Architekturtheorie
Wohnen, Entwerfen, Bauen
0201
2008
978-3-8385-2963-9
UTB
Als eine Theorie des architektonischen Verhaltens beschäftigt sich der Band vor allem mit zwei Aspekten: einer ethischen Bestimmung von Architektur und der ästhetischen Erfahrung mit Architektur.
Die gängigen Architekturtheorien sind zumeist Anthologien und behandeln Architektur aus der Perspektive des Machens und des professionellen Urteils. Dabei wird Architektur ausschließlich mit Baukunst identifiziert. Hahn stellt dagegen den Gebrauch von bzw. die Begegnung mit Architektur ins Zentrum architektonischen Denkens.
<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim · Basel Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien Verlag Barbara Budrich Opladen · Farmington Hills facultas.wuv Wien Wilhelm Fink München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen C. F. Müller Verlag Heidelberg Orell Füssli Verlag Zürich Verlag Recht und Wirtschaft Frankfurt am Main Ernst Reinhardt Verlag München · Basel Ferdinand Schöningh Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich UTB 2963 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Beltz Verlag Weinheim · Basel Böhlau Verlag Köln · Weimar · Wien Verlag Barbara Budrich Opladen · Farmington Hills facultas.wuv Wien Wilhelm Fink München A. Francke Verlag Tübingen und Basel Haupt Verlag Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft Stuttgart Mohr Siebeck Tübingen C. F. Müller Verlag Heidelberg Orell Füssli Verlag Zürich Verlag Recht und Wirtschaft Frankfurt am Main Ernst Reinhardt Verlag München · Basel Ferdinand Schöningh Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich UTB 2963 Architekturtheorie_Huter.indd 1 23.01.2008 15: 27: 42 Uhr <?page no="2"?> Achim Hahn Architekturtheorie Wohnen, Entwerfen, Bauen UVK Verlagsgesellschaft mbH Architekturtheorie_Huter.indd 3 23.01.2008 15: 27: 42 Uhr <?page no="3"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8252-2963-4 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © Verlag Huter & Roth KG, Wien 2008. www.huterundroth.at Lizenznehmer: UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz Satz und Layout: Haller & Haller, Wien Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Umschlagillustration: Entwurfszeichnung von Josef Frank, Sammlung Johannes Spalt, mit freundlicher Genehmigung Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-21 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de Achim Hahn ist Professor für Architekturtheorie und Architekturkritik an der Technischen Universität in Dresden. Architekturtheorie_Huter.indd 4 23.01.2008 15: 27: 42 Uhr <?page no="4"?> Vorwort 6 Einleitung 9 Architekturtheorie, Architekturpraxis 1. Vorlesung 30 Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? 2. Vorlesung 50 Welt und Umwelt des Bauens 3. Vorlesung 75 Soziale Umwelt und menschliche Grundsituation 4. Vorlesung 92 Jenseits der Zuschauerperspektive: Wahrnehmung als sinnliche Begegnung mit der Welt 5. Vorlesung 110 Schauen, sehen, wissen: Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 6. Vