Bewertung von Handlungen als mikropolitisch unterstellt bestimmte ex ante Intentionen der Akteure oder ex post Zuschreibungen von Beobachtern (z.B. als nützlich, erlaubt, wirksam etc.). Mit der zweiten Herangehensweise verhält es sich anders. 2. Mikropolitik als Kombination zweier basaler Handlungsorientierungen Hier wird eine Typologie von Handlungsformen zu Grunde gelegt, wie sie etwa Hannah Arendt (1983) zur Analyse des 'tätigen Lebens' entwickelt hat. Sie unterscheidet drei Formen einer 'vita activa': Arbeiten: Der Mensch als 'animal laborans' leidet unter der Mühsal und Plage, seine Lebens-Mittel produzieren zu müssen, um sich und Seinesgleichen reproduzieren zu können. Kennzeichnend ist zyklisches, naturnahes Tun, das kaum Spuren hinterlässt. Die Früchte dieser Arbeit werden sofort konsumiert (Beispiele: pflanzen, ernten, sammeln, züchten, hüten, jagen, kochen, ...) oder sie dient der Lebensführung (abwaschen, reinigen, pflegen, ...). Herstellen: Als 'homo faber' ist der Mensch Fabrikant, Macher; er produziert Dinge von Dauer, die ihn sogar überleben können. In seinen Werken 'vergegenständlicht' er sich; er nutzt die Sach-Welt und objektiviert sich in ihr. Seine Produkte werden nach Kriterien von Nützlichkeit, Tauschwert, Haltbarkeit, Schönheit etc. be-wertet. Handeln: Als 'zoon politikon' ist der Mensch ein Sprechender und Handelnder, der von seiner Mit-Welt gehört und gesehen wird, und sich ihr darstellt. Entscheidend ist nicht, was er tut, sondern wer er ist - und das erfährt bzw. konstruiert die Mit-Welt durch die Geschichten, die über ihn erzählt werden. Im Miteinander-Reden werden die Ordnungen des Handelns (Institutionen, Normen, Gesetze, Werte etc.) geschaffen und erneuert. Dem Handeln widmet Arendt besondere Aufmerksamkeit. Die 'Praxis' des Handelns (anders als die 'Poiesis' der Herstellens) ist unendlich; zu ihren Besonderheiten gehört, dass ihre Folgen unabsehbar, unwiderruflich und dem Einzelnen kaum zurechenbar sind. (Man hat immer gewusst) "dass kein Mensch, wenn er handelt, wirklich weiß, was er tut; dass der Handelnde immer schuldig wird; dass er eine Schuld an Folgen auf sich nimmt, die er niemals beabsichtigte oder auch nur absehen konnte; dass, wie ver- <?page no="101"?> Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik 83 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ hängnisvoll und unerwartet sich das, was er tat, auch auswirken mag, er niemals im Stande sein wird, es wieder rückgängig zu machen; dass das, was doch nur er und niemand sonst begann, doch niemals unzweideutig sein eigen sein wird und sich in keiner einzelnen Tat und in keinem einmaligen Ereignis je erschöpfen wird; schließlich, dass sogar der eigentliche Sinn dessen, was er selbst tut, sich nicht ihm, dem Täter, sondern nur dem rückwärts gerichteten Blick dessen, der schließlich die Geschichte erzählt, offenbaren wird, also dem, der gerade nicht handelt" (Arendt 1983, 228f.). Das Heilmittel gegen die Unfähigkeit, Getanes ungeschehen zu machen, ist die Fähigkeit zu verzeihen und das Heilmittel gegen Unabsehbarkeit, die chaotische Ungewissheit alles Zukünftigen, ist das Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten (a.a.O., 231). Arendt konstatiert für die Neuzeit eine zunehmende Dominanz des Herstellens, der berechenbaren Wirkung, der Vergegenständlichung im selbst erzeugten Produkt, dem beherrschten und effizient gestalteten Prozess der Fertigung. Diese Diagnose ist besonders relevant für die Thematik der Mikropolitik, denn für Arendt wäre Mikro-Politik kein politisches Handeln, sondern der Versuch, andere Personen zu Dingen (Werkzeugen) eigener Interessen zu machen und sie nach Plan zu benutzen. Das Drama wirklichen Handelns ist ergebnisoffen und verzweigt sich unabsehbar und unabschließbar in Folgen und "Bezugsgewebe". Dagegen ist der Täter mit nicht mehr rückgängig zu machenden Wirkungen konfrontiert, für die ihm zudem keine Alleinverantwortung zugeschrieben werden kann. Mikropolitik ist der (aus Arendts Perspektive vergebliche) Versuch, Ergebnisse zu kalkulieren und plangetreu herzustellen. Mikropolitisches Handeln wird so dem Produzieren anverwandelt. Der politisch Agierende mag die Initiative ergreifen (und das Beginnen beherrschen - beides drückt das griechische archein aus), aber das "prattein" als Ausführen liefert ihn an die anderen (und deren anderen Willen) aus. Eben diese Unverfügbarkeit der Pluralität der Anderen macht das genuin Politische aus, das in der Kontrollillusion der Mikropolitik getilgt ist. In der Abb. 1-5 ist dieser Janusköpfigkeit von Mikro-Politik Rechnung getragen: Ihrer Intention nach ist sie instrumentelles Handeln (und deshalb dem Pol des Herstellens angenähert), ihrer tatsächlichen Praxis nach (siehe die eingezeichneten Pfeile) bewegt sie sich von dieser Wirkungs-Fabrikation weg und hin zu dem überraschenden, vernetzten politischen Prozess, der nur rückblickend - in Kenntnis einiger seiner Folgen - als eine stimmige Geschichte erzählt und einem Täter zugeschrieben werden kann. <?page no="102"?> 84 Kapitel 1: Das Konstrukt Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 1-5: Mikropolitik als spezifische Handlungsklasse im Spannungsfeld zwischen produktivem (herstellenden) und politischem (kommunikativen) Handeln (Erläuterungen im Text) Angesichts der von kaum einem Zweifel angekränkelten Zuversicht, dass die Meisterschaft in mikropolitischen Taktiken zum Erfolg verhilft (siehe dazu das nächste Kapitel), ist die Skepsis Hannah Arendts ein wichtiges Korrektiv. Womöglich ist, was Mikropolitik genannt wird, bloß Mikrotechnik und die Geschichte, die erzählt wird, berichtet über den Anfang, nicht über das Ende. Politisches Handeln Objektivierendes Herstellen  Mikropolitik Technisches, sachrationales Produzieren Kommunikatives Handeln <?page no="103"?> 2. Mikropolitische Taktiken und Strategien Überblick Einleitend gebe ich einen kurzen Abriss der Entwicklungsgeschichte von Taktik-Inventaren und skizziere die Vielzahl der untersuchten Möglichkeiten, auf andere Organisationsmitglieder Einfluss auszuüben. Inzwischen scheinen sich ein weitgehender Konsens in Bezug auf die am häufigsten eingesetzten Taktiken und die wichtigsten Taktik-Kombinationen und Strategien herausgebildet zu haben. Im Anschluss an die Darstellung der Einflusspraktiken berichte ich Untersuchungen zur Wirksamkeit dieser Vorgehensweisen. Die kritische Würdigung dieser Befunde leitet über zur Reflexion der bislang dominierenden Untersuchungsmethode (Fragebogen-Erhebungen). Dabei gehe ich auf wichtige Vorentscheidungen beim Einsatz dieser Methode ein und erörtere an einigen Beispielen die folgenreiche Strukturierung des Untersuchungsfelds, die durch die methodologischen und theoretischen Vorannahmen, die Operationalisierungspraxis und die Fiktionen, die ihr zu Grunde liegen, vorgenommen wird. 2.1. Die Erfassung mikropolitischer Taktiken 2.1.1. Eine kurze Geschichte der Entwicklung von Taktik-Inventaren: POIS und die Folgen Mikropolitische Taktiken sind an Andere adressierte und von diesen und Dritten interpretierte Handlungsmuster und -sequenzen, die die 'Zielpersonen' zum Werkzeug der oft unausgesprochenen, zuweilen getarnten Interessen des Akteurs machen wollen. Es soll mit den Anderen, durch sie und für oder gegen sie etwas erreicht werden, was ohne die Intervention weniger wahrscheinlich gewesen wäre. Das impliziert auch, dass mikropolitische Taktiken keineswegs nur einengend, sondern auch befreiend wirken können. <?page no="104"?> 86 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Um ein Beispiel zu geben: "Rationales Argumentieren" dient in einem solchen Kontext nicht der unmittelbaren Problemlösung, sondern ist eine Taktik. Sie wird eingesetzt, um Anderen z.B. durch Fachwissen, gute Gründe, hieb- und stichfeste Belege usw. zu imponieren, um von relevanten Anderen Zustimmung zu erhalten für die Freigabe von Ressourcen, das Aufheben von Restriktionen usw. Konsequenz ist die Vergrößerung des eigenen Handlungsspielraums. Die Hauptströmung mikropolitischer Forschung ist der How-to-do-it-Frage gewidmet. Ziel ist es die Taktiken zu identifizieren und kategorial zu ordnen, mit denen Akteure versuchen, ihre Interessen durchzusetzen. Exemplarische Bedeutung hat dabei eine 1980 von Kipnis, Schmidt & Wilkinson veröffentlichte Studie, die als die Initialzündung für eine Fülle nachfolgender Untersuchungen und Fragebogen-Entwicklungen gelten kann (zugleich aber machen die Autoren deutlich, dass sie selber auf einer Anzahl früherer Studien aufbauen). Die Kehrseite dieser buchstäblich bahnbrechenden Initiative ist, dass das resultierende Instrument POIS (Profile of Organisational Influence Strategies) zugleich ein Beispiel dafür ist, dass - um ein Murphy-Gesetz umzuformulieren - ein guter Fragebogen das Nachdenken für 25 Jahre blockieren kann. Die Autoren hatten zunächst von 165 Befragten Kurzessays zum Thema 'How I get my way' erhoben und inhaltsanalytisch ausgewertet, wobei sie 370 Einflusstaktiken identifizierten. Im Beleg 2-1 sind die Gruppierung dieser Taktiken in 14 Kategorien und die Häufigkeiten ihrer Nennung zusammengestellt. Aus diesem Material formulierten Kipnis, Schmidt & Wilkinson einen vorläufigen 58-Item-Fragebogen, den sie an weiteren Stichproben (n insg. = 754) erprobten. Die Autoren extrahierten acht Faktoren; die ersten sechs wurden in der Gesamtstichprobe gefunden (erklärte Varianz 38%! ), der 7. und der 8. Faktor fanden sich nur in zwei der drei Substichproben, die sich in den Einflussadressaten unterschieden: Vorgesetzte (M), Kollegen (C), Unterstellte (S): 1. Durchsetzung (assertiveness) (11) [kontrollieren, fordern/ befehlen, anschnauzen, deutlich werden, auf die Nerven gehen] 2. Einschmeicheln (ingratiation) (11) [Freundlichkeit, Bescheidenheit, Höflichkeit, Komplimente machen, sich (scheinbar) abhängig machen, Stimmungssensibilität] 3. Rationalität (7) [Vorhaben mit Plänen, guten Gründen, logischer Argumentation, Informationen, Kompetenznachweisen unterstützen] <?page no="105"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 87 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 4. Sanktionen (5) [die Akzentsetzung liegt auf der Nutzung von Positionsmacht durch Vorgesetzte: positive oder negative Konsequenzen (Gehalt, Beförderung, Kündigung, Personalbeurteilung) in Aussicht stellen] 5. Tauschhandel (exchange, bargaining) (5) [Gegenleistung für Entgegenkommen anbieten (Gefallen erweisen, Hilfe anbieten, Opfer bringen)] 6. Die Hierarchie ins Spiel bringen (4) [Höhere Vorgesetzte einschalten] 7. Blockieren (5) [hier kann auch von 'unten' nach 'oben' Einfluss ausgeübt werden: drohen, schneiden, erpressen, falsch informieren] 8. Koalitionen (3) [Gruppendruck, sich der Unterstützung anderer (Kollegen, Unterstellte) versichern] 9. Unklassifizierte Items (6) [hänseln, links liegen lassen, sich dumm stellen, ködern] Beleg 2-1: Die 14 Kategorien von Einflusstaktiken, die aus den 'How-I-get-my-way'- Essays destilliert wurden (Kipnis, Schmidt & Wilkinson 1980) Die Autoren klassifizierten die 370 berichteten Taktiken in 14 konzeptionell klar unterschiedene Kategorien. 1. Heimliche, verbergende Taktiken ("clandestine"), 2. persönliche negative Sanktionen (z.B. vor vollendete Tatsachen stellen, scharfer Tadel, auf die Nerven gehen, Dienst nach Vorschrift, blockieren, ignorieren usw.), 3. administrative negative Sanktionen (z.B. Beschwerde einreichen, schlechte Personalbeurteilung, Gehaltserhöhung verweigern, Kündigung androhen usw.), 4. Tauschhandel ("exchange"), 5. Beharrlichkeit ("persistence") (z.B. wiederholte Erinnerungen, Einwendungen, frühere Handlungen wiederholen usw.), 6. Training (z.B. erklärte, wie's gemacht wird, machte es vor), 7. Belohnung (Lob, Gehaltserhöhung usw.), 8. Selbstdarstellung ("self presentation") (Kompetenz demonstrieren, zeigte gute Leistung und fragte dann, wartete auf günstige Stimmung, war bescheiden, war freundlich), 9. Direktes Ansuchen ("direct request"), 10. Schwache Anfrage ("weak ask") (zeigte Abhängigkeit), 11. Forderung ("demand") (berief mich auf Regeln, befahl, lud zu formeller Aussprache, setzte Termin usw.), 12. die Begründung des Ansuchens erklärt ("explained rationale for request"), 13. unterstützende Daten gesammelt ("gathered supporting data"), 14. Koalitionen (Unterstützung von Kollegen/ Vorgesetzten/ Untergebenen erhalten; eine außen stehende Instanz zu informieren drohen, formale Einschaltung höherer Ebenen). <?page no="106"?> 88 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abweichend von den Befunden in der Original-Studie wurde in den für kommerzielle Verwendung entwickelten Fassungen für die M-, C- und S-Versionen der ursprüngliche Hauptfaktor 'Sanctions' durch 'Coalitions' ersetzt. Eine kostenlos verfügbare 18-Item-Kurzform auf POIS-Basis ist von Schriesheim & Hinkin (1990) entwickelt worden; sie hat in einer Studie aus dem Ferris-Clan (Hochwarter, Pearson, Ferris, Perrewé & Ralston 2000) relativ schlecht abgeschnitten, was ihre Reliabilität und die konvergente und diskriminante Validität anbelangt. Zu einem ähnlich kritischen Resümee kommt auch Blickle (2000b, 144). Eine quasi autorisierte POIS-Kurzversion haben Schmidt & Yeh 1992 veröffentlicht. Die behauptete 6-Faktoren-Lösung der POIS-Langformen hielt deutschsprachigen Überprüfungen nicht Stand. So entschieden sich in einer explorativen Faktorenanalyse bei N = 69 Wunderer & Weibler (1992) für eine 2-Faktoren-Lösung, was wiederum von Blickle (1997) bestritten wurde, der bei seiner Überprüfung der Originaldaten der Kipnis et al.-Studie (1980) eine 3-Faktoren-Lösung für angemessen hielt (1 = "Bestimmtheit", "Sanktionen", "übergeordnete Instanzen", 2 = "Freundlichkeit", "Tauschhandel" und 3 = "rationales Begründen"). Trotz der erheblichen Zweifel an der Unabhängigkeit der Taktiken/ Skalen wird weiter wie selbstverständlich das seminale POIS-Konzept unbekümmert verbreitet. In einer späteren Studie mit eigenen Daten fand Blickle (2000b) allerdings eine nicht ganz befriedigende konvergente Validität der 6 POIS-Skalen (Inter-Faktoren-Korrelationen zwischen .30 und .43) und eine gute Diskrimination zwischen den einzelnen Skalen. Sein eigenes 4-Skalen-Inventar hatte mit den relevanten POIS-Skalen ausreichende Übereinstimmungsgültigkeit (zwischen .43 und .52). Obwohl das Blickle- Inventar (Näheres dazu unten) und die entsprechenden POIS-Skalen das Gleiche messen (sollen), sind sie doch als verschiedene Instrumente zu betrachten; Blickle führt das auf Unterschiede in den Instruktionen zurück! In den USA ist der wohl wichtigste Konkurrent der POIS der ähnlich aufgebaute Influence Behavior Questionnaire IBQ von Yukl und seinen MitarbeiterInnen siehe Yukl & Falbe 1990, 1991, Yukl & Tracey 1992, Yukl, Falbe & Youn 1993, Yukl 1997, 2002 5 ). Der IBQ erfasst (ursprünglich) 9 Taktiken (siehe Beleg 2-2). Der IBQ wurde auch dazu benutzt, essayistische Schilderung von Einflussepisoden zu kodieren. Bei der Prüfung einer deutschsprachigen Version hat Blickle (1998) zwar hohe konvergente Validität (zwischen Selbst- und Peer-Rating), aber mangelnde diskriminante Validität der 9 Skalen gefunden: <?page no="107"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 89 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 2-2: Die 9 Dimensionen des IBQ (in der Fassung von Yukl, Falbe & Youn 1993) 1. Pressure (The agent uses demands, threats, frequent checking, or persistent reminders to influence the target to do what he or she wants). 2. Personal appeals (The agent appeals to target feelings of loyalty and friendship toward him or her when asking for something). 3. Exchange (The agent offers an exchange of favors, indicates willingness to reciprocate at a later time, or promises a share of the benefits if the target helps to accomplish a task). 4. Coalition tactics (The agent seeks the aid of others to persuade the target to do something or uses the support of others as a reason for the target to agree also). 5. Inspirational appeals (The agent makes a request or proposal that arouses target enthusiasm by appealing to target values, ideals, and aspirations, or by increasing target self-confidence). 6. Rational persuasion (The agent uses logical arguments and factual evidence to persuade the target that a proposal or request is viable and likely to result in the attainment of task objectives). 7. Consultation (The agent seeks target participation in planning a strategy, activity, or change for which target support and assistance are desired, or the agent is willing to modify a proposal to deal with the target concerns and suggestions). 8. Legitimating tactics (The agent seeks to establish the legitimacy of a request by claiming the authority or right to make it or by verifying that it is consistent with organizational policies, rules, practices, or traditions). 9. Ingratiation (The agent uses praise, flattery, friendly behavior, or helpful behavior to get the target in a good mood or to think favorably of him or her before asking for something). Blickle (1998) untersuchte in einer (Konstrukt-)Validierungsstudie den IBQ und kam zu dem Ergebnis, dass Fremd- und Selbstbeurteilungen von Einfluss-Dyaden befriedigend übereinstimmen (konvergente Validität in der Größenordnung von .48 bis .68 für die neun Skalen/ Taktiken), dass aber die diskriminante Validität für beide Substichproben unbefriedigend ist (z.B. eine Interkorrelation der Faktorscores von 'consultation' und 'inspirational appeals' in Höhe von .70 - bei erwarteter Null-Korrelation). Er fand für die ursprünglich 9 Taktiken/ Faktoren Faktorkorrelation von .15 (niedrigster Wert) bis .79 (höchster Wert), wobei von den 36 Korrelationen 18 Werte über .50 hatten. Unbeeindruckt von diesem in einer englischsprachigen Fachzeitschrift veröffentlichten Ergebnis arbeitet Yukl weiter mit seinem IBQ, hat ihn sogar (siehe Yukl, Kim & Falbe 1996 und Yukl 2002 5 ) von 9 auf 11 Taktiken/ Dimensionen erweitert; hinzugekommen sind 'apprising' (informieren, in Kenntnis setzen) und 'collaboration' (Zusammenarbeit). <?page no="108"?> 90 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 2.1.2. Weitere Taktik-Inventare: Beispiele und Synopsen Aber auch mit 11 Taktiken ist noch kein Abschluss der Suche nach den "Haupt"- Taktiken erreicht; in Beleg 2-3 sind weitere Aufstellungen abgedruckt, die einen Eindruck geben können von zusätzlichen Kategorien, Übereinstimmungen und Abweichungen, wie sie charakteristisch sind für die Taktiken-Forschung. Die erste deutschsprachige Neuentwicklung eines Taktiken-Inventars stammt von Blickle, der 1995 in seinem Einfluss-Fragebogen Items zu neun Taktiken zusammengestellt hat. Aufbauend auf Items aus den POIS und dem Fragebogen von Ansari (1990), sowie unter Berücksichtigung der IBQ-Dimensionen hat er den sechs Haupttaktiken des POIS drei weitere hinzugefügt: 'charismatische Appelle', 'sich beraten lassen' (Konsultation) und 'Manipulation und (Schein-)Legitimation'. Beleg 2-3: Beispiele für weitere Taktik-Listen Schilit & Locke (1982) Taktiken der Beeinflussung 'von unten': 1. Logically presenting ideas 7. Going over supervisor's head 2. Using supervisor as platform 8. Threatening to go over supervisor's head 3. Having an access to information 9. Using unethical practices 4. Becoming protegé of high status person 10. Trading job-related benefits 5. Using organizational rules 11. Threatening to resign 6. Challenging power of supervisor 12. Using repetition, persistence Zanzi, Arthur & Shamir (1991) 1. sich gegenseitig einen Gefallen tun 13. Surrogate benutzen 2. Kooptation (Zuwahl) 14. ein Image aufbauen 3. Rituale und Symbole 15. regelumgehende Taktiken 4. Manipulation 16. Netzwerk-Aufbau 5. gefördert werden 17. Freundlichkeit, Schmeicheln 6. als Mentor jemand fördern 18. übergeordnete Ziele 7. Stellenbesetzungen 19. Ressourcen verschaffen 8. Überredung 20. Fachkenntnisse einsetzen 9. mit Unsicherheit fertig werden 21. Huckepack nehmen 10. Einschüchterung und Beleidigungen 22. andere tadeln oder angreifen 11. Informationskontrolle 23. externe ExpertInnen heranziehen 12. regelorientierte Taktiken 24. Koalitionen eingehen <?page no="109"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 91 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Ansari (1990) a) Taktiken beim Beeinflussen b) Taktiken beim Beeinflussen Unterstellter Vorgesetzter 1. Assertion 1. Blocking 2. Coalition 2. Coalition 3. Diplomacy 3. Defiance 4. Exchange of benefits 4. Diplomacy 5. Ingratiation 5. Exchange of benefits 6. Manipulation 6. Ingratiation 7. Personalized help 7. Manipulation 8. Persuasion 8. Personalized help 9. Rationality 9. Persuasion 10. Sanctions (positive) 10. Reasoning 11. Sanctions (negative) 11. Showing dependency 12. Showing dependency 12. Showing expertise 13. Showing expertise 13. Upward Appeal 14. Threats 14. (Unclassified) 15. Upward Appeal Anmerkung: Aufstellungen von Dosier, Case & Keys (1988) und Case, Dosier, Murkinson & Keys (1988) sind im Anhang zu diesem Kapitel in Tab. 2-8 u. Tab. 2-9 (S. 145f.) abgedruckt. Weil Faktorenanalysen ergaben, dass nur vier Faktoren auch bei der Kreuzvalidierung eigenständig und stabil waren, favorisierte er eine 4-Faktoren-Lösung. Das daraus entwickelte 16-Item-"Blickle Inventar" (siehe Beleg 2-4) verwandte er in mehreren nachfolgenden empirischen Untersuchungen (Blickle & Gönner 1999, Blickle, Hepperle, Hoeschele, Klein, Pikal, Diebold & Flemming 1997, Blickle, Röttinger & Nagy 1997, Blickle, Wittman & Röck 2002, Blickle 2003a, b). Blickle stellte allerdings bald fest, dass diese Minimal Art-Lösung eine zu große Reduktion dessen bedeutet, was im mikropolitischen Alltag passiert; er schlug deshalb vor, weitere Taktiken zu berücksichtigen: "Weiterhin sollte daran gearbeitet werden, das Spektrum der zuverlässig und valide skalierbaren Einflussstrategien zu verbreitern …; zu denken ist hier insbesondere an die Austauschstrategie, die Strategie der Koalitionsbildung, die Strategie charismatischer Appelle sowie die Manipulationsstrategie (s. Blickle 1995)" (Blickle & Gönner 1999, 45). 21 21 Eine ähnliche Empfehlung findet sich auch in Blickle, Hepperle, Hoeschele, Klein, Pikal, Diebold & Flemming 1997, 59 sowie Blickle 2004a, 91. <?page no="110"?> 92 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 2-4: Die 16 Items des "Blickle Inventars" - Iteminhalte der Einflussskalen (Blickle 2003, 7) Rationale Einflussnahme l. Zur Unterstützung meiner Position gebe ich meinem Vorgesetzten ausführliche Informationen, die mein Anliegen verdeutlichen. 2. Ich erkläre gegenüber meinem Vorgesetzten ausführlich die Gründe für mein Anliegen. 3. Ich besorge mir ausreichend Informationen zum Thema. 4. Ich verwende rationale Argumente. Schmeicheln 1. Ich schmeichle meinem Vorgesetzten. 2. Ich lobe meinen Vorgesetzten überschwänglich. 3. Ich zeige mich von meiner nettesten Seite. 4. Ich versuche ein gutes privates Verhältnis zu meinem Vorgesetzten aufzubauen. 5. Ich vermittle meinem Vorgesetzten das Gefühl von Wichtigkeit (z.B. "Nur Sie sind in der Lage..."). Einschalten übergeordneter Instanzen 1. Ich versuche die inoffizielle Unterstützung durch höhere Vorgesetzte zu erreichen. 2. Ich wende mich ganz offiziell an (höhere) Vorgesetzte. 3. Ich sorge für Rückendeckung seitens Höhergestellter. Druck-Machen 1. Ich stelle mich offen gegen meinen Vorgesetzten. 2. Ich kündige gegenüber meinem Vorgesetzten Konsequenzen an, falls meine Wünsche nicht erfüllt werden. 3. Ich drücke gegenüber meinem Vorgesetzten deutlich meinen Ärger aus. 4. Ich mache meinem Vorgesetzten Druck. Mit dem Hinweis "s. Blickle 1995" beziehen sich die Autoren auf Blickles ursprünglichen Fragebogen, der bei der damaligen Überprüfung die jetzt geforderten Taktiken zwar enthalten, aber nicht trennscharf gemessen hat, sodass in der Vielzahl folgender Studien mit dem im Beleg 2-4 abgedruckten reduzierten Set von nur vier Einflusstaktiken gearbeitet wurde. Skepsis ist angebracht, wenn von prominenten Autoren behauptet wird, die Lage habe sich konsolidiert. Davon gehen z.B. Ferris, Hochwarter, Douglas, Blass, Kolodinsky & Treadway (2002) aus (siehe die folgende Tab. 2-1). Die drei Differenzierungen zur Taktik Ingratiation sind auf den Einbau der Impression Management-Forschung zurückzuführen, die der Gruppe um Ferris ein lange Zeit verfolgtes Anliegen war. <?page no="111"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 93 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Assertiveness / Pressure / Persistence Bestimmt auftreten, Druck ausüben, Ausdauer zeigen Personal appeal Persönliche Ausstrahlung, Anziehungskraft Threats Drohen, einschüchtern Consultation Beratung, Absprachen Upward appeals / higher authority höhere Vorgesetze einschalten Legitimating / Legitimacy Berufung auf Regeln, Gesetze, Verfahren Exchange / Bargaining Tauschhandel, Gegengeschäfte Ingratiation / Friendliness Beziehungspflege, sich einschmeicheln Rationality / Reasoning Rationale Überzeugung durch Logik, Fakten, Daten Supervisor-focused / Favor rendering ähnlich wie 'ingratiation', aber auf Vorgesetzte bezogen Coalition(s) Koalitionen, Bündnisse Self-promotion / subordinate's self-focused Eigenwerbung, Selbstdarstellung, Eindruck machen Inspirational appeal(s) begeistern, mitreißen, Visionen aufzeigen Job-focused Leistungserfolge sichtbar machen Tab. 2-1: Die meistuntersuchten Einfluss-Taktiken (Ferris, Hochwarter, Douglas, Blass, Kolodinsky & Treadway 2002) Auch von Blickle (2004a, b) gibt es eine repräsentative Zusammenstellung der in empirischen Untersuchungen üblicherweise analysierten mikropolitischen Taktiken (siehe die in Tab. 2-2 zusammengestellten 13 Kategorien). Eine fast identische 13er-Liste legt Vigoda (2003, 34) vor; er berücksichtigt "Self-Promotion" nicht, dafür aber "Pressure". Es ist anzumerken, dass es (meines Wissens) keine Einzelstudie gibt, in der explizit alle diese 13 Taktiken untersucht worden sind. Es handelt sich also um eine Collage jener Taktiken, zu denen besonders viele empirische Studien vorliegen. Auffällig ist, dass in beiden Zusammenstellungen "Legitimation" auftaucht, obwohl sie - mit Ausnahme des IBQ - in wichtigen Fragebogen (z.B. POIS, Ansaris Instrument, Blickle Inventar) nicht explizit repräsentiert ist (Im 'Ur-Blickle' findet sich nur die Taktik der 'Scheinlegitimation'). Am meisten Aufmerksamkeit hat 'Legitimation' in der Impression-Management-Forschung bei der Untersuchung von 'accounts' gefunden (u.a.: rechtfertigen, ableugnen, verharmlosen, entschuldigen, in Ausreden flüchten, um Verzeihung bitten etc., siehe z.B. Schlenker 1980). <?page no="112"?> 94 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 1. Assertivität Anweisungen geben, Forderungen stellen, Fristen setzen, auf Vorschriften, die Befolgung gebieten, pochen 2. Blockieren Die Einstellung der Zusammenarbeit androhen, die andere Person ignorieren, die Freundschaft beenden, langsamer arbeiten 3. Sanktionen Lohnerhöhung zurückhalten, mit Entlassung drohen, mit einer schlechten Leistungsbeurteilung drohen, eine Lohnerhöhung versprechen 4. Tauschangebote Einen kleinen Gefallen oder große Unterstützung anbieten, an einen geleisteten Gefallen erinnern 5. Einschmeicheln Loben, freundlich sein, Zustimmung zeigen, kleine Gefälligkeiten erweisen 6. Rationalität Logische Argumente vortragen, detaillierte schriftliche Ausarbeitungen vorlegen, unterstützende Informationen geben 7. Koalitionsbildung Die Unterstützung der Kollegen oder Mitarbeiter aktivieren 8. Höhere Instanzen einschalten Sich an höhere Vorgesetzte wenden 9. Inspirierende Appelle Appelle an Emotionen, Werte oder Ideale, um Begeisterung hervorzurufen 10. Konsultation Den Einflussadressaten nach seiner Meinung fragen, ihn um Vorschläge bitten 11. Legitimation Auf die eigene Autorität oder die Regeln der Organisation pochen 12. Persönliche Appelle An die Gefühle der Freundschaft und Loyalität appellieren 13. Self-Promotion Sich als kompetent, tüchtig und/ oder erfolgreich präsentieren Tab. 2-2: Blickles Zusammenstellung der wichtigsten Einflusstaktiken Wenn eine weitgehende Konvergenz der Taktik-Inventare konstatiert wird, belegt das zunächst nur, dass die Zusammenfassungen Studien aus der gleichen Forschungstradition referieren, die den Mainstream repräsentiert. Für sie liegen die meisten empirischen Studien vor; abweichende Richtungen und Ergebnisse werden dabei naturgemäß nicht zur Kenntnis genommen. Die Resümees täuschen jedoch, weil sie bei näherer Betrachtung aus zwei verschiedenen Teilen bestehen: einmal dem harten Kern der 4-8 Dimensionen, die fast immer untersucht wurden und zum zweiten aus einem Umfeld von weiteren Taktiken, die seltener überprüft wurden und in denen sich auch die vorliegenden Standard-Instrumente (vor allem POIS und IBQ, sowie deren Generika) voneinander unterscheiden (siehe dazu Beleg 2-5). <?page no="113"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 95 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 2-5: Vergleich von sechs Systematisierungen von Einflusstaktiken Kipnis et al. (1980) Wunderer (1992) Blickle (1995) Yukl et al. (1993) Oliver (1991) Buss et al. (1987) assertiveness Beharrlichkeit Druck machen pressure Widerstand Zwang reasoning Rationale Präsentation Rationales Überzeugen rational persuasion Vernunft ingratiation Werben um Gunst u. Mitleid Einschmeicheln ingratiation Charme higher authority Chef benutzen Übergeordnete einschalten bargaining Job-Vorteile Austausch exchange Kompromisse coalition Grupp.- & Kollegenunterstützung Koalitionen bilden coalition tactics blocking Organisationsregeln sich beraten personal appeals hinnehmen Anschweigen sanctions Vorteile außerhalb Job Manipulation inspirational appeals manipulieren Regression Chef übergehen Charismatische Appelle consultation vermeiden sich klein machen legitimating Im grau unterlegten Teil dieses Belegs ist der Kernbereich der Taktiken zusammengestellt, der von vielen Autoren übereinstimmend nominiert wird; in den Randzellen wird ein Eindruck gegeben von den weiteren Möglichkeiten, die nur vereinzelt in die Inventare aufgenommen werden (zur Ergänzung dieses Bereichs siehe auch die Dokumentation von zusätzlichen Alternativen im Beleg 2-3). Die Nutzung des (vorhandenen? ) Spielraums zeigt sich z.B. darin, dass in den kommerziellen Anwendungen des POIS sechs Taktiken erfasst werden, die z.T. von denen in der Ausgangsstudie abweichen oder dass Blickle einen Großteil seiner vielen empirischen Studien mit einem 4-Taktiken-Instrument durchgeführt hat, obwohl er in seinem eigenen Fragebogen (1995) neun Taktiken unterschieden hatte. Später kam er dann - wie gesagt - zu der Einsicht, dass ein breiterer Zugang angemessener ist. Wenn Ergebnisse nicht mit den Erwartungen übereinstimmen, kann immer noch nachjustiert werden (siehe dazu Beleg 2-6). <?page no="114"?> 96 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 2-6: Ein Blick auf den Forschungsalltag: Ansari (1990) hat zunächst - übernommen von Instrumenten anderer Forscher - für die Beeinflussung von Unterstellten die in Beleg 2-3 (S. 91) zitierten 15 Taktik-Kategorien konzipiert und zu ihrer Messung insgesamt 60 Items formuliert (pro Kategorie 2-6). Er hat den Gesamtfragebogen dann faktorenanalysiert und sich für eine 7-Faktoren-Lösung entschieden, die 76,5% der Varianz erklärte: (1) exchange and challenge, (2) expertise and reasons, (3) personalized help, (4) coalition and manipulation, (5) showing dependency, (6) upward appeal und (7) assertion. Diese 7 Faktoren wurden durch 28 der ursprünglich 60 Items definiert [Kriterium: Ladungen mit mindestens .36(! ) auf einem der Faktoren]; es kam dabei zu Faktoren, die Mischungen der vorab differenzierten Kategorien darstellten; besonders eigenartige Zusammenstellungen finden sich in den Faktoren 1 und 4. Drei der ursprünglichen Kategorien (positive und negative Sanktionen, Drohungen) waren überhaupt nicht in der 7-Faktoren-Lösung repräsentiert; Ansari hat sich dennoch entschlossen, sie als eigene Dimensionen beizubehalten, sodass er seinen weiteren Untersuchungen eine 10-Taktiken-Liste zu Grunde legte. Die resümierenden Überblicksdarstellungen suggerieren, die Forschung habe einen gewissen Abschluss erreicht und man könne nun Bilanz ziehen. Damit wird jedoch die Lage geschönt und geglättet dargestellt, denn eine Übereinstimmung besteht in erster Linie auf der Ebene der Überschriften, nicht unbedingt aber in dem, was damit gemeint ist. Es fehlen auch Begründungen dafür, dass eine Reihe von Taktiken, die in anderen Inventaren erfasst wurden, bei diesen Zusammenstellungen fehlt. Anders gefragt: Wie viel Prozent der Gesamtvarianz des Taktiken-Einsatzes werden durch die 11-13 Haupttaktiken erklärt, auf die sich der Mainstream der Forschung beschränkt? Zur Erinnerung: Kipnis, Schmidt & Wilkinson fanden (1980, 444), dass nur 38% der Gesamtvarianz durch ihre 6-Faktoren-Lösung erklärt wurden! Was steckt im 'Rest', in der unerklärten Varianz? Dieser 'Rest' ist nicht unerheblich, betrachtet man die Vielzahl von Studien, die abweichende Einteilungen vorgenommen haben 22 und z.B. 22 Taktiken unterschieden haben (wie z.B. Fairholm 22 Weitere Listen von Taktiken finden sich in: Martin & Sims 1956; Strauss 1962; Schoomaker 1971; Falbo 1977; Perreault & Miles 1978; Allen, Madison, Porter, Renwick & Mayes 1979; Kipnis, Schmidt & Wilkinson 1980; Wiseman & Schenck-Hamlin 1981; Schilit & Locke 1982; Neuberger 1984; Erez, Rim & Keider 1986; Buss, Gomes, Higgins & Lauterbach 1987; Yukl & Falbe 1990, 1991; Schriesheim & Hinkin 1990; Kirchmeyer 1990; Oliver 1991; DuBrin 1991; Damiani 1991; Zanzi, Arthur & Shamir 1991; Barry & Bateman 1992; Wunderer 1992; Wunderer & Weibler 1992; Ferris & Kacmar 1992; v. Senger 1993, 2000, 2001; Dutton & Ashforth 1993; Fairholm 1993; Blickle 1995; Cialdini (1993, 2001); Ahearn, Ferris, Hochwarter, Douglas & Ammeter 2004; Rubin 1998; Greene 1999; Freudenberg 1999; Zanzi & O'Neill 2001; Schiffinger 2002; Rodler & Kirchler 2002; Maitlis (2004); Dörrenbächer 2005 usw. <?page no="115"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 97 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 1993), oder 16 Taktiken (wie Marwell & Schmidt 1967 oder Falbo 1977 oder Rodler & Kirchler 2002), 24 Taktiken (wie Zanzi, Arthur & Shamir 1991), 18 bzw. 22 Taktiken (so etwa Dosier, Case & Keys 1988 bzw. Case, Dosier, Murkinson & Keys 1988), 15 bzw. 14 (beispielsweise Ansari 1990), 19 (bei Schiffinger 2002), oder gar 48 (wie Greene 1999). 2.1.3. Alternative Erfassungsmethoden Bevor ich mich der Problematik der Taktiken-Aufstellungen näher zuwende, will ich noch kurz den Eindruck korrigieren, dass in der Taktik-Forschung nur mit hochstrukturierten standardisierten Fragebogen gearbeitet wurde. Das ist zwar die häufigste, aber nicht die einzige Methode. Verlässt man die ausgetretenen Pfade der kanonisierten Forschung, dann stößt man auf einige Alternativen, die durchaus interessant sind, weil sie andere Perspektiven auf mikropolitische Vorgehensweisen erlauben. Weitere methodische Zugänge, die neben den standardisierten Fragenbögen genutzt wurden, sind in Beleg 2-7 aufgeführt. Beleg 2-7: Alternative methodische Zugänge zur Erfassung mikropolitischer Taktiken Manager-Befragung (Interviews) Teilnehmende Beobachtung Allen u.a. (1979) Damiani (1991) Karriere-Ratgeber (arm chair) Maitlis (2004) Schoomaker (1971) Fallstudien Fairholm (1993) Izraeli (1975) Greene (1999) Strauss (1962) Inhaltsanalyse von Biografien Dörrenbächer (2005) Martin & Sims (1956) (Feld-)Experimentelle Forschung Analyse von Dramen Marwell & Schmitt (1967) Kipnis (1984) Falbo (1977) Wertheimer (2005) Cialdini (2001) Chinesische Strategeme von Senger (1993, 2000) Inspirierende Quellen sind biographische Dokumentanalysen (Martin & Sims 1956) oder Interviews mit erfahrenen Personen (z.B. ehemaligen Vorstandsmitgliedern, so Allen, Madison, Porter, Renwick & Mayes 1979, Risch 1998, Hoffmann 2003), <?page no="116"?> 98 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ oder Fallstudien, die eine ganz bestimmte Episode beschreiben (s. etwa Strauss 1962 oder Izraeli 1975, vor allem die Klassiker von Bensman & Gerver 1973 und Burawoy 1979). Vorgeblich auf Erfahrungen gestützt sind auch die Empfehlungen, die sich in der Ratgeber-Literatur finden (aus der unüberschaubaren Vielzahl der Texte herausgegriffen: Schoomaker (1971), Fairholm (1993), Drummond (1993), Greene (1999), Rubin (1998). Weil im Regelfall keinerlei Angaben zur Erfahrungssammlung gemacht werden, ist nicht kontrollierbar, ob und unter welchen Bedingungen die Tipps wirksam sind. Einen besonders langen Rückblick in die Vergangenheit nimmt v. Senger (1993, 2000, 2001) vor, wenn er die über 1000-jährige Tradition der chinesischen Strategeme bzw. (Kriegs-)Listen referiert - er behandelt insgesamt 36! - und ihre (mikropolitischen? ) Inhalte analysiert. Weitere Möglichkeiten sind a) Szenarien (gehaltvollere Situationsbeschreibungen). Beispiele finden sich bei Rodler & Kirchler (2002) oder Kirchmeyer (1990 23 ). Voraussetzung für eine sinnvolle Nutzung dieser Option ist jedoch eine Situationstaxonomie, in der die Auswahl der vorgegebenen/ kombinierten Situationsaspekte begründet wird. b) interaktive (computergestützte) Befragung. Damit würde der Prozessualität oder Sequenzialität mikropolitischen Handelns besser Rechnung getragen. c) Simulation tatsächlichen 'Tuns' (Planspiele, s. z.B. Tandon, Ansari & Lakhtakia 1989). 23 Zur Veranschaulichung zitiere ich zwei Items aus dem 20-Item-Inventar von Kirchmeyer (1990 3 , 354f.): "Einen Rivalen schlecht aussehen lassen: Janet ist eine Wissenschaftlerin in einer F&E- Gruppe. Als sie die in Bälde erscheinende Studie eines Kollegen liest, entdeckt sie einen Flüchtigkeitsfehler in der Analyse. Sie entschließt sich, nichts über den Fehler zu sagen, weil sie sicher ist, dass er entdeckt wird, wenn die Studie veröffentlicht ist." "Information einsetzen, um andere zu überwältigen. Dann muss vor einem höherrangigen Gremium seine vor kurzem getroffene Entscheidung begründen, einen Lieferanten zu wechseln. Er vermutet, dass das Gremium eine Entscheidung nicht in Frage stellen wird, die durch eine Fülle von Information fundiert ist. Er kommt deshalb zur Sitzung und stellt sich darauf ein, das Gremium mit Grafiken, Tabellen und Kalkulationen über die Leistung des Lieferanten zu überwältigen." Die Instruktion zur Beantwortung lautete: "Wie typisch ist die Handlung, die die Person in der Vignette zeigt, für Ihr eigenes Verhalten? " [Antwortmöglichkeiten: nicht typisch für mich (1) - ein bisschen typisch für mich (2) - ziemlich typisch für mich (3) - sehr typisch für mich (4)] <?page no="117"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 99 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bleibt man bei klassischen Standard-Inventaren, dann könnten sie erweitert werden - um die Erfassung der Variabilität des Einsatzes: in Ergänzung zum arithmetischen Mittel oder zum Median der Einzelpunktwerte wird dann auch die Streuung erfasst; s. dazu das Beispiel des LEAD-Fragebogens von Hersey & Blanchard; - durch Erfassung von Konfigurationen anstelle möglichst 'reiner' Faktorenstrukturen; - durch Vorgabe von Kombination von Taktiken (inklusive Meta-Taktiken oder Strategien); - durch die Frage nach sequentiellen Abfolgen; z.B.: "Was versuchen Sie als erstes? Wenn das nicht funktioniert, was dann? " - so etwa bei Falbe & Yukl (1992); - durch den Einbau von Konsequenzen (z.B. der Rück-Wirkung des Einflusshandelns auf organisationale Strukturen oder auf das Selbstbild bzw. die Dispositionen der beteiligten Akteure). Aus all dem kann man schließen, dass die registrierte empirische Konvergenz eher auf der Präferenz für eine dominante Methode (strukturierte Fragebogen) und auf pragmatischen Konventionen, denn auf theoretischer Begründung und Herleitung beruht. Die Zusammenstellung der derzeit meistuntersuchten Taktiken ist ein atheoretisches Sammelsurium von anscheinend methodisch differenzierbaren Vorgehensweisen bei interpersonalen Einflussversuchen in Organisationen. Weil der theoretische Rahmen nicht abgesteckt ist, lässt sich nicht prüfen, aus welchem Universum die einzelnen Taktiken abgeleitet sind, wie sie theoretisch gruppiert werden könnten und mit wie vielen unterscheidbaren Dimensionen der theoretische Raum befriedigend abgedeckt ist. Die vorgelegten Zusammenfassungen lassen sich auch deshalb kritisieren, weil sie eine heile mikropolitische Welt beschreiben, in der es relativ gesittet und zivilisiert, um nicht zu sagen: geschönt zugeht. Wirklich gemeine Tricks und Manöver, wie sie z.B. in der Mobbing-Forschung offen gelegt wurden, findet man darunter nicht: Es ist gleichsam nur die akzeptable, einigermaßen herzeigbare Hälfte aufgeführt. Um einen Eindruck zu geben von dem, was man auch noch finden kann in real existierenden Organisationen, habe ich in der folgenden Tabelle (s. Tab. 2-3) die 'Salontaktiken' mit ihren unappetitlichen Gegenstücken konfrontiert: <?page no="118"?> 100 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Gesittete Taktiken Negativ konnotierte Taktiken Druck machen Gewalt, Mobbing, Rufmord Rationalität Lügen, Fälschung, Vertuschung, Löschung von Daten Austausch Bestechung/ Bestechlichkeit, "kaufen" (z.B. durch Lustreisen), gemeinsame Sache machen bei Betrugsdelikten, Schweigeprämien Inspirierende Appelle einschüchtern, Angst machen, terrorisieren Höhere Instanzen einschalten Nepotismus, Günstlingswirtschaft Koalitionen Cliquenwirtschaft, Kungeleien, mafiöse Strukturen, Kartelle, Diskriminierung anderer Beratung Mauscheleien, Absprachen, Intrigen Sanktionen, Blockade Sabotage, abschreckende/ exemplarische Strafaktionen Einschmeicheln Schleimen, Speichellecken, Arschkriechen, rückgratlose Subalternität Drohungen Erpressung, Bloßstellung (z.B. Anprangerung der sexuellen Orientierung) Tab. 2-3: Eine Gegenüberstellung von 'neutral' und 'negativ' konnotierten Taktiken Ein anderes Problem ist, ob die Taktiken uni- oder bipolar angelegt werden sollten. Man kann dem Tableau der gängigen Taktiken nicht nur - wie eben geschehen - die exkommunizierten Ausreißer gegenüberstellen, sondern die Taktiken selbst als Hälften eines Kontinuums sehen, bei dem in der POIS- oder IBQ- Fassung jeweils das Gegen-Stück weggelassen wurde. In der dominierenden Forschungstradition werden offenbar eindimensionale Kontinua unterstellt, auf denen sich der Antwortende nach dem Modus "mehr oder weniger" zu positionieren hat [z.B. von 0% Freundlichkeit bis zu maximaler Freundlichkeit (100%)]. Eine andere methodologische Alternative ginge von bipolaren Kontinua aus, bei denen der zweite Pol nicht die Negation oder auch Kontradiktion des ersten, sondern dessen konträres Gegenstück ist. Der Akteur ist dann nicht nur zu abgestufter Freundlichkeit, sondern auch zu abgestufter Unfreundlichkeit (bis hin zur verletzenden Beleidigung, Ehrabschneidung, öffentlicher Bloßstellung usw.) fähig. Wohlgemerkt: Ich meine damit nicht das Repertoire eines Akteurs, das durchaus sehr reichhaltig sein und die heterogensten Taktiken beinhalten kann, sondern den Einsatz in einer Einflussepisode. <?page no="119"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 101 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ In der folgenden Übersicht (s. Tab. 2-4) habe ich einige solcher Oppositionen zusammengestellt: Pol Gegenpol Freundlichkeit (ingratiation) Unfreundlichkeit Bestimmtheit, Härte, Durchsetzung (assertiveness) Nachgiebigkeit, Weichheit, Unterwürfigkeit (supplication) Koalitionen, Allianzen, Bündnisse Einzelgängertum, Spaltung (sich) informieren, Rat suchen/ geben (consultation) desinformieren, irreführen Expertise, Professionalität Laien-Intuition, Gewohnheiten, Durchwursteln … Dinge selbst in die Hand nehmen Höhere Instanzen einschalten an höhere Werte appellieren Jobdenken, Pragmatismus Tauschhandel (exchange, bargaining) unbalancierte Beziehung Hilfeleistung (support) Blockade, Sabotage Spielraum ausweiten Spielraum einengen (Misstrauen, Kontrolle) Selbstdarstellung, Inszenierung Authentizität Rationalität, Vernunft Irrationalität, Emotionalität positive Affektivität negative Affektivität Ehrlichkeit, Redlichkeit Manipulation, Diplomatie Legalität, Legitimation Illegalität, Illegitimität Regeln, Formalisierung Intrapreneurship Aktionismus Bedächtigkeit, Beharrlichkeit Timing Zeitlosigkeit Tagesordnung bestimmen (agenda setting) Überraschungen zulassen, der Eigendynamik vertrauen Belohnen Bestrafen Modell/ Vorbild sein Mitläufertum Tab. 2-4: Zur Kontrastierung unipolar konzipierter Taktiken mit möglichen Gegenpolen Aber auch diese Aufstellung bleibt in einer bloß methodologischen Korrektur befangen; eine theoretische Begründung für die Selektion der Taktiken kann auch sie nicht bieten. <?page no="120"?> 102 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 2.2. Taktiken-Mix und Strategien 2.2.1. Taktiken-Kombinationen Von Einzeltaktiken auszugehen ist ein elementaristischer Ansatz. Der viel häufigere Fall dürfte sein, dass MikropolitikerInnen mehrere Taktikenkombinieren (s. Farmer & Maslyn 1999). Wie bei Strategien werden im Mix ebenfalls Taktiken kombiniert, aber es fehlt die übergeordnete Ausrichtung (im Sinne von policy); es geht allein um die Kumulation von Interventionen zum Zweck der Erfolgssicherung. "Dieselbe Taktik kann in verschiedenen Szenarios aus völlig verschiedenen Gründen eingesetzt werden" […] "auch kann eine bestimmte Strategie […] von verschiedenen Leuten mittels verschiedener Verhaltenstaktiken realisiert werden, oder sogar beim selben Individuum zu verschiedenen Zeitpunkten (mit unterschiedlichen Taktiken umgesetzt werden)" […] "Wie so oft kann die Realität, auf die die Forschungsresultate anspielen, komplizierter und dynamischer sein als ursprünglich angenommen" (Farmer, Maslyn, Fedor & Goodman 1997, 37). Taktiken können sich, wenn sie zusammen oder nacheinander eingesetzt werden, in der Wirkung gegenseitig steigern oder aber neutralisieren. Eine dritte Möglichkeit ist: Wenn man viele Pfeile abschießt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass einige Treffer dabei sind, auch wenn viele danebengehen. Ein Beispiel für die Rolle von Taktik-Kombinationen: In ihrer Fallstudie, in der sie innerhalb von zwei Jahren 37 Vorstandssitzungen in zwei Arten von britischen Symphonie-Orchestern [von Managern geleitete (MSO) vs. in Eigenregie geführte (SSO)] beobachtet und protokolliert hat, komprimiert Sally Maitlis (2004) eine Liste von 60 beobachteten Arten von Einflussversuchen zu vier "robusten Kategorien" (siehe ihre Aufstellung auf S. 1287f.): exploiting key relationships (Beziehungen zu Schlüsselpersonen nutzen, etwa bei der Ernennung und Zusammenarbeit mit Direktoren), managing impressions (z.B. eigene Bedeutung herunterspielen, das Orchester loben, durch Rücknahme von Entscheidungen Gesichtsverlust erleiden, mangelndes Fachwissen nicht verbergen), managing information (z.B. den Aufsichtsrat auf dem Laufenden halten, ihn vor vollendete Tatsachen stellen, täglich telefonischen oder persönlichen Kontakt halten mit wichtigen Stakeholders, dem Vorsitzenden Informationen vorenthalten) und protecting formal authority (z.B. sich vom Aufsichtsrat sagen <?page no="121"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 103 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ lassen, was zu tun ist; in Sitzungen die Kontrolle behalten; unangenehme Angelegenheiten nicht auf die Tagesordnung setzen, die Entscheidungsbefugnisse des Chefdirigenten stark beschneiden). Maitlis macht durch den Vergleich der Strategien in den beiden Orchestern auch deutlich, dass nicht die Taktiken als solche, sondern ihre gezielte Kombination und Aufeinanderfolge von Bedeutung waren: "This dynamic was clearly evident in the SSO. Here, as the CEO exploited his relationships with his chairman and others, he not only increased the likelihood of getting support for his proposals in board meetings, but was also able to glean valuable information that allowed him to be at the centre of the SSO's stakeholder network. From this powerful position, the CEO was well placed to control the organization's primary information channels and to manage impressions both of the organization and his leadership of it. Through skilled impression management, the CEO simultaneously projected an image of personal competence and promoted a view of his limited power as CEO of a self-governing organization. This in turn enabled him to exercise considerable formal authority over the board" (Maitlis 2004, 1302). "Despite making changes to the structure and composition of his board, the MSO's CEO failed to develop strong relationships with any of his directors, or indeed with anyone else in the MSO network. Partly as a result, he remained relatively illinformed about matters within and external to the organization, and was not therefore in a strong position to manage either the information or the impressions that others received. As time passed, board members with easy access to information and with decreasing confidence in their executive leadership began to challenge the authority of the CEO. His influence over the board, never very powerful, spiralled downwards until he eventually stepped down from his position" (Maitlis 2004, 1303). Dass Taktiken ein sinnvolles(! ) und geordnetes(! ) Arrangement von Handlungen sind, stellt auch eine Herausforderung für ihre Erfassung dar. Üblicherweise wird in Fragebogenstudien (die die Forschungslandschaft dominieren), nach Handlungen gefragt und diese Einzel-Aktionen werden nachträglich auf Basis ihrer empirischen Korrelation, z.B. mittels Faktorenanalysen, zu Taktiken erklärt. Taktiken sind zwar das Ziel, die Erfassungsmethode aber stützt sich auf Fragen nach Tätigkeiten. Üblicherweise werden die Items sogar absichtlich in ihrer Reihenfolge gemischt, um ihre 'Zusammengehörigkeit' zu verschleiern. In der Abb. 2-1 ist die Logik dieser Ableitungsbeziehung veranschaulicht. <?page no="122"?> 104 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Verhaltensweisen Verbündete suchen Drohen, Einschüchtern Ressourcen poolen Andere ausgrenzen Erpressen Bestrafen etc. Gefälligkeiten tun vor anderen loben Meinungskonformität Koalition Einschmeicheln Taktiken Zwang/ Druck etc. Rationalität Machiavellismus generalisiertes Vertrauen Haltungen etc. Integrität etc. weiche Strategien Strategien rationale Strategien harte Strategien Extraversion Verträglichkeit Eigenschaften Gewissenhaftigkeit etc. Offenheit Gründe erläutern logisch argumentieren Pläne vorlegen Abb. 2-1: Der Zusammenhang von Handlungen, Taktiken, Strategien und Haltungen <?page no="123"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 105 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ In der Abb. 2-1 sind - ausgehend von der mittleren Ebene der beobachteten bzw. berichteten Verhaltensweisen - zwei Verallgemeinerungsrichtungen visualisiert: in der Richtung nach unten ist dargestellt, dass sich einzelne Verhaltensweisen zu Taktiken bündeln lassen und diese wiederum auf der nächsten Abstraktionsebene zu Strategien. In der Richtung nach oben sind Stufen der 'Verinnerlichung' zu personalen Handlungsbereitschaften abgebildet: zunächst die Generalisierung zu Eigenschaften (Persönlichkeits-Faktoren) und dann zu generalisierten Haltungen, wie z.B. Machiavellismus, Integrität oder generalisiertes Vertrauen. Auf die zweite Abstraktionsrichtung komme ich im 3. Kapitel zurück. Die Henne-Ei-Frage (Was war zuerst? Handlungen oder Haltungen? ) erübrigt sich, wenn man nicht von einem linearen Kausalmodell (a bedingt b) ausgeht, sondern eine kreiskausale, rekursive Beziehung unterstellt (a bedingt b und b wiederum a). Zwar könnte man versucht sein, den Primat der Handlungen zu behaupten, denn sie allein sind scheinbar konkret beobachtbar - alles andere ist erschlossen. Aber auch 'Handlungen' sind keine unhintergehbare Realität, denn sie sind Beobachtungen (Wahr-Nehmungen), die von einem situierten, interessierten, kognitiv beschränkten Beobachter vorgenommen werden. Beobachtung ist eine mehrfache Selektion: Worauf wird geachtet? Was wird ausgeblendet, was weiterverarbeitet und in welche Sinnzusammenhänge integriert? In welchem Medium wird es festgehalten und (wem, wie) mitgeteilt? In welchen Rahmen wird die Mitteilung vom Empfänger eingeordnet und verstanden? So gesehen kann eine unterstellte 'Haltung' (z.B. Machiavellismus oder Intrapreneurship) die Diagnose einer 'Handlung' (etwa einer Regelverletzung) orientieren, färben oder gar verfälschen. Eine 'Handlung', die als Teil einer 'Taktik' gesehen wird, kann von da aus ein ganz anderes Gesicht und Gewicht bekommen (wenn z.B. 'rationales Argumentieren' nicht als Problemlösungsbeitrag gewertet wird, sondern als der Versuch, durch scheinbare Expertise andere Ansichten mundtot zu machen). Man kann sogar der 'Strategie' den Vorrang einräumen: Unterstellt man einem Akteur die Strategie, unauffällig die Schaltstellen der Macht zu besetzen, dann werden Taktiken wie Schmeicheln, Koalitionen bilden, Informationskontrolle etc. nicht mehr als Ausdruck genuiner Haltungen gewertet, sondern als kühl kalkulierte Manöver zur Vorbereitung des Staatsstreichs, bei dessen Gelingen auf konträre Muster umgeschaltet werden kann (was bei einer dispositionellen Fundierung der Handlungen und Taktiken nicht erwartet würde). Eine Erweiterung der Perspektive, auf die später (siehe Kap. 3) ausführlich eingegangen wird, soll hier schon angedeutet werden: Ein zentrales Kennzeichen des mikropolitischen Ansatzes ist es, nicht nur das Verhalten, sondern auch die Ver- <?page no="124"?> 106 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ hältnisse auf der Rechnung zu haben. Der mikropolitische Akteur hängt ebenso sehr als Marionette am Faden der Verhältnisse, wie er selber Drahtzieher ist. Deswegen profitiert eine mikropolitische Analyse, wenn sie sich von der Fixierung auf den Akteur (seine Haltungen, Handlungen, Taktiken und Strategien) löst, und ihn dezentriert zugunsten der Verhältnisse, die ihn konditionieren. Nicht von ungefähr wird bei empirischen Untersuchungen auf die beschränkende und ermöglichende Wirkung von Kontext- und Strukturvariablen hingewiesen (Geschlecht, Alter, hierarchischer Rang, Unternehmenskultur, Stakeholder-Zusammensetzung usw.). Die Fokussierung auf den 'taktischen' Akteur erliegt einer Art naturalistischen Fehlschlusses: man beobachtet den Akteur mit Haut und Haaren, wie er leibt und lebt und hält ihn - konkret fassbar - für den Ursprung der Dinge. Aber man erkennt Wesentliches zugleich nicht (und das hat in der Systemtheorie zur Marginalisierung des Subjekts geführt). Zwar 'sieht' man den Akteur handeln, aber dieses Mit-eigenen- Augen-sehen ist zu einem erheblichen Teil Deuten und Erschließen, denn Motive, Erfahrungen, Zwänge, Normen, Regeln etc. kann man nicht 'sehen'. Und vor allem kann man nicht auf der Netzhaut abbilden, was an Bedingungen durch das Subjekt hindurch gegangen ist und 'hinter seinem Rücken' wirkt. Die beobachtete Handlung oder Aussage durchläuft somit mehrere interpretatorische Filter. Nicht was sich zeigt, sondern was dadurch angezeigt wird, orientiert das Anschlusshandeln. Was eine handelnde Person sagt und tut wird korrigiert durch das, was über sie gesagt und gewusst wird, wie sie von anderen behandelt wird, was durch sie hindurch wirkt bzw. sie nur als Mittel nutzt (z.B. Normen, Regeln, Gewohnheiten, Zwänge etc.). Diese Überlegungen haben Konsequenzen für die Fragebogenmethode: - Was ist von Selbstaussagen/ Selbstbeschreibungen des Akteurs (als dem Hauptmodus der empirischen Einflussforschung) zu halten? - Wie ehrlich/ reflektiert ist das, was einer als Selbstauskunft anbietet? - Wie sehr ist es bestimmt durch Antwortzwänge, soziale Erwünschtheit, taktische Absichten? - Wie (sehr) muss man die 'Verhältnisse' berücksichtigen? - Was erfährt man bzw. was will man erfahren: Haltungen, Handlungen, Taktiken, Strategien? - Kann man mikropolitisches Handeln überhaupt beobachten? Ist nicht jede Beobachtung zugleich ein inhaltlicher, zeitlicher und sozialer Vergleich? Und ohne die Kenntnis dieses Referenzsystems kaum interpretierbar? - Wer beobachtet? Ist der Beobachter unparteiisch, objektiv, informiert, 'selbstlos'? Welche Interessen verfolgt er selber? <?page no="125"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 107 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 2.2.2. Strategien Vorauszuschicken ist, dass das Konzept der 'Strategie' nicht einheitlich gehandhabt wird. Viele AutorInnen verwenden es nicht zur Charakterisierung von 'policy', sondern schlicht als Synonym für 'Taktik'. Im Folgenden gehe ich jedoch vom weiter gefassten Verständnis aus. Anders als bei Taktiken sind bei Strategien immer auch der lange Atem und die Generalisierbarkeit mitgedacht. Es liegt ein Langfristschema zu Grunde, das für verschiedene Szenarien Antworten bereithält und eine bestimme Aufeinanderfolge einzelner Operationen vorausplant. Für Strategien kann ein leitendes Prinzip (Policy) formuliert werden, das die Selektion, Kombination oder Sequenz von Taktiken begründet. Die einzelnen Taktiken stehen deshalb in einem 'inneren Zusammenhang', oder - um dieses schwer operationalisierbare Merkmal, das 'Stil' kennzeichnet, anders zu beschreiben - sie 'passen zueinander', bilden eine Ordnung oder ein Muster. Bei der Untersuchung strategischen mikropolitischen Handelns stehen nicht isolierte Re-Aktionen oder unreflektierte Spontan-Aktionen im Mittelpunkt des Interesses, sondern Muster oder Sequenzen, geplante Bündelungen von einzelnen Schachzügen. Schon auf der Ebene von Taktiken ist von Intentionalität und Reflexion auszugehen (eine spontane Taktik ist keine; womöglich handelt es sich um ein überlerntes habituelles Muster). Noch abstrakter und umfassender ist die Aggregierung von Taktiken zu Strategien, die als Konzepte höherer Ordnung anzusehen sind, weil sie ein Mehr an Integrationskraft haben und einen größeren Planungshorizont abdecken. So gesehen ist vieles, was in der Literatur unter "Strategie" subsumiert wird, keine. Trotzdem soll die eben vorgeschlagene Strategie-Konzeption nicht dogmatisiert werden, weil sich in der Literatur ein lockerer Sprachgebrauch durchgesetzt hat. Die Logik der Abstraktionskette "Verhaltensweisen - Taktiken - Strategien" liegt den Klassifikationsversuchen für mikropolitische Strategien zu Grunde: Von Perreault & Miles (1978) stammt eine Einteilung der Einflusstaktiken in 5 Stile: auf Expertenwissen basierende, auf Freundlichkeit bauende und auf die organisationale Position gestützte Strategien, multiple Strategien, Verzicht auf Einfluss-Strategien. Im Anschluss an diese Einteilung haben Kipnis & Schmidt (1983) durch eine hierarchische Clusteranalyse von POIS-Daten drei 'Stile' identifiziert: shotgun (entspricht in etwa bei Perreault & Miles), tactician <?page no="126"?> 108 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ (~ ) und bystander ( ~ ). Dem haben Kipnis & Schmidt 1988 in einer weiteren Untersuchung zusätzlich noch einen vierten Strategie-Typ (ingratiator, ~ ) hinzugefügt. Farmer & Maslyn (1999) waren, weil sie mit der 'open source'-Variante des POIS, der Schriesheim-Hinkin-Skala (1990) gearbeitet haben, auf den Satz der dort differenzierten 6 Taktiken beschränkt. Sie operationalisierten drei Strategie- Typen - sie nennen sie auch Einfluss-Stile - nach rein formalen Kriterien (bei dieser Methodik fällt ein inhaltlicher Stil wie 'ingratiator' weg): Tactician [all six tactics set at mean value (z = 0) except rational tactics (z = 1)] Shotgun [all six tactics were set at one standard deviation above mean usage z= 1] Bystander [all tactics set at one standard deviation below mean: z = -1] "Consistent with the holistic synthesis assumption, the results of our analyses indicate that influence tactics cluster systematically and that these uniform configurations may be the result of other forces that are both internal and external to the individual" (Farmer & Maslyn 1999, 673). Farmer & Maslyn plädieren für einen 'konfigurativen' Ansatz, demzufolge eine gezielte Zusammenstellung von Einzeltaktiken einen Erklärungsmehrwert besitzt: "However the results indicate that each style was characterized by a different combination of attributes, such as goal importance, Machiavellianism, NA [negative affectivity, O.N.], interactional justice, and so on. Further, not all attributes were important for each style (e.g. expectations of success), nor was their operation consistent across styles when they were important for different styles (e.g. goal importance). These results provide at least initial support for key assumptions of configuration theory, specifying that relationships among attributes may be reciprocal, nonlinear, and constrained, and manifest the potential usefulness of a configurational approach to influence use" (Farmer & Maslyn 1999, 674). Die Autoren geben auch zu bedenken, dass der Schritt von der Stil-Präferenz zur Disposition (Haltung, generalisierte Reaktionsbereitschaft) womöglich zu schnell getan wird und vorschnell auf den Pol Person gesetzt wird, anstatt die Person- Situation-Interaktion (besser noch: Strukturation) Ernst zu nehmen. Sie illustrieren das am Typ "Bystander" (distanzierter, teilnahmsloser Zuschauer): "Bystanders may refrain from upward influence not because they are dispositionally predisposed to do so, or because they have poor relationships with their supervisors, but simply because their immediate supervisors may be in structurally unpowerful positions. This suggests that Bystanders who find themselves in different, more pow- <?page no="127"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 109 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ erful units (either by accident or by design) may adopt a different style of influence" (Farmer & Maslyn 1999, 674). Die Strategie-Einteilungen anderer Autoren greifen auf andere Logiken zurück. So unterscheiden z.B. Zanzi, Arthur & Shamir (1991) hierarchische und netzwerkorientierte Strategien (die sie 'tactics' nennen) und bringen sie jeweils mit bestimmten Taktiken (in meinem Sinn) in Beziehung (s. die Ergebnisse ihrer Faktorenanalyse auf S. 225): Hierarchical Tactics: manipulation, intimidation and innuendos, rule-oriented tactics, using surrogates, rule evading tactics, ingratiation, blaming or attacking others; Networking Tactics: mentor, persuasion, networking, super-ordinate goals, providing resources, use of expertise, coalition building. Erez, Rim & Keider (1986) wählen als Differenzierungskriterium eine Hart-Weich- Dichotomie: Zu den strong tactics zählen sie: assertiveness, blocking, sanctions, upward appeal; weak tactics sind für sie: rationality, manipulation (= ingratiation), exchange, passive blocking, personal benefits, coalition. Die Strong-Weak-Unterscheidung haben anfangs auch Kipnis & Schmidt benutzt, sie später aber zu hard - soft - rationality umformuliert und erweitert. Dies kann als Indiz für die Beliebigkeit gewertet werden, mit der Einteilungen praktiziert werden - oder sollte man es 'Lernfähigkeit' nennen? Somech & Drach-Zahavy (2002) benutzten ebenfalls die Weich-Hart-Typologie und fassten auf der Basis einer Faktorenanalyse die Taktiken Austausch, Einschmeicheln, Rationalität als 'weiche Strategie' zusammen, während sie die Taktiken Koalitionen, Assertiveness, Einschalten höherer Instanzen und Sanktionen zu der 'harten Strategie' rechneten. Es fällt auf, dass bei den letzten drei Einteilungen 'Koalitionsbildung' in jeweils anderen Konstellationen auftaucht: mal ist sie eine harte, mal eine weiche und ein weiteres Mal eine Netzwerk-Taktik. In ihrer oben schon erwähnten Faktorenanalyse einer deutschsprachigen Übersetzung des POIS kommen Wunderer & Weibler (1992) zu dem Schluss, dass eine 2-Faktorenlösung angemessener sei als die von Kipnis et al. konzipierten 6 Skalen; sie nennen die beiden Dimensionen direktiv-machtpolitische Einflussnahme (Assertiveness, Einschaltung höherer Instanzen, Sanktionen) und diskursiv-kooperative Ein- <?page no="128"?> 110 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ flussnahme (rationales Argumentieren, Einschmeicheln, Aushandeln). Blickle hat (1997) diese Variante überprüft; er konnte sie nicht bestätigen. Er findet vielmehr die Drei-Faktoren-Lösung (hard-soft-rational) angemessener. Falbo (1977) schlägt eine orthogonale Ordnung vor, bei der er die Abszisse mit rational - nicht rational und die Ordinate mit direkt - indirekt bezeichnet. In einer nachfolgenden Studie haben Falbo & Peplau (1980) das orthogonale Koordinatensystem beibehalten, ersetzen aber die Achse rational - nicht rational durch bilateral - unilateral. Barry & Shapiro (1992) untersuchten in kontrollierten Laborexperimenten Austausch (eine in Aussicht gestellte Gegenleistung für ein Entgegenkommen) als Moderator für die Wirkung von weichen und harten Taktiken. Eine 'weiche' Taktik ist wirksamer, wenn man keine Gegenleistung anbieten kann. Damit unterstützen sie ihr Argument, dass es nie auf eine einzelne Taktik allein ankommt, sondern immer um die Einbettung in Muster oder Sequenzen - und das macht die Berücksichtigung einer Mehrzahl von Taktiken nötig und sinnvoll. Zudem zeigten sie, dass es weniger bedeutsam ist, welche Taktik objektiv eingesetzt wird, sondern wie sie von der Zielperson wahrgenommen wird. Claire Simmers (1998) differenziert zwischen zwei politischen Stilen, die sie mit wertend gemeinten Begriffen bezeichnet, nämlich entweder als kooperierend (collaborative) oder als konkurrierend (competitive). Den letzteren 'traditionellen Politikstil' sieht sie durch eine Gewinn-Verlust-Haltung, Eigeninteresse und ungebilligte Mittel und Ziele charakterisiert, während der Gewinn-Gewinn-Aspekt beim kollaborativen Stil dominiert, obgleich es auch hier Interessenkonflikte gibt, die aber offen und sicher ausgetragen werden (siehe auch Voyer 1994). Bei ihrer Untersuchung des Einflusses von Mikropolitik auf strategische Vorstandsentscheidungen analysiert Simmers drei Verhaltensaspekte: Informationsnutzung, Aufbau unterstützender Netzwerke und Verhandlungsstil (Items sind aber leider nicht abgedruckt). Sie fand, dass kooperierende Mikropolitik (anders als konkurrierende) mit den meisten Kriterien positiv korrelierte - ein Hinweis darauf, dass Mikropolitik nicht immer und notwendig negativ für die Unternehmung sein muss. Cropanzano, Howes, Grandey & Toth (1997) orientieren ihre ebenfalls wertende Dichotomisierung an den Ergebnissen: Der Politics-Stil (auf dem internen Markt wird konkurrierend und Eigennutz orientiert in Fraktionen agiert, die aneinander desinteressiert sind) führt zu negativen, der Support-Stil (die Akteure kooperieren, helfen einander, arbeiten in stabilen Gruppen zusammen) zu positiven Ergebnissen. <?page no="129"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 111 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die vielen differenzierten und oft widersprüchlichen Einzelbefunde, die zur Wirkung von Taktiken und/ oder Strategien zusammengetragen wurden, lassen sich nicht leicht zu einem Gesamtbild integrieren. Auf Ergebnisse und Probleme eines solchen Vorhabens wird im Folgenden eingegangen. 2.3. Wirkungsanalyse In der oben angeführten 'minimalen' Mikropolitik-Definition wurde als eines der drei Kriterien die erfolgsstrategische Orientierung genannt: Taktiken werden gezielt eingesetzt, um bestimmte Ziele zu erreichen (das Zur-Geltung-Bringen eigener Vorstellungen und Interessen). Sie können deshalb danach bewertet werden, ob bzw. wie gut ihnen das gelungen ist. Ein Viertel-Jahrhundert empirischer Forschung resümiert ein Autor, der selbst viele Studien beigetragen hat, beinahe resignativ: "Nichtsdestotrotz bleibt die Beziehung zwischen organisationaler Politik und organisationalen Ergebnissen, speziell auf der Mikro-Ebene, unklar und es ist bislang keine Theorie vorgelegt worden, die den aktuellen Mechanismus dieser Beziehung erklärt" (Vigoda 2003, 41). Eine prominente Rolle spielt in den empirischen Studien der Versuch, Erfolgsbeiträge einzelner Taktiken zu isolieren Dies mündet in eine relativ praxisferne Künstlichkeit des methodischen Zugangs, der darauf fixiert ist, Taktiken möglichst überlappungsfrei zu identifizieren, um den Katalog der wichtigsten Vorgehensweisen zu finden. Es ist aber nahezu unmöglich, isoliert nur eine Taktik einzusetzen oder die anderen wirklich 'konstant' zu halten. Man kann zwar getrennte (Selbst- oder Fremd-)Einschätzungen erbitten (z.B.: "Wie oft haben Sie im letzten halben Jahr, um eigene Vorhaben zu realisieren, höhere Instanzen eingeschaltet? "), und die Antwort dann für bare Münze nehmen und 'höhere Instanzen einschalten' für etwas ganz Anderes als 'rational argumentieren' halten. Aber in der konkreten Praktizierung des mikropolitischen Manövers 'Sich an Vorgesetzte wenden' spielen notwendigerweise der Argumentationsstil (rational vs. nicht rational), die Beziehungsqualität (gutes/ enges vs. schlechtes/ lockeres Verhältnis zum Chef), die Tauschrelation (für ihre Unterstützung kann die Chefin eine/ keine Gegenleistung erwarten), das Maß an Unterwürfigkeit/ Selbstbestimmtheit oder Freundlichkeit/ Barschheit usw. eine Rolle. Es geht also nicht um Häufigkeitsverteilun- <?page no="130"?> 112 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ gen innerhalb des Ensembles der Taktiken, sondern um die Qualifizierung jeder einzelnen Taktik im Kontext der anderen, also um Netzwerke oder um Konfigurationen (wie am Beispiel von Farmer & Maslyn 1999 schon erwähnt). Man kann überdies nicht mehr quasi unbesehen die übliche Kriterienliste der personalwirtschaftlichen Forschung benutzen (z.B. Leistungsbeurteilung, Gehaltsentwicklung, Beförderungsrate). Vielmehr ist spezifischer danach zu fragen, welches konkrete Anliegen ein mikropolitischer Akteur verfolgt hat (z.B. einen Projektauftrag erhalten oder definieren, eine Budgetkürzung verhindern oder die Ressourcenausstattung verbessern, die Zahl der Mitarbeiterstellen erhöhen oder Kürzungen vermeiden, eine vorteilhafte Umstrukturierung auf den Weg bringen, Arbeitsabläufe oder Zuständigkeiten im eigenen Sinn verändern usw.). Diese proximale Akzentuierung ist aussagekräftiger als distale Kriterien wie Ratings in der Personalbeurteilung oder gar Entgeltzuwächse, weil diese von weit mehr Einflüssen abhängen als dem erfolgreichen Agieren eines Mikropolitikers - es sei denn, gerade diese Kriterien wären die Zielsetzung seiner Interventionen gewesen. Aus diesen Überlegungen sind Metaanalysen (wie jene von Higgins, Judge & Ferris 2003, deren Ergebnisse in Tab. 2-5 zusammengefasst sind) mit der gebotenen Zurückhaltung zu interpretieren. Einflusstaktik Anzahl Korrelationen Gesamtstichprobe mittlere korrigierte Korrelation* mittlere Standardabweichung Ingratiation Einschmeicheln 50 6065 .23 .26 Self-Promotion Eigenwerbung 20 3587 .01 .35 Rationality Rational Argumentieren 9 1454 .26 .26 Assertiveness Selbstsicheres Fordern 9 1487 -.02 .23 Exchange Tauschhandel 6 1041 -.03 .07 Upward Appeal Höh. Vorges. einschalten 4 846 .05 .22 * mit den Arbeitsergebnissen insgesamt, also der Kombination der beiden Einzelkriterien 'performance assessments' und 'salary and promotions' Tab. 2-5: Ergebnisse der Metaanalyse von Higgins, Judge & Ferris (2003) <?page no="131"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 113 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Ganz abgesehen davon, dass die Standardkritik an Fragebogenerhebungen (oneshot 24 , single source 25 , common method 26 ) auf die allermeisten der erfassten Studien zutrifft, geben die Autoren selbst eine Fülle von Einschränkungen zu bedenken, die als Begründungen für die enttäuschend geringen Effektstärken angeführt werden: - In wenig Studien wurden alle Einflusstaktiken untersucht; bei den tatsächlich erfassten waren die einzelnen Taktiken unterschiedlich häufig vertreten (z.B. 'upward appeal' und 'exchange' sehr selten im Vergleich mit 'ingratiation' und 'rationality'). Um einen Eindruck von der Einsatzhäufigkeit zu geben: In nur 10% aller Studien wurde die häufig(! ) genannte und wirksame Technik 'rationales Argumentieren' tatsächlich im Hinblick auf ihre Erfolgswirkung analysiert. In ähnliche Richtung gehen die Befunde eines Sammelreferats von Ferris, Hochwarter, Douglas, Blass, Kolodinsky & Treadway (2002). In ihrer Synopse von 36 Studien mit insgesamt 149 Ergebnissen fanden sie, dass die Resultate bei den meisten Studien entweder insignifikant oder gemischt waren (d.h. es gab jeweils sowohl positive wie negative wie insignifikant unterschiedene Auswirkungen der Taktiken auf die Kriterien). Einzig 'supervisor-focused ingratiation' und 'rationality' schneiden mit meist positiven Ergebnissen ab. 'Assertiveness' und 'job-focused tactics' sind überwiegend mit negativen Folgen verbunden. - In der Gesamtstichprobe findet sich eine große Streubreite von negativen bis positiven, von schwachen bis starken Effekten. Etwas salopp formuliert kann man resümieren: Bei Mikropolitik ist alles möglich, nicht zuletzt das Gegenteil. - Die Schlussfolgerungen sind zu relativieren, weil es zum Teil (siehe die zweite Spalte der Tabelle) sehr niedrige Zellenbesetzungen für manche Taktiken gibt; so ist z.B. 'coalition' völlig ausgefallen. - Je nach Erfolgskriterium [ Leistungsbeurteilungen (Ratings: L) und objektive Gehalts- und Beförderungsentwicklung (G&B)] ergeben sich unterschiedliche Zusammenhänge [zum Beispiel ist das korrigierte r bei der Taktik 'Ingratiation' für das Kriterium L = .35, für G&B aber nur = .11; bei 'Rationality' ist r für das Kriterium L = .50, für G&B dagegen lediglich = .12; bei allen anderen Taktiken liegen die r's im Allgemeinen um 0]. Die Autoren bieten folgende Erklärungsvorschläge an: a) Performance-Ratings können durch Vorgesetzte direkt beeinflusst werden, während Gehalts- und Beförderungs- 24 One shot: einmalige Datenerhebung (keine Verlaufs- oder Längsschnittdaten). 25 Single source: nur eine einzige Population wird untersucht (z.B. Mitarbeiterinnen einer Universitätsverwaltung). 26 Common method: Alle Daten werden mit derselben Methode (meist hochstrukturierten schriftlichen Fragebogen) erhoben. <?page no="132"?> 114 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ entscheidungen stark von dritten Größen abhängen 27 ; b) Vorgesetzten-Ratings können durch Mitarbeiter-Taktiken unmittelbar beeinflusst werden, während Mitarbeiter auf diejenigen, die G&B-Entscheidungen fällen, nur selten bzw. wenig direkten Einfluss haben. - Unterschiedliche organisationale und personale Kontexte konnten in der Metaanalyse ebenso wenig berücksichtigt werden wie - die Effekte der Kombination verschiedener Taktiken. So haben etwa Falbe & Yukl (1992) gezeigt, dass zwei 'softe' Taktiken oder eine 'softe' Taktik kombiniert mit 'Rationalität' wirksamer waren als jede Einzeltaktik oder eine Kombination von 'harten' Taktiken. Aber nicht nur die Konfiguration kann wichtig sein, sondern auch die Sequenz. Es müsste unterschieden werden zwischen "Erstversuch" und "Nachfassen". Wenn sich zeigen sollte, dass man mit Taktik 1 nicht reüssierte, kann nachgelegt werden mit der nächsten, besseren Taktik 2 oder Taktik 3 . Yukl, Falbe & Youn (1993) berichten, dass Einflussakteure nicht stur bei einer einmal praktizierten Taktik bleiben, sondern, wenn sie nicht zielführend war, auf eine andere umsteigen, sodass man zwischen 'initial'- und 'follow-up'-Einsatz unterscheiden muss und sich nicht begnügen darf danach zu fragen, welche Taktik jemand "normalerweise" oder "am häufigsten" praktiziert. - Es wurden verschiedene Messinstrumente eingesetzt: In den ausgewerteten 31 Studien wurden mindesten 9 verschiedene Instrumente zur Messung der Einflusstaktiken verwendet (a.a.O., 102). Auch wenn die Messungen einigermaßen reliabel sind, können doch erhebliche inhaltliche Unterschiede vorliegen, weil/ wenn die jeweiligen Verfahren etwas sehr Verschiedenes z.B. unter "Druck machen" verstehen. - Von den 31 Studien waren 29 'single shot' und nur 2 Längsschnittstudien, was die Aussagen zu den zeitlich ja nachfolgenden Wirkungen von Einflusstaktiken relativiert. 27 Zu den Kriterien, von denen G&B-Entscheidungen abhängen können, gehören u.a.: - Bekanntheitsgrad, Sichtbarkeit des/ der KandidatInnen, - ihre Fähigkeit, auf sich aufmerksam zu machen, Impression Management, - bisherige Leistungsbilanz; Geltung des Grundsatzes 'Leistung lohnt', - Erfahrungsdauer und -breite, - Verfügbarkeit, Abkömmlichkeit (nicht anderweitig dringender benötigt), - Mentoren, Sponsor(en); Seilschaften. Beziehungen, - Quotenregelung, Proporz-Prinzipien, - Mobilitätsbereitschaft (Ehefrau, Kinder, Eltern, Hausbesitz ...), - Herzeigbarkeit, Attraktivität, - Fehlen besserer Alternativen, - keine negativen Schlagzeilen (Tischsitten, Kleidung, Sprache, Lebensart, Stil), - finanzielle Lage des Unternehmens, - freie Stellen ... <?page no="133"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 115 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - Auch über Intensität oder Umfang des Einsatzes der erfassten Taktiken liegen keine Informationen vor; es wird nur berichtet, dass eine Taktik genutzt wurde, aber nicht wie sehr, wie hartnäckig oder wie kompetent. Die Autoren erwähnen hier explizit fehlende Informationen über 'political skills' der Einflussausübenden. Es ist zudem möglich, dass neben linearen Wirkungszusammenhängen vom Typus: "je mehr, desto besser" auch kurvolineare Zusammenhänge zwischen Einflusstaktik und Wirksamkeit bestehen, wie sie in Abb. 2-2 visualisiert sind. Abb. 2-2: Lineare und kurvolineare Zusammenhänge zwischen Intensität des Taktikeinsatzes und Erfolgswirksamkeit. - Hinzuzufügen ist, dass ein weiteres generelles Problem von Metaanalysen auch hier eine Rolle spielt: Viele Studien in der Ausgangs-Stichprobe machen keine Angaben über die Effektstärke (z.B. Korrelationskoeffizienten oder Distanzmaße). Es kann sein, dass mit der Streichung dieser Arbeiten auch interessante Innovationen unberücksichtigt bleiben. - Wichtig ist auch die Einflussrichtung. Verschiedene Taktiken werden nach 'oben' und nach 'unten' unterschiedlich häufig und unterschiedlich erfolgreich eingesetzt. Dies wird im Anhang zu diesem Kapitel (siehe Tab. 2-8 und Tab. 2-9, S. 145f.) anhand von Ergebnissen von Dosier, Case & Keys (1988) und Case, Dosier, Murkinson & Keys (1988) belegt. niedrig Intensität hoch niedrig ← Wirksamkeit→hoch Je mehr, desto besser! Rationalität? Tauschhandel? niedrig Intensität hoch niedrig ← Wirksamkeit→hoch Ab einem bestimmten Punkt bringt mehr nicht mehr! Vorgesetzte einschalten? Blockieren? niedrig Intensität hoch niedrig ← Wirksamkeit→hoch Zuviel des Guten! Einschmeicheln? Druck machen? <?page no="134"?> 116 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die Überlegungen von Higgins, Judge & Ferris (2003) können durch ein Argument ergänzt werden, das generell bei sozialer Urteilsbildung zu berücksichtigen ist: die mangelnde Übereinstimmung zwischen Einfluss ausübendem Akteur und Einflussadressat. Verschiedene Befragte (Zielpersonen) kommen in Bezug auf ein und denselben Akteur nicht zur selben Diagnose, wenn sie dessen Taktiken beschreiben (siehe dazu die Tab. 2-6 aus Rao, Schmidt & Murray 1995 und die Tab. 2-7 aus Blickle 2003). Interessant ist hier die Parallele zur Führungsforschung und zur 360 o -Beurteilung (s. Waldmann 2003). "Wenn Unterstellte angaben, sie seien 'assertiv', nahmen ihre Vorgesetzten sie als irrational wahr und gaben ihnen schlechte Leistungsbeurteilungen" (Rao, Schmidt & Murray 1995, 163). [...] "Es gelingt Akteuren - wenn man eine dramaturgische Metapher nutzt - oft nicht bei ihren Zuschauern den Eindruck zu erzeugen, den sie eigentlich vermitteln wollten" (a.a.O., 164). In der folgenden Tab. 2-6 habe ich durch hervorgehobene Umrandungen jene Diagonale optisch hervorgehoben, in der hohe Übereinstimmungswerte stehen müssten, weil es um die gleichen Verhaltensklassen geht. Wie die Ergebnisse zeigen, ist dies nicht der Fall. Die Einflusstaktik wurde durch die Führungskraft wahrgenommen als Von den Unterstellten berichtete Taktik hartnäckig vernünftig verhandelnd freundlich Einschmeicheln -.06 .07 .05 .11 Tauschhandel .24* -.04 .15 .10 Vernunftargument .01 .18 .06 .06 Nachdruck .16 -.21* .26* .04 Koalition .21* -.04 .22* .22* Höhere Instanzen .16 -.01 .14 -.08 *= p < .05 Tab. 2-6: Korrelationen zwischen Einflussstrategien von Untergebenen und deren Wahrnehmung durch Vorgesetzte (aus Rao, Schmidt & Murray 1995, 162) <?page no="135"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 117 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Dieser Befund lässt die Vorgehensweise fragwürdig erscheinen, diejenigen, die ihr Einflussverhalten beschreiben, gleichzeitig auch den Erfolg ihrer Taktiken einstufen zu lassen (wie das z.B. Deluga 1991 getan hat). Blickle (2003) untersuchte in einem anspruchsvollen Design die Übereinstimmungen in der Wahrnehmung von Einflusstaktiken, indem er Triaden von Vorgesetzten, Kollegen und Unterstellten mit dem auf nur vier Taktiken begrenzten Blickle- Inventar befragte. Er ließ die Vorgesetzten (Akteure) beschreiben, wie sie jeweils ihren eigenen Chef, einen ausgewählten Kollegen und einen ausgewählten Unterstellten beeinflussten. Die so beschriebenen Zielpersonen beurteilten ihrerseits, wie sie sich von dem jeweiligen Vorgesetzten beeinflusst sahen. Blickle konnte in einer ersten Welle 267 komplette Sätze (1 Akteur, 3 Zielpersonen), in einer zweiten 209 erhalten. Er fand signifikante Konvergenzen, die aber sehr niedrig sind (siehe die folgende Tab. 2-7, die nach Angaben in Blickle 2003 zusammengestellt ist). Man kann resümieren, dass Akteure und Zielpersonen praktisch kaum übereinstimmen in Bezug auf die Klassifikation der ausgeübten/ wahrgenommenen Taktiken. Vorgesetzte(r) KollegIn Unterstellte(r) Druck machen .39 .17 .29 rationale Einflussnahme .08 n.s. .18 .22 höhere Instanzen einschalten .32 .04 n.s. .14 n.s. Einschmeicheln .16 .21 .11 n.s. Tab. 2-7: Übereinstimmung bei der Beurteilung von Urteilstaktiken aus drei Perspektiven (Blickle 2003a, 47-49) Es ist überraschend zu sehen, dass Vorgesetzte es anscheinend nicht registrieren, wenn Unterstellte mit rationalen Argumenten Einfluss zu nehmen versuchen (r = .08) - und dies bei jener Taktik, die am häufigsten genutzt und als besonders wirksam beschrieben wird! Und sie scheinen auch ebenfalls nicht zu merken, dass/ wenn Unterstellte sich bei ihnen einschmeicheln wollen. Als mögliche Begründung für dieses (enttäuschende? ) Ergebnis führt Blickle (2003a, 50) ein Zitat von Stohl & Redding (1987) an: "Die Annahme einer objektiv 'richtigen Bedeutung' einer Mitteilung kann nicht aufrechterhalten werden. Mitteilungen interpretieren ist ein schmutziges Geschäft. Vom <?page no="136"?> 118 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ einfachsten Gruß bis zur äußerst komplexen Rationalisierung sind Mitteilungen in sich mehrdeutig und manchmal absichtlich irreführend." Interpretieren ist wohl weniger ein schmutziges, als vielmehr ein sehr komplexes Geschäft. Es mag sein, dass zwei Befragte unterschiedliche Deutungsmuster haben, dass sie an verschiedene Episoden denken, dass sie unterschiedliche Aggregationen vornehmen, dass die sozio-emotionale Beziehung zwischen ihnen moderierend wirkt, dass sie die soziale Erwünschtheit bestimmter Taktiken (oder von Einfluss generell) verschieden einschätzen usw. Es mag auch sein, dass sie die Befragungssituation mikropolitisch interpretieren und sich Gedanken machen darüber, wie es wohl ankommt, wenn sie auf Schmeicheleien oder Druck von unten "hereinfallen", sodass ihre Antworten nicht die Situation beschreiben, sondern ihr Selbstbild schützen oder (scheinbar) vorteilhaft präsentieren sollen … In Beleg 2-8 sind Argumente aufgeführt, die der Befragung mittels standardisierter Fragebogen die mikropolitische Unschuld rauben. Dieses Setting ist, insbesondere bei der Untersuchung von affektiv besetzten Themen wie Mikropolitik oder Impression Management (worauf die Argumente gemünzt sind) sehr voraussetzungsvoll. Beleg 2-8: Zur Kritik der Fragebogen-Methodik (Miller, Boster, Roloff & Seibold 1987) - Fragebogen unterstellen/ erlauben Reflexion, Abwägung, gedankliche Prüfung - während in der Praxis routiniert, 'gedankenlos', habitualisiert reagiert wird. - Die Fragebogen-Situation ist überschaubar, stabil und fix; in der Praxis ist die Lage mehrdeutig und ändert sich fortwährend und unerwartet. - In der Fragebogen-Beantwortung kann man 'cool' und distanziert bleiben; in der Praxis ist man unter Umständen emotional stark engagiert (Wut, Ärger, Neid, Sympathie …). - In Fragebogen werden Listen 'aller möglichen' Taktiken vorgegeben - auch solcher, an die man in der Praxis persönlich gar nicht denken würde. - Die Fragebogenantwort hat keine Konsequenzen; es ist etwas ganz anderes, die Einflusshandlung tatsächlich konkret ausführen zu müssen. - Im Fragebogen werden die Einzeltaktiken unverbunden nacheinander aufgeführt; in der Praxis sind Strukturen und vor allem Sequenzen (nach dem 'Eröffnungszug') wichtig. - Fragebogen simulieren keine Interaktion. In der Praxis re-agiert die andere Seite auf die genutzte Taktik und der Akteur muss seinerseits (sofort) auf diese Reaktion reagieren etc. <?page no="137"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 119 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Wenn eine Kommunikation fragmentiert, unvollständig und mehrdeutig ist, wird sie eben deshalb von Sender und Empfänger unterschiedlich wahrgenommen. Diese fast schon lakonische Feststellung rüttelt allerdings an den Grundfesten der Einflussforschung, die mit standardisierten Fragebogen arbeitet, mit denen meist nur (Selbst-)Wahrnehmungen erhoben werden. Gerade Einfluss aber muss 'ankommen' - und wenn der Beeinflusste(? ) gar nicht merkt, dass und wie er gesteuert werden sollte, kann man seiner Selbstdiagnose nicht trauen. Ein weiterer Grund dafür, dass die Korrelation zwischen Selbsteinschätzungen und 'objektiven' (von Dritten beurteilten) Konsequenzen nicht besonders hoch ist. In ihrer Zusammenfassung ziehen Higgins, Judge & Ferris (2003) aus ihrer Metaanalyse folgendes Resümee: "Trotz des gestiegenen Interesses in den letzten 20 Jahren scheint die Forschung eine der fundamentalsten Fragen nicht erfolgreich beantwortet zu haben, nämlich welche Einflusstaktiken am wirksamsten sind für das Erzielen positiver Arbeitsergebnisse" (Higgins, Judge & Ferris 2003, 101). Diese Schlussfolgerung ist aufschlussreich, weil sie suggeriert, für einzelne Taktiken könnte ihre spezifische Wirksamkeit gemessen werden. Gleichzeitig vermuten die Autoren jedoch, dass der Mix, die Abfolge, die Kompetenz in der Anwendung etc. von großer (unbekannter) Bedeutung sind. Insofern ist ihr allgemeines Ergebnis buchstäblich nichts sagend oder freundlicher ausgedrückt: eine sehr konservative Schätzung des Potenzials einer Technik. Jede der Taktiken kann nämlich unter günstigen Umständen, von einem cleveren Mikropolitiker und in der richtigen Kombination und Sequenz praktiziert außerordentlich erfolgreich sein. "Unter günstigen Umständen" - dies zu prüfen, würde voraussetzen, die Kontexte, in denen mikropolitisch agiert wird, differenziert und vergleichbar zu erfassen. Im organisationalen Rahmen gibt es dazu einige Ansätze (z.B. summarische Einschätzungen von Formalisierungsgrad, Größe, Branche, Klima, Unternehmenskultur usw.), aber keine systematische Reflexion der Mechanismen, die eben diese Bedingungen mikropolitisch relevant werden lassen (darauf werde ich im Kapitel 3 noch ausführlich eingehen). Es kann also sein, dass angesichts der Zwänge, die aus makropolitischen Gegebenheiten resultieren, mikropolitische Interventionen einem Bild, das von Anderen und Anderem gestaltet wird, nur kleine Arabesken hinzufügen können. Für Mark- Ungericht (1997, 90) ist Mikropolitik angesichts von Mesotrends (z.B. Fragmentierung der Belegschaften, Erhöhung der Ersetzbarkeit einzelner Beschäftigten- <?page no="138"?> 120 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ gruppen, Fokussierung des Personalmanagements auf 'Elite-Belegschaften') nur ein "Synonym für die Beendigung des demokratischen Diskurses im Unternehmen (vor seinem Beginn)": "Mikropolitisches Verhalten muss angesichts der skizzierten Rahmenbedingungen vor allem als resignativer Versuch gesehen werden, sich seiner bedrohten Identität trotz des offensichtlichen Ausgeschlossenseins zu versichern" […] "Mikropolitisches Verhalten ist nicht nur eines, das angesichts solcher Rahmenbedingungen im Verborgenen bleiben muss, es ist deshalb auch (als individualisiertes, resignatives) ohne gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang und ohne Aussicht darauf, die Rahmenbedingungen zu den eigenen Gunsten zu verändern" […] "… es heizt den internen Wettbewerb an und fördert genau jene Individualisierung, welche Voraussetzung für diesen Typ mikropolitischen Verhaltens ist" (Mark-Ungericht 1997, 90/ 91/ 92). 2.4. Reflexion/ Kritik 2.4.1. Methodologische und theoretische Vorentscheidungen bei der Erfassung von mikropolitischen Taktiken und Strategien In der folgenden groben Charakterisierung will ich einige methodologische Vorentscheidungen veranschaulichen, die bei der Erfassung von mikropolitischen Taktiken und Strategien zu treffen sind. Eine Vorgehensweise kann im Raster verschiedener Optionen positioniert werden. Im der folgenden Abb. 2-3 sind einige Möglichkeiten der Akzentsetzung gegenübergestellt: Einzeltaktik Konfiguration, Muster retrospektiv prospektiv faktisch/ praktiziert hypothetisch/ konjunktivisch Eröffnungszug Sequenz/ Prozess kontextspezifisch kontextindifferent dyadisch strukturell Einflussstile: a) offensiv defensiv b) direkt, offen heimlich, indirekt Abb. 2-3: Optionen der Erfassung mikropolitischer Taktiken und Strategien <?page no="139"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 121 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beispiele von Frageformulierungen für die aufgeführten Optionen: Einzeltaktik: "Im Folgenden finden Sie eine Liste von Einflusstaktiken. Kreuzen Sie bitte an, welche davon Sie bevorzugt anwenden …" - Konfiguration, Muster: "Im Folgenden finden Sie eine Liste von Einflusstaktiken. Denken Sie bitte an eine konkrete Episode, in der Sie Ziel eines Einflussversuchs waren und geben Sie an, welche der Taktiken in welche Abfolge (bzw. Intensität bzw. Kombination) damals eingesetzt wurden (oder: … welche Ihre Vorgesetzte üblicherweise einsetzt)." Retrospektiv: "Erinnern Sie sich an eine Situation, in der Sie mikropolitisch aktiv wurden. Was haben Sie getan …" - Prospektiv: "Wenn Sie in die folgende Situation … kommen, welche mikropolitische Taktik werden Sie einsetzen? " Faktisch: "Was haben Sie bei Ihren Einflussversuchen getan? " - Hypothetisch: "Was würden Sie tun, wenn Sie in die Situation X kämen? " Oder: "Was brächte den meisten Erfolg oder sicheren Erfolg? " Eröffnungszug: "Wählen Sie - unter den vorgegebenen - jene Taktik aus, die Sie in der Situation x (oder generell) als erste praktizieren würden." - Sequenz: "Welches Repertoire bzw. welche Abfolge von Taktiken setzen Sie ein, wenn Sie eigene Interessen durchsetzen möchten? " Kontextspezifisch: "Im Folgenden ist eine bestimmte Situation beschrieben" (es folgt ein kurzes Szenario; so etwa bei Kirchmeyer 1990 3 , Drory & Romm 1988 oder Rodler & Kirchler 2002). "Was tun Sie in Situationen dieser Art normalerweise? " - Kontextindifferent: "Welche der folgenden Taktiken setzen Sie am häufigsten ein/ halten Sie für besonders wirksam? " Dyadisch: "In mikropolitischen Situationen kommt es darauf an, Anderen den eigenen Willen aufzuzwingen und aus diesen Konfrontationen als Sieger hervorzugehen. Was tun Sie, um Erfolg zu haben? " - Strukturell: "In mikropolitischen Situationen kommt es nicht auf trickreiche Überlistung Widerstrebender an, sondern auf die Schaffung von Ordnungen (Regeln, Strukturen), die die eigene Position privilegieren. Wie gehen Sie dabei vor? " a) Offensiv: "Wie setzen Sie Ihre Interessen durch? " - Defensiv: "Wie blockieren Sie gegnerische Einflussversuche? " b) Offen: "Im Folgenden finden Sie eine Liste mikropolitischer Taktiken: Welche von ihnen setzen Sie ganz offen und unverstellt (wie häufig) ein? " - Heimlich: (Liste) "Welche von diesen Taktiken wenden Sie nur verkleidet oder heimlich an? " Alle diese Varianten wurden in der bisherigen Forschung praktiziert; die vorherrschende Konstellation bei Mainstream-Fragebogen dürfte durch die Profillinie markiert sein, die im abgebildeten Polaritätenprofil eingezeichnet ist. <?page no="140"?> 122 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Auf eine der genannten Polaritäten (retrospektiv - prospektiv) gehe ich im Folgenden näher ein, um an diesem Beispiel den Folgenreichtum zu illustrieren, der bei allen genannten Polaritäten zu erwarten ist. Beispiel: Retrospektive Ansätze Die klassischen Instrumente à la POIS oder IBQ sind entwickelt worden, indem zunächst einmal 'critical incidents' gesammelt wurden, in denen eigene Erfahrungen (als Akteur, Adressat oder Beobachter) zur Sprache kommen sollten: "Denken Sie an ein Vorkommnis in Ihrem Berufsleben, bei dem Einfluss ausgeübt wurde. Können Sie mir Näheres dazu sagen? " (Es folgt ein Frageschema, wie z.B. das in Beleg 2-9 abgedruckte, das Dosier et al. verwendet haben). Beleg 2-9: Methode der Kritischen Ereignisse Im Folgenden sind die sieben Leitfragen abgedruckt, mit denen Dosier, Case & Keys (1988, 23f.) und ähnlich Case, Dosier, Murkinson & Keys (1988, 26) ihre Daten zur Einflussnahme in Organisationen erhoben haben: 1. Was waren Hintergründe und Ziele des Einflussversuchs? Wie oder warum kam es zum Einfluss? Wo? Für welchen Zweck? 2. Welche Methode(n) haben Sie eingesetzt, um diesen Unterstellten zu beeinflussen? Was war ihre Strategie? Welche Taktiken oder Ansätze haben Sie genutzt? 3. Warum haben Sie diesen Ansatz genutzt? Was hat Sie vermuten lassen, dass diese Methode hilft? Hatten Sie diesen Ansatz schon vorher genutzt? usw. 4. Waren andere Personen an dieser Einfluss-Episode beteiligt? Haben Sie von irgendjemand Hilfe oder Unterstützung angefordert? Haben Sie andere zwischengeschaltet? Wenn ja, wer war wie beteiligt? 5. Warum ist Ihr Versuch diesen Unterstellten zu beeinflussen erfolgreich gewesen oder gescheitert? Was haben Sie richtig oder falsch gemacht? Was war die Ursache für Erfolg oder Misserfolg des Versuchs? 6. Was war die unmittelbare Folge dieser Einfluss-Episode für Sie, den Unterstellten und/ oder die Organisation? Wie haben sich Ihr Einfluss auf den Unterstellten und die Beziehung zu ihm geändert? 7. Was war das langfristige Ergebnis dieses Einfluss-Versuchs für Sie, den Unterstellten und/ oder die Organisation (mehr als ein Monat später)? Wie haben sich nachfolgend Ihr Einfluss auf den Unterstellten und die Beziehung zu ihm geändert? <?page no="141"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 123 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Eine solche Vorgehensweise leidet schon im Ansatz unter einer systematischen erhebungsbedingten Verzerrung: In der Retrospektive werden abgeschlossene Ereignisse beschrieben, deren Entwicklung und Ausgang bekannt ist und die - wie jede Geschichte angesichts von Erzählzwängen - stimmig gemacht werden. Beispiel: Prospektive Ansätze Im Unterschied zur Retrospektive kann die Prospektive angelegt sein als - Berichterstattung über ein aktuelles noch ungelöstes Problem, mit dem sich der Befragte an seinem Arbeitsplatz konfrontiert sieht; in einer Nachbefragung kann später evtl. eruiert werden, wie es ausgegangen ist; - hypothetische Frage, die eine mikropolitisch nutzbare Situation (Szenario) vorgibt und eine freie Antwort oder die Auswahl aus einer Liste von Taktiken erbittet; - ein Planspiel oder ein Rollenspiel (s. z.B. Tandon, Ansari & Lakhtakia 1989), bei denen die Person in einen interaktiven Prozess platziert wird, in dem sie konkrete Entscheidungen bei realer oder symbolisierter Kopräsenz anderer Akteure (Mitspieler, Konkurrenten, Beobachter, Beurteiler) treffen und umsetzen muss. Auch dies ist eine hypothetische, simulierte Situation; das Setting kann aber mit theoretisch interessierenden Details konkret angereichert werden; - teilnehmende Beobachtung, die eine Sonderrolle einnimmt (z.B. Damiani 1991; Maitlis 2004), weil zwar im Regelfall die Beobachtungen im Nachhinein protokolliert werden (sodass dann in gewisser Weise 'story telling' betrieben wird), im Beobachtungsprozess aber noch nicht entschieden ist, wie sich eine Angelegenheit entwickeln wird. Es kommt also darauf an, die Protokollierung und Kodierung der Beobachtungen zeitnah - vor retrospektiver Sinngebung - vorzunehmen; - Laborstudie (mit meist studentischen Populationen); diese Methode wird vorzugsweise in der sozialpsychologischen Grundlagenforschung genutzt (s. etwa Falbo 1977, Forgas & Williams 2001). Statt ihre Erfahrungen in einem entlasteten Rück-Blick resümieren zu können, sieht sich die Person bei noch nicht abgeschlossenen mikropolitischen Episoden in einer Entscheidungssituation, die oft unaufschiebbar Handeln erfordert, wobei die aktuelle Lage sowie die weitere Entwicklung der Dinge unklar oder mehrdeutig sein können. Aus der Vergangenheit kann man zwar Lehren für die Zukunft ziehen, aber nur, wenn diese Zukunft durchschaut ist und nach ähnlichen Regeln funktioniert. Und - was schon betont wurde - es macht einen großen Unterschied, <?page no="142"?> 124 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ob man nachdenken und Bilanz ziehen muss oder man in einer konkreten, widersprüchlichen ambiguen Situation unter Zeitdruck tatsächlich handeln muss. 2.4.2. Zur Rolle der Operationalisierungen: Das Beispiel 'Rationales Argumentieren' Neben der Entscheidung zwischen eine Reihe methodologischer Alternativen spielt auch das Problem der Operationalisierung eine wichtige Rolle. Verschiedene Autoren bieten für die von ihnen erfassten Taktiken gleiche oder ähnliche Bezeichnungen an, hinter denen sich aber nicht unbedingt der gleiche Set basaler Verhaltensweisen verbirgt. Am Beispiel der am häufigsten eingesetzten Taktiken (rationales Argumentieren) gehe ich im Folgenden auf das Problem ein, dass sich hinter gleichlautenden Kategoriennamen (z.B. Rationalität) höchst unterschiedliche Konkretisierungen verbergen können (siehe Beleg 2-10; im Kap. 3.1.3. - siehe S. 166ff. - wird das in anderem Kontext zusätzlich an den Beispielen Druck machen und Einschmeicheln illustriert). Wenn zwei Studien die unterschiedliche Wirksamkeit von 'ein und derselben' Taktik konstatieren, mag das auch daran liegen, dass nur die Überschriften, nicht aber die Inhalte gleich sind. Es lässt sich praktisch bei jeder der Taktiken zeigen, dass nicht unbedingt Nutella drin ist, wo Nutella draufsteht. Bei der Taktik 'Rationalität' beginnt schon mit der Gleichsetzung von rationalem mit vernünftigem Argumentieren, eine Differenz, wegen der sich ganze Philosophengenerationen in die Haare geraten sind. Im Umgang mit Information spielt der Einsatz von Rationalität eine besondere Rolle. Er liegt dem Informationsverarbeitungsprogramm des homo oeconomicus zu Grunde und lässt mehrere Auslegungen zu. Mit 'Rationalität' kann gemeint sein (siehe dazu auch die Kriterien, die in Kap. 5, S. 343ff. angegeben werden): - Widerspruchsfreiheit: Die Argumentation ist logisch konsistent, enthält keine Denkfehler oder unbegründeten Annahmen. - Nicht einfach inkohärent und beziehungslos daherreden, sondern Belege, Gründe, stichhaltige Informationen liefern, Zusammenhänge und Hinter-Gründe aufzeigen; systematisch und methodisch handeln: z.B. Pläne vorlegen, Ausarbeitungen anfertigen, Belege (Fakten, Beispiele, benchmarks) liefern. <?page no="143"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 125 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 2-10: Operationalisierungen von "Rationalität" In verschiedenen Einfluss-Fragebögen wird 'rationales Argumentieren' auf unterschiedliche Weise operationalisiert: Kipnis, Schmidt & Wilkinson (1980) 40. Schrieb einen detaillierten Plan, der meine Ideen begründete. 38. Legte ihm/ ihr Informationen vor, die meinen Standpunkt stützten. 31. Erklärte die Gründe für mein Ersuchen. 13. Überzeugte sie/ ihn durch logische Argumentation. 24. Verfasste einen Vermerk, der beschrieb, was ich wollte. 42. Bot einen Kompromiss an (gab ein wenig nach). 16. Demonstrierte ihm/ ihr meine Kompetenz, bevor ich mein Ersuchen vorbrachte. Schriesheim & Hinkin (1990) 13. Überzeugte ihn oder sie unter Einsatz von Logik. 31. Erklärte die Gründe für mein Ansuchen. 38. Versorgte ihn oder sie mit Informationen, die meine Auffassung stützten. Ansari (1990, 137f.) 1. At times I explained the reasons for my request. 8. I used logic to convince him. 9. I got my way by convincing him that my way was the best way. 13. I provided sufficient information in support of my view. 17. I told him the reasons why my plan was the best. 19. I influenced him because of my competence. 21. I convinced him by explaining the importance of the issue. 23. At times I tried to persuade him that my way was the best way. 26. I repeatedly persuaded him to comply with my arguments as they were the need of the time. 30. At times I showed my knowledge of the specific issue. Somech, Anit, Drach-Zahav & Anat (2002, 173) 8. Erklärt die Gründe für seine/ ihre Anfrage. 10. Legt mir Informationen vor, die seinen/ ihren Standpunkt unterstützt. 11. Geht logisch vor, um mich zu überzeugen. 12. Legt einen detaillierten Plan vor, um seine/ ihre Ideen zu rechtfertigen. 16. Verfasst ein Memo, das beschreibt, was er/ sie will. 19. Überredet mich durch logische Argumentation, seine/ ihre Meinung zu akzeptieren. Freudenberg (1999, 211) a) … gezielt Informationen geben; b) … Vorstellungen mit sachlichen Argumenten begründen; c) … Vorstellungen mit eindeutigen Zahlen (Berechnungen, Tests, …) belegen; d) … mit (der Zielperson) ausführlich diskutieren und sie schließlich überzeugen. Blickle (2003b, 7) 1. Zur Unterstützung meiner Position gebe ich meinem Vorgesetzten ausführliche Informationen, die mein Anliegen verdeutlichen. 2. Ich erkläre gegenüber meinem Vorgesetzten ausführlich die Gründe für mein Anliegen. 3. Ich besorge mir ausreichend Informationen zum Thema. 4. Ich verwende rationale Argumente. <?page no="144"?> 126 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - Keine sach(! )fremden Momente einführen (also keine Emotionen, Sympathien, Wutausbrüche, irrelevante Abschweifungen). - Konsequent geplant vorgehen, einem zielführenden Mittel-Zweck-Schema folgen (wie in der Ökonomie beim so genannten Rationalprinzip: mit gegebenem Aufwand das bestmögliche Ergebnis oder ein gegebenes Ergebnis mit geringstmöglichem Aufwand erzielen). 28 - Kommunikativer Rationalität folgen; begründbare Geltungsansprüche formulieren, z.B. Wahrhaftigkeit (Integrität) und Universalisierbarkeit. - Eine Form des Diskurses wählen, die objektiv, technisch, nüchtern ist; Indikator dieser Art von Rationalität ist der Einsatz von Zahlen, Diagrammen, Tabellen, schnörkelloser, unemphatischer Rede etc. - Schiffinger (2002) führt z.B. in seinem Inventar überhaupt keine 'wirklich' rationale Argumentation auf, sondern kennt nur 'biased rationality'. Alle diese Qualifikationen sind anfällig für mikropolitische Manöver. Am häufigsten wird wohl der letzte Weg begangen: Mit dem Anschein von Rationalität wird hinweggetäuscht über fehlende Substanz an wirklicher(? ) Rationalität. Dies zu durchschauen erfordert im Regelfall allerdings Expertise und Mehr-Information 29 , es sei denn, es würde mit Unterstellungen oder einfachem Bestreiten gearbeitet ("Ich habe aber andere Zahlen …", "Was Sie verschwiegen haben …", "Sie haben aus dem Zusammenhang gerissen …"). Rationales Argumentieren darf nicht mit integrem Argumentieren verwechselt werden (siehe dazu Blickle 1994 und Groeben, Schreier & Christmann 1990 30 ). Rationalität mit logischer Argumentation gleichzusetzen verlangte eindeutig definierte Begriffe, exakte Ableitungsbzw. Schlussfolgerungsregeln (z.B. naturwissenschaftliche Gesetze) und konsistente Handhabung von Begriffen und Regeln. Die Verletzung dieses relativ engen Rationalitätsverständnisses ist für Aufmerksame und Eingeweihte leicht nachzuweisen (weshalb es zu den Taktikrat- 28 "Es war einmal ein Mann, der war ständig und unbeirrbar vernünftig. Er wurde gefragt: 'Warum sind Sie so vernünftig? ' Er antwortete: '... Ich finde es herrlich, unvernünftig zu sein. So vernünftig wie ich zu sein, ist das Unvernünftigste, was man tun kann. Deshalb bin ich so vernünftig" (Smullyan 1983, 43). "Der Rationalismus ist ein irrationales Vertrauen in die Ratio" (Kierkegaard, zit. in Loriedo & Vella 1993, 57). 29 Getreu dem Slogan: Wenn du zwischen einem guten Rat und einem schlechten Rat unterscheiden kannst, brauchst du keinen Rat! 30 Der Gesprächstyp der (integren) Argumentation hat vier definierende Merkmale (s. Groeben, Schreier & Christmann 1990 10 , 3): Mit einer solchen Argumentation "wird versucht, eine strittige Frage (Voraussetzung) durch partner-/ zuhörerbezogene Auseinandersetzung (Prozess) einer begründeten Antwort (Ziel) von transsubjektiver Verbreitung (Ziel) zuzuführen." <?page no="145"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 127 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ schlägen gehört, exakte Begriffe und überprüfbare Aussagen zu vermeiden). Mikropolitisch eher nutzbar ist ein Rationalitätsbegriff, der sich auf akzeptierte Verfahren gründet (z.B. der Planung oder der Zusammenhangsmessung); werden deren Voraussetzungen erfüllt, gelten die Ausführungen als rational. Die Arbeit mit dieser Form muss sowohl das verwendete Verfahren wie dessen inhaltliche Ausfüllung rechtfertigen (können). In fast allen empirischen Erhebungen stellt sich heraus, dass 'rationales Überzeugen' mit großem Abstand die am häufigsten eingesetzte Einflusstaktik ist (siehe dazu auch die Zusammenstellung in Blickle 1994, 102). Yukl, Falbe & Youn (1993) fanden z.B. bei insgesamt 504 Incidents, die Einflussadressaten berichtet hatten, dass die Taktik 'rationales Überzeugen' 270 mal (54%) eingesetzt worden war; mit einer Ausnahme ('Druck machen' mit 13%) waren alle anderen der 9 Taktiken im einstelligen Prozentbereich. Neben der sozialen Erwünschtheit eines solchen Handelns liegt dem wohl auch die Erfahrung zu Grunde, dass im Kontext formaler(! ) Organisationen sachliches, vernünftiges, nüchternes Argumentieren ein Muster darstellt, das kaum Legitimationsaufwand erfordert, weil es als Norm gilt. Die Begründung ist zirkulär: Wo es um die Sache geht, muss es sachlich zugehen. Es ist deshalb ein Schachzug, alles was politisch ist (z.B. die Durchsetzung von Interessen, Konflikte um Ziele, die asymmetrische Verteilung von Vorteilen oder Verfügungsrechten etc.) als 'keine Sachfrage' oder 'eine Grundsatzfrage' oder 'unlösbar' aus dem rationalen Diskurs auszuschließen. Und das wiederum legt Akteuren nahe, das, was sie tatsächlich gestalten wollen, in die Form der Rationalität (Rationalitätsfassade) zu zwingen. Seinen zugleich alltäglichen und extremen Ausdruck findet dieser Zwang im "Formular" oder der Computer-Maske(! ): Es wird genau vorgegeben, was zu antworten ist, es werden knappe, schemagerechte Angaben verlangt und die Auswertung wird einem "Programm" überantwortet, das alle Informationen nach vorgegebenen Prinzipien objektiv verarbeitet. Die scheinbare Klarheit der automatisierten Lösung einer Sachfrage verstellt den Blick auf die dahinter liegenden, geschickt verschleierten politischen Fragen, nämlich um welche Interessen es geht und wer das Geschehen kontrolliert. 2.4.3. Kontextualisierung und Dekontextualisierung Jede Handlung - und sei sie von ihrem Autor noch so altruistisch oder sachlich gemeint gewesen - kann vom Beobachter als 'mikropolitisch' motiviert rekonstruiert werden. Aus diesem Blickwinkel ist der Erklärungswert gleich Null. Es <?page no="146"?> 128 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ müsste also gelingen, die Differenzkriterien von mikropolitischem und nichtmikropolitischem Verhalten herauszuarbeiten. Die einleitenden Überlegungen zur Definition von Mikropolitik haben gezeigt, wie schwierig das ist. Taktik-Listen haben etwas Rezeptartiges an sich; sie sind Aufstellungen von Handlungsanweisungen, die Erfolg in der Durchsetzung eigener Interessen versprechen. Als Verfahrensempfehlungen sind sie jedoch buchstäblich einseitig, weil/ sofern sie nur die Dann-Komponente ausmalen, nicht aber die Wenn-Komponente. Unbedingt formuliert erscheinen sie als eine Art Allzweckwaffen. Immer dringlicher rückt die Frage in den Vordergrund, wie die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Anwendung aufgezeigt werden können. Wenn ein Vorgehen als 'mikropolitische Taktik' etikettiert werden soll, muss zugleich angegeben werden, in welchen Kontext es eingebettet ist (Geschichte, Beteiligte, Regeln, Ressourcen usw.) und aus welcher theoretischen Perspektive es untersucht wird. Dies ist ein Plädoyer für ein interaktionistisches oder systemisches Denken, das sich der Reduktion auf traitistische, behavioristische oder situationistische Engführungen verweigert. Die Aufklärung von Kovarianzen ist dabei nur eine Heuristik, mit der sich herausfinden lässt, ob oder wie sehr Variablen zusammenhängen. Das Nachdenken über das Warum der Zusammenhänge wird dadurch angeregt. Wenn man aber bei den Instrumenten, so wie sie nun einmal sind, stehen bleibt, kommt man - eben! - nicht weiter. Sinkt der Grenznutzen weiterer Taktik-Analysen, kann es eine viel versprechende Option sein, sich verstärkt den anderen beiden Facetten des Polity-Policy- Politics-Dreiecks zuzuwenden und die Strukturationsbeziehungen zwischen ihnen zu untersuchen. Wenn man fragt "How I get my way", kann man dann annehmen, dass alle Befragten die gleiche Situationstypik oder ähnliche Kontexte zu Grunde legen? Wird im Unternehmenskontext gefragt, werden wohl stillschweigend einige Annahmen geteilt: - Es sind andere Personen/ Stellen beteiligt (z.B. als Kooperationspartner, Betroffene, Zuschauer, Normenwächter; es gibt Vorgesetzte, Kollegen, Unterstellte und dritte Instanzen, wie etwa Zentralabteilungen, Stäbe; man hat es mit Familienmitgliedern und Freunden oder Erbfeinden zu tun … <?page no="147"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 129 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - Man kann es nicht allein schaffen (sondern braucht Verbündete, Beziehungen, Hilfe …); dazu ist Beziehungspflege nötig, und/ oder Arbeit an der Reputation (der eigenen und der anderer) und/ oder verlässliche Koalitionspartner (die man sich verpflichten muss und denen man sich verpflichtet); - es geht um etwas, das weder nach eindeutigen, noch transparenten und gerechten Regeln verteilt wird (Verfügungsrechte, Ressourcen, Machtpositionen, Zugriff, Kontrolle usw.); - das Angestrebte ist knapp und umkämpft; es ist mit Widerstand anderer zu rechnen; - ein definiertes Ziel soll erreicht werden; ein Ergebnis wird bewertet werden; - es ist nicht sicher, dass man erreicht, was man soll (es gibt Unsicherheit, Risiko etc.); - die Ressourcen sind knapp und nicht (alle) in der eigenen Verfügungsgewalt, sondern zum Teil von Dritten kontrolliert, die einen Handlungs- oder Entscheidungsspielraum haben; - es ist wichtig, rechtzeitig die richtigen Informationen kostengünstig zu erhalten und die der Anderen (Konkurrenten, Auftraggeber, Ressourcenbesitzer) zu kontrollieren; - man steht unter Beobachtung einer nicht immer klar abgegrenzten internen Öffentlichkeit und muss sich in seinen Aktionen rechtfertigen können ('accounts'); - man muss signalisieren, dass man sich engagieren und gegen Widerstand durchsetzen wird/ will; - es gibt immer Alternativen und Freiheitsgrade; - man hat nur selten alle benötigten Informationen rechtzeitig, valide und vollständig; - es gibt Entscheidungsprämissen, die nicht alle explizit formuliert sind und die nicht ohne weiteres in Frage gestellt werden können. In ihrer üblichen Form sind Inventare unspezifisch, d.h. sie generalisieren über Situationen, Zeitpunkte, Personen hinweg. Die oben schon erwähnte allgemeine Form der Instruktion lautet in etwa: "Wie gehen Sie normalerweise vor, wenn Sie Ihre Interessen durchsetzen möchten? " (Wobei offen bleibt, ob diese Standardfrage pro- oder retrospektiv gemeint ist). Im Folgenden gehe ich näher auf die beiden Pole des Gegensatzpaars Kontextualisierung - Dekontextualisierung ein. <?page no="148"?> 130 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zum Pol "Kontextualisierung" Kontextualisierung - als Einbettung in zeitliche, soziale und sachliche Zusammenhänge - erfolgt unausweichlich bei der Beantwortung von Fragebogen-Items, bleibt aber meist implizit 31 und vom Fragebogen-Auswerter unerkannt. Zwar wird normalerweise in der Instruktion versucht einen einheitlichen Untersuchungsrahmen aufzubauen. Häufig werden die Befragten dabei gebeten sich an eine konkrete eigene Erfahrung mit Mikropolitik zu erinnern: z.B. "How I get my way" (Kipnis, Schmidt & Wilkinson 1980) oder: "Bei der Durchsetzung eigener Vorhaben haben Sie …" (Freudenberg 1999). Damit soll ein vergangenes Ereignis(muster) vergegenwärtigt werden. Die Befragten beziehen sich auf jeweils ein von ihnen herausgegriffenes und inhaltlich fast nie konkret und differenziert beschriebenes Vorkommnis. Die voraussetzungsvolle Annahme ist, dass die Zusammen-Schau dieser individuellen Ereignisse bei einer großen Zahl von Befragten eine generalisierte Aussage erlaubt über die Häufigkeit der erlebten/ praktizierten Taktiken in einer Population. Zuweilen werden in der Befragung Typen von Einflusssituationen vorgegeben, weil/ wenn unterstellt wird, dass verschiedene Gegebenheiten verschiedene Vorgehensweisen erfordern 32 . Sehr häufig findet sich die Differenzierung zwischen Adressaten-Klassen (z.B. Vorgesetzte, Kollegen, Unterstellte, wie etwa bei den drei Varianten der POIS), zuweilen wird davon ausgegangen, dass die Konfrontation entweder mit einer einzelnen Person oder mit einer Mehrzahl/ Gruppe verschiedene Strategien provoziert). Außerdem müsste man in Erfahrung bringen, über wie viel Erfahrung in (typisierten) Einflusssituationen ein Akteur verfügt. Wie breit ist sein bereits erprobtes Stil-Repertoire? Und wenn jemand überzeugt ist, ein bestimmtes Vorgehen wäre zielführend, ist er dann in der Lage, eben dieses Vorhaben auch in die Tat(! ) umzusetzen (hat er die nötigen Fertigkeiten, Ressourcen etc.)? 31 Ausnahmen sind Fragebogen-Designs, die kurze Fall-Vignetten vorgeben oder typische Einfluss-Situationen skizzieren [s. etwa Rodler & Kirchler (2002) und Kirchmeyer (1990 3 )] - siehe auch die Beispiele auf S. 98, Fußnote 22. 32 Solche Situationstypen könnten sein: Abwehr/ Durchsetzung von Stellenabbau oder Budgetkürzungen; (Nicht-)Beförderung oder (Nicht-)Kündigung bestimmter MitarbeiterInnen; Freigabe/ Blockierung von Ressourcen für bestimmte Projekte/ Personen ... <?page no="149"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 131 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zum Pol "Dekontextualisierung" Es ist die Absicht der meisten Fragebogenkonstrukteure, die Anwendungsbreite ihrer Befunde zu vergrößern und deshalb dekontextualisieren sie - ein typisches bandwidth-fidelity-Dilemma. Es wird keine spezifische konkrete Konstellation vorgegeben, vielmehr werden die Aussagen allgemein, kontextindifferent, vergleichbar und aggregierbar gemacht. Dies erfolgt durch mehrere Maßnahmen: - Es werden Verhaltens-Listen oder -Inventare vorgegeben. Sehr häufig werden Eigen- oder Neuentwicklungen benutzt; manchmal werden Standardinstrumente eingesetzt (z.B. das POIS) oder der IBQ), über deren Methodenqualität veröffentlichte Erfahrungen vorliegen. - Die Befragten müssen zu jeder vorgegebenen Verhaltensweise eine Aussage machen. - Welche Rolle die Verhaltensweisen in der erinnerten Praxissituation gespielt haben, soll durch ebenfalls vorgegebene Antwortkategorien ausgedrückt werden. Meist handelt es sich um Häufigkeitsaussagen auf der Dimension "immer nie", Intensitätsaussagen ("gar nicht mit höchstem Nachdruck/ sehr intensiv") oder Erfolgswahrscheinlichkeiten ("Für wie wirksam halten Sie die folgende Taktik X für Probleme dieser Art? " "sehr/ etwas/ gar nicht/ fraglich", "geeignet/ ungeeignet"). Es wird somit unterstellt, dass grundsätzlich alle Verhaltensweisen in Frage kommen und/ oder mehrere zugleich eingesetzt werden können, dass aber jeweils mit unterschiedlicher Häufigkeit, Wirksamkeit oder Intensität zu rechnen ist. Es werden aber keine Begründungen für eventuell unterschiedliche Vorgehensweisen verlangt. - Die Distraktoren werden in ein numerisches Relativ übersetzt, sodass quantitative Aussagen möglich sind, z.B.: immer = 5, häufig/ oft = 4, manchmal/ ab und zu = 3, selten/ kaum = 2, nie = 1. Diese Antwortkategorien werden aber inhaltlich nicht näher präzisiert. - Weil von allen Befragten zu allen Verhaltensweisen quantifizierte Angaben vorliegen, können die Daten über die befragte Population hinweg aggregiert werden: Es lassen sich z.B. Mittelwerte, Streuungen und Interkorrelationen errechnen. - Um die Nachteile der Dekontextualisierung zu verringern und gleichzeitig die zugesagte Anonymität zu gewährleisten, werden in manchen Studien zusätzlich Selbsteinstufungen in Klassen weiterer Variablen erbeten [z.B. Alter, Geschlecht, Rang, Jahre der Berufserfahrung, Persönlichkeitszüge (wie z.B. Machiavellismus, locus of control, Selbstwirksamkeit etc.), Charakteristik der Einflusssituation (Projektarbeit, Karriere, Restrukturierung usw.)] und/ oder abhängige Variablen (Einflusserfolg, Sympathie, Adressat des Einflusses etc.). Das schafft die <?page no="150"?> 132 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Grundlage für weitere Datenanalysen (Varianz-, Regressions-, Pfadanalysen, Korrelationsstudien, Typenbildung, Konstruktvalidierung etc.). Aus der sozialpsychologischen Einstellungsforschung weiß man, dass die Korrelation zwischen geäußerter Einstellung und tatsächlichem Verhalten ziemlich niedrig ist. Einer der immer wieder genannten Gründe für diese Diskrepanz ist, dass sich die Befragten konkrete Anwendungssituationen vorstellen und danach ihre Reaktionen modellieren. Weil der Fragesteller nicht weiß, welche Besonderheiten die zu Grunde gelegte Situation hatte, kann er die Generalisierbarkeit der Reaktion nicht abschätzen. Wird bei einer inhaltlich unterbestimmten Frage eine spezielle Strategie 'eigentlich' präferiert, so heißt das noch lange nicht, dass sie tatsächlich auch praktiziert wird. Und selbst wenn sie praktiziert wird, kann sie (von verschiedenen Leuten unter vergleichbaren Umständen oder von der gleichen Person zu verschiedenen Zeitpunkten) mit verschiedenen Taktiken umgesetzt werden. 2.4.4. Alternativen zu den Taktik-Listen? Direkter und indirekter Einfluss Die Erkenntnismöglichkeiten mit den dominierenden Verfahren und ihrer Beschränkung auf die üblichen 8-14 Taktiken scheinen erschöpft zu sein. Nachdem die erste Sichtung des Gebiets abgeschlossen ist und sich immer wieder ähnliche Markierungen herausstellen, ist in dieser Suchrichtung über das bereits Geleistete hinaus kein signifikanter Fortschritt mehr zu erwarten. Es besteht sogar die Gefahr, sich in diesem 'state of the art' einzurichten und das herrschende Paradigma nicht mehr in Frage zu stellen. Im Grunde ist über das hinaus, was schon Engelhart (1994a,b) in seinen Sammelreferaten im Hinblick auf die Art der untersuchten Taktiken festgestellt hatte, kein wesentlicher Fortschritt mehr erreicht worden. Die Entwickler hatten ihr Werk getan, die Zeit der Qualitätsprüfer war gekommen, die sich das, was bislang untersucht worden war - und nicht das was möglich oder besser gewesen wäre - vorgenommen haben. In mühevoller Kleinarbeit und oft ideenreichen Designs haben sie nach den Regeln der Kunst nachgemessen und durchaus widersprüchliche Antworten auf die Fragen nach Konstruktvalidität, Reliabilität, Beziehungen zu anderen Variablen (Bedingungen, Moderatoren, Folgen, Korrelaten) gegeben. Insgesamt sind, betrachtet man die jüngsten Synopsen und Metaanalysen, gemessen an den hohen Erwartungen ernüchternde Ergebnisse zu registrieren, die gerade deshalb von hohem theoretischen Wert sind. <?page no="151"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 133 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ "Womöglich führt uns die Präzision der Technik und Messung in die Irre, wenn sie uns zur Entdeckung wiederholbarer und statistisch signifikanter Einflüsse verleitet, die so trivial sind in ihrem Ausmaß und ihrer Wirkung außerhalb des experimentellen Settings, so dass sie sich nie manifestieren, wenn es dazu kommt, dass andere Faktoren variieren. Mir wurde klar, dass ich die Faktoren Theorie, vorliegende Literatur und experimentelle Präzision zu früh Einfluss gewinnen ließ auf meine Untersuchung" (Cialdini 2001, 26). Zwei Möglichkeiten bieten sich an: Die erste setzt auf 'mehr von demselben' und kontinuierliche Verbesserungs-Programme: Man kann die Liste der Taktiken erweitern und auch jene Varianten, die bei der Fixierung auf 'die wichtigsten'(? ) auf der Strecke geblieben sind, berücksichtigen (siehe dazu Beleg 2-7, S. 97). Zum anderen und fundamentaler angesetzt kann man den Ansatz, sich ausschließlich auf interpersonales Handeln zu konzentrieren, in Frage stellen. Durch diese Fokussierung sieht man zwar Einzelnes genauer, verliert insgesamt aber den Überblick. Gerade weil die Zukunft intransparent und entwicklungsoffen ist, haben sich Taktiken bewährt, die nicht dem konfrontativen Duell-Modell der Einflussnahme folgen (sich auch gegen Widerstand durchsetzen), sondern die indirekter und langfristiger angelegt sind. Sie wenden ihre Aufmerksamkeit den Institutionen, Strukturen und Artefakten zu, die machtvoll (randvoll mit Macht) sind, aber diese Machtfülle kaschieren. Beispiele für Strategien, die sich struktureller Weichenstellungen bedienen, sind: rechtzeitig Getreue in Schaltstellen bringen; Entscheidungsarenen schaffen, zu denen der Zugang kontrolliert wird; für Präzedenzfälle und Grundsatzbeschlüsse sorgen; scheinbar allgemeine Leitlinien und Regeln einführen; 'objektive' Verfahren und Systeme entwickeln etc. Dem interventionistischen Ansatz könnte somit ein generativer (Bedingungen erzeugender/ gestaltender, im systemischen Sinn Kontexte steuernder) gegenübergestellt werden, der zwei Arten von 'Rahmungen' vornehmen kann: innere, personale (mental frames, belief systems, attitudes …) und äußere, apersonale, strukturelle (Verfahren; Formalisierungsgrad der Organisation, Hierarchie, Verteilung von Ressourcen …). Im Prozess der Sozialisation werden die äußeren zu inneren; eine mögliche Abfolge ist: Verfahren Routinen Gewohnheiten Dispositionen/ Haltungen). Auf das Spannungsverhältnis zwischen interpersonalem und strukturellem Einfluss gehe ich im Folgenden näher ein. <?page no="152"?> 134 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Interpersonaler (dyadischer) Einfluss Die eigenen Absichten in Organisationen plangetreu realisieren zu wollen ist eine große Herausforderung; zu glauben, diese Aufgabe ohne Abstriche meistern zu können, ist ein Symptom von therapiebedürftigem Realitätsverlust. Gezielte Eingriffe trivialisieren, sie zerstören wichtige produktive Potenzen. Die Verabsolutierung personaler Lenkung tut das noch mehr. Die systemische Theorie hat überzeugend klargestellt, dass Akteure zwar die Intention haben mögen konsequent und erfolgsorientiert zu intervenieren, dass dies aber wegen der Undurchschaubarkeit der Vernetzungen und der Geschlossenheit des operationellen Funktionierens nicht gelingen kann und zudem unintendierte perverse Effekte produziert. Personaler Einfluss ist viel zu beschränkt, um die komplexen Wirkungszusammenhänge in Organisationen aus einem - seinem - Punkte zu kurieren. Das würde den evolutionären Fortschritt zunichte machen, der darin liegt, dass funktional differenzierte Einheiten im ureigenen Bereich hohe Kompetenz erreichen können, die gesteigert werden kann durch selbst organisierte Kooperation, aber auch bedroht ist durch die Gefahr eines Rückfalls auf ein primitiveres Lenkungsmodell. Es wäre Hybris anzunehmen, eine Person könnte alle Informationen haben und verarbeiten, alle Ziele kennen und integrieren, über alle nötigen Handlungsfähigkeiten verfügen etc. Wenn sich etwas ändert, dann vor allem als nur begrenzt programmierbares Resultat des Zusammenwirkens mehrerer Steuerungsmedien (Regeln, Normen, Institutionen, Koalitionen, Technologie, Verfahren etc.), zu denen auch personale Einflussnahme gehört. Es ist aus dieser im Anspruch reduzierten Perspektive sinnvoll, sich mit Einflusstaktiken zu befassen - ganz abgesehen von der empirischen Tatsache, dass Einflussversuche unentwegt und mit Erfolgszuversicht tagtäglich unternommen werden. Was Tagesarbeit und -gespräch ist, muss nicht wirklich bedeutsam sein, aber es spiegelt den vorherrschenden Glauben an das für nötig und sinnvoll Erachtete wider. Wie oben belegt, haben zahlreiche empirische Studien und Meta-Analysen gezeigt, dass sich die Wirkung von Einflusstaktiken in Grenzen hält. Allerdings ist - wie es die neoinstitutionalistische Organisationstheorie propagiert - bei einer etablierten Organisationspraxis nicht (allein) ihr Beitrag zur Lösung proklamierter Ziele zu sehen, sondern auch die Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen. Die dominante gesellschaftliche Erwartung im vorliegenden Kontext ist, dass es auf den Einzelnen oder die Einzelne ankommt (sowohl als Ausgangspunkt wie Adressat sozialen Einflusses). Dieser Grundpfeiler des individualistischen westlichen Denksystems stützt die Erwartung, dass sich der Gang der Dinge nicht nur von Great, sondern auch von Every (Wo-)Men lenken lässt, wenn sie es nur richtig anstellen. <?page no="153"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 135 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Strukturelle Macht als Alternative zum dyadischen Einflussmodell Die Fixierung auf interpersonale Einflusstaktiken kann überwunden werden, wenn man bislang unterbelichtete Perspektiven der Machtforschung stärker nutzt. Mikropolitik zielt in diesem Fall nicht auf den Sieg in einem aktuellen Antagonismus, sondern ist langfristig angelegt: Die Bedingungen sollen (durch mikropolitische Manöver) so gestaltet werden, dass künftige Konfrontationen entweder überflüssig werden oder so asymmetrisch gestaltet sind, dass der Sieg sicher ist. Während in der Retrospektive handlungsorientierte Täter-Opfer-Attributionen dominieren, lässt sich strategisch-vorausschauendes indirektes Handeln eher mit der Tätigkeit eines Architekten vergleichen, der Gebäude, Straßen und Brücken so plant und baut, dass die Begegnungs- und Bewegungsmöglichkeiten vorab determiniert werden durch geeignete Aufenthalts- und Ausweichräume, Verkehrsflächen und -verbindungen, Markierungen und Verbotsschilder etc. Dieses Wirken 'hinter dem Rücken der Subjekte' ist unsichtbare, in Artefakten verkleidete Macht, die aber umso stärker ins Leben der Menschen eingreift. Von Bachrach & Baratz (1962) über Lukes (1974) und Foucault (1978) bis hin zu Hardy (1994) und Clegg (1998) sind sich die AutorInnen einig, dass die webersche Machtdefinition ("… innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchsetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht") nur eine von mehreren Möglichkeiten ist. Aber es ist diese Konfrontations-, Kampf- oder Duell-Variante (power of decision), die die empirische Mikropolitik-Forschung auf Taktik-Forschung einengt. Einfluss wird aber nicht nur in der direkten intentionalen Konfrontation ausgeübt. Diese ist im Gegenteil der eigentlich primitivste, weil aufwendigste Weg, die eigenen Interessen zu realisieren. Denn interpersonaler Einfluss setzt das Vorhalten und Einsetzen von Ressourcen voraus und muss mit Widerstand rechnen. Geht man über das interpersonale dyadische Einflussmodell hinaus, kann man - entsprechend den verschiedenen Machtformen - auch strukturell ansetzende Praktiken berücksichtigen. Mikropolitik-Inventare können erweitert werden, indem zusätzlich noch organisationale Gestaltungsformen berücksichtigt werden. Diese Formierungen wirken dann 'hinter dem Rücken der Subjekte'. Drei Formen sollen skizziert werden: <?page no="154"?> 136 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 1. Lenkung durch Vorentscheidungen, Verfahren und Objektivierungen Die Notwendigkeit zur rationalen Adhoc-Entscheidung entfällt, weil vor-entschieden ist ('power of non-decision'). Verfahren geben vor, was zu tun ist; den Akteuren bleiben nur noch geringe Spielräume. Die Steuerung des Handelns ist in Praktiken, Disziplinen, Ritualen etc. 'verbaut' als Veralltäglichung und Verselbstverständlichung des Handelns ("Man macht das hier so! " - der drohende Unterton in dieser Sachstandsbeschreibung ist nicht zu überhören). Es wird auf institutionelle, strukturierende und strukturierte Gestaltung gesetzt, z.B. das Befangensein in einer (hierarchisch untergeordneten) Rolle, die gedankenlose Beachtung geltender Regeln, die Orientierung an Präzedenzfällen, der kritiklose Vollzug eingeführter Verfahren z.B. der Selektion, Sozialisation, Entgeltfindung, Allokation, Beförderung. Beispiel: Wer ein Bezahlungs-, Beförderungs-, Beurteilungssystem in seinem Sinn gestalten kann (Termine, Befugnisse, Vorgehensweisen, Kriterien, Dokumentation, Gültigkeitsdauer, Ansprüche usw.), braucht die Einzelentscheidungen nicht mehr zu steuern und zu kontrollieren, weil ein für alle Mal die Richtung (und damit auch die Art und Bandbreite der Ergebnisse) festgelegt ist. Dennoch muss festgehalten werden, dass nach wie vor Ungewissheitszonen bleiben, die mikropolitisch genutzt werden können. Um es in der Fußballsprache zu formulieren: die offenen Räume können eng gemacht und zugestellt werden. Statt jede einzelne Aktion des Gegners zu kontrollieren und zu kontern, ist es eleganter und effizienter, seine Möglichkeiten für eigenständige Aktionen einzuschränken. In Organisationen werden im Vorfeld Weichen gestellt, damit man in der Entscheidungssituation vor Überraschungen gefeit ist. Beispiele: Es werden bestimmte Entscheidungsarenen definiert, für die es Zulassungs- und Verfahrensregeln gibt; der Handlungsspielraum wird durch Ressourcenzuweisung oder -entzug geformt; durch zusätzliche Verfahrenskontrollen wird geprüft, ob die Akteure "auf dem richtigen Weg" sind - wobei die Existenz dieser Kontrollmöglichkeit entscheidender ist als ihre Aktualisierung. Denn sie wird antizipiert und ist präsent in ihrer Abwesenheit. 2. Lenkung durch Ideologisierung und Bewusstseinsbildung ('management of meaning') Es kommt - durch Sprache, Symbole, Mythen, 'story telling' etc. - zur "kollektiven Bewusstseinsprogrammierung" (Hofstede 1980) oder zur Werte-Infusion (Selznick 1957). Handlungen, Normen, Wünsche, Interessen, Erwartungen etc. werden auf diese Weise legitimiert und delegitimiert. Bei Bewusstseinskontrolle durch symbolisches Management oder Management der Symbole sorgt in einem Prozess der Normalisierung (à la Foucault) dafür, <?page no="155"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 137 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ dass die Leute tun, was sie sollen, weil sie es nicht anders wissen und selber so wollen. Die mentalen Modelle der Akteure (Interpretationsschemata, Skripten, Bezugssysteme) werden in eine Richtung gelenkt, die die nachfolgende Informationsverarbeitung und Entscheidung präjudiziert. Interessendivergenzen werden unsichtbar: Alle wollen das Gleiche und aus freien Stücken. Macht wird 'dispositional', d.h. in die Haltungen der Akteure integriert und wirkt so nicht mehr über Fremd-, sondern Selbstbestimmung, über Bedeutungszuschreibung, Symbolisierung, Ideologisierung, Herstellung von mind sets oder mental frames. Beispiel: Unternehmen arbeiten aktiv daran, geeignete 'mind sets' wie Intrapreneurship oder Organizational Citizenship zu installieren. Die gleichgeschaltete Denk- und Sinnform kann zur Identitätsform (Identitätsfetischismus) gesteigert werden. Der Einzelne muss sich als besonders, einmalig oder ganz anders präsentieren, dabei aber auf vorgeformte Versatzstücke zurückgreifen: Patchwork-Identity. Und dieses "Ich bin" wird Gewinn bringend "verkauft" in interpersonalen Taktiken(! ) der Selbstdarstellung (darauf werde ich im Kap. 4 noch näher eingehen). 3. Lenkung durch Verdinglichung, Objektivierung (in Strukturen und Materialisierungen) Hier ist die kognitive Erreichbarkeit am geringsten, weil die eigene Lebensform 'taken-for-granted' ist. Der Fisch weiß nicht, dass er im Wasser lebt. Wie wir uns kleiden, was wir essen und trinken, wie wir wohnen, wie wir 'unterhalten' werden, dass wir in einer Geldwirtschaft leben (genauer: in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung) - all das wird selbstverständlich, alternativenlos, unbefragt, unbefragbar. Es ist, wie es ist. Die Möglichkeit des Andersseins wird erst im Widerspruch, in der Abweichung, im Tabubruch etc. sichtbar (s. sexuelle Orientierung, Konsumverweigerung, Öko-Aktivismus, Feminismus …). In sehr konkreter Form zeigt sich die Strategie der Objektivierung in der Gestaltung der materiellen Arbeitsbedingungen (Anlagen, Maschinen, Technologien etc.), die nicht-gewolltes Verhalten ausschließen (was man sich z.B. bei Arbeitssicherheits-Maßnahmen zu nutzen macht) oder gewolltes Verhalten quasi erzwingen (nur wenn eine bestimmte Bedienungs-Routine eingehalten wird, arbeitet die Anlage). Technologien (generell: Verdinglichungen) profitieren vom Nimbus des Funktionierens nach unumstößlichen Naturgesetzlichkeiten. Wenn es gelingt ihre soziale Genealogie zu verwischen und Technologien als 'naturgegeben' erscheinen zu lassen, dann fügen sich die Bediener(! ) in ihr Schicksal, weil sie es nicht mehr als Machsal erkennen. <?page no="156"?> 138 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Natürlich erfolgt die Gestaltung, Nutzung und Veränderung von Verfahren, Glaubenssätzen, Objektivierungen wiederum mittels mikropolitischer Interventionen. Der Unterschied ist, dass nicht möglichst clever innerhalb der Spielregeln und -ziele agiert wird, sondern dass diese selbst zur Disposition stehen. Die Einfluss-Forschung hat in ihrer dyadisch-interpersonalen Voreingenommenheit diese wichtigen Polity- und Policy-Gestaltungen außer Acht gelassen. Wenn überhaupt, dann werden diese Determinanten als Effekte des Kontextes gewertet und unter Globalbegriffen wie Technologie oder Organisationsstruktur summarisch - z.B. als Moderatoren - einkalkuliert. Damit gerät aus dem Blickfeld, dass das, was Sache ist, zur Sache gemacht worden ist. Das Objektiv(iert)e ist Ergebnis machtvoller Interventionen und kann darum auch wieder in Frage gestellt werden. Kurz gesagt: Das Sachliche ist das Politische. Im Faktischen, Manifesten ist das Konfliktäre des Politischen zur Erstarrung, zum Stillstand gekommen; das Still-Leben ist jedoch nach wie vor Leben, nur in einem anderen Aggregatzustand. Sowohl Eis wie Dampf sind Wasser, es kommt nur auf die Temperatur an. 2.4.5. Fiktionen beim Einsatz und der Erfassung von Taktiken und Strategien Zusätzlich zur Offenheit der Bezugssituationen wird bei der empirischen Erfassung mikropolitischen Handelns mit mehreren Fiktionen gearbeitet. Der Begriff 'Fiktion' wird dabei nicht in seiner Bedeutung als 'täuschender Schein', 'irreale Vorspiegelung' oder 'Erfindung' gebraucht, sondern im Sinne einer Konstruktion, die sich ihrer Einseitigkeit oder Künstlichkeit bewusst ist. Das Vorgehen folgt den Prinzipien der Entwicklung wissenschaftlicher Modelle oder Theorien: auch hier wird abstrahiert von realer Vielfalt, um mit wenigen sparsamen Annahmen das 'Prinzipielle' komplexer empirischer Prozesse rekonstruieren zu können. Fiktion steht dabei für den Imperativ "tun wir einmal so, als ob die folgende Annahme wahr wäre" oder "als ob ein Akteur von folgenden hypothetischen Voraussetzungen ausginge". Wie Günther Ortmann (2004) in seiner facetten- und ideenreichen Monografie zum Thema der "Als Ob"-Konstruktionen belegt, basieren zum einen Handlungsentwürfe in Organisationen auf solch künstlich vereinfachenden Annahmen, zum anderen aber - und dies ist die Pointe - wird unter der Hand der hypothetische Charakter der Annahmen 'vergessen' und die Situation so modelliert (realisiert! ), wie die weltfernen Voraus-Setzungen es postulieren. Typisch dafür ist die Modellkonstruktion des 'homo oeconomicus', der explizit als methodologische Fiktion konzi- <?page no="157"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 139 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ piert ist (Vollständige Information! Wohlstrukturiertes Präferenzsystem! Eindeutige Entscheidungsregel! usw.), aber plötzlich zur Vorlage mutiert, an der sich konkretes Entscheiden zu orientieren hat. Im Folgenden habe ich einige der Fiktionen (künstlichen, idealisierenden Annahmen) der empirischen Mikropolitik-Forschung zusammengestellt. Was sie unterstellen, ist ersichtlich unrealistisch oder zumindest einseitig; die ForscherInnen setzen sich über derartige Bedenken hinweg und laden dazu ein, das Fingierte kontrafaktisch als Reales zu akzeptieren, um zu sehen, wie weit man mit dieser Vereinfachung komme. Hat man sich auf diese verkürzende Sichtweise eingelassen, kommt irgendwann der Punkt; an dem das 'Als Ob' handlungsleitend und (damit) realitätsmächtig wird: aus ficta sind facta geworden. Abgrenzungsfiktion "Tun wir so, als ob man mikropolitisches von sonstigem sozialen Handeln eindeutig unterscheiden könne! " Dies ist ein offenkundiger Gegensatz zur These, dass jedes Handeln 'im Prinzip' oder nachträglich mikropolitisch genannt werden könnte. Auch Mutter Theresa war eine gewiefte Mikropolitikerin; sie hat allen Widerständen zum Trotz ideenreich, unbeirrbar und tatkräftig einen Konzern der Nächstenliebe aufgebaut und geleitet. Entscheidend ist nicht die per Camcorder registrierbare Oberfläche des Tuns, sondern seine Sinngebung (Einordnung, Kodierung). Auf der Aktionsebene gibt es vermutlich keine Kriterien, die mikropolitisches von nicht-mikropolitischem Handeln trennen lassen. Diese Differenzierung kann erst auf der Deutungs- oder Sinngebungsebene erfolgen. Beispiel: 'Rationales Argumentieren' ist dann Mikropolitik, wenn es bewusst eingesetzt wird, um einen Zögernden, der attraktive(re) Alternativen hat, von diesen abzubringen, weil man weiß, dass die Zielperson der Form rationaler Argumentation großes Gewicht gibt. Der Weg zur Sache führt aus mikropolitischer Perspektive immer über die anders denkende und -wollende Person oder Gruppe. Die Aufnahme von Elementarhandlungen in ein Mikropolitik-Inventar (z.B. POIS, IBQ, POPS) hält das Abgrenzungsproblem für gelöst oder muss es in eine passende Anfangsinstruktion abschieben. Sie lautet im Allgemeinen in etwa so: "Wählen Sie aus dem Spektrum der Ihnen verfügbaren Handlungsmöglichkeiten jene aus, die nach Ihrer Meinung oder Erfahrung Ihre Chancen erhöhen, Ihre Interessen durchsetzen zu <?page no="158"?> 140 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ können." Die Politik definierenden Elemente ('wählen Sie', 'Ihre Chancen erhöhen', 'Ihre Interessen durchsetzen') geben das Such- und Sinngebungsprogramm vor, das beim Antwortenden abläuft und ihm große subjektive Freiheitsgrade einräumt. Wenn der politische Gehalt der im Fragebogen kontextfrei vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten entschlüsselt ist, muss nur noch für jedes Item eine Häufigkeits- oder Intensitätsskalierung vorgenommen werden. Akteursfiktion "Tun wir so, als ob ein Akteur, wenn er das mikropolitische Repertoire gekonnt anwendet, jeder Person seinen Willen oktroyieren könnte." Die Rede vom Taktik-Einsatz impliziert eine Täter-Opfer-Struktur. Es gibt einen kalkulierenden intentional handelnden Akteur, der seinen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen in der Lage ist (um Max Webers Machtdefinition zu paraphrasieren). Damit wird ein dyadisches Konfrontationsszenario aufgebaut, das auch den meisten Erhebungsinstrumenten zu Grunde liegt ["How I get my way" (against all odds? )]. Dass der so isolierte Täter bei anderer Interpunktion vielleicht selbst nur re-agierendes Opfer oder zufälliger Delegierter anonymer Systemimperative ist, wird nicht thematisiert. Insofern ist die Akteursfiktion immer auch eine Kausalfiktion, der Aktor ist ein Autor, Urheber. Damit ist der Weg zur Marionetten-Metapher geebnet: Der Täter-Regisseur zieht die Fäden und macht die Figuren, die er 'ganz in der Hand hat', zu Aus- oder Aufführungsorganen seines Stücks. Mikropolitik kann man (jeder? ) lernen und perfektionieren, sie ist eine Frage von Begabung, Geschick und Motivation. Und: das Täter-Individuum existiert (als planendes, wollendes, raffiniertes) vor der Tat und wird weder durch die Tat als solches konstituiert noch durch Zuschreibungen, die Beobachtende vornehmen, bzw. durch rückblickende Interpretationen erst zum Täter. Antagonismusfiktion "Tun wir so, als ob es in Mikropolitik um das Gewinnen in einer Kampf- oder Konfliktsituation ginge." Dieser Vor-Annahme zufolge zielt mikropolitisches Agieren auf vorteilhafte Bewältigung strittiger Angelegenheiten. Aber es erst gar nicht zum Kampf kommen <?page no="159"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 141 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ zu lassen ist eine womöglich elegantere Taktik (Strategie? ) als im Zweikampf den Sieg zu suchen. Es gibt - wie auf Seite 135 gezeigt - nicht nur die antagonistische (Kampf-)Form der Macht, sondern indirekte Methoden, die den Konflikt wenn nicht zum Verschwinden bringen, so doch unsichtbar machen. Das konfrontative Programm von 'power as decision' kann durch 'power as non-decision' und 'false consciousness' abgelöst oder zumindest ergänzt werden; es gibt dann keine Streit-Punkte(! ) mehr, weil die Situation vorab 'bereinigt' wurde oder die potenziellen bzw. früheren Antagonisten 'umgedreht' wurden, sodass sie nun von sich aus wollen, was sie sollen (Gehirnwäsche, Ideologisierung, Umerziehung, Bekehrung …). Wo kein Widerstand zu erwarten ist, braucht man nicht taktisch klug gegen ihn vorzugehen. Der aktuell nicht sichtbare Antagonismus ist aber womöglich vorher mit mikropolitischen Mitteln ausgeblendet oder inexistent gemacht worden. Daraus folgt, dass man bei allen nichtstrittigen Themen fragen kann, wann und wie sie der kontroversen Diskussion entzogen wurden. Das Ende - besser: der Gipfel - der Mikropolitik ist erreicht, wenn alle sowieso und von Anfang an 'Ja' sagen. Aber davor oder woanders war das anders und zuweilen genügt eine Kleinigkeit, diesen Ausgangszustand wieder herzustellen. 33 Reflexionsfiktion "Tun wir so, als ob mikropolitische Akteure ihr Handeln kühl kalkulierten." Damit sich Handeln als 'taktisch' qualifiziert, muss es überlegt, zielbezogen, absichtlich, kontrolliert etc. sein; mikropolitische Akteure wählen bewusst und berechnend aus dem Arsenal ihrer Taktiken. Angesichts der These, dass der Löwenanteil des Handelns in Organisationen 'mindless' (Langer, Blank & Chanowitz 1978) - also habitualisiert, automatisiert, normiert, ritualisiert etc. - ist, müssen wohldurchdachte mikropolitische Taktiken als Ausnahmephänomene angesehen werden. Das Aufbrechen der Automatisierung betrifft nicht die Ebene der Ausführung; mag sein, dass die Person über eingeschliffene Taktiken verfügt, die praktisch - wie praktisch! - als (Halb-)Fertigprodukte abgerufen werden können. Wenn sie aber nicht auf nur eine Taktik festgelegt ist, sondern über ein Repertoire von Taktiken verfügt, dann kann die Taktik-Wahl(! ) systematisch-reflektiert erfolgen. Aber dies ist vermutlich die Ausnahme. 33 Die Folgerung daraus ist systematische Paranoia: Selbst das harmloseste Tun steht unter Mikropolitikverdacht und zwar umso mehr, je harmloser es scheint. Und wer sich gegen den Verdacht wehrt, macht sich noch verdächtiger. Diese Erbsünde ist ins mikropolitische Programm eingebaut (s. dazu auch Gebert 2002). <?page no="160"?> 142 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Überdies blendet die Rationalitätsfiktion aus, dass mikropolitisches Handeln auch eine starke emotionale Komponente haben kann (Ärger, Neid, Triumph, Rache, Sadismus, Bewunderung …). Rationalität ist definiert als konsequenter Zielbezug. Was aber, wenn das Ziel erst im Laufe des Handelns entdeckt oder geändert wird? Asymmetriefiktion "Tun wir so, als ob der Mikropolitiker immer Täter, nie Opfer oder Objekt sei." Die Ratgeberliteratur stattet den Taktiker mit überlegenem Durchblick und Durchgriff aus. A kann seinen Plan (seine Taktik) ungestört verwirklichen, während der beherrschte Z sich dem Kommando zu fügen hat. Die Dominanz ist zementiert oder immer wieder trickreich täuschend errungen. Was aber, wenn Z durch eine Gegentaktik die Starttaktik von A durchkreuzt und ihn so zum Umschalten zwingt (siehe das oben diskutierte Problem der Prozessualität oder Sequenzialität)? In einer herausgegriffenen Episode und rückblickend betrachtet, mag sich die Geschichte so erzählen lassen, als ob von Anfang an klar gewesen wäre, wer das Heft in der Hand hat. Auch die Asymmetrie von Täter und Opfer kann sich auflösen oder umkehren. Die Akteure fingieren zwar den Gegner zum Opfer, und sie selbst beanspruchen die Täterrolle - aber beide tun das! 34 Mikropolitik könnte es nicht mehr geben, wenn beide aus dieser Polarisierung herausträten. Fiktion der Kontextfreiheit "Tun wir so, als ob es - ceteris paribus! - allein auf die Person ankäme." Insbesondere viele Taktik-Fragebogen haben einen "Alles-in-Allem-Bias". Trotz eines Lippenbekenntnisses zum Interaktionismus der Person-Situations-Verschränkung werden lediglich Häufigkeitsdaten abgefragt ("Wie oft haben Sie im letzten halben Jahr die Taktik X eingesetzt? "; "Wie würden Sie am ehesten vorgehen, wenn Sie Ihre Interessen durchsetzen möchten? "). Allenfalls wird konzediert, dass man gegenüber Vorgesetzten, Kollegen und Unterstellten unterschiedliche Vorgehensweisen 'wählt' - aber Parameter der Vorgeschichte, der Organisationskultur, der 34 Die Verwicklungen und Verwirrungen, die aus dieser Dynamik entstehen können, demonstriert Fritz Simon (1993) mit seinem 'Psychiater-Spiel': Zwei Rollenspieler werden auf eine Situation vorbereitet, in der der eine als Psychiater mit dem anderen als Patienten ein Gespräch führen muss. Insgeheim wird aber beiden die gleiche Instruktionskarte ausgehändigt: "Sie sind der Psychiater, der einem Patienten, der irrigerweise glaubt, selbst ein Psychiater zu sein, dies ausreden muss! " <?page no="161"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 143 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Aufgabenstruktur, der Ressourcenverteilung, um nur einige zu nennen, bleiben in der Itemkonstruktion unberücksichtigt; zuweilen werden sie getrennt mit anderen Instrumenten erhoben (Ausnahmen sind Instruktionen, die Fall-Vignetten oder Szenarios vorgeben). Damit gerät die buchstäblich entscheidende Bedeutung von Gelegenheiten, Zwängen, Ressourcen aus dem Blick - sie alle verschwinden hinter der Schutzklausel der "ansonsten gleichen Umstände". Fiktion der Theoriefreiheit "Tun wir so, als ob das Sammeln und Auswerten empirischer Daten die Rätsel der Mikropolitik lösen könnte. Was früher im Ablasshandel die klingende Münze war, das ist heute im akademischen Zulasshandel das suggestive Markenzeichen 'rein empirisch'. Damit kann man Generalabsolution von Theorie erkaufen oder Theorie durch Korrelations- oder Regressionskoeffizienten substituieren. So profitiert denn einer vom anderen: Yukl von Kipnis (der vielleicht Falbo kannte oder Marwell & Schmidt oder Martin & Sims), Blickle oder Wunderer von beiden, Ferris von Porter et al. oder Gandz & Murray … Und man kann sich trefflich streiten über 1-, 2-, 5-, 8-faktorielle Lösungen. Eindrucksvoll sind z.B. die oben referierten Drehungen und Wendungen der Ferris-Gruppe bei der Arbeit mit der POPS - bis hin zur Kehrtwende in der Bewertung: die Unappetitlichkeiten der politics interessieren nicht mehr angesichts der glänzenden Optionen, die political skills eröffnen. Auf welche Theorie könnte man denn bauen? In Frage kämen die üblichen Verdächtigen: Symbolischer Interaktionismus, Psychoanalyse, Lerntheorie, Systemtheorie, Kommunikationstheorie, Entscheidungstheorie (VIE-Ansätze), Identitätstheorie … Am häufigsten wird allerdings die "Erfolgstheorie" gewählt, gemäß der tiefsinnigen Maxime eines früheren Bundeskanzlers, dass entscheidend ist, was hinten rauskommt. Hinten raus kommen Karriere, Arbeitszufriedenheit, Fluktuation und Absentismus, Produktivität etc. Auf dieses letzte Kästchen werden die anderen Kästchen mit Pfeilen bezogen [siehe z.B. Porter et al. - Ferris (siehe Abb. 3-3 und 3-4 auf S. 162) - Blickle und Yukl (siehe Abb. 3-2 auf S. 156) - und auch Neuberger (im 4. Kapitel)]. Zuweilen werden sogar mit 'Pfadanalysen' Kausalbeziehungen unterstellt, obgleich die Daten aus einer Quelle (Selbstauskünfte) und zum selben Zeitpunkt (one-shot-Studie) erhoben wurden. <?page no="162"?> 144 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 2.5. Fazit Den klassischen Fragebogenstudien verdanken wir vieles: Sie haben eine zahlenbesessene scientific community für das Thema 'Mikropolitik' interessiert (und damit eine große Zahl meist empirischer Studien angestoßen). Sie haben Maßstäbe gesetzt und eine Forschungsrichtung fundiert, die sich in der Folge um Erweiterungen, kategoriale (Um-)Ordnung, Verfeinerungen, Methodenentwicklungen etc. bemüht hat. Sie haben wertvolle Pionierarbeit geleistet, weil sie inhaltsreiche Inventare der eingesetzten Vorgehensweisen erarbeitet haben. Und nicht zuletzt: Sie haben die Aufmerksamkeit auf ein lange tabuisiertes Praxisthema gelenkt und viel dazu beigetragen, die BewohnerInnen des Elfenbeinturms zumindest zu Besichtigungsfahrten in die Schlachthäuser und Schlachtfelder 'da draußen' zu animieren. Mit ihrem re-aktiven Ansatz sind sie inzwischen aber auch an Grenzen gestoßen; neue Studien mit dieser Methode erbringen kaum noch zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Mehr Einsichten als weitere methodische Verfeinerungen ("mehr von demselben") versprechen die Analyse der organisationalen Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik (Kapitel 3) und die theoretische Fundierung durch ein soziales Handlungsmodell (Kapitel 4). <?page no="163"?> Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien 145 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 2.6. Anhang Nr. Methode Nennungen (erfolgreich) Nennungen (erfolglos) χ 2 (df=1) 1. Grundsätze, Aufgabenvorteile usw. erklären 30 22 .17 2. Delegieren durch Zuordnung von Pflichten, Richtlinien oder Zielen 32 24 .26 3. Zuversicht, Ermutigung oder Unterstützung zeigen 33 13 2.43 4. Eine überlegene Prozedur oder ein Beispiel demonstrieren 18 10 5. Enge Überwachung praktizieren 15 13 .56 6. Manipulative Techniken einsetzen 14 5 1.38 7. Belohnung (Job Status oder Entgelt) 11 4 1.03 8. Zuhören, Beraten oder Ideen erbitten 26 10 2.07 9. Befragen, beurteilen oder evaluieren 9 12 2.73 a 10. Drohen, Warnen, Tadeln, Schwierigkeiten machen 8 12 3.52 a 11. Freundschaft oder Vertrauen entwickeln 4 4 .37 12. Eine Probezeit einräumen 4 3 .03 13. Einen günstigen Zeitpunkt wählen für einen Versuch 4 0 2.61 a 14. Briefe und Memos senden 4 2 .09 15. Sich um die Unterstützung durch Kollegen bemühen 3 1 .35 16. Verhaltensmodifikation einsetzen 3 1 .35 17. Versetzen oder umsetzen 2 5 2.98 a 18. Andere 4 5 .97 insgesamt 143 114 22.077 a: p < .10 Tab. 2-8: Einfluss nach unten (Dosier, Case & Keys 1988, 25) <?page no="164"?> 146 Kapitel 2: Mikropolitische Taktiken und Strategien ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Nr. Einflussmethode Nennungen (erfolgreich) Nennungen (erfolglos) χ 2 (df=1) 1. Zur Unterstützung Fakten und Daten präsentieren 76 48 1.80 2. Geradeheraus reden, streiten oder ungeschützt sprechen 31 55 12.67 ** 3. Einen vollständigen Plan präsentieren 19 11 .86 4. Eine vergleichende oder quantitative Analyse präsentieren 5 7 .89 5. Eine Dokumentation für ein Problem, einen Plan oder eine Idee präsentieren (Umfrage, Vorfälle oder Interviews) 21 11 1.42 6. Die Resultate von Experimenten präsentieren 3 2 .05 7. Eine Technik, einen Prozess oder eine Idee demonstrieren 4 3 .01* 8. Einen Plan oder eine Idee organisationsweit veröffentlichen 2 0 1.62 9. Ein Beispiel oder eine Referenzsituation zitieren 4 6 .92 10. Ausdauer zeigen oder mit Wiederholung arbeiten 12 3 3.75* 11. Die Macht des Vorgesetzten herausfordern 2 4 1.16 12. Manipulative Techniken einsetzen 3 3 .07 13. Einem Vorgesetzten Gefälligkeiten und Zugeständnisse anbieten (Tauschhandel) 1 0 .82 14. Androhen den Weg zum höheren Vorgesetzten zu gehen oder dies tun 2 1 .15 15. Anflehen, betteln oder einen Gefallen erbitten 0 1 1.22 16. Die Kündigung androhen 3 2 .05 17. Einen günstigen (oder ungünstigen) Zeitpunkt wählen 2 1 .15 18. Andere als Sprachrohr für Ideen benutzen 9 6 .14 19. Unterstützung durch eine Gruppe oder Kollegen entwickeln und zeigen 4 5 .42 20. Die Unterstützung durch Unterstellte entwickeln und zeigen 8 5 .22 21. Die Unterstützung durch Personen außerhalb der Organisation entwickeln und zeigen 8 4 .64 a 22. Andere Methoden 1 1 .02 insgesamt 143 114 29.05 * p <.10; ** p <.01; *** p < .001 rho = .88*** Tab. 2-9: Einfluss nach oben (Case, Dosier, Murkinson & Keys 1988, 27) <?page no="165"?> 3. Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik Überblick Taktik-Repertoires sind meist unbedingt formuliert. Ob und wie erfolgreich sie angewandt werden können, hängt nicht allein von Charakteristika der beteiligten Akteure ab (Phantasie, Feingefühl, Erfahrung, Kaltschnäuzigkeit usw.), sondern maßgeblich vom organisationalen Kontext. Einleitend wird nach Durchsicht wichtiger Studien resümiert, dass eine solche Bedingungsanalyse bislang eher unsystematisch und hochselektiv, vor allem aber theoretisch unreflektiert erfolgte; im allgemeinen geht es um den empirischen Beleg von Zusammenhängen zwischen einigen wenigen Organisationsparametern (Größe, Zentralisierung, Hierarchieebene etc.) und Taktik-Erfolg. In Erweiterung dieses Ansatzes werden organisationale Steuerungsprinzipien gesucht, die als Ermöglichungsbedingung für Mikropolitik interpretiert werden können. Aus Gestaltungsmustern, Strukturen und Verfahren von Organisationen werden insgesamt 10 zu Grunde liegende Annahmen oder Funktionsprinzipien abgeleitet (siehe die Zusammenstellung in der Abb. 3-5 auf S. 175). Basisthese ist, dass alle Prinzipien in ihrer Anwendung Gestaltungsspielraum lassen. Zu dieser Grundannahme kommen zwei weitere Thesen hinzu, die das mikropolitische Potenzial der Organisationsprinzipien begründen sollen: 1. Alle Prinzipien werden als bipolare Kontinua betrachtet (z.B. Hierarchie Autonomie). Die beiden Pole werden als interne Antagonisten interpretiert: sie benötigen einander und beschränken, bedrohen oder aktivieren einander. 2. Die Prinzipien stehen untereinander in antagonistischen Beziehungen (z.B. Hierarchie/ Autonomie Formalisierung/ Improvisation). Jedes Prinzip würde - allein existierend und in extremer Ausprägung - den Untergang der Organisation bewirken; in ihrer wechselseitigen Konkurrenz tragen sie zu Vitalisierung und Anpassungssteigerung bei, können einander aber auch gegenseitig paralysieren. Die zehn Polaritäten werden vorgestellt und im Hinblick auf ihr mikropolitisches Potenzial analysiert. Aus dieser Perspektive wird gefolgert, dass Mikropolitik nicht als Pathologie, Unfall, oder Charaktermangel marginalisiert werden darf, sondern von zentraler Bedeutung für das Funktionieren in und von Organisationen ist. <?page no="166"?> 148 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 3.1. Mikropolitik: die kreative Nutzung organisationaler Spielräume "Die Struktur muss stimmen, dann beginnt der Mensch sich plötzlich so zu verhalten, dass er nicht unentwegt Unsinn anrichtet" (Merkel 2005, 7). 35 Bei der Erörterung der mikropolitischen Taktiken stand das "Wie" im Mittelpunkt; im Folgenden soll auf das "Warum" eingegangen werden: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik in Unternehmen? Autoren, die der Auffassung sind, dass Mikropolitik eine Art Organisationspathologie ist (siehe die Diskussion im 1. Kapitel), sollten sich auch die Frage stellen, was diese Krankheit ausgelöst hat und ob die als gesund angesehenen Organe oder Funktionen nur deshalb infiziert werden konnten, weil sie geschwächt und ihre vitalen Abwehrkräfte erschöpft waren. Womöglich aber ist Mikropolitik gar keine Krankheit, sondern das Fieber, mit dem der Organismus gegen Krankheiten ankämpft. Sie ist eine wichtige und bewährte Möglichkeit Organisationsversagen zu verhindern bzw. zu korrigieren, im positiven Fall macht sie unter und aus den gegebenen Bedingungen wenn nicht das Beste, so doch Besseres. Die Überlegungen zu diesem Fragenkreis sollen durch die Kontrastierung des mikropolitischen Ansatzes mit zwei konkurrierenden Ansätzen eingeleitet werden. Rational Choice Der klassische Ansatz der Ökonomie basiert auf dem Paradigma der rationalen Entscheidung: Ein Akteur hat ein wohlgeordnetes Präferenzsystem und vollständige Information über seine Handlungsmöglichkeiten, die relevanten Umweltzustände, die möglichen Konsequenzen seiner Handlungen und deren Wert im Präferenzsystem - und er hat eine rationale Entscheidungsregel, die ihm die Wahl diktiert. Nur eine kleine Teilmenge der in Organisationen anstehenden Entscheidungen dürfte rein rational zu bewältigen sein, denn in Organisationen gibt es selten ein widerspruchsfreies, stabiles und eindeutig formuliertes Zielsystem, die Informationen über Handlungsmöglichkeiten und situative Bedingungen sind in vielen Fällen unvollständig, mehrdeutig, nicht aktuell, nicht kostenfrei verfügbar und es gibt widersprüchliche oder variable Entscheidungsregeln. Eine Koordination der Hand- 35 Angela Merkel in einer Diskussion im Anschluss an ihren Vortrag, in der sie nach der Überregulierung in Europa gefragt worden war. <?page no="167"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 149 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ lungen in Organisationen mittels rationaler Entscheidungen wäre in den meisten Fällen ineffizient und ineffektiv, weil letztlich jeder einzelne Entscheidende Kenntnis haben müsste von den Entscheidungen der Anderen, um seine eigene Wahl konsequent daran anschließen zu können. Abgesehen von Informationsasymmetrien: die Organisation wäre binnen kurzem gelähmt, weil jeder auf die Entscheidungen der Anderen warten müsste. Man braucht deshalb holistische Konzepte wie Regeln, Normen, Werte, Vertrauen etc., deren Geltung vorausgesetzt wird. Systemischer Ansatz Der systemische Ansatz gibt von vorneherein die Idee individueller Rationalität auf und verweist den Akteur in die Umwelt der Organisation. Eine Organisation besteht aus dem Prozessieren von Kommunikation in operationaler Geschlossenheit. Auf Störungen dieses Prozesses reagiert das System nach eigenen 'eingebauten' Gesetzmäßigkeiten, die beobachtet, benannt und als Kommunikation in den Selbsterzeugungs- und -erneuerungsprozess eingespeist werden können. Um die zunächst irritierende Marginalisierung des rationalen Akteurs zu begründen, soll die Problemstellung - das Handeln vieler Akteure zielorientiert zu steuern - elaboriert werden. Geld Arbeitskräfte Anlagen, Technologie Gesellschaft (Gesetze, Normen) U n t e r n e h m e n Produktion Absatz Kunden Rohstoffe Energie, Vorprodukte Abb. 3-1: Die Organisation im Mittelpunkt <?page no="168"?> 150 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die Abb. 3-1 soll veranschaulichen, dass es die Aufgabe von "Organisation" in der Unternehmung ist, die verschiedenen Ströme (in Pfeilen visualisiert) zu koordinieren, von denen das Leistungsergebnis des Unternehmens abhängt, das an den Markt abgegeben wird und damit jene Ressourcen generiert, die den weiteren Zufluss der Ströme sicherstellen. Vergegenwärtig man sich, dass an diesen Prozessen sehr viele nur locker gekoppelte Akteure beteiligt sind und eine Unzahl von Informationen verarbeitet und weitergegeben, Entscheidungen getroffen und Aktivitäten koordiniert werden müssen, dann wird nachvollziehbar, dass einzelne Personen hoffnungslos überfordert wären, würden sie versuchen, diese Steuerung in rationalen Entscheidungsprozessen vorzunehmen, die die konkrete Lage in ihrer Komplexität und Besonderheit erfassen und verarbeiten: Es passiert gleichzeitig zu viel und was geschieht, ist viel zu wenig transparent, von heterogenen Interessen und Zielvorstellungen geprägt, störbar etc. Es müssen daher Methoden eingesetzt werden, die es erlauben, Situationen vereinfachend zu normieren, die Informationsverarbeitung nach einheitlichen Programmen vorzunehmen, Akteure auf bestimmte Rollen festzulegen, die ihre Entscheidungen und Handlungen verlässlich eingrenzen, standardisieren und für Dritte berechenbar machen, spezialisierte Subroutinen einzurichten, die Expertise ausbilden und nutzen, durch systematische Überwachung effektives und effizientes Arbeiten fördern usw. Kurz: Man braucht Organisation. Sie ist ein dauerhaft eingerichtetes System von Steuerungsprinzipien und Methoden zur Bewältigung der Koordinationsaufgabe. Ihre Idee ist es, unabhängig zu werden von konkreten einzelnen Personen und deren Launen, Fähigkeiten, Verfügbarkeit, Loyalität usw. und sicherzustellen, dass sich die oft unüberschaubar vielen beteiligten Akteure sich nicht mehr unmittelbar miteinander über die Unzahl der auftretenden Probleme, Möglichkeiten, Entscheidungen und Taten beraten und einigen müssen, sondern dass sie entlastet werden durch bewährte Praktiken und Systeme, die absehen von der Einmaligkeit der Talente und Interessen einzelner, sondern Routinen und Standards vorgeben, an denen sich jeder orientieren kann. Der individuelle Handlungsspielraum wird eingeschränkt, um die kollektiven Möglichkeiten in ungeahnter Weise auszudehnen. Der Kern des Kapitels wird sich mit den organisationalen Steuerungsprinzipien beschäftigen, die diese Aufgabe leisten sollen. Dabei soll es nicht um die Idee oder das Potenzial dieser Mechanismen gehen, sondern um die Probleme und Chancen, die sich in ihrer konkreten Anwendung ergeben. Dabei liegt die Annahme zu Grunde, dass Mikropolitik durch das Entsubjektivierungs-Programm der Organisation auf den Plan gerufen wird. In diesem Plan war sie nicht vorgesehen, im Gegenteil, er sollte ihre Überwindung begründen. <?page no="169"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 151 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die mikropolitische Perspektive Der mikropolitische Ansatz steht zwischen den Extremen der Steuerung durch rationale Akteure bzw. systemischen Gesetzmäßigkeiten. Er betont die Bedeutung des Akteurs, ohne ihm aber vollkommene Rationalität zu unterstellen. Er anerkennt die Bedeutung apersonaler Strukturen und Institutionen, weist aber die Idee zurück, diese Programmierungen funktionierten widerspruchsfrei und 'hinter dem Rücken der Subjekte'. Die Ausführungen dieses Kapitels stützen sich auf die These, dass die organisationalen Steuerungsprinzipien (jedes für sich und in seiner Beziehung zu den anderen) widersprüchlich angelegt sind und dass eben dies die Notwendigkeit und Chance individuellen Eingreifens bedingt. Die eingebaute Widersprüchlichkeit eröffnet mehr oder weniger große Spielräume, die durch das Entscheiden, Handeln und Reden der Akteure ausgefüllt werden müssen. Dadurch kreieren, bestätigen und modifizieren sie die Strukturen, die ihr Handeln konditionieren. Akteure handeln, ohne alles zu wissen, was sie für ihr Vorhaben wissen müssten und wissen könnten. Diese Trivialität hat es in sich, weil sie einen unentrinnbaren Handlungszwang begründet. Man kann nicht nicht handeln; abwarten hieße 'in der Zwischenzeit' etwas anderes zu tun (z.B. tatenlos meditieren) und von Dritten würde Handlungsverweigerung ohnehin als Form von Tun gedeutet. Weil man aber das eigene Handeln nicht stoppen kann - es sei denn durch Selbstmord - und schon gar nicht das Handeln der Anderen anhalten kann, muss man weiter- und mitmachen, auch auf das Risiko hin sich und die Anderen zu täuschen. Um den sozialen Verkehr nicht zum Erliegen kommen zu lassen, haben sich Routinen und Institutionen entwickelt, die dieses Risiko eingrenzen: - Es wird offen (und öffentlich, feierlich, schriftlich, beglaubigt) erklärt, dass und vielleicht auch warum und wozu etwas getan oder gelassen wird; - durch Taten und Worte wird Berechenbarkeit, Verlässlichkeit, Integrität signalisiert; - durch den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen wird für die andere Seite erfahrungsgestützt gewährleistet, dass Worte und Taten übereinstimmen; - die Entwicklung enger freundschaftlicher Beziehungen trägt dazu bei, dass Informationsasymmetrien und -manipulationen weniger wahrscheinlich werden; - das Schaffen enger wechselseitiger Abhängigkeitsbeziehungen sorgt dafür, dass partikuläre Vorteilssuche dem Abweichenden selbst schadet; <?page no="170"?> 152 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - es gibt glaubwürdige Drohungen: Defektierende müssen damit rechnen, zur Verantwortung gezogen und mit drastischen Sanktionen belegt zu werden; - die Zahl der BeobachterInnen und Beobachtungen wird vervielfältigt, um sich gegen Überraschungen zu feien; Rechenschaftspflichten werden etabliert; - es werden Pfänder gefordert und hinterlegt, die bei Fehlverhalten verfallen; - im Zweifelsfall unterwerfen sich die Akteure dem Urteil einer unabhängigen Schiedsinstanz; - durch langjährige Erziehung werden in den Subjekten Werte und Tugenden implantiert, die Fremdkontrolle entbehrlich machen und Selbstdisziplinierung sicherstellen ... All das sind Maßnahmen zur Eindämmung von Mikropolitik, aber keine Schutzgarantie. Auch sie sind soziale Interventionen, die denselben Restriktionen unterworfen sind wie die Aktionen, die sie kontrollieren sollen: sie müssen geplant, gesehen, dekodiert, umgesetzt, nachgebessert werden und dies unter den Bedingungen von Kontingenz: es wäre alles auch anders möglich. Organisationale Situationen sind grundsätzlich so konstruiert, dass die Möglichkeit von Mikropolitik nicht nur eingeräumt wird, sondern in den Prinzipien des Organisierens bereits angelegt ist. Was einerseits zunächst Unvollkommenheit genannt wird und Reparaturbedarf begründet, fordert andererseits unkonventionelle Bewältigungsstrategien der Organisationsmitglieder heraus. Wenn es auch stets und unausweichlich Steuerungslücken, Informationsdefizite, Widersprüche, Wandel, Ambiguität, Intransparenz, Antagonismen, Dilemmata, Regelverletzungen usw. gibt, so geht die Organisation dennoch daran nicht zugrunde, weil gleichzeitig auch Mechanismen aktiviert werden, die - als keineswegs perfekte Lösung - den Mängeln abhelfen (können). Im Praktizieren der Lösungsversuche vervollkommnen die Übenden diese und sich. Einerseits ist Mikropolitik eine bewährte Wartungs- und Instandhaltungstechnik, andererseits ist sie der Grund dafür, dass Reparaturarbeit nötig wird. Beides lässt sich zurückführen auf das Bestreben individueller Akteure, die Freiräume und Widersprüche im Unternehmen so zu nutzen, dass ihre eigenen Interessen nachhaltig gefördert werden, ohne dass die Grundlagen, die ihnen diese Interessenverfolgung ermöglichen, zerstört werden. Neurotizismen, Willkürakte, kriminelle Machenschaften, Mobbing etc. gehören zwar auch zu Mikropolitik, sind aber eher Degenerationserscheinungen und verfehlen die zentrale Idee der genannten Definition: in Mikropolitik geht es nicht <?page no="171"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 153 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ um Überraschungscoups oder Einmaltriumphe, sondern um die nachhaltige Sicherung von 'repeat businesses'. Über weite Strecken ist Mikropolitik eine ambivalente Möglichkeit, um Selbstblockaden, Widersprüche und Sklerotisierungen in Organisationen aufzuheben. Diese Lösungsstrategie ist nicht ohne Gefahren, weil sie die Tendenz hat sich selbst zu verabsolutieren (siehe das mintzbergsche Extrem der totalen politischen Arena); sie muss deshalb in Schach gehalten werden. Der Appell an die Akteure, es doch bitte nicht zu bunt zu treiben und Mikropolitik nicht kontraproduktiv wuchern zu lassen, wirkt am Besten (oder nur) bei denen, die ohnehin abstinent sind. Was heißt schon 'ausufern'? Verschiedene Stakeholder dürften das durchaus unterschiedlich bewerten. Ist Mikropolitik nur dann gut/ funktional, wenn sie den Anteilseigner-Interessen dient? Mit Ortmann (und Derrida) kann Mikropolitik als 'Pharmakon' bezeichnet werden: es ist Heilmittel, Gift und Droge, je nachdem. Wenn aber - gegen den mainstream - die These begründet werden soll, dass Mikropolitik nicht nur vergiftet und süchtig macht, sondern auch kurieren kann, dann muss zunächst untersucht werden, welche Schwachpunkte es in Organisationen gibt, an denen sich Krankheitsherde oder Suchtpotenziale bilden können. In Unternehmen ist der Gang der Dinge sowohl vorgezeichnet wie vorgeschrieben. Aber nur im Prinzip (also: am Anfang); am Ende kommt es doch anders als geplant. Dies der Kontingenz der Handlungen und Ereignisse zuzurechnen hat denselben Erklärungswert wie die Armut von der Pauvreté abzuleiten. Zwischen dem Unausweichlichen und dem Zufälligen liegt ein weites Feld von Möglichkeiten, die den widersprüchlichen Funktionsbedingungen von Organisationen geschuldet sind. Organisationen sind keine wohlkonstruierten und perfekt funktionierenden Maschinen, sondern immer wieder neu zu erfinden. Sie funktionieren nur, wenn und weil sie den Akteuren Freiheitsgrade lassen, damit sie die Überraschungen, Störungen, Chancen, Abweichungen, Widersprüche und Unzuverlässigkeiten, mit denen sie die Umwelt und ihr eigenes Operieren konfrontiert, bewältigen können. Deswegen sind Kompromisse, freiwillige Zutaten und das Zudrücken eines oder beider Augen keine Abweichungen vom Pfad der Tugend, sondern die Voraussetzungen dafür, diesen Pfad überhaupt ein Stück weit gehen zu können. Man kann nur abweichen, wenn es einen Weg gibt, man kann nur ergänzen, was schon da ist, man kann etwas außer Acht lassen, weil/ wenn es bislang beachtet worden ist. <?page no="172"?> 154 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Mikropolitik ist normal(isiert)e, wenngleich häufig exkommunizierte Praxis. Sie ist im Ganzen gesehen kein Betriebsunfall und Verfallssymptom, wenngleich es Extreme gibt, die berechtigterweise so bezeichnet werden. Aber niemand käme auf den Gedanken, das Autofahren zu verbieten, weil es Raser und alkoholisierte Fahrer gibt; sinnvoller ist es, die Wahrscheinlichkeit solchen Fehlverhaltens mit vertretbarem Aufwand zu verringern. Um die Linie der folgenden Argumentation anzudeuten: Man kann nur zu schnell fahren, wenn es schnelle Autos und Straßen ohne Schwellen und Schlaglöcher gibt; Leute setzen sich betrunken ans Steuer, weil die Droge Alkohol gesellschaftlich nicht tabuisiert ist, leicht und billig erworben werden kann und von Gastwirten wissend an Autofahrer 'gedealt' wird. 3.1.1. Bedingungsmodelle in der mikropolitischen Forschung Warum kann eine Taktik - wie z.B. Druck machen - wirken? Warum löst sie nicht Unverständnis oder Abscheu aus? Warum kann sich jeder vorstellen, dass sie - zumindest in bestimmten Situationen - erfolgreich eingesetzt werden kann? Nach Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik zu fragen heißt voraussetzen, dass Mikropolitik kein genetisches Programm, sondern kontingente Antwort, Re-Aktion und Folge ist. Es ginge auch anders; wenn es aber auf mikropolitische Weise geht, dann nur, weil diese Weise hingenommen, als sinnvoll oder berechtigt (an-)erkannt und gepflegt wird, und erfolgreich praktiziert werden darf oder kann. Offenbar haben die Akteure übereinstimmende Meinungen, Überzeugungssysteme, Schemata, Skripten usw., die den Rahmen abgeben für eine sinnvolle Einordnung und die zumindest fallweise Akzeptanz der jeweiligen Taktik. Die Akteure nutzen ein Zusatz- oder Kontextwissen, wenn sie den Einsatz bestimmter Taktiken erwägen oder praktizieren. Unter normalen(! ) Umständen ist zum Beispiel ausgeschlossen, dass extreme Taktiken wie Folter, Mord, Prügelstrafe, Vergewaltigung, Sippenhaft etc. eingesetzt werden (es sei denn, die Organisation heißt Mafia). Aber man braucht nur an die Liste der Verhaltensweisen zu denken, die unter 'kontraproduktivem Verhalten' oder auch 'Mobbing' subsumiert werden, um zu sehen, dass die Realität in Unternehmen zuweilen anders aussieht, als sie in Silberglanzbroschüren beschworen wird. Was implizit als ermöglichende und beschränkende Randbedingung für Einsatz und Wirkungsweise von Taktiken mitgewusst wird (oder unbewusst mitwirkt), soll im Folgenden expliziert werden. In der Forschungsliteratur zu mikropolitischen Taktiken ist immer schon auf diese Bedingungen Bezug genommen worden. Meist wurden sie als Moderatoren der <?page no="173"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 155 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Wirksamkeit behandelt. Dabei gibt es eine deutliche Zweiteilung: die eine Gruppe der Moderatoren thematisiert 'Persönlichkeitseigenschaften' von Akteur und Zielperson (bevorzugt z.B. Machiavellismus, locus of control, Extraversion, Selbstüberwachung, Selbstsicherheit, etc.), die andere situative oder organisationale Bedingungen (wie hierarchische Ebene, Zeitdruck, Zentralität, Vernetzung usw.). Die folgenden Überlegungen sollen beide Stränge zusammenführen. Wenn z.B. ein Akteur 'machiavellistisch' vorgeht, erntet er nicht reflexartig allseitigen Protest und Widerstand. Womöglich haben bestimmte historische oder situative Bedingungen sowohl Machiavellismus als Persönlichkeitszug wie andererseits auch die Hinnahme machiavellistischer Praktiken auf Seiten ihrer Adressaten erzeugt. Es gibt eventuell so etwas wie eine 'machiavellistische Situation', die machiavellistischem Handeln Erfolgschancen bietet. Üblicherweise werden in der Organizational-Politics-Forschung - ausgehend vom interpersonalen Einfluss Einfluss-Konzept - vier Kategorien von Variablen berücksichtigt: - personale Charakteristika (Akteur, Zielperson), - eingesetzte Taktiken, - Ergebnisse, Wirkungen, Folgen, - situative Umstände, insbesondere: organisationaler Kontext. Dies kommt besonders klar in der Konzeption von Yukl, Kim & Falbe (1996) und der grafisch fast identischen, inhaltlich aber andere Akzente setzenden von Blickle, Wittman & Röck (2002) zum Ausdruck (siehe Abb. 3-2). Yukl, Kim & Falbe (1996) interessieren sich für das Zustandekommen von (Einfluss-)Ergebnissen und fokussieren ihre Analyse auf drei Kategorien von Determinanten: Akteurs-Macht, Akteurs-Taktiken und Einfluss-Inhalte (operationalisiert durch 2 Fragen: "Wie wichtig ist die geforderte Handlung für die Arbeit? " und "Wie interessant und erfreulich wäre die geforderte Handlung für die Zielperson"). Macht und Inhalte moderieren den Taktik-Ergebnis-Zusammenhang, wirken aber auch direkt auf die Ergebnisse und 'plausiblerweise' auf die Taktiken. Dieses Modell berücksichtigt einen höchst selektiven Ausschnitt aus dem Spektrum sowohl möglicher Bedingungen wie auch ihrer Zusammenhänge (es werden z.B. keine rekursiven Wirkungen angenommen, etwa der Art: Macht erhöht die <?page no="174"?> 156 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 3-2: Einflusstaktiken als abhängige und unabhängige Variablen Links: Yukl, Kim & Falbe (1996, 310) - rechts: Blickle, Wittman & Röck (2002, 116) - Erläuterungen im Text Erfolgschancen, Erfolg steigert Macht). Das Zurechnungsproblem wird nicht aufgeworfen: es werden nur Einfluss-Ergebnisse betrachtet; dass diese auch von weiteren Bedingungen außer Akteursmacht und Einflussinhalten abhängen können, bleibt ausgeklammert. Natürlich kann keine Konzeption und schon gar nicht eine empirische Studie alle möglichen(! ) Einflussgrößen erfassen; die ceterisparibus-Klausel ist unumgänglich. Diese Ausblendung weiterer Bedingungen ist ja gerade die Stärke einer fokussierten Studie, weil die Herausvergrößerung eines Ausschnitts aus dem Bedingungsgeflecht eine besonders genaue Sicht auf die dort wirksamen Verhältnisse erlaubt. Im bandwidth-fidelity-Dilemma ist dies eine klare Entscheidung für fidelity. Der Gewinn an Detailgenauigkeit wird aber teuer erkauft; weil alle anderen Bedingungen unbe(ob)achtet bleiben, kann das ebenso wichtige Präzisions-Relevanz-Dilemma nicht weiter erhellt werden. Ein Hinweis ergibt sich allenfalls dann, wenn die Ergebnis-Varianz durch die (hier: drei) Determinanten nicht in bedeutsamem Umfang aufgeklärt wird. Agent Power Content Factors Influence Tactics Influence Outcomes Other Plausible Relationships Primary Relationships Ziele Machtbasen Persönlichkeitsmerkmale Einflusstaktiken <?page no="175"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 157 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Das Blickle et al.-Modell bietet die fehlende Hälfte des Yukl et al.-Modells, weil es dabei um die Vor-Bedingungen der Taktikwahl geht (und Einflusswirkungen nicht thematisiert werden). Dabei wird der Akzent auf personale Determinanten gelegt, situative Umstände bleiben - wie auch bei Yukl et al. - ausgeklammert. An diesen einfachen Schemata können zentrale Probleme, mit denen sich die empirische Politics-Forschung konfrontiert sieht, deutlich herauspräpariert werden. Theorie Es werden UV-IV-AV 36 -Linien oder -Netze gezeichnet, aber das theoretische Rationale wird nicht offen gelegt, das die Beziehungen prinzipiell (d.h. aus Prinzipien folgernd) erklären könnte. Im Grunde wird allein die Enge des Zusammenhangs aufgespürt, nicht der Mechanismus, der ihn stiftet. Ist der 'Motor des Geschehens' z.B. Dissonanzreduktion, Selbst(bild)bestätigung, rationale Wahl (Nutzenmaximierung), Bedürfnisbefriedigung usw.? Nur aus theoretischen Vor-Entscheidungen lassen sich spezifische Zusammenhangsvermutungen ableiten, die die Selektion der berücksichtigten Parameter anleiten können. Nicht mehr das gerade Verfügbare, leicht Erhebbare oder Übliche wird miteinander in Beziehung gesetzt, sondern das theoretisch Bedeutsame. Es ist ein Vorzug der oft gescholtenen Kästchen-mit-Pfeilen-Darstellungen, dass sie anschaulich zu erkennen geben, was für wichtig gehalten wird - sofern vorab klargemacht wurde, aus welchem theoretischen Konzept die Ableitungen vorgenommen wurden. Erfolgskriterium Das Kriterium ('influence outcome') kann zwar willkürlich gesetzt werden, aber damit bleibt der Erkenntnisgewinn gering. Fruchtbarer (weil Generalisierungsmöglichkeiten eröffnend) wäre es, wenn das nomologische Netz skizziert würde, in dem das erfasste Kriterium verortet ist. Ein proximales (d.h. nahe liegendes) Erfolgsmaß ist z.B. die Erfüllung einer Bitte, der Gewinn in einer Abstimmung, die Verhinderung einer unvorteilhaften Entscheidung usw.; distale (d.h. entfernt liegende) Kriterien können Beförderung, Gehaltserhöhung, Projekterfolg, Umsatzwachstum etc. sein. Je mehr Akteure, Prozesse und Einflussgrößen am Zustandekommen eines Erfolgs beteiligt sind und je größer die zeitliche Verzögerung der Effekte ist, desto wichtiger wird es, in dieser komplexen Textur die Fäden zu erkennen, die zu den sichtbaren Knoten führen. 36 UV = unabhängige Variable(n), IV = intervenierende Variable(n), AV = abhängige Variable(n) <?page no="176"?> 158 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Interne Validität Mit der Festlegung auf eine theorierelevante Einflussgröße ist es nicht getan, sie muss auch konkret erfasst werden und die Messung muss dem Konstrukt gerecht werden. Im Falle des Schemas von Yukl, Kim & Falbe hieße das: Akteursmacht ist eine so komplexe und inhaltlich kontrovers diskutierte Variable, dass die Festlegung auf eine bestimmte Operationalisierung große Konsequenzen hätte. Man kann damit rechnen, dass verschiedene Theorietraditionen andere Konkretisierungen nahe legen: Zwischen den Machtkonzepten von Max Weber, David McClelland, John French & Bertrand Raven, Steven Lukes oder Michel Foucault liegen buchstäblich Welten. Und selbst wenn man sich für die 5 oder 6 Machtbasen von French & Raven (1959) entschieden hat, ist noch nicht gesagt, dass die Operationalisierung in Fragebogen-Items gelingt (siehe Hinkin & Schriesheim 1989). Die Berücksichtigung von Persönlichkeitsattributen Es ist plausibel zu unterstellen, dass der Erfolg eines Einflussversuchs von Persönlichkeitsmerkmalen der beteiligten Akteure abhängt. Diese Auffassung wird von praktisch allen empirisch arbeitenden Forschern geteilt. Allerdings zeigt sich, dass sie aus dem Universum der Möglichkeiten höchst unterschiedliche Auswahlen treffen. In der Tab. 3-1 habe ich die Merkmale gegenübergestellt, die sechs Autoren(-gruppen) bei ihren Überlegungen berücksichtigt haben. Ferris et al. (1989) Ammeter et al. (2002) (hier nur: Führer-Attribute) Parker, Dipboye & Jackson (1995) Elsik (1998) Blickle, Röttinger & Nagy (1997) Blickle, Hepperle, Hoeschele, Klein, Pikal, Diebold & Flemming (1997) Alter Allg. geist. Fähigkt./ Persönlichkeitsmerkmale Alter Persönlichkeitsmerkmale Assertivität Machtmotiv Geschlecht politischer Wille Geschlecht Heterogenität Karriereorientierung Leistungsmotiv Kontrollspanne Führer- Kognitionen Bildungsniveau Fähigkeiten Machiavellismus Aggressionsmotiv Selbstüberwachung Führer- Sozialkapital Minoritätenstatus Ressourcen Tendenz zur Konfliktvermeidung Interpersonaler Stil des Führers Berufsgruppe (Verwaltg. vs. F&E) Stabilität Machiavellismus Tab. 3-1: Gegenüberstellung der berücksichtigten Persönlichkeits-Konstrukte aus sechs Studien <?page no="177"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 159 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Es ist nicht erkennbar, dass die verschiedenen Gruppen von einem gemeinsamen Verständnis der Relevanz bestimmter Persönlichkeitsaspekte ausgehen (sieht man ab von den meist quasi nebenbei erhobenen demografischen Variablen wie Alter, Geschlecht, Bildungsniveau); es scheinen vielmehr ganz spezifische Interessen und/ oder Gelegenheiten den Ausschlag bei der Entscheidung für die ausgewählten Merkmale gegeben zu haben. Den beiden in Tab. 3-1 exzerpierten Studien von Blickle et al. können noch andere Arbeiten dieses Autors hinzugefügt werden; er hat ohne erkennbare Systematik weitere Persönlichkeitsmerkmale in Erwägung gezogen. So konzentriert er sich (Blickle 2000a) auf die fünfzehn Arbeitswerte von Super (1970) (Leistung, Ästhetik, Altruismus, Gesellung, Kreativität, ökonomischer Rückfluss, Unabhängigkeit, intellektuelle Anregung, Management, Prestige, Arbeitsplatzsicherheit, gute Vorgesetztenbeziehungen, Arbeitsbedingungen, Abwechslungsreichtum und Lebensstil) und ermittelt in einer großzahligen studentischen Stichprobe ihren Zusammenhang mit den von ihm bevorzugt untersuchten 4 Einflusstaktiken (rationales Argumentieren, Druck machen, einschmeicheln, höhere Instanzen einschalten). Von den 15x4=60 Korrelationskoeffizienten erreichen in der Gesamtstichprobe 17 ein signifikantes Niveau (zwischen .19 und .43). Warum das zu erwarten war oder Sinn macht, wird nicht hypothesengeleitet, sondern ex post begründet. Ein anderes Beispiel: In seinem Sammelreferat (Blickle 2004a) hebt er - ohne seine eigenen Arbeiten angemessen zu würdigen - drei 'besonders wichtige' Persönlichkeitsmerkmale hervor: Allgemeine Intelligenz, sozialisiertes affektives Machtmotiv und Selbstüberwachung. Mit dieser Art empirischer Forschung wird enormes Detailwissen angehäuft: fehlt leider nur das geist'ge Band. Empiristische Ansätze, die lediglich Messbares miteinander in Beziehung setzen, präparieren das zu Grunde liegende theoretische Rationale nicht heraus; sie begnügen sich mit Kovariationen. Das ist nicht wenig, aber es ist dennoch zu wenig. Bei der Blickle-, wie auch der Kipnis-, Yukl-, Ferris-Methodik der Einflussforschung wird mit Sets von Fragebogen gearbeitet (Selbst- und Fremdbeschreibungen). Eine Grobskizze der Designs sieht so aus: Einer Population werden in einer Sitzung (oder nacheinander in verschiedenen Wellen) eine Reihe von (Kurz-)Fragebogen präsentiert. In bunter Folge werden die Instrumente aneinander gereiht: Subskalen des POIS/ IBQ/ POPS/ BI, Machiavellismus-Skala, internale/ externale Kontrollüberzeugung, Machtmotive oder Machtbasen usw. <?page no="178"?> 160 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Für jeden dieser Traits lassen sich aus allgemeinen Überlegungen plausible Gründe anführen, dass oder warum sie mit Einflusstaktiken kovariieren. Ein Machiavellist wird z.B. eher bedenkenlos unmoralische, rücksichtlose Praktiken zur eigenen Zielerreichung einsetzen, sodass als Hypothese formuliert werden könnte, dass Machiavellisten eher zu täuschenden, manipulativen und/ oder bedrohenden Taktiken greifen werden. Aber misst man mit der üblichen single-sourcesingle-method-Methodik tatsächlich Verschiedenes, wenn man den Trait 'Machiavellismus' z.B. mit dem Einflussverhalten 'Pressure' in Beziehung setzt? Das Problem liegt darin, dass diese Eigenschaft oder Haltung 'Machiavellismus' mit ähnlichen Items wie die Taktik 'Druck machen' gemessen wird; Persönlichkeitszüge werden dabei meist über Bereitschaften oder Gewohnheiten, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, operationalisiert (siehe Beleg 3-1 zu Machiavellismus und Seite S. 166-168 zu "Druck machen"). Beleg 3-1: Beispiele für Machiavellismus-Items (aus der Skala von Henning & Six 1977) 2. Es ist nicht so wichtig wie man gewinnt, sondern dass man gewinnt. 5. Man sollte am Guten solange wie möglich festhalten, aber im Notfall vor dem Schlechten nicht zurückschrecken. 6. Um eine gute Idee durchzusetzen, ist es unwichtig, welche Mittel man anwendet. 7. Sicheres Auftreten ist mehr wert als Empfänglichkeit für Gefühle. 10. Ein weitgestecktes Ziel kann man nur erreichen, wenn man sich manchmal auch etwas außerhalb des Erlaubten bewegt. 13. Man kann ein Versprechen ruhig brechen, wenn es für einen selbst vorteilhaft ist. 14. Man soll seine Bekanntschaften unter dem Gesichtspunkt auswählen, ob sie einem nützen können. 18. Man muss die Taten der Menschen nach dem Erfolg beurteilen. Zudem ist zu fragen, ob ein cleverer Machiavellist nicht eigentlich auf der gesamten Klaviatur der Taktiken spielt (also nicht nur 'harte' druckvolle Taktiken einsetzt): Er bedient sich genauso gut des Schmeichelns, der Informationskontrolle, der (scheinbar) rationalen Argumentation, des Appells an Werte und Regeln usw. Nur: er tut das mit der Absicht keine Zusage, kein Versprechen, kein Bündnis zu halten, wenn es die Umstände für ihn vorteilhaft erscheinen lassen. Blendet man diese latente Intention aus, dann ist die simultane Messung der Verhaltensoberflächen nicht viel mehr als die Bestimmung desselben Konstrukts mit ähnlichen Items. <?page no="179"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 161 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die Berücksichtigung des organisationalen Kontexts Ähnlich wie bei den Persönlichkeitsmerkmalen ist die Lage auch bei den Organisationsvariablen. Weil ich mich dieser Problematik im Folgenden ausführlich widmen werde, stelle ich einleitend in einer weiteren tabellarischen Zusammenstellung Konzepte vor, die verschiedene Autoren(-gruppen) vorgeschlagen haben, um den (organisationalen) Kontext als eine der wichtigsten Determinanten von Einflussprozessen und -ergebnissen zu erfassen. Die Tab. 3-2 fasst die Aussagen zusammen, die in den grafischen Modellskizzen der Arbeiten enthalten sind, mit denen die vier Autoren(-gruppen) ihre Ansätze visualisiert haben. In den Abb. 3-3 und Abb. 3-4 habe ich zur Veranschaulichung zwei dieser Skizzen abgedruckt. Ferris et al. (1989) Ammeter et al. (2002) Parker, Dipboye & Jackson (1995) Elsik (1998) Zentralisierung Organisationsstruktur Entscheidungsbeteiligung Interdependenz Formalisierung Organisationskultur Rollen- und Verantwortungsklarheit Heterogenität Hierarchie-Ebene Verantwortlichkeit Effektivität formaler Kommunikationen Knappheit Kontrollspanne Führerposition Hierarchische Ebene Wichtigkeit Frühere Episoden Betonung von AA-&EO 37 Tab. 3-2: Gegenüberstellung von Kontext-Konstrukten aus vier Studien Dieser Zusammenstellung könnten weitere Studien hinzugefügt werden. Kipnis & Schmidt (1983, 1988) haben beispielsweise folgende organisationale Variablen als Moderatoren der Einflussnahme untersucht: Organisationsgröße, Technologie, Qualifikationsniveau. Auch hier kann die Diagnose wiederholt werden, die schon bei den Persönlichkeitseigenschaften gestellt wurde: Es ist keine Gemeinsamkeit zu entdecken und die Auswahl folgt undurchschaubaren Prinzipien. Es geht mir nicht darum zu bezweifeln, dass die fokussierten Organisations-Merkmale bedeutsam sind, im Gegenteil: es gibt jeweils gute Gründe, dass sie Einflussprozesse und -ergebnisse konditionieren. Sie stammen aber offenkundig aus ganz verschiedenen Theorierichtungen: 37 AA-/ EO-Betonung: affirmative action / equal opportunity: gesetzliche Regeln in den USA, die positive Diskriminierung und Chancengleichheit für Minderheiten beinhalten. <?page no="180"?> 162 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zwei Beispiele für Bedingungsmodelle Abb. 3-3: Beispiel Ferris, Russ & Fandt (1989, 159) Abb. 3-4: Beispiel Ammeter, Douglas, Gardner, Hochwarter & Ferris (2002, 754) - Centralization - Formalization - Hierarchical level - Span of control Organizational Influences Job Involvement Job Anxiety Organizational Withdrawal - Turnover - Absenteeism Job Satisfaction Perceived Control Understanding Perceptions of Organizational Politics Personal Influences Job / Work Environment Influences - Interactions with others - Advancement opp. - Feedback - Job autonomy - Skill variety ...EPISODE n+1 EPISODE n Context: - Organizational structure - Organizational culture - Accountability - Leader position - Prior episodes Σ (...+EPISODE n-1) Target Antecedents: - Target status/ power - Personality attributes Leader Antecedents: - GMA / personality attributes - Political will - Leader cognitions - Leader social capital - Leader interpersonal style Leader Political Behavior: - Action at individual, coalition, network levels - Proactive political behaviors - Reactive political behaviors - Symbolic influence - Combinations of tactics - Interpersonal style as a moderator Target Outcomes: - Affective reactions - Cognitive reactions - Attitudes - Performance Leader Outcomes: - Performance evaluation - Promotions and mobility - Compensation - Power - Leader reputation - Age - Sex - Machiavellianism - Self monitoring <?page no="181"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 163 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Bei Elsiks Repertoire liegt vermutlich der 'Resource Based View' zu Grunde, bei Ferris, Russ & Fandt eher die klassische Bürokratie-Theorie in der Aston-Variante. Bei Ammeter et al. und bei Parker et al. ist (mir) eine Zuordnung zu einer theoretischen Schule nicht möglich; vermutlich haben hier Spezifika der Forschungsinteressen bzw. der untersuchten Stichproben den Ausschlag gegeben. Um mich zu wiederholen: Es ist nicht möglich alles Relevante und Interessante zu berücksichtigen; das scheitert schon aus dem nüchternen pragmatischen Grund, dass bei empirischen Studien für die Beantwortung von Fragen oder Fragebogen- Items nur recht begrenzte Zeit zur Verfügung steht. Kein Wunder, dass im Regelfall auf bewährte oder selbst komponierte Kurzskalen zurückgegriffen wird, mit denen auf ökonomische Weise eine große Bandbreite unterschiedlicher Einflussgrößen erfasst werden kann. Das erlaubt zugleich auch das Andocken der eigenen Studie an mehrere andere Vorläufer-Studien und die datennahe Diskussion der vielen Ergebnisse, die (nicht) bestätigt wurden. Es bleibt das schale Gefühl, dass enorm viel Arbeit investiert wurde, die kreißenden Berge aber nur Mäuslein geboren haben, die zudem meist nur bis zur nächsten Studie überlebten. 3.1.2. Überlegungen zur Merkmalsauswahl: Ein Demonstrationsbeispiel Die Fragestellung, um die es im Folgenden gehen soll, möchte ich an einem Beispiel illustrieren. Ich greife fünf Bedingungsgrößen heraus, von denen ich annehme, dass in Bezug auf ihre Relevanz für Einflussversuche weitgehende Übereinstimmung besteht. Eine derartige Selektion möglicher Bedingungen beruht auf einer nicht explizierten Hintergrundtheorie, die z.B. gute Gründe dafür bietet, dass sich ein "fähiger, wertvoller, unentbehrlicher Akteur" andere Vorgehensweisen erlauben darf als ein "unfähiger und leicht ersetzbarer". Dies ist eine vermutlich sinnvolle Annahme. Aber daran schließt sich sofort die Frage an: Gibt es weitere wichtige Voraussetzungen, die zu berücksichtigen sind? Mit welcher Begründung können sie plausibel gemacht werden? So wird etwa im folgenden Demonstrationsbeispiel unterstellt, dass der Akteur bessere Erfolgschancen hat, wenn er "beliebt und sympathisch" ist und dass es nicht nur auf ihn, sondern auch auf die Person ankommt, die Ziel der Einflussversuche ist. Des Weiteren kann das Team, zu dem das 'target' gehört, eine Rolle spielen (weil es z.B. geschlossen auf eine unfaire Attacke reagieren kann, die auf eines seiner Mitglieder gerichtet ist). Auch die Job Charakteristika sind relevant (z.B. reagie- <?page no="182"?> 164 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ren Zielpersonen anders, wenn sie unter hohem Stress stehen oder Personalabbau droht) und schließlich können organisationale Bedingungen dämpfend oder eskalierend wirken (ein erfolgreiches Unternehmen hat evtl. andere Probleme, die von den Mitarbeitern gelöst werden müssen als ein Unternehmen am Abgrund; in einer Umbruchphase werden andere Herausforderungen gestellt und akzeptiert als in einer stabilen Phase). Zweifellos könnten noch -zig weitere Bedingungen hinzugefügt werden. Das kleine Demonstrationsbeispiel soll zeigen, dass diese wenigen Determinanten, selbst wenn man sie nur dichotom skaliert (hoch niedrig, gut schlecht, vorhanden nicht vorhanden usw.) im Nu eine extreme Komplexität produzieren können. Wenn die 10 Dimensionen im Beispiel als voneinander unabhängig betrachtet werden und jede zwei Ausprägungen hat, gibt es 2 10 = 1024 Konstellationen, die Einflussversuche unterschiedlich konditionieren können. Der Akteur ist fähig, wertvoll, unentbehrlich .......................................... unfähig, leicht ersetzbar beliebt, sympathisch .......................................... verhasst, unsympathisch Die Zielperson ist zugänglich, integriert .......................................... abgegrenzt, isoliert anerkannt, in sicherer Position .......................................... umstritten, gefährdet Die Arbeitsgruppe ist produktiv, erfolgreich .......................................... unproduktiv, gescheitert harmonisch, kohäsiv .......................................... zerstritten, zerfallend Die Job Charakteristika sind hervorragend, angenehm .......................................... belastend, ungünstig gesichert .......................................... gefährdet Das Unternehmen macht Gewinne .......................................... macht Verluste ist Champion .......................................... kämpft um die Existenz hat eine stabile Organisation .......................................... steht in einer Umbruchphase Tab. 3-3: Bedingungen, die die Beziehung zwischen Taktik und Erfolg beeinflussen können - ein Demonstrationsbeispiel Zwischen den einander gegenübergestellten Extremen sind zu Demonstrationszwecken einige Profillinien eingezeichnet: eine, die eine denkbar gute Situation kennzeichnet (eine Gerade am linken Pol: ) und eine weitere Gerade für das Gegenteil (am rechten Pol: ) oder drei Zick-Zack-Linien, in denen gemischte Ausprägungen kombiniert sind ( ). Es steht zu vermuten, dass je nach Lage <?page no="183"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 165 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ der Dinge andere Strategien Erfolgsaussichten haben. Auszugehen von einem stabilen, einen Akteur generell charakterisierenden Einflussstil, dürfte eine sehr pessimistische Einschätzung des Potenzials von Organisationsmitgliedern darstellen, sich wechselnden Gegebenheiten anzupassen - was ja gerade für politische Einflussnahme eine Grundvoraussetzung ist. Eine bedingungssensible Argumentation bezweifelt die universelle Anwendbarkeit von Taktiken. Sieht man sich etwa die vier Blickleschen Taktiken an, dann können vermutlich drei davon (Druck machen, Einschmeicheln, rationales Überzeugen) auch außerhalb formaler Organisationen - z.B. auch in einer Partnerschaft oder einer Zufallsbekanntschaft - praktiziert werden; dagegen setzt übergeordnete Instanzen einschalten voraus, dass man in einer Organisation bzw. Gesellschaft agiert, in der es erstens Instanzen gibt, die zweitens übergeordnet sind und die man drittens einschalten kann. (1) unterstellt Institutionalisierung, Formalisierung, Strukturierung (Stellen, Rollen) und Differenzierung, (2) eine gestufte Macht-Ordnung und (3) das Recht oder zumindest die faktische Möglichkeit sich der Instanzen zu bedienen (wenn man sie 'einschaltet', muss der Strom fließen: sie müssen tätig werden, funktionieren). Die Taktik des Einschaltens höherer Instanzen wird zudem meist erst dann in Betracht gezogen werden, wenn sich die anderen drei als erfolglos erwiesen haben, denn sie birgt Risiken und stigmatisiert eventuell den, der sie versucht (er gilt als unfähig, seine Probleme selbst zu lösen; er delegiert unangenehme Dinge nach oben; er gesteht mit diesem Schritt sein Scheitern ein etc.). Mit diesem Beispiel soll in Erinnerung gerufen werden, dass stillschweigend Wirkungsvoraussetzungen unterstellt, aber nicht im Einzelnen offen gelegt werden. Um ihre Einflussstärke und ihre internen Zusammenhänge/ Abhängigkeiten prüfen zu können, muss man (auch) organisationale Bedingungen zum Gegenstand der Analyse machen. Es genügt nicht zu konstatieren, dass z.B. "rationales Argumentieren" erwiesenermaßen wirkt, es ist vielmehr zu reflektieren, was den Einsatz dieser Taktik ermöglicht und/ oder erfolgreich macht. Die folgenden Überlegungen suchen nach Gründen für die verbreitete Ansicht, dass Einflusstaktiken wirksam sind. Diese Annahme wird in empirischen Studien - wie im Kap. 2 gezeigt - keineswegs stets und für alle Taktiken überzeugend bestätigt. Es geht aber im Folgenden nicht um die Effektstärke, sondern um die Erwartungen der Akteure, die bewusst mit der Nützlichkeit bestimmter Taktiken rechnen; aber auch eine 'gedankenlose' Praktizierung, die zur Routine wurde, beruht auf der selbstverständlichen (taken-for-granted) Erwartung, dass 'es' funktioniert. Zwei Voraussetzungen werden gemacht: Die schwache Grundannahme ist, dass, was geschieht, ge- <?page no="184"?> 166 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ schehen darf/ kann (also nicht konsequent und mit hohem Aufwand unterbunden wird); die starke funktionalistische Zusatzannahme ist: Es geschieht immer wieder, weil es für bestimmte Probleme vorteilhafte Lösungen bietet. 3.1.3. Druck machen und Einschmeicheln: Wovon hängt der Erfolg ab? Am Beispiel der Taktik Druck machen soll das Prinzip der Argumentation veranschaulicht werden. Druck machen soll als Sammelbezeichnung für eine große Bandbreite von Vorgehensweisen gelten; zu ihnen gehören drohen, fordern, Assertiveness 38 und Aggression zeigen, negative Affektivität auslösen/ nutzen; einschüchtern, beschämen, lächerlich machen, herabwürdigen, erpressen; Ressourcen (Hilfe, Information, Mitarbeit) verweigern usw. Aggressionsseminare haben Konjunktur; offenbar wird die Softie-Welle der Mitarbeiter-Versteher und Human-Relations-Prediger durch das Gegenstück herausgefordert. Taktik-Fragebogen operationalisieren Druck machen recht unterschiedlich, was natürlich Konsequenzen für die Vergleichbarkeit von Studien, z.B. in Metaanalysen, hat. Im Inventar der Blickle-Gruppe (siehe Beleg 2-4 auf S. 92) ist Druck machen eine von vier Taktiken und durch folgende vier Items operationalisiert (hier in der Einflussrichtung 'nach oben' formuliert; siehe Blickle 2003b, 7): 1. "Ich stelle mich offen gegen meinen Vorgesetzten." 2. "Ich kündige gegenüber meinem Vorgesetzten Konsequenzen an, falls meine Wünsche nicht erfüllt werden." 3. "Ich drücke gegenüber meinem Vorgesetzten deutlich meinen Ärger aus." 4. "Ich mache meinem Vorgesetzten Druck." Wie vergleicht sich Blickles Druck machen 39 mit Pressure, das im IBQ der Yukl- Gruppe vorkommt, oder Assertiveness, Sanctions und Blocking im POIS der Kipnis-Schmidt-Gruppe 40 ? 38 Selbstsicherheit, selbstbewusst fordernde Durchsetzungsfähigkeit 39 Bei der Vorstellung seines Fragebogens (1995) hat Blickle in Klammern zur Erläuterung der Dimension Druck machen geschrieben: "Assertiveness, Pressure, Sanctions" (1995, 248). 40 Im POIS wird z.B. wie folgt operationalisiert: andauernd kontrollieren, einfach befehlen, anschnauzen, Termine setzen, detaillierte Anweisungen geben, auf Vorschriften hinweisen, wiederholte Erinnerung, aber auch: Ärger zum Ausdruck bringen, offene Konfrontation suchen, unangenehm werden. <?page no="185"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 167 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Nehmen wir an, wir wären das grüne Männchen vom Mars und wollten herausfinden, warum man auf der Erde mit Druck machen seine Ziele erreichen kann. Welches Wissen unterstellt der Fragebogenkonstrukteur bei den Befragten? Der Untersucher geht z.B. davon aus, dass allen klar ist, dass "sich offen gegen X stellen" Druck machen ist und nicht Zivilcourage, Bekennermut, eigenverantwortliches Handeln usw. Wer seinem Vorgesetzten(! ) "Konsequenzen androht", muss wichtige/ kritische Ressourcen oder Ausweich-Optionen, vielleicht auch besonderen Mut oder Rückendeckung haben. Welche Konsequenzen wird "dem Vorgesetzten Konsequenzen androhen" haben für beide Beteiligte und für Dritte, die das beobachten? Wann oder inwiefern ist "Ärgerausdruck" Druck machen (und nicht Frustrationsabfuhr, Unbeherrschtheit, Beziehungsabbruch, emotionaler Schlusspunkt nach dem Aussprechen der Kündigung etc.)? Und schließlich: Was muss man sich konkret darunter vorstellen, wenn ein Unterstellter dem Vorgesetzten "Druck macht"? Vielleicht: mit Kündigung drohen, Mitdenken einstellen, bei Höheren hinhängen, bei dringenden Projekten im Stich lassen, belastende Interna streuen, Termine platzen lassen, sich über Fehlverhalten des Vorgesetzten offiziell beschweren, auf die Nerven gehen, Dienst nach Vorschrift machen usw.? Eine derart allgemeine Klausel wird von verschiedenen Befragten sehr unterschiedlich inhaltlich ausgefüllt werden, sodass es nicht überrascht, wenn die Übereinstimmung zwischen mehreren Beurteilern relativ gering ausfällt. Der Druck (Druck machen! ) kurze und ökonomisch anwendbare Skalen zu entwickeln, fordert seine Opfer. Im Folgenden nenne ich ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige der Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die Pressure-Taktik Erfolg versprechend(! ) ist. Der Akteur - muss Ressourcen (Zwangsmittel) tatsächlich haben, die als Druckmittel eingesetzt werden können und bestrafend oder negativ verstärkend wirken (Ent- Lohnen, Ressourcen entziehen, Pläne durchkreuzen), ansonsten wäre Druck machen eine Variante von 'bluffen'. Wenn man z.B. als Unterstellte Druck macht, muss der eigene Beitrag für die Führungskraft wichtig und schwer substituierbar sein; - muss wissen, was bei wem wirkt (Druck machen erfolgt gezielt, diskriminierend und nicht bei allen und allen Gelegenheiten); er muss davon ausgehen können, dass sich die andere Seite z.B. durch bestimmtes, selbstsicheres Auftreten oder Fordern beeindrucken oder ins Bockshorn jagen lässt (und nicht mit Trotz reagiert); er muss gegebenenfalls Reaktanz beherrschen können: auf Eingeschnapptsein, Widerstand, innere Kündigung, Dienst nach Vorschrift etc. eine Antwort haben; <?page no="186"?> 168 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - muss Abhängigkeit herstellen können, z.B. die Zielperson "in der Hand haben", sodass sie nicht ausweichen kann. Er muss in der Lage sein, andere Handlungsmöglichkeiten versperren oder Bewegungsmöglichkeiten und Spielräume de-finieren und einschränken zu können; - darf nicht selbst von dritter (mächtigerer) Seite kontrolliert oder gestoppt werden (können); er muss in den eigenen Verkehrskreisen mit Hinnahme, Billigung oder Verstärkung rechnen können; - darf den (Kapital-)Verwertungsinteressen nicht sichtbar schaden; er muss zudem eine Bewertung in Bezug auf Erfolgs- und Widerstandschancen vornehmen und darf keine unangemessenen Kosten verursachen bzw. muss die mittel- oder langfristigen Kosten oder Nebenfolgen des forschen Vorgehens ausblenden können oder aber durch höhere Nutzenerwartung kompensiert sehen; - muss eingeschliffene Schemata aktivieren können (z.B.: oben unten / befehlen gehorchen / fordern geben usw.); er muss verinnerlichte Skripten (Handlungsanweisungen und -erwartungen) nutzen, etwa: Wer selbstbewusst fordert, entspricht dem gewünschten Macher-Typ und hat vermutlich Trümpfe in der Hinterhand; - soll sich selbst stilisieren als entschlossen, hart, durchsetzungsfähig, gefährlich usw. und damit erst der werden, der er zu sein vorgibt; er muss aus dieser Reputation Kapital schlagen können; - soll negative Emotionen (z.B. Angst, Wut, Verzweiflung, Enttäuschung) bei Zielpersonen oder Adressaten aushalten können und zur Abspaltung von Mitleidsemotionen bzw. zur Desensibilisierung für fremde Not fähig sein (Coolness, Härte); er soll die eigene Übermacht genießen können; - darf gegen geltende Ordnungen (Vorschriften, Gesetze, Traditionen etc.) nicht auffällig verstoßen und sich notfalls am Rande der Zone der Akzeptanz bewegen; - soll im Konfliktfall in der Lage sein, rationalisierende Rechtfertigungen zu entwickeln (mögliche Druck-Begründungen können z.B. sein: erzieherische Wirkung, unmissverständliche Sprache, im jeweiligen Sozialisationshintergrund erwartete/ akzeptierte Praxis, Sühne, Rache …). Fehlt auch nur eine dieser Bedingungen, sind die Erfolgschancen von Druck machen reduziert; der Mangel muss mit größerer Anstrengung an anderer Stelle kompensiert werden. Um zu unterstreichen, dass die skizzierte Voraussetzungsfülle nicht nur für die Taktik Druck machen gilt, soll die These, dass jeder Taktikeinsatz in hohem Maße kontingent ist, mit einem weiteren Beispiel (siehe Beleg 3-2) illustriert werden: <?page no="187"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 169 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 3-2: Beispiel Einschmeicheln Welche Vorannahmen werden gemacht, wenn der Einsatz der Einflusstaktik Einschmeicheln erwogen wird? 41 - Der Adressat des Schleimens (Z) ist für den Schmeichler (A) wichtig, weil Z z.B. begehrte Ressourcen kontrolliert oder dem A Schwierigkeiten machen könnte. - A muss mit seinen Schmeichelversuchen bei Z ankommen (bemerkt werden und Resonanz auslösen). Z muss also für ihn kommunikativ erreichbar sein, z.B. im unmittelbaren Kontakt (face-to-face) oder noch besser über unverdächtige Vermittler. - Schmeicheln kann von objektivem Feedback unterschieden werden (und als übertrieben, absichtsvoll, ungerechtfertigt etc. erkannt werden). - Z muss einerseits für Schmeicheleien empfänglich sein; aber er darf sie andererseits nicht als Schmeicheleien dekodieren (denn dann wären die Urteile, Anerkennungen, Rückmeldungen etc. als unaufrichtig und instrumentell entwertet). - A muss somit kompetent schmeicheln können, z.B. nicht zu dick auftragen, glaubwürdig erscheinen etc. - A muss auch selektiv schmeicheln: Wer unterschiedslos alle anschleimt, wird - wenn das bekannt wird - nicht mehr ernst genommen oder sogar gemieden. Der Marktwert seines Lobs verfällt. - Dritte, die den Schwindel aufdecken könnten, schreiten nicht ein; evtl. gibt es sogar die soziale Norm nicht unhöflich zu sein, Komplimente zu machen, Freundlichkeiten auszutauschen. Um Höherrangige kann ein Chor von Schmeichlern und Hofschranzen versammelt sein, sodass es für Ehrliche riskant wäre, dissonant zu singen. - Niemand - das gilt auch für Z - weiß genau, wer er 'wirklich' ist oder wie er 'in Wahrheit' gesehen wird, aber alle Menschen benötigen Rückmeldungen, um sich zu vergewissern und ihr Selbstbild zu entwickeln. - Positive Rückmeldungen werden mit weniger Abwehr oder kritischer Prüfung akzeptiert als negative. - Positive Rückmeldungen strahlen auf den Sender (A) zurück: wer Gutes über einen/ zu einem sagt, wird selber als 'gut' (attraktiv, kompetent, freundlich usw.) wahrgenommen und fühlt sich selber gut oder besser. Der Kontakt zum Überbringer guter Nachrichten wird gesucht. - Nicht zuletzt gilt die soziale Norm der Reziprozität: Wohltaten muss man erwidern. Der Schmeichler ist am Ziel: Er bekommt den erhofften Lohn. 41 Die soziale Situation wird im Folgenden als dyadische rekonstruiert, in der sich A [Einfluss-Ausübende(r), agent, Ausgangspunkt, Sender] und Z (Ziel, target, Adressat, Empfänger) gegenüber stehen. <?page no="188"?> 170 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Mit den beiden Beispielen soll verdeutlicht werden, dass kompetente mikropolitische Akteure über ein entwickeltes Sensorium für die Feinheiten organisationaler Situationen verfügen müssen und die Fähigkeit brauchen, ihr Handeln an diese Bedingungen anzupassen. Dieses Gespür ist nicht bewusstseinspflichtig; es genügt, wenn es bewusstseinsfähig ist. Die zwei nicht erschöpfenden 'Bedingungs-Listen' sollen veranschaulichen, dass Taktiken wie Druck machen oder Einschmeicheln - und Analoges gilt für alle anderen Taktiken - in ihrer Akzeptanz und Wirkung an eine Vielzahl von Voraussetzungen gebunden sind. Es hängt u.a. von diesen Vor-Bedingungen ab, ob z.B. Druck machen eine wirksamere Option ist als rationales Argumentieren. Wenn z.B. diese letztere Taktik deutlich häufiger genutzt wird, mag das auch daran liegen, dass sie weniger Restriktionen unterliegt und nebenwirkungsfreier ist als Alternativen, wie etwa 'powern' oder 'schleimen'. 3.2. Organisationale Ermöglichungsbedingungen mikropolitischer Taktiken 3.2.1. Antagonismen innerhalb und zwischen Steuerungsprinzipien Mikropolitische Manöver sind in rational konzipierten und unter Effizienz- und Effektivitätsdruck stehenden wirtschaftlichen Organisationen möglich oder sogar nötig. Ganz offensichtlich ist die geltende, offiziell klar geregelte Ordnung unvollständig und in Bewegung und/ oder es existiert daneben noch eine zweite Welt, in der die vielen, teils unklaren und widersprüchlichen Regeln, Normen etc. unter konkreten Umständen angewandt, d.h. auch: ihnen anverwandelt werden müssen. Es gibt also für alle Akteure Handlungs-Spielräume mit bestimmter Korridorbreite ('Ermessen', discretion). Diese Spielräume zu nutzen und zu gestalten, ist das Anliegen der politischen Intervention. Die These von den Freiheitsgraden, die es für das Handeln in Unternehmen gibt, erweitere ich um die Annahme, dass in Unternehmen gleichzeitig eine Mehrzahl von Steuerungstechniken in Kraft sind, die sich sowohl intern wie auch untereinander widersprechen und so Ungewissheitszonen entstehen lassen. <?page no="189"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 171 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Der für mikropolitisches Handeln erforderliche Spielraum wird somit erzeugt durch die 'Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen'. 42 Dazu eine hintersinnige Kant-Reflexion: "Ohne jene an sich zwar eben nicht liebenswürdige Eigenschaften der Ungeselligkeit, woraus der Widerstand entspringt, den jeder bei seinen selbstsüchtigen Anmaßungen nothwendig antreffen muß, würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat; sie würden das Leere der Schöpfung in Ansehung ihres Zwecks, als vernünftige Natur, nicht ausfüllen. Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus der Lässigkeit und unthätigen Genügsamkeit hinaus sich in Arbeit und Mühseligkeiten stürzen, um dagegen auch Mittel auszufinden, sich klüglich wiederum aus den letztern heraus zu ziehen" (Kant 1912/ 1784, 21). Mit der These vom Antagonismus zwischen und innerhalb der Steuerungsmechanismen, lässt sich die Möglichkeit oder gar Notwendigkeit von Mikropolitik begründen. Jedes der noch näher zu behandelnden Regulationsprinzipien hat als Bedingung und Folge seiner Wirksamkeit einen Widerpart, der aktiviert werden kann. Er ist - und sei es im Untergrund oder als 'Schatten' - stets präsent, weil er der Grund für die fortdauernde Existenz des Steuerungsprinzips ist. Daraus folgt auch, dass Handeln in Organisationen auch anders möglich wäre. Nur in seltenen Extremfällen sind die Alternativen eliminiert. Einschränkungen der einen Handlungsmöglichkeit werden kompensiert oder in Schach gehalten durch die gleichzeitige Öffnung anderer Handlungsmöglichkeiten. So allgemein gesehen ist Mikropolitik eine flexible Lösung, mit der Blockade- oder Immobilisierungs-Situationen umgangen oder vermieden werden können, die aber selbst wiederum kontrollierender Gegen-Maßnahmen bedarf, um ihrerseits nicht auszuufern. 42 Dieses erkenntnistheoretische Grundprinzip der (pyrrhonischen) Skepsis - isosthenes diaphonia (wörtlich: gleiche Stärke des Widersprüchlichen) - wird hier auf Organisationssteuerung übertragen. Während man sich bei methodischem Zweifel durch die Gegenüberstellung von Pro- und Contra-Argumenten vor den Gefahren von Voreingenommenheiten, Orthodoxie und Dogmatismus schützt, wird analog durch die Kultivierung von gegensätzlichen Steuerungsprinzipien in Unternehmen das Risiko von Erstarrung und Blockierung bekämpft. <?page no="190"?> 172 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Es ist damit zu rechnen, dass jeder isolierte Steuerungsmechanismus in Organisationen dazu tendiert sich zu verabsolutieren und das dann erwartbare Steuerungsversagen durch 'mehr von demselben' bekämpft. Dysfunktionen der Hierarchie werden so mit noch mehr Hierarchie gekontert, eine Fehlentwicklung auf Grund unzureichender oder widersprüchlicher Regeln soll mit noch mehr Regeln bewältigt werden usw. So kann sich eine Spirale eskalierender Verstärkung und Ausweitung der vorhandenen Control-Mechanismen entwickeln, sodass sich schließlich jede Technik mit sich selbst beschäftigt und an der unendlichen Geschichte ihrer eigenen Vervollkommnung arbeitet - ein zum Scheitern verurteiltes Projekt. Wenn sich das einschleift, ist der Zusammenbruch des Systems vorhersehbar: Er wird entweder gewaltsam durch interne oder externe Gegen-Kräfte herbeigeführt (Revolution) oder durch die Erschöpfung der Regenerationsfähigkeit, weil die vorhandenen Ressourcen durch die Selbstbeschäftigung aufgezehrt werden, anstatt in die Sicherung und Erweiterung der Überlebensfähigkeit, nämlich in produktive Transaktionen mit der Umwelt investiert zu werden. Eine Möglichkeit diese Konsequenz zu vermeiden ist es, die verschiedenen miteinander konkurrierenden Steuerungs- oder Problemlösungsmechanismen ständig herauszufordern, um sie dadurch zur Koordination und gegenseitigen Anpassung zu zwingen. So gesehen handelt es sich nicht um Ressourcenvergeudung, wenn 'bewährte' Steuerungsmethoden in Frage gestellt und ihre Antagonisten gefördert werden. Unternehmen sind deswegen nicht eindimensional organisiert. Sie bauen auf widersprüchlichen Steuerungsprinzipien auf, die sich gegenseitig bedingen und herausfordern. Würde zu einem dieser Prinzipien der Antagonist ausfallen, so käme es einer selbstzerstörerischen Hypertrophie des dann allein dominierenden. Würde z.B. "Formalisierung und Standardisierung" nicht durch "Regelabweichung, Eigeninitiative, Spontaneität" in Schach gehalten, dann würde die Organisation über kurz oder lang an wucherndem Bürokratismus ersticken. Die Gegensätze erhalten die Organisation vital. 43 Das ist die Chance für mikropolitisches Agieren. Es ist möglich und nötig, weil durch die polaren Oppositionen von Steuerungsimperativen Handlungsspielräume entstehen. Diese Gunst der Stunde und der Umstände 43 "Es ist aber eines der Grundvorurteile der bisherigen Logik und des gewöhnlichen Vorstellens, als ob der Widerspruch nicht eine so wesenhafte und immanente Bestimmung sei als die Identität; ja wenn von Rangordnung die Rede und beide Bestimmungen als getrennte festzuhalten wären, so wäre der Widerspruch für das Tiefere und Wesenhaftere zu nehmen. Denn die Identität ist ihm gegenüber nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins; er aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit" (Hegel 1951/ 1934, 58). <?page no="191"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 173 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ wird vom politischen Akteur genutzt. Wäre alles festgelegt und funktionierte nach Plan, hätte (Mikro-)Politik keine Chance. Das in Kapitel 1 (S. 31) zitierte Adorno- Wort paraphrasiert: Nur wenn, was ist, nicht alles (und nicht perfekt) ist, kann, ja muss, was ist, geändert werden. Zu den unten noch ausführlich erörterten doppelten inneren Widersprüchen bzw. Antagonismen kommt ein Weiteres hinzu: Organisationale Prinzipien bedürfen, weil sie generalisierend angelegt sind, der konkreten Ausfüllung in der Anwendungssituation, die grundsätzlich mehr Facetten hat als ihre notwendig verallgemeinernde Typisierung. Eben weil nicht unweigerlich vorab festgelegt ist, was zu geschehen hat, sondern weil Optionen des Handelns existieren, können Akteure jene Möglichkeit verfolgen, die ihren Interessen am Besten entgegenkommt. Das ist jedoch nicht das Ende vom Lied, denn jede Festlegung auf eine Vorgehensweise (Taktik) muss damit rechnen, selbst wiederum unterminiert (unterlaufen, ausgehebelt) zu werden, weil es sich in Organisationen ja nicht um 'Spiele gegen die Natur', sondern um (Wett-Kampf-)Spiele zwischen Konkurrenten handelt. So gesehen ist die Wahl einer Taktik (nur) ein Eröffnungszug, der mit dem Konter der anderen Seite rechnen muss und der günstigerweise so angelegt wird, dass mehrere Folge- Züge in Frage kommen (siehe v. Foersters 'kybernetischer Imperativ': Handle so, dass danach die Anzahl deiner Möglichkeiten größer ist). Was jedoch für ein 'end game' vorteilhaft sein mag, kann sich bei 'repeat games' als schädlich erweisen, weil mit Vergeltungsstrategien der anderen Seite zu rechnen ist. Druck machen, in die Enge treiben, die Pistole auf die Brust setzen, Notlagen ausnutzen, … - all das kann sich rächen, wenn man ein zweites Mal mit dem Partner/ Gegner zu tun hat, der dann, wenn sich seine Verhandlungssituation verbessert hat, offene Rechnungen begleichen wird. Die Notwendigkeit von Spielräumen liegt im Rationalen von organisationalen Steuerungsmethoden begründet: sie sind generelle Antworten auf wiederkehrende, und deshalb typisierte Problemlagen. Die Letztentscheidungsbefugnis der Hierarchie z.B. ist die Antwort auf die Blockade durch widerstreitende Interessen und Abstimmungsprobleme, Formalisierung andererseits konserviert bewährte Problemlösungen und schreibt sie verbindlich für die jeweiligen 'Fälle' vor, sodass dem System stets wiederholter Lernaufwand und in Aufwand und Ausgang ungewisse Aushandlungsprozesse erspart bleiben. Formalisierung begrenzt die Willkür der Hierarchie und Hierarchie überwindet uneffektive Formalisierung; dieser Widerstreit der Methoden untereinander eröffnet eine Arena mikropolitischer Manöver. Diese wird erheblich ausgeweitet durch eine weitere Charakteristik: Die einzelnen <?page no="192"?> 174 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Methoden sind zudem in sich komplementär angelegt und nur deshalb gibt es - analog den Agonisten und Antagonisten in der Muskulatur - Bewegung. Die Doppelthese ist somit, dass - für jedes Steuerungsprinzip innere und äußere Alternativen existieren, die das zu Grunde liegende Problem ebenfalls lösen können und dass - die Antagonisten wechselseitig voneinander abhängen: der eine setzt den anderen voraus, wird durch ihn hervorgerufen und begrenzt. Diese Doppelthese lässt sich auch anders formulieren: Was das Organisationale begründet, bedroht es. Dies soll im Folgenden durch die polare Gegenüberstellung wichtiger organisationaler Steuerungsmechanismen demonstriert werden. In der folgenden Abb. 3-5 ist eine Reihe solcher Gegenpole zusammengestellt. Abb. 3-5: Antagonistische organisationale Steuerungsprinzipien. Die einander gegenüber liegenden Prinzipien sind als Antagonisten anzusehen. Hierarchie Formalisierung Improvisation Differenzierung Integration Vereinzelung Abgrenzung Extrinsische Motivation Komplexität Simplizität Intrinsische Motivation Wandel Bewahrung Fiktionalität Faktizität Einbettung Vernetzung Kooperation Konkurrenz Autonomie <?page no="193"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 175 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ In den beiden folgenden Tab. 3-4 und Tab. 3-5 werden zur Illustration zwei polare Organisationsprinzipien (nämlich einerseits Hierarchie vs. Autonomie und andererseits Formalisierung vs. Improvisation) herausgegriffen. Hierarchie, Fremdbestimmung, Zentralisierung von Entscheidungsbefugnissen, vorgeschriebene Berichtsbzw. Anordnungswege Autonomie, Selbstbestimmung, Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen Nutzung: Unterwanderung: Nutzung: Unterwanderung: höhere Instanzen einschalten, Druck machen, Sanktionen, Blockieren, Einschmeicheln Intrapreneurship, empowerment, Delegation, Formalisierung, Auswechseln von Führungskräften Fait accompli (handeln, ohne zu fragen), Beratung, Konsultation, Mitbeteiligung, Absprache im Vorfeld, Gruppen- oder Mehrheitsentscheidungen Rückdelegation, Anrufung höherer Instanzen, Berufung auf Regeln und Präzedenzfälle usw. Tab. 3-4: Hierarchie vs. Autonomie Formalisierung, Standardisierung, Kodifizierung und Vorgabe bewährter oder legitimer Verfahren/ Regeln/ Technologien Improvisation, Personalisierung, Adhocratie, Spontaneität, Regellosigkeit, Ausnahmen, Pragmatismus Nutzung: Unterwanderung: Nutzung: Unterwanderung: Legitimation (accounts); Absicherung durch Verweis auf Regeln, Präzedenzfälle, Grundsatzentscheidungen, "Dienst nach Vorschrift" als Erpressungstaktik usw. Regeldehnung; buchstabengetreue Ausführung, hierarchischer Eingriff, role making Geltend machen von persönlichen Vorlieben oder Stärken, lokalen Gruppen-Normen und Praktiken, Ausnahmen und pragmatischen Problemlösungen Entwicklung von Routinen und Schemata, Traditionen, Absprachen, informelle Regeln Tab. 3-5: Formalisierung vs. Improvisation <?page no="194"?> 176 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Im oberen Abschnitt der zwei Tabellen werden jeweils die beiden Antagonisten kurz skizziert, sodass ihre Gegensätzlichkeit deutlich wird. Unter jedem der beiden Steuerungsprinzipien befinden sich zwei weitere Blöcke: Im einen werden unter dem Stichwort 'Nutzung' einige mikropolitische Taktiken aufgeführt, die sich dieses Prinzips bedienen. Beispiel: Nur wenn und weil es Hierarchie gibt, hat es Sinn zur Taktik "höhere Instanzen einschalten" zu greifen. Unter der Überschrift 'Unterwanderung' sind Gegenstrategien versammelt, durch die eventuelle Dysfunktionalitäten des darüber stehenden Steuerungsprinzips in Schach gehalten werden können. Beispiel: Der Entmündigung durch Hierarchie kann durch Empowerment, ihrer Willkür durch Formalisierung begegnet werden. Die Logik des Widerspruchs ist jedoch nicht auf das Binnenverhältnis im jeweiligen Gegensatzpaar beschränkt. Auch die anderen Steuerungsalternativen stellen fruchtbare Herausforderungen dar. So kann z.B. Hierarchie durch Personalisierung/ Adhocratie in Schach gehalten werden oder Autonomie durch formalisierte Standardisierung. Durch die Bezugnahme auf organisationale Steuerungsmechanismen wird zusätzlich einsichtig, warum Mikropolitik nicht eingeengt werden sollte auf schlaue oder überraschende Spiel-Züge gewiefter Einzelner. Mikropolitische Akteure nutzen Spiel-Strategien und versuchen letztlich auch Spiel-Regeln zum eigenen Vorteil zu modifizieren, indem sie die Gegebenheiten des Spiel-Feldes nicht nur als Restriktionen, sondern auch als Chancen betrachten. Dies hat die Konsequenz, dass man über das interpersonale dyadische Einflussmodell hinausgehen muss, um - entsprechend den oben diskutierten verschiedenen Machtformen (siehe Seite 135f.) - auch strukturell ansetzende Praktiken berücksichtigen zu können. Mikropolitik-Inventare können erweitert werden, indem zusätzlich die Beschränkungen und Ermöglichungen durch organisationale Gestaltungsformen berücksichtigt werden. 3.2.2. Vorüberlegungen zur Bedeutung von Information, Rationalität und Versprachlichung Mikropolitik findet in Organisationen statt. Diese Trivialität hat es in sich, denn mit dieser Standortbestimmung wird eine Fülle relevanter Voraussetzungen eingeführt. Organisationen sind komplexe soziale Systeme, deren Elemente - je nach theoretischer Standortbestimmung - Kommunikationen, Entscheidungen, Erwar- <?page no="195"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 177 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ tungen, Handlungen oder Akteure, Subjekte, Menschen sind. Diese Elemente sind konditioniert (bedingt). Im Folgenden soll eine Auflistung der den mikropolitischen Taktiken zu Grunde liegenden Bedingungen vorgestellt werden, die als ein allgemeines Analyseraster verwendet werden kann. Das diesen Versuch orientierende Prinzip ist: "Finde jene unausgesprochenen Voraussetzungen mikropolitischen Handelns in Organisationen, die den Einsatz gerade dieser Taktiken ermöglichen und beschränken! " Konkrete Suchheuristiken sind: - Für welches grundsätzliche Organisations- oder Interaktionsproblem bietet die Taktik eine Lösung? - Welche organisationalen (personalen, gesellschaftlichen, kulturellen) Voraussetzungen muss der Akteur unterstellen oder vorfinden, wenn er die Taktik anwenden will? - Unter welchen Umständen wird die Taktik entweder nicht (mehr) oder aber besonders häufig angewandt? - Was passiert, wenn die Taktik überzogen oder ungeschickt angewandt wird? - Welche Rechtfertigungsformeln werden bei kritischer Nachfrage benutzt? Information Ein Akteur, der Einfluss ausüben will, findet eine komplexe Welt von Fakten und Möglichkeiten vor. Diese Welt ist aber nicht "alles, was der Fall ist" (Wittgenstein), sondern eher "alles, was los ist". Mit dieser kleinen Akzentverlagerung möchte ich hervorheben, dass sich nicht alles um die fest(! )stehenden(! ) Tatsachen dreht, vielmehr sollen die 'losen Enden' betrachtet werden. Das Wörtchen 'Los' oder 'los(e)' hat im Deutschen eine attraktive Vielfalt von Bedeutungen: Los meint zugewiesenes Schicksal (z.B. das Arbeitslos), Anrechtsschein auf eine Gewinnchance, zufällig getroffene Auswahl und eine bestimmte Menge oder Einheit; los steht für leer, eitel, nichtig und 'ohne', frei, ledig (z.B. arbeitslos, interesselos, würdelos, gesichtslos); es ist Startsignal (… fertig, los! ), bedeutet locker, unfest ("die Welt ist aus den Fugen") und nichtsnutzig, sogar sittenlos ("ein loses Weib") und kann in diesem Sinn auch 'action, fun' meinen ("dort ist heute was los") 44 . Wer mikropolitisch agiert, bewegt sich in einer losen Welt und trägt sein Teil dazu bei, dass es so bleibt oder er wird, um ins Denglish zu wechseln, zum Loser. 44 Siehe Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 12, 1885 bzw. 1984, Sp. 1160-1183. <?page no="196"?> 178 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Wer in einer solchen Welt für sich Vorteile herausholen will, braucht zur Steuerung und Entscheidung Informationen über sich, die Sache (Aufgabe, Kontext, Ziele, Kriterien, Maße) und die Betroffenen bzw. Beteiligten: alles lose Enden. Wollte er rational entscheiden, müsste er über alle Informationen und zwar sofort, eindeutig, konsistent und kostenfrei verfügen. Das ist eine idealisierende Modellannahme, die in der Praxis nie eingelöst werden kann, aber umso deutlicher macht, dass 'Information' nicht aus unverzerrt weitergereichten Daten besteht, sondern Selektionen, Differenzen, blinde Flecken, Verzerrungen, Verluste, Ergänzungen usw. beinhaltet, also aktives Interpretieren und Integrieren erfordert. Die verfügbaren Informationen sind lose/ Lose: notorisch bruchstückhaft, ungenau, zufällig, gewinnträchtig, widersprüchlich, mehrdeutig, asymmetrisch verteilt, unsicher, chancenreich … Zudem werden Daten (Mitteilungen) nur dann zu Informationen (relevanten Unterscheidungen), wenn sie verstanden, d.h. eingeordnet werden und Sinn machen. Für sich sind sie wertlos; eingebettet in Rahmen, Schemata, Skripten, mentale Landkarten, Glaubenssysteme gewinnen sie Bedeutung. Das ist aber dann nicht mehr ein Merkmal der mitgeteilten Unterscheidung (a difference that makes a difference), sondern der Sinn-Gebung durch den Rezipienten (und somit nicht mehr völlig unter Kontrolle des Senders). Zusätzlich ist zu bedenken, dass der größte Teil der Informationsverarbeitung automatisch abläuft (mittels gespeicherter Schemata und Programme) und nur ein sehr kleiner Teil bewusst, kontrolliert und reflektiert erfolgt (siehe Ashforth & Fried 1988 zur 'Gedankenlosigkeit' in Organisationen). Mindestens so wichtig wie die Kontrolle des Informationsflusses ist es deshalb, die Verarbeitungsprogramme und Sinngebungsmuster zu steuern. Informationserwerb kostet zudem Ressourcen und setzt Kenntnis von Quellen und Zugang zu Informanten voraus. Das schafft wiederum eine selbstwidersprüchliche Situation: Um den Wert einer Information beurteilen zu können, muss man sie haben, aber wenn man sie hat, braucht man sie nicht mehr zu beschaffen. Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit/ Gültigkeit und Wert von Informationen lassen sich vorab oft nur über Proxies beurteilen (z.B. Reputation der Quellen, Beziehungsgeschichte, erwiesenes Expertentum, Zertifikate …). All das schafft Ungewissheitszonen, die zu mikropolitischem Taktieren einladen. Nicht alle nötigen Fach-, Methoden-, Prozess-Kompetenzen sind im System vorhanden, nutzbar oder aktivierbar. Es ist deshalb weit verbreitete Praxis, sich Expertise (z.B. durch Beratung) zu beschaffen. Denn Fach-Wissen (aufgefächertes Wissen) ist Bedingung und Folge von Arbeitsteilung und Spezialisierung und nur Ex- <?page no="197"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 179 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ pertInnen können auf ihren abgegrenzten Gebieten beurteilen, ob eine Information wertvoll, neu, brauchbar etc. ist. Wenn aber Fach- und Management-Verantwortung getrennt sind, ist Management gezwungen, Befugnisse an Fachleute zu delegieren ohne unmittelbar einschätzen zu können, ob deren Spezialwissen für die Lösung von Schnittstellenproblemen oder Innovationen angemessen und brauchbar ist (auf dieser Informationsasymmetrie basiert die Agentur-Theorie). Davon profitieren eine umsatzstarke Beratungs-Industrie, aber noch stärker interne Wissensbörsen. Beide operieren auf unsicherem Terrain und müssen auf so vage und gleichzeitig wichtige g.o.d.s (garanters of decisions) wie Vertrauen und Reputation zurückgreifen. Nicht grundlos zählt darum 'Consultation' zu den Basistaktiken intraorganisationaler Einflussnahme. Beratung ist ja nicht nur technischer Wissenstransport von A nach B, sondern kann heimliche Delegationen implizieren (z.B. von Sündenbock- oder Killer-Rollen), neue Glaubenssysteme etablieren helfen, Abhängigkeiten begründen oder als Instrument der Neutralisierung konkurrierender Experten genutzt werden (siehe die Institution der Gegen-Gutachten). Rationalität Als mikropolitische Taktik kann 'Rationalität' nur wirken, wenn der Mythos der Rationalität etabliert ist und gepflegt wird. Dieser Mythos macht es unbezweifelbar, dass 'Sachfragen' rational geklärt werden können und müssen; was nicht in die Form von 'Sachfragen' zu bringen ist (z.B. Leidenschaften, Emotionen, Begierden etc.), kann nicht bearbeitet werden und ist deshalb exkommuniziert - eben weil es dafür keine sicheren, eindeutigen, vollständigen und erhärteten Informationen gibt. Der Rationalitätsmythos speist sich aus der Illusion, dass durch mehr 'objektive' geprüfte Information die notorische Entscheidungs-Unsicherheit verringert werden kann, was die Grundbedingung für erfolgreiches Handeln sei. Shenav (1994) hat diese Annahme in Frage gestellt: Unsicherheit kann durch Wissensmehrung nie völlig beseitigt werden, weil neues, zusätzliches Wissen zugleich immer neue Unsicherheit mit sich bringt und weil darüber hinaus Unsicherheit nie ein Problem der Sache ist, sondern eines der Akteure, die die 'Sache' aus ihrer Perspektive (Vor-Wissen) und ihren Interessen sehen und bearbeiten. Durch Informationsinput wird nicht (nur) eine Problemlösung gefördert oder erschwert, sondern auch das Macht-Abhängigkeitsverhältnis zwischen Akteuren verändert. Die Taktik rationaler Argumentation bedient den erwähnten Glaubenssatz, durch bessere, validere Information könne ein höherer Grad an Realismus und Wahrheit <?page no="198"?> 180 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ generiert werden. Es wird unterstellt, dass 'da draußen' eine Wirklichkeit existiert, die sich bei genauem und objektivem Hinsehen zu erkennen gibt. Damit wird eine Fiktion genährt, die sich auch in der Grundannahme der klassischen Testtheorie manifestiert, derzufolge es den 'wahren Wert' einer Eigenschaft gibt, der jedoch durch ein Diagnoseverfahren nur unvollständig und vor allem 'verschmutzt' erfasst werden kann. Die Gesamtvarianz kann deshalb in einen wahren und einen Fehler- Anteil zerlegt werden. Was aber, wenn es keinen unstrittigen, eindeutigen, einzigen wahren Wert gibt? Wenn alle Wirklichkeitsaussagen Konstruktionen und Konventionen sind, die nicht auf Wahrheit, sondern allenfalls auf Widerspruchsfreiheit oder Nützlichkeit (Funktionalität) geprüft werden können? 'Rationales Überzeugen' ist dann eine mikropolitische Taktik, wenn es die andere Seite nicht mit 'wahren', sondern mit nüchtern-sachlich begründeten und logisch präsentierten Informationen versorgt, um hinter diesem Schutzwall alternative Sichtweisen zu verbergen und sich weiteres Nachfragen, Zweifel und Kritik zu ersparen. Streng rationales Handeln ist jedoch im Organisationsalltag eher die Ausnahme, sodass man normalerweise auf Kompromisse, Näherungslösungen, Menschen guten Willens und gesunden Verstandes etc. setzen muss. Wahr und richtig Informiertsein wird zwar hoch bewertet, gleichzeitig muss aber davon ausgegangen werden, dass unter Praxisbedingungen Informationen immer umstritten, mehrdeutig, fehlerhaft, interpretationsbedürftig, kontextualisiert und verteilt sind. Wollte man auf vollständigen und richtigen Informationen bestehen, müsste man enormen Aufwand treiben und einem Ziel nachjagen, das ohnehin nicht erreichbar ist. Um die Gefahr der Immobilisierung des Systems abzuwenden, gibt man sich mit 'bounded rationality' zufrieden und lernt aus der Not die Tugend zu machen mit Ungewissheit umzugehen. Rationalität wird reflexiv gehandhabt, wenn Ungewissheit und Informationsasymmetrie rational verarbeitet werden (Vorlagen bieten z.B. die Entscheidungs-, Spiel- oder Principal-Agent-Theorie). Eine Alternative zu diesem Weg der Rationalisierung ist es politisch aktiv zu werden. Bei konsequent sachlich-rationaler Argumentation muss man sich festlegen, verengen und von zahlreichen 'unrealistischen' Annahmen und Voraussetzungen abhängig machen; im Fall politischen Agierens wird die Fiktion synoptisch rationalen Handelns ersetzt durch ein Prozessmodell, bei dem Aushandlung, Verständigung, Rechtfertigung und Manipulation kombiniert sind. Transparenz, Durchblick und Überblick werden dann als letztlich unrealisierbare pan-optische Visionen entlarvt, die weniger dem Interesse an perfekter Problemlösung verpflichtet sind, als dass sie das Ziel umfassender Herrschaft verfol- <?page no="199"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 181 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ gen. Instrumente wie Tableau de bord, Cockpit-Informationen, Balanced Scorecard, 360 o -Feedback etc. manifestieren dieses Controlling-Ideal. Mit abweichenden Meinungen oder neueren Informationen ist stets zu rechnen; sich dafür aber endlos offen zu halten würde den Entscheidungsprozess unabschließbar hinauszögern. Es ist, wie gesagt, ein Aberglaube davon auszugehen, nur der könne gut oder gar richtig entscheiden, der 'alles' wisse. Wirklich entscheiden kann man nur, wenn man (noch) nicht alles weiß und zugleich ignorant ist gegenüber dieser ansonsten paralysierenden Ignoranz. Als pragmatische Lösung wird deshalb ein befriedigendes Anspruchsniveau definiert, das festlegt, ab wann der erreichte Stand der Information zwar nicht optimal, aber 'gut genug' ist. Dies ist auch deshalb möglich, weil bei Fragen von einiger Bedeutung normalerweise nicht 'es' entscheidet (ein Algorithmus, ein Programm), sondern Personen oder Personengruppen, zu denen Informationen gelangen müssen, die sie nach ihren Interessenlagen selektieren, bewerten und gewichten und bei denen neben 'reiner'(? ) Sachinformation auch noch weitere Aspekte von Information und Kommunikation eine Rolle spielen (z.B. Beziehungsdefinition, Emotionsausdruck, Lenkungsabsicht, Meta- und Autokommunikation 45 ). Versprachlichung Ein grundsätzlicher Aspekt soll in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben werden: Wirklichkeit ist uns nicht unvermittelt zugänglich. Das wichtigste Mittel, das sich zwischen das 'an sich' und 'für sich' der Wirklichkeit schiebt, ist die Sprache. Kein Wunder, dass sie auch eines der bedeutsamsten Instrumente politischer Einflussnahme ist. Und dies im doppelten Sinn: Zum einen bietet die Sprache als zentrale Kulturtechnik die Kategorien, mit/ in denen Erfahrungen geordnet werden. Ein Erfassen und Denken ohne Sprache würde uns auf primitive Reiz-Reaktions-Schemata zurückwerfen und alle Vorteile der Abstraktion (und des denkenden Probehandelns) preisgeben. Zum anderen ist Sprache das wesent- 45 Metakommunikation ist Kommunikation über Kommunikation; mit den Mitteln der Kommunikation wird Kommunikation reflektiert und als glaubhaft, relevant, ausreichend etc. eingestuft. Es handelt sich bei dieser Kommunikation zweiter Ordnung gewissermaßen um einen Kommentar oder eine Deutungsanleitung zu einer Kommunikation. Autokommunikation (s. Neuberger 1988) bezeichnet die Rückwirkung der Kommunikation auf den Sprecher: er redet quasi zu sich selbst und verändert durch seine Aussage sich selbst (Man überzeugt sich selbst durch den argumentativen Aufwand, den man treibt und glaubt schließlich selbst an das, was man gesagt hat; die Aussagen von Zeugen oder von Mobbingopfern lassen sich als Beispiele heranziehen). <?page no="200"?> 182 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ liche Kommunikationsinstrument (auch wenn es vielsagende Blicke, beredtes Schweigen oder sogar die stumme Sprache der Architektur gibt). Wahrnehmungen, Entdeckungen und Erfindungen müssen nicht von jedem einzelnen selbst gemacht werden, sondern können mitgeteilt und am Modell, stellvertretend und im Prinzip (also durch Einsicht) gelernt werden. Sprache ist sowohl doppeltes Bindeglied (zu den 'Dingen' und zu den Mitmenschen), wie auch doppelte Barriere (zu denselben). Weil Sprache keine Abbildfunktion hat, sondern eine Konstruktionsanweisung darstellt, ist ihre zweifache Vermittlungsfunktion für mikropolitische Zwecke ideal: sie taugt ebenso gut zum Offenbaren wie zum Verbergen, sie kann Aufklärung und Verwirrung stiften, mitteilen und zurückhalten, einschließen und ausgrenzen. Mit den Mitteln der Sprache lässt sich aufhetzen und beruhigen, die Trennlinie zwischen 'Realität' und Fiktion verwischen, in Manipulationsabsicht umständlich verkomplizieren oder unangemessen vereinfachen. Was ein Begriff bedeutet (Semantik) entscheidet sich nicht im Wort, sondern im syntaktischen und pragmatischen Kontext, in dem das Wort gebraucht wird und solche Kontexte sind ihrerseits sprachlich gestaltet und manipulierbar. Erfahrungen in Projekten der Organisationsentwicklung resümiert Hennig: "Wenn es den Experten gelingt, die 'Projektsprache' durch Verwendung ihres Fachvokabulars zu bestimmen, erlangen sie bei der Gestaltung der Referenztheorie eine enorme Machtposition" (Hennig 1998, 141). Insofern sind Sprache und Sprechen der Dreh- und Angelpunkt jeglicher Einflussnahme, weil der größte Teil der strukturellen und kontextuellen Bedingungen, in denen gehandelt wird, sprachlich vermittelt ist (so z.B. Organisationsregeln, Netzwerkarbeit, Zielvorgaben, Tagesordnungen, Protokolle usw.). Das gilt selbst für den Zugang zu den eigenen Gefühlen, für das Selbstbild und für Persönlichkeitszüge. Man lernt aus den Rückmeldungen anderer, was ein diffuses Binnenerlebnis zu bedeuten hat, wie es zu bezeichnen ist, ob und wie es ausgedrückt werden darf und wie angemessen (sprachlich oder nichtsprachlich) darauf reagiert werden kann. Diese Proteusnatur der Sprache verdeutlicht, dass 'rationales Argumentieren' als mikropolitische Einflusstaktik erlebt oder verwendet werden kann. Was für den einen eine nüchterne Sachaussage ist, wirkt auf den anderen als arroganter Fachjargon, was die eine für einen überzeugenden Beleg hält, wertet die andere ab als tendenziösen, aus dem Zusammenhang gerissenen Einzelbefund, was einer als flapsige Bemerkung zum Spannungsabbau dachte, wird vom Adressaten als billi- <?page no="201"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 183 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ge Anmache oder Beleidigung interpretiert … Wie etwas und wer eigentlich gemeint war, muss aus Vorgeschichte, Kontexten und Wirkungen auf Dritte erschlossen werden, lässt sich im Nachhinein dementieren und 'richtig stellen', setzt Sachkenntnis, Insiderwissen und den geübten Umgang mit erlernten gesellschafts- oder gruppentypischen Schemata voraus etc. Gesprochene Sprache - ist flüchtig, vergeht im Entstehen, lebt vom und im Hin und Her. In der 'Hitze des Gefechts' wird eine extrem komplexe Leistung verlangt (verstehen, 'rahmen', prüfen, antworten, nicht beleidigen, Optionen offen halten usw.); - ist zugleich aber auch irreversibel, vor allem in verschrifteter Form (Protokolle, Folien, Dokumente …); sie hält damit den Zerfallsprozess von Wirklichkeitskonstruktionen auf, schafft aber andererseits neue, andere Wirklichkeiten, kanonisiert sie gar; - ist reguliert, folgt syntaktischen Regeln und sozialen Konventionen ("was man nicht laut sagen darf", "sich gewählt ausdrücken", Mode- oder Fach-Jargon); - ist generativ (nicht repräsentativ), d.h. erzeugt/ konstruiert Wirklichkeiten/ Sinn, statt nur abzubilden; - provoziert, reißt mit (Eigendynamik der Sprechsituation); - ist Voraussetzung und Mittel der Handlungsvorbereitung, des Handlungsersatzes, der Handlungskommentierung; - wird als das Andere von Handeln gewertet ('bloßes Gerede'; eine Sache 'zerreden'); - kann aber auch genutzt werden, um Festlegungen zu vermeiden, heiße Eisen nicht anzufassen, Absichten zu verschleiern, etwas lediglich zu 'ventilieren' und 'in den Raum zu stellen, zu 'nuancieren' bzw. 'diplomatisch zu formulieren' oder auch zu dementieren(! ). Auf diese Weise werden verschiedene Lesarten produziert, die je nach Kontext und Interesse (herbei-)zitiert werden können; - ermöglicht fruchtbare Als-ob-Konstruktionen, Fiktionen, mentales Probehandeln … Es muss zu denken geben, dass die in Kap. 2 vorgestellten mikropolitischen Taktiken allesamt sprachvermittelt und sprachfundiert sind. <?page no="202"?> 184 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 3.3. Organisationale Steuerungsprinzipien: Diskussion der Polaritäten Um zu verstehen, warum Mikropolitik in Unternehmen so wichtig - praktisch unverzichtbar - ist, sollen jene Merkmale identifiziert werden, die konstitutiv sind für den Koordinationsmechanismus 'Organisation'. Oft wird als prominenter Gegenspieler zu Organisation das Steuerungsprinzip 'Markt' genannt; dies ist jedoch eine schiefe Opposition, denn auch der Markt ist eine Organisation oder Institution. Die Möglichkeit zu politischem Agieren verdankt sich dem 'Organisiertsein' des Unternehmens; Organisation wird andererseits und zugleich durch Politik ermöglicht und erhalten. Im Folgenden nenne ich konstitutive Prinzipien des Organisierens und stelle ihnen jeweils Gegenpole gegenüber. Dadurch wird ein Spannungsfeld (Ungewissheitszone! ) geschaffen, in dem Mikropolitik gedeihen kann und zu dessen Bewältigung Mikropolitik eine der bewährten Möglichkeiten ist. Wenn ich von Unvereinbarkeiten, Gegensatzpaaren, Widersprüchen oder Polaritäten spreche, lege ich mich nicht fest auf die Art der Opposition. Vier verschiedene Möglichkeiten stelle ich kurz vor (siehe Abb. 3-6): Im Fall 1 sind beide Optionen an sich verträglich (sie können jeweils beliebige Werte einnehmen), allerdings konkurrieren sie möglicherweise um Ressourcen. Der Fall 2 charakterisiert eine Konstante-Summen-Situation: Je mehr man sich dem einen Pol nähert, desto weiter entfernt man sich vom anderen. Der Fall 3 beschreibt notwendiges Zusammen-Vorkommen: Jedes Ereignis ist mit einem zweiwertigen Term zu beschreiben, der die Lokalisation im aufgespannten Koordinatensystem wiedergibt. Im 4. Fall werden die Pole dynamisch miteinander in Beziehung gesetzt: sie widersprechen sich und bedingen sich zugleich gegenseitig: der eine existiert nicht ohne den anderen und geht aus dem anderen hervor. Es ist einsichtig, dass die Oppositionsmöglichkeiten ganz erheblich und nichtlinear gesteigert werden, wenn man nicht von zwei, sondern von 6, 12, n Dimensionen ausgeht. Ungewissheitszonen sind Handlungsspielräume und mikropolitisches Gestaltungsfeld. <?page no="203"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 185 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 3-6: Zur Illustration von vier möglichen Beziehungsformen auf einander bezogener Steuerungsprinzipien Die in der Abb. 3-5 schon vorgestellten 10 Steuerungsprinzipien werden im Folgenden als Pole eines Spannungsverhältnisses näher erläutert. 1. Zwei unipolare Kontinua: 0 max Hierarchie 0 max Autonomie 2. Ein bipolares Kontinuum: Autonomie- Pol Hierarchie- Pol Hierarchie Autonomie 4. Ineinander Übergehen, wechselseitige Konstitution: 3. Zwei orthogonale Dimensionen: Autonomie Hierarchie <?page no="204"?> 186 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 3.3.1. Hierarchie und Autonomie Synonyme: Fremd- und Selbstbestimmung ('Selbstführung', Selbstorganisation); Zentralisierung und Dezentrierung; hierarchische Kontrolle und Verselbständigung (Delegation), Alleinregierung und Mitsprache (Partizipation), Empowerment … Zum Pol "Hierarchie" Hierarchie ist - dem Wortsinn nach - geheiligte und darum unantastbare Herrschaft-und-Ordnung und zwar auf mehreren Dimensionen: es ist eine Rang- oder Statusordnung (höher - niedriger), eine Machtordnung (Übermacht - Ohnmacht), eine Prozessordnung (Letztentscheidung - Ausführung) und eine Wahrnehmungsordnung (beachten - nicht beachten). Mit Hierarchie sind Wettbewerbsbeschränkungen (keine Gleichberechtigung dezentraler Vielfalt), asymmetrische Entscheidungs- und Kontrollbefugnisse und lineare Ausrichtung der Kommunikation verbunden. Hierarchie ist eine Diskussions-Beendigungs-Institution, die eben darum auch die Tendenz hat, sich nicht in Frage stellen zu lassen, sich mit sich selbst zu beschäftigen und die eigene Positionssicherung als vordingliches Geschäft zu betreiben. 46 Dies wird in einem der parkinsonschen Gesetze persifliert: Unabhängig von der Aufgabe ist die Anzahl der Untergebenen, nicht die der Konkurrenten oder gar der Problemlösungen zu vermehren. Der Koordinationsmechanismus Hierarchie (als Kurzform für hierarchische Organisation) hat gegenüber Markt die Vorteile, dass - gewollte und strategisch wichtige Kooperationen auf Dauer gestellt werden, - Handlungsketten zentral vernetzt werden, wofür das Pauschaleinverständnis der Akteure vorliegt, - Strategien und Renditen im Verbund kalkuliert werden und nicht aus kompetitiven Aktionen vereinzelter Akteure resultieren, - die Ergebnisse der individuellen Aneignung entzogen sind, weil über sie zentral verfügt wird. 46 Nicht zu vergessen ist, dass Hierarchie auch mit Herrschaft korreliert und die Letzt-Entscheidung sich nicht bloß auf strittige Sachfragen bezieht, sondern auch bessere Chancen der Aneignung impliziert. Wer 'oben' steht, kann auch die (Letzt-)Entscheidung über die Verteilung und Zuweisung von Ressourcen treffen. Wenn z.B. von "Selbstbedienungsmentalität" der Top-Manager geredet wird, dann wird das Wort 'bedienen' mit völlig neuer Bedeutung aufgeladen. Es geht nicht mehr um Service am Herrn oder Kunden, sondern um Self Service, der - bezogen auf den Prinzipal - dem heimlichen Griff in die Kasse gleicht. <?page no="205"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 187 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Mikropolitik fungiert in diesem Kontext als buchstäblich subversive Kraft. Sie untergräbt den Hochbau, findet Schleichwege, um den ausgetretenen Dienst-Weg zu umgehen, stellt blockierende Privilegien in Frage und fordert in wendiger Guerillataktik die in Betonfestungen Verschanzten heraus, die - statt sich mit diesem Gegner zu messen - sich gegenseitig bespiegeln, bespitzeln und beargwöhnen. Die Subversion setzt Vielfalt gegen die Einheit, netzförmig verzweigte gegen lineare Strukturen, informell uminterpretierte Anweisungen gegen eindeutige, offizielle. Das braucht effizienter und effektiver Aufgabenlösung nicht zu schaden, im Gegenteil: größere Expertise, offener Informationsverkehr und unzensierte Perspektivenvielfalt können sachnäheres und unkomplizierteres Handeln ermöglichen. Hierarchie ist ein Mechanismus, den Unternehmen eingebaut haben, um unautorisierte (mikropolitische) Wege der Regelverletzung zu versperren; er beansprucht offiziell das zu leisten, was vielfach unter der Hand erledigt wird. Hierarchische Rollen sind autorisierte Spezialrollen, denen offiziell die Aufgabe und Befugnis übertragen ist, in neuartigen, unklaren oder widersprüchlichen Situationen Autor (Urheber) von Ordnung zu sein. Doch auch hier gilt: Einerseits absorbieren Hierarchen viel Unsicherheit, andererseits aber sind sie selbst Quelle neuer Unübersichtlichkeit. Es liegt in der Natur der Sache, dass für Hierarchiestellen keine eindeutigen Wenn- Dann-Regeln aufgestellt werden können, sondern dass sie Entscheidungsfreiheit oder Handlungsspielraum haben müssen. Darin liegt der Keim zur Fehlsteuerung, wenn Positionsinhaber unfähig, illoyal oder selbstsüchtig sind. Politisches Handeln kann als Handeln auf einem Macht-Markt interpretiert werden (siehe Friedberg 1995). Machtressourcen sind ungleich verteilt; sie können gegen Gegenleistung verkauft, getauscht, geliehen und so vorübergehend oder dauerhaft angeeignet werden. Es gibt zudem offizielle und inoffizielle Zugänge zu diesen Machtmarktplätzen und Türsteher/ Türöffner, die günstig gestimmt werden können. Um den Macht-Tauschmarkt zu kontrollieren und Risiken in Schach zu halten, werden Praktiken eingerichtet, die Hierarchie-Pathologien vorbeugen oder sie heilen sollen, z.B. geeignete Personalauswahl, fortwährende Überwachung (Beurteilung, Kontrolle), richtige Indoktrination oder Sozialisation (Einschwören auf die Unternehmenswerte, Erlernen der üblichen Praktiken), Beschwerdewege, Begrenzung von Befugnissen etc. Das sind womöglich gute, aber nicht perfekte Lösungen, denn Menschen können nicht völlig durchschaut werden (es bleibt eine un- <?page no="206"?> 188 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ aufhebbare Informationsasymmetrie), die Überwachung und Normierung kann perverse Effekte erzeugen (Konformität, Fixierung auf Fehlervermeidung statt auf Innovation, Produktion von schönem, täuschendem Schein, Strangulierung von Initiative durch exzessive Kontrolle und Notwendigkeit der Überwachung der Überwachungsorgane). Außerdem können die Vorgesetzten irren, Fehlentscheidungen treffen oder ihre Befugnisse überschreiten bzw. Entscheidungsfälle nicht nach Sachlage, sondern Sympathie, Ärgerminimierung oder Kuhhandel-Prinzip regeln - wiederum Einfallspforten für mikropolitische Manöver. Auch der eingebaute Selbstreparatur-Mechanismus (höhere Hierarchiestellen können Fehlentscheidungen niederer korrigieren) bietet keine Garantie, weil er genau denselben Wirkprinzipien gehorcht. "Einschalten übergeordneter Instanzen" ist eine vielzitierte intraorganisationale Einflusstaktik, die zweierlei sichtbar macht: Erstens wird damit gezeigt, dass die Hierarchie ausgehebelt werden kann (und zwar auf jeder Ebene) und zweitens muss davon ausgegangen werden, dass auch jede höherrangige Entscheidungsstelle nicht über vollständige Information und apolitische Neutralität verfügt, sondern präpariert und korrumpiert werden kann. Darum die Schaffung von Hierarchie-Kontroll-Institutionen (wie z.B. Controlling oder Revision, 360 o -Beurteilung, Management by Objectives, gesellschaftliche Normen oder Gesetze etc.), die letzten Endes das System der Checks and Balances widersprüchlicher Steuerungseinrichtungen illustrieren: Es wird zu jedem Agonisten ein Antagonist (oder mehrere) eingerichtet, die sich gegenseitig in Schach halten. Das aber ist nichts anderes als die formale Etablierung des politischen Prinzips. Zum Pol "Autonomie" Als einer der Antagonisten zur Hierarchie gilt Autonomie (Selbstbestimmung, Partizipation etc.). Den nach wie vor Unterstellten werden - wie verräterisch! - Spiel-Räume gegeben, um sie stärker in die Pflicht zu nehmen und sie (auch das verräterisch doppeldeutig) besser einzubinden. Die Unterstellten - erhalten einen größeren Bereich eigener Entscheidungsfreiheit (Delegation, Dezentralisierung), gezügelt durch verstärkte Rechenschaftspflicht und interne Zielvorgaben (man nennt sie lieber Zielvereinbarungen), die die Wege zum Ziel weitgehend freigeben; <?page no="207"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 189 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - werden mitbeteiligt an Entscheidungen, damit sie sich verstärkt mit ihnen identifizieren und sie nach Kräften realisieren (zugleich ein Eingeständnis des Scheiterns des hierarchischen Top-Down-Modells) oder - werden völlig(? ) von der Hierarchie-Kette losgebunden, indem sie zu unternehmerischem Handeln (Intrapreneurship) ermutigt oder ermächtigt (Empowerment) werden bzw. - z.B. in Profit Center-Lösungen - unmittelbar dem Marktdruck ausgesetzt und nur noch an den Ergebnissen, nicht mehr an der buchstabengetreuen Exekution von Plänen und der Befolgung von Vorschriften gemessen werden. Das ist natürlich cum grano salis zu sehen, weil auch Profit Centers oder selbständige Unternehmenseinheiten über Vorgaben geführt werden, zu denen neben Ergebniszielen auch eine Fülle vertraglicher Regelungen gehört. - Eine weitere Methode zur Bewältigung von Hierarchiepathologien ist eine geeignete Arbeitsgestaltung (z.B. interessante, herausfordernde Aufgaben, Lernmöglichkeiten, Feedback, Ganzheitlichkeit, Abwechslungsreichtum etc.). Sie soll dazu führen, dass sich der Akteur so sehr mit seiner Aufgabe identifiziert, dass er mit Begeisterung und intrinsischer Motivation tut, was er soll; Kontrollaufwand wird ebenso wie unpassendes Abweichen vom richtigen Weg reduziert, weil die Werte-Infusion für die gewollte Ausrichtung sorgt. Die Principal-Agent-Theory geht davon aus, dass diese Methoden die Probleme nicht wirklich lösen können, die mit Informationsasymmetrie verbunden sind (adverse selection, moral hazard, hold up). Die so titulierten Fehlentwicklungen sind andere Namen für mikropolitische Initiativen: die andere Seite täuschen, hinters Licht führen, ausnutzen oder gar erpressen. Einmal mehr zeigt sich, dass jede Steuerungsmethode mit Risiken erkauft wird, die wiederum durch Anwendung anderer Steuerungsmittel beherrscht werden müssen und dazu gehört auch - das Breitbandspektrum macht es möglich - Mikropolitik gegen Mikropolitik. Beispiel: Moral hazard-Situationen - also das Ausnutzen der anderen Seite, die sich vertraglich gebunden hat und keinen Einblick in alle 'Privat'-Geschäfte des Agenten hat - können mikropolitisch in Schach gehalten werden z.B. durch Netzwerkbildung, Druck oder Drohung, Appell an höhere Werte, Einschmeicheln usw. 3.3.2. Formalisierung und Improvisation Synonyme: Fixierung und Spontaneität, Versachlichung und Personalisierung, Vereinheitlichung und Kreativität, Standardisierung und Adhocratie, Normierung und "anything goes" oder Idiosynkrasie, Regelbefolgung und Regelverletzung ... <?page no="208"?> 190 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zum Pol "Formalisierung" (Versachlichung, Vereinheitlichung, Standardisierung etc. ) Ein evolutionärer Vorteil der Werkzeuge Formalisierung und Standardisierung ist, dass für wiederkehrende Problemtypen nicht jeweils neue maßgeschneiderte Lösungen gefunden werden müssen, sondern dass auf bewährte Schemata zurückgegriffen werden kann oder gar muss. Dieses System aufeinander verweisender Positionen, Rollen, Regeln, Normen, Programmen usw. ist typisiert und typisiert in mehrfacher Hinsicht (Bedingungen, Personen, Rechte und Pflichten). Wer dazugehört weiß was im Fall eines "Falles" zu tun ist. Das unterliegt nicht mehr individuellem Entscheiden, sondern ist vorgeschrieben und erwartbar, Andere können sich darauf einstellen und darauf verlassen. Die Standardisierungen, Reglementierungen und Dokumentationen entlasten den Einzelnen und erlauben im Vorgriff auf das unterstellte regelmäßige und regelgemäße Handeln der Anderen das eigene Handeln 'wie immer' auszuführen und dabei gedanken- und bedenkenlos zu erwarten, dass die einzelnen Rädchen im Gesamt-Getriebe perfekt ineinander greifen werden. Damit werden die im Unternehmen eigentlich unüberschaubaren Ströme der Einzelhandlungen geordnet und zwar - das macht das Charakteristische aus - auf apersonale Weise. Es wird qua Standardisierung vom Einzelnen abgesehen; stattdessen werden unpersönliche, an Rollen oder Stellen gerichtete Erwartungen kodifiziert. Man (jedermann, jedes Mitglied) ist diesem Ordnungssystem unterworfen, das spezifische Aufgaben, Pflichten und Verantwortlichkeiten verbindlich und folgenreich zuteilt. Als unpersönliches System konzipiert, funktioniert es wie ein Subjekt-Aktant. Die Unterstellung, dass damit Planungs- und Handlungssicherheit erreicht wird, lässt sich allerdings im konkreten Handeln - im so nicht vorgesehenen Einzel- Fall! - nicht halten, weil sich immer wieder sowohl aus internen Komplizierungen (z.B. unvorhergesehenen Interaktionseffekten), wie aus externen Veränderungen (z.B. neue Konkurrenten, neue Technologien) bisher nicht gekannte Herausforderungen ergeben. Die vorab entworfenen Regeln und Meta-Regeln müssen dann von den Akteuren ins 'wirkliche Leben' umgesetzt und mit Augenmaß, gesundem Menschenverstand, verinnerlichtem Organisationsinteresse, Eigenverantwortlichkeit usw. den Erfordernissen oder Chancen der jeweiligen Lage angepasst werden (darauf werde ich im Kapitel 5 ausführlich zu sprechen kommen). Das Allgemeine benötigt das Besondere ebenso sehr wie dieses jenes. <?page no="209"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 191 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Was an Formalisierung und Standardisierung positiv ist, läuft stets Gefahr ins Extrem übersteigert zu werden und zu Rigidität, Buchstabentreue, Verkalkung, Lernunfähigkeit, Schematismus, Ritualismus zu werden und die Streikform des Diensts nach Vorschrift zu provozieren. Mikropolitik ist dann der Protest des Ergebniswillens gegen die Formtreue, der Kreativen gegen die Pedanten. Die herrschende unbelehrbare, weil versteinerte bzw. verschriftete Großpraxis wird durch abweichende Mikropraktiken herausgefordert. Alle formalisierten Systeme haben Lücken, Widersprüche, blinde Flecken und sind mit Anwendungssituationen konfrontiert, die sich nicht restlos typisieren lassen. Ordnung ist - eben nur - das halbe Leben. In einer solchen Lage nach der Normlösung zu suchen oder 'wie gehabt' vorzugehen, kann kostspielig werden. Eleganter und wirksamer ist es in solch mehrdeutigen Situationen fünf gerade sein zu lassen, dem gesunden Menschenverstand zu vertrauen und sich aus Blockadesituationen durch unkonventionelles Vorgehen herauszumanövrieren - um so die eigenen Schäfchen ins Trockene zu bringen. Auch Mikropolitik ist ein solcher Reparaturmechanismus, der aber zugleich Sand ins Getriebe bringt. Das Knirschen macht hellhörig und fordert zum Nachdenken darüber auf, ob die Kraft des Motors mit dem ingenieursmäßig perfekt ausgetüftelten Standardgetriebe überhaupt noch effizient in Leistung umgesetzt werden kann. Das bedeutet: Wer 'in Ordnung' ist, ist auf Routinehandlungen fixiert. Weil man so nicht weiterkommt, muss man - wie erwähnt - kreativ von dieser Ordnung abweichen; die Wächter der Ordnung reagieren darauf mit der Forderung nach noch mehr oder neuer Ordnung. Damit wird eine Spirale ausufernder Regulierung ('Bürokratisierung') in Gang gesetzt, weil jede un-gewöhnliche Situation mit einem aktualisierten und d.h. meist: einem erweiterten, differenzierteren, präziseren Regelwerk gekontert wird. Dies setzt eine positive Rückkopplung in Gang, die zwar die Wiederherstellung von Ordnung anstrebt, aber gerade damit paradoxerweise Unordnung und Unübersichtlichkeit steigert und durch buchstabengetreuen Dienst nach ihren eigenen Vorschriften lahm gelegt werden kann. Also muss die Ordnung der Unternehmung durch weiche Generalklauseln gepuffert werden oder aber die Ordnungs-Hüter tolerieren stillschweigend Abweichungen, fordern sie gar selbstwidersprüchlich, notdürftig kaschiert durch Berufung auf über-geordnete(! ) Leitsätze. Somit gilt beides: Achte die Ordnung und missachte sie. Mikropolitik ist insofern organisierte Desorganisation. <?page no="210"?> 192 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Ein weiteres Merkmal formaler Organisation ist ferner, dass Regeln etc. schriftlich formuliert (dokumentiert), allen zugänglich, nachprüfbar und eindeutig sind - alles Voraussetzungen, die im Praxisfall nur teilweise erfüllbar sind. Übersehen wird nämlich, dass viele Routinen, Gewohnheiten, Verfahren, Technologien, Normen und Werte nicht explizit kodifiziert sind, sondern durch Nachahmung oder Versuch und Irrtum gelernt werden. Wären sie verschriftlicht, wären sie im Augenblick ihrer Kodifizierung schon veraltet (Stellenbeschreibungen und Unternehmensgrundsätze belegen diese These). Pragmatische Problemlösungsmethoden und -institutionen ("Wie man es hier immer schon gemacht hat! ") ersetzen auf ökonomische Weise umständliche Begründungen. Mit hoher Praxisnähe und Flexibilität kauft man sich aber andererseits auch lokale Willkür und Intransparenz ein. Angesichts der zahlreichen Einschränkungen der Formalisierbarkeit ist die Aufforderung zum Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, zugleich eine Aufforderung zu Mikropolitik. Sie kann parasitär angelegt sein und Ressourcen der Organisation in eigene Vorhaben abzweigen oder aber als eine Art Autoimmunreaktion dafür sorgen, dass Bedrohungen rechtzeitig erkannt und auf buchstäblich unkonventionelle, d.h. neuartige und von gängigen Standards befreite Weise bewältigt werden. Zum Pol "Improvisation" (Spontaneität, Adhocratie, Idiosynkrasie etc.) Bei den Erläuterungen zu diesem Pol kann ich mich kurz fassen, weil ich auf die Diskussion im Kontext der "extra-produktiven Arbeit" (siehe Kap. 1) verweisen kann. Dort wurde gezeigt, dass das Aufbrechen von Routinen, die kreative und zugleich loyale Interpretation von Vorschriften und Regeln, die spontane Nutzung von unvorhergesehenen (und formal nicht geregelten) Gelegenheiten zu jenen Tugenden gehören, die ein wirklich produktives Organisationsmitglied - einen mitdenkenden und verantwortlichen 'Organisationsbürger' - auszeichnen. An dieser Stelle ist jedoch noch einmal hervorzuheben, dass die spontanen Improvisationen nicht nützliche Zu-Taten sind, die erfinderische und engagierte MitarbeiterInnen aus freien Stücken liefern. Es handelt sich vielmehr um unverzichtbare Leistungen, die systematisch - wegen der prinzipiell nicht routinemäßig zu unbewältigenden Komplexität und Kontingenz organisierten Handelns - erforderlich sind. Während aber der formalisierte Pol in differenzierten Regelwerken (scheinbar) fest gehalten und festgehalten wird, gibt es für die stets benötigte Ergänzung, Anpassung und Ummodelung des Vor-Geschriebenen keine Ausführungsordnun- <?page no="211"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 193 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ gen. Hier ist die Stelle, an der Generalklauseln, Meta-Regeln, verinnerlichte Haltungen und dergleichen bemüht werden. Der zu lösenden Aufgabe entsprechend sind diese Korrektive vage, mehrdeutig und oft genug widersprüchlich formuliert (sehr gutes Anschauungsmaterial dafür liefern die "10 Regeln für den Intrapreneur" von Gifford Pinchot 1985). Vielleicht ist eine der wichtigsten Aufgaben der organisationalen Institution 'Hierarchie' formale(! ) Stellen für das Nichtformalisierte und Unstandardisierbare vorzusehen. Ihr Job ist es, die Blockade durch Buchstaben- und Linientreue, die Paralyse durch Ordnung, Entscheidung und Tat aufzuheben. Aus zwei Quellen holen sie sich die Legitimation für die Non-Konformität: ex ante durch ihre Stelle, ex post durch ihren Erfolg. 3.3.3. Exkurs: Einfache und doppelte Kontingenz Während 'Komplexität' (s. Abschnitt 3.3.5, S. 200f.) etwas Bestehendes in seiner verdichteten Vielfalt beschreibt, bezieht sich Kontingenz auf die Möglichkeit des Andersseins: das real Gegebene (Faktische) wird mit Alternativen (dem stattdessen Möglichen, Potenziellen, Fiktiven) konfrontiert. Formalisierung hat als Festschreibung ("So ist es richtig/ ordnungsgemäß! ") stets mit der Bedrohung durch Kontingenz zu rechnen ("Es ginge auch anders! "). Seit Aristoteles ist Kontingenz ein Schlüsselbegriff der praktischen Philosophie, der Freiheit als Negation sowohl von Notwendigkeit wie Unmöglichkeit bezeichnet. Was ist oder geschieht, muss nicht mit unausweichlicher Bestimmtheit sein oder passieren - aber es ist andererseits auch nicht ausgeschlossen, dass es existieren oder geschehen könnte. Die einfache Kontingenz (Alles könnte auch anders sein/ kommen) wird im sozialen Bereich qualitativ erweitert zur doppelten Kontingenz: die Interaktionspartner wissen wechselseitig von ihrer Kontingenz und antizipieren sie in ihrer Handlungsplanung. Einfache Kontingenz Wird eine inter-personale Einflussbeziehung aus der Perspektive einfacher Kontingenz betrachtet, dann geht es Ego allein darum, die stets möglichen Alternativen Alters einzuschränken und ihn auf einen gewollten berechenbaren Kurs festzulegen. Entscheidend ist, dass der Ego die Beziehung zu asymmetrisieren versucht: Er selbst lässt sich nicht in dieser Weise konditionieren, sieht sich vielmehr als unbeeinflusster Beeinflusser. Die Allmachtsphantasien, die die Ratgeber-Lite- <?page no="212"?> 194 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ratur bei Möchtegern-Mikropolitikern nährt, entstammen dieser Verheißung einseitiger Kontingenzeinschränkung. Es wäre jedoch zu kurz gedacht, das Problem auf interpersonale Machttaktiken zu reduzieren. Es geht um ein Grundproblem der Sozialtheorie (dessen wahre Dimension sich erst bei der Analyse doppelter Kontingenz zeigt). Um zunächst auf den einfachen Fall einzugehen: Handlungen sind Wahlakte aus einem Universum von Möglichkeiten, die höchst selten allesamt bekannt, eindeutig, widerspruchsfrei, stabil etc. sind. Dies belastet den Akteur mit Unsicherheit, die er mit eigenen Kräften, noch mehr aber mit gesellschaftlicher Unterstützung zu bewältigen sucht. Organisationen und Institutionen sind solche Kontingenz-Reduktions- Maschinen. Zu ihren Bewältigungsstrategien gehören z.B. die schon erörterten Techniken der Formalisierung und Standardisierung. Durch sie werden Interaktionsmuster stabilisiert und kalkulierbar gemacht; dies ist die Voraussetzung für die Planung längerer Handlungsketten (anstelle augenblicksabhängigen Re-Agierens). Dazu muss die unmittelbare personale Abstimmung zurückgefahren und in apersonale Programmierung überführt werden. Synchronisiertes Handeln ist nur in wenigen Fällen Ergebnis informierter Entscheidung. Was abgestimmt erscheint, kann auf ganz verschiedene Weise zustande gekommen sein. Das haben Jones & Gerard (1967) mit ihrer Differenzierung zwischen vier Interdependenz- oder Kontingenz-Modi betont: - Pseudokontingenz (parallelisiertes kopräsentes Handeln zweier Autisten); - asymmetrische Kontingenz (A hat einen Plan, den er durchzieht, B ist zum Reagieren verdammt); - reaktive Kontingenz (jeder re-agiert spontan und reflexhaft auf den Anderen, ohne einen eigenen Plan zu haben); - wechselseitige Kontingenz (laufende gegenseitige Abstimmung von sowohl Plänen wie Handlungen). Doppelte Kontingenz Dieser letzte Modus thematisiert doppelte Kontingenz: Im dyadischen Fall sehen sich beide Seiten in der Kontingenzfalle. Ein mechanistisches trivialisierendes Verständnis von sozialem Einfluss ('illusion of control') muss an der doppelten Kontingenz sozialer Handlungen scheitern. Denn für die Inter-Aktion von Akteur (A) und Zielperson (Z) gilt: <?page no="213"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 195 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ a) Z ist ein anderer A und sieht A wie dieser ihn sieht: als Unsicherheitsfaktor. und(! ) b) A und Z wissen das voneinander und deshalb sind A und Z über Metaspiralen der Attribution verschränkt, in denen es zur Explosion von Ambiguität kommen kann. "Rational geplante" Lösungen sind in dieser Situation wechselseitiger Unterstellungen und Attributionen nicht möglich, jedenfalls solange nicht, wie sich die Akteure nicht über ihre Ansichten und Unterstellungen austauschen. Die Schwierigkeiten der Prognose, die schon einfache Kontingenz bereitet, werden - wie gezeigt - durch doppelte Kontingenz potenziert: A weiß, dass Z um die Kontingenz seiner Handlungen oder Entscheidungen weiß und Z weiß, dass A um seine weiß. Z könnte anders und A könnte anders - aber beide können nicht nicht handeln: etwas wird geschehen und deshalb haben beide Seiten ein Interesse daran, dieses Etwas bestimmen (erkennen und/ oder vorschreiben) zu können, weil die eigenen Handlungsoptionen davon abhängen. Mit noch so ausgefeilten taktischen Winkelzügen kann in einem Kollektiv allein durch interpersonalen Einfluss das Handeln nicht verlässlich und zielorientiert koordiniert werden. Das Ausrichten eigenen Tuns am erwarteten bzw. gewollten Tun des (letztlich unausrechenbaren und unausrichtbaren) Anderen würde - im Gesellschaftsmaßstab, in dem es unüberschaubar viele Andere gibt - notwendigerweise in Anarchie münden oder aber eine eskalierende Spirale der Repression durch dominierende Einzelne oder Gruppen erzeugen. Planwirtschaftliche Gesellschaftsexperimente können als Beleg dienen. Allgemeine Paranoia wäre zu befürchten; alle würden darüber räsonieren, was von wem nun schon wieder ausgeheckt wurde und wie man dem zuvorkommen könnte. Die Energien würden in immer ausgeklügelteren Aufklärungs- und Abwehrsystemen vergeudet werden. Die militärische Anti-Raketen-Abwehr-Rakete, gegen die man sich durch noch raffiniertere Angriffs-Raketen wappnen kann (wogegen sich der Gegner natürlich wiederum aufrüsten wird), ist ein Beispiel dafür. Löst man sich von der künstlich vereinfachten Perspektive auf Ego und Alter, erkennt man das generelle Problem der Konstitution von Gesellschaft. Koordiniertes, berechenbares Handeln in Kollektiven ist nur möglich, wenn doppelte Kontingenz eingeschränkt wird. Die Lösung heißt Institutionalisierung. Institutionen sind gesellschaftliche Einrichtungen, die das Handeln der Einzelnen informieren und in Form bringen (Die 'Festschreibung' dieser Programmierung ist <?page no="214"?> 196 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ unter dem Stichwort "Formalisierung" bereits behandelt worden). Man - jedermann - hat in Erziehung und Sozialisation gelernt, dass in typisierten Situationen in (vor-)bestimmter Weise zu handeln ist. Wer sich nicht an diese Vorgabe hält, muss mit Sanktionen rechnen, die in allen Abstufungen verhängt werden können (Korrektur, Tadel, Ermahnung, Beschämung, Strafe, Ächtung, Ausschluss, Tötung). Politik ist - als polity - der Handlungsmodus für die Schaffung und Durchsetzung von Institutionen (und als solcher seinerseits institutionalisiert). Institutionen sorgen für die Vor-Ordnung und Verordnung von Handlungen, die im Gesellschaftsrahmen mit Akzeptanz rechnen können. Es gibt keinen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von Institutionen abgedeckt wäre, von der Zeugung bis zum Tod ist alles vorgeregelt: Wer mit wem und wie ein Kind zeugen darf bzw. ob und wie eine Zeugung verhindert werden darf, wie und wo die Geburt ordnungsgemäß stattfindet, wer als Mutter/ Vater gilt, wer welche Namen geben darf und wo/ von wem das festgehalten wird, ob und welche ärztlichen Untersuchungen und Behandlungen (z.B. Impfungen) Pflicht sind, wer sie vornehmen darf und dokumentieren muss, wie viel von wem dafür zu bezahlen ist, wer das alles reguliert, überwacht und ahndet, welche Nahrungsmittel und Ernährungspraktiken 'richtig' sind, wie Ausscheidungsvorgänge und -produkte behandelt werden, welche Kleidung angemessen ist, welche Institutionen für die Erziehung sorgen (Familie, Tagesmütter, Kindergarten, Vorschule, Grund-/ Hauptschule ...) usw. - all das ist institutionell geregelt. Um Organisationen zu fokussieren: Wenn in Unternehmen über Bürokratie geklagt wird, dann ist eben diese Regulierungsdichte gemeint: Wer darf ein Unternehmen gründen und betreiben, wem muss er das in welcher Form anzeigen, wie müssen Prozesse und Leistungen 'ordnungsgemäß' eingerichtet und dokumentiert werden, was ist zu beachten, wenn Mitarbeiter angeworben, eingestellt, eingesetzt, versetzt, beurteilt, bezahlt, geschult, entlassen werden, welche Vorschriften in Bezug auf Hygiene, Gesundheit, Umweltschutz, Energieverbrauch, Werbung, Lieferung, Produkthaftung, Garantieleistung etc. sind zu einzuhalten, welche Normen gibt es dafür, wer setzt sie und wer kontrolliert die Einhaltung, welcher Form müssen Verträge genügen, wie können Ansprüche durchgesetzt oder zurückgewiesen werden, welche juristischen Verfahrenswege und Instanzen gibt es dafür etc.? Und nicht zuletzt: Für alle diese Institutionen gibt es Behörden, die befugt sind zur Überwachung und Intervention und die selbst wiederum einer Fülle von Institutionen und Instanzen unterliegen, die eben dies formalisieren und in einem komplexen System von checks and balances selbst von anderen Institutionen kontrolliert und korrigiert werden. Kein Mensch kann alle diese Einrichtungen, Verfahrensordnungen und Pflichten kennen und ihre Imperative 'buchstabengetreu' befolgen. Perfekter Dienst nach Vorschrift ist unmöglich. Umso wichtiger wird jenes alltagspraktische Wissen, <?page no="215"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 197 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ das es ermöglicht 'im Rahmen' zu bleiben, die Grauzonen und Spielräume zu nutzen, zwischen Kann, Soll und Muss kompetent zu unterscheiden und jene zu identifizieren, bei denen man sich Rat, Unterstützung und Absolution holen kann. Angesichts der Komplexität (Verknotung und Verwobenheit) der Institutionen, die das Funktionieren von Gesellschaft sowohl ermöglichen wie bedrohen, erscheint die Qualifikation von Mikropolitik als krankhaft oder kriminell als reichlich unreflektiert. Sie kann mit guten Gründen als probate Remedur gegen Exzesse der Formierung der Gesellschaft angesehen werden. Ohne Institutionalisierung kann keine Gesellschaft funktionieren; aber wenn die Institutionen nicht durch Gegen-Mittel in Schach gehalten würden, müsste sie daran ersticken. 3.3.4. Differenzierung und Integration Synonyme: Vielheit und Einheit, Diversität und Homogenität, Analyse und Synthese, Pluralität und Uniformität, Spaltung und Geschlossenheit ... Zum Pol "Differenzierung" Ordnung ist möglich und zugleich nötig, wenn es Differenzierung gibt. Arbeitsteilung und Spezialisierung steigern die Expertise und ermöglichen enorme Effizienzgewinne. Die Herausforderung besteht darin, die Beiträge der Hochspezialisierten zu einer integrierten Gesamtleistung zusammenzuführen und zu verhindern, dass Fachidiotentum, Bereichsegoismus und Not-Invented-Here-Syndrom zu wuchern beginnen und sich Partialinteressen auf Partialziele fixieren. Jeder sieht und versteht nur sich, und das immer autistischer 47 . Der Turmbau zu Babel hat gezeigt, wohin das führt. Wenn der Fachmann ein Alleskönner in seinem umgrenzten, abgeschlossenen Raum ist, dann ist der Mikropolitiker ein Alleskönner im Aufsperren der Türen zu anderen Räumen, vor allem aber im Aufspüren von Geheimtüren und -gängen, Verstecken und Schlupflöchern. Natürlich bleibt auch ihm der Blick aufs Ganze verwehrt und ebenso wenig ist er auf den aufopferungsvollen Dienst am imaginären Ganzen festgelegt; Selbstlosigkeit gehört nicht zu den herausragenden Eigen- 47 In Kalauerform ausgedrückt: "Ein Spezialist versteht immer mehr von immer weniger und am Schluss alles von gar nichts. Ein Generalist versteht immer weniger von immer mehr und am Schluss nichts, das aber von allem." <?page no="216"?> 198 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ schaften eines Mikropolitikers. Ein Spezialist kann mit seinen ureigenen Talenten mikropolitisch wuchern: indem er seine Problemlösungskompetenz verweigert, kann er erpresserisch Vorteile für sich - oder vor allem für sich - herausholen, zumindest kurzfristig; die Leidtragenden werden in Zukunft versuchen das Monopol zu brechen. Spezialisten lassen sich gut mit anderen Spezialisten bekämpfen, zu jedem Gutachten kann man ein Gegengutachten kaufen, des einen Fachmanns Lösung ist des anderen Fachmanns offene Frage. Schnittstellenprobleme lassen sich nicht in der 'Mehr-von-demselben'-Logik jener Experten beantworten, deren Kreise sich überschneiden. Das Herausfinden aus der Patt-Situation erfordert ein Umdenken: ein Herumdenken um die Blockade und einen neuen umgedrehten Denkrahmen, der die spezialistische Engstirnigkeit überwindet. Wie gut, dass es mikropolitische Taktiken wie 'Appell an höhere Werte', 'Einschalten höherer Instanzen', 'Koalitionsbildung', 'Tauschhandel' gibt. Die funktionale Differenzierung von/ in Organisationen ist als evolutionärer Fortschritt zu werten, der eine enorme Steigerung der Problemlösekapazität eines sozialen Systems zur Folge hat, weil die Restriktion fällt, dass jedes Mitglied auf alle Fragen die beste Antwort kennen muss. Stattdessen kann verteilte Expertise für bestimmte Problemstellungen beliebig akkumuliert werden, sofern das Problem gelöst wird, das vorhandene Wissen ausfindig zu machen und zu integrieren ("Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß …"). 'Wissensmanagement' ist die Losung, die man aber nicht mit der Lösung für dieses Problem der Entdeckung und Zusammenführung der Wissenspartikel verwechseln darf. Wissensmanagement ist das Eingeständnis, dass die selbstproduzierte Diversität sich verselbstständigt hat. Oft genug werden - ein weiteres Beispiel für die Anwendung eines Verfahrens, das die Probleme, die es lösen soll, selbst erzeugt hat - durch die erneute Anwendung der früher bewährten Rezeptologien die aktuellen Probleme noch vermehrt: Man sucht nach formalisierten Wegen, das verteilte informelle Wissen (nicht nur: die vorhandenen Informationen) zu ent-decken und synoptisch zu verwerten. Und wie alle rationalen Techniken haben auch die des Wissensmanagements ihre spezifischen blinden Flecken, die sie selbst nicht bearbeiten können. Dazu bedarf es des Sprungs aus dem geschlossenen System: z.B. in Mikropolitik. Denn Wissen ist auch Macht, die man nicht einfach blauäugig und ohne Gegenleistung hergibt. Wissen liegt in Netzwerken, zu denen man Zugang erhalten muss, Wissen braucht Übersetzer und Broker, um für andere Verwertungen verfügbar zu sein und nicht zuletzt: Alles Wissen ist kontextualisiert und seine Abstraktifizierung verliert den Anwendungsbezug und die idiosynkratischen sinn- <?page no="217"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 199 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ lichen Momente, die für die erfolgreiche An-Wendung und An-Passung nötig sind (s. dazu auch Böhle 2004). Zum Pol "Integration" Die Sehnsucht nach Überwindung der Egoismen zu gemeinsamem Vorteil dürfte ein Grund dafür sein, dass 'integratives Verhandeln' (Win-win-Lösungen) in Selbstauskünften über bevorzugte Einflusstaktiken recht häufig genannt wird oder dass von 'Mediation' erwartet wird, dass sie Fronten aufbricht und in betreuter Begegnung 'gütliches' Einvernehmen erzielt, so dass den Parteien der Streit- und Rechtsweg erspart bleibt. Die Lage ist hier ähnlich wie bei der Einflusstaktik des 'rationalen Argumentierens', der zugetraut wird, irrationale Winkelzüge und chaotische Unberechenbarkeit interessierter Akteure per Urteilsspruch des Gerichtshofs der Vernunft (Kant) aus der Welt zu schaffen. Angesichts von partikulären Interessen, fragmentierten Zuständigkeiten und spezieller Expertise zu integrativen Lösungen zu kommen, setzt mehr als nur guten Willen und die Einsicht in mögliche Vorteile voraus: nämlich solche Verbundlösungen als prekäre Möglichkeiten zu sehen, deren Verwirklichung politisches Taktieren voraussetzt. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es - geschickt, entgegen aller Gewohnheit und wider schlechte Erfahrung, weil es auch einem selber nutzt und zumindest ein gutes Gefühl verschafft. Die Existenz von Organisationen als 'korporative Akteure' leitet ein gut Stück ihrer Daseinsberechtigung ab aus der Zusammenlegung von Ressourcen: Fraktionen, Lagerbildungen, Partikulär-Interessen verzetteln und verzehren Kräfte. Das Motto 'e plurisbus unum', auf US-Münzen und Banknoten geprägt, gibt der Hoffnung Ausdruck, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile; fünf Finger kann man brechen, nicht aber eine Faust. Die Ein-Heit der Organisation wird als 'corporate identity' beschworen und inszeniert; sie soll die Gemeinsamkeit in Werten, Zielen und Ansichten sowohl symbolisieren wie herstellen und sichern. Dem dienen Slogans, Logos, 'Firmenfarben', Feiern, Rituale, Traditionspflege, Heldengeschichten, Denkmäler ('Stammhäuser') etc. 3.3.5. Komplexität und Simplizität Synonyme: Verdichtung und Entzerrung, Verknotung und Entflechtung, undurchsichtige Verworrenheit und einfache Linie, Verbundwirkung und isolierte Wirkung. <?page no="218"?> 200 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zum Pol "Komplexität" Komplexität ist eine Art Steigerungsform der Kompliziertheit. Diese beschreibt eine Lage, die nicht mehr durch Ein-Falt(igkeit) und Ein-Fachheit ausgezeichnet ist, sondern durch enorme Vermehrung dieser Falten und Fächer. Die resultierende Vielfalt (wörtlich bedeutet 'Kompliziertheit': Zusammenfaltung), kann aber vom Kenner wieder entfaltet und aufgefächert werden. Anders bei Komplexität. Hier kommen zum Facetten- oder Faltenreichtum noch Verwicklung, Verknotung, Verworrenheit, Verdichtung hinzu. Das gordische Knäuel lässt sich nicht mehr entflechten, das Komplexe nicht mehr in seine Einzel-Teile zerlegen und so verstehen und beherrschen, weil diese Teile sich in der 'Zusammenballung' verändern, mit- und aufeinander reagieren und unerwartete Verbundeffekte produzieren können. Es liegt auf der Hand, dass Mikropolitik von solcher Verwobenheit, die den 'roten Faden' nicht mehr erkennen lässt und von den unerwarteten Interaktionswirkungen zu profitieren sucht, oft genug aber auch den eigenen Verwirrspielen, Verwicklungen und Kompressionen zum Opfer fällt. Spezialisierung produziert Komplexität, die - damit es nicht zur Handlungslähmung kommt - bewältigt werden muss. Die Option, dies durch 'Rückbau' der Differenzierung zu tun, würde auf deren Vorteile verzichten. Komplexität entsteht dadurch, dass mit der Zahl der unterschiedenen Elemente die Zahl ihrer möglichen Verbindungen exponentiell steigt. Man muss also die Verkehrsverbindungen leistungsfähiger ausbauen, wenn man schon nicht auf den Spezialisierungsvorteil vieler selbständiger (Verkehrs-)Wege und Knoten verzichten möchte. Komplexität zeigt sich subjektiv als Überlastung mit Informationen, die als nicht mehr integrierbar erlebt werden. Sie steigt auch mit der Andersartigkeit (Diversität) der Elemente, die eins bzw. Eines werden sollen. Kann die Vernetzung zwischen den Elementen nicht mehr überschaut und gesteuert werden, werden zuweilen neue Stellen gebildet, denen diese Integrationsaufgabe übertragen wird. Die Selbstanwendung des Prinzips (auf Komplexität mit noch mehr Komplexität reagieren) eröffnet einen infiniten Zirkel. Komplexität resultiert nicht nur aus der Vielfalt des Präsenten, sondern auch aus der Menge des ins Archiv Abgestellten. Das aus diesem Arsenal Entnommene - die Problemlösungen der Vergangenheit - kann als Material für neue Lösungen taugen, aber auch für den Aufbau von Hindernissen benutzt werden, die neue Wege blockieren. Hinzu kommt, dass scheinbar Bewährtes auch durch Veränderungen in der Umwelt herausgefordert werden kann. Das in systemtheoretischen Kontex- <?page no="219"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 201 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ten oft zitierte 'Gesetz der erforderlichen Vielfalt' konstatiert, dass, um externe Komplexität angemessen bewältigen zu können, die internen Verarbeitungsprogramme ebenfalls vielseitiger und raffinierter werden müssen. Aus Akteursperspektive ist Komplexität ein Problem des Verstehens und der Verständigung, zu dessen Lösung alle Mittel der Organisation eingesetzt werden können, nämlich Wissen, Können, Strukturen, Normen, Regeln usw., vor allem aber: Zeit. Man muss die Zeit haben (oder sich nehmen) um die Vielfalt kennen zu lernen, sich in sie einzuarbeiten und Problemlösungen ausprobieren zu können. Der "Wille zum Wissen", der sich in panoptischen Institutionen ausdrückt, wird unausweichlich frustriert, denn man kann grundsätzlich nicht 'alles' sehen. Und - wie Foucault gezeigt hat - der Wille zum Wissen ist immer ein disziplinierter und disziplinierender Wille zum Herrschen, der (mikropolitische) Subversion auf den Plan ruft. Zum Pol "Simplizität" (Einfachheit, Vereinfachung) Differenzierende Vereinfachung als Strategie der Komplexitätsreduktion besteht aus Unterscheidungen, die Grenzen (Ab- und Aus-Grenzung) bedeuten. Die Fokussierung aufs Lokale und Einfache gibt die Suche nach Gesamtbild und Über- Blick auf und schränkt sich - Kirchturmpolitik - auf das Überschaute, scheinbar Bekannte und Bewährte ein. In solch heimeligen Eigenwelten gelten einfache Regeln, man kennt sie, man kennt einander und kennt sich aus. Es würde sich um keinen Antagonismus der Steuerungsprinzipien handeln, wenn sich das trivialisierende KISS-Rezept 48 als Generallösung anböte. Die Banalisierung des Komplexen vernichtet jedoch seine produktiven Potenzen. Deswegen muss man auch der alexandrinischen Lösung misstrauen, die für die Bewältigung des gordischen Problems zu großer Komplexität empfohlen wird: dem scharfen Schnitt (oder - nicht so gewalttätig - dem einfachen Wegsehen oder Augenschließen, dem Outsourcen und Liquidieren usw.). Beratungs-Moden werden zuweilen auf dieses Patentrezeptniveau heruntergebrochen: "Du musst nur x tun, dann wirst du Erfolg haben! " - und für x kann man einsetzen: lean management, 6 Σ, Balanced Scorecard, Shareholder-Orientierung ... Konstruktive organisationale Strategien des Umgangs mit Komplexität enthalten (oder erfordern) in besonderem Maße mikropolitische Raffinesse: 48 Keep it small and simple! <?page no="220"?> 202 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - Einrichtung von spezialisierten Entscheidungsgremien oder Planungsrunden, die das Komplexe de-finieren und 'kleinarbeiten' sollen. - Von der Expertise Externer profitieren (Berater, Gutachter), die Komplexität absorbieren und die Resultate ihrer undurchschauten professionellen Analysen zu einfachen 'machbaren' Handlungsanweisungen verdichten. - Schaffung von internen (Stabs-)Stellen, die - ein Widerspruch in sich? - als 'Vereinfacher des Komplexen' fungieren sollen. Solche Institutionen sind z.B. strategische Planung, Controlling, Rechnungswesen, Revision, 360 o -Feedback. Traumziel ist die übersichtlich kartografierte Komplexität: Die ganze Wahrheit kann auf einen Blick wie von Anzeigeinstrumenten im Cockpit abgelesen werden, alles Wichtige passt auf eine einzige Balanced(! ) Score Card. - Fraktal verkleinerte Vervielfältigung der Komplexität durch die Zusammenstellung von Teams (oder Abteilungen etc.), in denen repräsentativ die Vielzahl der Perspektiven vertreten ist ("sounding boards"). Ein Beispiel für den erforderlichen Wissenstausch und Interessenausgleich wäre etwa Projektmanagement. - Man baut auf einen evolutionären Prozess nach dem Schumpeterschen Modus und lässt trial and error oder piecemeal engineering (Stückwerkstechnologie) zu - um in kleinen Schritten das Unpassende auszumerzen und das Geeignete beizubehalten, getrieben von der Hoffnung, dass das Bessere der Feind des Guten ist. - Eine schlichtere Variante im Western-Stil ist "Primat der Tat": Erst schießen, dann zielen, weil - wie Peters & Waterman 1984 dekretierten - Analyse doch nur zu Paralyse führt. - Statt sich selbst die Mühe des Entdeckens zu machen, kann man auch die Strategie des Lernens vom Modell einsetzen und über benchmarking und Mimesis (Nachahmung) von den Besten oder der herrschenden Meinung profitieren. - Auch Lösungen, wie sie im Principal-Agent-Ansatz zur Bewältigung unterkomplexer Erpressungs- oder Täuschungsmanöver diskutiert werden, kommen in Frage: Man entwickelt ein leistungsfähiges 'signaling' (um aus Frühwarnsignalen Qualitäten und Absichten von Akteuren rechtzeitig zu erkennen), operiert mit 'screening' (schließt Ungeeignete oder Unerwünschte aus), verlangt Pfänder (Vorleistungen, die bei Vertragsbruch kassiert werden) oder konstruiert Verträge, die 'self-enforcing' sind (sodass die Verfolgung eigener Interessen gleichzeitig auch der anderen Partei dient). <?page no="221"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 203 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 3.3.6. Kooperation und Konkurrenz Synonyme: Zusammenarbeit und Konfrontation; Inklusion und Exklusion; Verbindung und Trennung. Zum Pol "Kooperation" Mit zunehmender Differenziertheit und Länge der vernetzten Handlungsketten entstehen die hierarchie- und komplexitätsbedingten Probleme mangelnder Transparenz und trivialisierender Intervention. Der Optimismus hinsichtlich der Überlegenheit von geplanter Fremdsteuerung weicht der ernüchterten Suche nach praktikablen Lösungen für die Verbundschwierigkeiten. Konzepte, die durch die Präfixe "Zusammen-", "Mit-", "Ko-" oder "Syn-" eine Art Impfschutz gegen partikuläre Abschottung erhalten haben, werden auf den Prüfstand geholt. Zusammenarbeit, Mitbestimmung, Koordination, Synergie etc. werden nicht mehr als bewährte Lösungen, sondern als Probleme gesehen, deren Zustandekommen und Bewältigung erhöhte Aufmerksamkeit verdient. Unternehmen sind kollektive Konstruktionen, die (längerfristige, situationsübergreifende) Strukturen der Koordination (Stellen, Pläne, Regeln) entwickeln, die Kooperation erleichtern und Koorientierung sichern (in Bezug auf Wissen, Haltungen, Weltbilder), die für Konsistenz (Passung) und Kohäsion (Zusammenhalt) des Divergenten sorgen, die die Kompetition und den Konflikt um zusammengelegte Ressourcen steuern und die Kommunikation zwischen den Akteuren und Stellen organisieren müssen. Allen "Ko-Begriffen" gemeinsam ist die Einsicht, dass Einzelne in modernen funktional differenzierten Gesellschaften, die von Großorganisationen beherrscht werden, nicht mehr als autarke Kreateure bzw. Destrukteure oder als reibungsarme Rädchen des Getriebes wirken können; sie sollen vielmehr als konstruktiv mitdenkende, selbstständige Unternehmer im Unternehmen agieren. Es geht weder um Passung, noch um Selbstverwirklichung, sondern um das engagierte Mitspielen in einer Mannschaft trotz - so Scholz - fehlender Stammplatzgarantie. Die Einzelnen setzen sich selbstständig miteinander in Beziehung oder in Verbindung. Die Aufgaben, die zu erledigen sind, kann ein Einzelner allein nicht mehr schaffen. An der Herausforderung einen DVD-Recorder zu bedienen, scheitern schon Viele, aber vermutlich gibt es niemand auf der Welt, der ihn allein, ohne auf Vorprodukte zurückzugreifen, herstellen könnte. Und das gilt auch (abgesehen von Primitivver- <?page no="222"?> 204 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ sionen, die keinen Vergleich aushalten mit einem avancierten Produkt) für Computer, Autos, Kühlschränke, Häuser oder auch nur Wasserhähne. Das 'in Verbindung sein' manifestiert sich in Kommunikation, Wissensaustausch, Erfahrungsweitergabe, Wertevermittlung, Normenübernahme, Regelbefolgung etc. Allein schon für die Funktion der Informationsbeschaffung über die 'Zustände der (inneren/ äußeren) Welt' haben Organisationen zahlreiche spezialisierte Stellen aufgebaut, die ihre Erkenntnisse regeltreu konstruieren, dokumentieren, interpretieren und weitergeben müssen. Akteure greifen dabei zurück auf Medien, die buchstäblich als Intermediäre zwischen ihnen als Sender und den Empfängern stehen und ebenfalls kollektiv produzierte gesellschaftliche Produkte und Institutionen sind. An erster Stelle ist (wie oben schon ausgeführt) Sprache zu nennen, aber auch alle anderen Formen der Aufbewahrung und Weitergabe von Information oder Wissen gehören hierher (Vorbilder, Produkte, Rituale, Symbole etc.). Organisation ist gleichbedeutend mit geregelter Vermittlung. So gesehen ist praktisch nichts individuelle Leistung: Von einem Alleinautor stammen weder Weltbilder, noch Werkzeuge und Werke (als Taten wie als Ergebnisse), Wissensarchive, Werte und Willensbildung - alle sind Koproduktionen. Die benötigte Zusammen-Arbeit ist ein höchst voraussetzungsvoller und störbarer Prozess (der deshalb auch Raum gibt für Mikropolitik). Aus Außen- und Gesamtsicht betrachtet existieren Unternehmen durch die aufrecht erhaltene Differenz zu ihrer Umwelt, in die sie eingebettet bleiben. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Exklusion und Inklusion setzt sich im Innenbereich fort. Individuelles Humankapital kann durch das Ausscheiden seines Trägers aus der Unternehmung verloren gehen, aber Sozial- oder Organisationskapital, das sich in Netzwerken, Sitten, Traditionen, Kultur und Atmosphäre etc. weniger materialisiert als symbolisiert, ist ein Verbundeffekt, der gegen den Ausfall einzelner absichert. Sozialkapital zerstört das individuelle, isolierte Humankapital nicht, sondern nutzt es für Synergieeffekte. Insofern geht es um die ständige Oszillation zwischen Trennung und Verbindung, Ausschluss (Behandlung als Umwelt, als Konkurrenz, als Privatleben) und Einschluss; das Ausgeschlossene wird im 're-entry' wieder eingeschlossen als das, woran sich letztlich alle Handlungen, Produkte und Gestaltungen orientieren und was sie deswegen 'beinhalten' müssen. Wenn 'corporate identity' bewahrt und zugleich die 'boundaryless organization' propagiert wird, wenn mit Wettbewerbern zugleich kooperiert und konkurriert wird (coopetition), wenn man mit Kollegen zusammenarbeiten und gleichzeitig <?page no="223"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 205 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ die eigene Sichtbarkeit erhöhen muss, wenn bei Kunden möglichst hohe Überschüsse erzielt und sie gleichzeitig langfristig gebunden werden sollen, wenn MitarbeiterInnen zu Intrapreneurship ermutigt ('empowered') werden und sie gleichzeitig berechenbar und planbar, also Mittel und Zweck sein sollen - dann sind dies Beispiele für das zentrale Problem des 'Spalte und Walte', das Unternehmen lösen müssen und das sie nicht optimal und dauerhaft bewältigen, wenn sie der einen Seite der jeweiligen Polarität den Vorzug geben. Weil es dabei keine programmierbare Lösung gibt, wird mikropolitisches Geschick relevant. Denn es geht um die kreative Schaffung von Ordnungen und deren Auflösung, um individuelle Interessen und gemeinsame Ergebnisse/ Ziele, um den Aufbau von Macht und das Rechnen mit Gegenmacht, um individuelle Auszeichnung und gemeinsamen Erfolg, um Grenzwächter und Brückenbauer oder Schleuser und nicht zuletzt: um Kooperation und Konkurrenz. Bei alledem können auch 'Intermediäre' eingeschaltet sein, die als Vermittler (Zwischenträger, Überbrücker, Spalter) und Medien (Verbindungswerkzeuge) wirken und die bei Bedarf und Absicht mikropolitisch - zur nachhaltigen Förderung der eigenen Interessen - nutzbar sind. Zum Pol "Konkurrenz" Wenn Gesellschaften im Allgemeinen und Organisationen im Besonderen Veranstaltungen der geregelten Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil sind, dann wirkt es widersinnig, diese Zusammenarbeit durch Ant-Agonisten in Bedrängnis zu bringen. Wird die heile Welt des Guten und Stimmigen 'plötzlich' von Wider-Spruch, Zersetzung, Spaltung und Kampf etc. bedroht, erscheint das als unerklärlicher Einbruch scheinbar sinnlos zerstörender Kräfte. Alle Weltauslegungen und Religionen suchen nach Rechtfertigung für die Schattenseiten der nachparadiesischen Existenz, die durch Krankheit, Sünde, Streit, Ausbeutung, Verbrechen, Krieg, Tod usw. gezeichnet ist, und verstehen diese 'Unvollkommenheiten' als Ergebnis des ewig tobenden Kampfs zwischen dem Guten und dem Bösen (Licht und Finsternis, Himmel und Hölle, Göttern und Teufeln usw.). Die Verklärung und Heiligsprechung von Einheit und Zusammenarbeit bewirken ungewollt deren Selbstzerstörung. Group think, Harmoniesucht, think positive, Konfliktscheu, Kritikverbot, etc. sind Erscheinungsformen und Konsequenzen einer organisierten Verleugnung von Differenzen, Widersprüchen, Eigenarten und Eigenwilligkeiten, Selbstsucht und Profilierungsstreben etc. Die Einsicht in die selektierenden und adaptiven Wirkungen des Kampfs ums Dasein und der <?page no="224"?> 206 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ schöpferischen Zerstörung hat ein Verständnis dafür geweckt, dass alle Zusammen-Arbeit sowohl begrenzt wie bedroht ist. Wenn einige oder viele zusammenarbeiten, bleiben immerhin andere ausgeschlossen, wenn es keinen Anreiz zur Exzellenz gibt, würden - um das Kant-Zitat zu wiederholen - "... in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben: die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sie weiden, würden ihrem Dasein kaum einen größeren Werth verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat" (Kant 1912/ 1784, 21). Organisation sorgen auch intern für Widerspruch und Gegensätze: sie stimulieren internen Wettbewerb, betreiben Produktkannibalismus, vergeben Belohnungen (Prämien, Entgelt, Beförderungen, Statussymbole) differentiell, installieren Verfahren der Prüfung und Kontrolle (Personalbeurteilung, Qualitätskontrolle, Controlling, Revision), um der Möglichkeit (oder den Auswüchsen) von Kumpanei und Komplizenwirtschaft zu begegnen, berufen Externe in ihre Aufsichtsgremien, holen sich unabhängige Berater, schaffen Nebenhierarchien (Betriebsrat), die wiederum durch externe Organisationen (Gewerkschaften) kontrolliert werden; der erklärte offizielle Arbeitskampf (Streik) und die vielen Formen des 'alltäglichen Arbeitskampfs' (Hoffmann 1981) zeigen, dass Wirgefühl und 'vertrauensvolle Zusammenarbeit' Idealisierungen sind, die aus systematischen Gründen als Dauerzustand unerreichbar bleiben. Es ist schon wiederholt angemerkt worden, dass mikropolitische Taktiken als 'Waffen' oder 'Kampfformen' eingesetzt werden; das bedeutet keineswegs den unaufhaltsamen Weg in Zerrüttung und Zerfall, sondern kann durch die Aktivierung der Gegen-Kräfte das Unternehmen agiler und fitter machen. Kooperation und Konkurrenz haben eine Schnittmenge mit einem weiteren Polaritätenpaar (Vernetzung und Vereinzelung, siehe S. 211ff.); die unterschiedliche Akzentsetzung erlaubt jedoch eine gesonderte Behandlung. 3.3.7. Extrinsische und intrinsische Motivation Synonyme: Fremdsteuerung und Selbststeuerung; Außenlenkung und Innenlenkung. Zum Pol "Intrinsische Motivation" Der Glaube an Motivation anderer ist Teil jener 'illusion of control', die vor allem Manager dazu drängt, sich als unbewegte Beweger zu imaginieren. Sie halten <?page no="225"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 207 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ sich für die Marionettenspieler, die die Abhängigen am, wenn auch langen Faden, tanzen lassen. Moderner ausgedrückt: Sie sind im Besitz der Fernbedienung oder des Joy Sticks: Sie wählen das Programm, das gespielt werden soll und sie kontrollieren, wie gespielt wird. Motiviertsein (sei es auf Grund von Fremd- oder Selbststeuerung) ist denknotwendige Voraussetzung dafür, dass menschliche Arbeitskraft aktiviert wird. Denn für das Unternehmen 'Unternehmung' sind zwei genuin motivationale Probleme zu lösen: Zum einen müssen Arbeitskräfte gewonnen werden und - wenn ihre Teilnahmeentscheidung gefallen ist - muss zweitens und zusätzlich gewährleistet sein, dass das kontrahierte Arbeitsvermögen in Arbeitsleistung transformiert wird und zwar immer wieder, möglichst gehorsam, gelehrig, verlässlich und kostengünstig. Das auch ansonsten vorherrschende Operationsschema der Ökonomie - rationale Nutzenkalküle - wurde auch auf das Motivationsproblem angewandt und als Anreiz-Beitrags-Modell bekannt: Je attraktiver die 'Anreize' sind, die die Unternehmung zu bieten hat, desto höher werden die 'Beiträge' sein, die die Mitarbeiter liefern. Unternehmen suchen sich vor der selbst erzeugten Komplexität, Störbarkeit und Kostenintensität des Anreiz-Beitrags-Schemas durch einen genialen Trick zu retten. Sie ersetzen extrinsische Motivation durch intrinsische. Nicht mehr Entgelt, Karriere, Arbeitsbedingungen, Lob, Arbeitszeitregimes sind die Währung, in der der Arbeitgeber zahlt. Er bezahlt überhaupt nicht mehr, denn der Mitarbeiter bezahlt sich selbst. In ihm glüht oder brennt die Leidenschaft sein Bestes geben zu dürfen für eine interessante Aufgabe, für ein wertvolles Ziel, für eine großartige Unternehmung. Arbeitsfreude (Spaß), Flow-Erlebnisse, Selbst-Entwicklung, Lernchancen, Wertsteigerung für den Arbeitsmarkt (employability), Vertrauen und Eigenverantwortung sind die Stimulanzien, die die Krämergesinnung des Anreiz- Beitrags-Kalküls ersetzen. Sie sind selbstdesignte Drogen, die süchtig machen sollen für das geforderte Mehr - Schneller - Besser - Billiger. Ohne derartige Rauschmittel ist das Organisationsleben anscheinend nicht (so gut) auszuhalten. Hellhörig macht die Substitutionsunterstellung, die plakativ in Umfragen 'bestätigt' wird: Ihnen zufolge legen Mitarbeiter keinen großen Wert auf die Einkommenshöhe und Karrierechancen, wichtiger sind ihnen bedeutsame, herausfordernde Arbeit, Mitsprachemöglichkeit, als Person respektiert werden etc. Diese Erkenntnis (und der in ihr enthaltene Umsetzungsappell) wird gern von jenen SpitzenmanagerInnen verbreitet, die sich ziemlich ungeniert bereichern, geldlich, <?page no="226"?> 208 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ wohlgemerkt, nicht an inneren Werten. Oder sollte es ab einer bestimmten Höhe intrinsischer Motivation zu einem Kipp-Effekt kommen? Vielleicht ist ihre intrinsische Motivation gewährleistet und/ oder nicht mehr steigerbar (Führungskräfte haben - in Herzbergs Worten - den Generator installiert), sodass der Grenznutzen einer zusätzlichen Einheit Geld höher ist als die ohnehin kaum noch steigerbare Ausweitung der Interessantheit der Arbeit. Dabei wird 'Geld' nicht als Kauf-Kraft gesehen, sondern als Statussymbol, Machtausweis, Wichtigkeitsindikator usw. Zudem sind Spaß, Interesse, Herausforderung, Befriedigung etc. keine objektiven Größen, sondern abhängig vom individuellen Bezugssystem des Subjekts. Dieses ist nicht rein idiosynkratisch, sondern ein Sozialisationsprodukt, sodass vordefiniert ist, in welchen Kategorien abgerechnet wird und wie sie ineinander konvertierbar sind [z.B. Geld, Arbeitszeit, Status(symbole), hierarchische Position, Kompetenzen]. Weil die bestmögliche Mischung und Priorisierung dieser 'Anreize' nicht ohne weiteres für alle generalisiert werden kann, ist es treffsicherer individuelle Wahlmöglichkeiten zur bevorzugten Zusammenstellung des 'Menüs' einzuräumen (Cafeteria-Systeme). Dabei entstehen und bestehen Ungewissheitszonen und (Ver-)Handlungsspielräume, die mikropolitisch genutzt werden können. Zum Pol "Extrinsische Motivation" Bei allen Argumenten für intrinsische Motivation (s. Deci & Ryan, Frey & Osterloh etc.) ist zu berücksichtigen, dass kein Autor so unrealistisch ist für die Abschaffung extrinsischer Motivatoren zu plädieren (siehe dazu auch die Argumente in Beleg 3-3). Der Versuch ein Wirtschaftsunternehmen ohne sie zu betreiben, wäre vermutlich schon am ersten Tag beendet; etwas länger käme man wohl ohne intrinsische aus. Die Debatte geht eher darum, mit welcher der beiden Methoden man (bei welchen Personen, auf Dauer, kostengünstiger, ohne Nebenwirkungen, gezielt) mehr herausholen kann. Für extrinsische Motivation spricht, dass sie abstufbar, häufig monetarisierbar, vor allem aber leichter zu verknappen und gezielter einzusetzen ist. Nicht zuletzt folgt sie Organisationsprinzipien der Gesellschaft, in der sie wirkt. Wenn Geld, Ansehen, Rang, (Frei-)Zeit etc. in der Gesellschaft nichts wert (kein Wert) wären, könnte man damit innerhalb von Unternehmen auch nicht motivieren. Insofern spiegeln Unternehmen die Gesellschaft, in der sie operieren - und es ist weltfern <?page no="227"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 209 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 3-3: Argumente gegen und für extrinsische Motivation "Die gesamte Managementtheorie lebt von der Analogisierung der Mitarbeiterführung mit der Kindererziehung. … Und was findet man da? Bedrohen, Bestrafen, Bestechen, Belohnen und Belobigen. ... Was sind die Spät- und Nebenfolgen? Schaut man sich diese einmal näher an, dann stellt man fest: - bei extrinsischer Gratifikation muss man das Reizniveau permanent erhöhen; - mit extrinsischer Gratifikation wird die intrinsische Motivation verdrängt; - das Kooperationsklima leidet unter extrinsischer Gratifikation; - jede Prämie wird früher oder später zur Rente; - je mehr versucht wird, Motivation mit extrinsischer Gratifikation zu erzeugen, desto mehr werden einfache, quantitative, kurzfristig lösbare Aufgaben bevorzugt werden, während alles Schwierige, Qualitative, Langfristige tendenziell ignoriert wird. Schaut man sich diese Spät und Nebenwirkungen an, so könnte man mit Karl Kraus sagen: Motivierung ist die Krankheit, für deren Heilung sie sich hält." (Sprenger 2000, 230f.) Konsequenzen extrinsischer Motivation - Belohnungen schwächen die Risikofreude, weil sie die Aufmerksamkeit von der Tätigkeit auf die Belohnung lenken. Ziel ist nicht mehr eine kreative Tätigkeit, sondern das Erlangen der Belohnung. - Belohnungen untergraben das Interesse an der Arbeit, weil sie als Manipulationsversuch 'von oben' bzw. als Fremdsteuerung wahrgenommen werden. (Siehe das vielzitierte Rasenmähen-Beispiel: ein Vater, der seinem Sohn fürs spontane Rasenmähen 5 € schenkt, muss damit rechnen, dass der Sohn nie mehr aus freien Stücken Rasen mäht). - Belohnungen vergiften das Klima, weil sie die Konkurrenz zwischen den MitarbeiterInnen/ Gruppen/ Abteilungen schüren; sie tragen dazu bei, dass bestehende Probleme verborgen werden (um die Belohnung nicht zu gefährden). - Belohnungen missachten Ursache und Wirkung und verhindern/ erschweren die (mühselige) Suche nach den Gründen für schlechte Leistungen. - Belohnungen wirken als Strafe: Wenn sie als gerechtfertigt empfunden werden und dann aber ausbleiben, wirkt dieses Ausbleiben demoralisierend (Kohn 1993, zit. in Kuhn 2000, 136). - eingeschränkte Selbstbestimmung: Extrinsische Belohnungen bestärken das Gefühl der Fremdbestimmung - und verdrängen so die intrinsische Motivation; - verminderte Selbsteinschätzung: Extrinsische Belohnungen vermitteln das Gefühl, dass eine vorhandene intrinsische Motivation nicht gewürdigt wird und gezeigtes Engagement nicht (wert-)geschätzt wird; <?page no="228"?> 210 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - Überveranlassung: Wenn eine Person (ohnehin) schon durch extrinsische Belohnungen motiviert wird, kann sie es sich ersparen, auch noch intrinsisch motiviert zu sein; - beschränkte Ausdrucksmöglichkeit: Extrinsische Belohnungen nehmen der Person die Möglichkeit, ihre intrinsische Motivation auszuleben und nach außen deutlich zu machen, weshalb sie sich in Zukunft auf extrinsische Belohnungen beschränken wird (Frey 1997, zit. in Kuhn 2000, 136f.). Kritik der Kritik an der extrinsischen Motivation - Der Kontext der Erwerbstätigkeit wird außer Acht gelassen: Geld ist generelles Tausch- und Kommunikationsmedium und somit Pauschalmotivator. - Finanzielle Belohnung ist - à la Maslow - aus existenziellen Gründen basal: erst wenn ein befriedigendes Niveau gesichert ist, bleibt Spielraum für andere, intrinsische Motive (hier liegen Grenzen des Rasenmäher-Beispiels). - Geld ist Anerkennung, die einem von jemand für etwas gegeben oder vorenthalten wird. Anerkennung ist für die Konstitution des Selbst(bildes) unverzichtbar. - Geld ist Symbol: Jeder extrinsische Motivator hat auch eine intrinsische Komponente (Aussage über bzw. Bestätigung von Selbstwert, Tüchtigkeit, Leistungsbeitrag usw.). - Das Konzept der 'intrinsischen' Motivation (Selbst-Motivation? ) ist so vieldeutig und vage, dass es nicht als Kontrast zum 'extrinsischen' Motivieren taugt. - Nicht die Belohnung ist entscheidend, sondern das Belohnen, also die Praxis der Administration. Ist die Belohnungsvergabe gekoppelt an enge Überwachung, Abhängigkeitsverhältnisse, pedantische Dosierung etc., dann sind es diese Charakteristika, die wirken und nicht die Art und Höhe der Belohnung. - Extrinsisches Belohnen macht Kontingenzen deutlich. Fremdes Feedback kann nicht durch 'Selbsterfahrung' ersetzt werden. Selbstmotivation löst sich von der 'Realität' und schafft sich eine eigene illusionäre Welt (siehe die gegen die Motivationsgurus gemünzte These Scheichs: Positives Denken macht krank! ). oder verlogen, im Unternehmen potente gesellschaftliche Belohnungsschemata außer Kraft setzen und durch systemfremde (private, familiäre) Optionen substituieren zu wollen. Beispiel Geld: Geld allein macht nicht glücklich; allein ohne Geld kann man in unserer Gesellschaft praktisch nicht existieren. Wer nicht selbst Unternehmer ist, muss mit abhängiger Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen und nur der, dessen Basiseinkommen gesichert ist, kann sich gegebenenfalls den Luxus leisten, auf mehr Geld zu verzichten, um dafür Arbeitsfreude, Lebenssinn, Beziehungsqualität usw. einzutauschen. Man darf sich jedoch nicht in die Entweder-Oder-Opposition hineinlocken lassen, denn es ist höchst problematisch, extrinsische und intrinsische Motivationsmittel gegeneinander auszu- <?page no="229"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 211 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ spielen. Wenn aber beides nötig ist, werden Mischungsverhältnis und Einsatzweise zum Thema. Damit entstehen Ungewissheitszonen und mikropolitischer Manövrierraum. Gegenüber den intrinsischen Motiven, die von außen nur indirekt und ungenau beeinflussbar sind, bieten extrinsische Motivatoren mehr Ansatzpunkte für eine mikropolitische Instrumentalisierung: - Der Ressourcen-Pool, der für die Motivation geschaffen werden muss, weckt Begehrlichkeiten (Zugriff, Verteilungsrechte = Macht, Selbstbedienung), die gelenkt werden können; - mit der Definition und Messung dessen, was belohnungswürdig ist, können nützliche Akzente gesetzt werden; - die Definition verschiedener Klassen von Äquivalenzregeln (Fairness, Vergleichbarkeit, Normalität etc.) bietet die Möglichkeit Prinzipal-Interessen strukturell zu verankern oder Agent-Interessen subversiv geltend zu machen; - die Handhabung der Regeln kann mit nützlichem Augenmaß, hilfreicher Intransparenz und Gewinn bringenden Ausnahmen erfolgen; - aus alledem entstehen Abhängigkeiten, die sich für eigene Vorhaben nutzen lassen. Ressourcen, vor allem intangible und intrinsische, sind nicht als quasi fixes Repertoire 'da', aus dem man wie der Maler aus seinen Grundfarben jeglichen beliebigen Ton mischen kann, sondern werden durch eine reflexive interaktive Praxis erzeugt. Arbeitsfreude z.B. ist etwas, das nicht rein individualistisch, losgelöst von objektiven Arbeitsbedingungen ent- oder besteht; sie ist ein Interaktions- Produkt. Deshalb ist sie keine rein intrinsische Qualität (als solche würde sie sich nämlich den psychopathologischen Grenzbedingungen abgekoppelter Eigenwelten annähern, wie sie für Psychosen typisch sind). Andererseits kann auch Geld nicht als der extrinsische Parade-Motivator denunziert werden, weil auch Geld ein Symbol ist (z.B. für Anerkennung, Wertschätzung eines Beitrags, Unersetzlichkeit etc.). Gerade weil Motivation eine Ko-Produktion ist, qualifiziert sie sich in hervorragender Weise für mikropolitischen Gebrauch. 3.3.8. Vernetzung und Vereinzelung Synonyme: Zusammenhalt und Unabhängigkeit; Koalition und Individualisierung; Vereinigung (Allianz, Union) und Isolierung; Kontakte/ Beziehungen und Distanzierung; Communities of Practice und Einzelkämpfertum ... <?page no="230"?> 212 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zum Pol "Vernetzung" 'Formalisierung' (Anwendung verallgemeinerter Schemata) und 'Technisierung' sind Beispiele für apersonale Lösungen des Kooperationsproblems in Organisationen. Sie sind fokussiert auf fachliche Probleme, Aufgaben, Entscheidungen, Verfahren, Rollen usw. und lassen mit ihrer Konzentration auf die Sache ('Es') unbeachtet, dass es um mehr geht, nämlich - um es in der Sprache der Themenzentrierten Interaktion auszudrücken - um die in einen Umweltkontext eingebettete Trias 'Ich - Wir - Es': Ein Handelnder (Ich) bewältigt mit (bzw. für, gegen, unter Beobachtung von) Andere(n) (Wir) eine Aufgabe (Es). Beziehungsnetze (in ihrer verdichteten Form: Koalitionen) haben neben ihrer Außenauch eine Innenseite; sie sind Bündnisse, die Bündelungen vornehmen. Es werden auf Zeit Ressourcen zusammengelegt, damit die so gestärkte Einheit fremde Übermacht abwehren oder Unterlegenen das eigene Interesse aufzwingen kann. In Koalitionsvereinbarungen wird mehr oder weniger formell festgelegt, wer was für welchen Zweck und wie lange einbringt (und welche frühere 'connection' damit ersetzt). Auch hier kann man nicht als Normalfall ansetzen, dass alle Beteiligten ihre Karten offen auf den Tisch legen, denn jede Bindung von Ressourcen entzieht sie alternativen Verwendungen, die aber - damit der Akteur begehrt und umworben bleibt, seinen Marktwert steigern und exklusive Abhängigkeit vermeiden kann - nicht ausgeschlossen, sondern nur suspendiert werden. Er behält die Möglichkeit, (bald, später, danach) mit Anderen vielleicht bessere Geschäfte machen zu können. Alle Netzwerke und Koalitionen sind von Zerfall und Auflösung bedroht und es kostet einen Preis, diesen Prozess eine Zeitlang aufzuhalten. Wenn Totalkontrolle unmöglich und zumindest unökonomisch ist, muss Vertrauen aufgebaut werden (damit z.B. die Anderen die 'Koalitionsvereinbarungen' einhalten, nicht abspringen, kein doppeltes Spiel treiben). Allerdings regiert auch hier eine prekäre Balance von Vertrauen und Misstrauen; alle Transaktionen akribisch zu überwachen und zu protokollieren, würde die Kosten ins Astronomische steigern; aber gutgläubig allein auf Vertrauen zu setzen, wäre eine riskante Strategie. Meist wird genau geregelt, wer als 'Sprecher' der Koalition auftreten und deren gemeinsame Interessen artikulieren darf. Es gibt aber noch eine Sonderform der Koalition, bei der die Sprecherrolle höheren Werten zugeschrieben wird: man 'identifiziert' sich mit ihnen (z.B. den Firmengrundsätzen oder den 'Gesetzen der Marktwirtschaft', heiligen Traditionen, allen Rechtgläubigen, dem gesunden Volksempfinden etc.) und erhält dann durch Assoziation mit den höheren Werten den Auftrag <?page no="231"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 213 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ oder das Recht, Forderungen zu stellen oder Handlungen zu verweigern. Diese Werte-Gemeinschaft erinnert daran, dass Organisationen nicht aus Menschen oder Gruppen zusammengesetzt sind, sondern aus typisierten kommunizierten Erwartungen, zu denen auch gehört, sich an Regeln, Normen und Werte zu halten. Dieses Netz normativer Verpflichtungen ist genauso dicht geflochten wie jenes, das die Erwartungen von oder an Personen oder Rollen thematisiert. Für politisches Taktieren ist nicht nur die 'starke' Form der Koalition interessant, sondern auch die schwache der Beziehung. Jemand kennen, zu ihm Zugang haben, seine Aufmerksamkeit finden und ihn als Informant, Türöffner oder Multiplikator nutzen können, stellt zwar keine dauerhafte 'Bündelung/ Bindung' dar, erfordert aber ebenfalls eine letztlich durch die Reziprozitätsnorm gedeckte zweiseitige Tauschrelation (wobei nicht nur Information gegen Information, sondern auch Information gegen Anerkennung, Zeit gegen Identitätsform usw. getauscht werden können). Der Spruch "Freundschaften muss man schließen und pflegen, bevor man sie braucht" weist auf den Investitionscharakter von 'Beziehungsmanagement' hin (das z.B. im Customer Relationship Management eine formelle Funktionalisierung gefunden hat); andererseits gibt es auch 'Beziehungsopportunismus' (siehe Schiffinger 2002), der durch hohe Volatilität charakterisiert ist, die verschleiert werden muss, soll die 'benutzte' andere Seite nicht mit derselben Strategie vergelten. Wegen der geringeren Investitionen können Beziehungsnetze weiter ausgedehnt sein als Koalitionen, allerdings werden sie auch leichter unübersichtlich und es kann - geht man von den in Gruppendynamik und Familientherapie diskutierten (un-)balancierten Dreiecken aus - einerseits gefährlich sein, den Freund eines Feindes zum Freund zu haben, andererseits aber auch unübliche Informationsquellen und Ressourcen erschließen. Ähnliches gilt für die mikropolitische Taktik 'Einschmeicheln' (Ingratiation). Sie ist buchstäblich Beziehungs-Pflege und kann nur wirken, wenn Akteur und Zielperson über den Tag hinaus (einander) verbunden sind. Alle Subtaktiken (z.B. Eigenwerbung, Gefälligkeiten erweisen, Unterwürfigkeit zeigen, Einschüchtern, Vorbild sein etc.) setzen voraus, dass die Zielperson nicht nur 'target' ist, sondern ihrerseits (re-)agiert, und dass damit weder ein einbahniger Transfer-, noch ein singulärer Transaktions-, sondern ein dauerhafter zweiseitiger Interaktionsprozess angestoßen und aufrechterhalten wird. Und dabei darf man nicht vergessen, dass wie bei jedem Tauschhandel das Einschmeicheln Freiheitsgrade verringert. Jemand sich verpflichten, heißt auch sich jemandem verpflichten. Beispiele für Zwischenformen zwischen den Extremen der Koalition und des Kontakts bzw. Kontaktnetzes sind Mentoren- oder Sponsorenbeziehungen (s. Blickle, <?page no="232"?> 214 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Kuhnert & Rieck 2003), bei denen auf Zeit und zum gegenseitigen Vorteil eine asymmetrische Beziehung etabliert wird, die zwar nicht altruistisch ist, aber auch nicht auf sofortigen Kontenausgleich bedacht ist. Wichtig ist, dass von beiden Seiten bindende(! ), in- und exkludierende Verpflichtungen eingegangen werden. Der Profiteur ist dabei zunächst der Beratene oder Protegé, weil er mit einem gewährten Kredit (geliehene Autorität oder andere geliehene Ressourcen) handeln kann. Aber letztlich muss der Empfänger, wenngleich vielleicht in anderer Münze (Loyalität, Information, Dankbarkeit, Wertschätzung usw.) zurückzahlen. Solche privilegierten Beziehungen werden beobachtet, interpretiert, beneidet, sabotiert - kurzum: sie sind Gegenstand weiterer Aufmerksamkeit und bekämpfender, neutralisierender oder imitierender Antwortstrategien. Denn auch hier gilt: jede Beziehung ist definitionsgemäß exklusiv und der Ausschluss eine potenzielle Benachteiligung. Wer sich z.B. im Old Boys Network wohlfühlt, vergisst allzu leicht, dass sich Frauen als Ausgeschlossene diskriminiert sehen und mit dem Aufbau eigener Netzwerke oder unbequemeren formalisierten Strategien (z.B. gender mainstreaming) kontern oder ihre Talente anderswo investieren können. Mikropolitische Interventionen können an allen Charakteristika von Beziehungsnetzwerken und Koalitionen ansetzen (Marginalität/ Zentralität, Verbindungsdichte, Zugänglichkeit, Verbindlichkeitsgrad, Inklusion/ Exklusion, Aktivierbarkeit von Beziehungen, Investitionsvolumen und -zeitraum, Rückzahlungsmodus, Vertrauen-Misstrauen-Balance …). Auch die scheinbar rein rational kalkulierende Einflussstrategie 'Tauschhandel' enthält ein Beziehungselement. Das Konzept des Spot- Markts (Käufer und Verkäufer begegnen sich ohne gemeinsame Vorgeschichte und Zukunft und schließen einen einmaligen Vertrag) ist schon für Markttransaktionen unrealistisch restriktiv, noch praxisferner aber für intraorganisationale. Denn in Unternehmen geht es typischerweise um Folgegeschäfte und man soll die Kuh nicht schlachten, die man melken will. Substitute für die sofortige Hinterlegung des Kaufpreises sind in Organisationen Garantien, Pfänder, Selbstverpflichtungen, Vertrauenssignale, Reputationsaufbau (z.B. Image als 'solider ehrbarer Kaufmann'), Überkreuz-Verflechtungen und -Abhängigkeiten etc. Als politische Einflussstrategie ist 'Tauschhandel' ein interessantes, weil dehnbares Sujet, das fließende Übergänge auf verschiedene Dimensionen erlaubt, etwa legal - illegal (z.B. Korruption, Bestechung), offen - verborgen (Nebenabreden, Geheimabsprachen), fair - unfair (Hereinlegen, Betrügen), freiwillig - gezwungen (Erpressung), symmetrisch - asymmetrisch (Übervorteilung), vertragstreu - vertragsbrechend (auf Pump leben, Vorleistungen nicht erwidern) usw. Wie schon gesagt: Ein Medika- <?page no="233"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 215 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ment mit starken Wirkungen hat auch starke Nebenwirkungen und Missbrauchsmöglichkeiten. Zum Pol "Vereinzelung" Der private (wörtlich genommen: von anderen abgetrennte, aller Kontakte beraubte) Akteur als autonomes Subjekt ist Ausnahme und Grenzfall. Ein facettenreicheres und komplexeres Bild ergibt sich, wenn man davon ausgeht, dass Wirklichkeit immer sozial konstruiert und somit eine Ko-Produktion zusammen mit anderen ist. Diese Anderen treten in zweierlei Form auf: als generalisierte Andere (die Gesellschaft, das Kollektiv) und als konkrete Andere (die Kollegin, der Vorgesetze, die Mitarbeiter in einer Projektgruppe etc.). Organisation ist Ausdruck und Formung dieser Doppelbeziehung. Einerseits ist jedes Unternehmensmitglied - siehe Formalisierung - allgemein gültigen Regeln und Normen unterworfen ('ohne Ansehen der Person'), andererseits sieht sich jeder Einzelne mit konkreten, einmaligen anderen Subjekten (Seinesgleichen) konfrontiert, die ihre Eigenheiten und Marotten, individuelles Wissen und Können, spezifische Beziehungen und Ressourcen haben, die einem sympathisch oder unsympathisch sind, die zugänglich oder abweisend sind - kurz: deren Besonderheiten höchst relevant sind. Sie allesamt über das Pauschalmerkmal 'Unternehmensmitglied' zu verrechnen, würde auf Einsichten von hoher Erklärungs- und Gestaltungskraft verzichten. Der einzelne Mensch ist viel zu komplex, als dass er je in seiner Ganzheit und Einmaligkeit erfasst werden könnte. Er ist vielmehr definiert (also: begrenzt & bestimmt) durch die besonderen Beziehungen, die er mit anderen unterhält. So paradox es klingt: Seinen Eigenwert erhält der Einzelne durch die Anderen, durch Zugehörigkeit zu oder Ausschluss aus Gruppen, Netzwerken, Koalitionen. Entscheidend ist nicht, wer man 'in Wahrheit' oder 'eigentlich' ist, sondern wie man gesehen, wozu man gebraucht, mit wem man assoziiert wird, zu wem man gehört. Das wirkt sich auch auf das scheinbar sachliche Moment der 'Information' aus: Weil in den meisten Fällen Informationen nicht selbst generiert, sondern mitgeteilt werden, kommt es für den Nutzwert von Informationen auf den Mitteilenden an, auf seine Glaubwürdigkeit, seine Intentionen, seine Expertise, seine Vorurteile, seine Stellung usw. Ähnliches gilt auch für die Adressaten einer Information: es ist wichtig, dass sie bestimmte Leute erreicht und dass sie für diese anschlussfähig ist, also verstanden, gebraucht, genossen, ausgebaut etc. wird. Zu Sitzungen eingeladen werden, auf dem Verteiler stehen, einem höheren Vorgesetzten berichten können/ müssen, in Kollegentratsch (Buschtrommel) einbezogen <?page no="234"?> 216 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ werden, Gerüchte erfahren oder gezielt lancieren können, die Vorlieben, Empfindlichkeiten, Beziehungen eines Adressaten kennen etc. - all das ist wichtig, wenn man in Organisationen reüssieren will. Auch scheinbar 'rein individuelles' Handeln in Unternehmen hat Bedingungen in Anderen und Folgen für Andere, denn jeder Akteur beobachtet und wird beobachtet; zudem schließt jedes Handeln unweigerlich an anderes Handeln (Handeln Anderer) an und wird in deren Handlungsnetze einbezogen. In Unternehmen haben Autisten kaum Chancen. Vielmehr muss "relationale Kompetenz" entwickelt werden: "Diese Kompetenz ist zuallererst persönlich: Sie entspricht dem individuellen und fortschreitenden Erlernen […] einer Fähigkeit die Beziehungen zu einem anderen aufzubauen, Austausch zu konstruieren, sich in Verhandlungen zu platzieren, Situationen persönlicher Abhängigkeit zu akzeptieren und auf sich zu nehmen, sowie die von einem Handlungsfeld gebotenen Gelegenheiten (mit den damit verbundenen Risiken) zu nutzen […] Das besagt, dass Gruppen, Organisationen, das kollektive Gewebe einer Gesellschaft analysiert werden können als eine Art 'relationales Kapital', das nicht auf individuelle Fähigkeiten zurückführbar ist und auf das die Individuen zugreifen, wenn immer sie an kollektivem Handeln teilhaben […] Eine Gruppe, die unter den Bedingungen des Handelns, d.h. in den materiellen und relationalen Beschränkungen ihrer Situation, gelernt hat, die von ihrer Existenz und ihrem Handeln als Gruppe nicht zu trennenden Konflikte, Spannungen, Verhandlungen und Macht- und Konkurrenzbeziehungen zu steuern und in gewisser Weise zu domestizieren anstatt sie zu ersticken, hat aus diesem Grund eine eigentlich kollektive kulturelle Fähigkeit erworben" (Friedberg 1995, 287ff.). Umfassende Relationierung heißt nicht, dass jeder Knoten im Netz mit allen anderen Knoten verbunden ist, ganz im Gegenteil. Es gibt eng und locker verkoppelte Subsysteme. Grenzen und Kommunikationsbarrieren oder -abbruch sind Vorbedingungen organisationalen Funktionierens; wäre alles mit allem gleichstark verbunden, wäre ein System handlungs- oder bewegungsunfähig, weil jede einzelne Aktion alle anderen Aktionen und Akteure irritieren würde. Die Rede vom 'Blick auf das Ganze' oder 'Ganzheitlichem Management' ist bestenfalls metaphorisch zu verstehen als 'Blick über die Grenzen' (wo man aber nur das sehen wird, was man schon kennt). Handeln ist deshalb notwendigerweise ein gut Stück rück- und vorsichtslos. In einer gruppendynamischen oder systemischen Übung wird die Schwierigkeit, die eine enge Vernetzung mit sich bringt ganz konkret mit Hilfe eines "Netzes" von Seilen illustriert, mit denen innerhalb einer 5-6-Personen-Gruppe jeder mit jedem verbunden ist. Instruktion ist, dass die Einzelnen (die gemeinsame, aber auch individuelle Ziele - im Raum deponierte Objekte - haben) möglichst schnell ihre Ziele erreichen sollen. Ähnliche Erfahrungen vermittelt auch Simons Übung (Simon 2004), bei <?page no="235"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 217 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ der sich mehrere Akteure auf einer schwankenden (nur im Mittelpunkt unterstützten Platte) sehen und die Aufgabe haben, sich aufeinander zu- und voneinander wegzubewegen und die Platte im Gleichgewicht zu halten. Puffer, Abschottungen und Exklusionen erweisen sich als außerordentlich hilfreich - und genau dies ist eine Einfallspforte für Mikropolitik. Eine neue Beziehung herstellen, heißt die Identität des alten Netzes zumindest vorübergehend zu gefährden. Das Ergebnis ist offen: es kann Assimilation des Neuen oder Akkommodation ans Neue sein. Solche Veränderungen könnten die Gründe für Umstrukturierungen, Fusionen oder Ein- und Ausgliederungen sein. Auch das Ausgegliederte hat grundsätzlich das Potenzial zur (Wieder-)Eingliederung, die durch Schnittstellen, Liason-Funktionen, Vermittler, Broker, Parasiten etc. besorgt werden kann. Man kann es noch radikaler formulieren: Das Ausgeschlossene ist/ bleibt eingeschlossen, das Verinnerte bewahrt das Wissen um das Veräußerte. Wenn z.B. dekretiert wird, dass bestimmte Charaktere 'nicht zu uns passen', dann muss intern ein Identifikationsschema verfügbar sein, das sicherstellt, dass die Richtigen, also die Falschen, ferngehalten werden. 3.3.9. Facta und Ficta (Faktizität und Fiktionalität) Synonyme: Realität und Fiktion; Tatsachen und Symbolisierung; Rationalität und Rationalisierung; Daten und (De-)Konstruktionen; Materialität und Idealität; Entdecken und Erfinden. Zum Pol "Facta" Organisation leben von und mit der Fiktion, effizientes Handeln gründe sich auf Fakten. Für den, der Entscheidungen zu treffen hat, sind 'Fakten, Fakten, Fakten' das, was für den Wüstendurchquerer Wasser ist. Aber wie oft gaukelt eine Fata Morgana dem Verdurstenden Wasser nur vor? Dass der Alleinseligmachungsanspruch faktenbasierter Rationalität ins Wanken kommt, deutet sich schon in der ambivalenten, reservierten Akzeptanz von Entscheidungen an, die spontan, intuitiv, 'aus dem Bauch' getroffen werden. Wer das für sich in Anspruch nimmt, muss den empirischen Beweis nachreichen: Erfolg. Ansonsten kommt der, dessen Visionen(! ) gestern noch gefeiert wurden, heute schnell in den Verruf Traumtänzer, Unbelehrbarer, Wahnwitziger oder gar Wahnsinniger zu sein. <?page no="236"?> 218 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Rationales Entscheiden hat als seinen Ausgangspunkt die 'nüchterne', sachliche Situationsanalyse, in der dingfest gemacht wird, was der Fall ist. Erst wenn die Lage kartografiert ist, kann man sich auf die Reise zum Ziel machen und die Soll-Ist- Diskrepanz überwinden. Diese Lagebeurteilung ist notwendigerweise unvollkommen. Um es mittels einer neurologischen Analogie zu veranschaulichen: Unser Gehirn ist nicht darauf angelegt, die "Wirklichkeit" korrekt zu erfassen; sie ist viel zu komplex und in ihrer differenzlosen Gesamtheit buchstäblich sinnlos. Sinn hat/ macht nur eine Selektion, die in Beziehung gesetzt wird zu etwas Anderem. Deswegen arbeiten wir mit Modellen, die lediglich funktionieren, nicht aber wahr sein müssen 49 . Wie das Gehirn, so funktioniert offenbar auch die Unternehmung: sie beschäftigt sich - allen Behauptungen von Kundenorientierung etc. zum Trotz - weitgehend mit sich selbst. Sie muss intern Operationen und Modelle ausbilden, mit deren Hilfe sie reale Komplexität zwar nicht beherrschen, aber doch selektiv handhaben kann - und Rückmeldungen zeigen ihr, ob sie vernünftigerweise wie gewohnt weitermachen kann oder besser andere Optionen ausprobieren sollte. Das bedeutet, dass Daten und Informationen nur etwas wert sind, wenn sie verbunden sind mit anderen Daten. Der häufige Vorwurf gegen eine Information, die einem nicht passt, sie sei aus dem Zusammenhang gerissen, macht einerseits deutlich, dass es immer auf In-Beziehung-setzen, Vergleichen und Rahmung ankommt und andererseits verleugnet er die Einsicht, dass es anders gar nicht geht: Jedes Datum (Singular! ) ist aus dem Zusammenhang gerissen, weil wie gesagt das Ganze prinzipiell sowohl sinnlos wie unzugänglich ist. Also muss, wer Informationen liefert (d.h. Unterscheidungen macht), beide Seiten der Unterscheidung präsentieren. Meist wird aber das Milieu, aus dem die Form ausgeschnitten wird, als bekannt vorausgesetzt und dabei wird außer Acht gelassen, dass verschiedene Beobachter oder Akteure in unterschiedlichen Milieus zu Hause sind. Man kann nur verstehen, was 'in Ordnung' ist; fehlt diese Ordnung oder haben Rezipienten völlig verschiedene Ordnungsraster vor Augen, kann ein Datum nicht konsensuell oder eindeutig 'eingeordnet' werden. Das macht verständlich, warum in Unternehmen ein so großer Wert gelegt wird auf übereinstimmende Sichtweisen (gemeinsame Ziele, geteilte Werte, bekannte und akzeptierte Regeln und Rollen, einheitliche Unternehmenskultur etc.). Chaoten und 49 "Legt man die … Gesamtzahl der Neuronen im Kortex des Menschen in der Größenordnung von 2 mal 10 10 zu Grunde, so besteht das Gehirn nur zu 0,1% aus Neuronen, die direkt sensorisch oder direkt motorisch sind … Anders ausgedrückt: 99,9% aller kortikalen Neuronen erhalten ihren Input von anderen kortikalen Neuronen und liefern ihren Output an andere kortikale Neuronen. Überspitzt ausgedrückt: Unser Gehirn beschäftigt sich fast ausschließlich mit sich selbst" (Spitzer 2000, 135). <?page no="237"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 219 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Nonkonformisten stören und werden eliminiert. Das Steuerungsprinzip Hierarchie ist z.B. eine der Einrichtungen, die garantieren sollen, dass irgendwann ein Machtwort gesprochen werden kann, wie etwas zu sehen ist und zu geschehen hat. Wenn der übliche Kennziffern-Salat ordentlich strukturiert ist (wie z.B. in einer Balanced Scorecard), dann erst glaubt man zu wissen, was ein Fakt bedeutet und vor allem damit erst scheint die Grundlage für gezielte(! ) Steuerung gegeben. Dass die BSC selber wiederum eine relativ willkürliche Konvention ist, stört dabei nur die notorischen Zweifler, die der BSC-Glaubensgemeinschaft ohnehin als weltfern gelten, weil sie zu pragmatischen Lösungen nicht im Stande sind. Der Begriff 'Fakten' hat aufbewahrt, was bei 'Daten' verschleiert wird: sie sind, wortwörtlich genommen, gemacht. Als Menschenwerk fehlt ihnen die Aura, die 'Daten' umgibt; diese sind Gegebenes, Geschicktes, unabwendbares Schicksal, Fatum 50 , dem gegenüber die Machsal der Fakten (Marquard 1984, 67) die Hoffnung auf veränderndes Einwirken erlaubt. Wenn in Organisationen das Lob der Fakten angestimmt wird, sind andere Qualifikationen eng assoziiert: Realismus, Neutralität, Stichhaltigkeit, Unstrittigkeit, Entscheidungsgrundlage, Beweiskraft ... Was man sagt oder fordert, muss man objektiv 'belegen' können. Der Beleg fungiert als Ausweispapier und Berechtigungsschein, er sichert ab, wer und was passieren darf. Der Beleg ist ein Testat, er attestiert einer Angelegenheit, dass sie geprüft und nachprüfbar ist, dass eine Unterlage da ist, auf die bzw. der man bauen kann. Belege werden gesammelt und archiviert, man kann im Misserfolgsfall auf sie zurückgreifen und dokumentieren, dass man getan hat, was erforderlich war. Was in Zahlenwerken, Tabellen, Grafiken, Diagrammen, Excel-Sheets usw. verarbeitet und geordnet ist, kann/ muss belegt werden (am Besten durch harte Daten und belastbare Zahlen). Der Beleg erhält seinerseits - rekursive Stabilisierung! - seinen Wert durch diese Ein-Ordnung. Letztlich geht es aber nicht um die Belege, sondern um die Folgerungen und Entscheidungen, die sie ermöglichen und fundieren. Einer der zentralen Glaubenssätze von Unternehmen "Nur Zahlen zählen" bündelt in sich Heterogenes und entwickelt gerade deshalb seine Anziehungskraft: Er bekämpft die Angst vor dem Unfassbaren und Unverfügbaren, er erlaubt die Reduktion aufs Einfache und liefert die Methode für den Vergleich des Qualitativen (Unvergleichlichen), er suggeriert die Lösbarkeit des Rätsels, worauf es letztlich ankommt und präsentiert zugleich das 50 Fatum kommt von fari (= sprechen) und ist das prophetisch Vorhergesagte (Orakel, Los, Schicksal) oder das von den Göttern unausweichlich und unentrinnbar Vorherbestimmte (Gottesurteilsspruch), das Verhängnis, das fatale Ende: der Tod. <?page no="238"?> 220 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Format der Lösung: Zahlen. Zahlen re-präsentieren etwas Anderes und Abwesendes. Und zugleich fordert dieser Fakten-Daten-Zahlenfetischismus 51 eine spezifische organisationale Hermeneutik als Kunst des Lesens, Verstehens und Auslegens von Texten und Werken. Für den Hermeneuten gilt, dass der Leser mehr weiß als der Autor, er kann herauslesen, was nicht drin steht (Marquard 1984, 117). Wirtschaftsprüfer sind solche Experten, die die kabalistischen Werke, die man Bilanzen nennt, deuten können und verstehen, was Sache ist. Juristen und Personaler lesen aus Arbeitszeugnissen, was so nicht drin steht. Controller dekodieren, was hinter den Zahlen (nicht) steht, die ihnen präsentiert werden. Investitionsplaner wissen, wie sie ihre Kalkulationen anlegen müssen, damit die Alternative gewinnt, die gewinnen soll, Bildungscontroller und Werbeforscher suchen händeringend nach Ansätzen, die beweisen, dass es sich lohnt, für ihre Aktivitäten Geld auszugeben. In Organisationen wird so eine neue Form der Mantik kultiviert. Wie früher die Auguren aus Vogel-Eingeweiden die Zukunft vorhergesagt haben, prognostizieren heute die Experten aus Zahlen das Schicksal des Unternehmens. Die Trefferquoten liegen nicht weit auseinander. Zum Pol "Ficta" Der Zweifel am objektiv Bestehenden ist in den vorangehenden Ausführungen schon immer wieder zum Ausdruck gebracht worden. Der vielbeschworene Sach- Zwang, der Entscheidungen an der Wirklichkeit auszurichten vorgibt, ist womöglich nur das Inkognito der interessierten Herrschaft, die sich in dieser Verkleidung erspart, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Aber gibt es ein 'wahres Gesicht' - sei es der Herrschaft, sei es der Dinge? Es kann keinen unvermittelten Zugang zu dem geben, was ist. Zwischen Sein und Erkenntnis ist als Intermediärer der Erkennende zwischengeschaltet und der operiert unausweichlich mit Konstruktionen, die sein Werk sind. Auf diese Weise reklamieren die Konstruktivisten für jeden einzelnen, was früher Gott für alle war: Schöpfer der Welt zu sein. Der Vermittlung im Erkennen korrespondiert die Vermittlung im Darstellen. Auch sie läuft unweigerlich über Medien, mittels derer etwas zum Ausdruck gebracht wird, was 'als solches' (Ding an sich! ) unfassbar und unsagbar ist. Wenn wir über die Wahrheit oder Wirklichkeit der Fakten oder Daten streiten, dann streiten wir über Re-Präsentationen, die immer schon 51 Ein Fetisch ist ein von Menschen gemachtes Ding, dem übernatürliche Wirkung zugeschrieben wird und das wegen dieser (göttlichen) Wirkkraft angebetet und verherrlicht wird. <?page no="239"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 221 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ etwas anderes sind. Um es mythopoetisch zu formulieren: die Wirklichkeit redet grundsätzlich in Orakeln zu uns und wir sind damit beschäftigt, den Sinn dieser verschlüsselten Botschaften zu enträtseln. Günther Ortmann hat sich in einer Reihe von Arbeiten (1995a, 1995b, 2003b, 2004) mit der unausweichlichen Fiktionalität des ökonomischen Weltzugangs beschäftigt. Ursprünglich hat er die Allgegenwart von Scheinheiligkeit, Heuchelei und Bigotterie in Organisationen als Ausgangspunkt seiner Dekonstruktionen genommen und sie - der üblichen Heuchelei widerstehend, die sie als individuelle Charakterdefizite denunziert - als aus der Konstitution von Organisationen resultierend abgeleitet und verteidigt. In seinen späteren Arbeiten, insbesondere in der Monographie von 2004 ("Als Ob. Fiktionen und Organisationen") hat er, inspiriert (also begeistert! ) von philosophischen, sprachtheoretischen, literaturwissenschaftlichen, kulturanthropologischen und vor allem ökonomie- und organisationstheoretischen Ansätzen, den Realismus-Anspruch des Mainstreams der ökonomischen Theorie und Praxis systematisch in Zweifel gezogen. In detektivischer Kleinarbeit ist er - Archäologe und Genealoge in einem - den sozial- und geisteswissenschaftlichen Spuren nachgegangen, in denen sich Herkunft und Gegenwart ökonomischen Denkens verrät. Seine Dekonstruktion der ökonomischen Zentralbegriffe (Rationalität, Präferenz, Organisation, Produktion und Produktivität, Effektivität und Effizienz, Tausch, Regeln etc.) führt ihn immer wieder auf deren fiktionalen Charakter zurück. Das wunderbare (oder wunderliche? ) Gebäude der Ökonomie ist eine selbsttragende und überraschend stabile Konstruktion, bei der die einzelnen Bauteile nicht aus solidem Material gefertigt und nach einem wohldurchdachten Masterplan ineinander gefügt sind. Keines der Elemente hat für sich ein fundamentum in re, alle beziehen sich aufeinander und setzen sich wechselseitig voraus als Konventionen, an deren 'Wirklichkeit' geglaubt wird. Es ist wie in der modernen Semantik: dem Signifikanten kommt das Signifikat abhanden; Zeichen verweisen nur noch auf ihresgleichen, nicht aber auf das unabhängig existierende Bezeichnete, das den unerschütterlich fundierten archimedischen Punkt abgeben könnte, an dem der Hebel anzusetzen wäre. Mit dem Unabhängigen und Unverfügbaren kann man ohnehin nicht mehr rechnen, wenn die Wirklichkeit zum größten Teil aus Artefakten besteht und die Natur des Menschen Kultur ist - wie Gehlen in seinem treffenden Oxymoron formuliert hat: nature artificielle (Gehlen 2004 6 a, 238 und 246). Das Selbstverständliche, das - versteht sich - ohne weiteres und aus sich selbst heraus verständlich ist, ist das "fraglos Gegebene" (taken for granted). Ein mehrfach <?page no="240"?> 222 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ fragwürdiger Begriff: Zum einen heißt fraglos gegeben, dass nicht danach gesucht oder gefragt worden war und dass man gar nicht auf die Idee käme, es in Frage zu stellen, weil es nicht fraglich ist. Bedenkenlos, ohne auf den Gedanken zu kommen, dass es anders sein könnte, wird es ohne prüfende Unterscheidung, also kritiklos, akzeptiert, ja es darf als gemeinsam geteilte Wahrheit gar nicht bezweifelt werden. Im Kollektiv gilt dieses eine (einheitliche) Verständnis, das zugleich Einverständnis ist mit dem, was ist; es ist fürwahr, nichtwahr, für wahr zu nehmen. Fraglos gegeben bedeutet zum anderen, dass die Gabe schon überreicht wurde. Nicht dass sie gegeben wird, ist entscheidend, sondern dass sie fraglos hingenommen wird. Die Warnung, dass man Daten "nicht aus dem Zusammenhang reißen" solle, erinnert daran, dass ein Datum kein Datum ist - nur der Rahmen gibt ihm Bedeutung und Stellenwert. Der Rahmen ist natürlich auch ein Datum und so verweist ein Datum aufs andere und begründet - grundlos - jene zwar luftige (oder gar windige), aber immerhin stabile, weil selbst tragende Konstruktion, die wir Wirklichkeit nennen. Das solide 'mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen' verliert seine beruhigende Sicherheit, wenn man erkennt, dass die Beine in der Luft hängen. Organisationen gelingt der münchhausensche Trick, sich aus den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen (die Amerikaner gebrauchen dafür den Begriff 'bootstrapping', bei dem die Schnürsenkel an die Stelle der Haare getreten sind, s. Fußnote auf S. 535). Anders als beim Lügenbaron handelt es sich dabei nicht um unterhaltsame Aufschneidereien oder das Hereinlegen von Naiven. Das scheinbare Randphänomen der Erkünstelung (Fiktionalität, Irrealität) wird ins Zentrum gerückt. An die Stelle der Repräsentation des 'wahren' Seins rückt die Geltung. Was als wirklich gilt (counts as), ist wirklich. Das Eine ist Erkenntnis (sei sie nun wahr, viabel, passend, zutreffend usw.), das Andere, in Organisationen wichtigere, ob sie Anerkennung findet (ratifiziert und praktisch wird) und das wiederum hängt stark davon ab, ob der Verkünder und Praktikant anerkannt ist. Deswegen sind Symbolisierung, Inszenierung und Theatralität in Organisationen unausweichlich. Wenn, wie gezeigt, Daten und Zahlen ohnehin erst durch Einordnung, Rahmung und Zusammenhang Sinn machen, warum dann nicht noch andere Interdependenzen nutzen? Wenn nichts ist, was es ist, sondern erst durch Einbettung zu dem wird, was es bedeutet - warum soll man dann nicht weitere Bedeutung stiftende Faktoren gezielt einsetzen? Ob und wie sehr etwas zählt, hängt auch von dem ab, der es sagt. Die Kenn-Zahl, die Latentes abbildet oder hervorhebt, muss auch an-erkannt werden und das hängt wesentlich davon ab, wer sie fordert <?page no="241"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 223 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ und verkündet. Die Heiligsprechung von Daten und Fakten setzt Gläubige voraus und wenn es davon genügend viele gibt, bekennen sich auch die bis dahin Ungläubigen zur rechten, weil allgemein anerkannten und praktizierten Lehre. Damit das Volk glaubt, was aus unzugänglichen Höhen als wohlbegründeter Beschluss ergeht, muss, was zur Entscheidung geführt hat, als rational, unumstößlich, 'durchgerechnet' usw. präsentiert werden. Alles, was wichtige Entscheidungen sonst noch (oder in Wirklichkeit) prägt, nämlich allzu irdische Lächerlichkeiten, Zufälle, persönliche Animositäten, Bündnispflichten, Machtspiele etc. muss zugunsten der Rationalitätsfassade (wie Slums hinter bunt bemalten Bretterzäunen) verborgen werden. Es wäre zu kurz gegriffen, wollte man das als Scheinheiligkeit und Heuchelei personalisieren. Vom Zwang zur Darstellung gibt es keine Ausnahme; nicht zuletzt muss der Darsteller selbst auch eine gute Figur machen; sein Impression Management ist nicht (bloß) taktisches Kalkül oder eitle Zurschaustellung, sondern unabdingbare Wert-Arbeit. Es geht für alle Beteiligten darum, im Kampf um Reputation und Deutungshoheit einen möglichst hohen Überziehungskredit zu erhalten. Auf Dauer kriegt man Kredit nur, wenn man zahlen kann. Aber: Wann wird abgerechnet? Auf lange Sicht wird jeder Hochstapler enttarnt, aber einigen gelingt es, vorher Kasse zu machen. Solange alle an ihn glauben, machen alle ein gutes Geschäft, weil - wie gesagt - Wirklichkeit rekursiv und zirkulär konstruiert ist. Nicht was wahr ist, wirkt, sondern was für wahr gilt und damit wahr gemacht wird. Es zählt, was als wahr zählt. Wenn dieser Glaube erschüttert wird und eine kritische Zahl von Anlegern ihr Vertrauen verliert und auf einen Schlag ihr Geld zurückhaben will, wird selbst eine gut geführte Bank insolvent. Anstelle abschließend im Einzelnen auszuführen, wie die Spannung zwischen Faktizität und Fiktionalität mikropolitisches Agieren nicht nur begünstigt, sondern unumgänglich macht, soll eine kleines lexikalisches Exempel präsentiert werden, das demonstriert, was man nicht alles mit Informationen machen kann: Verdrehen, verbrämen, verheimlichen, verkürzen, verfälschen, verzerren, verstecken, verschleiern, verstümmeln, veredeln, vereinfachen, verflachen, verschnüren, verbergen, verschweigen, vertauschen, vertuschen, verbiegen, verhunzen, verunstalten, vermengen, vermischen, verkünsteln, verdrängen, verfremden, verblümen, verändern, vergessen, verharmlosen, verkomplizieren ... Weniges davon ist zu vermeiden durch Referenz auf die 'Wahrheit' - wichtiger wird, für eine Darstellung Anerkennung zu finden. <?page no="242"?> 224 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 3.3.10. Wandel und Bewahrung Synonyme: Beschleunigung und Gemächlichkeit; Veränderung und Stabilisierung. Zum Pol "Wandel" "Am Anfang ist das Ende" (so Krizanits, Patak & Karboul 2005, 195): Jedem Neubeginn geht das Beenden oder Verenden des Früheren voraus. Vor der Radikalität einer solchen Überlegung verschließen Projekte des 'Change Management' die Augen, die als rationale, begrenzte, quasi chirurgische Eingriffe geplant sind. Inzwischen haben wir genügend Anlass zur Vermutung, dass es selbst High- Tech-Waffen nicht gelingt, die versprochenen chirurgisch präzisen 'Operationen' vorzunehmen; die Kollateralschäden sind beträchtlich und nicht selten kommen auch eigene Truppen im 'friendly fire' ums Leben. Die für 'geplanten organisationalen Wandel' zu Grunde gelegte Möglichkeit einer synoptischen Rationalität ist nur für Grenzfälle mit einfachen und/ oder wohlstrukturierten Problemen realistisch, denn nur solche kann man in Gänze auf einen Blick über- und durchschauen. Der realen Komplexität kommen alternative Konzepte, wie z.B. okkasionelle oder iterative Rationalität näher: im ersten Fall baut man auf das wache Gespür für Chancen, die sich unerwartet bieten, im zweiten auf das Lernen aus Erfahrung und die schrittweise Annäherung an den erwünschten Zustand. Zur Offenheit fürs Unerwartete und Nachträgliche ermuntert auch die von Hirschman (1967/ 1995 3 ) postulierte Aposteriori-Rationalität: im Nachhinein erkennt man, dass ungeplante und ungewollte Entwicklungen durchaus nützliche Ergebnisse gebracht haben, weil sie Aspekte der Problemstellungen offen gelegt und bewältigt haben, an die ursprünglich gar nicht gedacht worden war. Auch das oft geschmähte 'Durchwursteln' (s. Lindbloms (1959) 'muddling through') erweist sich dann als sinnvolles Vorgehen, wenn einem der panoptische Blick vom Feldherrnhügel versagt ist, man sich mitten im Schlachtgetümmel findet und die wichtigste Maxime ist, lebendig davonzukommen. Natürlich ist es von Vorteil, wenn man sich auf alle(? ) Eventualitäten(! ) vorbereitet hat, sodass man nicht kalt erwischt werden kann. Aber diese Antizipation hat ihre Grenzen. 52 52 "Daß der Werth einer Handlung von Dem abhängen soll, was ihr im Bewußtsein vorausgieng - wie falsch ist das! - Und man hat die Moralität danach bemessen, selbst die Criminalität [...] Der Werth einer Handlung muß nach ihren Folgen bemessen werden - sagen die Utilitarier -: sie nach ihrer Herkunft zu messen, implicirt eine Unmöglichkeit, nämlich diese zu wissen. Aber weiß man die Folgen? Fünf Schritt weit vielleicht. Wer kann sagen, was eine Handlung anregt, aufregt, wider sich erregt? (Nietzsche 1906/ 1884/ 1888, Bd. 9, Nr. 291). <?page no="243"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 225 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Man kann nicht an 'alles' denken, weil Geschichte sich in Sequenzen von Wendepunkten entfaltet, wobei eine Komplexität generiert wird, die im Rahmen der verfügbaren Zeit selbst von den leistungsfähigsten Computern nicht mehr verarbeitbar ist (Referenzbeispiel: das vergleichsweise simple, weil hochstrukturierte Schachspiel). In solchen Situationen sind Heuristiken wie 'im Spiel bleiben' oder 'die Dinge am Laufen halten' geeignete Problemlösungsmethoden. Dem richtigen 'timing' - ein Wort, um das man die Engländer beneiden muss - kommt große Bedeutung zu, vor allem, wenn es auch noch so etwas Bedrohliches wie eine deadline gibt. Die in der systemischen Organisationsberatung propagierten ausgefeilten und sorgfältig choreografierten Prozess-"Architekturen" suggerieren Plan- und Beherrschbarkeit, die paradoxerweise nur durch Improvisationen oder kreative Ausgestaltungen erreicht wird. Zu den Funktionsbedingungen organisierten Handelns gehört Ungewissheit, nicht nur die sozusagen statische Ungewissheit bei Momentaufnahmen von Absichten, Plänen, Ressourcen, Koalitionen etc. der "anderen Seite", sondern auch dynamische Ungewissheit darüber, wie es weitergehen wird bei den anderen, einem selbst und miteinander. Diese Trivialität ist von nicht zu unterschätzender Bedeutung als Bedingung der Möglichkeit von Mikropolitik. Denn diese ist definitionsgemäß fixiert auf das lokale Geschehen, sie maßt sich den Über-Blick nicht an. Ein solches Programm wäre als kurzsichtig zum Scheitern verurteilt, wenn das Geschehen in Unternehmen transparent und perfekt geplant und eingerichtet wäre. Dem ist nicht so und deshalb ist es nicht nur möglich, sondern sogar nötig, dass die einzelnen Akteure im allerdings unterschiedlich weiten Rahmen ihrer Vorgaben und Vorhaben Wege suchen, die weiterführen. Auf diese Weise können unerwartete Störungen, Bedrohungen und Hindernisse gemeistert und plötzlich auftauchende Chancen genutzt werden (was durchaus auch im Sinne des 'Gesamtunternehmens' sein kann). Der "Bewältigung des Unplanbaren" haben Böhle, Pfeiffer & Sevsay-Tegethoff (2004) eine Monografie gewidmet, in der sie mehrere empirische Studien zum Problem versammelt haben (s.a. Weick & Sutcliffe 2003). "Es zeigt sich, wie weit Zufälle und unvorhergesehene Begegnungen und gleichzeitiges Auftreten von Ereignissen oft wichtiger sind für organisatorischen Wandel als der Wille und die Absicht der Akteure: Gelegenheit macht auch hier Ziele (vgl. Friedberg 1995, 201)" (Hennig 1998, 1329). <?page no="244"?> 226 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Insofern ist Organisation keine statische Ordnung, sondern work in progress. Das bezieht sich nicht nur auf die Zukunft, sondern auch auf die Vergangenheit. Die Geschichte des Unternehmens, die als Lieferant von Präzedenzfällen, Skripten und Deutungsmustern herhalten muss, wird immer wieder neu erfunden und umgeschrieben. Aus den Erfahrungen von heute wird das Gestern uminterpretiert ("retrospektive Sinngebung" nennt das Weick 1985). Es liegt auf der Hand, dass dieser unausweichliche Prozess auch taktisch genutzt werden kann, weil aus einem passend gezeichneten Bild der organisationalen Vergangenheit, zumal wenn sie idealisiert wird, (eigen-)nützliche Programmatiken für's künftige Handeln abgeleitet werden können. Wer davon abweichen möchte, wird unter Rechtfertigungsdruck gesetzt: seine Transaktionskosten werden erhöht, Abweichungen vom Pfad gezielt konstruierter Tugend werden erschwert. Wenn von 'Organisation' die Rede war, dann dominierten früher statische Metaphern (Pyramide, Gebäude, Uhrwerk/ Maschine, Familie). Als Markenzeichen konnte das Organigramm gelten, in dem der hierarchische Aufbau der Stellen visualisiert und zum Stillstand (Stillgestanden! ) erstarrt war. Heute werden andere Metaphern bevorzugt, die Bewegung, Fortschritt und Wandel betonen. Das Diktat der "Zeitoptimierung" beherrscht Produktentwicklung, Geschäftsprozessgestaltung, Durchlauf- und Zykluszeiten, Informations-, Waren-, Zahlungsströme … Wo hektisch auf Schwankungen des Börsenkurses reagiert wird, wird dessen Volatilität noch erhöht, sodass umso agiler reagiert werden muss: das Hamsterrad kommt in Schwung! Ruhe, Muße, Gelassenheit, gar Faulheit! kommen in Verruf. Sogar der Mittagsschlaf muss durch die nachfolgende Leistungssteigerung wettgemacht werden. Mit größter Selbstverständlichkeit wird organisationales Lernen zur Alltagsaufgabe erklärt. OrganisationsberaterInnen haben die Zeit entdeckt und übersetzen sie in charakteristischer Einseitigkeit mit 'Tempo'. Dem Leitmotiv "Zeit = Geld" folgend, geht es um Geschwindigkeit und Beschleunigung. Rast-Losigkeit und Un-Ruhe gelten als neue Tugenden 53 , die den Un-Tugenden der Zeitverschwen- 53 Neue Tugenden? Heute werden als Kennzeichen der Moderne historisch beispiellose Dynamik, Turbulenz, Beschleunigung, grundstürzender Wandel, Hetze und Hektik ausgegeben. Liest man Texte aus anderen Jahrhunderten, findet man dieselbe Diagnose; jedes Zeitalter behauptet anscheinend von sich, noch nie habe es so tiefgreifende und hektische Veränderungen gegeben wie gerade jetzt. Eine Zeit-Diagnose aus dem Jahr 1881: "Es ist eine indianerhafte, dem Indianer-Blute eigenthümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und ihre athemlose Hast der Arbeit - das eigentliche Laster der neuen Welt - beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt sich jetzt schon der <?page no="245"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 227 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ dung und des Zeitmissbrauchs entgegengesetzt werden. Ein Dauerhit im Führungstraining ist 'Zeitmanagement', ein aufschlussreicher Falschbegriff, denn nicht die Zeit wird gemanagt, sondern der Täter in seinem als konstant angesetzten Zeitrahmen (Tag, Woche, Monat, Jahr, Leben). Plötzlich kann man dann von surrealen Dingen reden: Zeitnot, Zeitvergeudung, Zeitgewinn und Zeitverlust, Zeitmangel und Zeitsparen, Leerzeiten als unausgefüllte unproduktive Zeiten. Es soll im festen Container des physikalischen Zeitrahmens mehr von demselben oder üblichen untergebracht, also mehr Aktivität in die Zeiteinheit gepresst und Zeiten der manifesten Untätigkeit (warten, dösen, blaumachen, trödeln, entspannen, reflektieren usw.) durch porenlose Hochleistungsaktivität ausgemerzt werden. Ungewollt entlarvend wird auch von Zeit-Regimes geredet. Zeit hat viele Facetten, die sich organisieren (oder 'managen') lassen und sie alle sind umkämpftes Terrain und Brennpunkte arbeitspolitischer Auseinandersetzungen: die Lage der Arbeitzeit (Chronologie), ihre Dauer (Chronometrie), ihre Gestalt (Chronomorphie: wie die Zeitpartikel über den Arbeitstag, die Woche, den Monat, das Jahr, das Leben verteilt werden); es gibt ungünstige und unsoziale Zeiten (Nachtarbeit, Feiertagsarbeit, Schichtarbeit), es geht um Pünktlichkeit (und damit auch um die Frage der exakten und objektiven Zeitmessung), um Tempo, Schnelligkeit und Gleichzeitigkeit (in ein und demselben Zeit-Abschnitt unterschiedliche Tätigkeiten unterbringen, z.B. Telefonieren, E-Mails lesen, Frühstücken), Unterbrechungen (Pausen, Zerstückelung, Störungen) und all das kombinierend: Zeitflexibilität (Gleitzeit, Zeitkonten etc.). Zeit-Hochdruck ist kein willkürliches Diktat monomaner Rationalisierer oder ruheloser Hektiker, sondern Konsequenz einer radikalisierten Kapital- oder Verwertungslogik. Investiertes (gebundenes) Kapital muss 'arbeiten': je schneller der Zyklus der Mehrwert-Produktion durchlaufen wird, desto höher ist die Rendite. Weil die Konkurrenz nicht schläft (= untätig ruht), weil das/ der Bessere der Feind des Guten ist, weil der Markt durch eine hohe Innovationsrate (Verhältnis der Neuprodukte zu allen Produkten) ausgezeichnet ist, weil sich durch Mergers & Akquisitions, Expansionen und Schrumpfungen, Insolvenzen und Neugründungen die Unternehmenslandschaft fortwährend ändert, weil die eigene Organisation mit jedem Vorstandswechsel (oder jeder neuen Beratermode) umgekrempelt wird, weil KVP-, TQM- oder Gewinnverbesserungs- oder Performance Improvement Teams stets auf der Suche nach kontinuierlichen oder radikalen Innovationen sind, weil Ruhe; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, - man lebt wie Einer, der fortwährend Etwas 'versäumen könnte'. 'Lieber irgend Etwas thun als Nichts' - auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren Geschmack den Garaus zu machen" (Nietzsche 1906/ 1881, Bd. 6, Nr. 329). <?page no="246"?> 228 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ neue Technologien altes Können und Wissen entwerten und zum Umdenken zwingen, weil durch externe Schocks und Turbulenzen interne Anpassungen unvermeidlich werden - aus all diesen Gründen bleibt kein Stein auf dem anderen und der Kalauer, dass das einzig Beständige der Wandel ist, wird zur treffenden Zeit(! )diagnose. Aber man braucht gar nicht Dramatisches und Systemisches zu beschwören, um den Prozess der fortwährenden Erneuerung zu charakterisieren. Das alltägliche Handeln, das die geltenden Regeln und Strukturen (re-)produziert, tut dies nie in identischer Replikation, sondern immer schon mit marginalen Änderungen, unmerklichen Ergänzungen und improvisierenden Ausnahmen, die zur Regel werden. Insofern bleibt nichts beim alten (oder 'Alten'). Wenn sich andauernd soviel ändert - Personen, Produkte, Programme, Prozesse, Strukturen, Kulturen, Organisationen, Ressourcen, Ziele, Strategien - da gibt es notwendigerweise Irritationen, konflikthafte Übergänge, Widerstand und Störungen, Gefahren und Gelegenheiten, geheime Bündnisse und offenen Protest, Mehrdeutigkeit und Widersprüche, kurz: ein Ideales Spielfeld für Mikropolitik. Wo Erfahrungen obsolet werden, sind neue Kenntnisse und Personen gefragt, wo Netzwerke zerrissen werden, bieten sich Chancen für neue Koalitionen, wo Vorgesetzte entthront werden, steigen andere auf und nehmen Personen ihres Vertrauens mit, wo Kriterien und Ziele neu definiert werden, schneidet der besser ab, der ein Wörtchen mitreden kann … Mikropolitik ist Ursache für, vor allem aber Folge und Begleiter von Wandel. Zeiten der Transformation sind günstige Zeiten für Politiker, die versuchen, den Wandel in ihrem Sinn zu bremsen, zu beschleunigen, umzulenken oder zu nutzen. Zeitlichkeit und Abfolgemuster von Einflusshandlungen spiegeln die Bedingungen, die sie zulassen oder fordern. Mikropolitische Praktiken können deshalb keine statischen Inventar-Listen oder Einzelaktionen sein - ein Zugang, der in den bisherigen Untersuchungen dominiert: Mit einem klug gewählten Eröffnungszug (z.B. der beliebten Frage nach der dominanten oder am häufigsten gewählten Taktik) ist es nicht getan, denn das Spiel geht ohne Unterbrechung weiter und man muss ein großes Repertoire auf Lager haben, um angesichts unerwarteter Re-Aktionen selbst wiederum kontern und punkten zu können. Zeigt sich womöglich schon an der ersten Reaktion der anderen Seite, dass der erhoffte Erfolg ausbleibt, muss variiert, innoviert oder abgebrochen werden. <?page no="247"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 229 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Am deutlichsten wird diese Inter-Aktivität beim dyadischen Einflusshandeln. Es spielt sich zwischen zwei Akteuren ab und diese tauschen im Geschehen ihre Rollen: der vormalige agent sieht sich durch den Konter des Adressaten selbst in die Rolle des target gedrängt und muss auf diese Herausforderung antworten und seinerseits den Beeinflusser wieder zum Beeinflussten machen. So geht das Zug um Zug - und jeder Zug kann eine Neuorientierung verlangen. Zum Pol "Bewahrung" Wo so viel über Zeitdruck, Beschleunigung, Tempo, Flexibilisierung, Wandel etc. geredet wird, scheint der Gegenpol ein Schattendasein zu fristen oder gar zur Irrelevanz verurteilt zu sein. Muße, Gelassenheit, Gemächlichkeit, Bewahrung, Ruhe, Langsamkeit oder gar Stillstand, An- oder Innehalten und - der Gipfel - Faulheit stehen nicht auf der organisationalen Agenda, sie gelten als Freiheiten, die sich die Einzelnen unautorisiert herausnehmen. Umso auffälliger ist, dass gerade in der mikropolitischen Diskussion diese Aspekte eines subversiven Zeitmanagements sehr häufig thematisiert werden. Zwei Varianten sollen dabei unterschieden werden: gekonntes Bremsen und demonstrative Verweigerung möglicher Zeitsouveränität: Im ersten Fall geht es um die aktive Sabotage der an Zeitökonomie orientierten Planung anderer: ihr Wunsch nach Tempo oder Beschleunigung wird abgeblockt. Insbesondere beim Dienst nach Vorschrift können Unterstellte, ohne viel zu riskieren, unter Verweis auf Vorschriften Projekte auf Herz und Nieren prüfen, weitere Unterlagen, Kopien, Stellungnahmen oder Unterschriften anfordern, auf Einhaltung von Fristen bestehen etc. All das 'kostet' die anderen Zeit, von der man selbst offenbar genug hat. Verzögerung kann auch als Machtdemonstration eingesetzt werden: Bittsteller warten lassen, Behandlung von Anliegen Abhängiger aufschieben oder durch Schikanen in die Länge ziehen, wiederholt vorladen oder einbestellen, unsinnige Normen der Reihenfolge oder Pünktlichkeit durchsetzen etc. Bei der zweiten Variante werden ökonomisch unbedenkliche oder sogar sinnvolle Möglichkeiten der Entschleunigung versagt. Um Macht zu demonstrieren, werden Unterstellte z.B. ohne Not unter Zeitdruck gesetzt (Musterbeispiel: enge Termine für die Ablieferung von Ausarbeitungen, die dann ungenutzt in Schubla- <?page no="248"?> 230 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ den liegen bleiben). Die Kultur demonstrativer Produktivität (Arbeit pro Zeiteinheit! ) kann dazu führen, dass unverschuldete und/ oder ablaufbedingte Leer- oder Wartezeiten nicht zu Erholung und Entspannung genutzt werden dürfen, sondern mit Scheintätigkeiten gefüllt werden müssen, um den Eindruck der perfekten Auslastung zu liefern. Auf der einen Seite wird minutengenaues Ein- und Ausstempeln angeordnet, auf der anderen bleibt unentdeckt oder ungeahndet, dass MitarbeiterInnen private Telefonate führen, persönliche Emails schreiben, im Internet Nachrichten ansehen, in Sex-Domains surfen oder ihren Urlaub planen usw. Der oft karikierte 'Mittagsschlaf' kann als weiterer Fall gelten. Er widerspricht einer Kultur der Beschleunigung und der Schließung aller 'Zeitporen', weil er als Paradebeispiel von ungenutzten Zeitreserven oder gar Zeitdiebstahl herhalten muss. Erst seit er zum 'power napping' umfirmiert wurde (Symbolisierung! ) und sein leistungssteigernder Effekt behauptet oder in den notorischen 'amerikanischen Studien' belegt wurde (Rationalisierung! ), hat er etwas von seiner Anrüchigkeit verloren. Zu den Erfahrungen bei Wandlungsprozessen gehört, dass (etwa im Zusammenhang mit Fusionen oder Strukturänderungen) neue Gleichgewichte nicht per Knopfdruck zu bestimmten Zeit-Punkten zu etablieren sind, sondern Zeit-Räume brauchen. Das 'refreezing' wie man es im Lewin-Jargon der frühen Gruppendynamik unglücklicherweise nannte, kann in Dauer und Abschluss nicht exakt geplant werden. Gerade Veränderungen im großen Maßstab brauchen ihre (Eigen-)Zeit oder müssen - die biologische Metapher macht das anschaulich - reifen. Infiziert vom Bazillus des Quartalsdenkens fällt es jedoch schwer, den 'langen Atem' zu entwickeln, der gerade für Investitionen in Human- und Sozialkapital(! ) nötig ist. Umso anfälliger ist die Unternehmung in Umbruchzeiten, die allerdings zunehmend die Normalität darstellen, für die vielen Taktiken, die gewiefte MikropolitikerInnen in petto haben, um das, was ihnen offiziell verweigert wird, über Umwege doch noch zu erhalten. 3.3.11. Einbettung und Abgrenzung Synonyme: Milieu und Form; Angleichung (an die Gesellschaft) und Profilierung (Corporate Identity), "Wie alle sein" - "Einmalig sein", Offenheit und Abschottung. <?page no="249"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 231 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zum Pol "Einbettung" Unternehmen und ihre Organisation existieren nicht im a-sozialen Raum; sie sind eingebettet in Gesellschaften und durch deren Traditionen, kulturelle Eigenheiten, Kommunikationsweisen, Normen, Gesetze usw. geprägt. 'Gesellschaft' fungiert dabei als Dachbegriff, der Einheit vortäuscht, die bei näherem Zusehen sich in eine enorme Vielheit auflöst (Staat, Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Verbände, Medienlandschaft, Erziehungsinstitutionen usw. und nicht zuletzt: das mehr oder weniger locker verbundene Netz der anderen Unternehmen, mit denen ein Fokalunternehmen als Lieferant, Kunde, Konkurrent, Tochter etc. in Beziehung steht). So gesehen gilt auch für das Unternehmen, was Freud als Kränkung des Ich gesehen hat: Es ist nicht Herr im eigenen Haus und kann uneingeschränkt und ausschließlich seiner dominanten Funktionslogik (Gewinnmaximierung) folgen. Unternehmen sind - zumindest dem Anspruch nach - durchdrungen von gesellschaftlichen Metanormen wie Reziprozität, Fairness, Achtung der Menschenwürde usw. Auch wenn die internen Arbeits- oder Betriebsordnungen dies nicht maßstabsgetreu abbilden, so haben die Über-Normen einen Geltungsanspruch, der zum einen zu internen Praktiken und Gewohnheiten in Gegensatz treten und eine Kampfzone begründen kann, zum anderen aber auch eine erhebliche Entlastung für die internen Steuerungsbemühungen bedeuten kann. Wenn z.B. Leistung, Pünktlichkeit, Sorgfalt, Verlässlichkeit zu gesellschaftlich hoch bewerteten Tugenden gehören, braucht die Organisation lediglich eine Nachjustierung vorzunehmen, denn die aufwändige Vorarbeit ist bereits durch Erziehung und Sozialisation erfolgt und wird durch soziale Kontrolle (Stichwort: "öffentliche Meinung") aufrecht erhalten. In besonderer Drastik und manchmal sogar Dramatik wird der stille Zwang, der durch die Institutionen, Praktiken und Werte ausgeübt wird, die in einer Gesellschaft 'taken for granted' sind, bei interkulturellen Kooperationen erfahrbar. Ein Verhalten, das im einen kulturellen Kontext üblich und bewährt ist, kann im anderen Kontext auffallend, ungehobelt, verletzend, kränkend, lächerlich oder gar tabuisiert sein. Damit wird in der Art ethnomethodologischer Bruchexperimente 54 sinnlich erfahrbar, dass die Einbettung eines Unternehmens in die Gesellschaft weit über Sprache, Schrift und Steuergesetze hinausgeht. 54 Bei solchen Experimenten werden die Selbstverständlichkeiten, die in der eigenen Gesellschaft unbemerkt gelten, absichtlich in Frage gestellt. Beispiele: normierten Gesprächsabstand unterschreiten (sich dem Anderen auf eine 10cm-Distanz nähern), Berührungstabus brechen (im Gespräch einen Fremden an Arm oder Schulter berühren), Höflichkeitsregeln übertreiben (sich zu Hause benehmen wie auf einem formellen Empfang), Gewissheiten in Frage stellen (an der Supermarktkasse die Zahl der Zigaretten in der Packung nachzählen) usw. Selbst so harmlose Normbrüche lösen erhebliche Irritationen aus. <?page no="250"?> 232 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Dieser Gedanke wird im Neo-Institutionalismus zum Prinzip erhoben: Unternehmen verfolgen nicht quasi isoliert ihre eigenen Renditeziele und nur diese, sondern sehen sich genötigt den Erwartungen der Gesellschaft, in der sie agieren, zu entsprechen. Tun sie das nicht, riskieren sie Reputationsverlust, Ressourcenentzug, Transaktionshürden. Deshalb finden sich in Unternehmen organisationale Praktiken, die aus rein ökonomischer Perspektive nicht zu rechtfertigen wären. In diesem Kontext wird illustrierend häufig das Phänomen des Isomorphismus genannt: Unternehmen ahmen Verfahren und Methoden nach, die von anderen - anscheinend erfolgreichen - Unternehmen praktiziert werden, obwohl der Beweis für die Erfolgsrelevanz aussteht. So können sich Organisationsmoden (wie Business Process Reengineering, Lean Management, Benchmarking etc.) immer wieder epidemisch verbreiten. Allerdings geht die Vermittlung von Organisation und Gesellschaft nicht bruchlos vonstatten; es gibt Konfliktfelder, z.B. wenn bürgerliche Rechte und Werte (wie Mündigkeit, Solidarität, freie Entfaltung, Meinungsfreiheit usw.) durch betriebliche Normen oder Praktiken eingeschränkt oder konterkariert werden (hierarchische Unterordnung, Gehorsam, dehumanisierende Arbeitsbedingungen, Kommunikationskontrolle und dergleichen). An solchen Schnittstellen entzündet sich Mikropolitik, sei es als Bewältigungs- oder als Proteststrategie. (Darauf wird noch ausführlich im Kontext der Unternehmensethik - Kapitel 5 - eingegangen). Nicht zuletzt ist an das Inter-Organisations-Verhältnis zu denken: Organisationen kooperieren und konkurrieren miteinander; sie können nur existieren, wenn und weil die anderen existieren, denn auch hier gilt die Praxis der Differenzierung/ Arbeitsteilung mit der Folge der eskalierenden Komplexität. Es ist genauso wie im Innenbereich auch im Außenbereich unmöglich, dieses dynamische, ständig sich wandelnde Verflechtungsmuster zu durchschauen oder gar zu steuern (einmal mehr verspricht die genannte mimetische Strategie des Isomorphismus Entlastung). Daraus können Spannungen und Rigiditäten resultieren, die vor Ort mit Augenmaß oder aber Kurzsichtigkeit, offen oder verdeckt, konfrontativ oder kooperativ bewältigt werden. Weil Akteure in Unternehmen einer Vielzahl überlappender und partiell entkoppelter Verkehrskreise angehören, die unterschiedliche Geltungsansprüche erheben, ergeben sich Konfliktfelder und Ungewissheitszonen, die zu mikropolitischer Aktivität einladen. Es eröffnet sich vor allem die Chance, für eigene Ab- <?page no="251"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 233 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ sichten die Rückendeckung durch "höhere Werte", "Grundrechte", "Geist des Hauses", "moralische Prinzipien", "Comment" usw. zu erlangen. Zum Pol "Abgrenzung" (Selbstständigkeit, Identität) Nahtlose Konformität mit der relevanten institutionellen Umwelt ist jedoch grundsätzlich nicht möglich, weil diese Umwelt in sich heterogen ist: bedient man die Forderungen eines Stakeholders, verletzt man die Interessen eines anderen. Unternehmen müssen deshalb die Fähigkeit zu selektiver und variabler Legitimation und Loyalität entwickeln. Der im Neo-Institutionalismus thematisierte Druck, den Erwartungen der institutionellen Umwelt zu entsprechen, findet seine spiegelbildliche Entsprechung in Strategien der Delegitimierung gesellschaftlicher Ansprüche, etwa durch Behauptung der "Grenzen der Belastbarkeit", der "Unvereinbarkeit mit eigenen Grundsätzen, Werten oder Traditionen", der "Gesetze des Marktes" oder gar einer "globalisierten Weltwirtschaft" (die es 'beim besten Willen' nicht zulässt, gewohnte Standards in Bezug auf Arbeitzeit, Einkommen, Kündigungsschutz, soziale Sicherung etc. aufrecht zu erhalten). Die Besonderheit, die Unternehmen für sich reklamieren, zeigt sich auch in ihren Anstrengungen, die Selektion und Sozialisation ihrer MitarbeiterInnen nach eigenen Kriterien zu gestalten. Es werden Auswahl- und Platzierungsverfahren eingerichtet, die einen bestimmten Typus favorisieren, der nicht nur seine Aufgaben zu erfüllen hat, sondern zum Unternehmen passen muss oder sich gar mit dem Unternehmen identifizieren muss. Letzteres bedeutet, wörtlich genommen, dass jemand mit dem Unternehmen 'eins' werden muss. Das ist keine leichte Aufgabe, erfordert sie doch, dass das Unternehmen sich in seiner Besonderheit eindeutig zu erkennen gibt, was ihm, selbst wenn es das wollte, schwer fallen dürfte angesichts des schon besprochenen rasanten Wandels in Organisationsformen, Zielen, Eigentumsverhältnissen, Produkten, Technologien, Strategien, Führungspersonal etc. Und wer ist autorisiert, das Unternehmen als einheitliche Gestalt zu repräsentieren? Einen Fingerzeig gibt - auch eine der erwähnten Consulting-Moden - die Forderung nach 'brand alignment': die MitarbeiterInnen sollen sich an der Marke ausrichten, für die das Unternehmen steht und jene Eigenschaften zeigen, die der Marke zugeschrieben werden. Ein anderer Kandidat als Identifikationsobjekt ist die nicht weniger auslegungsfähige Unternehmenskultur. Damit wird - siehe facta und ficta - einmal mehr sichtbar, dass es um Symbolisierung und Inszenierung eines Eindrucks geht. Mit der Abgrenzung von anderen (vor allem von der Konkurrenz) durch eine einmalige Corporate Identity geht im Innenbereich die entge- <?page no="252"?> 234 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ gengesetzte Forderung einher: Verschmelzung mit dem Firmenideal. Abgesehen von der proteushaften Wandelbarkeit dieses Ideals, die keine klare Imitations- oder VerEINigungs-Vorlage abgibt, scheitert das Projekt auch daran, dass den 'Mitspielern', von denen die abgrenzende Identifikation erwartet wird, keine 'Stammplatzgarantie' mehr gegeben wird: Wenn es die wirtschaftliche Entwicklung erfordern sollte, müssen sie mit 'harten Schnitten' rechnen. Für sie ist es deshalb ökonomischer eine Söldner-Mentalität zu entwickeln, die ihre 'employability' wo auch immer gewährleistet. Unscharf definierte oder bewusst mehrdeutig gehaltene Bezugssysteme (Kultur, Werte, Unternehmensidentität, Leitsätze etc.) begründen Ungewissheitszonen oder Handlungsspielräume - zentrale Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik. Um einer beliebigen Ausdeutung zu begegnen, werden die wichtigsten Anliegen in Artefakten materialisiert. Mit derartigen Verfestigungen und Kristallisierungen wird angestrebt, die Andersartigkeit des Unternehmens zugleich greifbar wie auch gegenüber idiosynkratischen Deutungen resistenter zu machen. Merkmale des 'Unternehmensauftritts' (wie Logos, Mottos, Namen, Jargon, formales Design der Selbstdarstellung in Print- und elektronischen Medien, Mobiliar, Architektur), einheitliche Linie im Produktdesign ('Handschrift'), eingesetzte Technologien und nicht zuletzt standardisierte Verfahren (Auswahl, Beförderung, Beurteilung, Entgeltfindung, Zeiterfassung, Planung, Controlling etc.) und Rituale (Kündigungen, Ernennungen, Sitzungen, Feiern, Jubiläen) schränken einerseits den Deutungsspielraum ein und wirken, noch wichtiger, unterschwellig im Sinne der oben diskutierten Vergegenständlichung von Herrschaft. Quasi hinter dem Rücken der Subjekte, ihrer bewussten Reflexion und Gestaltung entzogen, wird das Projekt der internen Gleichschaltung betrieben, die nach außen markante Abgrenzung ist. Allerdings wirken, wie schon bei der Erörterung von Formalisierung und Objektivierung beschrieben, solche Schablonisierungen nie perfekt und nie ohne Zu- Taten derjenigen, die mit ihnen arbeiten. Denn wenn sie ihre eigentlichen Ziele (eigenständiges Erscheinungsbild, imitationsgeschützte Exzellenz etc.) erreichen sollen, müssen sie Freiräume für situationsgerechte Anpassung und innovative Weiterentwicklung lassen. Handlungsspielräume aber sind - buchstäblich definitionsgemäß - Voraussetzung und Folge von Mikropolitik. <?page no="253"?> Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik 235 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 3.4. Zusammenfassung Ausgangspunkt war die Diagnose, dass in der vorliegenden empirischen Literatur zu Mikropolitik der organisationale Kontext - wenn überhaupt - in (scheinbar) einfachen Kenngrößen erfasst wird (z.B. Größe, Hierarchieebene, Formalisierungs- und Zentralisierungsgrad, Kontrollspanne, Rollenklarheit etc.). Das Anliegen des vorliegenden Kapitels war, hinter diese Begriffskulisse zu schauen und die Dynamik zu beschreiben, die scheinbar einfache Steuerungsprinzipien entfalten. Die Thematisierung organisationaler Bedingungen von Mikropolitik sollte verdeutlichen, dass Mikropolitik keine charakterliche Perversion oder eine verwerfliche, heimlich inszenierte Taktik individueller Vorteilsmaximierung ist. Sie ist vielmehr eine Antwort auf Probleme, die aus der Konstitution von Organisationen herrühren. Weil Organisationen sehr komplexe, prekäre und gefährdete Konstruktionen sind, können Handlungen, die einen Konfliktherd beseitigen, gleichzeitig an anderer Stelle neue Konfliktfelder aufreißen. Es gibt deshalb nicht die Idealstrategie für perfektes Organisieren, sondern eine Mehrzahl von Prinzipien, von denen jedes in sich polar angelegt ist, also Akzentsetzungen erlaubt und erfordert, und die zum zweiten auch untereinander konkurrieren oder sogar gegensätzliche Anforderungen stellen. Die Überlegungen können ins Grundsätzliche fortgeführt werden und zu einem Perspektivenwechsel animieren. Wenn von organisationalen "Bedingungen der Möglichkeit" von Mikropolitik geredet wird, legt das ein kausales Verursachungsverhältnis nahe: bestimmte Besonderheiten (z.B. Hierarchie) lösen aus oder begünstigen mikropolitisches Agieren. Mikropolitik ist so gesehen eine Folgeerscheinung, eine Nachträglichkeit, und mit ihr werden Probleme beherrscht, die aufgrund organisationaler Steuerungsprinzipien (z.B. durch Hierarchie) entstanden sind. So gesehen sind die organisationalen Widersprüche die 'unabhängigen Variablen', mikropolitische Aktionen die 'abhängigen': challenge und response. Man kann aber auch andersherum argumentieren: Der allgegenwärtigen Gefahr rücksichtslos-egoistischer Verfolgung eigener Interessen muss begegnet werden, will man nicht auf die Vorteile geplanter und systematischer Ressourcen-Zusammenlegung verzichten. Als Gegenmittel gegen den Kampf aller gegen alle haben sich Institutionen entwickelt, die die Spielräume jedes Einzelnen einschränken, damit aber - zumindest der Intention nach - die gemeinsamen Vorteile steigern. <?page no="254"?> 236 Kapitel 3: Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Hierarchie, Formalisierung, Exklusion, Ressourcenbewirtschaftung usw. sind dann Reaktionen auf Mikropolitik und nicht Voraussetzungen für Mikropolitik. Mit dieser Argumentation will ich nicht den einen oder den anderen Standpunkt als den ursprünglichen etablieren. Es handelt sich vielmehr um ein Henne-Ei- Problem, bei dem die Interpunktion beliebig ist. So gesehen ist es nicht nötig, sich auf eine fragwürdige Ausgangssituation festzulegen, die Mikropolitik als Reaktion auf Steuerungsversagen definiert (oder umgekehrt: das Steuerungsversagen wegen allgegenwärtiger Mikropolitik mit organisationalen Mitteln bekämpft). Stattdessen wird die Kreiskausalität in das laufende Geschehen verlegt: in jedem Akt organisationaler Praxis bedingen sich organisationale Steuerungsmechanismen und mikropolitische Aktionen gegenseitig. Das befreit Mikropolitik vom Ruch des Illegalen oder Pathologischen und stellt sie auf die gleiche Stufe wie die etablierten übrigen Steuerungstechniken, die untereinander im selben Spannungsverhältnis stehen wie jede einzelne zu Mikropolitik (und umgekehrt). <?page no="255"?> 4. Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells "Die Systeme haben nicht allein den Nutzen, daß man ordentlich über Sachen denckt, nach einem gewissen Plan, sondern, daß man überhaupt über Sachen denckt, der leztere Nutzen ist unstreitig größer, als der erstere" (Lichtenberg 2005, 414). Überblick Das Kapitel legt einen handlungstheoretischen Ansatz zu Grunde und differenziert bei den beteiligten Individual- oder Kollektivakteuren (Akteur A und Ziel/ Adressat Z) jene subsystemischen Domänen, die als Mittel, Methoden und Ziele von Einflussversuchen in Frage kommen. Die Perspektive ist keine intrapsychische, sondern eine interpersonale. Ausgangspunkt ist die Setzung, dass Mikropolitik die Instrumentalisierung Anderer ist. Das bedeutet eine doppelte Vermittlung: die Produktion von Wirkungen erfolgt indirekt (nicht von A selbst geleistet, sondern über bzw. durch Z) und dabei wird Z als Mittel benutzt bzw. zum Mittel gemacht. Acht solcher Einwirkungsbereiche werden auf Akteurswie Adressatenseite differenziert: Kognitionen: Die Konstruktion bzw. Errechnung von Modellen der Wirklichkeit, die Informationsverarbeitung und Wissens-Vermittlung(! ) steuern. Emotionen als auslösende, begleitende, hemmende, verstärkende und fundierende Bedingungen des Handelns, die sozial reguliert sind. Körperlichkeit: Jeder Sozial- und Welt-Kontakt wird sinnlich vermittelt und durch Leiblichkeit konditioniert. Auch der 'soziale Körper' z.B. von Organisationen kennt Materialisierungen, Artefakte, Verdinglichungen. Selbst: A wie Z werden als reflexive (auch auf sich bezogene) Ganzheiten/ Einheiten aufgefasst, die erkannt und anerkannt werden (und sich deswegen darstellen oder inszenieren). Können: Beide Seiten verfügen über Kompetenzen und Ressourcen (= Macht), die sie in verschiedenen Manifestationsformen einsetzen. Motivation und Wille: Damit ist der energetisierende oder aktivierende Aspekt wechselseitiger Handlungssteuerung gemeint; das Hinlenken auf bzw. Ablenken von Zielen, die Variation von Bereitschaften, Intensitäten und Inhalten. <?page no="256"?> 238 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Relationen: A und Z stehen untereinander und mit Dritten in manifesten oder latenten Beziehungen (Vernetzung), die ihre Handlungschancen begrenzen und ausweiten. Institutionalisierung: Vergesellschaftetes Handeln ist 'in Ordnung'. Rollen, Schemata, Typisierungen, Standardisierungen, Regeln, Verfahren etc. wirken als apersonale Koordinationsprogramme einerseits entlastend, erfordern aber wegen ihrer Abstraktheit verstärkte Anpassungsleistungen an konkrete Situationen. Diese für dyadische A-Z-Einflussbeziehungen entwickelten Bestimmungen werden abschließend in zwei Richtungen erweitert: Zum einen werden weitere Akteure einbezogen und zum anderen wird das Modell insofern dynamisiert, als Täter-Tat-Beziehungen und weitere Charakteristika des Handelns (Primat der Tat, Prozessualität und Virtualität) reflektiert werden. 4.1. Mikropolitik aus der Perspektive einer sozialen Handlungstheorie Beobachtetes (auch an sich selbst beobachtetes) Handeln kann aus verschiedenen Perspektiven analysiert werden. Essen, Autofahren, Sex, auf eine Prüfung lernen - was passiert dabei, oder genauer: wer/ was macht das? Und wovon hängt es ab, dass die jeweilige Handlung so abläuft, wie sie abläuft? Die vier eben genannten Handlungen können als ein kleiner Ausschnitt aus dem Mosaik aller Handlungen einer Person an einem Tag gelten. Sie müssen zur Beobachtung oder Beschreibung eingeklammert werden, wodurch der Rest ausgeklammert wird, aber dennoch unbeachtet existiert und jederzeit aktiviert werden könnte. Man kann sich bei der Handlungsanalyse z.B. zunächst auf das konzentrieren, was beobachtbar ist (Körperbewegungen, Lautäußerungen, Manipulation von Objekten) und von da aus dann weitere Merkmale erschließen, wie z.B. Gefühle (Langeweile, Lust, Ekel, Freude ...) oder Motivation (Ausdauer, Zielwandel, Hast, Anstrengungsbereitschaft ...) oder Kognitionen (Aufmerksamkeitszuwendung, Informationssammlung, Wissen ...) oder Kompetenzen (nützliche Fähigkeiten, Flüssigkeit und Eleganz der Abläufe, Qualität der Ergebnisse, Menge der in einer Zeiteinheit bewältigten Teilaufgaben ...) oder Identität des Akteurs (zur Schau gestelltes Selbstbild, Selbstsicherheit, Unverwechselbarkeit, Charakter ...) oder Art, Menge und Dichte sozialer Be- <?page no="257"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 239 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ziehungen und wechselseitiger Abhängigkeiten oder schließlich (Non-)Konformität mit gesellschaftlichen Regeln, Normen und Werten ... Autofahren ist nicht Gas-, Bremspedal und Lenkrad bedienen, sondern auch Verkehrsregeln beachten (bzw. bei Verkehrskontrollen überzeugende Ausreden parat haben), mit dem Beifahrer reden und sich von seinen stets hilfreichen Kommentaren (wenn's ein Mann ist) nicht irritieren lassen, Freude am Fahren haben (soweit es die Marke hergibt), kritische Situationen routinisiert und unfallfrei meistern, andere Verkehrsteilnehmer, die Straßenverhältnisse, die Motorengeräusche etc. aufmerksam registrieren, einen eigenen Fahrstil kultivieren und sich sicher sein, allen Herausforderungen gewachsen zu sein ... Was macht eine Fahrlehrerin, die einem Anfänger das Autofahren beibringen möchte (anders gesagt: ihn so beeinflussen möchte, dass er die Fahrprüfung besteht)? Sie muss ihm zeigen wie man richtig sitzt, was die vielen Instrumente, Schalter, Hebel, Warnlichter usw. bedeuten und wie man mit ihnen umgeht, sie muss typische Abläufe einschleifen (anfahren, einparken, überholen), sie wird ihm die wichtigsten Verkehrsregeln eintrichtern und dafür sorgen, dass er sich an sie hält, sie will die Schweiß- und Angstperlen von seiner Stirn wegkriegen und ihm, der nichts kann und alles falsch macht, Mut machen und sein Selbstvertrauen aufbauen, ihn respektieren und sich selbst und anderen Verkehrsteilnehmern Respekt verschaffen usw. Auch mikropolitisches Handeln ist Resultante einer Vielzahl ineinander greifender Determinanten. Das breite Spektrum von Einflusstaktiken, die im Kap. 2 vorgestellt wurden, ist ein konkreter Beleg dafür, dass erfahrungsgestützt davon ausgegangen wird, dass es viele Wege zum Ziel der Handlungssteuerung gibt. Man kann mit der Heuristik arbeiten, dass die empirisch identifizierten Taktiken Hebel oder Treiber der Handlungsbeeinflussung verraten. Die Methode ein Geschehen zu verändern, liefert Indizien für die Determinanten und Zusammenhänge, die dieses Geschehen steuern. Handlungen sind definitionsgemäß prozessual ('laufen ab') und deshalb ist Veränderung ihr Wesensmerkmal. Diese Veränderung hat keinen Beginn und hört nicht auf, sie wird immer willkürlich interpunktiert (siehe die folgende Abb. 4-1). Akteure und Beobachtende sind es, die den Verlauf in Abschnitte gliedern, Ausschnitte vergrößern und miteinander in Beziehung setzen. Man hat es bei Beobachtungen immer mit 'Abstraktionen aus einem Aktivitätskontinuum' zu tun (Thomae 1965, 45). Wird Handeln nicht als unitäres Konstrukt gesehen, sondern als ein multiplexes Geschehen, das mehrere voneinander unabhängige Facetten hat, dann kann sich Einfluss - als Veränderungsbewirkung - auf einzelne, mehrere oder alle dieser Konstitutionsmerkmale beziehen. <?page no="258"?> 240 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 4-1: Die Vernetzung von Bedingungen, Taten und Folgen Legende: Aus dem anfangs- und endlosen Aktivitätskontinuum einer Person wird ein kleiner Ausschnitt heraus vergrößert, in dem ein Handlungsstrang ('Taten') betrachtet wird (mittlere Ebene). Die 'Taten' sind Folgen (sowohl Abfolgen von Handlungen wie Re-Aktionen auf Bedingungen) und haben Folgen (die zu Bedingungen werden, siehe Pfeil ). Jede dieser Handlungen ist mehrfach 'bedingt' (beeinflusst durch frühere, aktuelle oder antizipierte Gegebenheiten) und jede Handlung zieht 'Folgen' nach sich - unmittelbare und verzögerte (Pfeil ). Folgen und Bedingungen werden überdies durch dritte (handlungsunabhängige) Einflüsse mitbestimmt (Pfeil ). Künftige (erhoffte oder befürchtete) Folgen (Pfeil ) können ebenso wie vorweggenommene Bedingungen (Pfeil ) das aktuelle Handeln beeinflussen. Wenn in einer derartigen Situation (partiell intransparent, mehrfach determiniert, wechselseitig abhängig, durch verzögerte und antizipierte Bedingungen beeinflusst etc.) Handlungen soziale Adressaten, Bedingungen oder Folgen haben, bietet sich ein günstiges Milieu für Mikropolitik. Abb. 4-1 ist individualistisch konzipiert; sie geht von der Handlungskette einer Person aus. Erhebliche Komplikationen sind zu erwarten, wenn "ich agiere" erweitert wird zu "wir interagieren" und zugleich mehrere vernetzt Handelnde betrachtet werden. Aber schon in ihrer vereinfachenden Form macht die Skizze deutlich, wie voraussetzungsvoll es ist, die Einheit einer Handlung zu konstatieren. Ist z.B. 'Kar- Tat x Bedingungen x Folgen x Tat x+1 Bedingungen x+1 Folgen x+1 Tat x+2 Bedingungen x+2 Folgen x+2 Tat n Bedingungen n Folgen n Aktivitätskontinuum <?page no="259"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 241 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ riere machen' eine einzelne geordnete Handlungssequenz oder eine lange Handlungskette mit -zig Wendepunkten, Abzweigungen, die ins Nichts oder zu nichts führen und fremden Zu-Taten, deren Zusammenhang sich erst rückblickend erschließt oder im Nachhinein konstruiert wird? Ein Entscheidungs- oder Handlungsmodell ist eine kognitive Repräsentation, in der das Tun rück- oder vorausschauend geordnet wird. Als Repräsentation ist das Modell vom Handeln doppelt entfernt: der Beschreibende hält sich heraus und das Geschehen auf Abstand und er hat aus dem Bild scheinbar unwichtige Details getilgt. Tatsächliches Handeln ist keine 1: 1-Umsetzung des notwendigerweise abstrakten Entwurfs, sondern fordert ganz andere Qualitäten. Dies hat Brunsson (1989) mit seiner Unterscheidung zwischen Entscheidungs- und Handlungsrationalität thematisiert. Bei der Implementierung von Handlungsentwürfen werden unbedachte Risiken und Gefahren sichtbar und dulden keinen Aufschub, neue Chancen können auftauchen und müssen sofort ergriffen werden. Keine noch so ausgefeilte Planung kann das Auftreten von Un-Erwartetem und Un-Bedachtem ausschließen (s. Böhle 2004; Weick & Sutcliffe 2003 ). Beim Handeln gibt es - anders als bei der Reflexion, wo man Abstand nehmen und 'Denkpausen' einschalten kann - kein Aussetzen; man kann nicht nicht handeln. Das ungeplante, drängende und dringliche Aktuelle muss bewältigt werden. Modelle der Handlungsregulation - z.B. das VVR-Modell von Hacker (1986, s. S. 269) oder das TOTE-Modell von Miller, Galanter & Pribram (1973) - sehen deshalb vor, dass fortwährend getestet, verglichen und rückgekoppelt wird, um sicher zu gehen, dass man auf dem richtigen Weg bleibt. Insofern ist jedes situationsangemessene Handeln Probehandeln, vorläufig und tastend, ein Ereignis, das im Moment seines Entstehens vergeht und keine Dauer hat, es sei denn in den Spuren seiner Artefakte oder in Erfahrungen, die sich als Routinen eingeschliffen oder zu Handlungsmaximen verdichtet haben. Hat man sich "festgelegt" (neudeutsch: committed), gibt es kein Zurück mehr und gerade das lässt solches Handeln oft mechanisch, unflexibel, stur und ineffizient erscheinen. Um dieser Fixierung zu entgehen, wird die plangetreue durch die zielbewusste Ausführung dominiert, bei der dann immer wieder neue Entscheidungen zu treffen sind, unter anderem deshalb, weil das Vorhergesagte nicht wie vorhergesagt, sondern anders, später oder gar nicht eintrifft. Es ist - paradox genug - stets mit Überraschungen, Enttäuschungen und Chancen zu rechnen. Wenn es erstens stets anders, zweitens als man denkt kommt, ist es nicht getan(! ) mit einmaligen Bilanzierungen und Beschlüssen à la Fazit und Fiat (siehe das Volitionsmodell auf S. 273). Mikropolitisches Handeln hat zudem die Besonderheit das Handeln Anderer durch das eigene Handeln zu stimulieren oder gar zu steuern. Das eigene Ziel wird vermittelt, näm- <?page no="260"?> 242 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ lich durch das Tun der/ des Anderen erreicht, für das ebenfalls Freiheitsgrade gelten; damit wird dem ohnehin schon komplexen Eigenhandeln eine weitere schwer beherrschbare Komplexitätsstufe hinzugefügt. Schließlich ist ein weiteres Mal daran zu erinnern, dass man sich den Handelnden nicht als unbewegten Beweger vorstellen darf. Individuen existieren in und durch Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt, die sie verändern und die sie verändert. Deshalb wandeln sich in der Implementierung nicht nur Plan und Handlung, sondern auch Planende, Handelnde und Zielpersonen. In einem weit gefassten Sinn ist Handeln deshalb nicht nur Transformation der Umstände, sondern auch Selbst-Transformation oder Lernen, ein Lernen, das sich auf alle Handlungskomponenten erstreckt. Deshalb ist auch die handelnde Person nicht das unerschütterliche Fundament, das als Konstante (wörtlich: Beständige, Bestehende) im Handlungskalkül angesehen werden kann: Ihr Wissen, Wollen, Können etc. ändert sich durch ihr wissendes, wollendes, kompetentes Tun. 4.1.1. Die dyadische Grundstruktur einer Einflusssituation Handeln ist realitätsveränderndes Tätigsein einer Person. Es wird ein Akteur unterstellt, der sich von 'der Welt' und anderen Personen unterscheidet und Mittel und Energien einsetzen kann, um Unterschiede zu machen. Damit ist - anders als bei systemischen Ansätzen - die Dominanz eines handlungsfokussierten Vorgehens betont. Die Grundstruktur einer dyadischen Einflusssituation ist in Abb. 4-2 dargestellt. A beeinflusst Z ("den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchsetzen"). Der Einfluss-Ausübende Akteur A versucht durch/ mittels Akteur Z (Zielperson oder Adressat seiner Einflusstaktiken) seinen Zweck zu erreichen. Für den Einfluss ausübenden Akteur ist die Zielperson Mittel zum Zweck und dieser (also das beabsichtigte Resultat) ist es, das A anstrebt und für das er Z instrumentalisiert (z.B. seine Unterstützung gewinnt, seine Blockade ausschaltet). Akteur A hat dabei eine doppelte Reflexion vorzunehmen: er muss sein eigenes Tun bedenken, planen und bewerten und zugleich auch die Situation seiner Zielperson Z imaginieren. Akteur A prüft, bevor er handelt, seine eigene Situation, <?page no="261"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 243 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 4-2: Die archetypische mikropolitische Situation um zu ermitteln, ob ein Einflussversuch Erfolg verspricht. 55 Im zweiten Schritt wird dann von A der gleiche Prüfungsdurchlauf für die Zielperson oder -gruppe Z vorgenommen, also analysiert, wie deren mutmaßliche Situation ist und an welchen ihrer Schwächen, Stärken oder Besonderheiten angesetzt werden kann, um Einflusserfolg zu haben. Geht A davon aus, dass Z mit Geld bestochen werden kann, um Entscheidungen im Sinne As zu treffen, dann muss er z.B. herausfinden, wie hoch das Anspruchsniveau von Z ist. Ist Z wohlhabend, dann wird seine Käuflichkeit vielleicht erst mit einem Betrag ab 10.000.- € beginnen. Hat aber A maximal 1.000.- € verfügbar, braucht er den Versuch gar nicht zu starten. Im umgekehrten Fall kann unter Umständen A, selbst wenn er über ein Bestechungsbudget von 100.000.- € verfügte, beim womöglich armen Z dennoch nicht landen, weil dieser feste moralische Grundsätze hat oder aber als 50-jähriger Beamter seine Stelle riskieren würde, was - wegen Entlassung aus dem Dienst und Verlust der Pensionsberechtigung - einen geldwerten Verlust von 1 Million € bedeuten könnte, ganz zu schweigen von einer strafrechtlichen Ahndung. Es ist aus einsichtigen Gründen nicht möglich, die Komplexität, die mit diesem Ansatz entfaltet wird, im einzelnen durchzudeklinieren. Denn nicht nur die Matrix der "Einflussbeziehungen 1. Ordnung" wäre zu berücksichtigen (jedes der noch zu diskutierenden acht Merkmale bei A kann mit jedem der acht Merkmale bei Z in Be- 55 Diese - übertrieben rationale? - Maxime "Erst zielen, dann schießen" muss nicht immer optimal sein. Es mag sein, dass "blind um sich schießen" oder "Erst schießen, dann Treffer zählen" besser ist (vor allem wenn es in einem Akt 'retrospektiver Sinngebung' möglich ist, das Getroffene als das eigentlich Angezielte zu verkaufen). Lichtenberg hat es 1773 so gesagt: "Die Regel, daß man nicht eher reden oder schreiben solte bis man gedacht habe, zeigt von vielem guten Willen des Verfassers, aber von wenigem Nachdencken, und der gute Mann dachte wohl nicht daran, daß man, um mich Schöppenstädtisch, aber kräfftig, auszudrücken, sein Gesez nicht halten kan ohne es zu übertretten" (Lichtenberg 2005, 343f.). Akteur A Agent Akteur Z Zielperson intendiertes Resultat R tatsächliches Resultat R <?page no="262"?> 244 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ziehung gesetzt werden), sondern auch Bündelungen von Merkmalen oder die unendliche Ausgestaltung der inhaltlichen Qualifikationen der einzelnen Merkmale. Wenn man bestechen will, kann man das z.B. mit Bargeld, Urlaubsreisen, Immobilien, Bordellbesuchen, Drogen, Autos usw. tun, man kann die 'Zahlung' direkt leisten oder über Dritte verschleiern, man kann sofort oder zeitlich verzögert korrumpieren usw. Es geht mir nicht um diese Einzelheiten, sondern um die Veranschaulichung des Prinzips. In der Praxis muss es vereinfachende Routinen oder Abkürzungen geben. Es ist z.B. möglich, dass sich die Pappenheimer kennen; A weiß dann aus Erfahrung, dass sie bei ihrer Vorgesetzten Z nichts mit Schmeicheleien erreicht, sehr viel aber mit pünktlicher, fehlerfreier Leistung, dass sie Z kaum mit Fachwissen imponieren kann (weil das schlichtweg vorausgesetzt wird), wohl aber mit Loyalität und Integrität, dass Z allergisch auf Druck und Erpressungsversuche reagiert, dass es aber gut bei ihr ankommt, wenn man Nehmerqualitäten und Stresstoleranz zeigt. Der kognitiven Überforderung wird mit entscheidungs- und handlungsentlastenden Schemata oder Skripten vorgebeugt. Grundsätzlich gilt, dass die Sammlung von Informationen über die Zielperson nie zu einem sicheren Resultat führt, sondern bestenfalls zu wahrscheinlichen, mehr oder weniger gut fundierten Ergebnissen, die zudem unvollständig sind und von wechselnden Umständen abhängen. Außerdem kostet Informationssuche Zeit und Geld und begründet Verpflichtungen. Man muss deshalb mit abkürzenden vereinfachenden Routinen rechnen. Diese können im Extremfall soweit gehen, dass überhaupt keine Informationen über Z und ihren Kontext gesucht werden, sondern dass ein 'eingefleischtes' (in Fleisch und Blut übergegangenes) Standardprogramm gefahren wird: "Egal, was der Fall ist, handle machiavellistisch! " könnte eine beispielhafte Maxime für ein dispositionell gesteuertes Handeln sein (siehe dazu auch die "Passepartout-Handlungen" in Neuberger 1987). Realistischer aber dürfte sein, dass Akteure Schemata oder Skripten entwickeln, die bestimmte Aspekte, Ausschnitte oder Sequenzen erfahrungsgestützt standardisieren. Ein Beispiel dafür sind die 'power mental models' (PMM), die Fiol, O'Connor & Aguinis (2001, 225f.) diskutieren: "PMMs sind organisierte mentale Repräsentationen der eigenen Macht und der Macht anderer, die innerhalb eines bestimmten Kontexts zu relativ vorhersagbaren Verhaltensweisen führen. PMMs können sich auf einen selbst oder auf die eigene Gruppe oder auf andere Individuen oder Gruppen beziehen. Wir bezeichnen jene als 'Identitäts-PMMs' und diese als 'Reputations-PMMs'. Ein Identitäts-PMM ist das System der Überzeugungen, die eine Einheit in Bezug darauf hat, wie machtvoll sie <?page no="263"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 245 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ selbst ist; ein Reputations-PMM ist das System der Überzeugungen, die andere darüber haben, wie machtvoll die Einheit ist." Mentale Modelle und Skripten enthalten quasi-automatisierte Sequenzen. So legt das "Unterstellten-Skript" ein anderes Handeln nahe als das "Vorgesetzten-" oder "Kollegen-Skript" (ein Grund dafür, dass es die POIS in drei Varianten gibt! ). Es kann erprobte und akzeptierte Skripten geben für Funktionsklassen (z.B. Kritikgespräch, Personalbeurteilung, Zielvereinbarung, Gehaltsfindung etc.) oder weniger elaborierte bzw. besonders rigide für Notfälle, Zeitdruck, Alltagsaufgaben … In all diesen Situationen genügt es die entsprechende Kategorisierung aufzurufen, um ein habitualisiertes denkentlastendes Programm zu aktivieren. Nur in ungewohnten oder komplizierten Fällen muss man nach- oder vordenken. Die Informationsgewinnungs- und -verarbeitungsproblematik macht deutlich, dass es effektiv und effizient sein kann, Entscheidungsprämissen dauerhaft und generell zu institutionalisieren. Wenn per Rolle, Gesetz, Verhaltensnorm, Tradition, Wertordnung etc. ein bestimmter Handlungskorridor vordefiniert ist (und erfahrungsgemäß eingehalten wird), braucht man sich nur noch um Feinheiten zu kümmern. Bedeutsam ist, dass durch solche Prothesen nicht nur die mentalen Repräsentationen, sondern auch die Interaktionsbeziehungen unterstützt werden, weil Akteur A auf die - seiner eigenen Situation strukturanalogen - handlungsgenerierenden und -konditionierenden Prozesse der Zielperson re-agieren muss. Eigenes Tun produziert quasi spiegelbildlich das Tun des Anderen, auf das wiederum reagiert werden muss. Dem 'ich handle' entspricht ein 'sie handelt' (und dahinter stehen 'ich weiß' und 'sie weiß', 'ich fühle' und 'sie fühlt', 'ich will' und 'sie will' usw. Die Attributionen, die für die 'andere Seite' vorgenommen werden, sind unsicher und unvollständig und sie müssen - weil es um soziales Handeln geht - zudem unterstellen, dass die Zielperson die Diagnosen ihrerseits antizipiert und unter Umständen versuchen wird, diese Eindrucksbildung zum eigenen Vorteil zu manipulieren (was natürlich wiederum vom Akteur einkalkuliert werden kann usw. ad infinitum). Nicht wie der Andere 'in Wirklichkeit ist', steuert mikropolitisches Handeln, sondern wie er typisiert wurde. Dies ist vermutlich auch einer der Gründe dafür, dass bei Untersuchungen der Übereinstimmungsgültigkeit beim Einsatz politischer Taktiken (wenn Selbst- und Fremdbeschreibungen in Beziehung gesetzt werden) recht niedrige Korrelationen resultieren (wie vorne - siehe S. 116f. - gezeigt). Denn die Befragten verwenden wahrscheinlich unterschiedliche Skripten und erinnern zudem unterschiedliche Episoden, zu denen das jeweilige Fragebogen- <?page no="264"?> 246 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Item passen könnte. Die notwendige Folge ist, dass zwei Urteilende, die die gleiche Geschichte berichten oder beurteilen, zwar beide durchaus realitätsgerecht antworten - aber eben an verschiedene Ereignisse denken, die sie zudem verschieden bewerten! Ein Weiteres kommt hinzu: Selbst wenn die Diagnose zutrifft, ist nicht sichergestellt, dass der Akteur über die Fähigkeiten und das Können verfügt, das Erforderliche oder Beste auch tatsächlich zu tun 56 . Schemata und Skripten orientieren die Wahrnehmung und regulieren das Antworthandeln, aber wie dieses konkret abläuft ist mitbestimmt durch die verfügbaren Handlungskompetenzen. Nicht zuletzt ist, um die Handlungssequenz zu vervollständigen, auch noch an R zu denken. R kann ein konkret bestimmtes, einmaliges finales Resultat sein, das sich A aneignen möchte (wie z.B. ein höherer Posten, eine Gehaltserhöhung, ein unbefristeter Arbeitsvertrag, eine bessere Arbeitsausstattung usw.); mit dessen Erreichen ist das Spiel beendet. Handlungsziel kann aber auch der Aufbau einer generischen Potenz (Macht als Handlungsvermögen) sein, mit deren Hilfe ein breiter Bereich von konkreten Ergebnissen erzeugt werden kann, ohne dass ein bestimmtes Ergebnis inhaltlich vorab schon bezeichnet wäre. Eine Folge intermediärer (vermittelnder) Zwischen-Ziele rückt dann an die Stelle des End- oder Leitziels; es werden Ressourcen geschaffen oder angeeignet, die sich für multiple Ziele nutzen lassen. Es geht somit darum, eine Art Infrastruktur für künftige Ergebnisse zu schaffen, z.B. durch Prozesskontrolle, Reputationsaufbau, Expertise, strategisch günstige Positionierung, Netzwerkzentralität usw. 4.1.2. Inhaltliche Erweiterung der Grundstruktur durch acht Handlungskomponenten Die in Abb. 4-2 skizzierte Basisstruktur wird im Folgenden durch zusätzliche Annahmen erweitert werden. Der erste Schritt der Komplizierung besteht darin, dass die Akteure A und Z nicht mehr undifferenziert als Ganzheit betrachtet werden. Es werden vielmehr acht Einzelaspekte unterschieden, von denen angenommen wird, dass sie die Wahl der Einflusstaktik bzw. die Reaktion auf sie konditionieren. Die folgende Abb. 4-3 nennt zunächst jeweils den Leitbegriff und darunter eine plakative Kurzformel, die aus der Ich-Perspektive eines mikropolitischen Akteurs formuliert ist; in den Randspalten wird das Merkmalsfeld umschrieben, das damit gemeint ist. 56 Was zunächst nur auf den Eunuchen (oder - was aufs Gleiche rauskommt - den Theoretiker) gemünzt scheint, bezeichnet in vielen Situationen auch den Normalakteur: er wüsste zwar wie's geht, aber er kann nicht. <?page no="265"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 247 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 4-3: Bedingungen der Handlungswahl. Ansatzpunkte für mikropolitische Einflussversuche Diese Aspekte sind auch deshalb für die Fundierung von Einflusstaktiken interessant, weil sie nicht eindeutig und vollständig erfassbar sind, aus Indizien erschlossen werden müssen, sich in stetem Wandel befinden und nicht nur Eigenheiten sind, sondern auch Anders- oder Fremdheiten, nämlich in Art und Ausprägung vom sozialen Kontext abhängen, in dem sie entwickelt und gezeigt werden. Darin liegen mikropolitische Relevanz und Brisanz, weil Personen weder für sich noch für andere gänzlich zu durchschauen (dia-gnostizieren) sind: die Person ist kein 'Ding an sich', dessen Wirklichkeit oder Wahrheit erkannt werden könnte. Als Objekte von Wahrnehmung, Diskurs und Aktion sind Personen immer Konstrukte. Dies gilt nicht zuletzt für die Selbst-Erkenntnis (im Doppelsinn: sich selbst und ein fremdes Selbst erkennen). Was einer ist, wird er - und zwar durch die Rückmeldungen, die er von konkret-bekannten und anonymen Anderen erhält. Aber auch wenn das Selbst nicht auf Fels, sondern Treibsand errichtet ist, muss das resultierende Bauwerk nicht fragil sein: es gibt selbsttragende und Selbst tragende Konstruktionen, die Erdbeben, Stürme und Fluten (eine Zeitlang) aushalten. Deshalb ist es wegen der unabsehbaren Folgewirkungen riskant, mit scheinbar kleinen, unmerklichen Eingriffen einzelne Elemente dieser Konstruktion auswechseln oder verformen zu wollen. Mikro-Politik nutzt solch minimal invasive Techniken, deren Wirkung umso Identität Selbstbild, Selbstdarstellung, Reputation etc. Kognition Wissen, Informationsverarbeitung etc. Kompetenz Können, Fähigkeiten, Potenzial, Macht, Ressourcen etc. Motivation Wille, Interessen, Bedürfnisse, Ziele etc. Relationen Netzwerke, Kontakte, Abhängigkeiten etc. Emotion Emotionen, Affekte, Stimmung, Laune etc. "Identität" (Ich bin ich) "Kognition" (Ich weiß) " Kompetenz " (Ich kann) "Motivation" (Ich will) A "Emotion" (Ich fühle) "Relationen" (Beziehungen) Institutionen Ordnungen, Werte, Strukturen, Regeln, Gesetze, Normen etc. "Institutionen" (Ordnungen) " Körperlichkeit " (Ich bin verkörpert) Körperlichkeit, Natur, Sinnlichkeit, Materialität, Artefakte etc. <?page no="266"?> 248 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ beherrschbarer wird, je besser man den Bauplan der Konstruktion, die verwendeten Materialien und ihre Verarbeitung kennt und je mehr es gelingt, nicht als von angemaßter Expertise geblendeter Systemmechaniker oder -arzt aufzutreten, sondern jene Druckpunkte zu finden, die Auto-Poiese oder zumindest Selbstreparatur auslösen. Um diese Einsicht umzusetzen, werden Personen/ Akteure nicht als irreduzible Ganzheiten gesehen, sondern analysiert, also ganz buchstäblich zerlegt in verschiedene 'Dimensionen' oder 'Aspekte'. Gerade der Aspekt-Begriff liefert aufschlussreiche Hinweise: Es geht um An- oder Hinsichten. Selbst etwas so Solides wie ein Berg wird jedes Mal anders aussehen, wenn er von Norden oder Süden, von oben oder von innen, von einem Förster oder einem Bergmann, einem Touristen oder Vermessungsingenieur angeschaut wird - obwohl es immer 'derselbe' Berg ist. Ich will damit sagen, dass im Prinzip unendlich viele verschiedene Merkmale eines Akteurs thematisiert werden könnten; jede Akzentsetzung kann relevante Hinweise geben. Den Merkmals-Set, den ich im Folgenden beschreiben werde, rechtfertige ich mit mehreren Begründungen: Zum einen greift er Differenzierungen auf, die sich in handlungstheoretischen Entwürfen etabliert haben, stützt sich also auf Konventionen oder Traditionen. Dieses Cosi fan tutte-Argument verspricht keine neuen Impulse, aber es lässt auf einen reichen Bestand an Überlegungen zurückgreifen. Allerdings wird mit diesem Kriterium die Menge der Möglichkeiten nur wenig eingeschränkt. Deswegen habe ich als weiteres Selektionsprinzip die Nützlichkeit für eine Einflusstheorie (die sich an der Praxis des Einflusshandelns orientiert) gewählt; dieses Kriterium habe ich - zugegebenermaßen zirkulär - an den verbreiteten Einflusstaktiken hypothetisch validiert. Ich gehe dabei von der Vermutung aus, dass eine Einflusstaktik eine bestimmte Akteurscharakteristik (oder mehrere in Kombination) adressiert und ihre Wirkungserwartung auf die Art, Bedeutung oder Ausprägung dieses Merkmals gründet. Um ein Beispiel zu geben: Die Taktik 'Einschmeicheln' kann nur mit Erfolg rechnen, wenn es für den Adressaten wichtig ist, in seinen Eigenheiten wertgeschätzt zu werden. Zielen Schmeichelversuche auf Wissen, Können, Wollen etc., dann steht nicht deren möglicher Beitrag für Problemlösung oder Sachzielerreichung im Mittelpunkt, sondern die Nutzung als Kenn-Zeichen oder Auszeichnung, die die Zielperson als 'Selbst' unterscheiden von Anderen, die vor allem als Referenzpersonen zur kontrastierenden Abhebung herhalten müssen. Als zusätzliche Quelle für die Identifikation handlungsbestimmender Merkmale können organisationspsychologische oder -soziologische Lehrbücher genutzt wer- <?page no="267"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 249 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ den. Die Inhalte, die sie behandeln, können als Hinweise für wichtige Forschungsgebiete gelten. Es geht in den Lehrtexten um die Auseinandersetzung mit erfolgskritischen Problemfeldern, z.B. Fragen der ergonomischen Gestaltung von Arbeitsbedingungen, Stress und Burnout, Motivation und Führung, Gruppenzusammensetzung und Kooperation, Organisationsentwicklung und Wissensmanagement, Personalbeurteilung und -auswahl etc. Mit diesen thematischen Akzentsetzungen lassen sich unschwer die Kategorien in Beziehung bringen, die ich als Ansatzpunkte für die Handlungssteuerung zusammengestellt habe. Im Kontext der Akteursorientierung sei an eine Trivialität erinnert: Maschinen können nicht mikropolitisch handeln (zumindest wenn man von der 'Tücke des Objekts' absieht). Es sind Personen, für die Informationen verständlich, hilfreich oder niederschmetternd sind, es sind Personen, die sich über Regeln hinwegsetzen, es sind Personen, die Beziehungen knüpfen und auflösen und in Tauschakte einwilligen … Auch wenn man daran festhält, dass 'der Mensch' nicht im Mittelpunkt steht, muss man davon ausgehen, dass die Elemente von Organisationen, nämlich Erwartungen, Entscheidungen und Handlungen Personen zugerechnet werden, die erwarten, entscheiden, handeln. Die Akteure und Adressaten des Handelns werden nicht als "Schöpfer aus dem Nichts" verstanden, sondern als geformte Formende. Damit wird eine reflexive Beziehung unterstellt: Haben Personen mit ihren Handlungsstrategien Erfolg, kristallisieren sich diese zu Gewohnheiten, Routinen oder Handlungsmustern, die - erwartet und belohnt - zum Habitus zusammenwachsen können. Weil Handeln fast immer in komplementären Rollen abläuft oder diese entstehen lässt, gibt es Täter und Opfer, Aktive und Passive, Taktiker und Naive etc., die in heimlichem, oft selbst nicht durchschautem Zusammenspiel interagieren. So wie sich bei den in Kap. 3 diskutierten organisationalen Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik Handlungsmöglichkeiten aus Freiheitsgraden, Spiel-Räumen, Regelungslücken und Widersprüchen ergeben, so ist auch die handelnde Person wegen ihrer Nicht-Festgelegtheiten, Disharmonien, Spannungen und Konflikten gut für Überraschungen und Innovationen. Der homo oeconomicus kann der Modelllogik folgend rational handeln, weil ihm zugestanden oder zugemutet wird, alle nötigen Informationen, eine geordnete Präferenzstruktur und eindeutige Entscheidungsregeln zu haben. Der homo empiricus muss auf diese Privilegien verzichten: er weiß nicht genau, was er sieht und kann; probehandelnd lernt er es, ohne aber je Gewissheit zu gelangen. Der homo politicus mag zwar der Intention nach vorteils- <?page no="268"?> 250 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ maximierend handeln - aber es gelingt ihm wegen der komplexitätsbedingten Intransparenzen und Ambiguitäten organisierter sozialer Situationen nicht und genau das ist die Chance für beschränkte okkasionelle Rationalitäten. Das bedeutet nicht, dass "Gemeinwohl" oder "übergeordnete Ziele" von MikropolitikerInnen notwendigerweise sabotiert würden. Im Gegenteil, sie können durch eigenverantwortliches(! ) Handeln sogar gefördert werden. Aus mikropolitischer Perspektive ist der Akteur ge(kenn)zeichnet durch Eigensucht oder zumindest Eigennutz (am eigenen Vorteil interessiert), Eigensinn (auf der eigenen Position beharrend) und Eigensicht (aus subjektiver Perspektive sehend und wertend). Gesteht man diese Charakteristika allen Akteuren zu, leuchtet ein, dass und warum das politische Geschehen nicht wohlgeordnet abläuft. Jedes Subjekt ist auch Objekt (Adressat der Einflussversuche anderer Subjekte) und manövriert sich durch sein eigenes Handeln und das der Anderen in Situationen, die unvorhergesehen oder gar unvorhersehbar und gerade deshalb, wenn nicht immer nützlich, so doch nutzbar sind. Dies ist zugleich ein Plädoyer dafür, das ökonomische Konzept der synoptischen Rationalität (im Moment der Entscheidung hat man alles im Blick und Griff) zugunsten von 'prozessualer' (riskierender, lernender) Rationalität aufzugeben. Sich durchkämpfen, durchmogeln, durchwursteln ist dann eine angemessenere Beschreibung politischen Agierens. 4.2. Diskussion der acht Komponenten des Handlungsstruktur- Modells Nach diesen Vorbemerkungen werde ich nun die ausgewählten acht handlungsbestimmenden Aspekte erörtern. Die Darstellung ist auf den individuellen Akteur fokussiert; für kollektive Akteure (z.B. die Unternehmung) gelten nicht gleiche, sondern allenfalls ähnliche Bestimmungen; die dafür notwendige zusätzliche Begriffsarbeit kann illustriert werden etwa an der Differenz zwischen personaler und organisationaler Identität (corporate identity, 'Unternehmenspersönlichkeit') oder individuellen Emotionen vs. der Unternehmung als 'emotionaler Arena'. Ich werde die acht Merkmale jeweils in ihrer inhaltlichen Besonderheit skizzieren; sie haben alle einige methodische Qualitäten gemeinsam, die für eine konkrete Analyse zu berücksichtigen wären (sie können jeweils variieren z.B. im Hinblick auf Stabilität, Kontrollierbarkeit, Intensität etc.). Weil es mir nur um eine allgemeine Bestandsaufnahme geht, blende ich diese für ein konkretes Interaktionsgeschehen zweifellos bedeutsamen Qualifikationen aus. <?page no="269"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 251 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 4.2.1. "Ich bin ich": Identität, ein Selbst sein Wer spricht, spricht aus einer bestimmten Position; wer wahrgenommen wird, wird spezifisch wahrgenommen und etikettiert; wer handelt, verrät sich durch sein Tun, wer unter Vielen lebt, muss sich behaupten(! ) als 'Ich'. Einer der ersten Schritte einer mikropolitischen Analyse von Interaktionen ist es, die Einflussquelle zu identifizieren, also jenes Ego, das auf einen Alter einwirkt. Ego (wie schon gesagt: als Akteur und fiktiver Ausgangspunkt von Einfluss im Folgenden meist A genannt) bildet eine Identität aus, die Ich von nicht-Ich abgrenzt. Es geht also um die Besonderheit, Andersartigkeit, Einmaligkeit des 'Selbst', das durch Handeln konstituiert und verändert wird. Ein konturiertes 'Selbst' kann es nur geben, wenn es 'Andere' gibt, die anders sind (bzw. als anders/ Andere gesehen werden) und durch die A von seiner Besonderheit erfährt. A muss mit den 'Anderen' sowohl in Beziehung treten und abgegrenzt sein (siehe Thomas & Davies 2005; Alvesson & Willmott 2002). Mit der Formel "Ich bin ich" ist keine unwandelbare Entität gemeint, sondern eine geformte widersprüchliche Ganzheit, die sich durch ihr Tun und dessen Wirkungen und die Reflexion dieser Wirkungen bildet und verändert. Nicht das zeitlose "Ich bin, der ich sein werde", sondern das prozessuale "Ich bin, der ich werde" ist gemeint. Um das (Re-)Agieren von A verstehen und antizipieren zu können, ist es hilfreich die Selbst-Wahrnehmung von A zu kennen (z.B. dass sich die Person als klug, attraktiv, freundlich, kompetent, elitär usw. definiert). Spiegelbildlich gilt diese Identitätsbestimmung auch für Z als Ziel der Einflussversuche. A muss bei rationalem Vorgehen vorweg nehmen, als welche Person Z sich sieht oder besser: gesehen werden will. Insofern ist eine Art 'Profiling' unabdingbar für die Auswahl der - bei Z - vermutlich am meisten Erfolg versprechenden Taktik. Es macht z.B. einen Unterschied, ob Z als eitel oder geldgierig typisiert wird. Einen Geldgierigen mit Komplimenten zu überhäufen dürfte genauso wenig effektiv sein wie einen Eitlen zu mühevoller, unsichtbarer und selbstloser Arbeit im Dienst am Ganzen bewegen zu wollen und jenseitigen Lohn oder das gute Gefühl, seine Pflicht getan zu haben in Aussicht zu stellen. Z wird nicht wie ein Roboter ferngesteuert von A, sondern agiert - so sein Selbstverständnis (oder Selbstbetrug? ) - aus freien Stücken. Für A heißt das die relevanten Eigenheiten in Erfahrung zu bringen und so zu nutzen, das Z 'von sich aus' tut, was A will. <?page no="270"?> 252 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Der Zwang zur Selbstdarstellung als eine einmalige, besondere 'Persönlichkeit', der sich zur Theatralität oder gar zum Identitätsfetischismus steigern kann, wird auf eine schwere Probe gestellt. Einerseits werden in Unternehmen zahlreiche Gelegenheiten geschaffen, in denen 'Selbstoffenbarung' (self disclosure) erwartet wird (Beurteilungs-, Zielsetzungs-, Gehalts-, Personalentwicklungsgespräche), andererseits muss man - weil man stets unter Fremd-Beobachtung ist - fortwährend auch sich selbst überwachen (self monitoring), um die Selbst-Beherrschung/ Selbst-Disziplin nicht zu verlieren und schließlich muss man den Eindruck, den andere von einem haben sollen, aktiv gestalten (impression management). Bei alledem soll man self efficacy (Selbstwirksamkeit, Selbstvertrauen) entwickeln: die solide verankerte und ausgestrahlte Zuversicht, allen Herausforderungen gewachsen zu sein. Diese ununterbrochene 'Sorge um sich' macht die Person sowohl zum unablässigen Produzenten wie auch zum Adressaten mikropolitischer Manöver. Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn "Ingratiation" (Einschmeicheln) als Einflusstaktik hohe Aufmerksamkeit gefunden und sich - neben Rationalität - als besonders erfolgreich herausgestellt hat (siehe vorne S. 112ff.). In den folgenden beiden Belegen 4-1 und 4-2 wird anhand des MIBOS-Fragebogens 57 von Kumar & Beyerlein (1991) und einer Karrieretaktik-Prüfliste von Rosenfeld, Giacalone & Riordan (2002) der Facettenreichtum des Ingratiation-Konstrukts veranschaulicht. Beleg 4-1: Measure of Ingratiating Behavior in Organizational Settings (MIBOS, Kumar & Beyerlein 1991) Die Befragten müssen auf einer 5-Punkte-Skala angeben, wie häufig sie tatsächlich das jeweilige Verhalten zeigen, wenn sie ihren Vorgesetzten beeinflussen möchten (1 = nie, 2 = selten, 3 = gelegentlich, 4 = oft, 5 = fast immer). Bei den im Folgenden abgedruckten Items sind in Klammer jeweils die Mittelwerte angegeben, die bei 148 berufstätigen StudentInnen in den USA ermittelt worden waren. In der folgenden Übersetzung ist nur die männliche Frageformulierung wiedergegeben; die Items sind den vier resultierenden (fett gedruckten) Faktoren zugeordnet; die Reihenfolge im Fragebogen geht aus den Anfangs-Nummern hervor. Andere ins beste Licht rücken (Other Enhancement) 1) Ihrem Chef klar machen, dass nur er Ihnen in bestimmten Situationen helfen kann (vor allem mit der Absicht, dass er sich gut fühlt). (2,89) 5) Die Leistungen, die unter seiner Führung erzielt wurden, in Meetings hervorheben, bei denen er nicht anwesend ist. (3,25) 8) Ihm sagen, dass Sie viel von seiner Erfahrung lernen können. (3,11) 57 MIBOS: Measuring Ingratiatory Behaviors in Organizational Settings <?page no="271"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 253 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 9) Viel Aufhebens von seinen bewundernswerten Qualitäten machen, um den Eindruck zu erwecken, dass Sie großen Respekt vor ihm haben. (3,57) 13) Ihren Vorgesetzten um Rat in Gebieten fragen, in denen er glaubt sich sehr gut auszukennen, um ihn spüren zu lassen, dass Sie sein Talent bewundern. (3,11) 15) Nach Gelegenheiten suchen Ihren Vorgesetzten zu bewundern. (3,36) 17) Ihren Vorgesetzten zu seinen Leistungen beglückwünschen, egal wie trivial sie Ihnen vorkommen. (3,22) Meinungskonformität (Opinion Conformity) 2) Ihm zeigen, dass Sie seine Begeisterung für seine neuen Ideen teilen, auch wenn Sie eigentlich nicht viel davon halten. (3,34) 6) Ihn häufig anlächeln, um Ihre Begeisterung für etwas auszudrücken, was ihn interessiert, auch wenn das Ihnen selbst nichts bedeutet. (3,10) 7) Die gleiche Arbeitseinstellung wie Ihr Vorgesetzter zum Ausdruck bringen, um ihm dadurch zu demonstrieren, dass sie sich beide sehr ähnlich sind. (3,01) 10) In trivialen oder unwichtigen Angelegenheiten widersprechen, aber bei jenen Angelegenheiten zustimmen, bei denen er Ihre Unterstützung erwartet. (3,44) 11) Die Arbeitsweisen Ihres Vorgesetzten zu imitieren suchen, z.B. Arbeiten bis spät in die Nacht und am Wochenende. (3,34) 16) Ihrem Vorgesetzten zeigen, welche Einstellungen Sie mit ihm teilen. (2,80) 18) Herzhaft zu den Witzen Ihres Vorgesetzten lachen, auch wenn sie nicht wirklich lustig sind. (3,68) Selbstpräsentation (Self-Presentation) 3) Versuchen ihn wissen zu lassen, dass Sie als sehr beliebt gelten. (3,51) 4) Versuchen sicherzustellen, dass er von Ihrem Erfolgen erfährt. (2,77) 12) Nach Gelegenheiten Ausschau halten, in denen Sie dem Vorgesetzten Ihre Vorzüge und Stärken zeigen können. (2,58) 21) Versuchen Ihre eigenen Qualitäten eindrucksvoll zu präsentieren, wenn Sie Ihren Vorgesetzten von Ihren Fähigkeiten überzeugen wollen. (2,95) Gefälligkeiten erweisen (Favor Rendering) 14) Versuchen Ihrem Vorgesetzten Arbeiten abzunehmen, um damit Ihre selbstlose Großzügigkeit zu demonstrieren. (3,16) 19) Sich große Mühe geben, um für Ihren Vorgesetzten Besorgungen zu erledigen. (3,07) 20) Ihrem Vorgesetzten Hilfe anbieten, indem Sie Ihre persönlichen Beziehungen nutzen. (3,23) 22) Ihrem Vorgesetzten freiwillig Ihre Hilfe anbieten in Angelegenheiten wie Wohnungssuche oder dem Finden einer guten Versicherung. (3,47) 23) Sich Zeit nehmen die persönlichen Probleme Ihres Vorgesetzten anzuhören, selbst wenn Sie nicht daran interessiert sind. (3,11) 24) Ihrem Vorgesetzten freiwillig Hilfe bei seiner Arbeit anbieten, auch wenn dies für Sie zusätzliche Arbeit bedeutet. (2,85) Anzumerken ist, dass Harrison, Hochwarter, Perrewé & Ralston (1998) bei einer Überprüfung des MIBOS die testtheoretische Qualität des Instruments negativ beurteilt haben. <?page no="272"?> 254 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 4-2: Impression Management Karriere-Strategien Rosenfeld, Giacalone & Riordan (2002, Tab. 7.2., 170-171) Strategie Definition Ziel der Eindrucksmanipulation Altercasting (eine andere Rolle zuweisen) Strategien, die jemand in eine andere Rolle zu drängen versuchen. Eine Person in ein anderes Image manövrieren, das eigenen Zielen förderlich ist. Disclosing obstacles (Hindernisse aufdecken) Jene (realen, imaginierten oder erzeugten) Hindernisse offen legen, die beim eigenen erfolgreichen Handeln zu überwinden waren. Den Eindruck vermitteln, dass die Person große Hürden überwinden musste, um erfolgreich zu sein und deshalb sehr kompetent und/ oder motiviert ist. Scapegoating (zum Sündenbock machen) Die Schuld am Misserfolg einer externen Ursache geben, die in Wirklichkeit minimal oder gar nicht dafür zu tadeln ist. Den Eindruck erwecken, dass man selber für einen offenkundigen Misserfolg nicht zu tadeln ist. Window-dressing (sich im besten Licht darstellen) Der Einsatz physischer Veränderungen in der Umwelt oder im eigenen Erscheinungsbild, die eine Person attraktiver erscheinen lassen. Den Eindruck von mehr Prestige, Reichtum, Kompetenz oder anderen sozial erwünschten Merkmalen erwecken. Playing dumb (sich dumm stellen) Anderen den Eindruck vermitteln, es fehlten einem für die Arbeit in einer bestimmten Stelle das Wissen oder die Fähigkeiten. Erlaubt einem Mitarbeiter seine Karriere so zu definieren, dass nur jene Aufgaben übernommen werden, die die größte soziale Erwünschtheit und den höchsten Karrierenutzen haben. Depersonalizing (Depersonalisierung) Unerwünschte Ansprüche anderer vermeiden, indem man sie wie Objekte oder Zahlen behandelt. Den Anschein von Distanzierung, Objektivität und Professionalität erwecken, der anderen signalisiert, dass keine 'persönlichen', begünstigenden Entscheidungen zu erwarten sind. Smoothing (Glätten) Fluktuationen in den eigenen Leistungsanstrengungen oder ergebnissen verbergen. Den Anschein einer steten produktiven Leistungsrate erwecken. Stalling (Vorspiegelungen) Den Eindruck von Tätigsein erwecken, während man jedoch wenig oder nichts tut. Man macht den Eindruck eines hilfreichen Teamplayers, während man aber das Handeln unterminiert. Buffing (sich mit Belegen wappnen) Einsatz rigoroser Dokumentation und/ oder Anlegen von Dokumenten, um damit den Eindruck von Kompetenz oder Motivation zu machen. Der Anschein von Kompetenz oder Motivation wird durch die Produktion von Leistungsbelegen gefördert. Playing Safe (auf Nummer Sicher gehen) Situationen oder Entscheidungen aus dem Weg gehen, die ein schlechtes Licht auf den Mitarbeiter werfen könnten. Ein vorbeugender Versuch ein ungünstiges Image zu minimieren oder zu eliminieren. <?page no="273"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 255 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Misrepresenting (Info-Manipulation) Kritik durch Informationsmanipulation unterlaufen, z.B. mittels Verzerrung, Verschönerung, Täuschung, selektiver Darstellung oder Nicht-Weitergabe. Ein Image von sich entwickeln, das mit den eigenen Karrierezielen konsistent ist. Escalating commitment (sich immer mehr binden) Die fortgesetzte und gesteigerte Festlegung auf getroffene Entscheidungen. Den Eindruck erwecken, dass die eigenen Entscheidungen und die Entscheidungsstrategie richtig waren und man zunehmend engagiert ist. Stretching (in die Länge ziehen) Eine gegebene Arbeit in die Länge ziehen, um beschäftigt zu erscheinen. Beobachtern den Eindruck vermitteln, dass man fleißig ist und keine Zeitreserven hat. Expert-citing (Experten zitieren) Um eigene Entscheidungen zu belegen, geachtete externe Quellen oder Personen heranziehen. Den Eindruck erwecken, dass man von relevanten Personen respektiert wird oder dass sie die Leistungen wertschätzen. Association/ disassociation (sich in Verbindung bringen mit bzw. distanzieren von) Sich mit positiven Ereignissen oder Personen in Verbindung bringen und sich distanzieren von negativen Ereignissen und Personen. Den Eindruck erwecken, dass man zur guten Seite gehört und mit der negativen nichts zu tun hat. Overconforming (Überanpassung) Sich strikt halten an die festgelegten Verantwortlichkeiten und die damit verbundenen Richtlinien, Verfahren und Präzedenzfälle. Den Eindruck erwecken, dass man sich an die Regeln hält und/ oder dass man nicht für Probleme kritisiert werden darf, die mit solch einer strikten Vorschriftentreue verbunden sind. Passing the buck (den Schwarzen Peter weitergeben) Die eigene Verantwortung für die Erledigung einer Aufgabe einer anderen Person zuschieben. Eine vorbeugende Strategie, die darauf gerichtet ist, einen schlechten Eindruck von den eigenen Fähigkeiten zu vermeiden, besonders wenn es um eine Aufgabe geht, die nicht zu den eigenen Stärken zählt. Die im normalen Organisationsdiskurs betriebene Fokussierung auf Leistung, Aufgabenerfüllung, Zielerreichung etc. lässt übersehen, dass mit jeder Tat und jedem Produkt zugleich auch das Selbst des Täters/ Produzenten (re-)produziert oder modifiziert wird. Wer wir sind, erfahren und bestätigen wir über Wirkungen, die wir uns zuschreiben und Rückmeldungen, die wir erbeten oder unerbeten erhalten. Das Selbst oder die persönliche Identität ist ein prekäres Konstrukt, das in sich eine Reihe von Dilemmata ausbalancieren muss (s. Neuberger 2002). Man ist nur jemand, wenn man in bestimmter Hinsicht anders ist (sich von Anderen unterscheidet); man ändert sich und bleibt doch mit sich gleich; man hat viele Seiten und ist doch eine ganze, integrierte Persönlichkeit; man hat von sich ein Bild und muss es mit dem abweichenden, das Andere von einem haben, versöhnen; man hat <?page no="274"?> 256 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ einen zentralen, unveränderlichen Kern und eine Chamäleon-Außenhaut, die sich Erwartungen und Forderungen anpasst; man erlebt sich als Verursacher von Wirkungen und ist Spielball fremder Kräfte; man identifiziert sich (bezeichnet sich mit einem Namen) und ist damit nur unvollständig bezeichnet … (Siehe dazu die etwas anderen Akzentsetzungen in den neun Techniken oder Feldern der Identitätspolitik von Alvesson & Willmott 2002, 629ff.). Der Identitätsarbeit kann man sich nicht entziehen. Sie wird gesellschaftlich gefordert und mit Schemata unterstützt, die vorschreiben, was z.B. eine 'richtige Frau' ist oder ein 'richtiger Manager' (oder gar: eine 'richtige Managerin'! ) oder ein 'organizational citizen' oder ein 'Intrapreneur' … Weil es in Organisationen um die Brauch- und Verwertbarkeit der einzelnen Person geht, muss sie signalisieren, was sie ist und womit man bei ihr zu rechnen hat. Die 'Stellen', die ausgefüllt werden müssen, fordern ein bestimmtes Profil. Deshalb muss sich die Person in doppelter Weise zu erkennen geben: Sie muss, um (an-)erkannt zu werden, sichtbar sein und muss zu vermeiden suchen, dass andere Personen irgendein beliebiges Konterfei von ihr abspeichern, sondern muss ihnen ein passendes Bild vermitteln. Nicht was sie ist, sondern wie sie sich vorstellt und vorgestellt wird, ist relevant. 58 Nun ist fast alles, was gesehen und gesendet wird, mehrdeutig und interpretationsbedürftig - eine Situation, die Mikropolitik ermöglicht und herausfordert. Die strategische Aufgabe, sich den maßgeblichen Anderen geeignet zu präsentieren, ist ein aktiver, vom Subjekt gestalteter Prozess, der auf der Einsicht beruht, dass die 'signifikanten Anderen' in ihren Wahrnehmungen selektiv, voreingenommen, unsicher und beeinflussbar sind. Das nötige 'Impression Management' spielt sich dann auf einem Kontinuum zwischen zwei Polen ab: Der eine Pol (absichtlich täuschen oder verbergen) konkretisiert sich in 'Eindruck schinden', 'Einschmeicheln', 'Show', 'Bluffen', 'Imponiergehabe' etc., der andere in der gezielten Anstrengung, die Aufmerksamkeit der BeobachterInnen auf authentische Attribute 58 "... sage ich, dass was den Unterschied im Lose der Sterblichen begründet sich auf drei Grundbestimmungen zurückführen lässt. Sie sind: 1) Was einer ist: also die Persönlichkeit, im weitesten Sinne. Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen. 2) Was einer hat: also Eigentum und Besitz in jeglichem Sinne. 3) Was einer vorstellt: Unter diesem Ausdruck wird bekanntlich verstanden, was er in der Vorstellung Anderer ist, also eigentlich wie er von ihnen vorgestellt wird. Es besteht demnach in ihrer Meinung von ihm, und zerfällt in Ehre, Rang und Ruhm" (Schopenhauer 1850, 374). <?page no="275"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 257 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ zu lenken, die man für wichtig hält und die vielleicht übersehen oder ungünstig interpretiert wurden. Beim Impression Management kann man mit Odo Marquard (1982, 350) fragen: "Wo jemand eine Identität aufbaut, was verbirgt er? " und zeitkritisch registrieren: "Wo immer weniger identisch bleibt, rufen immer mehr immer häufiger nach Identität" (a.a.O., 352). Es besteht ein eigenartiger Widerspruch: Managementideal ist es realistisch zu sein, auf dem Teppich zu bleiben, nüchtern und technisch zu funktionieren. Gleichzeitig ist der Manager jedoch - wie Maccoby in seinen Tiefeninterviews diagnostiziert hat - jemand, der kein konkretes Produkt herstellt (wie etwa ein Handwerker), sondern andere dazu bringen muss, etwas zu leisten. Wenn er andere beurteilt und einem differenzierten Controlling unterwirft, gibt er nur weiter, was ihm selbst ein Leben lang blüht: fortwährend unter Beobachtung sein und von Vor-Gesetzten wie ein Schulkind zensiert zu werden. Es ist verständlich, wenn in einer solchen Lage die Fähigkeit kultiviert wird, die Bewertungen zu antizipieren und die Beurteilenden durch Opfer und wohlgefälliges Tun gewogen zu stimmen. Am schlimmsten aber wäre es, gar nicht wahrgenommen zu werden, denn percipi = esse. 59 Mikropolitisch relevant ist, dass der Adressat der Selbst-Darstellungen um das Eindrucksmanagement weiß und sich manipuliert fühlen kann; er wird deshalb nach sekundären Signalen Ausschau halten, die die Echtheit oder Validität des präsentierten Bildes bestätigen. Das kann die (formelle oder informelle) Einholung von Dritturteilen sein, die Suche nach Widersprüchen, Auffälligkeiten oder Falschmeldungen, die angekündigte oder verdeckte Prüfung (durch Testsituationen oder kontrollierte Leistungsmessung), das Absichern durch Zeichen einer guten Reputation (Lebenslaufdaten, Referenzen) usw. Insofern ist Identität ein Arbeitsergebnis, sie wird konstruiert und normalisiert (Alvesson & Willmott 2002). Das Selbstbild ist nicht nur Eigenleistung oder idiosynkratisches Attribut, sondern wird auch durch die Zugehörigkeit zu Gruppen - also typisiert - geprägt. Wo man herkommt, zu wem man gehört, wes' Freund oder Feind man ist, all das bestimmt Aspekte des (Selbst-)Bildes, das die anderen von einem zeichnen. Denn es ist schon 59 Esse est percipi (Sein ist wahrgenommen werden) war das Motto der solipsistischen Philosophie George Berkeleys (1685-1753). <?page no="276"?> 258 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ angemerkt worden, dass, was absolut einmalig ist, nicht erkannt werden kann; registriert wird nur, was in Differenz zu Bekanntem steht und einzuordnen ist. "Das Wesen des Sozialen besteht im Schein (nicht immer schon in der bewussten Täuschung), in der Produktion und im Austausch von Bilderwelten und Typisierungen, die als 'unverfälschte Erscheinungen' genommen werden wollen, obwohl sich über sie unausweichlich die Kleider oder Schleier von Selbst- und Fremdentwürfen legen" (Soeffner 1998, 227). Nach Willems (1998) ist jede Interaktion ein Identifikations-, Signifikations- und Informationsspiel. Er fährt fort: "Jedermann steht in diesem 'Spiel' von Anfang an und fortwährend unter dem Doppelzwang, zum einen zu erkennen, was 'eigentlich vorgeht' (Interpretationszwang) und zum anderen zu erkennen zu geben, als was und wie er 'eigentlich vorgeht' bzw. vorzugehen beabsichtigt (Kundgabezwang)" (a.a.O., 27). Einige Beispiele, die aus der Ratgeberliteratur zu Bewerbungsgesprächen entnommen sind, sollen zeigen, dass noch so unscheinbare Indizien ausgewertet werden, um die 'wahre Persönlichkeit' zu entlarven. Deshalb muss der nützliche Eindruck arrangiert werden; das jedoch wird von den Adressaten in Rechnung gestellt und deshalb intensivieren sie ihre Bemühungen, hinter dem Schein das Wahre zu entdecken: eine eskalierende Spirale immer raffinierterer Maskierung und Demaskierung ist in Gang gesetzt. Worauf man achten muss, als Präsentator wie als Entlarver: Kleidung (Stil, Marke, Erotik, Preisstufe, Sauberkeit, Gepflegtheit ...), Accessoires (Tasche, Uhr, Handy/ Palm, Schreibgerät, Schmuck, Parfum, Tattoos ...), Frisur, Rasur; Benehmen, Form/ "Stil", Höflichkeit (Begrüßung, Verabschiedung; Bitte u. Dank), Distanz, Respektsignale; Haltung, Gestik, Mimik; Händedruck; Augenkontakt; Redeverhalten, Smalltalk, Eloquenz ... Einmal mehr wird die für (erwerbswirtschaftliche) Organisationen charakteristische antagonistische Interessenlage deutlich: die Zielperson, die beeindruckt werden soll, sucht nach Indizien prognostischer Gültigkeit; die sich präsentierende Person dagegen will eine Stelle, einen Auftrag, ein Budget, ein Projekt, eine gute Beurteilung etc. Das sieht sie gefährdet, wenn die andere Seite die Inszenierung negativ interpretiert. Das Selbst-Aspekte-Modell (SAM) (siehe Simon & Mummendey 1997) betont das Balancieren zwischen den zwei Polen des kollektiven und des individuellen Selbst: Soll die Gleichartigkeit (Gemeinsamkeit) vieler Menschen hervorgehoben werden, wird ihr kollektives Selbst aktiviert (Corporate Identity-Strategie: "Wir <?page no="277"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 259 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ sind eine Familie", "Wir sitzen in einem Boot", "Wir Siemensianer", "Ein Volk, ein Reich, ein Führer! "). Dagegen wird die Besonderheit des individuellen Selbst hervorgehoben, wenn die Einmaligkeit des Einzelnen betont und die Gemeinsamkeiten mit Anderen 'ausgeklammert' werden ("Es kommt auf den Einzelnen an! ", "Leistungsprinzip! ", "Die Beste wird befördert! "). Oft wird übersehen, dass Individualisierung (die in Konzepten wie Selbst-GmbH, Ich-AG, Unternehmer der eigenen Arbeitskraft gefeiert wird), nur möglich ist auf dem Hintergrund funktionierender Vergesellschaftung. Die Selbstinszenierung ist von unaufhebbarer Ambiguität gekennzeichnet, weil ein 'wahres' Selbstbild nicht identifiziert werden kann und beide Parteien im Normalfall unterschiedliche Informationsbasen und Verarbeitungsschemata haben. Diese Unklarheit ist zwar Schicksal, aber zugleich Chance, weil man sie (mikropolitisch) nutzen kann. Außerdem sind rekursive Effekte zu bedenken: (Miss-)Erfolg verändert (auch) das Selbstbild. Was in einem etwas antikisierenden Titel in einem Kongressvortrag über Einstellungsforschung gesagt wurde, gilt analog auch für Selbstbilder: "Die Elaboration von Attitüden aus Anlass ihrer Messung". In dem Moment, wo man das Selbstbild erfassen (zu fassen kriegen) und darstellen will, (ver-)formt man es. Proteus bekommt eine Gestalt, die aber nicht sein Wesen, sondern eine Ansicht ist. Das Merkmal 'Ich bin ich' (Identität) ist somit nicht als statische personale Komponente aufzufassen, sondern als die Erzeugung und Präsentation einer tauglichen geeigneten Ansicht. Dabei muss man sich der Zirkularität und Rekursivität des wechselseitigen Erzeugungsprozesses bewusst sein. Zwar können Menschen organisationale Stile und Kulturen prägen, das Umgekehrte ist jedoch vermutlich häufiger der Fall. Bestimmte Milieus selektieren und sozialisieren die passenden Subjekte, die dann in besonderer Weise Erfolg haben. Im Mittelpunkt einer situativen Analyse steht somit nicht die diagnostische Frage, wie man z.B. Opportunisten identifiziert, sondern durch welche Verstärkungen sie angezogen und bestätigt werden. Wenn belohnt und in strategische Positionen befördert wird, wer sich durch Chuzpe, manipulatives Geschick, kreatives Networking, förderliches Impression Management und berechnende Beziehungspflege auszeichnet, dann werden sich über kurz oder lang gehäuft Personen an den Schaltstellen befinden, die diesen Anforderungen entsprechen. Mikropolitiker sind also keine fremden Besatzungstruppen, die ein neutrales Land okkupiert haben, sie sind im Lande selbst ausgebildete Elitesoldaten. <?page no="278"?> 260 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 4.2.2. "Ich bin verkörpert": Körperlichkeit, Sinnlichkeit, Materialisierung Zu diesem Punkt kann das Konstrukt des homo oeconomicus als Kontrast-Programm gelten: er hat keinen Körper, nur reinen Geist, der Informationen verarbeitet und nach gegebener und stimmig geordneter Präferenzstruktur zwischen Alternativen selektiert. Ein solcher Modell-Mensch ist nie müde, abgeschlafft, sexuell erregt, krank; alle Sinnlichkeit (riechen, schmecken, spüren, fühlen, tasten ...) ist bei ihm zur 'Informationsverarbeitung' vergeistigt. Letztlich folgt diese Modellfigur dem descartesschen Dualismus von Körper und Geist. Der Körper ist allenfalls Objekt oder Instrument und somit etwas, das genutzt, beherrscht, verfügbar gemacht wird. Von feministischer Seite wird den organisationstheoretischen Diskursen seit langem vorgeworfen, Körperlichkeit auszublenden. Der 'Normalarbeitsmensch' (s. Rastetter 1994, Lorber 1999) ist - obwohl männlich - bei der Arbeit körper- und emotionslos, rational, sachlich, cool, asexuell. Geht man von dieser Fiktion aus, dann freilich muss es überraschen, wenn es 'office romances' gibt, wenn auf Firmenkosten Gesunde-Ernährung-und-Bewegung-Broschüren verteilt werden, wenn regelmäßige Gesundheitschecks für Führungskräfte bezahlt werden, wenn Arbeitsplätze ergonomisch gestaltet werden, um Fehlhaltungen und Ermüdung vorzubeugen, wenn work-life-balance propagiert wird, Fitness-Programme in die Seminarangebote eingebaut werden usw. Dass das rationalistische Projekt der Entkörperlichung subversiv konterkariert wird, kann an ganz banalen mikropolitischen Taktiken illustriert werden: Durch lange Sitzungen ermüden (und/ oder Steh-Runden verordnen), ungünstige Frühmorgens- oder Spätabends-Termine ansetzen, für die vitalisierende Wirkung von power napping plädieren (oder Unmengen starken Kaffees konsumieren), Geschäftskunden, Betriebsräte oder widerspenstige Manager-Kollegen durch erlesenes Essen mild und versöhnlich stimmen (wobei Alkoholika ein Übriges tun können), für sexuelle Dienstleistungen im Rahmenprogramm sorgen, lange Reisen in der Business-Class angenehm machen usw. Auch andere Indizien sprechen dafür, dass es mit der Verleugnung von Leiblichkeit nicht weit her ist: Gutes Aussehen, Vitalität, Sportlichkeit, Gesundheit, Fitness haben gerade für ManagerInnen einen hohen Selektionswert; alle Anzeichen verminderter Belastbarkeit (Krankheiten, Verschleißerscheinungen, Tabletten-, <?page no="279"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 261 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Alkohol- oder Drogenkonsum, Müdigkeit, Burnout) müssen kaschiert werden. 60 Sonnenstudios, Fitness-Centers und persönliche Fitness-Coaches, Wellness-Hotels, Schönheitschirurgen profitieren davon. Ausgesuchte stilvolle Kleidung bzw. Uniformierung (dress for success) müssen mit passenden Accessoires harmonieren. Vom Parfüm über die Uhr, das Auto, den Arbeitsstuhl, die Designermöbel, den Füllfederhalter oder das Notebook - für all diese Materialisierungen gibt es implizite Codes, die der Insider kennen und beachten muss. Betrachtet man diese Artefakte als Teil eines vergrößerten Selbst ('enlarged self'), dann fällt die Doppelrichtung dieser Vergrößerung auf: zum einen dehnt sich das Selbst aus und sucht sich in den passenden Dingen sowohl abzubilden [(be-)greifbar zu werden] wie auch zu vervielfältigen, zum anderen wirken die Dinge zurück auf das Selbst und zwingen oder verführen es zur Expansion: Es muss den Rahmen ausfüllen, den es sich zugelegt oder verordnet bekommen hat (Hemmati-Weber 1992, Neuberger 2000, Hartmann & Haubl 2000). Die Artefakte wirken wie Prothesen, die Bewegungen ermöglichen, zu denen man 'an sich' nicht fähig wäre oder - die Kehrseite - sie nehmen einem die Mühe ab, die eigenen Fähigkeiten zu trainieren und beschleunigen so deren Verkümmerung. Wenn oder weil viel in sie investiert wurde, können solche Artefakte Verriegelungen darstellen, die einen bestimmten Entwicklungspfad festschreiben und damit andere elegantere, kürzere und bessere Wege aus dem Blickfeld verbannen. Freiheitsgrade werden eingeschränkt und Lernen verhindert (was zuweilen auch der strategische Zweck der Übung sein mag). Auch der Organisations-'Körper' ist verdinglicht, am imposantesten im Beton (concrete! ) und Glas der Firmengebäude. In den Artefakten der designten Corporate Identity inszeniert sich das Unternehmen als Einheit und Ganzheit, die von sich her macht: In beeindruckender Architektur, gestyltem (PR-)Auftritt, verklärenden Image-Anzeigen und Hochglanzbroschüren, Festen und Feiern etc. wird im 360 o -Radius das Programm der eigenen Größe, Kraft und Herrlichkeit ausgestrahlt, nicht zuletzt, um sich selbst (die Organisationsmitglieder) sowohl zu beeindrucken wie zu disziplinieren. So lassen sich Ansprüche, Forderungen, Rechte etc. in materialisierten Symbolisierungen [Großraumbüro oder Bürolandschaften(! ), Möbelgestaltung, Maschinen-Design und -Arrangement] verstecken; durch diese Metamorphose gewinnen sie quasi-natürliche Autorität. Nicht ein Akteur 60 Unter dem Stichwort 'biologischer Einfluss' diskutieren Messick & Ohme (1998, 186f.) die zahlreichen Verhaltens-Modifikationen, die durch Genussmittel, Medikamente, Drogen, Chirurgie, Genmanipulation etc. hervorgerufen werden können. <?page no="280"?> 262 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ fordert dann, sondern der 'Zwang der Verhältnisse', die 'Firmentradition', die 'Lage der Dinge', oder das Diktat der Just-in-Time Produktion. Die skizzierten Artefakte sind als Objektivationen rückwirkende (Ent-)Äußerungen, die mikropolitisches Potenzial haben, weil sie als argumentativ scheinbar unzugängliche Barrieren, Widerstände und Bahnungen wirken. Es kommt aber ein Weiteres hinzu, das gerade für interpersonale Einfluss-Taktiken von Bedeutung ist. Wenn Mikropolitik die Instrumentalisierung Anderer zum eigenen Vorteil ist, dann muss man an diese Anderen (als 'Zielpersonen') möglichst nah herankommen. Ein Teil dieser Annäherung kann über dingliche Medien vermittelt werden (schriftliche Unterlagen, Protokolle, Pläne, Emails, Beschlussvorlagen usw.); sie 'verwirklichen' - wie dargestellt - in besonderem Maße die Norm formaler Rationalität. Soziale Medien verkörpern sich un-mittelbar in der direkten Interaktion oder Konfrontation (wörtlich: sich die Stirn bieten, face-to-face kommunizieren); die physische Präsenz eines Gegenübers hat eine ganz andere Erlebnisqualität und Dynamik als die Versachlichung oder Abstraktifizierung seines Anliegens im Medium eines schriftlichen oder elektronischen Dokuments. Einerseits bietet die 'media richness' der unmittelbaren Kommunikation eine Fülle von Dechiffrier-Hinweisen für das (Nicht-)Gesagte, andererseits erlaubt sie sofortige Rückschlüsse auf Wirkungen ('Volltreffer', 'wunder Punkt'), Klima oder Beziehungsqualität und ermöglicht zielgenaue Nachfassaktionen. Die Kehrseite ist, dass in der Hitze des Gefechts Scheinangriffe und Überrumpelungsmanöver gestartet, Blendgranaten gezündet, Hinterhalte gelegt und Pyrrhus-Siege errungen werden und dass die Getäuschten erst im Nachhinein, wenn sich der Pulvernebel verzogen hat, merken, was da gelaufen ist. Keine der mikropolitischen Einflusstaktiken funktioniert ohne Leiblichkeit oder Verkörperung (Materialisierung). Eine Organisationswelt ohne Artefakte - reiner Geist, der entscheidet, reine Kommunikation, die mitteilt - wäre buchstäblich unfassbar und (deshalb) nicht einmal vorstellbar. Umso wichtiger ist es, die Körperlichkeit von Personen und Dingen als Bedingung, Ansatzpunkt, Medium und Folge mikropolitischer Interventionen zu berücksichtigen und umso überraschender, dass dies bislang so wenig geschieht. Als Beleg für die Kognitivierung körperlicher Prozesse kann das meistzitierte Stressmodell (aus der Lazarus-Gruppe, siehe Lazarus 1966, Lazarus & Folkman 1990 5 , Lazarus & Launier 1978) dienen. Anders als in den Anfängen der Stress- Forschung (z.B. bei Selye) wird Stress nicht mehr als allgemeines körperliches <?page no="281"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 263 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Adaptationssyndrom (bzw. -versagen) interpretiert, sondern als kognitiver Prozess modelliert. In der Abb. 4-4 ist dieses Modell zusammengefasst wiedergegeben. Abb. 4-4: Prozessmodell der Stressbewältigung (nach Folkman & Lazarus 1988, 468) Erläuterung der Abb. 4-4: Ein Akteur analysiert die Lage, in der er sich befindet, im Hinblick auf die Förderung der eigenen Interessen und er bewertet sie in einem ersten Schritt entweder als irrelevant, günstig oder "stressig" (bedrohlich, schädigend, herausfordernd). In einem zweiten Schritt wägt er ab, inwieweit seine eigenen Durchsetzungschancen und Handlungsmöglichkeiten ausreichend sind, um entweder eine Bedrohung des eigenen Handlungsspielraums abzuwenden oder dessen Erweiterung zu erreichen. Kommt er zur Schlussfolgerung, dass sich ein Versuch lohnt, prüft er wie am besten vorzugehen ist: Er kann Chancen direkt oder vermittelt wahrnehmen (z.B. Situationen ändern, auf Andere einwirken, emotionalisieren) oder Bedrohungen direkt oder vermittelt abzuwenden suchen (sich der Bedrohung entziehen, die Ver- Primäre Lagebeurteilung Sekundäre Lagebeurteilung Einschätzung der Situation Einschätzung der Bewältigungsbzw. des Ereignisses chancen günstig/ positiv Fähigkeiten u. Möglichkeiten irrelevant ausreichend stressend nicht ausreichend Emotionale Reaktion Bewältigungsversuch problembezogen emotionsbezogen Veränderung der Person- Veränderung der Umwelt-Beziehung Bedeutsamkeit Erneute Bewertung Emotionale Reaktion bei positiver Bewertung bei positiver Bewertung <?page no="282"?> 264 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ hältnisse zum Günstigen wenden, Schönfärben, Verleugnen etc.). Diesem Handeln folgt dann - wie bei einer VVR- oder TOTE-Einheit (siehe S. 269) - eine Prüfung, ob die Vorgehensweise erfolgreich war oder nicht und eine Rückkopplung, die den Akteur animiert und instruiert, den Zyklus erneut, aber modifiziert zu durchlaufen oder sich neuen Chancen/ Bedrohungen zuzuwenden. Charakteristisch ist für die Herangehensweise, dass das ursprünglich als körperliches Adaptationssyndrom gesehene Stress-Geschehen kognitiviert wird. Statt autonomen Prozessen ohnmächtig ausgeliefert zu sein, kontrolliert das Subjekt in allen Phasen den Prozess: die bürgerliche Phantasie der bewussten Emotions- und Körperkontrolle wird auf den Punkt gebracht. Der Idee nach müsste man in Erfahrung bringen, wie - in welchen Kategorien und Ausprägungen - eine Person die Situation und sich selbst (eigene Interessen und Coping-Fähigkeiten! ) sieht, ob sie in der Lage ist, erfolgreich aktiv zu werden, über welche Ressourcen sie verfügt und welche Restriktionen und Chancen die institutionellen und sozialen Strukturen bieten, in denen sie sich befindet, etc. - kurz: die Checklisten der im Kapitel 3 diskutierten Handlungsvoraussetzungen wäre abzuarbeiten. Ein Beispiel für eine solche Erweiterung geben Lazarus & Launier, wenn sie ihr basales Stressmodell durch zwei Selbst bezogene Komponenten ergänzen: 'commitments' (was für die Person wichtig ist) und 'beliefs' (wie die Situation rekonstruiert wird, was wahrgenommen wird). Diese beiden Kategorien lassen sich weiter differenzieren (siehe Abb. 4-5); diese Abbildung macht zugleich deutlich, in welche Spiralen eskalierender Differenzierung man emporgetrieben wird, wenn man mit der Feingliederung einmal angefangen hat. Mit dem Boom der Neurowissenschaften (s. Spitzer 2000 und Ahlert & Kenning 2006) hat der 'somatic turn' (wieder) eingesetzt. Der Nachweis der körperlichen Fundierung geistiger Prozesse war aber ironischerweise verbunden mit der Entwicklung hochkomplexer Informationsverarbeitungs-Modelle, um die chemischen und elektro-magnetischen Vorgänge im Zentralnervensystem erklären zu können. <?page no="283"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 265 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 4-5: Ergänzungen des Stressmodells von Lazarus & Launier (Ausschnitt aus der Abbildung bei Kernen 1997, 42) 4.2.3. "Ich weiß": Kognition Jede gezielte Veränderungsabsicht setzt ein Wissen über das voraus, was verändert werden soll. Das gilt natürlich auch für Einflussversuche. Die Inangriffnahme der Veränderung dessen, was los bzw. Los ist, stützt sich auf Orientierung und integrierbare Information. Das Merkmal 'Kognition' (als Gesamtheit aller Erkenntnisfunktionen: Wahrnehmen, Denken, Problemlösen, Gedächtnis, Lernen) komprimiere ich zur Kurzformel "Ich weiß". Gemeint ist damit, dass, wer Einflusserfolg haben will, Informationen und explizites oder implizites/ tazites Wissen braucht, Gedächtnis haben und Voraus-Sicht zeigen muss. Nicht zuletzt von der Güte, Sicherheit, Menge der verfügbaren Informationen und ihrer Verarbeitung und Verwertung hängt es ab, ob Akteure ihre Vorhaben realisieren und mit der allfälligen Ambiguität, Intransparenz ('Nebel'); Unsicherheit/ Ungewissheit, Unbewusstheit fertig werden können. Es ist zum Beispiel ein zentrales Anliegen Foucaults , dem Wissen (oder wie er es meist nennt: der Wahrheit) die Unschuld zu nehmen. Wissen ist nicht 'reine' (von Interessen unbefleckte) Theorie, die objektive universelle Wahrheiten ausspricht. Wissen ist historisch kontingent und vor allem - bis an den Rand - machtvoll; die Macht concept of self commitments beliefs ideals goals existential beliefs beliefs about personal controls self concept general beliefs situational beliefs sense of coherence Antonovsky (1987) efficacy expectancies Bandura (1986) <?page no="284"?> 266 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ (wie Foucault manchmal substanzialisierend abkürzt) bedient sich des Wissens, um exklusive Sichtweisen zu etablieren, von anderen Möglichkeiten abzulenken, fraglose Selbstverständlichkeiten zu erzeugen (die als 'gesichertes', 'wissenschaftlich erhärtetes' Wissen gegen Einspruch gefeit sind), Unterscheidungen einzuführen und zu immunisieren etc. Insofern gibt es keine Macht ohne Wissen und kein Wissen ohne Macht. Wechselseitige Beziehungen dieser Art gelten für alle Komponenten des Handlungsmodells. Darauf werde ich unten zurückkommen. Die neoklassischen ökonomischen Theorien sind modelliert nach dem Ideal-Bild der möglichst fehlerfreien und vollständigen Information. In der Unternehmenspraxis lässt sich diese paradiesische Situation nicht finden; sie bietet aber einen Referenzrahmen, der die Defizite des allzu irdischen Ist umso klarer hervortreten lässt - und Handlungschancen sichtbar macht: Ignoranz: Niemand kann alles wissen und vor allem: er braucht es gar nicht, im Gegenteil, das wäre schädlich und hinderlich, weil es im Extremfall immobilisieren würde und schon im Näherungsfall exorbitante Kosten verursachen würde. Ergänzung: Es hat fast den Rang von Murphy's Law zu konstatieren: Irgendeine Information fehlt immer! Aber das blockiert nicht, weil es Programme und Routinen gibt, die fehlende Daten und Beziehungen kompensieren (Skripten, Schemata, wie z.B. die erwähnten Power Mental Models, kognitive Landkarten, Metaregeln, Normen, Werte etc.). Reduktion: Häufig ist nicht zu wenig, sondern zuviel Information das Problem. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen (siehe die folgende Auflistung), in welcher Vielzahl von Kategorien Informationen bewertet werden können, um die Bedeutung des Absehens, Filterns, Vereinfachens und Verdichtens zu erkennen (und dies sind alles gleichzeitig auch mikropolitische Taktiken). Informationen können unter Anderem nach folgenden Gesichtspunkten sortiert und bewertet werden: - quantitativ vs. qualitativ; - exakt, eindeutig vs. vage, ungenau, verzerrt; - aktuell vs. veraltet; - vollständig vs. bruchstückhaft; - kontextualisiert vs. aus dem Zusammenhang gerissen, isoliert; - explizit vs. implizit, tazit; Klartext vs. verschlüsselt/ in Andeutungen; <?page no="285"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 267 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ - öffentlich vs. privat bzw. geheim; - dokumentiert, verschriftlicht vs. informelles Hörensagen; - gesichert vs. ungesichert; - reich, bunt, redundant, konkret vs. arm, dürr, abstrakt; - (sofort) verfügbar vs. (mit Kosten) von Dritten abzurufen, erst zu produzieren; - direkt vs. indirekt (über Dritte, über Medien) weiterzuleiten. Informationsasymmetrie: Es lässt sich nicht vermeiden, dass in sozialen Beziehungen der Eine mehr oder anderes weiß als die Andere. Das ist schließlich einer der Gründe dafür, dass Zusammenarbeit gesucht wird. Das eigene Wissen und die Unwissenheit der anderen Seite lassen sich vorteilhaft nutzen. In der neo-institutionellen Ökonomie spielt (im Rahmen der Principal-Agent-Theory) die Bewältigung der Informationsasymmetrie eine zentrale Rolle; dabei tauchen Konstruktionen auf, die mikropolitikaffin sind (wie etwa shirking, moral hazard, hold up, etc.). Ambiguität: Informationen sind selten eindeutig; das werden sie erst, wenn sie in einem kanonisierten Wissensbestand konsolidiert sind. Vor dieser Ein-Ordnung (dem Einbauen in eine und nur eine feste Ordnung) haben Informationen verschiedene Valenzen, die verschiedene Verwertungen erlauben. Die Information "In Ihrer Abteilung ist der Krankenstand 6,3%" muss erst relationiert werden, um in eben dieser bestimmten Konstellation Aussagekraft zu haben. Die 6,3% machen erst Sinn im Vergleich zur letzten Periode (6,9%), im Vergleich zum Werks-Durchschnitt (5,8%), im Vergleich zum Angestellten-Durchschnitt (3,8%, wobei anzugeben wäre, dass der Angestellten-Anteil in der Abteilung 85% ist), im Vergleich zur Frauenquote, zur Quote der 'Beschäftigten über 50', zur Ausländerquote, zur Teilzeitquote ... Ambiguität ist kein Fluch, sondern eine Chance für Organisationen und zudem bietet sie als Möglichkeit, mit unterschiedlichen Vernetzungen zu jonglieren, enormes mikropolitisches Potenzial (siehe dazu Eisenberg 1984). Intransparenz: Ambiguität ist zu unterscheiden von Intransparenz (Undurchschaubarkeit, Undurchdringlichkeit, Unzugänglichkeit, Abschottung). Organisationale Kognitionen sind nicht allen in gleicher Weise, unmittelbar und unverschlüsselt zugänglich. Es ist vielmehr Status- und Machtsymbol, das Anrecht auf bestimmte Informationen zu haben und im Ruf zu stehen, zu den Wissenden zu zählen oder - noch esoterischer - zu den Eingeweihten zu gehören. Informationsansprüche und -rechte sind einerseits in Dienst- und Berichtswegen formalisiert und werden andererseits in informellen innerbetrieblichen Börsen zum Tageswert <?page no="286"?> 268 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ gehandelt. Für die Ausgeschlossenen ist das 'organisationale Geheimnis' beunruhigende und verlockende Realität; andererseits ist Täuschen & Tarnen eine Standard-Einflussstrategie, die an die Alltagserfahrung des "Nichts Gewisses weiß man nicht" anknüpft und das Richtige und Wichtige hinter verbergenden Kulissen versteckt. Der "Schleier der Unwissenheit", auf den ich später (im Kap. 5) noch zu sprechen kommen werde, ist nicht nur Mittel eines idealisierenden Gedankenexperiments, sondern wichtige Requisite in organisationalen Dramen. Automatisierung ('Bewusstlosigkeit'): Angesichts der Restriktionen unserer Verarbeitungskapazitäten wäre es fatal, müssten alle kognitiven Vorgänge bewusstseinspflichtig sein. Das Meiste wird 'gedankenlos' erledigt - siehe die Überlegungen von Langer, Blank & Chanowitz (1978), Ashforth & Fried (1988) zu mindless behavior in organizations. Vom Routinisierten ist einiges bewusstseinsfähig, d.h. kann bei Bedarf re-konstruiert werden - was sich natürlich auch mikropolitisch nutzen lässt. Die typische 'Nachträglichkeit' von Bewusstheit hat Karl Weick als "retrospektive Sinngebung" 61 bezeichnet. Noch weiter entfernt von den "klaren und deutlichen Ideen" Descartes' ist jener große Anteil kognitiver Inhalte und Prozesse, der in den Bereich abgesunken ist, den Hacker (1986) sensumotorische Regulation nennt: es werden Ausführungshandlungen freigeschaltet, die 'ohne viel zu denken' von internalisierten überlernten Programmen gesteuert werden (siehe dazu auch die Parallelen zu den 'Machtformen', S. 135f.). Qualitative Sprünge: Es ist ein Standardargument in Abhandlungen zum Wissensmanagement, dass Unterschiede zu machen sind zwischen Zeichen, Daten, Informationen, Wissen und Sinn. Informationen (als datenvermittelte bedeutsame Unterschiede) werden zu 'Wissen' erst in einem Wissenssubjekt, das sie integriert und kontextualisiert - beides höchst idiosynkratische Leistungen, die an die jeweiligen Wissensbestände und Vorhaben gebunden sind. Und selbstredend trennt eine weitere tiefe Kluft das Wissen vom ausführenden Handeln (siehe die plastische Rede von den Wissensriesen und Implementierungszwergen). Informationsbeschaffung ist kein unverfänglicher Akt des Aufnehmens nach der Art des Beeren- und Pilzesammelns. Jede Wahrnehmung ist unvermeidlich eine Negation ("Dies und nicht das! "), eine Abwahl anderer möglicher Hinsichten, eine Einwahl in andere mögliche Kontexte und eine implizite Prognose, wie es weitergehen wird. Schon die Daten-Erhebung und die Informations-Sammlung 61 Goethe hat dafür in seinen "Maximen und Reflexionen" (1855, 175) eine schöne Verdeutschung anzubieten: "Die Vorsicht ist einfach, die Hinterdreinsicht vielfach." <?page no="287"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 269 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ sind also durch mikropolitisch nutzbare Kontingenzen gekennzeichnet, die noch gesteigert werden bei der Wissens-Generierung und -Anwendung. Wenn man zudem kognitive Leistungen nicht (nur) als intrapsychische, sondern (auch) als interpersonale Akte betrachtet (jemanden informieren, mit jemandem kommunizieren, gemeinsame Problem-Definition oder -Aushandlung, Gruppen-Druck, Konformität mit herrschenden Meinungen etc.), dann erhöhen sich die Freiheitsgrade noch ganz erheblich. Einerseits wird damit der Prozess störbarer und bedarf der Absicherung durch Routinen, Programme und Konventionen, andererseits aber erhöht sich das Potenzial für taktische Manöver. Mikropolitik ist nur möglich, wenn nicht alle die gleichen Informationen haben oder sie nicht nach den gleichen Regeln verarbeiten (weil sie z.B. andere Motive/ Interessen haben). Hacker (1986) hat kognitiv gesteuerte Handlungsmodelle für die Antriebs- und Ausführungsregulation vorgeschlagen und für die letztere differenziert ausgearbeitet. Das Modell kennt verschiedene Ebenen der Bewusstheit: von der intellektuellen, bewusstseinspflichtigen über die perzeptive (bewussteinsfähige) bis hin zur bewusstseinsfernen (sensumotorischen) Regulation. Die Bausteine der hierarchisch-sequenziellen Handlungsregulation(! ) sind VVR-Einheiten (siehe unten Abb. 4-6). Eine wichtige Rolle spielen dabei "Aktionsprogramme" und "Handlungsschemata", orientiert durch "operative Abbildsysteme (OAS)" bzw. "handlungsleitende psychische Abbilder (HAB)". Abb. 4-6: Struktur einer VVR-Einheit (nach Hacker 1986) Legende: In einer VVR-Einheit ist Ausgangspunkt eine Zielvorgabe oder Aufgabe, an der die aktuelle Situation gemessen wird ("Vergleich"). Sollte eine Diskrepanz zwischen Ist und Soll bestehen, wird versucht diese Diskrepanz zu beseitigen ("Ver- Vergleichen Rückkoppeln Verändern Zielvorgabe, Aufgabe <?page no="288"?> 270 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ändern"). Das Ergebnis dieser Bemühung wird rückgemeldet ("Rückkopplung") und es erfolgt ein erneuter "Vergleich" mit der Vorgabe. Wenn die Ist-Soll-Diskrepanz beseitigt ist, kann zu neuen Aufgaben fortgeschritten werden, wenn nicht, wird ein weiterer "Veränderungs"-Versuch unternommen usw. Der Transfer dieser Überlegungen auf mikropolitische Einflussversuche fällt nicht schwer. Konzipiert man taktische Manöver als bewusst geplante (oder auch durch häufige Übung routinisierte) Handlungen, dann wird der Akteur fortwährend zu prüfen haben, ob er sein Ziel schon erreicht hat ("Vergleichen") und wenn nicht, mit welchen Interventionen das gelingen kann ("Verändern"), um dann erneut zu messen, ob das Vorhaben nun von Erfolg gekrönt ist oder weitere Anstrengungen nötig sind. Es fällt sofort auf, dass nur ein schmaler Bereich des Einflusshandelns abgebildet wird (rationale Zielverfolgung); Rückwirkungen auf und Einflüsse durch Selbstbild, körperliche Verfassung, Antriebsregulation, soziale Beziehungen, Emotionalität etc. bleiben ausgeklammert. 4.2.4. "Ich will": Interessen, Motivation Interesse ist ein Zentralbegriff der Ökonomie, der in verschiedenen Nuancierungen oder anderen Bezeichnungen auftritt: Präferenz, Bedürfnis, Drang, Impuls, (Eigen-)Nutzen, Werte, Motivation, Wille, Antrieb, Intentionen … Damit soll der energetische oder energetisierende Aspekt des Handelns hervorgehoben werden. Zu Grunde liegt eine Analogie zum Trägheitsgesetz: Ein Körper bleibt liegen oder ändert Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit nicht, es sei denn er wird angestoßen. Im Handlungsbereich wird die Rolle der Bewegungsursache im Kurzschluss und substanzialisierend der Motivation übertragen. Sie wird als eine innere unsichtbare Potenz aufgefasst, die allein aus ihren Wirkungen erschlossen wird. Weil und wie jemand entscheidet, lässt auf Art und Stärke seiner Interessen schließen. Den externen Anreizen, die Markt und Organisation bieten, korrespondieren innere Antriebe, die zu Aneignung und Produktion drängen. Mikropolitisch folgenreich ist die These, dass fremdes Handeln lenken kann, wer die 'dahinter liegenden' Interessen a) kennt und b) manipulieren kann. Das Kennen-Wollen fordert zur Motivforschung auf, das Manipulieren-Wollen&Können unterstellt entweder, dass die Interessen formbar sind oder gezielt aktiviert oder unterdrückt werden können. <?page no="289"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 271 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Der große Konkurrent zur Fremd-Bestimmung ist die 'intrinsische' Motivation, weil sie postuliert, jemand könne in einer Sache/ Arbeit aufgehen, sei externem Einfluss entzogen und genieße die Tätigkeit 'als solche', ohne dem Ergebnis Beachtung zu schenken (darauf ist ausführlich im Kap. 3 bei der Diskussion der Polarität "extrinsische - intrinsische Motivation" eingegangen worden). Als Musterbeispiel intrinsischer Motivation gilt Verhalten im Flow-Zustand (siehe Beleg 4-3 zum Flow-Erleben). Zweifellos ist intrinsische Motivation von großer Bedeutung im lokalen Bereich definierter monothematischer Aufgaben; der für Mikropolitik interessantere Bereich der Intervention in andere Handlungsfelder (die Handlungsfelder Anderer) wird damit nicht erfasst. Beleg 4-3: Das Flow-Erlebnis (nach Csikszentmihalyi 2003, 75ff. in der Fassung von Küpers & Weibler 2005, 111) - Es gibt klare Ziele für jeden Schritt. - Es gibt direkte Rückmeldung für jede Handlung. - Herausforderungen bzw. Handlungsmöglichkeiten und Fähigkeiten entsprechen einander. - Tun und Aufmerksamkeit stimmen überein. - Ablenkungen werden vom Bewusstsein ferngehalten (Konzentration und Fokus). - Freie (Selbst-)Kontrolle ist möglich (keine Angst vor Fehlschlägen, Gefühl der Beherrschung der Situation). - Fixierte Ich-Gebundenheit wird aufgegeben (Selbstvergessenheit/ -transzendenz, Verbundenheit mit der Interaktions-Umwelt). - Das Gefühl für die Zeit verändert sich (vergegenwärtigendes, intensives Zeiterleben). - Die Arbeit "an sich" wird wichtig, weil das Tun selbst Freude bereitet. Kommentar: Sieht man sich die Postulate an, dann wird deutlich, dass keine dieser Forderungen den Bedingungen entspricht, die für mikropolitische Situationen geltend gemacht werden. Im Gegenteil: Mikropolitik ist nur möglich, wenn diese Idealisierungen aufgehoben (negiert) werden. Im Umkehrschluss kann man folgern: Wer im Flow-Zustand arbeitet, ist für Mikropolitik unerreichbar. Die Konstruktion des Interesse-Begriffs in der ökonomischen Theorie zeigt einige Problemvermeidungs-Strategien auf, die darauf zielen, Interesse zu einem ordentlichen und pflegeleichten Begriff zu machen. Eine ist, dass dem Akteur eine "wohlstrukturierte Präferenzordnung" zuerkannt wird, die ihm erlaubt angesichts alternativer Handlungsmöglichkeiten zu einer Entscheidung zu kommen. Würde man dagegen von mehreren, widersprüchlichen und instabilen Interessen ausgehen, könnte man keine Vorhersagen mehr machen und 'anything goes' wäre die <?page no="290"?> 272 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Folge. Andererseits entfiele auch Manipulierbarkeit, wenn es überhaupt keine inneren Konstanten gäbe und beliebige externe Anreize Wahlen auslösten, die schon im nächsten Augenblick durch andere 'Reize' revidiert würden. Mikropolitik ist möglich und wirksam, wenn eine Zwischenposition eingenommen wird: Es gibt ausgeprägte Interessen, aber es sind mehrere und zum Teil widersprüchliche, die auf verschiedene Aufforderungscharaktere unterschiedlich reagieren. Ihre Vernetzung zu einem 'Habitus' macht sie stabil(er) und charakteristisch, sodass sie nicht durch jegliche externe Stimulation radikal verändert werden. Was als Lernwiderstand erscheint, ist die Schwierigkeit, die etablierten Gleichgewichte in neue zu transformieren. Es ist nicht nötig (und auch nicht wahrscheinlich), dass ein Akteur seine eigenen Interessen kennt, wichtig ist nur, dass ein spezifisches Zusammenspiel mehrerer Interessen angenommen wird. Das aber ist schwer zu operationalisieren, weil Handeln immer situationsabhängig ist und reale Situationen verunreinigt sind (d.h. unterschiedlich starke Anreize für verschiedene Interessen bieten). Oft ist unentscheidbar, ob sich der Akteur oder die Situation oder beides gewandelt hat. Vom Akteur werden - bei einer kognitiv-kalkulierenden Herangehensweise - zudem die Erfolgs- oder Realisierungswahrscheinlichkeiten in Rechnung gestellt, denn dem Bernoulli-Prinzip zufolge ist die Handlungstendenz (oder der subjektiv erwartete Nutzen) das Produkt aus Attraktivität (Wert, Nutzen, Valenz) und Wahrscheinlichkeit, dieses attraktive Ziel tatsächlich zu erreichen. Angesichts der winzigen Wahrscheinlichkeit eines Hauptgewinns im Lotto muss er sehr hoch sein, um Leute zum Wetteinsatz zu motivieren. Wirklichkeit verändert sich fortwährend, auch ohne Zutun des jeweiligen Akteurs. Will eine Person den Lauf der Dinge in ihrem Interesse beeinflussen, muss sie diese spezifische Entwicklung wollen. Mit der Formel "Ich will" soll zum Ausdruck gebracht werden, dass ein Handelnder Anliegen, Motive, Ziele hat, die er verfolgt. Um seine Absichten zu verwirklichen, muss er sich bemühen, Widerstände überwinden, Kräfte mobilisieren, Ausdauer zeigen. Das alles garantiert nicht, dass er "seinen Willen auch gegen Widerstreben durchsetzen" kann, aber es vergrößert die Chancen. Die Ziel- oder Präferenzfunktion, die in entscheidungstheoretischen Ansätzen entproblematisiert ist (weil sie als bekannt und widerspruchsfrei vorausgesetzt wird), dürfte in der Praxis sowohl beim Akteur selbst wie auch bei der Zielperson nicht einfach zu identifizieren sein. Jeder kommunikative oder Verhaltensakt hat auch eine motivierende oder lenkende Komponen- <?page no="291"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 273 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ te. Das wird in popularisierenden Kommunikationsmodellen hervorgehoben [siehe z.B. Schulz von Thuns (1997, 2003) 4-Seiten-Modell der Nachricht oder Neubergers (1971) T-A-L-K-Schema]. Auch der Behaviorist Skinner unterscheidet beim Sprachverhalten 'tacts' (informierende Gehalte) und 'mands' 62 (fordernde, bittende Aspekte). Das Rubikon-Modell Das so genannte "Rubikon"-Modell von Heckhausen und Kuhl (siehe Abb. 4-7) ist zwar als Motivations-Volitions-Modell konzipiert, könnte aber auch als Paradigma für ein prozessuales individuelles Handlungs-Modell zur Analyse mikropolitischer Aktionen genutzt werden. Abb. 4-7: Das so genannte "Rubikon"-Modell von Heckhausen (1989, 212) - Erläuterung im Text Es gliedert den Handlungsprozess in vier Phasen. In der ersten ("prädezisionalen") sondiert die Person ihre aktuelle Situation und die sich bietenden Optionen und bilanziert, was für/ gegen die verschiedenen Möglichkeiten spricht. Zieht sie ein 'Fazit', das eine der Möglichkeiten präferiert, kommt es zur Intentionsbildung ("Ich will das! "): die Würfel sind gefallen, der Rubikon ist überschritten. So ver- 62 'mand' ist ein Kunstwort, das sich aus den Bedeutungsinhalten von 'command' und 'demand' herleitet. Wählen präaktionale Phase Handeln Bewerten vor dem Handeln Ausführen und Bewerten Motivation prädezisional Fazit-Tendenz Fiat-Tendenz Volition präaktional Volition aktional Motivation postaktional Rubikon Intentionsbildung Intentionsinitiierung Intentionsdesaktivierung Intentionsrealisierung Ich will es! Ich mache es! Ich mache nicht weiter! <?page no="292"?> 274 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ lockend und wünschenswert die Absichten auch sind, es kommt nun darauf an sie zu realisieren und einen Weg zu finden, auf dem das geschehen kann. Gelingt das, kommt es zum Entschluss (Fiat = "Es geschehe! ") und in der nun folgenden Implementierungsphase muss eine Willensanspannung (Volition) aufgebaut und durchgehalten werden, um das angestrebte Ziel trotz aller Überraschungen und Widrigkeiten konsequent verfolgen zu können. Ist das Ziel erreicht (oder wird vorher aufgegeben), wird die Intention wieder aufgelöst, sodass neue alternative Handlungspfade begehbar werden. Dieses kognitive Prozessmodell der Motivation/ Volition entwirft ein allgemeines Schema, das offen ist für den Einbau weiterer Theorie-Ansätze, z.B. der Erwartungs-Valenz-Theorie (siehe S. 276), von der Heckhausen ursprünglich ausgegangen war oder, was Kuhl ausarbeitet, von Lage-Motiven, sodass nicht nur die aktuelle Situation mit ihren Möglichkeiten durchkalkuliert wird, sondern auch situationsübergreifende personale Handlungsbereitschaften - z.B. Risikofreude, Selbstwirksamkeit, Ausdauer etc. - berücksichtigt werden können). Ansätze wie das Rubikon-Modell sind ausbaubare Hybrid-Konstruktionen, die - in Termini meines Ansatzes - den motivationalen Aspekt ergänzen durch die Berücksichtigung kognitiver, identitätstheoretischer und emotionaler Überlegungen. Das Heckhausen-Kuhl-Modell kann seine Herkunft aus der Klasse der rational choice Theorien - zu denen auch die VIE-Theorien gehören - nicht verleugnen. Der rationale Akteur gilt als autonomer abwägender Entscheider, der nichts dem Zufall und Gefühl, alles dem Kalkül überlässt. Eine Alternative zu dieser proaktiven und internal kontrollierten Handlungskonzeption ist ein retrospektiv angelegtes. Nicht das Ausrechnen und Aktivieren für künftiges Handeln steht dabei im Mittelpunkt, sondern die nachträgliche Sinngebung vergangenen Handelns, der faustischen Erkenntnis folgend, dass im Anfang die Tat war - und nicht hypothetische Vorläufer wie Wort, Sinn und Kraft. Dabei wird davon ausgegangen, dass eine Person zu jedem Zeitpunkt in mehreren locker gekoppelten Aktivitätskontinua engagiert ist. Zwar kann sie immer nur eines tun, aber ihre Projekte sind - wie exemplarisch in activity sampling-Studien der Führungsforschung belegt (s. Neuberger 2002) - zum Teil längerfristig angelegt. Bestimmte Vorhaben werden überlagert oder unterbrochen durch andere, tauchen dann aber wieder an der Verhaltensoberfläche auf, um eventuell erneut ausgesetzt oder abgelöst zu werden durch vordringlichere, aufgenötigte oder neu begonnene. Eine Führungskraft, die z.B. neben ihrer Alltagsarbeit für ein Projekt verantwortlich ist, hat es zu tun mit <?page no="293"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 275 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ eigenen Karriereplänen, der Durchführung von Mitarbeitergesprächen, der Einstellung neuer Mitarbeiter, der Akquisition von Ressourcen usw. und das läuft parallel zu oder vernetzt mit ihren Aufgaben in anderen Lebensfeldern, wo sie z.B. als Mutter oder als Tochter oder als Freundin oder als Kirchen- oder Parteimitglied usw. aktiv ist (siehe das Konzept multipler Rollen). Zentral ist dabei die aus der Selbstwahrnehmungs-Theorie übernommene Überlegung, dass eine Person ihr eigenes multideterminiertes Tun beobachtet und aus ihrem Handeln ihre Präferenzen erschließt (nicht umgekehrt, wie es das Motivationsmodell postuliert). Weicks berühmtes Diktum kann dazu leicht abgewandelt werden: How can I know what I want before I see what I did; dabei wird das 'I see' interpretiert als 'ich kapiere', 'ich verstehe', 'es(! ) macht für mich Sinn'. Bei dieser retrospektiven Tätigkeitsanalyse verkürzt sich das Entscheidungsproblem auf die Frage: Weiter so? Anschlusshandeln wird normalerweise nicht 'gewählt' und 'entschieden', sondern im Rahmen des Gewohnten fortgesetzt (mindless behavior! ). Erst wenn das 'weiter so' aus irgendeinem Grund inopportun erscheint oder auf unerwartete Hindernisse stößt, müssen Handlungsalternativen in Betracht gezogen werden: Anders handeln? Und wenn ja, wie und was? Denn künftiges Handeln ist Konsequenz der Attributionen vergangenen Handelns; die Person versteht aus den Folgen, was sie getan/ gewollt hat und prüft nur im Nicht-Routine-Fall: Was kam heraus? Wollte ich das? War es mein Verdienst/ meine Schuld? Welche Umstände (Chancen, Risiken) waren dafür verantwortlich und was muss ich künftig (stärker) beachten? Anders als beim Lust-Unlust-Kalkül der VIE-Theorie (Wie wird meine Lustbilanz ausfallen? ) wird die Person in ihrer Handlungswahl geleitet von der einen legitimatorischen Frage, die in Futur II gestellt ist: "Wie werde ich vor mir bzw. vor anderen begründen können, was ich getan haben werde? " Natürlich suchen Unternehmen die Akteure in dem, was sie wollen sollen, zu steuern. Sie machen bestimmte Ziele attraktiv, indem sie ihr Erreichen an Belohnungen koppeln (Anreizsysteme: siehe die Diskussion der 'extrinsischen Motivation' im 3. Kapitel, S. 206ff.) oder das Verfehlen durch Sanktionsdrohungen zu verhindern trachten. Ein andere Option besteht darin, die Persönlichkeiten so zu konditionieren (oder passend konditionierte auszuwählen), dass bestimmte nützliche Tugenden als verinnerlicht (zweite Natur) vorausgesetzt werden können (z.B. Leistungsehrgeiz, Gehorsam, Pflichterfüllung, Verlässlichkeit, Identifikation mit der gemeinsamen Sache, Aufstiegsstreben, Mitdenken, Eigenverantwortlichkeit etc.) und das Unerwünschte (z.B. Faulheit, Egoismus, Unberechenbarkeit, Renitenz usw.) als Makel, Sünde, Pathologie, Asozialität stigmatisiert ist. Auch hier ist die Mehrfachsicherung des besonders Wichtigen zu beobachten: es wird explizit belohnt, als <?page no="294"?> 276 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Haltung ansozialisiert und strukturell - in Institutionen und Praktiken - kanalisiert. Das Abgelehnte wird systematisch bestraft, als Abweichung gebrandmarkt und durch Routinen und Verfahren nicht unterstützt. Aber auch ein Naturtalent für Mikropolitik muss sie wollen (und wollen dürfen, dazu unten mehr). Genauso wichtig wie die fachliche Kompetenz zu einem bestimmten Handeln (der Aspekt "Ich kann", siehe unten) ist die Bereitschaft dazu. Man muss es übers Herz bringen, sich bei der Chefin 'einzuschleimen', selbst wenn man nicht viel von ihr hält und sich unter Kollegen sehr abfällig über sie äußert. Simple inhaltstheoretische Ansätze der Motivation bieten eine erste Orientierung, z.B. die Aufstellung von Trieb-, Motiv- oder Bedürfnislisten (wie etwa das Bedürfnis zu lügen, hochzustapeln, sich aufzuopfern usw.). Allerdings wird mit solchen Darstellungen eine meist uninformative Wirklichkeitsverdoppelung vorgenommen: Weil jemand hochstapelt, hat er ein Hochstapel-Bedürfnis! Der VIE-Ansatz Differenzierter argumentieren prozesstheoretische Konzeptionen. Das Beispiel des Rubikon-Modells wurde oben schon skizziert. Aus der Familie der Prozessmodelle stammt auch der VIE-Ansatz, bei dem Wahrscheinlichkeiten (Erwartungen), Valenzen und I nstrumentalitäten kalkuliert werden. Dabei werden keine inhaltlich spezifischen Motivklassen postuliert (z.B. es macht Spaß, andere zu dominieren, für eigene Zwecke einzuspannen, zu außergewöhnlichem Einsatz zu überreden etc.), sondern Befriedigungswerte und -wahrscheinlichkeiten für alle Konsequenzen der denkbaren Aktionen ermittelt und jeweils multiplikativ kombiniert. Der Inhalt oder Maßstab dieser Befriedigung bleibt unaufgeklärt. Mit einer geeigneten Entscheidungsregel (z.B. "Maximiere den wahrscheinlichen Nutzen! " oder "Minimiere den wahrscheinlichen Schaden! ") kann dann unter den Alternativen ausgewählt werden. Ein solches Rechenschema führt unmittelbar hinein in die Probleme der Informationssicherheit, -verfügbarkeit, -messbarkeit etc., die oben schon erörtert wurden. Die Kategorie 'Motivation' verlegt die Handlungsdynamik ins Innere der Person. Man kann zwar 'von außen' (extrinsische) Anreize geben, aber ob und wie sie wirken, hängt von der 'internen Zustandsfunktion' ab. Zum Beispiel Geld: Es ist trotz aller Beschwörung intrinsischer Motivation ein potenter Motivator. Wäre das nicht so, würde niemand auf Korruptionsversuche hereinfallen, es gäbe keine Bilanzfälschungen und Spesenmanipulationen und Vorstände würden ihre Einkommen nicht in exorbitante Höhen schrauben. Aber nicht jeder reagiert gleich auf Geld, nicht weil es manchem stinkt, sondern weil es ins Verhältnis gesetzt wird zu ande- <?page no="295"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 277 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ren Verlockungen und Antrieben und weil der Bedarf, die Alternativen, die kulturellen Wertvorstellungen, das eigene Selbstkonzept etc. auch noch eine Rolle spielen. Eben dies soll betont werden: Gerade weil es keine sichere und allgemeingültige Methode gibt, fremdes Handeln zu orientieren und zu energetisieren, haben lokale, kreative, unkonventionelle, unterschwellig operierende - mikropolitische - Methoden eine Chance, denn sie können 'unmerklich', überraschend und begrenzt eingeführt, revidiert und abgeleugnet werden. Mit ihnen lässt sich die Hebelwirkung kleiner Informationsvorsprünge, bislang unbeachteter Regelungslücken, erwiesener Gefälligkeiten, persönlicher Marotten usw. nutzen. Allerdings muss man auch mit Rück- und Fernwirkungen rechnen, denn mit jeder Taktik werden zugleich auch neue Verpflichtungen begründet und Ausgrenzungen vorgenommen: das Spiel geht weiter. Genauso wie es kein autistisch-beziehungsloses Handeln gibt, gibt es kein interesseloses; zumindest wäre es mikropolitisch nicht relevant, denn es wäre als "rein sachliches" auf übertragene Aufgabe beschränkt und würde definitorisch die Schnittstellenproblematik (zwischen Eigenem und Organisationalem) ausschließen. Weitere Parallelen liegen darin, dass zum einen auch von Interesse nur im Plural gesprochen werden kann und dass zum anderen die eigenen und die fremden voreinander unterschieden werden müssen. Die Einbeziehung der Anderen In Organisationen wird das Handlungsfeld dadurch erweitert, dass man es nicht nur mit einem Gegenüber zu tun hat, sondern mit vielen, die zwar jeweils konsistente, aber untereinander sehr unterschiedliche Interessen(konstellationen) haben können. Sofern eine Aktion zugleich verschiedene Interessenten betrifft, ist es nicht wahrscheinlich, dass sie alle gleichermaßen profitieren werden, wenn ihre bestehenden Präferenzordnungen unverrückbar sind. Damit die Adressaten nicht abspringen (d.h. eigene Wege zu ihren eigentlichen Zielen gehen), muss ihr Anspruch auf Interessenbefriedigung realisiert werden. Dazu gibt es Praxis erprobte Strategien, deren mikropolitisches Potenzial auf der Hand liegt: - Vertröstung auf später: Dein Zugeständnis jetzt werde ich dann kompensieren! - Verklärung des (zunächst) abgelehnten Ziels: Es in leuchtenden Farben darstellen und als besonders wichtig, wertvoll, passend etc. erscheinen lassen und/ oder das ursprüngliche Ziel entsprechend entwerten. Die nach einer Ent- <?page no="296"?> 278 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ scheidung fälligen kognitiven Dissonanzen können durch das Liefern passender Argumente gemildert werden. - Indoktrination: Modifikation des internen Wertsystems, Veränderung der Rangordnung der Präferenzen (Gehirnwäsche, Reframing, Sozialisation). - Mittel-Zweck-Beziehungen aufbauen: Das weniger Wertvolle ist Eintrittspreis oder Opfer, um für die Hauptrunde zugelassen zu werden. - Appell an Gemeinschaftssinn und Gerechtigkeitsempfinden: Die Belohnung wird an die Gesamtgruppe verteilt - die Einzelnen müssen ihren Anteil selbst erkämpfen. - Nebenzahlungen oder Pakete: Das dominante Interesse wird vielleicht nicht befriedigt, aber durch die (teilweise) Befriedigung weiterer Interessen wird in der Summe ein äquivalenter Gesamtnutzen erreicht. - Die Wahrscheinlichkeit steigern, um den Wert verkleinern zu können (Spatz in der Hand - Taube auf dem Dach). Mikropolitik geht davon aus, dass die Akteure nicht immer und/ oder genau wissen, was sie wollen, dass sie mit sich reden lassen und plastisch sind (dazulernen können). Vor allem: Es sind immer Wünsche offen - und wenn ein Bedürfnis nicht gestillt wurde, so gibt es doch viele weitere, die stellvertretend befriedigt werden können. Die ultimative Motivation der Motivation: "Ich will deinen Willen! " Das Ende von Mikropolitik ist erreicht, wenn keine Geschäfte mehr gemacht werden können. Nicht weil die Leute satt sind - das ist praktisch ausgeschlossen, sondern weil man ihnen nichts Attraktive(re)s mehr bieten kann. Dieses an Tauschhandel und Nutzen-Buchhaltung orientierte ökonomistische Modell kann allerdings überboten werden. Mikropolitik ist dann ein Wollen, das fremdes Wollen umfunktioniert. Das "Ich will" der Zielperson ist aus der Perspektive des Einflussnehmenden ein Hindernis. Aus seiner Sicht lautet die Maxime: "Du sollst wollen, wie/ was ich will! " oder noch subversiver: "Ich will deinen Willen! " Ein Beispiel sind Inspirational Appeals als mikropolitische Einflusstaktik. Es geht dabei nicht um eine einzelne konkrete Tat, zu der die Zielperson verleitet werden soll, sondern um eine neue Haltung. Inspiration heißt wörtlich 'beatmen', eine Seele einhauchen, animieren, be-geistern, spiritualisieren. Es soll ein 'mitreißendes' Ziel vor Augen gestellt werden, das wegreißt aus der Krämergesinnung des Nutzenkalküls. Von sich aus, scheinbar unabhängig von einer fremden Autorität, will einer, was er soll. Wenn das gelungen ist, ist die Zielperson umprogrammiert; ihr Ich-Ideal und Gewissen sind ersetzt durch eine begeisternde Idee, die nicht zuletzt eines ist: für's Unternehmen nützlich! <?page no="297"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 279 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 4.2.5. "Ich kann": Kompetenzen (Fähigkeiten und Ressourcen) Neben 'political will' ist, wie schon Mintzberg (1983) bemerkte, auch 'political skill' vonnöten. Dem Willen muss ein Können korrespondieren. Über personale Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus sind bei einem 'resource based view' alle weiteren Ressourcen, Mittel und situativen Ermöglichungsbedingungen zu berücksichtigen, die die Absicht 'Ich will' umzusetzen erlauben. Unbändiger Wille kann Berge versetzen, aber nur im metaphorischen Bild; in der Realität kommt man weiter mit Dynamit und Planierraupen. Das 'empowerment' benötigt, um die Kluft zwischen Absicht (Plan, Wille) und Erfolg überbrücken zu können, Mittel oder, um den eingebürgerten Begriff zu verwenden, Ressourcen. Wer über die nötigen personalen und organisationalen Mittel verfügt und sie effizient und effektiv einsetzt, kontrolliert die Ergebnisse. Beides, personale und organisationale Mittel, lassen sich im Begriff 'Kompetenzen' bündeln. Mit dem ersten Bereich (Kompetenz 1 ) sind jene 'skills & abilities' gemeint, die eine Person in den Stand setzen, aus eigener Kraft Herausforderungen zu meistern. Der andere Begriffsinhalt (Kompetenz 2 ) bezieht sich auf Verfügungsrechte über jene apersonalen Mittel, die zur Zielerreichung nötig oder hilfreich sind. Jemand kann z.B. exzellente Computer-Kenntnisse haben (Kompetenz 1 ) - wenn ihm kein Computer zur Verfügung steht (Kompetenz 2 ), hilft ihm das alles nichts. Der Kompetenz 1 -Diskurs hat sich als Fortentwicklung der früher dominierenden Diskurse (Eigenschaften, Persönlichkeitsdispositionen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Qualifikationen, Potenziale etc.) etabliert. Er soll am Beispiel des Ansatzes von Erpenbeck et al. skizziert werden (siehe z.B. Erpenbeck 2004, Erpenbeck & von Rosenstiel 2003, Heyse & Erpenbeck 2004). Das von diesen Autoren propagierte Kompetenzraster (siehe Abb. 4-8) ist streng symmetrisch aufgebaut. Die Autoren unterscheiden vier basale Kompetenz- Kategorien, nämlich personale Kompetenzen, Aktivitäts- und Handlungs-Kompetenzen, sozial-kommunikative Kompetenzen und schließlich Fach- und Methoden- Kompetenzen (in Abb. 4-8 sind das die vier entsprechend beschrifteten großen Quadranten). Für jede diese Hauptgruppen wird weiterhin angenommen, dass sie in mehr oder weniger ausgeprägter Weise auch in den anderen drei Gruppen repräsentiert ist. Zählt man den jeweiligen Hauptfaktor (als Beziehung zu sich selbst) hinzu, ergeben sich pro Hauptquadrant vier Sub-Quadranten, die des Weiteren noch einmal 'viergeteilt' werden, wobei für die letztere Unterteilung kein Leitprinzip angegeben wird. Auf diese Weise resultieren 64 Kompetenzen, für die sowohl <?page no="298"?> 280 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Diagnosewie Trainingsprogramme entwickelt werden (müssen). Falls die Messprobleme gelöst würden, könnte einer Person für jede der 64 Kompetenzen ein Punktwert zugeordnet werden und wäre es möglich, bei eventuellen Defiziten (bezogen auf Sollwerte) punktgenaue Entwicklungs-Interventionen vorzuschlagen. P Personale Kompetenz A Aktivitäts- und Handlungskompetenz Loyalität Normativethische Einstellung Einsatzbereitschaft Selbstmanagement Entscheidungsfähigkeit Gestaltungswille Tatkraft Mobilität P P/ A A/ P A Glaubwürdigkeit Eigenverantwortung Schöpferische Fähigkeit Offenheit für Veränderungen Innovationsfreudigkeit Belastbarkeit Ausführungsbereitschaft Initiative Humor Hilfsbereitschaft Lernbereitschaft Ganzheitliches Denken Optimismus Soziales Engagement Ergebnisorientiertes Handeln Zielorientiertes Führen P/ S P/ F A/ S A/ F Mitarbeiterförderung Delegieren Disziplin Zuverlässigkeit Impuls geben Schlagfertigkeit Beharrlichkeit Konsequenz Konfliktlösungsfähigkeit Integrationsfähigkeit Akquisitionsstärke Problemlösungsfähigkeit Wissensorientierung Analytische Fähigkeit Konzeptionsstärke Organisationsfähigkeit S/ P S/ A F/ P F/ A Teamfähigkeit Dialogfähigk., Kundenorientierung Experimentierfreude Beratungsfähigkeit Sachlichkeit Beurteilungsvermögen Fleiß Systematischmethodisches Vorgehen Kommunikationsfähigkeit Kooperationsfähigkeit Sprachgewandtheit Verständnisbereitschaft Projektmanagement Folgebewusstsein Fachwissen Marktkenntnisse S S/ F F/ S F Beziehungsmanagement Anpassungsfähigkeit Pflichtgefühl Gewissenhaftigkeit Lehrfähigkeit Fachliche Anerkennung Planungsverhalten Fachübergreifende Kenntnisse S Sozial-kommunikative Kompetenz F Fach- und Methodenkompetenz Abb. 4-8: Ein Analyseschema zur Kategorisierung von Kompetenzen [Heyse & Erpenbeck (2004) bzw. Erpenbeck (2004)] Wie andere praxisnahe Kategorisierungen von Persönlichkeitsdispositionen (z.B. der unter Praktikern verbreitete Myers-Briggs-Typen-Indikator, das DISG-Profil oder das Enneagramm-Modell) erhebt auch das dargestellte Kompetenz-Modell den Anspruch, ein dimensional geordnetes, systematisch aufgebautes und umfassendes System anzubieten. Anders als bei empirisch fundierten und z.B. faktorenanalytisch basierten Systemen (z.B. von Cattell & Cattell 1995, Guilford 1967, Eysenck 1947, <?page no="299"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 281 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ McCrae & Costa 1996) dominiert hier ein konsequent durchgehaltenes Ordnungsprinzip, das dazu nötigt für alle Positionen, die das Gliederungsschema vorsieht, auch inhaltliche Eintragungen zu finden (was nach meiner Meinung nicht immer überzeugend gelingt). Die Autoren haben sich um die differenzierte Entfaltung des Kompetenz-Klassikers "Selbst-, Fach-, Methoden- und Sozial-Kompetenz" bemüht und werden durch ihre symmetrische Systemlogik zu kreativen Zellbesetzungen gezwungen oder verführt. Die Abgrenzungen der konkreten Kompetenzen sind theoretisch schwach fundiert; es handelt sich um eine Taxonomie, bei der das 'Nomische' noch nachgeliefert werden müsste. Zum Beispiel: Warum ist im Quadranten P/ F so Heterogenes versammelt wie 'Lernbereitschaft', 'ganzheitliches Denken', 'Disziplin' und 'Zuverlässigkeit'? Wie können 'Einsatzbereitschaft' (in P/ A), 'Initiative', 'Tatkraft' und 'Ausführungsbereitschaft' (alle in A) von 'Impulsgeben' (in A/ S) differenziert werden? Warum werden 'schöpferische Fähigkeit' (P/ A), 'Innovationsfreude' (A/ P), 'Experimentierfreude' (S/ A) heterogenen Kategorien zugewiesen? Geht es (z.B. bei 'Eigenverantwortung') um eine latente Selbstorganisationsdisposition oder um deren Realisation im Verhalten (z.B. 'eigenverantwortliches Handeln')? Für mikropolitisches Handeln bietet die Rasterung menschlicher Qualifikationen aber reichhaltiges Anschauungsmaterial, führt sie doch plastisch vor Augen, welch enorme Bandbreite von Akzentsetzungen unsere Sprache bereit hält, handlungsrelevante Persönlichkeitsdispositionen zu benennen. Wenn man die Entwicklungen in der Kompetenzdefinition und -messung noch nicht für konsolidiert hält, kann man sich dennoch aus dem reichhaltigen Fundus psychologischer Messverfahren bedienen, die für eine große Zahl isolierter Skills & Abilities vorliegen (siehe z.B. für den deutschsprachigen Bereich den Testkatalog des Hogrefe-Verlags oder die in der Fachliteratur diskutierten Verfahren (etwa Schuler 2006 2 oder - kompakt - Hossiep & Mühlhaus 2005; für den Management-Bereich: Sarges 2000 3 ). Kaum systematisch geordnet ist das, was ich oben Kompetenz 2 genannt habe - das Arsenal all jener Werkzeuge und Prothesen, die die Menschen erfunden haben und benutzen, um ihre Handlungsmöglichkeiten weit über das 'menschliche Maß' hinaus zu erweitern. Spontan fallen dazu die Errungenschaften der Technik ein, durch die (fast) jede menschliche Fähigkeit (sehen, hören, tragen, laufen, rechnen, schreiben usw.) ins Gigantische gesteigert werden kann oder in Domänen erweitert wird, die dem Menschen nicht einmal rudimentär verfügbar sind (fliegen, ins Inne- <?page no="300"?> 282 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ re von Körpern sehen etc.). Aus ökonomischer Perspektive darf dabei Geld, das Mittel aller Mittel, nicht übersehen werden, das vielleicht nur noch übertroffen wird durch Macht als das universale politische Mittel (das nicht nur Geld einschließt, sondern vor allem Menschen selbst zu Mitteln macht). Wird das "Ich kann" ausgeweitet in diesen Bereich, käme man mit einer Auflistung der konkreten Mittel, die tatsächlich genutzt werden, an kein Ende. Man muss deshalb einen abstrakteren Ressourcenbegriff zu Grunde legen, unter den z.B. auch die organisationalen Steuerungsprinzipien, die in Kapitel 3 erörtert wurden, fallen. Als Ressource gilt dann jede Handlungsunterstützung, die dem Akteur (auch dem kollektiven Akteur) als externes Mittel verfügbar ist (Verfügungsrechte, Mobilisierbarkeit) und - kompetent angewandt - eine Problemlösung unterstützt oder ermöglicht (Wert schaffende Potenz). Der Resource Based View hat noch weitere Charakteristika genannt, die insbesondere den ökonomischen Nutzen von Ressourcen bestimmen [knapp, nicht substituierbar, nicht imitierbar; z.T. zusätzlich: lernfähig/ entwicklungsfähig, kombinierbar ('bundling'), s. Barney 1997, Ridder 1999]. Diese Ressourcen-Definition ist trotz ihrer Allgemeinheit in gewisser Hinsicht relativ eng, weil für sie nur das ein Mittel ist, was einen bestimmten Zweck fördert: der Zweck heiligt (oder zumindest: definiert) das Mittel. Es darf aber nicht übersehen werden, dass sich Mittel quasi verselbstständigen können. Zwei Fälle sind besondern wichtig: beim Einsatz eines Mittels wird erkannt, dass es sich auch für vorher noch nicht er- oder bekannte Zwecke eignet und zum anderen verwandelt sich das ursprüngliche Mittel zum Zweck. Geld z.B. ist nicht nur ein Lebens- Mittel (mit dem man sich lebensnotwendige Güter verschaffen kann), sondern für manche plötzlich Lebens-Inhalt. Man würde den Einsatzbereich von Mikropolitik erheblich unterschätzen, wollte man ihn beschränken auf die personal vorhandenen Fähigkeiten. Ein großer Teil der mikropolitischen Taktiken zielt vielmehr darauf ab, sich den Zugang zu und die Verfügung über 'fremde' Ressourcen zu verschaffen bzw. diese im Eigeninteresse vorteilhaft zu gestalten (etwa Regeln, Verfahren, Routinen). 4.2.6. "Ich fühle": Emotionalität Mit "Ich fühle" wird das Merkmal 'Emotion' thematisiert, das oftmals im wissenschaftlichen Machtdiskurs zugunsten von Kognition, Motivation und 'Können' (Fähigkeiten & Ressourcen) unbeachtet bleibt. Schon vor mehreren Jahrzehnten haben Deutsch & Gerard (1955) neben dem 'informationellen Einfluss' (der dem <?page no="301"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 283 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ entspricht, was oben unter 'Ich weiß' dargestellt wurde) auch 'normativen Einfluss' berücksichtigt, bei dem es nicht um die 'Sache' geht, sondern darum, sich 'gut' zu stellen mit jemand (einer anderen Person, einer Gruppe oder sich selbst). Das Einflussziel soll sich wohl fühlen oder erfreut werden (bzw. das Gegenteil davon erleben). Mit informationellem Einfluss will man recht haben, mit normativem gemocht (oder gehasst) werden. Mit der Betonung von Emotion soll nicht für romantische 'Gefühlsduselei' plädiert werden, sondern für die Berücksichtigung der alles Handeln begleitenden Bewertung (als angenehm, lustvoll, wertvoll, widerwärtig, peinlich usw.), die von der klassischen ökonomischen Theorie zur wohlstrukturierten Präferenzordnung abstrahiert wurde. Rationalistische Gefühlsabwehr oder -ignoranz als Leugnung oder Unterdrückung von Emotionalität ist eine kurzsichtige und zudem erfolglose Strategie, denn auch Nüchternheit, Kälte, Rationalismus haben emotionale Facetten. Im neurophysiologischen Diskurs wird zunehmend betont, dass subkortikale Verarbeitungszentren für das Zustandekommen von Entscheidungen weit wichtiger sind als kortikale; 63 siehe z.B. Spitzer (2000), Ahlert & Kenning (2006) oder die vom Nobelpreisträger McFadden (2004, 4) zusammengestellten 'kognitiven Anomalien'. Zu Stimmung, Verfassung, Atmosphäre, Klima, Betroffenheit etc. gibt es keine Negation. Positive oder negative Affektivität und emotionale Schemata beeinflussen die Informationsverarbeitung, induzierte Stimmungen können sozialen Einfluss erleichtern oder erschweren (s. dazu Forgas 2001, Hooijberg, Hunt & Dodge 1997, 383). Das lässt sich auch am Einsatz von Emoticons in der Email-Kommunikation illustrieren. Bei fehlendem unmittelbaren (körperlichem) Kontakt wird dabei die Emotionsseite durch stilisierte Zeichensätze (Smileys) extra codiert und mitgeteilt. Eine ähnliche Rolle spielen Soundwörter (juhuu, urrgh), eigene, an die Comic-Sprache angelehnte Aktionswörter (lächel, grunz, ächz, stöhn) oder Akronyme (wie z.B. ROTFL: rolling on the floor laughing) (siehe: Rothe 2004, 375). Nicht nur die aktuellen Befindlichkeiten von A und Z spielen eine Rolle [sich (gut/ schlecht) fühlen; Stimmungen, Launen], sondern auch die Fähigkeit der Akteure etwas zu fühlen, zu spüren, zu ahnen [Empathie, Sensibilität, Resonanz vs. Alexithymie (die das Krankheitsbild bezeichnet, zum Erkennen von Gefühlen bei sich und Anderen unfähig zu sein)]. Aus mikropolitischer Perspektive ist mehr noch als das 'Haben' von Gefühlen ihr Zeigen oder Darstellen wichtig. 63 Damit wird eine Einsicht bestätigt, die als Management-Weisheit schon lange kursiert: "Menschen und Nationen handeln rational, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind." <?page no="302"?> 284 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Interpersonales Handeln benötigt - wie das Atmen - eine günstige Atmosphäre. So etwas wie 'rein rationales' Handeln oder Entscheiden gibt es nicht. 'Ratio' und 'Passio' sind nicht Antipoden auf einem Kontinuum, sondern die beiden Achsen in einem (rechtwinkligen? ) Koordinatensystem: Jeder Verhaltensakt ist durch Ausprägungen auf beiden Dimensionen markiert. Auf Emotionsseite wird häufig zwischen globaler Bewertung und spezifischen Emotionen differenziert. Es macht einen Unterschied, ob eine 'Positive Affektivität' (PA; gute Laune, Wohlwollen, Sympathie, Freude, Stolz etc.) vorherrscht oder 'Negative Affektivität' (NA, Missmutigkeit, Niedergeschlagenheit, Mutlosigkeit, Abwertung, Hass, Angespanntheit etc.). PA und NA, wie sie durch die PANA-Skala (Krohne, Egloff, Kohlmann & Tausch 1996) gemessen werden können, sind einerseits von anderen globalen Bewertungsreaktionen, wie z.B. (Lebens- und Arbeits-)Zufriedenheit, wie auch von ganz spezifischen Emotionen (wie Freude oder Hass etc.) zu unterscheiden. Zum Einen sind somit die eine Person, eine Beziehung oder eine Gruppe situationsübergreifend charakterisierenden allgemeinen Lage-Emotionen relevant. Diese emotionale Komponente wird zusätzlich zur technisch-rationalen zunehmend in Arbeitskontexten genutzt: Man soll seine Arbeit nicht nur korrekt tun, sondern sich dabei wohl fühlen, sie soll Spaß machen, man soll hohe Ichbeteiligung (commitment) zeigen, Flow-Erlebnisse haben usw. Zum Anderen gibt es auch spezifische, an bestimmte Partner, Aufgaben oder Situationen gebundene Handlungs-Emotionen: Rache, Leistungsstolz, Demütigung, Scham, Ärger etc. sind affektive Korrelate und/ oder Determinanten konkreter Handlungen. Ein Beispiel für die emotionale Verarbeitung eines Organisationsentwicklungs- Prozesses ist in Abb. 4-9 wiedergegeben. Mikropolitisch relevant sind Emotionen deshalb, weil sie zwar omnipräsent und unausweichlich sind, zugleich aber - sieht man von einigen wenigen Basisemotionen ab - nicht immer eindeutig erkannt werden (können), nicht zuletzt weil es gesellschaftliche Normen gibt, die regulierend intervenieren (siehe Fiehler 1990, Rastetter 2000, Hochschild 1990). Fiehler (1990) unterscheidet vier Arten von Regeln: 1. Emotionsregeln (feeling rules) legen fest, welches Gefühl in welcher Intensität für einen bestimmten Situationstyp angemessen und erwartbar ist: auf einem Begräbnis ist man traurig, auf einer Faschingsparty fröhlich. <?page no="303"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 285 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 4-9: Emotionen bei organisationalen Änderungen (nach Roth 2000) 2. Manifestationsregeln (display rules) schreiben vor, in welcher Situation welches Gefühl (wie intensiv) zum Ausdruck gebracht werden darf oder muss (bei einer Beerdigung: leise Stimme, gesenkter Kopf, ruhige Bewegungen, kein Lachen ...). 3. Korrespondenzregeln kodifizieren welche weiteren Emotionen bzw. Manifestationen zu einer Basisemotion gehören, angemessen und sozial erwartbar sind. 4. Kodierungsregeln sind Konventionen, die die Verhaltensweisen (sprachlich, stimmlich, mimisch, gestisch) beschreiben, an denen man erkennen kann, dass eine bestimmte Emotion vorliegt. Auch hier also wieder das alte Lied: Man kann sich nicht darauf verlassen, dass wahrgenommene Gefühle spontaner, unzensierter und untrüglicher Ausdruck von Befinden sind. Verschiedene Komponenten von Gefühlen (z.B. neuro-physiologische, subjektiv-erlebnismäßige, expressive, kognitiv-interpretierende, motorischverhaltensmäßige bzw. motivationale und sprachlich-kommentierende) können voneinander entkoppelt sein (zu den Komponenten-Modellen und ihrer Kritik siehe Bergknapp 2002, 28-57). Das wiederum macht sie für mikropolitische Manöver geeignet: Man kann Gefühle heucheln, Stimmungen aufheizen, sich unberührt oder cool zeigen, (Krokodils-)Tränen weinen oder Euphorie simulieren etc. und so künstlich jene Atmosphäre (Lage-Emotion) schaffen, die für eigene Anliegen besonders nützlich scheint. In besonderem Maße sind bei diesem Aspekt die Meta-Merkmale des Verbergens, Täuschens und Inszenierens relevant. 100% System leistung Entscheidung Planung Veröffentlichung Einführung Realisierung 1. Vorahnung Sorge 2. Schock Schreck 3. Abwehr Ärger 5. Emotionale Akzeptanz Trauer 4. Rationale Akzeptanz Frustration 6. Öffnung Neugier, Enthusiasmus 7. Integration Selbstvertrauen Zeitachse <?page no="304"?> 286 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Mikropolitisch interessant ist weniger die unendliche Debatte darüber, wie viele Basisemotionen es denn nun gibt (s. etwa Bergknapp 2002, 25ff. und Küpers & Weibler 2005, 45f.) 64 , sondern eher jene Ansätze, die die erwähnten 'Komponenten' in einem Prozess-Schema integrieren. Als Beispiel dafür ist in Abb. 4-10 das sequenzielle Emotionsmodell von Plutchik (1980) wiedergegeben. Abb. 4-10: Ein Prozessmodell der Emotion (nach Plutchik 1980, in der Fassung von Küpers & Weibler 2005, 70) Diese Prozessdarstellung ist nur eine Grobskizze. Die einzelnen Schritte könnten differenzierter ausgearbeitet werden. Um das am Beispiel der 'kognitiven Einschätzung' vorzuführen: Hier könnte Bezug genommen werden auf jene Ansätze, die von erlernten Emotions-Schemata ausgehen: "Emotionale Schemata sind - bildlich gesprochen - soziokulturell und individualgeschichtlich präformierte 'Mustervorlagen für die Vervielfältigung von Gefühlsregungen' [...] und zwar im doppelten Sinne einmal des Verstehens von eigenen und fremden Gefühlsregungen und zum anderen der [...] Produktion, 'Kreation' bzw. 'Konstruktion' von Gefühlserlebnissen" (Ulich 1992, 89). Eigene emotionale Erlebnisse werden nicht in ihrer bunten Einmaligkeit, sondern geformt und genormt (Schemata! ) abgespeichert und so erinnert; zugleich sind diese Strukturierungen Anleitungen für den Umgang mit und die Einordnung von sehr komplexen, mehrdeutigen und widersprüchlichen Erlebnissen. Im Unterschied zur oftmals als Definitionsmerkmal attestierten Irrationalität und Unberechenbarkeit von Emotionen ('Gefühlschaos'! ) wird geltend gemacht, dass auch Emotionen in hohem Maße geordnete und regulierte Abläufe darstellen. 64 Kandidaten sind z.B.: Freude/ Glück, Traurigkeit/ Kummer/ Sorge, Interesse/ Neugier, Überraschung/ Verwunderung/ Erstaunen, Angst/ Furcht, Ekel, Ärger/ Wut, Verachtung, Verzweiflung, Liebe, Hass, Scham, Schuld ... Reiz, Ereignis kognitive Einschätzung Handlungsimpuls beobachtbares Verhalten Auswirkung Gefühlszustand physiologische Reaktion Rückmeldeschleifen <?page no="305"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 287 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Geht man von Ungewissheitszonen und der Chance/ Notwendigkeit der Wahl aus, dann können alternative Vorlagen inhaltlich ausgefüllt werden und zwar - hier käme das im Plutchik-Modell vernachlässigte soziale Moment hinzu - auf der Grundlage der oben schon erwähnten Gefühlsregeln von Fiehler oder Hochschild. Die typisierte soziale Situation legt nahe, dass bestimmte 'passende' Gefühle erlebt werden 'müssen' ( Gefühlsregeln), dass sie passend ausgedrückt werden ( Ausdrucksregeln), dass zu ihnen bestimmte weitere Emotionen gehören ( Korrespondenzregeln) und dass klar ist, an welchen Zeichen welche Emotionen konkret erkennbar sind ( Kodierregeln). Der mikropolitische Akteur hat somit in zwei Richtungen zu arbeiten: einmal muss er mit sich selbst ins Reine(! ) kommen (Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung) und zum anderen muss er diese Aufgaben der Diagnose und Steuerung auch bei seinen Zielpersonen und dem Umfeld leisten (Empathie und Manipulation). Diese doppelt-dichotome Aktionsstruktur scheint dem Konzept der 'emotionalen Intelligenz' von Goleman zu Grunde zu liegen. Was unter dem Stichwort 'Tarnen & Täuschen' als strategische Generallinie diskutiert wird, erstreckt sich auch auf das Vortäuschen, Maskieren und Verbergen von Emotionen. Der propagierte dominante Typus des 'Normalarbeiters' zeichnet sich aus durch sachliche Haltung und emotionsfreies Funktionieren (weil Emotionen in der Welt der Fakten und Zahlen grundsätzlich als 'störend' gelten). Schon für diesen Normalarbeiter ist Coolness ein Muss: Er(! ) darf sich z.B. seine Wut oder Enttäuschung nicht anmerken lassen und lauthals hinausbrüllen, er muss seine Handlungsimpulse kontrollieren, sozial adäquates Verhalten zeigen, in Anderen nützliche Gefühle induzieren (z.B. bei Taktiken des Einschüchterns oder Einschmeichelns) ... Es ist somit grundsätzlich eine Mehrebenen-Performance gefordert, wobei die Doppeldeutigkeit von 'performance' (Leistung und Aufführung) in ihrer Verschränkung Wirklichkeit wird: die Inszenierung ist eine Leistung und die Leistung ist eine Inszenierung und beides wird honoriert. Durch gezieltes Arrangement der 'Reize' (Kontexte, Verhaltensweisen) wird 'emotionalisiert', indem geeignete, nützliche Gefühlszustände induziert werden. Die Beteiligten können (sich) nicht sicher sein, woran sie sind - und das gilt nicht nur für die Adressaten oder Zuschauer, sondern auch für den Akteur selbst. Der Grund für dieses ideale mikropolitische Ambiente: Die beschriebenen vier Klassen von Emotionsregeln sind nicht eindeutig und wie alle Regeln stark abhängig von der Anwendungssituation, in der sie konkretisiert werden. <?page no="306"?> 288 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 4.2.7. "Ich stehe in Beziehung": Vergemeinschaftung Einfluss ist soziales Handeln: Eine andere Person soll dazu gebracht werden, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen. Letztlich ist jedes Handeln, auch das nicht unmittelbar an Beeinflussung orientierte, unausweichlich sozial, weil es in seinen Möglichkeiten und Grenzen von Anderen abhängt. Kein Mensch weiß alles, kann alles, hat alles allein, für sich. "Ich stehe in Beziehung" ist das Kürzel für die Tatsache, dass jeder unmittelbar oder vermittelt mit Anderen vernetzt ist, von ihnen (wechselseitig) abhängig ist und zu ihnen Kontakt hat. Sogar das "Ureigenste" (Identität) ist von Anderen vermittelt; isoliert, ausgegrenzt oder ausgestoßen zu sein, ist (wie) eine Todesstrafe. Das Subjekt wird konstituiert durch den Anderen, weil es erst durch Anerkennung zum Subjekt wird (Hegel). Die Intensität der unausweichlichen Beziehung bringt sogar - worauf Nietzsche in einem Wortspiel aufmerksam gemacht hat - die Gefahr der 'Veranderung' mit sich. Mikropolitisches Potenzial liegt darin, dass man nicht alle Erwartungen kennt, die an einen gerichtet werden und die man an die Anderen richten kann. Man muss beides erraten und erlernen. Aus der Intersubjektivitätsdimension lassen sich mikropolitische Taktiken ableiten, die als Ratgeber-Regeln die Praxis spiegeln und regelmäßig Fragebereiche in Mikropolitik-Inventaren sind. Um einige von ihnen stichwortartig aufzuführen: Networking, Verbindungen aufbauen und halten, Seilschaften, Beziehungspflege, ingroupvs. out-group-Beziehungen, Ingratiation ( Schmeichelei ) , Freundlichkeit, Wärme, Nähe, Komplimente, sich lieb Kind machen, Koalitionen, Zweckbündnisse, (Geheim-)Absprachen, Kungelei ... "Du bist nicht allein! " Was der Schlagertext verspricht (oder androht? ) gilt als Möglichkeitsbedingung für die genannten mikropolitisches Aktionen und findet zugleich seinen Niederschlag in der Disposition des Akteurs. Er ist nicht der 'homo clausus' 65 , als den ihn die mikroökonomische Theorie fingiert, sondern ist eingespannt in ein komplexes Netz wechselseitiger Abhängigkeiten. Ein Grenzfall ist die bei der Untersuchung von Einflusstaktiken bevorzugt fokussierte dyadische Beziehung, die genau genommen nur in der Abstraktion vorliegt, weil jedes Mitglied des Paars seinerseits weiter vernetzt ist. Der Akteur hat es deshalb im Regelfall mit einer Fülle von Stakeholders zu tun, nämlich z.B. den KollegInnen in der Arbeitsgruppe, Vorgesetzten und Vorgesetzten von Vorgesetzten, Un- 65 'Homo clausus' ist wörtlich der ab- und eingeschlossene Mensch: abgetrennt von den Anderen (vereinzelt, für sich allein, individuiert) und in sich kreisend, auf sich bezogen, sich selbst genug, sein fixiertes Eigeninteresse verfolgend. <?page no="307"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 289 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ terstellten, Zentralisten, Kunden und Lieferanten, Geschäftspartnern, Behördenmitarbeitern, Familienmitgliedern, Freunden und Freundinnen usw. Schon die Erwartungen einer Bezugsperson können unklar, variabel und widersprüchlich sein; umso mehr gilt das für das Ensemble aller Erwartungen: sie sind nicht alle im gleichen Umfang bekannt und schon gar nicht im gleichen Maße zu erfüllen. Es müssen Akzente gesetzt, Hoffnungen enttäuscht, Priorisierungen vorgenommen werden. Gleichzeitig muss das Netz der Kontakt-Personen aufrechterhalten und gepflegt werden, weil man über solche Verbindungen an Informationen, (weitere) Beziehungen und Ressourcen kommt. Netze sind vom Einzelnen im Regelfall nicht beherrschbar; das gelingt allenfalls, wenn man sich auf wenige privilegierte Beziehungen beschränkt und die weiteren Verbindungen kappt (was wiederum künftige Möglichkeiten einschränkt). 'Vergemeinschaftung' ist ein unabgeschlossenes Projekt, das unter der ständigen Drohung seines Scheiterns steht. Zuweilen und vorübergehend erfüllen sich in Eintracht, Einigkeit, Frieden etc. menschliche Sehnsüchte, aber die erreichte Harmonie ist nicht von Dauer, weil sie von zwei Seiten gefährdet wird: Zum einen verleitet das Wohlgefühl der realisierter Übereinstimmung und solidarischen Nähe und des selbst-losen Diensts an der gemeinsamen Sache (organizational citizenship behavior! ) zur Bekämpfung aller aufkeimenden Widersprüche, zur Einebnung von Unterschieden und dem Vermeiden von Auseinandersetzungen- 'groupthink' 66 ist ein beredetes Beispiel. Zum anderen bietet eine auf 'gutes Auskommen' beschränkte Beziehungsgestaltung nur die Schönwetteransicht der Vergemeinschaftung, weil ihr die Herausforderung durch ihren Antagonisten fehlt. In jeder lebendigen, sich entwickelnden Gemeinschaft ist mit Diversität - und damit Kontroversen (wörtlich: Wider-Wärtigkeiten), Widerstand, Widerstreit, Widerspenstigkeit, Widerstreben zu rechnen, mit Gegensätzen und Gegnerschaft, mit Meinungsverschiedenheiten und Konflikt. Weit entfernt davon, dies als schnellstmöglich zu beseitigendes Defizit zu sehen, stimmen moderne Ökonomie und Politik darin überein, dass Konkurrenz und Opposition die fundamentalen Voraussetzungen dafür sind, im Wettbewerb des (nahezu) Gleichstarken vorhandene Potenziale zu stimulieren und zu entfalten. 66 Unter 'groupthink' wird in der Sozialpsychologie das Phänomen verstanden, dass bei Gruppenentscheidungen zugunsten einer imaginierten Einheitlichkeit und Geschlossenheit abweichende Meinungen exkommuniziert werden. Die Gruppe steigert sich in die Illusionen von Erfolgsgewissheit und Unverwundbarkeit, verliert durch selektive Wahrnehmung und Informationsverarbeitung den Realitätskontakt und scheitert dramatisch. <?page no="308"?> 290 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Charakteristisch für Mikropolitik ist zudem, dass (rationale) Entscheidungen über Sachprobleme immer sozial vermittelt sind, weil nicht der Entscheider selbst ausführt, sondern Dritte dazu gebracht werden müssen, im Sinne und zum Vorteil des Entscheiders zu handeln. Aus dieser Perspektive werden Akteur und Zielperson nicht nur als Einzelne (Ver-Einzelte) gesehen, sondern immer auch als Vernetzte, die es mit anderen zu tun haben und in Beziehungen integriert sind, die nicht immer eng gekoppelt und konsensuell sind, sondern auch locker/ lückenhaft verbunden und antagonistisch sein können. Die Maxime: "Sage mir, mit wem du gehst, und ich sage dir, wer du bist! " hat als Kalenderweisheit natürlich keine Beweiskraft, aber sie relativiert ein eingeschliffenes Muster, das vom Tun aufs Sein schließt; sie erweitert es durch den Schluss von der Beziehung aufs Sein. "In Bezug auf andere" kann man allerdings nicht immer mit Hilfe und Bestätigung rechnen, sondern muss auch auf Widerstand und Gegnerschaft gefasst sein. Wird dem Akteur seine souveräne Gestalter-Rolle zumindest partiell aberkannt, kommen - realitätsnäher - die Beschränkungen und Chancen ins Blickfeld, die Intersubjektivität und Interdependenz mit sich bringen. Nicht allein was man tut, sondern auch mit wem man zu tun hat (z.B. mit Mentor, Beurteiler, Konkurrent, Freund ...), ist für die Beurteilung der Erfolgschancen von Einflussversuchen relevant. Gibt man die Fiktion des autonomen Subjekts auf und sieht jeden Akteur 'in Beziehung' kann man zusätzlich zwischen zwei Aspekten von Beziehungen differenzieren: zum einen die Zeitdimension (die den Entwicklungsstand einer Beziehung reflektiert (siehe dazu Beleg 4-4) und zum anderen den Konkretheitsgrad, dem entsprechend sich unmittelbare Beziehungen (von Angesicht zu Angesicht) und generalisierte Beziehungen (als Rechtssubjekt, Bürger, Organisationsmitglied) unterscheiden lassen. Die direkten Beziehungen prägen lokale oder gar idiosynkratische Erwartungen aus, die generalisierten pauschale. Man kann sich aus beiden Erwartungsnetzen nicht ausblenden, man kann höchstens Erwartungen enttäuschen oder in andere Konstellationen wechseln (neue Freunde, andere Organisationen): Zur Sozialität gibt es keine Alternative. In intimen freundschaftlichen Beziehungen ist die Chance groß, dass Erwartungen deutlicher expliziert und schneller korrigiert werden, wenngleich - traut man Erfahrungen der Partnertherapie - das keineswegs eine gesicherte Errungenschaft ist. Um nicht zu verschmelzen, muss man sich abgrenzen, anders sein, anders fühlen, anders denken. Und nicht über alles kann und will man reden. Nicht dass man absichtlich Wissen voreinander geheim hielte, man versteht (sich) bloß nicht immer richtig und gut und hat die eigenen blinden Flecken nicht aufgeklärt. <?page no="309"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 291 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 4-4: Prozessmodelle Soziale Beziehungen sind nicht einfach 'da', sie entwickeln sich. Plastisch wird das an Phasenmodellen der Gruppendynamik sichtbar. Ein Team hat es je nach Entwicklungsstadium mit ganz anderen Problemstellungen zu tun; werden sie nicht bewältigt, ist kein Fortschritt möglich. Was eine Gruppe aktuell tut oder tun kann, hängt somit davon ab, in welcher Entwicklungsphase sie steckt. Eines der bekanntesten Prozessmodelle ist das von Tuckman & Jensen, die (1977) fünf Phasen unterscheiden: Forming - Storming - Norming - Performing - Adjourning. Bei Forming geht es um das Zusammenfinden der Mitglieder, erste Kontakte, gegenseitiges Abtasten, Verteilung von Aufgaben etc. Regelmäßig wird, so die These, diese Phase abgelöst durch eine nächste, in der Konflikte, Aggressionen, Rangkämpfe etc. dominieren. Erst wenn diese Gärungsphase bewältigt ist, können sich Regeln, Normen, Gewohnheiten und Routinen herausbilden (Norming) und dann kann die vorhandene Energie auf die Bewältigung der Aufgaben (Performing) gelenkt werden. Die (später hinzugefügte) fünfte Phase erinnert daran, dass Gruppen nicht unendlich und unsterblich existieren; sie werden beendet und dies geschieht in einer Phase des Abschließens, Abschiednehmens und der Trauerarbeit (Adjourning). Die Erfolgsaussichten ein und derselben Einflusstaktik dürften je nach Phase unterschiedlich sein: In der Sturm-und-Drang-Phase mögen druckvolle Konfrontation oder Blockaden wirksam sein, im Leistungs-Stadium dagegen wären sie vermutlich fehl am Platze. Bei formalisierten Beziehungen liegt das Problem auf einer anderen Ebene: Ein Akteur muss segmentieren, weil er zugleich in einer Vielzahl von Hinsichten Erwartungsadressat ist und nicht allen Erwartungsinhalten gerecht werden kann. Deswegen wird kontextualisiert - je nachdem, als was er sich und die Erwartungs-Sender definiert: Verkehrsteilnehmer, Steuerzahler, Elternteil, Christ, Mann, Siemensianer, Käufer, Reisender, Hundebesitzer, Mieter, Jogger, Vortragender … Für das Arbeiten in Unternehmen ist typisch, dass verschiedene Rollen möglich sind und differenziell akzentuiert, miteinander vermischt oder gegeneinander ausgespielt werden können. Man vergegenwärtige sich das am Beispiel einer Person, die gleichzeitig Kollegin, Vorgesetzte, Unterstellte, Frau, Projektleiterin, Kandidatin etc. ist, wobei noch hinzu kommt, dass jede dieser Rollen unterschiedlich interpretiert (sowohl inszeniert wie wahrgenommen) werden kann. Die Vorgesetzte z.B. kann (siehe die Führungsstil- Diskussion) autoritär, kooperativ, distanziert, freundschaftlich, aggressiv usw. vorgehen und entsprechend - oder ganz anders! - gesehen werden. Mikropolitisch gesehen liegen darin Chancen, weil das eigene Verhalten in derart offenen Beziehungen zum Tauschobjekt werden kann, für das Gegenleistungen verlangt werden können. In formalisierten Beziehungen (eine Schnittstelle zum nächsten Gliederungspunkt) kommt hinzu, dass einem die eigene Position den Zugang zu Machtressourcen erlaubt, die man aktivieren kann. Mit Tausch und <?page no="310"?> 292 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ (geliehener) Macht kann man ködern und drohen, offensiv und defensiv agieren, explizit und andeutend umgehen, massiv und fein dosiert vorgehen etc. Weil man - in Abwandlung des Watzlawick-Axioms - nicht nicht in Beziehung sein kann, ist Intersubjektivität eine Klaviatur, auf der gespielt werden muss; aber verschiedene Akteure haben eine unterschiedliche Meisterschaft in dieser Kunst erreicht. 4.2.8. "Ich bin in Ordnung(en)": Institutionalisierung, Vergesellschaftung Bei der im letzten Kapitel diskutierten Vergemeinschaftung ging es um die Gestaltung der interpersonalen Beziehungen zwischen den Akteuren. Die Perspektive der Vergesellschaftung fügt dem einen apersonalen Aspekt hinzu, weil es um personunabhängige, generelle Institutionen geht, die für alle Beteiligten gleichermaßen gelten. Als übergreifende Sozialregulative haben Institutionen eine nicht zu überschätzende Koordinations- und Entlastungswirkung. Sie regeln vorab und für alle verbindlich, was in typisierten Situationen erlaubt und verboten ist und ersetzen damit zeit- und ressourcenaufwändige und schlecht prognostizierbare Aushandlungsprozesse. Gesellschaften unterscheiden sich voneinander nicht durch die Menschen, sondern durch das Ensemble der Institutionen, das das Handeln der Menschen konditioniert. Organisationale Steuerung erfolgt "im Rahmen" dieser Vor-Ordnungen, die für eigene Zwecke genutzt und präzisiert wird. Ohne organisationsinterne Feinarbeit geht es nämlich nicht. Im Innenbereich von Organisationen sind die meisten Aktivitäten und Beziehungen nicht ins Belieben (individueller Vorlieben und Abneigungen) gestellt, sondern strukturell geregelt durch Normen, Regeln, Werte usw. Es sind 'geordnete Verhältnisse', in denen wir arbeiten und die Ordnung ist imperativ, d.h. besteht aus Forderungen und Geboten (insofern könnte in der Überschrift auch stehen: "Ich darf, soll, muss! "). Ohne die abstrakte Koordination über Gesetze, Programme, Konventionen, Sitten, Rituale, den 'Apparat' und das 'System' wären Organisationen und Gemeinwesen nicht lebensfähig, denn sie wären beschränkt auf stets erneute Abmachungen oder das spontane Kräftemessen. Im Vertrauen darauf, dass sich (fast) alle an Verpflichtungen halten, ist kollektives Leben über den Tag hinaus möglich. Unser Essen, unser Wasser, der Strom und das Benzin, die pünktliche S-Bahn-Fahrt und die funktionierende Waschmaschine: nichts ist mehr sicher, wenn nicht die anonymen Anderen ihre Pflicht tun und ihrerseits 'in Ordnung' sind, also ordentlich arbeiten und sich an Ordnungen halten. Unmittelbare interpersonale Einwirkung wird erst er- <?page no="311"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 293 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ möglicht durch das Fundament der Vorab-Koordination durch geltende Regeln, Verfahren, Technologien etc. Sie wirken dauerhaft, unpersönlich, allgemein und sind in einem extrem dichten Netz miteinander verwebt, sodass kein Einzelner sie in Gänze durchschauen und umformen kann. Dennoch geht die Vermittlung von Organisation und Gesellschaft nicht bruchlos vonstatten; es gibt Konfliktfelder, z.B. wenn bürgerliche Rechte und Werte (wie Mündigkeit, Solidarität, freie Entfaltung, Meinungsfreiheit usw.) durch betriebliche Normen oder Praktiken eingeschränkt oder konterkariert werden (hierarchische Unterordnung, Gehorsam, dehumanisierende Arbeitsbedingungen, Kommunikationskontrolle und dergleichen). An solchen Schnittstellen entzündet sich Mikropolitik, sei es als Bewältigungs-, oder als Proteststrategie. Nicht zuletzt ist an das Inter-Organisations-Verhältnis zu denken: Organisationen kooperieren und kooperieren miteinander; sie können nur existieren, wenn und weil die anderen existieren, denn auch hier gilt die Praxis der Differenzierung/ Arbeitsteilung mit der Folge der eskalierenden Komplexität. Es ist genauso wie im Innenbereich auch im Außenbereich unmöglich, dieses dynamische, in ständigem Wandel befindliche Verflechtungsmuster zu durchschauen oder gar zu steuern. Eine bevorzugte Strategie ist sich anzupassen; das erklärt auch die schon erwähnte Tendenz zum Isomorphismus, d.h. zur Übernahme der üblichen (oder modischen) Strukturmuster und Praktiken, ohne dass deren Überlegenheit nachgewiesen worden wäre. Daraus können Spannungen und Rigiditäten resultieren, die vor Ort mit Augenmaß oder aber Kurzsichtigkeit, offen oder verdeckt, konfrontativ oder kooperativ bewältigt werden. Der Vergesellschaftungs-Aspekt betont überindividuelle generelle Beziehungen und gerade das macht ihn zum personal relevanten Merkmal: Jede Person muss "in Ordnung sein", d.h. in eine apersonale Ordnung integriert sein. Damit entsteht eine paradoxe Situation: Person sein heißt sich Prinzipien unterwerfen, die "ohne Ansehen der Person" gelten. Wer sich außerhalb der geltenden (= herrschenden! ) Ordnung stellt, ist rechtlos, schutzlos ('vogelfrei'). Insofern sind Sozialisationsprozesse darauf gerichtet, die Institutionen und Strukturen nicht als "da draußen" erscheinen zu lassen, sondern "da drinnen" zu verankern. Sie sind zwar offiziell 'in Kraft', aber sie wirken erst dann, wenn sie von der Person "aktiviert" werden. Gesetze und Normen binden den Einzelnen rein formal an ein abstraktes Ganzes. Die Mitgliedschaft in einem Unternehmen legt fest, nach welchen Regeln und Prinzipien jedermann zu funktionieren hat (Grundsätze, Werte, Routinen, Pro- <?page no="312"?> 294 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ gramme, Verfahren) und welche Rechte er besitzt. In seinen Handlungen unterliegt jedes Organisationsmitglied dem Legitimationszwang; Rechtmäßigkeit, Billigung, Konformität sind wichtige Kriterien. "In Ordnung(en) sein" zeigt sich im selbstverständlichen "Und so weiter", "Immer wieder", "Weiter so", "Wie gehabt", das Grundlage allen routinisierten Handelns ist. Ohne die Unterstellung von Verlässlichkeit und Vertrauen wäre komplex vernetztes kollektives und proaktives Handeln unmöglich. Institutionen, Strukturen, Verfahren, standard operating procedures (SOP), Verträge, Vereinbarungen, Versprechen sind Instrumente und Garanten dieser Vorprogrammierungen. Ihr Rahmen begrenzt und ermöglicht Handeln, ihre Verletzung muss legitimiert werden (Entschuldigung, Ausrede, Abrede, Rechtfertigung …) und wird gegebenenfalls ritualisiert - in geordneten(! ) Bahnen - geahndet (Strafe, Buße, Verzeihung). Die Ordnung(en), an die sich ein Akteur gebunden fühlt, können unterschiedliche Geltungsinhalte, -bereiche und -gewichte haben, was sich z.B. in der folgenden etwas unordentlichen Aufzählung widerspiegelt: Werteordnung - Rechtsordnung - Arbeitsordnung - ungeschriebene Gesetze - 'Comment' - Sitzordnung - Hackordnung - Tagesordnung - Kleiderordnung usw. Die Tatsache, dass Ordnungen zumeist "gesatzt" sind [aufs Wort/ zur Schrift gebracht, in Grund-Sätzen (Satzungen! ) festgehalten werden], begünstigt, dass sie sich setzen (sedimentieren, zum tragenden Fundament werden) und oft genug gesetzt (steif, gravitätisch) wirken. Deshalb die unablässige Forderung, das Gesatzte und Gesetzte in einer permanenten Kulturrevolution in Bewegung zu bringen, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Für alle Institutionalisierungen gilt, was über Regeln gesagt werden kann: Es gibt sie, weil sie nicht befolgt werden. Etwas wird geregelt, weil (ansonsten) mit der Abweichung zu rechnen ist. Dies ist natürlich eine zirkuläre Argumentation, denn erst die Regel definiert und ermöglicht die Abweichung. Mit der Regel wird eine orientierende Bezugsgröße eingerichtet; man muss sich nicht sklavisch an sie halten, aber wenn man abweicht, muss man 1. sich durch die Berufung auf höhere Werten rechtfertigen können (inspirational appeal), 2. Dispens erhalten (appeal to higher authority) oder 3. Erfolg haben (und das Risiko einer Prinz-von-Homburg- Situation eingehen, was einen wieder auf die Situation 2 zurückwirft). Pragmatische Gesetzgeber antizipieren diese Lage. So kann man sich das (französische) <?page no="313"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 295 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Système D 67 erklären: Es gibt strenge Regeln, aber sie werden locker - mit gesundem Menschenverstand - gehandhabt. Eine durchaus verworrene Situation! Hinter der geltenden (z.B. einzelvertraglich geregelten) Ordnung steht eine weitere oder höhere Ordnung (z.B. Tarifverträge, staatliche Gesetze) und hinter dieser eine weitere Meta-Ordnung (etwa: Gottes Gesetz, Naturrecht). Die existierende Ordnung ist stets prekär, sie wird fortwährend neu ausgehandelt (negotiated order) und das trotz des Grund-Satzes 'pacta sunt servanda'. Auf dieses Spannungsverhältnis zwischen Regeltreue und Regelverletzung wird im Kap. 5.5.5 (S. 477ff.) noch ausführlicher eingegangen. Gesucht ist ein Modell, bei dem Akteure in ihrem Tun konditioniert sind durch die Strukturen oder Institutionen, in denen bzw. durch die sie agieren und die sie damit re-produzieren. Eine ökonomisch bedeutende Institution ist der Vertrag. Verträge haben eine 'bindende' Wirkung, weil sie die Partner im Vertragsverhältnis aneinander und an ihr Versprechen binden und innerhalb dieser geregelten Verhältnisse Freiheitsgrade einschränken: Man kann nicht mehr "alles Mögliche" tun, sondern nur noch das Vereinbarte. Für diese Reduktion tauscht man Sicherheit und Berechenbarkeit ein - wobei man sich aber täuschen und enttäuscht werden kann. Die Principal-Agent-Theory aus dem Formenkreis der Neuen Institutionellen Ökonomie kann als Prozessmodell (um-)interpretiert werden. Sie geht davon aus, dass ein Prinzipal (der Kapitaleigner) Agenten (Beauftragte) bestellt, damit sie in seinem Namen und Interesse handeln. Der Prinzipal bindet die Agenten vertraglich an sich - dies ist die institutionelle Komponente. Der Vertrag ist allerdings notwendigerweise unvollständig, denn es können zu vertretbaren Kosten nicht alle Vertragsbedingungen und -inhalte eindeutig geklärt und fixiert werden. Damit bestehen - für beide Seiten - Möglichkeiten ihn zu verletzen. Die unvermeidliche wechselseitige 68 Informationsasymmetrie (siehe dazu Tab. 4-1) besteht in jeder Phase der Beziehung, wenngleich in verschiedenen Hinsichten. 67 "D" steht für debrouiller (entwirren, sich herauswinden) 68 Bezeichnenderweise wird in der Principal-Agent-Literatur meist nur die für den Prinzipal nachteilige Ausnutzung der Informationsasymmetrie durch den Agenten diskutiert. Es ist allerdings genauso gut möglich, dass der Agent durch den Prinzipal getäuscht wird: Er hat den Agenten mit falschen Versprechungen in den Vertrag gelockt (sich z.B. als aufrichtig, fair, gerecht etc. präsentiert), enthält ihm Informationen vor, lässt ihn über Absichten im Unklaren und unternimmt verdeckte Aktionen, die für den Agenten nachteilig sind. <?page no="314"?> 296 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Verborgene Eigenschaften Verborgene Absichten Verborgene Informationen Verborgene Handlungen Entstehungszeitpunkt vor Vertragsabschluss vor oder nach Vertragsabschluss nach Vertragsabschluss, vor Entscheidung nach Vertragabschluss, nach Entscheidung Entstehungsursache ex ante verborgene Eigenschaften des Agents ex ante verborgene Absichten des Agents nicht beobachtbarer Informationsstand des Agents nicht beobachtbare Aktivitäten des Agents Problem Eingehen der Vertragsbeziehung Durchsetzung impliziter Ansprüche Ergebnisbeurteilung Verhaltensbeurteilung Resultierende Gefahr nachteilige Auswahl (adverse selection) Erpressung (hold up) moral. Risiko (moral hazard), nachteil. Auswahl moral. Risiko, Drückebergertum (shirking) Lösungsansätze Signalisieren, Vorauswahl, Selbstselektion Signalisieren, Reputation Anreizsysteme, Kontrollsysteme, Selbstselektion Anreizsysteme, Kontrollsysteme Tab. 4-1: Informationsasymmetrien in einer Principal-Agent-Beziehung (Breid 1995) Diese Phasenbetrachtung qualifiziert die Principal-Agent-Theory als Prozessmodell: Vor dem Vertragsabschluss muss der Prinzipal mit 'adverse selection' (nachteilige Auswahl) rechnen, weil die Agents zwar ihre eigenen Eigenschaften kennen, sie aber nicht (alle, ungeschminkt) dem Prinzipal offen legen (verborgene Eigenschaften). Nach Vertragsschluss ist der Prinzipal nicht über alle Absichten informiert, die der Agent verfolgt (verborgene Absichten), er kennt zudem nicht alle Informationen, auf die der Agent sein Handeln baut oder idealer weise bauen sollte (verborgene Informationen), und schließlich hat der Prinzipal keinen Einblick in alle Handlungen, die der Agent tätigt (verborgene Handlungen). Das führt zu den Problemen des 'hold up' (Erpressung: der Agent nutzt die Festlegung des Prinzipals auf ihn aus), 'moral hazard' (moralisches Risiko: der Agent verfolgt vertragswidrig eigene Interessen, indem er unerkannt seinen Informationsvorsprung ausspielt) und des 'shirking' (Drückebergertum: der Agent übt Leistungszurückhaltung: tut nicht, was er könnte). Die vier resultierenden Gefahren (siehe die schattierte vierte Zeile in Tab. 4-1) können auch interpretiert werden als ein kleiner Ausschnitt aus dem Arsenal mikropolitischer Taktiken, die Abhängige nutzen können, um im Rahmen geregelter Ordnungen (Vertragsbeziehungen! ) eigene Interessen zu verfolgen. Diese Ausweichmanöver können sie nur praktizieren, weil sie im intransparenten Dickicht formaler Ordnungen agieren. <?page no="315"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 297 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Alternative Ansichten Die Komponenten des Handlungsstruktur-Modells sind primär gemeint als stets gemeinsam wirksame Potenziale, die in mikropolitischen Situationen die Akteure charakterisieren. Es sei aber abschließend angemerkt, dass es für die acht diskutierten Merkmale auch noch andere Lesarten gibt. Man kann sie sehen als - Deskriptoren der Ungewissheit beim Versuch, Andere instrumentalisieren zu wollen. Es ist nie ganz sicher, wovon man bei sich und bei der Zielperson ausgehen kann. Eine differenzierte "Lagebeschreibung" zeigt Chancen und Risiken. - Andere Begriffe für Taktiken, weil sie auch als Tools und Modi des Instrumentalisierens gesehen werden können: Jede der Komponenten kann in bewährten Taktiken (siehe die Taktik-Listen in Kap. 2) wieder gefunden werden. - Ergebnisse bzw. Auswirkungen von vorhergehenden mikropolitischen Interventionen. Sie sind Kriterien, an deren Veränderungen sich die Wirksamkeit der Einflussversuche zeigt. 4.3. Erweiterungen: Zur Sozialisierung und Dynamisierung des Modells Mit der Skizzierung von handlungsbeeinflussenden Merkmalen ist nicht viel mehr als eine Exposition geleistet. Auf eine solche Zusammenstellung lässt sich unmittelbar die Kritik beziehen, die Herrmann und Vogel am Komponenten-Modell der Emotion geübt haben: "Es handelt sich dabei 69 primär um die Inflation von Begriffen, um mangelhafte Begriffsexplikation und um die Vermischung (Kontamination) von Elementen heterogener Beschreibungssprachen bzw. Modellvorstellungen" (Herrmann 1982, 3). "Durch die Installation der fünf begrifflichen Sammelbehälter 'Subsysteme' und die entsprechende Zuteilung der verschiedenen Sachverhalte werden die differenzierten [...] Relationen zwischen den emotionalen Komponenten eher notdürftig 'verkittet', denn geklärt und theoretisch Gewinn bringend verdichtet (Vogel 1996, 51). 69 Anmerkung O.N.: Gemeint ist das Fünf-Komponenten-Modell der Emotion (eine Variante ist in Abb. 4-10, S. 286 - dem Modell von Plutchik - visualisiert). Diesem Strukturmodell zufolge lassen sich physiologische, kognitive, affektive, expressive und aktionale Komponenten von Emotionen unterscheiden. <?page no="316"?> 298 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Das 8-Merkmale-Tableau ist wie ein anatomisches Präparat, herausgeschnitten und getrocknet. Der Aufschnitt gewährt zwar einen Einblick, aber das Leben ist entfernt. Man hält die Teile in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band. Um es mit einem anderen Bild zu sagen: die Merkmale sind pedantisch gestapelt und beschriftet wie die Ablage auf dem Schreibtisch eines Bürokraten oder die sorgsam etikettierten Schubladen eines Apothekenschranks. Dem rechtwinkligwohlgeordneten Arrangement fehlt, was in der Praxis der Einflussnahme wichtig ist, nämlich Leben: Anarchie, Chaos, Intransparenz, Überraschung, Improvisation, Faszination und Emotionen wie Hass, Wut, Trauer, Stolz, Neid, Gier, Freude, kurz: was das Arbeiten in Organisationen zur Hölle und zum Himmel macht. Deshalb sollen zwei Erweiterungen der 8-Merkmale-Liste skizziert werden, um zu einem sozialen Struktur-Modell und darüber hinaus zu einem sozialen Handlungs-Modell zu kommen. 4.3.1. Erweiterung zu einem sozialen Struktur-Modell Eine 'Sozialisierung' lässt sich relativ einfach bewerkstelligen durch eine Erweiterung des Struktur-Modells um zusätzliche (konkrete und generalisierte) Akteure und deren Beziehungen untereinander sowie zum Einflussziel. In der Abb. 4-11 ist diese Erweiterung visualisiert: Zwei Beiträge soll diese Ergänzung leisten: den sozialen Aspekt integrieren und dessen Struktur symbolisieren. Bislang war (siehe Abb. 4-2 auf S. 243) die Einflusssituation als eine dyadische konzipiert worden; nur A und Z standen sich gegenüber und zwar buchstäblich abstrakt, das heißt abgehoben von ihrer Einbettung in eine konkrete Situation und Geschichte. In der Abb. 4-11 ist diese Basis-Situation durch den dicken Pfeil zwischen A und Z symbolisiert. Die beiden Ergänzungen erweitern die Darstellung: Zum einen werden weitere Akteure eingeführt (hier: B, C) und zum anderen werden neben diesen konkreten Anderen auch generalisierte Andere (Kontext) berücksichtigt. <?page no="317"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 299 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Abb. 4-11: Einflussbeziehungen in einem sozialen Strukturmodell A "Emotion" "Selbstsein" "Können" "Relationen" "Körper" "Wissen" "Wollen" "Institutionen" Resultat R (für A) Kontext C "Emotion" "Selbstsein" "Können" "Relationen" "Körper" "Wissen" "Wollen" "Institutionen" Z "Emotion" "Selbstsein" "Können" "Relationen" "Körper" "Wissen" "Wollen" "Institutionen" B "Emotion" "Selbstsein" "Können" "Relationen" "Körper" "Wissen" "Wollen" "Institutionen" <?page no="318"?> 300 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ a) Konkrete Andere Es gibt neben A und Z weitere Akteure und Betroffene, die in diese Beziehung moderierend, schützend, forcierend, ablenkend usw. eingreifen können und/ oder die von A und/ oder Z für ihre Interessen instrumentalisiert werden können. Solche konkreten Anderen sind weitere Personen, zu denen unmittelbarer Kontakt besteht oder zu denen eine personalisierte Kommunikationsbeziehung hergestellt werden kann (etwa über Email, Videokonferenz, Telefon usw.). In der Abb. 4-11 sind zusätzlich zu den Akteuren A und Z solche weiteren Akteure berücksichtigt (B, C), die intern die gleichen Merkmale haben wie A und Z. B und C stehen stellvertretend für die unter Umständen große Zahl weiterer Akteure, die in ein konkretes Handlungsnetz integriert sein können. A ist mit B und C vernetzt [siehe die dünnen Linien (ohne Pfeilspitze! ) ]; so könnte etwa eine Koalition aussehen. In einer solchen Koalition könnte z.B. C als Sprecher der Triade A, B, C angesehen werden, sodass die Einwirkungen der Koalition auf Z als von C ausgehend dargestellt werden können (siehe die Linie ). B könnte auch - unabhängig und unbeeinflusst von A - direkt auf Z einwirken (siehe die gepunktete Linie ). Möglich ist zudem der Fall, dass A nicht selbst, sondern vermittelt über C auf Z Einfluss ausüben kann (siehe die gestrichelte Linie ), z.B. indem A den Akteur C als Minenhund, Provokateur, Vermittler etc. vorschickt, als Vorgesetzten oder Experten einschaltet, intrigiert etc. Nicht zuletzt könnte Z 'von sich aus', also ohne erkennbare Einwirkung irgend einer anderen Person, das Resultat R produziert haben (siehe Pfeil ). Schon die basale dyadische A Z -Beziehung ist ein Fortschritt gegenüber dem Autismus des asozialen homo oeconomicus, der als rationaler Individualakteur nur für sich kalkuliert (Motto: "Einer gegen Alle") und es ist andererseits eine Abgrenzung zu holistischen übersozialisierten systemischen und systemkritischen Paradigmen, die den Akteur zur Marionette anonymer gesellschaftlicher Kräfte machen (Parole "Alle gegen Einen"). Einen dritten Weg deutet Fritz Simon (2004) mit der ironischen Feststellung an, dass "Sozialwissenschaftler nicht bis drei zählen können". Könnten sie das, würden sie sehen, dass es nicht nur Alter und Ego, Vorgesetzte und Untergebene, Täter und Opfer gibt, sondern auch Dritte, die als Koalitionspartner, gemeinsame Feinde, Beobachter, Schiedsrichter, indirekt Betroffene etc. eine Rolle spielen. <?page no="319"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 301 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die Ausweitung der Betrachtungsperspektive über die Dyade A Z hinaus macht darauf aufmerksam, dass Zweier-Interaktionen künstliche Ausschnitte aus größeren Netzen sind. Im Prinzip wird dabei die für die Modellbildung äußerst beliebte Ceteris-Paribus-Klausel in Anspruch genommen, die es sich zu einfach macht. Dass beim Vergleich von Inter-Aktionen die "sonstigen Umstände" gleich und damit zu vernachlässigen seien, muss man nicht als Normalfall, sondern als höchst artifizielle Einschränkung werten. Ein Blick ins Arsenal der mikropolitischen Taktiken klärt darüber auf, dass Beeinflussungspragmatiker schon immer ein Gespür für die Bedeutung Dritter hatten (siehe z.B. die Taktiken "höhere Instanzen einschalten", "Koalitionsbildung", "Beratung, Partizipation", "Schwarzer Peter/ Sündenböcke", "Surrogate/ Intermediäre nutzen"). Bei den 'konkreten Anderen' spielen, so eigenartig das zunächst klingen mag, auch die so genannten abwesenden Anwesenden eine Rolle. Mit dieser aus der Familientherapie übernommenen Figur ist gemeint, dass Anwesende die Wünsche oder Reaktionen wichtiger Abwesender antizipieren und repräsentieren. Die betreffenden Anwesenden sind dann (offiziell weder autorisiertes noch beauftragtes) Sprachrohr des Abwesenden und artikulieren oder agieren dessen Interessen, Ängste, Drohungen, Verweigerungen etc. Eine Variante dieser Konstellation sind 'echte' Delegierte, Stellvertreter oder gewählte Repräsentanten, die das Mandat haben, im Namen einer anderen Person oder eines Kollektivs zu sprechen bzw. zu handeln. Diese Möglichkeiten indirekten oder vermittelten Handelns eröffnen Spielräume für Mikropolitik, weil die nicht anwesenden Anwesenden sich später von ihren Vertretern oder Interpreten distanzieren und sich so zusätzlichen Manövrierspielraum schaffen können. Eine weitere Form der Vermittlung ist wirksam, wenn jemand als "Freund meines Freundes" oder "Feind meines Freundes" (oder "Freund meines Feindes") identifiziert wird. Die Zugehörigkeit zu einem Bündnis oder einer Gruppe (Klasse, Rasse etc.) überträgt die Attribute der Referenzperson oder -population (Freund, Feind) auf den Assoziierten: er wird dann behandelt, als ob er (wie) die Referenzperson oder -gruppe wäre, wobei nicht deren reale, sondern die stereotypisierten Merkmale zählen. Nicht nur Hochstapler und Heiratsschwindler profitieren von diesem Phänomen und nicht nur Angehörige diskriminierter Minderheiten (z.B. Frauen in Unternehmen) leiden darunter. <?page no="320"?> 302 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ b) Generalisierte Andere Generalisierte Andere sind 'apersonale Aktanten', die gesellschaftliche Anforderungen repräsentieren (z.B. Regeln, Normen, Verfahren, Gesetze, Werte, Institutionen, Artefakte etc.), die für alle Mitglieder eines Kollektivs gleichermaßen oder komplementär gelten. Veränderungen bei einer Zielperson sind dann eher auf die Wirksamkeit solcher Norm(alis)ierungen und Typisierungen als auf einzelne Einflussakte von A zurückzuführen. Beispiele sind 'Gleichschaltung', falsches Bewusstsein im Sinne von Lukes (s. S. 136f.) oder Foucaults Disziplinar-Praktiken. Diese als 'Kontext' zusammengefassten generellen Einflüsse sind als Substitute für unmittelbaren konkreten Einfluss oder als dessen Erweiterungen bzw. Einschränkungen anzusehen (siehe den gestrichelten Pfeil , die aus dem 'Kontext' auf Z wirken). Man kann z.B. passende Gremiumsbeschlüsse herbeiführen, 'gebriefte' externe Berater einschalten, neue Entscheidungskriterien festlegen, offiziell Budgetkürzungen verkünden, günstig gesonnene Personen in Entscheidungsgremien platzieren, Kommunikationshindernisse einbauen, neue Technologien oder Programme einsetzen etc. Die Abb. 4-11 veranschaulicht, warum eine(! ) bestimmte(! ) Einflusstaktik A's womöglich nur einen kleinen Varianzanteil von R erklären kann. Um diesen Anteil aufzuklären, wären folgende Informationen hilfreich: 1. Auf welche der acht Handlungskomponenten bei Z wirkt As Handlung (nicht)? 2. Gibt es konkurrierende oder verstärkende Einflussnahmen auf Z durch C oder B, sodass bei einer Wirkungsanalyse der Taktikeinsatz von A systematisch unter- oder überschätzt wird? 3. Welche (ermöglichende, be- oder verhindernde, verstärkende) Rolle spielen organisationale oder situative (Kontext-)Einflüsse? 4. Wird R völlig unabhängig von Zs Aktionen durch dritte, bislang unbekannte Einwirkungen geprägt? 4.3.2. Erweiterung zu einem sozialen Handlungs-Modell Die Auflistung der acht Merkmale und ihre 'sozial-strukturelle' Erweiterung legt - wie für eine Endmontage - die Materialien bereit, die für die Konstruktion eines Handlungs-Modells nötig sind. Die Metapher der Montage kann benutzt werden, um zu zeigen, dass ein zentrales Problem noch nicht gelöst ist. Bei einer Montage werden Einzelteile in ein Produkt (z.B. ein Auto) verbaut. Für ein fahrtüchtiges Auto braucht man Metall, Gummi, Öl und Benzin, Strom, Glas, Kunststoff, Kabel, <?page no="321"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 303 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Prozessoren usw. Das allein reicht noch nicht, denn die Rohmaterialien müssen passend zugerichtet oder 'geformt' sein (z.B. das Alu zu einem Motorblock, das Glas zu Lämpchen oder Windschutzscheiben), aufeinander abgestimmt sein (z.B. das Getriebe auf den Motor, das Öl aufs Getriebe), koordiniert funktionieren (die Einspritzung zum Zündzeitpunkt, der Gashebeldruck zur Einspritzung), Dauerbelastungen standhalten, Normen und Gesetzen entsprechen usw. Wie steht es damit beim Handeln? Kommt der Kraft-Stoff 'Motivation' optimal zur Wirkung und treibt effizient das Getriebe 'Kompetenz', das die Karosserie 'Körper' beschleunigt, die von der Lenkung 'Kognition' gesteuert wird? Wenn Untersuchungsdesigns davon ausgehen, dass personale Merkmale das Handeln konditionieren [siehe die im Kap. 3 in den Abb. 3-3 u. 3-4 (S. 162) zitierten Modelle] und z.B. einen Einfluss der Disposition 'Machiavellismus' auf die Wahl von Taktiken behaupten, dann wird unterstellt, dass das Handeln von seinen Teilen oder Voraus-Setzungen verschieden ist. Diese unausgesprochene Annahme ist in den erwähnten Modellen grafisch dadurch visualisiert, dass getrennte Kästchen (z.B. Persönlichkeitsmerkmale, Einflusstaktiken, Wirkungen) mit Pfeilen verbunden sind. Zur Trennung von Täter und Tat Nietzsche hat dieses Problem der Trennung von Täter und Tat expliziert: "Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Tun, als Wirkung eines Subjekts annimmt, das Blitz heißt, so trennt die Volks-Moral auch die Stärke von den Äußerungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äußern oder nicht. Aber es gibt kein solches Substrat; es gibt kein 'Sein' hinter dem Tun, Wirken, Werden; 'der Täter' ist zum Tun bloß hinzugedichtet - das Tun ist alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Tun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Tun-Tun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen 'die Kraft bewegt, die Kraft verursacht' und dergleichen - unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobnen Wechselbälge, die 'Subjekte' nicht losgeworden ..." (Nietzsche 1999/ 1887, 199). Auch Ansätze, die scheinbar ohne Aktanten auskommen, greifen implizit auf diese Wirk-Konstruktion zurück. Giddens etwa verbindet in seiner Strukturationstheorie Strukturen und Handlungen derart, dass die Handlungen die Strukturen reproduzieren und zugleich von ihnen konditioniert sind. Er differenziert drei Di- <?page no="322"?> 304 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ mensionen [Signifikation (semantische Regeln), Legitimation (moralische Regeln) und Domination (Ressourcen und autoritative Regeln)], die er unverbunden nebeneinander stellt. Jede dieser drei Strukturdimensionen wird - vermittelt durch Modalitäten (interpretative Schemata, Normen, Fazilitäten) - durch Interaktionsmodi (Kommunikation, Sanktion, Macht) rekursiv konstituiert. Neben(! ) die Strukturanalyse wird eine Handlungsanalyse gestellt, die ein Schichtenmodell des Handelns zwischen "unerkannten Handlungsbedingungen" und "unbeabsichtigten Handlungsfolgen" verortet (womit den unausweichlichen Ungewissheitszonen Rechnung getragen wird, die z.B. für Mikropolitik geltend gemacht werden). In seinem Handlungsmodell unterscheidet Giddens (1995, 56) nach Maßgabe des Bewusstheitsgrades (unbewusst, praktisch bewusst, diskursiv bewusst) drei Ebenen der Handlungsauslösung und -steuerung: 1. vorreflexive, routinisierte, unbewusst motivierte Handlungsabläufe; 2. auf Nachfrage begründbare pragmatische Handlungsmuster (Handlungsrationalisierung); schließlich 3. die (seltene) Möglichkeit der reflexiven (zielgerichteten und bewussten) Handlungssteuerung. Giddens präsentiert damit eine pragmatische Typologie, die gut zur kontrastierenden Beschreibung von Handlungen taugt, aber nur eine generische Dimension des Handlungssteuerung berücksichtigt (Grade der Reflexivität/ Diskursivität) 70 und nicht systematisch verzahnt ist mit den drei Strukturdimensionen. Diese überlagern das Handeln und sind verschiedene Modi seiner Strukturierung. Giddens drei Strukturdimensionen (Signifikation, Legitimation, Domination) sind nicht das letzte Wort. Es könnten z.B. Produktion (Techniken des Herstellens oder Umformens von Dingen) oder Ästhetik (Schönheit, gelungene Existenz) hinzugefügt werden (was z.B. Ortmann, Windeler, Becker & Schulz 1990 getan haben). In der letzten Phase seiner Theorieproduktion hat Foucault darauf insistiert, Subjektivierung (Selbstführung) als wesentliche Komponente zu berücksichtigen. Im Grunde wird damit ein Perspektivenwechsel oder eine Erweiterung eingeführt: Der Akteur ist in seinem Tun nicht mehr nur Objekt von Domination, Signifikation und Normierung, sondern wendet sie selbst produktiv auf sich an. Wenn Giddens nicht einmal für die von ihm ausgewählte Handlungsdimension (Art bzw. Ausmaß kognitiver Steuerung) eine schlüssige Verbindung zu seinen drei Strukturdimensionen herstellen konnte, dann erscheint es umso aussichtsloser, dies für jene acht Handlungs- und zehn (organisationalen) Strukturdimensio- 70 Es wäre z.B. denkbar, nicht nur Abstufungen in der Signifikationsdimension (Bewusstheitsgrade), sondern auch Varianten moralisch-legitimatorischer Handlungsrechtfertigung und/ oder unterschiedliche Machtformen (siehe die Beispiele, die auf S. 136ff. skizziert wurden), zur Handlungsgliederung heranzuziehen. <?page no="323"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 305 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ nen versuchen zu wollen, die im vorliegenden Kontext der Mikropolitik differenziert wurden. Es soll deshalb eine andere Option verfolgt werden, die zum einen von der nietzscheschen Kritik an der Täter-Tat-Spaltung angeregt ist, zum anderen die Handlungsmerkmale nicht unverbunden aufzählend nebeneinander stellt, sondern ihren Zusammenhang reflektiert und schließlich sollen weitere Handlungsaspekte (Prozessualität und Virtualisierung) Berücksichtigung finden. Zum Zusammenhang von Täter und Tat Der Akteur wird in den üblichen Taktik-Konzeptionen als mystische Ganzheit imaginiert, in dem die acht getrennten Handlungsbestimmungen ihren Ursprung oder ihre Einheit haben. Eine solche Ganzheitsmystik ('... mehr als die Summe seiner Teile') konstatiert lediglich ein Resultat, dessen Zustandekommen unverstanden bleibt. Es ist sicher richtig, dass ein Akteur mehr(? ) ist als die Summe(? ) der oben differenzierten acht Merkmale. Das Problem zeigt sich schon bei einer simplen stilistischen Übung: Ist ein Handelnder ein Körper oder hat er einen? Oder noch verfremdender: Ist er sein Denken oder hat er Kognitionen? Dieses Spiel kann man für alle acht Komponenten fortführen. Dazu kommt dann noch die im obigen Nietzsche-Zitat angestellte Überlegung, ob Akteur und Handeln auseinander treten und z.B. "Emotionen" die "Handlungen" stören, steuern, modulieren usw. Ist der Akteur nichts anderes als 'sein' Handeln oder die Einheit all seiner möglichen Zustandsbeschreibungen? Auch über diese Frage hat Nietzsche nachgedacht: "Subjekt: das ist die Terminologie unsres Glaubens an eine Einheit unter allen den verschiedenen Momenten höchsten Realitätsgefühls: wir verstehn diesen Glauben als eine Wirkung Einer Ursache, - wir glauben an unseren Glauben so weit, dass wir um seinetwillen die 'Wahrheit', 'Wirklichkeit', 'Substanzialität' überhaupt imaginiren. - 'Subjekt' ist die Fiktion, als ob viele gleiche Zustände an uns die Wirkung Eines Substrats wären: aber wir haben erst die 'Gleichheit' dieser Zustände geschaffen; das Gleich-setzen und Zurecht-machen derselben ist der Tatbestand, nicht die Gleichheit (- diese ist vielmehr zu leugnen -)" (Nietzsche 1967, Bd. 12, 465). Das Subjekt entsteht/ besteht im Auge des Betrachters; es ist die hinzugedachte (geschaffene, gesetzte, gemachte) Einheit eines Substrates, das das Heterogene der Zustände bewirkt. So gesehen ist der 'Akteur' nicht wirklich ein Akteur, weil er nicht der Macher der Dinge und Geschehnisse, nicht ihr Autor, Ursprung, autonomer Schöpfer ist. Er ist eine Konstruktion, in der 'Zustände' zu einer Einheit zusammen- <?page no="324"?> 306 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ gesehen werden. Diese Zusammen-Fassung unterlegt Beobachtungen eine sinnvolle Geschichte und wie jede Geschichte besteht sie aus Subjekt-Objekt-Prädikat-Sätzen. So auch in Mikropolitik. Sie ist beobachtetes Geschehen, das interpunktiert und zugerechnet wird. Auf der 'reinen' Faktenebene gibt es keine Mikropolitik, sondern nur Ereignisse. Ihre Verbindung und Vernetzung ist Zutat des Beobachtenden; er ist es, der (auf) Mikropolitik erkennt und ihren Ursprung in einer Person lokalisiert. Handeln ist Strukturierung, Verringerung von Entropie (Gleichwahrscheinlichkeit). In verschiedenen Feldern (Kognition, Emotion, Motivation etc.) tut sich(! ) was, aber das wird nicht als ein chaotisches Nebeneinander erlebt, sondern als 'Handlung' interpretiert. Der Akteur und/ oder der Beobachter bringen entkoppelte Ereignisabläufe zusammen: Abfolgen von Wahrnehmungen werden mit Abfolgen von Emotionen, Absichten, Beziehungen usw. verbunden. In dieser Zusammen- Stellung machen sie (dann) Sinn, gewinnen Einheit und Struktur. Die Einheit lässt sich durch einen Namen bezeichnen, der ein Ziel oder ein Thema aufs Wort bringt: Karriere, Gehaltserhöhung, bessere Arbeitsbedingungen, Ausschaltung von KonkurrentInnen, etwas heimzahlen, einschüchtern, eine Freude machen ... Die Struktur ist das geregelte, erwartbare Muster, das einem erkennbaren Schema folgt oder sich rückblickend als solches re-konstruieren 71 lässt. Radikalisierend formuliert (die Relativierung folgt sofort): Die Struktur bestimmt die Erzählung, die einen Autor benötigt, damit sie Sinn macht. Es geht nicht darum, die Existenz von Personen zu bezweifeln und den Magiertrick vorzuführen, wie man die Person von der Bühne des Handelns verschwinden lassen kann. Das Problem liegt - weil es um ein Handlungsmodell geht - auf einer anderen Ebene: Braucht man, um Handeln erklären zu können, das Konstrukt 'Akteur' oder ist das nur eine Wirklichkeitsverdoppelung von der Art wie sie Bedürfnistheorien betreiben: Wer Auto fährt, hat ein Autofahrbedürfnis! ? Kann man, wie man subjektivieren kann, auch akteurisieren? Subjektivierung (Identitätsarbeit, 'Verselbstung') ist eine der Komponenten des beschriebenen Handlungsstruktur-Modells und wie die anderen ein Modus, eine Funktion, ein Attribut. Subjektivierung ist das Ausmaß, in dem sich eine Person ein Geschehen selbst zurechnet und sich dadurch in ihrer Besonderheit konstituiert. Als "Zurechner" bezieht sich die Person auf ihr Selbst-Bild (eine Fiktion! ), 71 Womit wieder einmal vorgeführt wird, dass man an den Rand von tautologischen Erklärungen kommt: Strukturen zeigen sich in Konstruktionen oder - Giddens möge verzeihen - Konstrukturationen. <?page no="325"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 307 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ das sie korrigiert oder bestätigt; wenn sie sich etwas zuschreibt, setzt das keinen stabilen Wesenskern voraus. Man ist kein Akteur, man wird einer. Auch wenn Andere der Person eine Handlung, Kompetenz, Emotion, Ressource etc. zuschreiben, ist keine Substanz erforderlich; es kann bei der Fiktion bleiben. Das hat nichts mit poststrukturalistischer De-Humanisierung zu tun. Der 'practical turn' eliminiert den Akteur nicht; statt 'Tun ist alles, der Täter nichts' heißt es eher: Der Täter ist die Einheitsfiktion des Tuns. Nun zur oben angekündigten Relativierung der Struktur-Determination: Das Wichtigste in Organisationen ist 'im Prinzip' geregelt (siehe die Steuerungsprinzipien, die im Kapitel 3 beschrieben wurden). In Organisationen gibt es Verfahren (Systeme, Techniken, Routinen, Standardprozeduren, Techniken etc.), die meist in Manualen, Vorschriften oder Ordnungen vor-geschrieben sind. Verfahren haben zwei Gesichter: zum einen sind sie Institutionen und Regel-Werke (Ordnungen oder eben: Strukturen), zum anderen in der konkreten Ausführung Praktiken, Vorgehensweisen, Handlungen. Die Differenz zwischen Regel (Vorschrift, Programm, Anweisung) und praktischer Anwendung der Regel in einer konkreten Situation (Ausführungshandeln) wird von Mikropolitik genutzt. Darauf werde ich ausführlicher bei der moralischen Würdigung von Mikropolitik (siehe Kap. 5) zurückkommen. Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass Handeln durch die Struktur-Vorgaben nicht determiniert, sondern konditioniert ist und dass Regel-Anwendung einen Wandel und Regel- Umsetzung eine Verlagerung bedeuten - beides möglich und nötig, weil es unmöglich und unnötig ist, Ungewissheitszonen zu beseitigen. Eine solche Sicht auf das Subjekt des Handelns macht es vermessen es zu vermessen. Eine Kartografie der Eigenschafts-Landschaft der Person ist keine große Hilfe für das Zurechtfinden im organisationalen Aufgaben-, Beziehungs- und Gelegenheitsdschungel. Sie beschreibt - bestenfalls - Potenziale, die in ihrer Realisierung an Bedingungen geknüpft sind, die nicht 'in' der Person liegen. Eigenschaften werden meist gemessen durch die relative Position einer Person in einer Referenzpopulation, und diese Verortung greift zurück auf standardisierte, vorgegebene verbale und quantifizierte (Selbst-)Beschreibungen oder Richtig-Lösungen standardisierter Miniaufgaben; jede so bestimmte(! ) Eigenschaft ist eingebettet in ein Netz - meist nicht dezidiert erfasster - weiterer Eigenschaften, die ihr Stellenwert und Bedeutung für die Handlungsanalyse geben. <?page no="326"?> 308 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Rhetorisch gefragt: Was bringt es, wenn einige herausgegriffene isolierte Eigenschaften (die beliebtesten Kandidaten sind schon in Kapitel 3 genannt worden: Machiavellismus, internale/ externale Kontrolle, Selbstwirksamkeit, Machtmotiv, Intelligenz, Extraversion, Neurotizismus, Gewissenhaftigkeit usw.) erfasst werden, weil sie 'Moderatoren' der Beziehungen zwischen Taktik und Erfolg sind? Rhetorische Antwort: Es bringt ein rätselhaftes Ergebnis. Das ist nicht nichts, weil es dazu ermuntert, gefundene signifikante Zusammenhänge eben daraufhin zu analysieren: Warum sind sie bedeutsam, was bedeuten sie für welchen Begründungszusammenhang? Signifikanz wäre dann nicht als statistisches Maß für Nichtzufälligkeit zu interpretieren, sondern als Verbindungslinie in einem Netz von Zusammenhängen; sie führt (den Fragenden) zu etwas, sie verbindet oder vermittelt scheinbar Getrenntes, sie erhellt eine dunkle Lücke ... Das Datum der personalen Eigenschaft muss, damit es Information wird, in einen Wissensbestand integriert werden. Und dieses buchstäblich eigen-artige Wissen hat jemand, der das Handeln beobachtet und sich darauf einen Reim macht. Der Täter als Modell und Model Wenn der Akteur ein Beobachteter ist, kann man - neben seinen Handlungen - auch noch die Wirkungen auf die Beobachtenden untersuchen: nicht was er in der Welt der Dinge und Ereignisse bewirkt, sondern wie er auf sie wirkt, steht zur Debatte. Ein Handelnder hat die Potenz die Beobachter zu verändern, wenn sie sich an ihm orientieren, ihn imitieren und zum Modell nehmen und umgekehrt kann auch das Wissen ums Beobachtetwerden ihn selbst verändern. Modelllernen (à la Bandura) ist stellvertretendes Lernen: was zu tun ist, wird dem Vorbild abgeschaut. Das geht zuweilen schneller und einfacher als eigenes Versuch-und-Irrtum-Lernen. Insofern modelliert das Modell den Lernenden. Wenn der Chef intrigiert und damit Erfolg hat: wer wollte es den Mitarbeitern verübeln, wenn sie seiner Meisterschaft in dieser Kunst nacheifern? Das Modell hat seine zeittypische Konkretion in der Figur des 'Models' gefunden, bei dem Stilisierung, Ästhetisierung und Inszenierung zusammengehen. Diese Figur fungiert sowohl als Projektion von Sehnsüchten wie auch als tyrannisches Diktat (Sehnsucht: Einmal so schlank und begehrt sein wie das Top-Model. Diktat: So schlank sein müssen, um begehrt zu werden). Im Vergleich zum Model sind die Normal-Betrachter nicht perfekt, aber - und das macht die geheime Verführung aus - perfektibel. Nach seinem Vor-Bild können sie sich modellieren (formen, transformieren), sie müssen nur "an sich arbeiten" oder - einfacher - die <?page no="327"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 309 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Attribute käuflich erwerben, die das Model präsentiert (und sei es durch Implantate, Fettabsaugung und Gesichtsstraffung). Um das zeitgenössische Dispositiv 72 'Model' herum entfaltet sich die Trias des Redens, der Institutionen und Praktiken: Models sind Medienthemen [Idealmaße, Lebensstile (z.B. Drogensucht), Talkshows, Video-Clips, Posters], sie dienen als Vorlage für die Nachbildung in Schönheitssalons und Operationssälen, sie sind ein ergiebiges Thema der Kulturkritik, werden kommerziell genutzt als Kleiderständer und -beweger, befördern die Promotion von Accessoires und irgendwelchen sonstigen Waren oder Dienstleistungen, denen sie eine Aura geben ... Was das mit Mikropolitik zu tun hat? Der Beobachter wird durch das Beobachten des Modells zu einem gelehrigen Täter. Im organisationalen Kontext gibt es eine Menge von Modell-Vorlagen, die auch nach Kräften publiziert werden. Die Literatur zu Unternehmenskultur, symbolischem Management und story telling liefert genügend Beispiele für Modell-Geschichten über Helden, Sieger, Karriere-Typen, Macher, Sanierer, Charismatiker - die weiblichen Varianten nicht zu vergessen. Außer Acht lassen darf man auch nicht die negativen Modelle oder Anti- Typen, denen man keinesfalls ähneln darf: z.B. die sprichwörtlichen Loser, Bürokraten, grauen Mäuse und Duckmäuser (ambivalent ist das Verhältnis zu Intriganten, Speichelleckern, Rebellen etc.). Die Täter-Modelle sind fürs (mikropolitische) Handeln nützlich, 1. weil sie - und sei es scheinbar - vorführen, dass vieles/ alles machbar ist und wenn Andere es machen oder schaffen - warum nicht auch ich? 2. weil sie viele Hinsichten erlauben. In jeder der acht Handlungs-Komponenten können erstrebenswerte Ideale durch jemand personalisiert und somit als erreichbar dargestellt werden. In der eigenen Person diese heterogenen Ideal- Vorlagen zu integrieren ist eine Aufgabe, deren Unlösbarkeit verdrängt werden muss. 3. weil in ihnen der Akteurs-Mythos reaktiviert werden kann. Ein Modelllerner handelt, wie er glaubt handeln zu müssen (weil alle so handeln oder weil alle es von ihm erwarten) und verwirklicht damit, was er glaubt; er macht zur Realität, was eine oder seine fixe (im Modell konkretisierte) Idee war. 72 "Ein Dispositiv ist eine Gesamtheit verbaler und materieller Elemente, d.h. Aussagen, Geschichten und Gesetze einerseits, und Institutionen, wie Familie und Gesundheitswesen, oder Praktiken wie Bauen andererseits" (Achterhuis 1988, 271, zit. in Visker 1991, 178). <?page no="328"?> 310 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zum Zusammenhang der Merkmale "Wenn jemand in der Welt sich eine Sittenlehre mit Hülfe von Nadelstichen und Schießpulver auf die Hand wolte einätzen lassen, so wolte ich wohl die dazu vorschlagen [...]: the whole man must move together. Die Vergehungen dagegen sind unzählbar, und der Schaden der daraus entsteht groß und öffters unersetzlich. Zum Menschen rechne ich Kopf Hertz Mund und Hände, es ist eine Meister Kunst diese durch Wind und Wetter unzertrennt bis ans Ende zu treiben, wo alle Bewegung aufhört" (Lichtenberg 2005, 239). Das Lichtenberg-Problem: Wie gelangt man zur Meisterschaft in der Kunst, Denken, Fühlen, Reden und Tun in Einklang zu bringen? Sind sie denn getrennt? Entgehen uns beim Reden über das Getrennte (nämlich die Facetten des Handelns) dessen verborgene Zusammenhänge? Die Trennlinien sind so eindeutig nicht; auch hier scheidet die Sprache nicht exakt und hält nicht dicht, wenn sie sich in Wortverbindungen verrät: Wunschdenken, Fühldenken (bekannter unter dem Slogan 'emotionale Intelligenz'), Wollenkönnen, Beziehungsressourcen, Beziehungsstress, Bauchgefühl, gesellschaftliches Selbst, Selbstwirksamkeit ... Sind es nur Wort-Verbindungen oder solche in der Sache? Lassen sie neue Emergenzniveaus erkennen, die durch die Verbindung bislang künstlich(? ) getrennter Elemente erreicht werden können? Die Bild gebenden Verfahren der Neurophysiologie haben sichtbar gemacht, wie viele Schaltkreise aktiviert und vernetzt werden, wenn einfache Gegenstände (z.B. eine Vogelspinne auf dem Arm) wahrgenommen werden. Nahezu gleichzeitig werden kognitive, emotionale, motivierende und motorischkoordinierende Leistungen stimuliert. Nur im künstlichen Extrem gibt es affektfreies Wissen oder informationsloses Wollen oder beziehungsloses Fühlen usw. Im Reden zerlegen (= analysieren) wir nachträglich, wenn the whole man moved together. Man muss sich aber nicht auf Sprachkreativität und Neurophysiologie berufen, wenn man die Vereinigung des Getrennten reflektiert. Auch die soziologische Strukturationstheorie kreist um den Versuch Dualismen zugunsten (spannungsgeladener) Dualitäten zu überwinden. Die hegelsche Dialektik erkennt - wie oben zitiert - im Widerspruch die "Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit"; die Systemtheorie sucht, wenn sie sich das Beobachten als Wirklichkeit konstruieren zurechtlegt, die Einheit der Differenz bzw. jenen Schnitt oder jene Grenze, die Form und Medium trennen und eben damit erzeugen und verbinden. Näher an der Thematik der Mikropolitik sind Foucaults Wortschöpfungen: Macht- Wissen z.B. bringt die Einsicht auf den Punkt, dass Wissen und Macht eben nicht <?page no="329"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 311 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ getrennte Wirklichkeitsfelder sind, sondern einander bedingen und erzeugen. Wissen und Wahrheit sind keine reinen Erkenntnisleistungen, sondern immer schon von Macht bedingt und Macht generierend, sie stehen im Dienste der Macht und keine Macht könnte wirken ohne die Produktion und Kontrolle von Wissen und Wahrheit. Statt linearer Kausalbeziehungen (Wissen ist Macht, Wissen gibt Macht etc.) werden wechselseitig sich verstärkende Funktionskreise postuliert. Dieser Gedanke lässt sich auch fruchtbar machen für die Konzeption der Beziehungen zwischen den differenzierten acht Merkmalen von Handlungsprozessen. Es ist aus der Mode gekommen wie Descartes Körper und Geist (res extensa und res cogitans) radikal zu scheiden; Psychosomatik ist eines jener aufschlussreichen Zwitterworte, die die Unterscheidung rückgängig machen (und zugleich bewahren). Es liegt vielleicht am Zwang zur binären Codierung, den uns Sprache und Logik auferlegen (siehe die Sätze von der Identität und vom Widerspruch), wenn das Eine nur in Abhebung vom Anderen erkannt und benannt werden kann, sodass, wenn über Etwas geredet werden soll, ein Nicht-Etwas benötigt wird, von dem es sich unterscheidet. So wird dann das Wollen vom Fühlen, das Denken vom Körper, das Können vom Sollen usw. getrennt. In der praktischen Durchführung dieser Operation ergeben sich allerdings erhebliche Probleme. So wird z.B. im Plutchik-Modell der Emotion - das in Abb. 4-10 auf S. 286 dargestellt ist - sichtbar, dass 'Emotion' ein Gesamtprozess mit kognitiven, physiologischen, affektiven und motorischen 'Komponenten' ist. Das kognitive Stressmodell von Folkman & Lazarus (siehe Abb. 4-4 auf S. 263) verbindet kognitive mit emotionalen Bewertungen und Coping-Fertigkeiten, intrapsychischen Umstrukturierungen und instrumentellen Handlungen usw. Daraus folgt, dass es sich lohnen kann die Heuristik zu verfolgen, das Getrennte (die Facetten) nicht nebeneinander aufzuführen, sondern miteinander zu verbinden (tatsächlich als Komponenten zu sehen) oder sogar als durch einander erzeugt aufzufassen. Im Folgenden soll das zunächst am Beispiel triadischer Beziehungen illustriert werden. Triadische Beziehungen zwischen den Komponenten Solche 'Funktionsdreiecke' lassen sich bilden nach dem Modell der foucaultschen Triëder "Macht - Recht - Wahrheit" oder "Macht - Wahrheit - Subjekt" usw. <?page no="330"?> 312 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ In der folgenden Abb. 4-12 greife ich nicht auf das nahe liegende neurophysiologische Modell der Verbindung von Körper - Kognition - Emotion zurück (siehe das Vogelspinnen-Beispiel), sondern wähle aus der Menge der Möglichkeiten ein anderes Dreieck aus, das an die obige Model-Diskussion anknüpft. Abb. 4-12: Interdependenz und wechselseitige Konstitution von Handlungskomponenten Körperbild und -formung sind nicht unabhängig von gesellschaftlichen Normen, Moden und Diskursen; die Möglichkeiten der 'Körperarbeit' ziehen gesellschaftlichen Regelungsbedarf nach sich (Wer bezahlt für Schönheitsoperationen? Ist es ethisch vertretbar, einen scheinbar gesunden Körper chirurgisch zu modellieren? Sollen Genuss-Gewohnheiten - z.B. Rauchen - gesellschaftlich normiert/ reguliert werden usw.? ). Die Identität einer Person wird nachhaltig davon beeinflusst, ob sie ihren Körper in Übereinstimmung mit den gängigen Schönheitsidealen sieht und umgekehrt wird ein Manager, der braungebrannt, vital, gut aussehend und elegant gekleidet ist, ein höheres Maß an Selbstsicherheit haben und demonstrieren ... Generalisiert man diese Überlegungen auf alle Dreiecks-Beziehungen, die sich theoretisch in der Konstellation der acht Komponenten identifizieren lassen, dann wird deutlich, dass es praktisch unmöglich ist, isoliert eine Facette zu kontrollieren (z.B. aus der Komponente 'Motivation' die Haltung 'Machiavellismus'), weil diese Facette unweigerlich auf andere (alle anderen? ) wirkt und von ihnen moduliert wird. Identität Arbeit an Selbstbild, Selbstsicherheit, Image Körper Körperformung (z.B. Schönheitsoperationen, Kosmetik, Kleidung, Sport ...) Ordnungen Schönheitsideale (Moden, Normen, Diskurse) <?page no="331"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 313 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Andere Beziehungsmuster In der folgenden Abb. 4-13 lässt sich neben den eben diskutierten triadischen Konstellationen eine Fülle weiterer Figurationen (Zweier-, Vierer-, Fünfer-, Siebener- und Achter-Muster) ausmachen. Auf diese Erweiterung soll nicht weiter eingegangen werden, weil es genügt darauf hinzuweisen, dass damit eine praktisch nicht beherrschbare Vielzahl direkter und indirekter Beziehungen zwischen den einzelnen Komponenten möglich ist, ganz zu schweigen von der Möglichkeit wechselseitiger Potenzierung, Substitution und Kumulation, der Entwertung und des Widerspruchs. Abb. 4-13: Das Netz der Zusammenhänge zwischen den Handlungskomponenten Eben diese Situation der Komplexität und Intransparenz ist Bedingung und Aktionsfeld von Mikropolitik. Dabei gilt für mikropolitische Akteure trotz aller rationalen Intentionen: "... sie wissen nicht, was sie tun! " Sie überblicken selbst nicht, was sie bei sich und anderen anrichten, wenn sie ein bestimmtes konturiertes Handlungsmuster zeigen. Dies ist wohl auch einer der Gründe für die in Kap. 2 berichteten empirischen Ergebnisse, dass verschiedene Beurteiler bestimmtes Handeln verschiedenen mikropolitischer Taktiken zuordnen und deshalb untereinander nur wenig übereinstimmen und dass zwischen einigen Taktiken (z.B. "Druck machen", "Koalitionen", "höhere Instanzen einschalten" usw.) und Einflusserfolg ein so geringer Zusammenhang besteht. Umso wichtiger ist es, Wirkungszusammenhänge nicht schlicht zu konstatieren, sondern im Rückgriff auf theoretische Prinzipien, die falsifizierbar sind, zu be- Körperlichkeit Identität Kompetenz Emotion Kognition Beziehungen Ordnungen Motivation <?page no="332"?> 314 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ gründen. Damit legt man zwar (zunächst) willkürliche Schnitte ins Beziehungsmuster, hat aber die Chance zu lernen. Die simple lineare Kausalität "Druck machen" "Erfolg" könnte in ein Netz von zwischengeschalteten Beziehungen zerlegt werden, die je für sich untersucht werden könnten. Etwa: "Druck" belastet die Beziehung, das kann Distanzierung und Aus-dem-Felde-gehen bewirken oder Reaktanz; andererseits mag Druck kurzfristig 'compliance' (oberflächliche Folgsamkeit) hervorrufen, die aber auf 'Dienst nach Vorschrift' beschränkt bleibt und in Krisensituationen Misserfolge programmiert ... Diese vielen Verzweigungen sind ihrerseits kontingent und müssten auf Ermöglichungsbedingungen bezogen werden. Abschließend soll noch auf drei weitere Ergänzungen eingegangen werden: Primat der Tat, Prozessualität und Virtualisierung. Weitere Handlungsaspekte (Primat der Tat, Prozessualität, Virtualisierung) Primat der Tat Wenn nach gründlicher Abwägung oder spontanem Entschluss die Würfel gefallen sind für einen bestimmten Handlungsplan (oder wenn auf gedankenlose Routine umgeschaltet wurde), beginnt die Verwirklichung. Mikropolitische Taktiken müssen durch das Nadelöhr der Tat. Auf der Suche nach Spitzenleistungen haben Peters & Waterman (1982) als Nummer-Eins-Regel bei den Top-Firmen den 'Primat der Tat' diagnostiziert, was insbesondere den praxisfernen Elfenbeinturmbewohnern ins Stammbuch geschrieben wurde, die nach Meinung der befragten Manager vorwiegend für 'Paralyse durch Analyse' sorgen. Solche Kalender-Weisheiten hatte schon Goethe zu verkünden: "Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden; es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun! " (1855, 230). Es ist aber - wie das Heckhausen-Kuhl-Modell der Volition zeigt (siehe die Abb. 4-7 auf S. 273) - keineswegs trivial darauf hinzuweisen, dass nach dem 'Fazit' (der Bilanzierung von Für und Wider und der Entscheidung für eine Alternative) ein 'Fiat' folgen muss: das Präferierte muss, allen Widrigkeiten, Störungen, Ablenkungen, Hindernissen zum Trotz, realisiert werden. Jeder Bauherr (oder besser: Bausklave) weiß, dass durch den Entschluss zu bauen das Haus noch lange nicht fertig ist. Bestünde diese Kluft zwischen Absicht und Verwirklichung nicht, gäbe es keine Mikropolitik. <?page no="333"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 315 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Die Identifikation der verschiedenen Handlungsstruktur-Komponenten ist genau genommen ein rückschauendes Sezieren, ganz wörtlich genommen: ein Auseinanderschneiden oder Auftrennen eines komplexen Gewebes. Wie beim neugierigen 10jährigen Mädchen, das seinen Computer auseinander schraubt: alle Teile liegen komplett vor ihm, aber es ist ihnen nicht anzusehen, wie sie zusammengehören, damit das Ding funktioniert. Die Analyse paralysiert. Die Tat bewegt zwar, aber wirklich planbar ist oft nur der erste Zug, alle weiteren hängen von den Spielständen ab, die sich aus den Gegenzügen der Anderen ergeben. Fausts Resümee "Im Anfang war die Tat" bezeichnet nur den Auslöser der endlosen unberechenbaren Folge weiterer Taten. Fausts Resümee "Im Anfang war die Tat" bezeichnet nur den Auslöser der endlosen unberechenbaren Folge weiterer Taten. Prozessualität (Verzeitlichung, Temporalisierung) Ein unabdingbares Charakteristikum des Handeln ist seine Prozessualität (und das wird auch bei der Steuerung von Organisationen genutzt, siehe die Überlegungen zur Polarität "Wandel - Bewahrung" im Kapitel 3). Zeit läuft ab, sagt man. Aber eigentlich läuft nicht die Zeit ab, sondern das Leben. Zeit ist nicht der Hintergrund, an dem Geschehnisse wie an einem Maßband verortet werden. Heideggerisch gesagt zeitigt sich das Tun. Das Aktivitätskontinuum ist die Zeit und dieses Kontinuum ist kein gleichmäßiger Strom, sondern wird durch den Wechsel der Taten rhythmisiert, gegliedert, beschleunigt oder verlangsamt. Für die Einzelnen gibt es eventuell nur diachrone Aufeinanderfolgen; sieht man auch die vielen anderen Akteure, die gleichzeitig handeln oder erleiden, gibt es eine unüberschaubare Komplexität synchroner Parallelaktionen: Das Gestalten und Nutzen von Zeitmustern lässt sich in den Dienst mikropolitischer Absichten stellen. Man muss manchmal Zeit verstreichen lassen, sich Zeit nehmen, einen günstigen Zeitpunkt abpassen, Zeitdruck machen, andere warten lassen, etwas auf die lange Bank schieben usw. Es ist überraschend, dass das 'Spielen' mit der Zeit in den Inventaren mikropolitischer Taktiken nicht größere Aufmerksamkeit gefunden hat. Handlungsepisoden sind Ausschnitte aus dem Aktivitätskontinuum oder -komplex und dieses Herausschneiden ist selber eine Handlung: ein subjektives, interessiertes Interpunktieren. Aus jeder Fehlersuche in Organisationen und aus jedem Partnerstreit ist bekannt, welch vergebliches Bemühen es ist herauszufinden, wer 'angefangen' hat, wer zuerst etwas falsch gemacht hat, wer eigentlich schuld ist usw. <?page no="334"?> 316 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Da hilft es wenig, in abgeklärter Gelassenheit auf das Henne-Ei-Problem und den für beliebige Einklammerungen teilbaren Handlungsstrom zu verweisen. Auf Varianten und Probleme von Interpunktions-Effekten ist im Kontext der Abb. 4-1 auf S. 240 (Folgen-Taten-Bedingungen) schon eingegangen worden. Was als spontane Aktion von A erscheint, entpuppt sich vielleicht bei näherem Hinsehen als Reaktion auf ein vorausgegangenes Handeln von Z, der wiederum Gründe nennen kann, die sein Handeln als Antwort ausweisen - usw. ad infinitum. Jede Aussage über eine Handlung ist buchstäblich fragwürdig. Eine Steigerungsform der Interpunktions-Problematik ist Zirkularität und Rekursivität. Von ihnen ist die Rede, wenn das, was A dem Z angetan hat, in dessen Re- Aktionen wieder zu A zurückkommt (der Buchstabendreher Kurvisität verbildlicht das Verschlungene und Gewundene dieses Prozesses). In aufeinander folgenden Sequenzen kann so eine Dynamik entstehen, die von keiner der Parteien intendiert oder vorhergesehen war. Neben linearem Nacheinander gibt es das Überspringen oder den Ausfall erwarteter oder üblicher Schritte, Kurzschlüsse zwischen normalerweise getrennten Sequenzen, gegenseitiges Hochschaukeln, isolierende Ausgrenzung usw. Eine besondere Herausforderung für die Handlungsanalyse ist das Problem der verzögerten Wirkung. Es mag sein, dass im (vielleicht zu kurzen, bloß aktuellen) Beobachtungszeitraum keine Wirkung von A auf Z zu registrieren ist, weil sich diese Wirkung erst nach einiger Zeit entfaltet. Allzu gern wird nur das aktuelle Greif- und Sichtbare als Auslöser oder gar Ursache genommen und übersehen, dass Manches (z.B. eine Kränkung) erst heruntergeschluckt und verdaut werden muss, bevor sich - vielleicht noch dazu verkleidet - eine Reaktion zeigt. Wenn aus 'heiterem Himmel' plötzlich ein 'Donnerwetter' losbricht, hat das vielleicht ähnliche Ursachen wie der Dammbruch eines Stausees. Virtualisierung und Latenz Als organisationales Steuerungsprinzip - also quasi von der anderen Seite der Handlungskonditionen - ist auch dieses Handlungsmerkmal schon in Kapitel 3 (Stichwort "Facta und Ficta") diskutiert worden. Für die Handlungsanalyse wäre es kruder Behaviorismus davon auszugehen, dass nur das Manifeste und Beobachtbare real ist. Auch Ängste und Hoffnungen, Rachegedanken und Dankbarkeitsgefühle sind wirklich. Geht man von der durchgängigen (mehrfachen) Kontingenz sozialen Handelns aus, dann zählt zum Rea- <?page no="335"?> Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells 317 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ len auch das Latente und vor allem das Mögliche und gerade Letzteres öffnet den unendlichen Raum des Denkbaren. Im Grunde ist Handeln (als 'Fiat') immer die Grenzüberschreitung vom Möglichen, Wünschbaren oder Gefürchteten zum Getanen. Die Träume, Wünsche und Pläne gehören eventuell dem Subjekt noch exklusiv; ist der Rubikon überschritten, mischen Andere mit und sich ein. Gerade planvolles Handeln operiert mit Fiktionen (Erwartungen und Erwartungserwartungen, Wenn-Dann-Hypothesen, kalkulierten Abläufen, Offenhalten von alternativen Optionen usw.). Weil sich sowohl der Akteur wie die Umstände - nicht zuletzt durchs Handeln - fortwährend ändern, muss man wahrscheinliche Entwicklungen und Gelegenheiten mental antizipieren und Handlungsentwürfe für sie in petto haben. Kompetente Akteure sind in der Lage, verschiedene Perspektiven einzunehmen und verschiedene Szenarien zu imaginieren: taktisches und strategisches Denken ist als Kultivierung des Möglichkeitssinns Wesensmerkmal speziell mikropolitischen Agierens. Dazu gehört auch, wie oben schon dargestellt, nicht nur die Vorwegnahme des möglichen Künftigen, sondern auch dessen Erzeugung, Inszenierung, Vorspiegelung. Die Produktion von Schein erzeugt paradoxerweise Wirklichkeit, denn Schein ist nur wirksam, wenn er als wirklich gilt. Insofern lassen sich Handlungen nicht in registrierbare Aktions- Reaktions-Ketten zerlegen (wie es die archetypischen Muster A Z und Z A suggerieren), sie gehen Umwege ins unbeobachtbare Phantasierte, Angenommene, Erschlossene. Die Möglichkeit zwischen verschiedenen Realitätsebenen hin und her zu wechseln macht Prognose und Kontrolle fremden Handelns so schwierig und lädt zugleich dazu ein, nach Anzeichen und Programmen zu suchen, die das Vermutete oder Gefürchtete berechenbar machen, sodass man sich darauf einstellen(! ) kann. Denken ist Probehandeln und damit "So tun als ob". Das von Ortmann (2004) als zentrale Argumentationsfigur genutzte searlesche Diktum "X counts as Y", kann nicht nur als die Basisoperation der Stiftung von Äquivalenzklassen gelesen werden, sondern auch als Grundoperation für Mikropolitik gelten: jemandem ein X für ein U vormachen. Am Anfang weiß der Akteur um sein Täuschungsmanöver, aber am Schluss kann es vorkommen, dass er selbst daran glaubt, weil er die Wirklichkeit geschaffen hat, in der das U als X gilt/ zählt. Die Fiktionalisierung oder Irrealisierung nistet sich in alle Prozessphasen des Handelns ein. Sie beginnt mit der Beobachtung, die stets nicht nur ein Ausschneiden und Absehen, sondern auch aktive Konstruktionsarbeit ist und setzt sich fort mit <?page no="336"?> 318 Kapitel 4: Komponenten eines Handlungsstruktur-Modells ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ der Interpretation des Wahrgenommenen, das den Filter von Glaubenssystemen, Erwartungen, mentalen Landkarten etc. passieren muss. Dadurch wird den scheinbar objektiven Vorkommnissen (z.B. dem Tun As) Bedeutung oder Sinn verliehen - und auf dieser Basis, nicht auf der von beobachtbaren 'Fakten', re-agiert Z. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Undurchschaubarkeit der komplexen (Wechsel-)Wirkungsbeziehungen in sozialen System zu kontraintuitiven (unintendierten und unvorhergesehenen) Effekten führt, die - soll es nicht zur Handlungslähmung kommen - fortwährend als neue Informationen in Sinn-Zusammenhänge integriert werden müssen und damit deren Struktur ändern (können). Latenz ist ein weiteres Phänomen unwirklichen Handelns. Es sind drei Bedeutungen von Latenz denkbar, nämlich das Bekannte, aber Exkommunizierte, das in der Masse Untergegangene und deshalb Unidentifizierte oder das gezielt Verborgene (Geheimnis). Alles Thematisieren und Diskursivieren ist ein Bemühen, noch Ungesagtes oder bislang anders Gesagtes zur Sprache zu bringen und so als Handlungsobjekt zu konstituieren. Zum Latenten gehören auch 'kollektive Ignoranz' (Alle wissen es, aber niemand spricht es aus), Sprechverbote gegenüber Außenstehenden: 'Nicht-so-genau-hinschauen', 'Es-nicht-so-genau-wissen-wollen', sowie der nicht kleine Bereich des prinzipiell zwar Zugänglichen, das aber mangels Zeit oder wegen Überlastung nicht abgerufen wird, und schließlich selektive Geheimhaltung (privilegiertes Wissen; eingeweiht sein und dazugehören oder uninformiert bleiben und ausgeschlossen sein). 4.4. Schlussbemerkung Je mehr Ordnung in eine Wissensdomäne gebracht wird, desto größer wird der Bereich des Unerfassten. Das führt zurück zum Lichtenberg-Zitat, das diesem Kapitel vorangestellt ist. Nach dem Ordnungsversuch sieht man genauer, was nicht passt. Damit man sich in Ordnungen nicht häuslich einrichtet, ist es wichtig, sie immer wieder zu re-chaotisieren. Denn wozu benötigt man Ordnungen? Um das Erkennen zu ermöglichen. Und - die Erfolge der Naturwissenschaften ermutigen zu Nachahmertaten - um etwas selbst oder besser machen zu können, um es oder damit zu beherrschen. Womit wir wieder bei der Sache wären: dem Traum der Mikropolitik. <?page no="337"?> 5. Die Moral der Mikropolitik Überblick Auch Moral kann instrumentalisiert und als Steuerungstechnik genutzt werden. Wenn schon rationale Koordination oder herrschaftliche Steuerung (aus Gründen der Komplexität und Kontingenz) nicht möglich sind: Vielleicht gelingt die Koordination oder Steuerung über Werte, Normen, Pflichten, Grundsätze, Maximen ...? Weil ich Moral aus der Perspektive von Mikropolitik betrachte, will ich zusätzlich ihre Eignung oder Funktion als Mittel der Eindämmung von Mikropolitik untersuchen. Deren Qualifizierung als 'unmoralisch' suggeriert, dass Moral etwas eindeutig Bestimmtes und Höherwertiges sei. Ich möchte zeigen, dass das nicht der Fall ist und dass sich daraus Konsequenzen sowohl für die Nutzung von Moral als Steuerungstechnik wie als Korrektiv für Mikropolitik ergeben. Der rote Faden: Einleitend untersuche ich, was gemeint ist, wenn von "Moral" geredet wird. Die Analyse von Moraldefinitionen und ein Überblick über wichtige Ansätze der Ethik (als Reflexionstheorie der Moral) belegen, dass es mehrere heterogene Zugänge gibt und dass der Moraldiskurs spezifische Besonderheiten des Argumentierens hat. Im nächsten Abschnitt (und den darauf folgenden) enge ich die Perspektive auf das Verhältnis von Moral und Wirtschaft ein. Zunächst referiere ich - quasi als Einstieg - einige drastisch formulierte polemische Positionen, denen gemeinsam ist, dass sie eine moralische Bewertung von Ökonomie zurückweisen. Dennoch gibt es in der Unternehmenspraxis - Stichwort 'Governance-Ethik' - eine breite Palette von Verfahren der Überwachung und Hebung des moralischen Niveaus. Eine differenzierte Position im Projekt der Befreiung der Ökonomie vom Dauerdruck der moralischen Rechtfertigung stellt der Ansatz von Karl Homann dar. Sein Zwei-Stufen-Konzept (Rahmenordnung und Handlung) wird dargestellt und kommentiert. Weil es im Homann-Ansatz um die Betonung des strukturellen Moments von Dilemmasituationen geht, wird auch auf die von ihm bevorzugte Modellierung des Gefangenendilemmas eingegangen. <?page no="338"?> 320 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Daran anschließend wird als Antwort auf seine Begründungsdefizite das Zwei-Stufen-Konzept aus der Perspektive der Diskursethik zum Drei-Stufen- Konzept erweitert. Weil Normen, Regeln, Maximen etc. im Moraldiskurs eine prominente Rolle als Handlungsleitlinien spielen, wird in diesem Abschnitt untersucht, ob über Regeln Handlungssteuerung möglich ist bzw. welchen systematischen Einschränkungen dieses Projekt unterliegt. Das Resümee: Regelbefolgung und Regelverletzung koexistieren nicht nur, sie sind beide unverzichtbar. Der Schlussabschnitt zieht ein Fazit aus mikropolitischer Perspektive und stellt drei Möglichkeiten einer realistischen zumutbaren Moral vor ('befriedigende Moral', 'Moral lernen', 'moralisches Ausbalancieren'). Mikropolitik ist mit diesen Optionen nicht nur vereinbar, sondern eine ihrer Wirkungsbedingungen. 5.1. Was heißt moralisch urteilen und handeln? "Auszug aus dem Register der 927 (oder waren es 928? ) ewigen Wahrheiten: [...] 18. Wenn du einen Helden siehst, sieh noch mal hin: du hast dich selbst irgendwie kleiner gemacht. 19. Jeder lügt, betrügt, tut so als ob (ja, du auch, höchstwahrscheinlich ich selbst). 20. Alles Böse ist potenzielle Vitalität, du musst es nur umsetzen ..." (Kopp 1981, 193f.) 5.1.1. Moral und Politik, Ökonomie und Ethik - sie scheinen sich zu fliehen ... 73 Die moralische Basissituation ist je nach Standpunkt charakterisiert durch einfache Maximen und eine komplexe Lage oder eine einfache Lage und komplexe 73 ... und haben sich, eh' man es denkt, gefunden. Nach dem umgemodelten Anfang des Goethe- Sonnetts (1802) zitiere ich das Originalende, in dem sich das nur scheinbar Getrennte als Verbundenes zeigt (Das Resümee könnte man auch dem Kanon wirtschaftsethischer Grundsätze hinzufügen): "Wer Großes will, muss sich zusammenraffen; In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben." <?page no="339"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 321 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Maximen. In der ersten Situation wird die Funktion von Moral analog der Kompass- oder Fixstern-Metapher gesehen: sie gibt die Richtung aufs Richtige vor, sodass man auch im dichtesten Dschungel sein Ziel erreicht. Dieses Bild verführt, weil es suggeriert, es gäbe (nur) eine eindeutige Zielmarke, die sich nie ändere und über die sich alle (Stakeholders) einig seien. In der zweiten Situation finden sich all jene, die von der Ethik Orientierung in einem konkreten Entscheidungsfall erwarten, sich aber plötzlich konfrontiert sehen mit dem Streit der Schulen und Autoren und für ihre simple Frage: "Was soll ich tun? " eine Unzahl widersprüchlicher Antworten erhalten. Mikropolitik steht - weil sie die absichtliche Instrumentalisierung Anderer betreibt - unter dem begründeten Anfangsverdacht der Unmoral. Die Strategie, die vergleichsweise Harmlosigkeit von Mikropolitik zu behaupten, ist leicht zu durchkreuzen: Schopenhauer (siehe das Zitat im Beleg 1-1, S. 5) bringt es auf den Punkt, wenn er keinen Unterschied macht zwischen der Anwendung von Gewalt und List (letztere mag als Synonym für Mikropolitik durchgehen). Da hilft der Rettungsversuch nicht, Mikropolitik von 'böser Absicht' freizusprechen und ihr zu attestieren, dass sie Anderen nicht schaden, sondern vor allem die eigenen Interessen fördern will (was zuweilen auch den Anderen zu Gute kommt, sie unter Umständen jedoch ungewollt zu Verlierern machen kann); Mikropolitik ist nicht notwendig counterproductive behavior. Andererseits gilt: Wenn die 'unsichtbare Hand' dafür sorgt, dass Eigennutz den Gemeinnutz fördert, so kann die gleiche Hand auch im Spiel sein, wenn die bestgemeinten Absichten zu kollektiven Katastrophen führen. Ich bin viele - die Organisation ist eine? Organisationen handeln - als kollektive Akteure - nicht unbedingt 'wie ein Mann'; sie sind eventuell zerfallen in Fraktionen, Lager, Bereiche, Funktionen, die jeweils ihre Eigeninteressen verfolgen. Dasselbe gilt aber auch für einen einzelnen Akteur. Er weiß weder mit Sicherheit, was gut für die Anderen ist, noch was immer oder sicher gut für ihn selbst ist, weil er zum einen die (langfristigen) Folgen seiner Taten nicht kennt (die Bedingungen können sich zwischenzeitlich ändern, Andere können unvorhersehbar re-agieren) und weil er überdies sich selbst nicht kennt und/ oder sich seine eigenen Präferenzen ändern können. Auch das Maximierungs- <?page no="340"?> 322 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ streben - die Suche nach dem größtmöglichen Glück - ist eine empirisch fragwürdige Leit-Linie: Der Einzelne hat in den meisten seiner Handlungen weder den Vorsatz, noch treibt er den Aufwand eines konsequenten Nutzenkalküls: "Der Mensch ist ein mittelmäßiger Egoist: auch der Klügste nimmt seine Gewohnheit wichtiger als seinen Vortheil" (Nietzsche 1906, Bd. 9, 271). 74 Nietzsche macht darüber hinaus auf einen zweiten Aspekt aufmerksam: Das Individuum wird üblicherweise - ganz wörtlich - als ungeteilte Einheit fingiert; diese Annahme führt jedoch in die Irre: "In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum" (Nietzsche 1906, Bd. 3, 78f.). "Die Annahme des Einen Subjekts ist vielleicht nicht nothwendig; vielleicht ist es ebenso gut erlaubt, eine Vielheit von Subjekten anzunehmen, deren Zusammenspiel und Kampf unserem Denken und überhaupt unserem Bewusstsein zu Grunde liegt. Eine Art Aristokratie von 'Zellen', in denen die Herrschaft ruht? " (Nietzsche 1906, Bd. 9, 372). 75 Nietzsche nimmt damit postmoderne Positionen vorweg, die das Selbst als Vielheit sehen: Man hat es im sozialen Verkehr stets, nicht nur im klinischen Ausnahmefall, mit 'multiplen Persönlichkeiten' zu tun und man ist selber eine. So verwendet z.B. Rorty (1988) das freudsche Instanzenmodell zur Vorlage für eine Konzeption, die moralisches Handeln aus verschiedenen 'Ichzuständen', wie sie auch die Transaktionsanalyse konstatiert, herleitet. Die im Freud-Modell für Moral alleinzuständige Instanz (das Über-Ich als Insgesamt elterlicher/ gesellschaftlicher Ge- und Verbote) wird ergänzt durch das moralisch genauso relevante einsichtsvoll abwägende realistische Handeln des Ich und das triebgesteuerte, emotionale, angstvolle Handeln des Es. 74 Auch an anderer Stelle polemisiert Nietzsche gegen eudämonologische Kalküle und ironisiert die für die Entwicklung modernen ökonomischen Denkens so einflussreichen englischen Lust-Unlust-Bilanzierer à la Bentham (die Vorläufer der VIE-Theoretiker): "Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie? - Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer thut das." (Nietzsche 1906, Bd. 10, 238). 75 Im Epilog zum "Fall Wagner" diagnostiziert Nietzsche: "Der moderne Mensch stellt, biologisch, einen Widerspruch der Werte dar, er sitzt zwischen zwei Stühlen, er sagt in einem Atem Ja und Nein [...] Aber wir alle haben wider Wissen, wider Willen, Werte, Worte, Formeln, Moralen entgegengesetzter Abkunft im Leibe, - wir sind, physiologisch betrachtet, falsch ..." (Nietzsche 1999, 320f.). Und: "… so sind wir modernen Menschen … durch verschiedene Moralen bestimmt; unsere Handlungen leuchten abwechselnd in verschiedenen Farben, sie sind selten eindeutig, - und es giebt genug Fälle, wo wir bunte Handlungen thun" (Nietzsche o.J./ 1885/ 86, 170). <?page no="341"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 323 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Zum anderen liegt, wenn man sich die vielen Selbste nicht verdinglicht als widerstreitende homunculi im homo vorstellt, die Beziehung zu modernen hirnphysiologischen Hypothesen über die Funktion unserer Bewusstheit nahe. Der "Geist im Netz" (Spitzer 2000) unterstellt keine Subjekt-Vervielfältigung, sondern 'lokalisiert' Bewusstheit und Denken in den aktivierten neuronalen Netzen. Die Fortschritte der Hirnphysiologie haben zu heftigen Disputen über das gerade auch für die Moraldiskussion zentrale Thema der Willensfreiheit geführt, ein Konzept, das von Hirnphysiologen als überholt und unnötig eskamotiert wird (siehe dazu Singer 2006, Roth 2003, Prinz 2004, Geyer 2004, Markowitsch 2004, Walter 2004). Eine Diversitäts-Konzeption hat zur Folge (s. Priddat 2005, 113), dass man kein fixes und klar ausgerichtetes Zentrum der Person unterstellen kann, sondern von konfligierenden Subsystemen ausgehen muss. Konsistenz und Kontinuität des Handelns eines Akteurs dürfen nicht länger wie selbstverständlich vorausgesetzt werden; es ist vielmehr mit zustands- und kontextabhängigen Kontingenzen zu rechnen. Die Person kann verschiedene Standpunkte einnehmen (oder von verschiedenen Standpunkten eingenommen werden) und je nach Subsystem oder Rahmung 'anders rational' handeln. "ICH ist keine eindeutige governance, sondern wird durch die Attraktivität paralleler Diskurse gesteuert, an denen es bzw. seine sub-personalen Zustände permanent teilhaben. Welche Diskurse dominieren, welche Bedeutungen relevanter sind als andere, welche Zuschreibungen getätigt werden, ist kein rationaler Urteilsakt des ICH, das es gar nicht mehr gibt in dieser distinkten Form, sondern ein konstellatives Ereignis im Schnittpunkt diverser Diskurse, die alle semantische Lufthoheit erobern wollen" (Priddat 2005, 116f.). Wie schon in den vorangegangenen Kapiteln belegt, existieren die für Mikropolitik konstitutiven Ungewissheitszonen nicht nur 'da draußen' (in der Organisation, im Kontext), sondern auch 'da drinnen' (im handelnden Akteur). Dies macht Zuschreibungen doppelt schwierig, denn es kommen sowohl externale wie internale Ursachen in Frage. Eben dies gibt dem Akteur die (wiederum mikropolitisch nutzbare) Chance signalisieren zu können, wie er sein Tun gedeutet haben will. Er kann verschiedene Interpretationshinweise geben, z.B. sich als Opfer von äußeren Zwängen (Rollen, Vorschriften, Restriktionen) oder als Autor autonomer personaler Wahlakte darstellen und die eigene Berechenbarkeit dadurch steigern oder senken, dass er verlässlich bestimmte oder abwechselnd verschiedene Deutungsmuster anbietet. <?page no="342"?> 324 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Will man moralisch handeln, muss man sich nicht nur über die Belange der Betroffenen aufklären (das fordert zumindest die Diskursethik), sondern auch 'interne Diskurse' führen. Dabei kann nicht mehr davon ausgegangen werden, dass das aufrichtige Bemühen um Wahrhaftigkeit in der Diagnose und Äußerung eigener Wünsche und Überzeugungen verwirklicht werden kann. Weil der Akteur in der Selbstprüfung erfahren muss, dass er seine eigenen Interessen und Einsichten weder vollständig noch präzise (er-)kennen und auch nicht unverzerrt zum Ausdruck bringen kann, muss er sich - analog der Aufgeschlossenheit für Argumente im 'externen' Diskurs - auch im 'internen' lernfähig halten. Rimbauds vielzitiertes Statement (Ich ist ein Anderer) lässt sich fortschreiben: Ich wird ein Anderer. Damit bröckelt das vorgeblich stabile Fundament der Einheit des vernünftigen Subjekts, auf dem nicht nur Kant das Gebäude der moralischen Urteile errichtete. Achtung: Achtung! Auf Basis eines ganz anderen Theorieprojekts kommt Luhmann (1978) zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Weil er als Systemtheoretiker das Subjekt als Systemelement eliminiert, kommen für ihn zur Moralfundierung weder Ego noch Alter (als Personen) in Frage, sondern allein ihre dreifache Beziehung in Kommunikationsakten. Nur sie sind Grundbausteine sozialer Systeme (wie schon auf S. 193ff. ausgeführt wurde): Ego adressiert - kontingent - Alter und antizipiert, dass - doppelte Kontingenz - Alter ihn adressieren wird und dass Alter sich über ihn, Ego, ein Bild macht. "Sobald Ego und Alter aus welchen (zufälligen) Gründen immer in eine doppelkontingente Beziehung zueinander geraten, sich wechselseitig kontingentes Handeln zurechnen und infolgedessen jeweils füreinander auch als alter Ego fungieren, müssen beide jeweils in sich selbst eine dreifache Rolle integrieren. Jeder ist für sich selbst zunächst Ego, weiß aber auch, dass er für den anderen Alter ist und außerdem noch, dass der Andere ihn als alter Ego betrachtet. [...] Jeder ist gehalten, die Selektivität und die Selektionszumutungen des Anderen in die eigene Identitätsformel einzubauen, denn nur so kann er seine Operationen in dieser Beziehung fortsetzen. [...] Als Indikator für einen akzeptierbaren Einbau des Ego als Alter und als alter Ego in die Sichtweise und Selbstidentifikation seines Alter dient der Ausdruck von Achtung und die Kommunikation über Bedingungen wechselseitiger Achtung. Ego achtet Alter und zeigt ihm Achtung, wenn er sich selbst als Alter im Alter wieder findet, wieder erkennt und akzeptieren kann oder doch entsprechende Aussichten zu haben meint" (Luhmann 1978, 46). <?page no="343"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 325 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Luhmann setzt somit nicht auf die Figur der 'multiplen Selbste', sondern auf die Fähigkeit des Akteurs, unterschiedliche soziale Rollen übernehmen zu können, fordert aber auch eine (balancierende, integrierende) Übernahme dieser Rollen in die eigene "Identitätsformel". Als entscheidenden binären Code des Funktionssystems Moral identifiziert Luhmann Achtung/ Missachtung. Aber nicht das subjektive Achtungserlebnis oder die beobachtbare Achtungskommunikation sind (soziologisch) relevant, sondern deren Bedingungen: "Achtung ist nach unserer Auffassung diejenige emergente Symbolisierung, die Moralbildung ermöglicht. In diesem Sinn ist Achtung der Grund der Moral" (a.a.O., 48). [...] "Die Gesamtheit der faktisch praktizierten Bedingungen wechselseitiger Achtung oder Missachtung macht die Moral einer Gesellschaft aus. [...] Moral ist also ein Codierprozess mit der spezifischen Funktion, über Achtungsbedingungen Achtungskommunikation und damit ein laufendes Abgleichen von Ego/ Alter-Synthesen zu steuern. Es handelt sich nicht um einen kategorischen Imperativ, nicht um ein Gesetz, das vorschreibt, wie dies zu geschehen habe" (a.a.O., 51). Mit der Akzentverlagerung auf die gesellschaftlichen Bedingungen der Achtungskommunikation löst sich Luhmann von den historischen und personalen Zufälligkeiten der jeweiligen Interaktionsbeziehung und generalisiert auf überindividuelle Prämissen von Achtungserweis oder -verweigerung. Damit entkommt er der Falle, die eine dyadische Konzeption enthält, weil in ihr die (mikropolitische) Chance besteht, Achtung taktisch zu simulieren oder zu erschleichen (Man braucht nur an die Thematik zu denken, die unter dem Stichwort Impression Management abgehandelt wird). Faktisch erwiesene oder erlebte Achtung ist kein Moralgarant, weil ihr die soziale, sachliche und zeitliche Generalisierung fehlen. Es geht vielmehr um Achtungs- oder gar Ehr-Würdigkeit. Die Umstellung auf Achtungsbedingungen sollte konsequenterweise auch eine Umdefinition des Leitcodes nach sich ziehen: von der Achtungskommunikation auf die Achtbarkeit (als der Gesamtheit der Interpretationen beobachteter Handlungen oder Lebensstile als normgemäß oder vorbildlich). Das würde dann allerdings erforderlich machen, die Kriterien einer solchen Zuschreibung offen zu legen. Was muss z.B. ein Kaufmann tun oder lassen, um als ehrbar oder achtbar zu gelten? Vom Faktum der Achtung verlagert sich die Erklärungslast auf die gesellschaftlich geteilte geforderte Begründung dieser Zuschreibung: Wie wird, was als der (Ver-)Achtung wert angesehen(! ) wird, gerechtfertigt? Man landet auf diese Weise doch wieder beim normativen Bezugssystem, dessen Geltung begründet werden muss. <?page no="344"?> 326 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Geltung und Begründung Dabei gibt Luhmann einen wichtigen Hinweis, wenn er die Differenz zwischen Achtungserweis und der Kommunikation über ihn hervorhebt und unter Anderem den historischen Wandel der Begründungen für moralisches Handeln thematisiert. Damit wird eine zweite Ebene eingezogen. Auf der ersten Ebene wird eine Handlung als 'moralisch' (achtungswürdig) beobachtet; auf der anderen wird über die Selektionen und Zuschreibungen, die diese Beobachtung macht, mit Dritten geredet, um die Rechtfertigung für die Kategorisierung und Graduierung als 'moralisch' zu prüfen, zu verteidigen, zu erhärten. Auf dieser Ebene werden die Kriterien konsolidiert oder weiter entwickelt, die in einem sozialen System Achtung oder Missachtung (bzw. sogar Verachtung) konditionieren. Das muss keineswegs ein permanenter konsensorientierter Diskurs sein (den Luhmann ohnehin in Frage stellt, siehe 1978, 21f.). Es geht zunächst nur um die Berufung auf die als geltend unterstellte Rahmen-Ordnung oder das System der Entscheidungsprämissen, das "für Fälle dieser Art" zu Grunde gelegt wird (siehe dazu auch Homanns Konzeption der Rahmenordnung, auf die unten - Kap. 5.3.4., S. 417ff. - ausführlich eingegangen wird). Auf Nachfrage oder im Konfliktfall können Entscheidungen damit begründet werden, dass sie legal oder gar legitim sind; ob sie noch zusätzlich interpersonale Achtung finden, wird zweitrangig. Wie die rechtfertigende Rahmen-Ordnung zu Stande kam (Genese), interessiert dabei weniger als ihre faktische Geltung. Geltung durch Faktizität begründen heißt jedoch, das, was getan werden soll mit dem gleichzusetzen, was allgemein oder schon immer getan wird. Im Abweichungsfall werden die Konturen deutlicher sichtbar: Trotz der allgemeinen Verletzung einer Norm ist diese noch lange nicht moralisch außer Kraft gesetzt. Die Akteure unterstellen sich der Rahmenordnung zudem nur unter dem Vorbehalt ihrer Funktionalität. Wenn nämlich die Regeln/ Prämissen im eigenen Sinn (zum eigenen Vorteil) geändert werden sollen, wird von aktueller Geltung auf (Neu-)Genese umgeschaltet. Weil jedoch derzeit geltende normative Vorgaben immer in Frage gestellt werden können, kann die schiere Faktizität der Moral durch Ethik (als der systematischen Reflexion und Begründung der Geltungsansprüche) gesichert oder eben: in Frage gestellt werden. Beispiele: In einer Sklavenhaltergesellschaft gilt unter den Herrschenden die Norm "Behandle Sklaven wie Dinge"; einer ethischen Begründung dieser Norm kann man sich durch Hinweis auf ihre allgemeine Akzeptanz nicht entziehen. In modernen Gesellschaften sind "Kavaliersdelikte" allgemein verbreitet und gelten moralisch nicht als verwerflich (z.B. kleine Schwindeleien bei der Steuererklärung, Schwarzarbeit, Verkehrssünden, gebrochene Wahlkampfversprechen ...). Die geltende Rechtsnorm hat jedoch weiterhin Bestand. <?page no="345"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 327 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Schon Hobbes hat festgestellt, "dass, was für alle gut wäre, wenn sich alle daran hielten, wirklich nur gut ist, wenn sich wirklich alle daran halten" (Kettner 1994, 258). Eine Norm - so auch Habermas - gilt nicht, wenn sie a) nicht befolgt werden kann (siehe den Rechtsgrundsatz des ultra posse nemo tenetur 76 ) und b) faktisch nicht von allen befolgt wird. Kaum jemand (außer Kant) wird dem einen Ehrlichen unter lauter Betrügern zumuten, immer der Dumme zu sein: "Die Gültigkeit moralischer Gebote ist an die Bedingung geknüpft, dass diese als Grundlage einer allgemeinen Praxis generell befolgt werden. Nur wenn diese Zumutbarkeitsbedingung erfüllt ist, bringen sie das zum Ausdruck, was alle wollen könnten" (Habermas 1991, 148). Apel und Habermas hatten sich lange Zeit in der von ihnen maßgeblich geprägten Diskursethik, die sich als eine kommunikative Wendung der kantschen Vernunftethik versteht, gegen Zugeständnisse an die Faktizität der Normbefolgung gewandt. Sie plädieren nun für einen faustischen Pakt mit der Empirie, wenn sie strategisches unintegeres Handeln in der konkreten ('historischen') Situation nicht mehr rundweg ablehnen, sondern als Mittel zur Annäherung ans festgehaltene Ziel des zwanglosen Konsenses akzeptieren (darauf wird auf S. 440f. näher eingegangen). Apel wendet deshalb den Vorwurf der Weltferne, der stereotyp gegen die Diskursethik erhoben wird, gegen die Verklärung der institutionellen Rahmenbedingungen zum systematischen Ort der Moral: "... dass gerade die Unterstellung einer idealen Institutionenmoral (z.B. einer solchen des Systems der Marktwirtschaft) zur Immunisierung einer Institutionsutopie gegen das Problem des Durchschlagens der faktischen Implementation auf die Gültigkeit moralischer Normen führen kann" (Apel 1997, 203). Diese Überlegungen sollen vor Augen führen, dass sich verschiedene Autoren in den Kriterien, an denen sie Moralität messen, unterscheiden: An Stelle von Achtung/ Missachtung werden alternative Maßstäbe geltend gemacht, z.B. Billigung/ Missbilligung bzw. Billigkeit/ Unbilligkeit, Legitimität/ Illegitimität, Richtigkeit/ Falschheit, Akzeptabilität/ Inakzeptabilität, Sollen/ Sein etc.). Die Sache ist aber noch komplizierter: In den Nischen und Falten des Moraldiskurses verbergen sich weitere Gründe moralisch zu sein oder zu handeln (was keineswegs dasselbe ist) - nicht nur die Einsicht in das Richtige oder die verdien- 76 Unmögliches kann man nicht verlangen. Niemand ist verpflichtet zu tun, was sein Vermögen übersteigt. <?page no="346"?> 328 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ te Achtung durch andere, alle(? ) anderen, ja sogar der künftigen, noch ungeborenen Generationen. Ein Handeln, das allen faktisch geltenden Normen entspricht, kann nicht unbedingt moralisch genannt werden. Wenn einer mit seinem Handeln - auf Kontrolle und Sanktionen reagiert, - sich durch Nachahmung anpasst, - pragmatisch oder zyklisch-unbestimmt reagiert, - starr am Bestehenden und Gewohnten festhält, - aus purem Aktionismus das Bestehende ändern will, - auf nackte ('tierische') Gewalt reagiert (Petersen 1994), werden vermutlich nicht alle Beobachter in allen Fällen das Prädikat 'moralisch' zuerkennen. Petersen findet sich mit seiner unordentlichen Aufzählung in illustrer Gesellschaft. Andere haben das, was er an Möglichkeiten nebeneinander stellt, als Stufen oder Phasen der moralischen Entwicklung erkannt, so z.B. Nietzsche 77 (oder Piaget, Kohlberg oder Rest, auf die noch einzugehen sein wird). Es ist - gerade auf dem Hintergrund mikropolitischer Überlegungen - befreiend festzustellen, dass man auf unterschiedliche Weise moralisch sein kann, zu unterschiedlichen Zeiten (oder Entwicklungsstufen) anders moralisch sein kann und dass es womöglich nicht nur ein moralisches Gesetz oder Prinzip gibt, sondern 77 "Dieselben Handlungen, welche innerhalb der ursprünglichen Gesellschaft zuerst die Absicht auf gemeinsamen Nutzen eingab, sind später von anderen Generationen auf andere Motive hin gethan worden: aus Furcht oder Ehrfurcht vor Denen, die sie forderten oder anempfahlen, oder aus Gewohnheit, weil man sie von Kindheit an um sich hatte thun sehen, oder aus Wohlwollen, weil ihre Ausübung überall Freude und zustimmende Gesichter schuf, oder aus Eitelkeit, weil sie gelobt wurden. Solche Handlungen, an denen das Grundmotiv, das der Nützlichkeit, vergessen worden ist, heißen dann moralische: nicht etwa weil sie aus jenen anderen Motiven, sondern weil sie nicht aus bewusster Nützlichkeit gethan werden. - Woher dieser Haß gegen den Nutzen, der hier sichtbar wird, wo sich alles lobenswerthe Handeln gegen das Handeln um des Nutzens willen förmlich abschließt? - Offenbar hat die Gesellschaft, der Herd aller Moral und aller Lobsprüche moralischen Handelns, allzu lange und allzu hart mit dem Eigen-Nutzen und Eigen-Sinne des Einzelnen zu kämpfen gehabt, um nicht zuletzt jedes andere Motiv sittlich höher zu taxiren als den Nutzen. So entsteht der Anschein, als ob die Moral nicht aus dem Nutzen herausgewachsen sei; während sie ursprünglich der Gesellschafts-Nutzen ist, der große Mühe hatte, sich gegen alle die Privat-Nützlichkeiten durchzusetzen und in höheres Ansehen zu bringen" (Nietzsche 1906/ 1879, Bd. 4, 224f.). <?page no="347"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 329 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ mehrere, die nicht gleichzeitig erreicht oder nicht unbedingt (im Doppelsinn) priorisiert werden können, die zeitlich nicht stabil sein müssen und die nicht von allen Menschen gleich gewichtet werden. Handlungssituationen sind nicht homogen, sondern komplex; sie sind zudem nicht objektiv 'da', sondern werden wahrgenommen und interpretiert und zwar von Handelnden anders als von BeobachterInnen und dritten Stakeholders. Man ist nicht jeden Tag - so unreif, verwerflich oder unreflektiert das in moralisch hellhörigen Ohren klingen mag - in Moralform oder in der gleichen Moralform. Und schließlich: Man muss nicht nur gut sein wollen, sondern auch können und damit kommen scheinbar moralfremde Bedingungen wie Fähigkeiten, Wissen, Ressourcen etc. ins Spiel. Diese Überlegungen sollen daran erinnern, dass es nicht nur auf moralische Grund-Sätze oder Regeln ankommt, sondern auch auf die Anwendungssituation. Das ist deshalb wichtig, weil im vorliegenden Text - schon wieder eine moralisch fragwürdige Unterscheidung! - nicht der 'Mensch als solcher' im Mittelpunkt steht, sondern der 'organization man', das Unternehmensmitglied. Für dieses gelten zwar nicht andere Prinzipien, aber womöglich andere Bedingungen. Moralisches Argumentieren fragt nach Gründen für das, was wir tun sollen. Das impliziert einen (versteckten? ) Imperativ: Prüfe dich! Ändere dich! Nähere dich dem Ideal! Es werden keine Tatsachen-Aussagen gemacht, sondern begründungsbedürftige Forderungen aufgestellt. In einer konkreten oder fiktiven Wahlsituation hat der Akteur hat die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten und soll rational, also mit überzeugenden Gründen, entscheiden. Damit wird der prospektive Aspekt betont: das Handeln steht noch bevor. Auffällig ist, dass in der Moral-Diskussion die zweite Option der Retrospektivität deutlich seltener thematisiert wird, dass nämlich jemand faktisch gehandelt hat und sich fragt (bzw. von Anderen zur Rechenschaft gezogen wird), warum er getan hat, was er getan hat. In diesem zweiten Fall kommt viel stärker als im antizipativen die Rolle weiterer personaler und situativer Umstände zur Geltung, die das Handeln begleitet oder mitbedingt haben. Die Vergangenheit ist nicht das Speichermedium, in dem das eigene Tun sukzessiv aufgezeichnet und mit neuen Eintragungen fortgeschrieben wird. Vielmehr kommt es gerade bei wichtigen Handlungen vor, dass, was war, umgeschrieben wird, weil es im Lichte der neuen (Selbst-)Erfahrungen nicht nur anders gesehen, sondern in seiner Zusammensetzung und seinen Zusammenhängen rekonfiguriert wird, wobei auch Einiges gelöscht, Anderes umgedeutet und Neues erfunden wird (zur Account-Produktion <?page no="348"?> 330 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ siehe S. 508ff.). Die Janusköpfigkeit des Handelns bringt es mit sich, dass moralische Konflikte nicht nur bei der Wahl des Weges in die ungewisse und mehrwertige Zukunft entstehen, sondern dass der Charakter des Akteurs (wörtlich: das in ihn Eingeprägte! ) die Entscheidung zwar mitbestimmt, aber zugleich durch sie verändert wird. Auch bei der moralischen Bewertung ist danach nichts mehr wie es zuvor war. Wenn Lacan den freudschen Entwicklungsimperativ "Wo Es war, soll Ich werden! " umformuliert zu "Wo es war, soll ich werden! ", dann kann man dafür als Bedingung und Folge einführen: "Was war, muss anders werden, damit ich werden kann." Fazit: Moral ist keine Frage allein des rationalen Kalküls oder der begründeten vernünftigen Argumentation. Retrospektiv, nach dem Handeln stellt sich vielleicht heraus, dass man sich verrechnet hat und etwas angerichtet hat, was man so nicht wollte. Eine Verantwortungsethik bleibt in diesem Punkt kompromisslos: auch wenn sie nicht alle vorherzusehen waren, man muss für die Folgen geradestehen. 78 Wie noch zu zeigen sein wird, schlägt die Diskursethik eine andere Reihenfolge vor, weil sie an die Fähigkeit der Vielen glaubt, sich gemeinsam über "alle Folgen und Nebenfolgen" aufzuklären. Ihre Maxime: Davor darüber reden, um zusammen und konsensuell die Handlungsprinzipien zu erarbeiten, an denen sich das nachfolgende Handeln zu orientieren hat. Selbst wenn man dem orthodoxen Moraldiskurs folgt, müssen Handlungsbegründungen, die einem Prozess vor dem kantschen 'Gerichtshof der Vernunft' 79 standhalten sollen, einer Reihe von Bedingungen genügen. Schon auf dieser Ebene sind Bedenken anzumelden: Zum einen muss eine stichhaltige Argumentation rational sein und das heißt z.B., dass sie nachvollziehbar und prüfbar sein muss und nicht selbstwidersprüchlich sein darf. Die Aneinanderreihung von Wendungen wie "muss" und "darf nicht" belegt den Befehlston, der in Forderungen der Moral liegt. 78 Als Korrektiv für die niederschmetternde Erfahrung, zur Rechenschaft gezogen zu werden für unwiderrufliche Folgen eigenen Handelns, die man zum Zeitpunkt der Tat gar nicht absehen konnte und die durch das Handeln unkontrollierbarer Anderer mitbedingt sind, hat Hannah Arendt (1983 3 , 231) die menschliche Fähigkeit zur Verzeihung erkannt. 79 Auf diese Metapher wird bei der Diskussion der Strategien des "intuitiven Anwalts" noch ausführlich eingegangen (siehe Fußnote 131, S. 514; S. 520). <?page no="349"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 331 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 5.1.2. Erste Annäherung: Zwei Moral-Definitionen In einer ersten Annäherung wird eine semantische Klärung versucht. Wie wird das Wort 'Moral' gebraucht? Was bezeichnet es? Für eine vorläufige Orientierung sollen dazu zwei Definitionsbeispiele betrachtet werden, die 2400 Jahre auseinander liegen. Beispiel 1: Bayertz' Moraldefinition Es gibt vermutlich mehr Moraldefinitionen als Mikropolitik- oder Ökonomie- Definitionen. Ich möchte am Beispiel der folgenden wohldurchdachten Begriffsbestimmung veranschaulichen, welche Fülle von Voraus-Setzungen zu be- (ob)achten ist: "Mit dem Begriff 'Moral' bezeichnen wir ein System von Regeln, Idealen oder Tugenden, dessen Funktion vor allem darin besteht, Handlungen zu verhindern, die den elementaren Interessen anderer Menschen abträglich sind" (Bayertz 2004, 12f.). Einige Nach-Fragen zu dieser Definition: - Ist mit System ein theoretisch oder methodisch begründetes Zusammenhangsmuster gemeint oder nur eine unverbundene Aufzählung von mehreren Komponenten? - Wenn als Elemente Regeln, Ideale oder Tugenden genannt werden: Ist diese Aufzählung erschöpfend oder soll sie nur Beispiele nennen, die beliebig ergänzt werden können oder müssen (z.B. durch Konzepte wie Normen, Standards, Werte etc.)? Wie qualifiziert sich etwas für die Aufnahme in die oder den Ausschluss aus der Liste? Wie ist das oder in der Auflistung gemeint? - Gibt es Alternativen zur Strategie, Moral über ihre Funktionen (also ihre objektiven Wirkungen) zu definieren? - Geht es allein um Handlungen oder sind zusätzlich oder stattdessen z.B. Prämissen oder Haltungen wichtig oder kann auch die Genese der genannten Regeln, Ideale oder Tugenden problematisiert werden? - Welche Überlegungen stehen hinter der Strategie Bayertz', moralische Aussagen auf das Unterlassen oder Verhindern von Handlungen einzuschränken und positive Empfehlungen auszuschließen? - Was sind elementare Interessen anderer? Was sind elementare Interessen anderer? Welche nicht-elementaren Interessen anderer dürfen unbedenklich beeinträchtigt werden? Was bedeutet im Praxisfall 'beeinträchtigen' (Ein erzie- <?page no="350"?> 332 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ herisches Verbot jetzt kann Fehlentwicklungen später vorbeugen)? Soll z.B. zwischen subjektiven und objektiven Interessen oder zwischen Werten und Interessen unterschieden werden? - Wenn Moral immer den Bezug auf andere Menschen impliziert: sind dann alle anderen gemeint? Auch die künftigen? Oder wäre eine Moral denkbar, die bestimmte Menschen ausschließt (z.B. Herrscher, Sklaven, Feinde, Terroristen, Verbrecher, Erbkranke usw.)? Bleibt moralisches Handeln auf Menschen beschränkt und darf man z.B. Tiere töten, essen, quälen? - Wie wird - wenn Moral auf das Handeln Anderen gegenüber beschränkt wird - der Ausschluss des Selbstbezugs begründet? Darf man sich sich selbst gegenüber alles erlauben (z.B. Masochismus, Drogenkonsum, Selbstmord)? Beispiel 2: Thrasymachos' Definitionen (Platon) Als zweites Beispiel greife ich den berühmten Gerechtigkeitsdialog 80 Platons im ersten Buch der Politeia heraus: Platon (1916 4 / ca. 380 v.Chr.) lässt Thrasymachos im Gespräch mit Sokrates drei Moralbegründungen formulieren. Nachdem Thrasymachos zuerst behauptet hatte, Gerechtigkeit (Moral) sei "nichts anderes als der Vorteil des Stärkeren" (Staat I, 338), nennt er dann gerecht, was der Vorteil der bestehenden Regierung sei (338- 339) und schließlich vertritt er die Position, "dass die Gerechtigkeit und das Gerechte in Wahrheit der Vorteil eines anderen (ein fremder Vorteil) ist, nämlich das den Stärkeren und Herrschenden Zuträgliche, dagegen der Gehorchenden und Dienenden eigener Schaden" (343). Natürlich widerlegt Sokrates diese Auffassungen, aber seine Argumentation bleibt - wie Kommentatoren registrieren - ungewohnt kraftlos. Auf jeden Fall aber wird Thrasymachos zum Sprachrohr einer offenbar weit verbreiteten Moralauffassung gemacht, die für sich in Anspruch nimmt, die realen Verhältnisse zu beschreiben und die die (sokratische) Gegenposition als weltferne idealistische Träumerei verspottet. Als Quintessenz aus der Parabel vom "Ring des Gyges 81 " folgert Glaukon im II. Buch der 'Politeia' [wobei noch einmal daran zu erinnern ist, dass 'gerecht' mit 'moralisch' (in unserem Sinn) übersetzt werden kann]: 80 Weil in Athen zu Zeiten Platons der Begriff der Moral oder Ethik nicht existierte, wird der damalige Begriff der Gerechtigkeit oder Rechtschaffenheit meist mit unserem heutigen Verständnis von Moral gleichgesetzt. Περι Δικαιοσυνηζ (peri dikaiosynes: Über die Gerechtigkeit) war einer der herkömmlichen Titel für die Dialoge, die heute als Politeia/ Staat bekannt sind. <?page no="351"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 333 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ "[...] dass niemand aus freien Stücken gerecht ist, sondern nur unter dem Drucke des Zwangs, weil eben die Gerechtigkeit kein eigentliches Gut ist. 82 Denn jedermann hält die Ungerechtigkeit an sich für viel nützlicher als die der Gerechtigkeit, und das mit Recht, wie der behaupten wird, der über diese Frage urteilt. Denn wer im Besitze einer solchen Freiheit sich jedes Unrechts enthalten und fremdes Gut nicht antasten würde, den würde jeder, der es merkte, im Stillen für höchst unglücklich und töricht halten; in der Aussprache untereinander würden sie ihn loben und sich dabei gegenseitig Sand in die Augen streuen, aus Furcht sonst Unrecht zu erleiden" (Platon, Staat II, 360). Diese auf individuellen Vorteil gerichtete Argumentation wird später - zugespitzt in der Bienenfabel Bernard de Mandevilles (1968/ 1705) - moralisch neutralisiert bzw. sogar umgedreht, wenn der kollektive Nutzen individueller Laster behauptet wird (bonum per malum 83 -Hypothese, siehe Marquard 1984, 45ff.). Die radikale Auffassung, dass Moral immer die Gesetze der Herrschenden spiegele und ihrem Vorteil diene, findet ihre polare Entsprechung in der von Kallikles vertretenen Position (im Dialog Gorgias): Er entlarvt Moral als die Strategie der Vielen, Schwachen und Unterlegenen, sich gegen die Starken und Überlegenen zu wehren, um ihnen das Mehr, das sie 'natürlich' verdienen, vorzuenthalten. Mit dieser 'Genealogie der Moral' kann Kallikles als das Vorbild gesehen werden, nach dem Nietzsche seine Auffassungen über die Herden- und Sklavenmoral des Christentums modelliert hat. Die mikropolitische Position wäre demzufolge dem Standpunkt des Kallikles verwandt: Es sind die heimlichen, subversiven Machenschaften der Vielen, Unteren 81 Gyges war ein Hirte, der in einer Höhle einen Ring fand, der seinen Träger unsichtbar machte. Als Bote der Hirten nutzte er den Ring am Hof seines Königs Kandaules und führte auch dem König das Geheimnis des Rings vor. Der König zeigte ihm, um die durch den Ring verliehene Unsichtbarkeit zu testen, in seinen Schlafgemächern stolz die schöne nackte Königin. Als die so Entehrte davon erfuhr, verführte sie Gyges und überredete ihn, den König zu töten. Gyges tat es und wurde selbst König. - Glaukon fragt nun rhetorisch, was wäre, wenn es zwei solcher Ringe gäbe und sich den einen ein Gerechter, den anderen ein Ungerechter ansteckte. Seine Antwort: beide "gingen denselben Weg". Und mit geradezu prophetischer Gabe weissagt er das Schicksal, das 400 Jahre später ein Gerechter erleiden wird: "... bei solcher Gemütsverfassung wird der Gerechte gegeißelt, gefoltert, in Ketten gelegt und geblendet werden an beiden Augen und schließlich wird er nach allen Martern noch ans Kreuz geschlagen und so zu der Einsicht gebracht werden, dass es nicht das Richtige ist gerecht sein zu wollen, sondern es scheinen zu wollen" (Platon, (1916 4 / ca. 380 v.Chr., 362). 82 In der Schleiermacher-Übersetzung heißt es an dieser Stelle: "... weil das Gerechte für den einzelnen kein Gut sei." 83 Gutes durch Schlechtes. <?page no="352"?> 334 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ oder Unterlegenen, mit denen sie die Stellung der Überlegenen oder die durch diese geschaffene Ordnung unterminieren, um eigene Interessen durchzusetzen. Die Assoziation von Moral mit "fremdem Vorteil" kann jedoch auch noch in einer radikaleren Weise gedeutet werden: Nur dann nimmt man den "moralischen Standpunkt" ein, wenn man tut, was den eigenen Interessen widerspricht (siehe auch Bayertz 2004, 13), weil nämlich alles, was einem selbst nützt, aus Eigenliebe getan wird und nicht aus moralischen Beweggründen. Zu bezweifeln ist allerdings, ob man überhaupt freiwillig tun kann, was den eigenen Interessen widerspricht. Ist nicht allein diese Aussage schon in sich widersprüchlich? Wenn es nämlich mein Interesse wäre, moralisch zu handeln, folgte daraus nach der fremder-Vorteil-These, dass ich, um moralisch zu bleiben, nicht moralisch handeln dürfte. Die These, dass Moral etwas für Deppen ist ("Der Ehrliche ist immer der Dumme") wird auch bestätigt durch empirische Untersuchungen zum zentralen Paradigma der spieltheoretischen Modellierung der (Kooperations-)Moral, dem Prisoner's Dilemma Game (siehe dazu die Zusammenstellung aus Weise, die auf S. 391ff. zitiert wird). Baut man die Unvereinbarkeit zwischen 'rational egoistischem' und 'moralischem' Handeln in die Definition ein, kann man konsequenterweise deduzieren, dass, wer aus Gründen der Transaktionskostenersparnis regeltreu agiert, nicht moralisch, sondern klug (rational) handelt. Wirtschaftsethiker, die ständig die Formel wiederholen, dass sich Moral 'lohnt', argumentieren so gesehen nicht moralisch (siehe dazu auch auf S. 366f. bzw. S. 418ff. die Begründungen der Positionen von Friedman und Homann). Moralisch handelt ein Akteur dann, wenn er auf Transaktionskostenersparnis verzichtet, weil ihm andere Güter wichtiger sind. Er nutzt z.B. billige Kinderarbeit nicht, weil er die Rechte der Kinder achtet, läuft damit aber Gefahr, wegen seiner dann höheren Kosten/ Preise als Wettbewerber auszuscheiden. Allerdings kann der Verzicht publik gemacht werden und als Marketingargument Kunden für das nun als 'fair' wahrgenommene Produkt gewinnen. Das vorher preiswürdige 'moralische' Handeln wäre plötzlich nur noch 'rationales' oder 'ökonomisch effizientes'. Es tritt der perverse Fall ein, dass die guten (ökonomischen) Folgen die reinen (moralischen) Gesinnungen neutralisieren oder konterkarieren. Ein konsequent eigennütziger Mikropolitiker sucht, wie schon Glaukon folgerte, aus Gründen der Reputationsförderung moralisch zu scheinen, nicht: zu sein. <?page no="353"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 335 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Wollte man ihn nicht an seinen Wirkungen messen (die durchaus gut sein können), sondern an seinen womöglich egoistischen Absichten, dann stünde man vor dem Problem, ihm diese Absichten kaum nachweisen zu können, weil er alles daran setzen wird, einen guten(! ) Eindruck zu machen. Die Harmonie-These ("Tugend lohnt"), die von einigen Autoren vertreten wird, ist eher beschwörendes Wunschdenken als erwiesene Realität [so auch Kuhn & Weibler (2003, 378) in Kritik der Positionen von Frey, Faulmüller, Winkler & Wendt (2002) oder Höhler (2002)]. Wenn Gutes tun und gutes Tun sich schon auf Erden auszahlte, dann wäre nicht einsehbar, warum so wortreich an die ManagerInnen appelliert werden muss, Führungs- und Unternehmensethik endlich ernst zu nehmen. Man wendet sich dann nicht an ihren moralischen Sinn, sondern an ihren nüchternen Verstand (Adam Smith lässt grüßen) und kehrt letztlich die thrasymachische Volksmeinung um: die Unmoralischen sind die Dummen! (darauf werde ich noch einige Male zurückkommen). Es eröffnen sich vermutlich mehr Optionen, wenn man in der Frage "Eigener oder fremder Vorteil? " nicht die Wahl erzwingt zwischen (künstlich) entgegengesetzten Positionen ("entweder - oder" vs. "sowohl - als auch"), sondern auch die Möglichkeit einräumt, dass beides verschiedenen (nicht: gegensätzlichen! ) Geltungssphären angehört. Effizienz getriebenes und Moral orientiertes Denken (und vor allem: Handeln) können dann in allen möglichen Ausprägungsgraden zusammen vorkommen und keine der Kombinationen garantiert notwendigerweise ökonomischen Erfolg. 5.1.3. Nächster Anlauf: Ethik-Theorien Die beiden diskutierten Definitionsbeispiele sind aus einer Menge von vermutlich tausenden willkürlich herausgegriffen. Sie können bestenfalls die Nichttrivialität der Fragestellung demonstrieren. Ein besserer Überblick über die Diskurslandschaft ist zu erwarten, wenn nicht einzelne Setzungen zu Grunde gelegt werden, sondern die Geschichte der theoretischen Annäherungen resümiert wird. Nicht mehr das moralische Handeln, sondern die Reflexion dieses Handelns steht im Mittelpunkt. Damit aber stellt sich zugleich die Aufgabe, einen Überblick über eine der ältesten und besonders kontrovers diskutierten philosophischen Fragestellungen zu geben. In der Formulierung von Kant: "Was soll ich tun? " oder: Wann ist Handeln richtig, tugendhaft, <?page no="354"?> 336 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ angemessen, achtbar, gut usw.? Ethik-Lehrbücher 84 machen zur Orientierung in der unüberschaubaren Szene Systematisierungsvorschläge (die wiederum kontrovers diskutiert werden). Der folgende Überblick stellt Grundzüge der am häufigsten behandelten Ansätze vor; die Absicht ist nicht, lückenlose Vollständigkeit oder analytische Tiefe anzustreben, sondern einen ersten Eindruck zu geben von den höchst unterschiedlichen Strategien, mit denen die Frage nach der Moral (auch der der Mikropolitik) beantwortet werden kann. Nach der Kurzskizze des jeweiligen Ansatzes kommentiere ich ihn aus mikropolitischer Perspektive. Eine kurze Skizze wichtiger Ethik-Theorien Teleologie I: Hedonismus, Eudämonologie Die Person handelt wie es das Denkmodell des homo oeconomicus unterstellt: gründlich analysierend, rational entscheidend, ihren Nutzen maximierend. Sie denkt(! ) dabei als 'rationaler Egoist' nur an sich; ihr Handeln ist geleitet vom Streben nach Wohl-Befinden (eu-daimonia) oder Lust bzw. Glück (hedone). Zum rational vorausschauenden Kalkül gehört auch, aus Angst vor Strafe oder Liebesentzug an sich attraktive Verhaltensintentionen zu unterdrücken. Lustmaximierung ist allerdings eine äußerst herausfordernde Such- und Rechenaufgabe: Man müsste alle Optionen aufspüren, auflisten, bewerten und bilanzieren und dürfte sich nicht zufrieden geben, bis man nicht das Maximum gefunden hat (eine unlösbare Aufgabe, denn jedes erreichte Maximum ist dies nur scheinbar, weil sich eine weitere Steigerung denken lässt: das Ziel entfernt sich bei der Annäherung). Vermutlich vergeht einem jede Lust, wenn man als Buchhalter der Lust überdies versucht die Netto-Lust zu kalkulieren, also den Lustgewinn ins Verhältnis zu setzen zu den Lustkosten. Genau genommen müsste man schließlich die Netto- Lust auch noch auf die Investitionen beziehen, die zusätzliche Lusteinheiten erfordern (würden). Schon Mephisto registrierte: "Daran erkenn' ich den gelehrten Herrn ... was ihr nicht rechnet, meint ihr, sei nicht wahr, ... was ihr nicht münzt, das meint ihr, gelte nicht! " Wer sein Genießen abmisst und ausrechnet, endet zwangsläufig als Falschrechner und Falschmünzer. 84 Etwa: Shaw (2002 4 ), Velasquez (2002 5 ), Korff (1999), Frankena (1986 4 ), Lefkowitz (2003), Singer (1997), Hütte (2002). <?page no="355"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 337 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Einige Autoren (z.B. Gert 1983, 108f.) gehen ohnehin davon aus, dass die eudämonische Grundformel: "Mehre das Glück" bestenfalls ein moralisches Ideal, aber keine moralische Regel ist, denn die könnte allenfalls lauten: "Vermeide Unglück! " Aus hedonistischer Perspektive ist der Mikropolitiker ein 'rationaler Egoist', der das Gute für sich will; dies schließt nicht aus, dass er unter dieser Bedingung auch die langfristigen Bedingungen des Guten für alle will. Teleologie II: Utilitarismus Die Person handelt utilitaristisch, wenn sie gründlich und rational abwägt und stets so entscheidet, dass für die größte Zahl (oder alle) der größtmögliche Nutzen resultiert. Ein solches Programm scheitert allein schon daran, dass man nicht von allen wissen kann, was die Nutzensvorstellungen jedes Einzelnen sind, ob, und wenn ja, wie sie interpersonal zu aggregieren sind und welche (und zwar alle! ) Folgen und Nebenfolgen zu erwarten sind (perfekte Voraussicht). Diese Position legt den Mikropolitiker darauf fest, ein Mittel-Taktiker zu sein und vom behaupteten guten Zweck her auch fragwürdige Werkzeuge heilig zu sprechen. Vorteil für alle heißt zudem nicht: für jeden ein gleich großes Stück vom Kuchen. Offen bleibt auch, wann und wie sicher der Einzelne mit diesen Vorteilen rechnen darf (in ferner Zukunft, eventuell). Deontologie I: Tugendethik, materiale Wertethik Die Person orientiert sich nicht an den Konsequenzen ihres Tuns, sondern handelt entsprechend verinnerlichter Tugenden, Werthaltungen, Gesinnungen, Pflichten (deon heißt: Pflicht, Sollen). Es werden - nach dem Vorbild des Dekalogs - materiale (inhaltliche) Auflistungen der Grundwerte, Kardinaltugenden oder Hauptpflichten vorgelegt. Als Beispiele für mikropolitische Grundwerte, die zumindest im ökonomischen Kontext mit Zustimmung rechnen können, lassen sich nennen: Wendigkeit, Agilität, Lebendigkeit, Innovation, Improvisation, Wagemut, Zivilcourage, Ertüchtigung im Wettkampf, Selektion der Besten ... <?page no="356"?> 338 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Deontologie II: Prozedurale Vernunft-Ethik Die Person hat keine inhaltlich definierten Werte als Maßstab, sondern eine allgemeine Verfahrensregel, zum Beispiel die Anweisung - um den kategorischen Imperativ Kants als das bekannteste Beispiel zu zitieren - so zu handeln, dass die Maxime des Willens gleichzeitig auch Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnte. Varianten sind die 'Goldene Regel' in negativer Formulierung ("Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem anderen zu! ") oder in positiver Form: ("Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst! "). Charakteristisch für diese Form der Moralbegründung ist, dass ihre Maximen universelle und unbedingte Geltung beanspruchen, also nicht von den Umständen oder der Lage der Dinge abhängig gemacht werden. Der kategorische Imperativ der Mikropolitik könnte lauten: Handle so, dass du auf deine Rechnung kommst, ohne dir andere unnötig zu Feinden zu machen! Deontologie III: Prozedurale kommunikative Ethik, Diskursethik DiePerson berät sich mit anderen im herrschaftsfreien Dialog, um sich dadurch aufzuklären über zwanglos akzeptierte konsensfähige Regeln des Handelns. Ein Mikropolitiker ist von Hause aus nicht daran interessiert, einen integren Diskurs zu führen. Er geht vielmehr strategisch-manipulativ vor; seine Maxime ist: Nutze die äußere Form eines fairen Diskurses, um mit beeindruckenden Gründen zu überzeugen (um Akzeptanz zu werben, um unhaltbare Argumente zu entkräften etc.), denn damit sicherst du dir einen wertvollen Akzeptanz-Vorschuss. Deontologie IV: Vertrags- oder Gerechtigkeitsethik, Kontraktualismus Menschliches Zusammenleben bedarf der Regeln und diese Regeln sollen gerecht sein. Aus kontraktualistischer Perspektive wird die moralische Entscheidung nicht geleitet von der Frage, ob sie vorteilhafte Folgen hat oder guten Gesinnungen entspringt, sondern ob sie den geltenden Vereinbarungen (Normen, Gesetzen, Regeln etc.) entspricht. Moralbegründungen, die auf das Prinzip der Gerechtigkeit (oft wird auch synonym von 'Fairness' gesprochen) rekurrieren, finden sich gehäuft in der US- <?page no="357"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 339 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Business-Ethics-Literatur. Dabei werden meist verschiedene Arten von Gerechtigkeit differenziert, vor allem distributive Gerechtigkeit (gerechte Verteilung von Ressourcen oder Ergebnissen) und prozedurale Gerechtigkeit (faire Verfahren, faire Anwendung von Prinzipien 85 ). Als weitere Varianten - siehe Colquitt, Conlon, Wesson, Porter & Ng (2001) - werden Interaktions-Gerechtigkeit (Behandlung aller Personen mit Höflichkeit, Würde, Respekt etc.) und Informations- Gerechtigkeit (über alles Wichtige informiert werden) erörtert. Eine Variante ist eine konventionalistische Ethik: Sie fordert dazu auf, unreflektiert oder reflektiert (siehe Kohlbergs Entwicklungsschema auf S. 535) den geltenden Normen zu folgen - weil es sich so gehört, weil es immer schon so war, weil es alle tun, weil nur so ein friedliches Zusammenleben möglich ist usw. Im allgemeinen erklären Vertragstheorien jedoch die jeweils existierenden Gesetze nicht für unantastbar (es könnten auch die Gesetze einer Feudal- oder Sklavenhaltergesellschaft sein), sondern - siehe Rawls - fordern Normierungen, denen jeder zustimmen könnte (wenn er seine Entscheidung hinter dem Schleier der Unwissenheit treffen müsste, der ihm verbirgt, welche Position er in dieser Gesellschaft einnehmen wird) und die die Schlechtestgestellten am meisten begünstigen. Eine Person, die an Gerechtigkeit orientiert ist, hält sich auch dann an die verbindliche Ordnung, wenn ihr das persönlich keinen Nutzen bringt oder wenn Werte verletzt werden, die ihr persönlich wichtig sind. Allerdings kann sie versuchen, die geltende legitime Ordnung in ihrem Sinn zu verändern, muss sich dabei aber an die vereinbarten Vorgehensweisen halten. Rechte und Pflichten Dies ist eine Sammelkategorie, die für eine Mischung aus materialer Wert-Ethik und prozeduraler Kontraktethik steht und vor allem in der amerikanischen 'Business Ethics'-Literatur als "Rights & Duties"-Ansatz verbreitet ist (zuweilen wird 85 Für Verfahren gelten die folgenden Bedingungen: Sie sollten a) bei allen Personen und zu allen Zeiten in gleicher Weise angewandt werden, b) verzerrungsfrei gehandhabt werden (eine dritte Partei darf keine eigenen Interessen in der Angelegenheit haben), c) sicherstellen, dass zutreffende Informationen gesammelt und genutzt werden, d) Mechanismen für die Korrektur fehlerhafter oder unzutreffender Entscheidungen bereitstellen, e) persönlichen oder vorherrschenden ethischen oder moralischen Standards entsprechen und f) sicherstellen, dass die Meinungen verschiedener Gruppen, die von der Entscheidung betroffen sind, berücksichtigt worden sind (nach Colquitt et al., 427). <?page no="358"?> 340 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ihr auch die Ethik Kants zugeordnet). Ein Beispiel für Arbeitnehmer-Rechte bietet die folgende Aufstellung von Velasquez, Moberg & Cavanagh (1983, 73): 1. Freie Zustimmung: Das Individuum hat das Recht, so behandelt zu werden, wie es in bewusster und freier Zustimmung behandelt werden will. 2. Privatheit: Das Individuum hat das Recht, außerhalb der Arbeitsstunden zu tun was es will und die Information über sein Privatleben zu kontrollieren. 3. Gewissensfreiheit: Das Individuum hat das Recht, jede Anweisung zurückzuweisen, die allgemein anerkannte moralische oder religiöse Normen verletzt. 4. Redefreiheit: Das Individuum hat das Recht, gewissenhaft und aufrichtig die Moral oder Legalität von Unternehmenshandlungen zu kritisieren, solange die Kritik nicht die Rechte anderer Individuen in der Organisation verletzt. 5. Faires Verfahren: Das Individuum hat das Recht auf eine faire und unparteiische Anhörung, wenn es glaubt, seine Rechte seien verletzt worden. Lässt man im Gedankenexperiment die mikropolitischen Taktiken Revue passieren, die im 2. Hauptkapitel beschrieben werden, dann kann man sich leicht vorstellen, dass der gewiefte Mikropolitiker nicht in Verlegenheit geraten dürfte, wenn er sein Handeln zum Schein mit diesen Normen zur Deckung bringen will. Intuitionismus und Nonkognitivismus Ein mit Worten nicht oder nur unzulänglich rationalisierbares Gefühl bzw. tazites Wissen des Angemessenen, Richtigen, Gehörigen etc. leitet die Person. Darauf komme ich auf S. 343f.) zurück. Im folgenden Beleg 5-1 sind resümierend wesentliche Prinzipien oder Regeln der vorgestellten Ansätze zusammengestellt. Aus mikropolitischer Sicht ist diese Vielfalt attraktiv, weil sie ein breites Spektrum von Wahlmöglichkeiten für die Begründung eigenen Handelns bietet. <?page no="359"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 341 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Beleg 5-1: Ethik-Theorien - reformuliert als Handlungsmaximen Bemerkenswert ist bei den folgenden Rekonstruktionen, dass sie quasi halbierte Regeln aufführen, denn es fehlt die Wenn-Komponente. Sie wird bei Grund-Regeln durch ein generelles, unausgesprochenes "Immer" ersetzt. Eudämonologie: Finde und bewerte die Folgen und Nebenfolgen für die Handlungsalternativen, die dir offen stehen, und wähle jene Alternative aus, die dir - alles in allem und auf lange Sicht - den größten Vorteil bringt. Utilitarismus: Finde und bewerte die Folgen und Nebenfolgen für die Handlungsalternativen, die dir offen stehen, und wähle jene Alternative aus, die allen Betroffenen (oder zumindest den meisten) - alles in allem und auf lange Sicht - den größten Vorteil bringt (oder keinen schlechter, zumindest einen aber besser stellt bzw. die am meisten Benachteiligten besser stellt). Werte-Ethik: Orientiere dein Handeln an den Leitlinien, die dir deine kulturelle Überlieferung, deine Religion, deine Organisation etc. gegeben haben und die du als verbindliche menschliche Grundwerte anerkennst. Bilde in dir die entsprechenden Haltungen aus, die dich in Zweifelsfällen ohne langes Grübeln das Gebotene tun lassen. Vernunftethik: Handle - nach redlicher und vernünftiger Selbstprüfung - so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte (Kant 1986/ 1788, 53). Diskursethik: Handle nach jener Norm, deren voraussichtliche Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Interessenlagen und die Wertorientierungen eines jeden voraussichtlich ergeben, von allen Betroffenen gemeinsam zwanglos akzeptiert werden können (Habermas 1996, 60). Gerechtigkeit / Kontraktualismus / Rechte & Pflichten: Prüfe die bestehende Ordnung, ob sie allgemeinen (distributiven, prozeduralen, interaktionalen) Gerechtigkeitsprinzipien entspricht und unternimm gegebenenfalls Schritte, das Bestehende dem Gerechten anzunähern. Prüfe bei deinen Handlungen, ob sie den gesatzten legalen Rechten entsprechen. In der pragmatischen Fassung Homanns: Befolge die mit demokratischer Legitimation zu Stande gekommene Rahmenordnung. Innerhalb dieser Rahmenordnung sind alle mit ihr konformen Handlungen erlaubt. Fordere bei Defiziten in der Rahmenordnung die abgegebene moralische Verantwortung zurück und engagiere dich für die Beseitigung der Defizite. Intuitionismus: Wenn dir Zweifel kommen, was zu tun ist: Folge ohne langes Zögern deinem Gespür oder dem gesunden Menschenverstand. Lebe deine kultivierten Impulse! Lass' dich nicht auf abstrakte Argumentationen ein, die durch des Gedankens Blässe angekränkelt sind! <?page no="360"?> 342 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Fazit: Wider den Monotheismus der einen richtigen Ethiktheorie Es liegt nahe, nach dieser Revue der Bewerberinnen die Entscheidungsfrage zu stellen: Welche ist die Beste im ganzen Land? Welches ist die bewährteste, am meisten anerkannte, am häufigsten bestätigte, kurz: die richtige Theorie? In einer solchen Frage gibt sich die Angst vor der Ungewissheit und Mehrdeutigkeit zu erkennen, die durch eine - und nur eine - unumstößliche Gewissheit besänftigt werden soll. Es ist für den, der auf Richtiglösungen und 'one best way' hofft, kaum auszuhalten, wenn es für eine Frage mehrere gleich gültige Antworten gibt. An der einen richtigen Theorie festzuhalten, bringt alle Probleme des Monotheismus mit sich: Der eine Gott, vertreten durch seine beamteten Diener, wacht eifersüchtig über die Reinheit seiner Lehre und stürzt die Abgefallenen und Andersgläubigen in die ewige Verdammnis. Mit dieser ultimativen Drohung schützen die Wahrheitsfunktionäre ihre falliblen Auslegungen und ihre Deutungshoheit, die ihnen Macht und Ansehen gibt. Es wird Zeit zur Vielgötterei zurückzukehren, die mehrere Wahrheiten anerkennt und für verschiedene Lebens-Lagen andere Lebens-Regeln und Anrufungsinstanzen bereithält. Ein solcher Ansatz wäre, um wieder ins Profane zurückzukehren, auch einer funktional differenzierten Gesellschaft angemessen, in der die Funktionssysteme ohnehin nicht mehr miteinander reden und einander verstehen können. Jedes das Seine. Diese Maxime transportiert eine Doppelbotschaft: Zum einen bestätigt sie die hermetische Isolierung der Systeme und zum anderen bekräftigt sie den Anspruch, das zu bekommen, was dem System nach seiner unvermittelten Logik gebührt. Reflektiert man diese Ansätze aus einer mikropolitischen Perspektive, dann ist festzuhalten, dass sie größtenteils 'rein' und 'grundsätzlich' argumentieren und über die empirischen Kontexte des Handelns wenig Worte verlieren. In der verschmutzten Wirklichkeit aber gibt es Zwänge, Vermischungen, Gelegenheiten, Unklarheiten, Ambivalenzen, Intransparenzen, Zeitdruck etc. und das entscheidende/ handelnde Subjekt weiß oft genug selbst nicht, was es warum oder 'eigentlich' will. Ich werde deshalb in einem späteren Abschnitt (siehe S. 449ff.) ausführlich auf die (rekursive) Beziehung zwischen moralischen Regeln und praktischem Handeln eingehen. <?page no="361"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 343 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 5.1.4. Wann ist eine Moralbegründung vernünftig? Warum soll sie vernünftig sein? Während der Überblick über Ethik-Theorien die Bandbreite der methodischen Strategien und Inhalte von Moralbegründungen illustriert hat, geht es in den beiden folgenden Abschnitten um formale Erfordernisse, denen moralische Argumentation genügen soll. Im Abschnitt 5.1.4 diskutiere ich die drei wichtigsten Anforderungen an vernünftige Moralbegründungen (Konsistenz, Universalisierbarkeit, Prinzipienorientierung) und kommentiere sie aus mikropolitischer Perspektive. Der Abschnitt 5.1.5 skizziert akzentuierend einige Besonderheiten ethischen Argumentierens, mit denen es sich z.B. von Beschreibungen der Wirklichkeit, der Formulierung analytischer Sätze, empirisch prüfbarer Zusammenhangshypothesen oder pragmatischer Handlungsanweisungen abhebt. Es finden sich dabei spezifische Argumentationsmuster und zum Teil nicht explizit gemachte Voraus- Setzungen. Auch hier geht es mir nicht um eine erschöpfende Beschreibung, sondern um die Erschließung des mikropolitischen Potenzials dieser Eigenheiten. Zur plakativen Demonstration seien einleitend die Positionen von Nonkognitivisten und Intuitionisten referiert, die die Möglichkeit einer vernünftigen Moralbegründung bezweifeln. Eine radikale Zurückweisung der Behauptung rationaler Begründbarkeit ethischer Aussagen findet sich z.B. in Wittgensteins "Vortrag über Ethik" (1989). Nonkognitivisten erklären, dass moralische Aussagen als (normative) Aussagen über das Sollen nie an prüfbaren Tatsachenaussagen scheitern können, weil - so Hume - deskriptive und präskriptive Aussagen nicht ineinander überführbar oder aufeinander beziehbar sind (aus dem Sein folgt kein Sollen). Man kann Moral nicht mit außermoralischen Gründen rechtfertigen (und wenn man sie mit moralischen begründet, argumentiert man zirkulär). Die prominenteste Position des Nonkognitivismus (oder Nondeskriptivismus) ist die von Ayer: Moralische und wertende Urteile sind keiner rationalen oder objektiv gültigen Rechtfertigung zugänglich. Nach Ayers 'Emotivismus' sind sie allein Ausdrucksformen von Emotionen. "Der Satz 'Töten ist falsch' z.B. bedeutet etwa dasselbe wie 'Töten, pfui! ' […] Auch die Konzeption vieler Existenzialisten gehört hierher. Sie betrachten grundlegende moralische und wertende Urteile […] als willkürliche Festlegungen oder Entscheidungen, für die eine Rechtfertigung nicht möglich ist" (Frankena 1986, 128). <?page no="362"?> 344 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Mikropolitik moralisch zu analysieren, käme für einen klassischen Nonkognitivisten demnach auf das Gleiche hinaus, wie zu sagen: Mikropolitik, pfui! Bei der Erörterung der POPS (siehe Kap. 1, S. 45ff. u. 54ff.) und der Diskussion der Definitionen von Mintzberg, Klein, Gebert usw. habe ich Belege für diese Position geliefert. Die Moralargumentation beschränkt sich weitgehend auf den Versuch, den Leser für die eigene ablehnende Position zu gewinnen. Intuitionisten gehen davon aus, dass "... unsere grundlegenden Prinzipien und Werturteile intuitiv gegeben oder in sich evident sind; dass sie keinerlei argumentativer Rechtfertigung, sei es logischer oder psychologischer Natur, bedürfen oder in den Worten Descartes', 'klar und deutlich wahr' sind" (Frankena 1986, 124). Damit bestreiten Intuitionisten die Möglichkeit zur (Letzt-)Begründung von Moral, weil, was 'moralisch' bedeutet, nicht durch Rekurs auf andere Begriffe deduziert oder erklärt werden kann (genauso wie man niemandem, der von Geburt an blind ist, mit Worten die Farbe 'rot' beschreiben kann). In einer bestimmten Kultur und Lebensform sozialisierte Menschen wissen 'intuitiv', was in dieser Kultur mit 'moralisch' gemeint ist. Allerdings sagt subjektive Urteilsgewissheit wenig aus über Urteilsrichtigkeit, weder im kognitiven, noch gar im moralischen Bereich. Eine intuitive (oder intuitionistische) Würdigung von Mikropolitik würde es sich ersparen, logisch konsistente Argumente zu formulieren; sie würde darauf setzen, dass jeder Beteiligte sofort spürt, was 'richtig' ist, ein ungutes (Bauch-)Gefühl hat, wenn etwas nicht (zusammen-)stimmt, alarmiert ist, wenn er merkt, dass es nicht mit rechten Dingen zugeht. Auch wenn man MikropolitikerInnen nichts nachweisen kann, und wenn sie sich beredt und überzeugend aus der Affäre ziehen: es bleibt - doppelt fragwürdig - ein ungutes Gefühl. Noch so wortreiche Umschreibungen von Fiesheit, Durchtriebenheit, Schwejkismus oder Intrapreneurship treffen den gespürten Kern der Sache nicht wirklich. Wer kein Nonkognitivist oder Intuitionist ist, glaubt(! ) an die Möglichkeit einer vernünftigen Begründung moralischer Forderungen. Sein Argumentieren muss dann einer Reihe von Verpflichtungen genügen, die im Folgenden vorgestellt werden, wobei es mir, wie schon angekündigt, in erster Linie um die mikropolitisch nutzbaren Implikationen der drei diskutierten Kriterien (Konsistenz, Universalisierbarkeit, Grundsätzlichkeit) geht. <?page no="363"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 345 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Konsistenz (Stimmigkeit, Widerspruchsfreiheit) Konsistenz kann in zwei Hinsichten, einer theoretischen und einer empirischen, betrachtet werden. Theoretisch ist logische Widerspruchsfreiheit gemeint (und damit wird jenes Beweisverfahren angewandt, das Sokrates so gern praktiziert hat, wenn er seine Gegner des Selbstwiderspruchs überführte). Empirisch gesehen kann es um zwei Dinge gehen: einmal um die Übereinstimmung von Denken (Argumentieren, Entscheiden) und Handeln und zum zweiten um gleiches Denken (oder Handeln) in unterschiedlichen Situationen oder zu verschiedenen Zeiten. Sich selbst unter allen Umständen treu bleiben kann allerdings auch als Umschreibung für Lernunfähigkeit gelesen werden. Mikropolitische Akteure müssten, auch wenn sie den Anschein der Konsistenz zeigen, auf faktische Inkonsistenz (Unberechenbarkeit) bestehen, weil die überraschende Abweichung vom Gewohnten und Erwarteten ihre Opponenten oder Opfer unvorbereitet trifft und (den Aufbau von) Schutzstrategien unterläuft. Konsistenz ist ohnehin nur in der gedanklichen oder sprachlichen Rekonstruktion zu erreichen, nicht aber in der Wirklichkeit. Wenn diese 'inkonsistent' ist, ist es konsistent inkonsistent zu handeln. Wenn sich eine Mikropolitikerin - paradox genug - aus konsequenter Inkonsistenz einen Vorteil verspricht, um das Überraschungsmoment auf ihrer Seite zu haben, muss sie vermeiden, Gleiches gleich zu behandeln, sie muss Worte und Taten trennen (Heuchelei) und die Anders- oder Neuartigkeit der jeweiligen Situation behaupten, um nicht auf Präzedenzfälle festgelegt zu werden, die die eigene Handlungsgeschichte liefert. Dabei ist allerdings die schon erwähnte Differenz zwischen 'für sich' und 'für andere' zu bedenken: Im Sinne der eigenen geheim gehaltenen Absichten kann das für andere scheinbar erratische Vorgehen durchaus rational sein (konsequent auf die eigenen Ziele ausgerichtet sein). Erfolgsstrategische Rationalität ist durch konsequenten Zweckbezug definiert - aber dieser Zweck muss nicht unbedingt der vom Akteur behauptete oder vom Beobachter vermutete sein. Universalisierbarkeit (Verallgemeinerbarkeit, allgemeine Geltung) Universalisierbarkeit meint, dass immer und an alle die gleichen moralischen Maßstäbe angelegt werden. Argumente dürfen nicht lediglich lokale oder zeitlich beschränkte Gültigkeit haben, sondern haben für jedermann, zu allen Zeiten, unter allen Umständen Geltung; das setzt das eben behandelte Konsistenzprinzip voraus und fort. <?page no="364"?> 346 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Eine Nagelprobe besteht z.B. darin zu prüfen, ob einer das, was man tun sollte, auch für sich gelten lässt. Es ist für einen rationalen Egoisten - oder Mikropolitiker - nicht selbstwidersprüchlich, wenn er verlangt, dass alle sich an die Gesetze und Regeln halten sollen, er selbst sich aber das 'Recht' herausnimmt, gegebenenfalls davon abzuweichen, wenn sich das für ihn lohnt. Auch Doppelmoral (Scheinmoral) funktioniert so: die Vorzüge der Abweichung genießen, ohne die Lasten der Gesetzestreue zu tragen. Das Argument 'Wenn das alle täten ...' verfängt nicht, weil es Erfolgsprämisse des Profiteurs ist, dass sich eben nicht alle getrauen, von der Regel abzuweichen, oder nicht alle die dazu nötige Sozialkompetenz haben, oder nicht alle im Fall der Entdeckung die nötigen Ressourcen für Erpressung, Bestechung oder Freikauf haben und einsetzen usw. Das sind zugegebenermaßen eigenwillige Interpretationen von 'Universalisierbarkeit', mit denen ich darauf aufmerksam machen möchte, dass, wenn von allen die Rede ist, sie zwar alle dieselbe Würde und dieselben Grundrechte haben, nicht aber dieselben Interessen, Ressourcen (Eigentumsrechte! ), Fähigkeiten etc. Die Unterscheidung zwischen dem Ich- und dem Man-Standpunkt ist der Täter- Beobachter-Opposition äquivalent (bzw. der Täter-Ratgeber-Opposition, wobei die handlungsentlastet argumentierenden Moralphilosophen die Ratgeber-Position besetzen). Wenn alle die Kosten einer Leistung tragen, einer aber (unentdeckt, unsanktioniert) nicht, dann fährt dieser eine besser. In der ökonomischen Theorie wird diese Konstellation als das Trittbrett- oder Schwarzfahrer-Problem behandelt: Der mikropolitische Akteur fragt nicht primär "Warum soll man moralisch handeln? ", sondern "Warum sollte auch ich moralisch handeln? " Die Frage "Darf ich - ohne mich an ihrer Schaffung zu beteiligen - die kollektiven Vorleistungen der anderen egoistisch ausnutzen? Darf ich andere für eigene Zwecke instrumentalisieren? " kann auf verschiedene Weise beantwortet werden, je nachdem welche Intentionen oder Folgen unterstellt werden 86 : 1. "... wenn ich ihnen damit schade (oder sie an der Verwirklichung ihrer Interessen hindere)? " Beispiele sind Paragraphenreiterei, Dienst nach Vorschrift, Mobbing, Intrige, Falschinformation - in der Absicht, gefährliche Opponenten auszuschal- 86 Außerdem kommt es auf den Adressaten dieser Bitte um Genehmigung oder Erlaubnis ("darf ich? ") an: Frage ich mich (mein Gewissen)? Frage ich einen Experten? Richte ich die Frage an alle Betroffenen oder Beteiligten oder an den 'Gerichtshof aller Vernünftigen'? Wer auch immer antwortet: seine Stellungnahme muss weiteren Nachfragen (den Nachfragen Weiterer) standhalten. <?page no="365"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 347 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ten, deren Erfolg einem selbst oder aber anderen Organisationsmitgliedern oder 'der Gesamtorganisation' erhebliche Nachteile bringen würden. 2. "... wenn ich damit einen persönlichen Vorteil habe, ohne anderen zu schaden? " Zum Beispiel die fair entlohnten Vorleistungen anderer so zusammenführen, dass das eigene Projekt ein großer Erfolg wird. 3. "...wenn ich damit einen Vorteil für alle (oder fürs 'Ganze') anstrebe? " Vielleicht sehen 'die anderen' nicht sofort oder so klar wie ich, dass und inwiefern ihnen mein Handeln langfristig nutzt? Beispiele sind Eigenverantwortliches Handeln oder Organizational Citizenship Behavior (s. Kap. 1, S. 73ff.), z.B.: Es ist dann erlaubt oder sogar geboten, Regeln im (unterstellten) Organisationsinteresse zu verletzen. 4. "... wenn ich dadurch einem anderen einen Vorteil verschaffe, der Dritten vorenthalten bleibt? " Beispiele sind Günstlingswirtschaft oder Bestechung. Die Forderung nach Universalisierbarkeit gründet sich auf Fairness-Überlegungen und setzt die Fähigkeit und Bereitschaft voraus, sich in die Lage eines Anderen bzw. des generalisierten Anderen hinein zu versetzen. Leitfrage ist: Ist die Entscheidung oder Handlung (auch dann) gut zu heißen, wenn sie mit fremden Augen (z.B. denen des Betroffenen) gesehen wird? Die Forderung nach Selbstlosigkeit oder "Veranderung" des Standpunkts [wie Nietzsche (1906, Bd. 9, 227) es genannt hat] ist jedoch nicht selbstverständlich, sondern ihrerseits begründungsbedürftig. Mit welchen Gründen orientiert man Regeln oder Begründungen an den Interessen anderer (im Ergebnis: aller) Menschen? Kant meinte, dass im Anderen (und in der eigenen Person) die Idee der Menschheit verwirklicht und zu respektieren ist. Kann aber zugleich sichergestellt werden, dass eine Person, die dieser Aufforderung folgen will, in der Lage ist, die Bedürfnisse Anderer zutreffend einzuschätzen? Kann man nicht vielmehr moralische Appelle stets nur an sich selbst richten? 87 Kann ein einzelner - dem kantschen Vorbild folgender - solipsistisch Räsonierender überhaupt Grundsätze entdecken, die für alle gelten? Wer schützt ihn vor dem descartesschen bösen Geist, der ihn womöglich verführt, Handeln allein auf Pflicht zu gründen und jede Neigung auszutreiben? Darf der allein vor sich hin Vernünftelnde sich damit beruhigen, ernsthaft alle fiktiven Einwände geprüft zu haben, oder muss er sich 87 Bittner hat die These vertreten "dass moralische Gesetze nur für denjenigen Gültigkeit haben, der sie sich selbst gibt; sie lassen sich aber nicht als Forderungen an andere richten. Auf die Frage 'Soll ich moralisch sein? ' lautet seine Antwort daher: 'Wenn du willst, ja, sonst nicht'" (Bayertz 2004, 14). <?page no="366"?> 348 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ den Einwänden realer Anderer oder gar Betroffener stellen, wie es etwa die Diskursethik fordert (siehe dazu die Diskussion auf S. 442ff.)? Mikropolitische Taktiken, z.B. spalten (divide et impera! ), privilegierte Beziehungen pflegen (Vetterleswirtschaft, sich einschmeicheln), ausgrenzen (nicht oder falsch informieren, 'schneiden'), Kuhhandel (nichtvertragliche Gegenleistungen erkaufen) etc. verstoßen auf eklatante Weise gegen das Prinzip der Verallgemeinerungsfähigkeit der Maximen des eigenen Handelns. Gerade aus der Verletzung dieses Prinzips wird Kapital geschlagen. Doch auch hier kann man sich die Zurückweisung der 'Realpolitik' nicht so einfach machen: Auf der Handlungsebene werden zwar Verschiedene verschieden behandelt, auf der Folgenebene (die vielleicht einen Utilitaristen interessieren würde) kann das für die Gesamtorganisation positive Wirkungen haben, wenn z.B. aufwändige und zeitintensive Diskussionsprozesse vermieden oder die Durchsetzung von Innovationen durch Bestechung von Meinungsführern gefördert werden. 88 Auf der Gesinnungsebene kann positive Diskriminierung (Bevorzugung von Frauen bei Beförderungen) moralisch vertretbar sein, weil einer anderen (höherrangigen) Maxime entsprochen wird. Natürlich kann in solchen Fällen mit den bereits erwähnten Grundsatzargumenten gekontert werden: "wenn das alle täten", "wenn man die demoralisierenden Langzeitfolgen bedenkt", "wenn man die hohen Kosten von Misstrauen und Rache berücksichtigt" ... Einmal mehr zeigt sich, dass das Problem nicht (so sehr) in den Normen liegt, sondern in den Anwendungssituationen. Prinzipienorientierung (anstelle konkreter Problemlösungs-Ratschläge) Grund-Sätze sind notwendig abstrakt und geben allgemeine Orientierung. Ihre Abgehobenheit zeigt sich in ihrer Unbedingtheit. Sie gelten unter allen Bedingungen in allen Situationen. Unterstellt wird, dass die Bindungskraft von allgemeinen Prinzipien größer ist als die von Vorlieben, Einstellungen, Traditionen etc. Andererseits: Man kann 'im Prinzip' einem moralischen Gebot zustimmen, im konkreten Fall davon aber - amoralisch (nicht: un- oder immoralisch) - abweichen. Es bietet sich z.B. eine Gelegenheit, die man vorher nicht bedacht hatte oder auf die sich 88 "The dead hand of tradition and envy keeps entrepreneurs in chains, even when all might have benefited from their activities. Under these circumstances, corruption can be a useful countervailing power. To oppose it is to confuse the conditions of first-best morality with the realities of a second-best world" (Elster 1989, 264). <?page no="367"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 349 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ andere Maximen 89 anwenden lassen; es mag auch sein, dass sich die eigenen Einsichten und Prinzipien gewandelt haben. Gert (1983) und Hennessey & Gert (1992) führen eine Unterscheidung zwischen 'moralischen Regeln' und 'moralischen Idealen' ein. Gert hat in ausführlichen Reflexionen (1983, 116-178) plausibel zu machen versucht, dass es die folgenden zehn universalen (zu allen Zeiten und überall gültigen) moralischen Regeln gibt, die auch nicht an bestimmte technische, ökonomische oder kulturelle Voraussetzungen geknüpft sind (z.B. die Möglichkeit, über ein Auto, ein Haus, einen Computer, eine ausgebaute Infrastruktur etc. zu verfügen; s.a. Hennessey & Gert 1992, 102): 1. Du sollst nicht töten. 2. Du sollst keine Schmerzen verursachen. 3. Du sollst nicht unfähig machen. 4. Du sollst nicht Freiheit oder Chancen beseitigen. 5. Du sollst nicht Lust entziehen. 6. Du sollst nicht täuschen. 7. Du sollst deine Versprechen halten. 8. Du sollst nicht betrügen. 9. Du sollst dem Gesetz gehorchen. 10. Du sollst deine Pflicht tun. "Die moralischen Regeln bestehen aus Verboten 90 gegen ein Verhalten, das wir alle als eindeutig unmoralisch ansehen würden, wenn sich jemand mutwillig, grundlos so verhalten würde. Jedes solche Verhalten bedarf einer expliziten Rechtfertigung, wenn es nicht als unmoralisch gelten soll. Die moralischen Ideale hingegen bestehen aus Ermahnungen, solche Handlungen auszuführen, die alle von uns als moralisch gut betrachten würden, wenn sie jemand ausführt, ohne dabei irgendetwas zu tun, was moralisch fragwürdig ist. Leben retten, Schmerz lindern und allgemein unmoralisches Verhalten verhindern sind Handlungen in Übereinstimmung mit moralischen Idealen. Wichtig ist, dass moralische Ideale immer eine positive Handlung erfordern, während man moralischen Regeln oft auch folgen kann, indem man nichts tut". [...] "Es ist unmöglich, den moralischen Idealen im Hinblick auf jedermann in gleicher Weise zu folgen; insofern kann nicht gefordert werden, dass wir so handeln. Daraus folgt, dass die Menschen in der Wirtschaft die moralischen Regeln zu beachten haben, dass sie aber nicht den moralischen Idealen folgen müssen" (a.a.O., 103). 89 Wie schon gesagt: Es gibt womöglich ein allgemeines oberstes Prinzip, davon abgeleitet aber mehrere Maximen. Sie sollten dem Zentralprinzip - z.B. dem kategorischen Imperativ - nicht widersprechen. Es dürfte allerdings schwer fallen, alle konkreten Handlungsmaximen mit dem obersten allgemeinen Prinzip fugenlos zur Deckung zu bringen, wenn in unreinen und intransparenten Situationen gehandelt werden muss. 90 Diesem Kriterium zufolge müssten die Regeln 7, 9 und 10 eigentlich umformuliert werden. <?page no="368"?> 350 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Ausnahmen gibt es: "Jedermann soll der Regel im Hinblick auf jedermann gehorchen, es sei denn, er könnte ihre Verletzung öffentlich befürworten". Letzteres ist - so Gert (1983, 136 und 140f.) - der Test für die 'moralische Einstellung'. Ein solches Offenlegungs-Prinzip könnte auch als moralischer TV-Imperativ firmieren: "Wenn Sie wüssten, dass Sie für die Gründe Ihres Handelns vor einer unbegrenzten Öffentlichkeit - z.B. im Fernsehen - Rede und Antwort stehen müssen, würden Sie dann so handeln, wie Sie es vorhaben? " Gert konzediert allerdings Ausnahmen: "Es gibt selbstverständlich Fälle, bei denen wir alle wollen würden, dass einer moralischen Regel nicht gehorcht wird, um einem moralischen Ideal zu folgen, und zwar in dem Fall, in dem es tatsächlich moralisch nicht akzeptabel wäre, die Regeln nicht zu brechen" (Hennessey & Gert 1992, 118). So zu reden findet vermutlich den Beifall des sprichwörtlichen Manns auf der Straße, aber es gibt die Striktheit der Unverletzlichkeit von universellen Regeln auf und mündet - wie Gerts Fallstudien auch zeigen - in Kasuistik. In der konkreten Episode wird dann entwickelt, was 'moralisch' ist und aus diesem Vor-Verständnis wird die Regelverletzung gerechtfertigt. Der mit dem folgenden Beispiel belegten Auffassung Gerts, dass ein höheres Gut (das 'Gesamtwohl' oder der volonté de toutes? ) eine Regelverletzung rechtfertigen kann, wird man - gerade in Deutschland mit seiner KZ- und Euthanasie-Vergangenheit im Dritten Reich - nicht teilen können: "Wenn z.B. ein unschuldiges Kind sich eine höchst gefährliche und ansteckende Krankheit zuzieht, die einer Seuchen verursachenden Krankheit gleicht, wird es rechtfertigbar sein, das Kind seiner Freiheit oder sogar seines Lebens zu berauben, um das Ausbreiten der Seuche zu verhindern. Somit würde der rationale Mensch eine Verletzung der Regeln öffentlich befürworten, selbst wenn es nicht im Interesse der Person ist, der gegenüber die Regel verletzt wurde" (Gert 1983, 145). In welch erhebliche persönliche Konflikte die absolute (unverhandelbare) Priorität der Würde jedes einzelnen Menschen führen kann, die nicht mit der Würde anderer Menschen bilanzierend aufgerechnet werden darf, zeigt der in Deutschland vieldiskutierte Fall des Frankfurter Polizeivizepräsidenten, der einem gefangenen Lösegelderpresser (und, wie sich später zeigte, Mörder) Gewaltanwendung androhen ließ, wenn er den Aufenthaltsort des entführten Kindes nicht verriete. Wie verbreitet die Bilanzierungspraxis ist (die Rechte Krimineller sind weniger wert als die Rechte unschuldiger Opfer; Gemeinnutz geht vor Eigennutz), zeigt auch ein 2005 von der damaligen Bundesregierung beschlossenes Gesetz, das <?page no="369"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 351 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ z.B. den Abschuss eines gekaperten Passagierflugzeugs erlaubte, um damit den Tod vieler anderer Menschen zu verhindern, die Opfer eines mit dem Flugzeug geplanten terroristischen Anschlags (z.B. auf ein vollbesetztes Fußballstadion oder ein Atomkraftwerk) werden sollten. Im Frühjahr 2006 hat das Bundesverfassungsgericht dieses Gesetz, das auch in der Bevölkerung breite Zustimmung gefunden hatte, für nichtig erklärt: Es sei "schlechterdings unvorstellbar", auf gesetzlicher Grundlage unschuldige Menschen in hilfloser Lage vorsätzlich zu töten. Bemerkenswert war angesichts des kategorischen (durch keine Umstände relativierbaren) Schutzes der Menschenwürde und des Lebens ein Satz aus der Urteilsbegründung, in dem festgestellt wurde, das Gericht habe nicht zu entscheiden gehabt "wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn vorgezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären". Der absolute Schutz der unantastbaren Menschenwürde erlaubt kein Aufrechnen oder Qualifizieren von Menschenleben; wer dieses Grundrecht verletzt, kann aber dennoch im Strafrecht auf Milde hoffen, wenn in Ansehung der Umstände und in Würdigung der Motive des Entscheiders auf einen übergesetzlichen Notstand erkannt wird. Die zugleich weise wie pragmatische (Andere sagen: inkonsequente) Nebenbemerkung des Verfassungsgerichts macht deutlich, dass zwischen Regel und Anwendung kein simples Ableitungsverhältnis besteht im Sinne einer entlastenden, unstrittigen Handlungsanweisung. In einem konkreten Fall - und das ist auch bei der Blickverengung auf Mikropolitik relevant - muss nicht nur das reine (rein gehaltene) Prinzip beachtet werden, sondern zusätzlich die Vielschichtigkeit berechtigter Interessen, die die verschiedenen Beteiligten verfolgen. In Widerspiegelung der Unübersichtlichkeiten des Unternehmensalltags illustrieren Hennessey & Gert diese Problematik anhand von Fallstudien, die sie in MBA- Kursen diskutiert haben, wobei sich - nicht überraschend - zeigte, dass es neben den zehn auslegungsbedürftigen Grund-Regeln noch eine Fülle weiterer Regeln (z.B. rechtliche, professionelle oder organisationale) gab, die in den konkreten Konstellationen entscheidungsrelevant waren. Die Protokollausschnitte der Diskussionen in den Kursen machen klar, dass die Akzeptanz von Grund- und ergänzenden Regeln keine Garantie für moralisch richtiges Handelns gibt, sondern dass von verschiedenen Beurteilern verschiedene Regelsätze herangezogen wurden, dass gleiche Regeln unterschiedlich gewichtet wurden und dass unterschiedliche Aspekte der Anwendungssituation betont (oder vernachlässigt) wurden. Es scheint, dass es den Urteilenden vor allem darum ging, eine für sie (und ihre kritischen ZuhörerInnen) stimmige überzeugende Geschichte zu erzählen. Böte man Mikropoli- <?page no="370"?> 352 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ tikerInnen den Satz der oben zitierten allgemeinen Regeln an, dürften sie keine großen Schwierigkeiten haben, nahezu jedwedes Verhalten zu rechtfertigen, weil sie vielleicht eine Regel verletzen, dafür aber mehreren anderen entsprechen und weil sie die Verletzung der betreffenden Regel als nicht 'mutwillig und grundlos' hinstellen können (die Umstände ließen keine Wahl, höhere Werte haben dieses Opfer verlangt, es wurde nach bestem Wissen und Gewissen verantwortlich entschieden etc.). Die prinzipielle Begründung (und vor allem: das sich daran Halten) hat den Vorteil für die anderen, dass der so Motivierte berechenbar ist und dass damit eigenes Handeln besser oder sicherer geplant werden kann. Allerdings verlagert sich dann das moralische Problem weg von der Begründung auf die Anwendung: Ist in der gegebenen Situation eine bestimmte Regel anwendbar (oder nicht vielmehr eine andere) oder sind Folgen zu befürchten, die bei der Regelformulierung nicht bekannt waren oder nicht bedacht wurden? Sen (1989) argumentiert z.B. unter Verweis auf Hungerkatastrophen, dass die prinzipielle Unantastbarkeit des Rechts auf Privateigentum fragwürdig wird, wenn Tausende von Menschen verhungern müssen, weil sie den Preis, den der Eigentümer für reichlich vorhandene Nahrungsmittel verlangt, nicht bezahlen können. Weil Prinzipien definitionsgemäß praxisfern formuliert sein müssen, besteht die Notwendigkeit, sie auf den konkreten Fall anzuwenden oder noch deutlicher: umzuwenden. Dies ist eine kreative Leistung, bei der allerdings zuweilen nicht nur der Buchstabe der Regel auf der Strecke bleibt. Jedenfalls eröffnet sich unausweichlich Spielraum, der mikropolitisch genutzt werden kann (siehe dazu ausführlicher die Regeldiskussion auf S. 452ff.). Rationales Argumentieren gilt in der empirischen Mikropolitik-Forschung als Taktik (siehe Kap. 2). Das aber bedeutet, dass grundsätzlich die Möglichkeit besteht, dass eine rationale Begründung von Handlungen oder Handlungsmaximen die in Anspruch genommene Rationalität nur als Vor-Wand (Kulisse) nutzt, um dahinter ganz andere Absichten zu verbergen. Die genannten Rationalitätskriterien werden dann lediglich selektiv und in Täuschungsabsicht (also scheinbar) genutzt, um 'interessierte' Positionen leichter durchzusetzen. <?page no="371"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 353 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ 5.1.5. Zu typischen Besonderheiten und Voraus-Setzungen ethischen Argumentierens Im vorangegangenen Abschnitt ging es um das Meta-Kriterium 'Rationalität', dessen Lasten der Moraldiskurs auf sich nimmt, um die Reputation von Wissenschaftlichkeit (Exaktheit, Objektivität, Prüfbarkeit) zu erhalten. Die Nischen und Ungereimtheiten dieses selbst auferlegten oder gesellschaftlich erwarteten Anspruchs sind ein günstiger Nährboden für mikropolitische Manöver. Der folgende Abschnitt setzt die Akzente anders. Er untersucht eine Reihe von Vor-Annahmen, die moralisches Argumentieren typischerweise macht. Nur weil oder wenn diese Vorbedingungen unterstellt werden, kommt dem Handeln die spezifische Qualität des Moralischen zu. Auch hier ist es meine Absicht zu zeigen, dass die Bedingungen der Möglichkeit moralischen Handelns zugleich auch die Bedingungen der Möglichkeit von Mikropolitik sind. Fiktionen und Gedankenexperimente Typische Denk- und Begründungsfigur ist das Gedankenexperiment, das mit Fiktionen operiert: "Was wäre, wenn (alle/ keiner + immer/ nie + unter allen/ keinen Umständen ...) normentsprechend handelten? Ethik-Theorien, die moralisches Handeln begründen sollen ("Ethik als Reflexionstheorie der Moral"so Luhmann), fordern dazu auf, sich aus dem Strom des Handelns zu lösen, um spiegeln (re-flektieren) zu können. Es ist möglich oder nötig, auf Distanz zu gehen; in dieser Absetzbewegung werden künstliche reine Situationen geschaffen. Die Arbeit, diese Bedingungen wieder mit der praxisüblichen Verschmutzung, Trübung, Unschärfe, Mehrdeutigkeit, Vernetzung, Vermengung zu versöhnen, wird den Anwendern überlassen. Hinzu kommt, dass bei der Prüfung konkreter Fälle nicht (allein) subsumptionslogisch vorgegangen wird (Lässt sich der Fall einer allgemeinen Norm unterordnen? ), sondern - meist - intuitionistisch mit prima facie 91 Begründungen: Widerspricht die Folgerung, die bei Anwendung einer Norm X zu ziehen wäre, meinem (oder dem in Tradition, Abstimmung oder Diskussion erreichten allgemeinen) Gerechtigkeitsempfinden? Selten sind Norm und Fall deckungsgleich. Die Norm wirft sozusagen einen scharf umgrenzten Lichtkegel auf den konkreten Fall - und dabei zeigt sich, dass der Fall nicht 'rund', sondern ausgefranst ist und Ecken und 91 prima facie: auf den ersten Blick; secunda facie: auf den zweiten Blick. <?page no="372"?> 354 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Kanten hat, die nicht mehr ausgeleuchtet werden 92 . Um diesen Weiterungen und Asymmetrien gerecht(! ) zu werden, werden Hilfsprinzipien herangezogen, wie etwa das Konstrukt eines billig und gerecht Urteilenden oder 'das gesunde Volksempfinden'. Prozessual gesehen müsste man deshalb eher von secunda facie Erwägungen sprechen, denn die Suche nach passenderen Begründungen wird dann aktiviert, wenn 'dem ersten Anschein nach' (nach dem ersten Blick! ) etwas nicht ganz oder nicht genau stimmt. Wenn die Norm (zu-)trifft oder wenn 'wie gewohnt' gehandelt wird, gibt es keinen Bedarf nach Gründen. Wer auf Alltagstugend-Pfaden wandert und einem Moral-Prokrustes in die Hände fällt, muss damit rechnen, am zugeteilten Bett ausgerichtet zu werden: entweder werden ihm die Beine lang gezogen oder abgeschnitten, heil kommt er nicht davon 93 . "Anders-Sehen" kann argumentativ als Veränderungsimpuls genutzt werden. Das Geltend(! )machen anderer, passender - zu den eigenen Absichten passender - Gründe findet sich in mehreren mikropolitischen Taktiken (z.B. rationales Argumentieren, Appell an höhere Werte, Legitimation, Manipulation). Kontingenz und Handlungsspielraum Damit für den Akteur überhaupt eine moralische Entscheidung möglich ist, muss Kontingenz postuliert werden (siehe dazu die Diskussion des Kontingenz- Begriffs in Kap. 3, S. 193ff.): Was ist, muss nicht (so) sein; was zu tun ist, kann anders getan werden und dann auch die (moralische) Forderung begründen, anders zu handeln. 94 Es gibt immer die Möglichkeit der Wahl; jeder kann versuchen, sein Leben nach eigenen Prinzipien zu gestalten. Aber wie weit kommt er mit dieser Unabhängigkeitserklärung? Die resignative oder realistische Gegenposition macht den 'überwältigenden Zwang der Verhältnisse' geltend oder das stäh- 92 ... oder wie Kant (1912/ 1784, 23) plastisch sagt: "… aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt." Das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm (1984/ 1897) belehrt darüber, dass zu den Urbedeutungen von (ge-)recht gehört: gerade ausgerichtet, geradlinig, fugenlos passend. Wer gerecht ist, kann keine krummen Wege gehen - und wenn doch, dann freut sich der Himmel über einen Umkehrer, der die Kurve gekriegt hat, mehr als über 99 Geradlinige. 93 In der griechischen Mythologie war Prokrustes ein Räuber, der überwältigte Wanderer in dasjenige seiner beiden Betten legte, das nicht passte und seine Opfer gewaltsam und mit tödlichen Folgen 'anpasste'. 94 Siehe dazu das foerstersche Entscheidungsparadox: "Nur die Fragen, die im Prinzip unentscheidbar sind, können wir entscheiden" (von Foerster 1992, 14) - alles andere sind nämlich Ableitungs- und Rechenfragen. <?page no="373"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 355 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ lerne Gehäuse der Hörigkeit (z.B. unbedingte Pflichten), sie erinnert an Pfadabhängigkeit und gedankenlose Habitualisierungen etc. Kann das Kontingenzpostulat auch für die Ethiktheorien selbst erhoben werden? Keine könnte dann für sich den Anspruch der Letztbegründung und Unhintergehbarkeit erheben. Für jede Alternative sprechen gute Gründe. Universalistisch argumentierende Puristen wie Kant, Apel, Habermas und Ulrich würden wohl über eine solche Möglichkeit das Verdammungsurteil der Beliebigkeit aussprechen; situative oder evolutionäre Ethiken favorisieren dagegen lokale Lösungen und Lernmöglichkeit. Kommt der Maßstab selbst ins Wanken oder Fließen, sehen die Universalisten den Verbindlichkeitsanspruch und Verpflichtungscharakter der Ethik preisgegeben und nennen, was daraus folgt, nicht mehr Ethik, sondern Lebenskunst oder Ästhetik. Eherne Prinzipien und Mikropolitik widerstreiten sich. Lokale Lösungen sind politische Lösungen. Mikropolitik beruft sich auf Determinismus nur als Vorwand, im Kern aber lebt sie von der Nutzung von Lücken, Spielräumen, Widersprüchen etc. Beschränkung des Spielraums Moral ist nicht nur die Möglichkeit zur Wahl, sondern Wahlzwang, sie impliziert Einschränkung (Beschränkung des Spiel-Raums), Verzicht auf oder Verbot von Optionen. Zumindest aber fordert moralisches Argumentieren bewusstes Abstand nehmen, Innehalten im Handlungsstrom, um sich die Zeit zum Prüfen zu nehmen. Moralisches Räsonieren ist ein Probedenken, das vorausschauend Nach-Wirkungen schon jetzt abwägt. Moral zielt auf systematische, methodische Lebensführung. Ihrer Forderung nach Selbstdisziplinierung ist alles suspekt, was impulsiv, intuitiv, spontan, willkürlich, augenblicksbestimmt ist. Ziel ist es, Ordnung, zumindest eine Rahmenordnung, ins alltägliche Durcheinander zu bringen, um es berechenbar und beherrschbar zu machen. Dieser Ordnungswille kann sich aus zwei Quellen speisen: Zum einen profitiert jeder Akteur davon, wenn sich die anderen an die Regeln halten und zum anderen gelingt den Herrschenden, die andere kontrollieren möchten, das umso leichter, je berechenbarer diese sind. Ein zu großer Erfolg im Ordnung- und Reinemachen käme MikropolitikerInnen nicht gelegen. Auf ihrer Agenda steht eher das Projekt, undurchsichtiges Durch- <?page no="374"?> 356 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ einander und Gewirr entweder herbeizuführen oder zu nutzen, aber selbst den Durchblick zu behalten; aus der Menge der möglichen oder üblichen Prinzipien (oder Präzedenzfälle) die passenden zu zitieren; dafür zu sorgen, dass solche Regeln in Kraft gesetzt werden, die den eigenen Interessen Rückendeckung geben. Beobachtung durch Dritte Wer moralisch argumentiert, rechnet mit Beobachtung. Sein Handeln muss der moralische Akteur vor Dritten und sich selbst rechtfertigen können, was impliziert, dass er gute Gründe haben sollte, auf die er sich im Zweifelsfall berufen kann - zumindest muss es nachträglich als gut begründet dargestellt werden können. Moralisches Handeln muss prüfbar sein - und dieses Diktat hat letztlich zu einer Prüfungsgesellschaft à la Foucault, einer Auditing- und Zertifizierungskultur geführt. Jeder weiß um sein Beobachtet- und Geprüftwerden und nimmt das in seinem Handeln vorweg - sei es dieses oder seine Motive verbergend, sei es dass er sich mit Rechtfertigungen wappnet. Jeder stattet sich mit moralischen Unbedenklichkeitsbescheinigungen aus, um zum sozialen Verkehr (weiterhin) zugelassen zu werden. Selbst wenn kollektive Handlungen determiniert wären, würden die Begrenzungen unserer kognitiven Leistungsfähigkeit es unmöglich machen, alle Umstände (Bedingungen) und alle Folgen und Nebenfolgen berücksichtigen zu können. Gegenstrategie ist die schon erwähnte lokale und okkasionelle Rationalität: Die Grund- Sätze gelten nicht allüberall, immer und unbedingt, sondern werden unter konkreten Bedingungen angewandt - und ändern sich und diese in der Anwendung. Wer unter diesen Auspizien erfolgreich Mikropolitik betreiben will, muss die Fähigkeit entwickeln Accounts zu produzieren (siehe näher dazu S. 508f.), Show und Selbst-Darstellung beherrschen, die Motive oder Folgen seines Tuns vor kritisch prüfenden Blicken kaschieren, günstige Prüfkriterien selbst festlegen und sich darauf verstehen, dem eigenen Tun den Anschein der Legitimität zu geben, kurz: die Kunst der Fassadenmalerei beherrschen. Bewertungsmaßstäbe Fürs Handeln gibt es Bewertungsmaßstäbe (Moral) und für die Bewertungsmaßstäbe gibt es Bewertungsmaßstäbe (Ethik). Damit wird es möglich, Wollen und <?page no="375"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 357 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Tun in Klassen zu sortieren: Es gibt falsches (oder schlechtes) und richtiges (oder besseres) Wollen und Handeln; es ist zudem nicht gleich gültig, was ich tue oder was man tut. Übereinstimmung besteht im Allgemeinen darin, dass es nicht Moral genannt werden kann, wenn ein Akteur allein nach seinem eigenen Gesetz handelt, das er nicht zugleich für alle anderen gelten lässt. Eudämonologische Moralbegründungen sind deshalb keineswegs Rechtfertigungen des Egoismus, wenn sie unterstellen, dass jeder seine Wohlfahrt fördert, denn sie gestehen das allen zu, die darin einander gleichen. Es liegt in ihrem 'wohlverstandenen' Interesse, es nicht so weit und rücksichtslos zu treiben, dass sie Gegen-Wehr der anderen herausfordern, deren Bekämpfung den eigenen Lebensgenuss schmälern würde. Dem Anspruch nach heißt moralisch Räsonnieren die anderen einbeziehen, letztlich: alle anderen. Die Forderung nach Universalisierung ist rational, weil keiner wollen kann, dass irgendjemand sich mit einer Privatmoral von der Regel ausnimmt und den anderen damit Nachteile zumutet. Die Forderung, an die Interessen und Bedürfnisse aller, eventuell sogar "die ganze Schöpfung" und "die ferne Zukunft" zu bedenken, grenzt jedoch, obwohl intendiert rational, an eine größenwahnsinnige Selbst-Überschätzung eigener Fähigkeiten und Möglichkeiten. Vielleicht ist die offenkundige Unerreichbarkeit dieses Ziels ein vorweggenommener Freispruch vom eigenen Versagen, weil ohnehin niemand solchen Ansprüchen genügen kann. Konstruktiv gewendet lässt sich moralisches Argumentieren als pädagogische Veranstaltung interpretieren, bei der hohe Ziele formuliert werden, die zwar nicht zu erreichen sind, aber als Ansporn dienen können im unbefriedigenden Status Quo nicht zu verharren, sondern sich 'höher' zu entwickeln. Eine solche Pädagogik der 'regulativen Idee' erweist sich für die Schüler mangels Erfolgserlebnis als ziemlich frustrierend. Wer als Mikropolitiker reüssieren will, darf die Maßstäbe, mit denen er gemessen wird, nicht dem Zufall oder den anderen überlassen. Im pragmatischen Bereich geht es darum, erfolgsdienliche Spezifikationen, Kenngrößen, Indizes, Operationalisierungen, Messzeitpunkte und -methoden, inklusive der Auswahl wohlgesonnener Evaluatoren (mit) zu bestimmen. Zum mikropolitischen Programm gehört es, eigene Aktionen nie als partikuläre Interessenverfolgung erscheinen zu lassen, sie müssen vielmehr als 'Dienst an der Sache', 'Förderung der Unternehmensinteressen', 'Unterordnung unter die gemeinsamen Ziele' etc. imponieren. Das resultierende Problem ist Paranoia: Man kann keinem Faktum und keiner Person mehr trauen. <?page no="376"?> 358 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Systematische Differenz zwischen Motiv, Handlung und Konsequenz Der Moraldiskurs führt eine systematische Differenz zwischen Motiv, Handlung und Konsequenz ein und konfrontiert diese drei Bewertungsobjekte mit einem Sollen, das als Forderung gegenüber gestellt wird. Was noch nicht ist, wird als möglich und nötig nicht nur vor Augen geführt, sondern zur Pflicht gemacht, die die Prämissen des Handelns diktiert. Auf die Gesinnung-Handeln-Folgen-Differenzierung werde ich unten - beim homannschen Plädoyer für Bedingungswandel statt Gesinnungswandel (siehe S. 400ff.) - näher eingehen. Die Überwindung der Sein-Sollen-Diskrepanz ist das Differenzmerkmal zwischen Ethik und Moral. Ethik ist eine Reflexionsdisziplin. Sie funktioniert wie eine Ratingagentur, die sich auf die Prüfung der Stichhaltigkeit und Stimmigkeit von Handlungsgrundsätzen spezialisiert hat. Sie nimmt bewusst und ausschließlich die Beobachterrolle ein und fungiert als Wegweiser, der die Richtung zum Guten zeigt, sich selbst aber nicht vom Platz bewegt. Moralisch Handelnden dagegen wird die Pflicht auferlegt, die Kluft zwischen Ist und Soll zu überbrücken. Sie sollen das Richtige erkennen und begründen und es auch tun. Ihr Bedenken und ihre Bedenken gelten der Intervention, denn beim Tun gerät sie in Konkurrenz zu anderen Imperativen (z.B. erfolgsstrategischem effizienten Handeln). Die übliche Reaktion der Territorialherrscher ist, sich diese Einmischung zu verbitten: Im Reich der Ökonomie hat Moral nichts zu suchen - sie soll sich an die Politik wenden. Klopft sie dort an, wird ihr bedeutet, dass Real-Politik sich nicht mit solchen weltfernen Spekulationen abgeben kann. Und dann landet sie dort, wo sie herkommt: bei der Philosophie oder - ist es Herrin oder Magd? - der Theologie. Eingedenk dieses Asylantenschicksals der Moral ist es nicht verwunderlich, dass ihre modernen Vertreter darauf bestehen, dass sie praktisch und nützlich wird. Wenn Moral sich nicht mit Macht verbindet - mächtig wird - bleibt sie wirkungslos. Deshalb wird sie zur (Sozial-)Technologie transformiert und unterstreicht ihren genuinen Forderungscharakter nun durch Institutionen und Praktiken, die Verhalten ausrichten, motivieren, kontrollieren und sanktionieren (Ethik- Codes, Ethik-Komitees, Ethik-Hotlines, Ethik-Trainings, Ethik-Audits, Ethik- Ombudsleute ...). Darauf gehe ich auf S. 393ff. noch näher ein. Vertikale und horizontale Arbeitsteilung in Organisationen bringen es mit sich, dass derart Spezialisierte ihre eigenen Interessen verfolgen und das ur-eigenste Or- <?page no="377"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 359 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ ganisations-Interesse hintanstellen: nämlich das Unternehmen zu fördern, das ihnen als Arbeitgeber nur die Arbeit geben kann, die sie als Arbeitnehmer geben. Deswegen die Entkoppelung von Motiv und Zweck, deswegen die institutionalisierte (nicht: persönliche) Heuchelei. Wenn die Akteure in ihren vertikalen und horizontalen Beziehungen ihre Entscheidungen, Taten und Kommunikationen nur noch 'locker koppeln', gewinnen sie erhebliche Freiheitsgrade für die überlebensnotwendige Bewältigung von Unsicherheiten (und das überlebensbedrohende Schaffen neuer Unsicherheiten). Man kann, Brunsson (1989) ergänzend, in den Mittelpunkt seines Decision-Action-Talk-Dreiecks noch "belief system" schreiben. Wie die anderen drei untereinander, steht auch der organisierende Kern (die 'inneren' Überzeugungen, Prämissen, Gesinnungen, moralischen Standards usw.) zu den drei 'Äußerungen' in einer unterbrochenen, gestörten und verstörenden Beziehung. Moral stellt unbequeme Forderungen. Das tut Mikropolitik auch, aber nicht (immer) offen, sondern implizit, nicht (immer) im Namen des Ganzen oder der anderen, sondern im eigenen Interesse. Mikropolitik ist in ihrer positiven Variante nicht das Andere der Moral, sondern deren Operationsmodus, wenn sie praktisch wird. Wenn es um Fragen der Implementierung moralischer Standards geht, prallen die Interessen aufeinander; wo Strategen das Feld beherrschen, werden die rückhaltlos Offenen und selbstlos Altruistischen zur leichten Beute. Das Kreidefressen (die Strategiekonterstrategie) kann zunächst nur über die Intention gerechtfertigt werden, denn ob es die angestrebte Wirkung (die Annäherung ans Ideal der Verständigungsorientierung) erreicht, ist unsicher. Es kann den Mitmachern so gehen wie Undercover-Agenten, die auf dem Weg zum Ziel 'umgedreht' werden und dann zu ihrer Sache machen, was sie ursprünglich bekämpfen wollten. Von vorneherein anders steht es mit der Negativ-Variante von Mikropolitik, die ihre Adressaten nicht zu Zielen verführt, die auch für sie gut sind, sondern sie ausschließlich für eigene Zwecke einspannt, sodass für die Benutzten nichts herausspringt. Wenn Moral als ein Unternehmen zur Ermöglichung gesellschaftlicher Kooperation gesehen wird, stellt sich allerdings die Frage, warum diese Art der unkooperativen Ausnutzung von den Benutzten und Beobachtern hingenommen wird. Moral ist nicht das einzige Unternehmen zur Förderung gesellschaftlicher Zusammenarbeit. Auch Unternehmen sind solche Unternehmen. Als Wirtschafts- Unternehmen erheben sie die Forderung, vom Unternehmen (der Institution) Moral befreit zu werden, weil nämlich die beiden Unternehmen mit unvereinbaren Funktionscodes operieren (z.B. Zahlen/ Nicht zahlen vs. Achtung/ Missachtung). <?page no="378"?> 360 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Das Ziel, (Wirtschafts-)Unternehmen von den Zumutungen der Moral freizustellen, wurde - grob gegliedert - auf zweierlei Weise verfolgt: einmal durch die Behauptung der unversöhnlichen Gegnerschaft und zum anderen durch exklusive Zuständigkeits-Regelung. Ich werde zunächst - im Kap. 5.2. - auf die Säkularisierung der Zwei-Reiche- Lehre eingehen ("Wirtschaft und Moral haben nichts miteinander zu tun") und dann - im Kap. 5.3. - die vor allem von Homann vertretene Position diskutieren, dass die Gesellschaft den moralischen Rahmen absteckt, innerhalb dessen die Unternehmen, von Moral-Begründungen und -Rechtfertigungen befreit, ihre 'ureigenen' Ziele verfolgen können. 5.2. Ökonomie und Moral haben sich nichts zu sagen! Die Argumentationsfigur der Inkommensurabilität von Ökonomie und Moral soll im Folgenden anhand der Stellungnahmen profilierter Vertreter näher untersucht werden. Ich gehe dabei zunächst auf polemische Positionen (Drucker, Schneider, Luhmann, Nietzsche) ein - Positionen, die Streit suchen und polarisieren wollen. Danach werde ich mit (Friedman und Carr zwei Protagonisten zu Wort kommen lassen, die sich mit ihren zugespitzten Äußerungen dauerhaft in der Hitliste jener Autoren etabliert haben, mit denen sich wirtschaftsethische Lehrbücher auseinandersetzen. 5.2.1. Trennungsbeschlüsse: Plädoyers für die Eliminierung der Moral Wie Peter Drucker und Dieter Schneider den Moralaposteln die Leviten lesen Peter Drucker hat sich einen Ruf gemacht als fundiert und ausgewogen argumentierender "Management-Guru"; umso mehr überrascht es, dass er sich in den frühen 80er Jahren mit einer affektiven Streitschrift gegen Unternehmensethik zu Wort gemeldet hat. Ihm passte anscheinend "die ganze Richtung" nicht und er machte sich wohl zum Sprachrohr seiner Top-Management-Klientel, die der Ethik- Bewegung vermutlich ähnlich ablehnend gegenüberstand. "[... ] 'Unternehmensethik' ist, was auch immer sie sein mag, jedenfalls keine Ethik" (Drucker 1989, 45), denn: "Es gibt nur eine Ethik, einen Satz von Regeln der Moral, einen Code - den für individuelles Verhalten, für das dieselben Regeln unterschiedslos für alle gelten" (a.a.O., 44). <?page no="379"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 361 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Er beschuldigt die Unternehmensethik-Autoren der 'Kasuistik' und meint damit haarspalterische Sophistik, mit der Unternehmensführer aus einem anti-ökonomischen Affekt heraus angeklagt werden, wenn sie, um Arbeitsplätze zu retten, z.B. an ausländische Firmen die dort üblichen Schmiergelder zahlen oder wenn sie etwas gegen die Verklärung von 'whistle blowing' haben, das nichts anderes als Denunziantentum ist, wie es auch Tyrannen wie Nero, Stalin oder Mao gefördert hätten. Drucker versteigt sich zu einer Tirade, die buchstäblich unter die Gürtellinie geht: "Diese Diskussion sollte klar gemacht haben, dass sich 'Unternehmensethik' zu Ethik verhält wie Softporno zum platonischen Eros" (Drucker 1989, 51) [...] 'Unternehmensethik' ist modisch, sorgt für Konferenzreferate, Vortragshonorare, Beratungsaufträge und eine Menge Publicity. Und gewiss bedient 'Unternehmensethik' mit ihren Geschichten über Fehlverhalten höheren Orts auch die uralte Freude an Gesellschaftsklatsch und die Lüsternheit, die es (ich glaube es war Rabelais, der das gesagt hat) Rammeln nennt, wenn ein Bauernjunge ein Quickie im Heu hat und eine Romanze, wenn der Prinz dasselbe tut. Alles in allem verdient es eher die Bezeichnung 'Ethik- Rummel' (ethical chic) als Ethik - und es darf wohl in der Tat mehr als Medieninszenierung betrachtet werden, als dass es Philosophie oder Moral ist" (Drucker 1989, 52). In ihrer Replik machen Hoffman & Moore deutlich, dass Druckers Polemik von keinerlei Sachkenntnis über den (damals) aktuellen Diskurs der Unternehmensethik getrübt ist (z.B. fälschlicher Weise unterstellt, dass der Mainstream der Unternehmensethik eine Sonderethik mit besonders strengen Pflichten für Unternehmen reklamiere, die sich von der 'Ethik für alle' unterscheide), dass er in sich inkonsistent argumentiert und mit seinem Vorschlag einer "Konfuzianischen Ethik der Interdependenz" als wechselseitiger Verpflichtung eine längst etablierte unternehmensethische Position neu erfindet. Vor ethischer Sensibilisierung der Unternehmen warnen 'Separatisten' dringend. Während das Luhmann und in seiner Nachfolge Homann und Suchanek mit funktionaler Differenzierung begründen, nimmt sich Dieter Schneider (1990) in seiner Philippika gegen die Grenzüberschreitungen der Moralisten ins Reich der Ökonomie kein Blatt vor den Mund: Er vermutet, dass durch Unternehmensethik "Philosophen und einige Moraltheologen eine vielleicht dringend benötigte Erwerbsquelle finden" (869), er spricht von der "Modewelle der 'business ethics'" (870) und "Sozialgeschwätz" (871), er attestiert einer ethisch-normativen Betriebswirtschaftslehre die Anmaßung "unternehmerischem Handeln Gebote oder Verbote vorzuschreiben durch ethische Werturteile, die regelmäßig unerläutert und erst recht in ihren Folgen undurchdacht bleiben" (872), er hält Unternehmensethik für eine "Vermarktungstechnologie" und einen "Wiederbelebungsversuch ethisch-normativer Betrachtungs- <?page no="380"?> 362 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ weise" (883), deren "Unfruchtbarkeit" in "zweieinhalb Jahrtausenden Wissenschaftsgeschichte betriebswirtschaftlicher Fragestellungen" erwiesen sei (884, 888) und Ethik-Kommissionen für eine "zusätzliche Institutionalisierung eines Rätesystems" für das die Unternehmung überdies zu zahlen hat (887). Zusammenfassend formuliert er die "Kernthese": "Eine auf dem Gewinnprinzip im Sinne eigenverantwortlichen Einkommenserwerbs aufbauende Betriebswirtschaftslehre, nicht aber eine ethisch-normative Betriebswirtschaftslehre, erfüllt bisher jene ethische Funktion von Wissenschaft: die Kritikfähigkeit gegenüber dem Oberflächlichen, Phrasenhaften und Interessengebundenen zu schulen; auch und gerade wenn es in ethischem Gewand einherschreitet" (Schneider 1990, 890). Ist es nicht schön, wenn es noch Professoren gibt, die nicht phrasenhaft und oberflächlich argumentieren, die vielmehr nicht-interessengebundene Wahrheiten verkünden und der Betriebswirtschaftslehre bescheinigen, sie erfülle die ethische Funktion von Wissenschaft? Warum nur überfällt ansonsten nüchterne Leute wie Schneider oder Drucker dieser wutschäumende und -schnaubende Furor? So ging früher die Orthodoxie - im Bewusstsein ihres rechten Glaubens - gegen die Ketzer vor, die es gewagt hatten, die reine Lehre zu beflecken und die Deutungshoheit ihrer Verkünder herauszufordern. Nur gut, dass heute nicht mehr mit Feuer und Schwert, sondern nur noch mit flammenden Worten exekutiert wird! So einfach kann man sich die Selbstabsolution von Moral nur machen, wenn der Markt ein idealer Markt ist und wenn die Rechtsordnung perfekt funktioniert, alle Abweichler ertappt und durch wirksame Sanktion auf den Pfad der Tugend zurückführt. Wenn aber - wie bei allem Menschenwerk - die Realität von diesen Idealen weit entfernt ist, warum soll man dann nicht noch weitere Steuerungsmöglichkeiten, z.B. individuelle und institutionalisierte Moral, nutzen? Kapitalisten wären nicht Kapitalisten, wenn sie nicht Chancen sähen, aus einer lästigen Zumutung Kapital zu schlagen. Was sie, wie Midas, berühren, wird zu Gold (und wenn sie über Unternehmensethik urteilen, müssen sie - Apollo, gerechter Gott! - ihre Eselsohren verbergen). Es gibt viele un- oder außermoralische Gründe für die Karriere der Unternehmensethik zum nachgefragten und beworbenen Produkt: Verdienstmöglichkeit (was Schneider ganz unmarktwirtschaftlich ärgert: mit Ethik-Audits und Ethik-Rating Agenturen lässt sich Geld machen), Salon-Thema (ethical chic à la Drucker 1989), Sonntagspredigtmotiv zur Gewissensberuhigung (z.B. bei der Geldanlage in Ethikfonds), Imagepflege bzw. Differenzierungs- und Positionierungsmerkmal fürs optimale Produktmarketing (etwa: Corporate Social Responsibility, SA 8000), Verschleierungstaktik (um hinter dem Vorhang der Moral <?page no="381"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 363 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ umso bessere Geschäfte zu machen), Vermeidung von exzessiven Schadensersatzklagen (US Sentencing Guidelines for Organizations) ... Angesichts der schroffen Trennung zwischen Moral und Rationalität, die sich an den zwei gegensätzlichen Typen von 'Gutmensch' und 'Nutzenmaximierer' festmacht, gibt Wieland (1994, 215) zu bedenken, "... dass der Homo Oeconomicus nicht so unmoralisch konstruiert ist, wie es seine Kritiker vermuten. Immerhin gehört Folgendes zu seinem Verhaltensrepertoire: Er hält gegebene Versprechen immer, sagt stets die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, legt seine Informationen vollständig und ohne strategische Hintergedanken auf den Tisch, hat keinerlei betrügerische Intentionen und so weiter. Dies ist die moralische Kehrseite des mit Perfektionsbegriffen wie vollständige Information und so weiter gearbeiteten Marktmodells." Man sieht: Der homo oeconomicus bleibt sich treu: eine unrealistische Fiktion. Luhmanns Warnung, Nietzsches Ekel vor Moral Sollte Wieland anstelle der Kehrseite(! ) nicht eher von der Steigerung der Perfektion sprechen? So viel Vollkommenheit kann von Wirtschaft offenbar nicht erwartet werden. Vom Großzyniker Luhmann stammt der vielzitierte Ausspruch: "Es gibt Wirtschaft, es gibt Ethik, aber es gibt keine Wirtschaftsethik! "; damit wird die in einem alten Bonmot berichtete Reaktion eines Vorstands variiert, der von seinem Sohn hört, dass er Wirtschaftsethik studieren möchte: "Da wirst du dich wohl für eines entscheiden müssen! " Luhmanns Abneigung gegen das in moralibus so verbreitete "Plusterdeutsch" kann man verstehen, wenn man sich die gestelzten Formulierungen ansieht, von denen es in Unternehmensleitsätzen oder Ruck-Ansprachen von Vorständen oder Politikern nur so wimmelt: "Auf dieser Ebene merkt man das Fadwerden vertexteter Moralen, und auf diese Ebene kann man zurückgehen, wenn Achtbarkeit indizierende Vokabeln - etwa das einst so beliebte Plusterdeutsch der Tiefe und Weite, der Gemeinschaft und des Einsatzes; oder heute das elaborierte, technisch-utopische Vokabular der Demokratie und Innovation, der Kreativität, der Reformprogrammatik und der Emanzipation - ihre Kraft verlieren, Moralisches zu insinuieren" (1978, 52). Auf dem Hintergrund dieser Einschätzung wird verständlich, warum Luhmann der Ethik die Funktion zuschreibt, vor der Moral zu warnen (1986, 259f.; 1989, 1996, 1997). <?page no="382"?> 364 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Pies nennt - Luhmann exzerpierend - Moral "intolerant, dogmatisch, verletzend, polemogen, streiterzeugend, konfliktverstärkend und sogar gewaltnah" (Pies 1999, 3). Woran denken beide? An die unbequemen Friedensmarschierer, Atomkraftgegner, Greenpeace-Aktivisten, 68-er Studenten? Aber ist denn Kants Pflichtethik 'erfüllbar'? Wenn man auf methodologischer Stringenz besteht, ist eine solche Frage buchstäblich genauso abwegig wie die, ob die Forderungen, die das homo oeconomicus- Konzept stellt, jemals von einem konkreten Entscheider erfüllbar sind. Wo Luhmann mit drastischen Worten warnt, wird Nietzsche noch deutlicher: "Aber genug! genug! Ich halte es nicht mehr aus. Schlechte Luft! Schlechte Luft! Diese Werkstätte, wo man Ideale fabrizirt - mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen" (Nietzsche o.J./ 1885/ 1886, Bd. 8, 330). "Ein Psychologe nämlich hat heute darin, wenn irgend worin, seinen guten Geschmack (- andere mögen sagen: seine Rechtschaffenheit), dass er der schändlich vermoralisirten Sprechweise widerstrebt, mit der nachgerade alles moderne Urtheilen über Mensch und Ding angeschleimt ist. Denn man täusche sich hierüber nicht: was das eigentlichste Merkmal moderner Seelen, moderner Bücher ausmacht, das ist nicht die Lüge, sondern die eingefleischte Unschuld in der moralistischen Verlogenheit. Diese 'Unschuld' überall wieder entdecken zu müssen - das macht vielleicht unser widerlichstes Stück Arbeit aus, an all der an sich nicht unbedenklichen Arbeit, deren sich heute ein Psychologe zu unterziehn hat; … Alles, was sich heute als 'guter Mensch' fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgend einer Sache anders zu stehn als unehrlich-verlogen, abgründlich-verlogen, aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese 'guten Menschen', - sie sind allesammt jetzt in Grund und Boden vermoralisirt und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und verhunzt für alle Ewigkeit. Wer von ihnen hielte noch eine Wahrheit 'über den Menschen' aus! " (Nietzsche o.J./ 1885/ 1886, 452f.). "Unter ihnen giebt es in Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort 'Gerechtigkeit' wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzten Mundes, immer bereit, alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muths seine Straße zieht. Unter ihnen fehlt auch jene ekelhafteste Species der Eitlen nicht, die verlognen Mißgeburten, die darauf aus sind, 'schöne Seelen' darzustellen, und etwa ihre verhunzte Sinnlichkeit in Verse und andere Windeln gewickelt, als 'Reinheit des Herzens' auf den Markt bringen: die Species der moralischen Onanisten und 'Selbstbefriediger'. Der Wille der Kranken, irgend eine Form der Überlegenheit dazustellen, ihr Instinkt für Schleichwege, die zu einer Tyrannei über die Gesunden führen, - wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten zur Macht! " (Nietzsche o.J./ 1885/ 1886, 434). Entlarvungsprogramme in der Art von Luhmann oder Nietzsche argumentieren mit drei Arten von Protagonisten: Täuschern, Getäuschten und Ent-Täuschern. Letzte- <?page no="383"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 365 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ re teilen die beiden anderen Rollen zu und erkennen das moralische Getue als Fassade; in ihren Augen werden die Adressaten und das Publikum absichtlich getäuscht und/ oder sie täuschen sich gern, weil sie sehen wollen, was ihnen vorgespielt wird, um nicht andere brutalere Wahrheiten sehen zu müssen. Der Aufklärer gefällt sich in der Pose des Wissenden und Sehenden, der den Schleier wegzieht und als Strahle-Mann Licht ins Dunkel bringt. Aber er selber täuscht sich auch, denn er hellt nicht alles auf, im Gegenteil, je stärker etwas angeleuchtet wird, desto mehr blendet diese Helligkeit und desto härter ist der Schlagschatten, den die Dinge werfen. Was sich hinter ihrem (und seinem) Rücken abspielt, kann der erleuchtete Beleuchter nicht mehr sehen. Es macht die abgedunkelte Hälfte des Mythos der Aufklärung aus, dass ihre Schlachtrufe "Vernunft! Sachlichkeit! Logik! Transparenz! " auch die eigene Angst vor dem Unberechenbaren, Irrationalen, Emotionalen, Triebhaften etc. übertönen. Auf-Klärung verabsolutiert die eigene Position und - Dialektik! - praktiziert jene Intoleranz gegen das Andere, gegen die sie vorgeblich ankämpft. Ein ästhetischer Ausweg ist es, den schönen Schein als Verhüllung anzupreisen, die den Anblick unappetitlicher Nacktheiten erspart. Der (selbst-)beruhigende Slogan lautet: Es ist nicht gut Illusionen zu rauben; Entwöhnte vertragen 'die Wahrheit' nicht. Mundus vult decipi. 95 Noch dazu, wo der Glaube an die Wahrheit der Großen Erzählungen geschwunden ist, es nur Wahrheits-Ähnlichkeit gibt und Simulacra das Einzige sind, was Realität ist/ hat. Als profanes Beispiel kann der Enthüllungsjournalismus jener Wirtschaftsmagazine dienen, die davon leben, die Allzumenschlichkeit der Topmanager anzuprangern, die sie selbst vorher lobhudelnd zu Halb-Göttern stilisiert haben. Montage und Demontage sind die zwei Seiten einer Medaille. Vorstände - einerseits als asketische Heroen des Kapitalismus gefeiert - sind geldgierig (und fordern von Arbeitern und Angestellten Lohnzurückhaltung), statussüchtig (und propagieren Effizienz), borniert (und verkünden Visionen), ohne soziales Gewissen (und verlangen volle Identifikation mit der Firma), entscheidungsschwach (sichern sich durch Heere von Consultants ab), beeinflussbar (machen jede neue Managementmode mit) usw. 96 Implizit wird so das Vor-Urteil bestätigt, dass wirtschaftlicher Erfolg und eine saubere Weste nicht zusammen vorkommen. 95 Die Welt will getäuscht werden. 96 Siehe Heines Doppelmoral-Entlarvungslied zu Beginn des 'Wintermärchens' (2005/ 1844): "Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, Ich kenn auch die Herren Verfasser; Ich weiß, sie tranken heimlich Wein Und predigten öffentlich Wasser." <?page no="384"?> 366 Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Milton Friedmans Als ob Als berühmtester Vertreter der ökonomischen Unabhängigkeitserklärung gilt der Nobelpreisträger Milton Friedman (siehe Beleg 5-2). Die Essenz seiner Ausführungen lässt sich in der viel zitierten Formulierung zusammenfassen: The business of business is business. B e leg 5-2: Die Position Milton Friedmans (1970 bzw. 1990) " … der Geschäftsführer [executive] ist ein Agent, der den Interessen seines Herrn" dient (128). Damit stellt Friedman klar: Die Kapitalgeber, und nur sie, können ihr Geld für soziale Zwecke ausgeben, nicht aber die Leitenden Angestellten das Geld der Aktionäre. "… die Doktrin der 'sozialen Verantwortung' schließt die Übernahme der sozialistischen Ansicht ein, dass politische, nicht Marktmechanismen der angemessene Weg sind, die Allokation knapper Ressourcen für alternative Verwendungen zu bestimmen" (128). "Ich war immer wieder sehr beeindruckt vom schizophrenen Charakter vieler Geschäftsleute. Sie sind in der Lage extrem weitsichtig und mit klarem Kopf in internen Angelegenheiten ihres Geschäfts zu sein. Sie sind unglaublich kurzsichtig und wirrköpfig in Dingen, die außerhalb ihrer geschäftlichen Angelegenheiten liegen, aber das mögliche Überleben des Unternehmertums im Allgemeinen betreffen" (130). "In einem idealen freien Markt, der auf Privateigentum beruht, kann kein Individuum ein anderes zwingen, jede Kooperation ist freiwillig, alle Kooperationspartner profitieren oder sie brauchen nicht teilzunehmen. Über die geteilten Werte und Verantwortlichkeiten von Individuen hinaus gibt es keine Werte, keine 'soziale' Verantwortung. Die Gesellschaft ist eine Sammlung von Individuen und von verschiedenen Gruppen, die sie freiwillig bilden" (130). Schließlich gibt er den Unternehmenslenkern den unverhüllt zynischen Ratschlag, mit dem durch die öffentliche Meinung erzwungenen Gerede über die soziale Verantwortung des Unternehmens aufzuhören, weil sie wissen, dass sie ihm keine Taten folgen lassen werden: "Ich wäre inkonsistent, würde ich die Unternehmensführer auffordern, dieses scheinheilige Getue bleiben zu lassen, weil es den Grundlagen einer freien Gesellschaft schadet. Das hieße ich würde sie auffordern 'soziale Verantwortung' zu praktizieren! Wenn unsere Institutionen und die öffentlichen Einstellungen dafür sorgen, dass es im Eigeninteresse der Unternehmensführer liegt, auf diese Weise ihre Handlungen zu bemänteln, dann kann ich nicht viel Entrüstung aufbringen, um sie anzuprangern" (130). Friedman führt ein Selbstzitat aus seinem Buch 'Capitalism and Freedom' an, das in kaum einem einschlägigen Wirtschaftsethik-Text fehlt. Ich gebe es im Originalton wieder: "... there is one and only one social responsibility of business - to use its resources and engage in activities designed to increase its profits so long as it stays within the rules of the game, which is to say, engages in open and free competition without deception or fraud" (131). <?page no="385"?> Kapitel 5: Die Moral der Mikropolitik 367 ________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________________ Kommentar: - Friedman idealisiert den freien Markt - als ob er realisiert wäre. Wenn er tatsächlich so funktionierte, wie Friedman es unterstellt, würde er in einer besseren argumentativen Position sein. - Es interessieren ihn nur die Rechte/ Interessen der Anleger (alles 'Soziale' ist über Steuern abgegolten, der einzelne Topmanager kann sich nicht zum Quasi-Politiker ernennen, eine Art Steuer freiwillig abführen und damit den Eigentümern dieses Geld vorenthalten). - Das Unternehmen 'gehört' allein den Geldgebern; die Mitarbeiter sind durch Löhne und gesetzliche Abgaben entgolten, die Öffentliche Hand durch Steuern. Die rules of the game sind klar, bekannt, nicht widersprüchlich und werden eingehalten. - Wer nicht unter diesen Bedingungen mitmachen will, kann es ja bleiben lassen. Als einer der (Wieder-)Begründer der Ökonomik argumentiert Friedman streng methodologisch. Bei seinen Überlegungen zur positiven (nicht: normativen) Ökonomik (Friedman 1953) sieht er das Konzept des homo oeconomicus nicht als Menschenbild, sondern als Methode. Friedman operiert mit Als-ob-Konstruktionen (siehe die differenzierte Analyse in Ortmann 2004, 220ff.). Berühmt ist Friedmans Blatt-Metapher (1953, 19): Die Blätter eines Baums verhalten sich, als ob sie rationale Nutzenmaximierer wären, weil sie an jenen Stellen (stärker) wachsen und sich ausrichten, die ihnen die größte 'Ausbeute' an Sonnenlicht ermöglichen. An diesem Beispiel illustriert Friedman, dass es der Ökonomie als einer positiven Wissenschaft nicht um die Handlungsmotive der Akteure, sondern um Erklärungen der Handlungsergebnisse zu tun ist. Für ihn ist nicht der Realismus der zu Grunde gelegten Annahmen für den Wert einer Theorie entscheidend, sondern die Stringenz ihrer Folgerungen. Das Problem einer solchen Herangehensweise ist die Gefahr modellplatonischer Unfruchtbarkeit. Die Theorie dreht sich im Kreis ihrer Setzungen und immunisiert sich gegen die Möglichkeit der Falsifikation (so Albert 1999). Sie wird auf diese Weise zum tautologischen Sprach-Spiel. Moral als Steuer? Aus mikropolitischer Perspektive ist relativierend anzumerken, dass sich Friedman nicht mit Moral im Unternehmen beschäftig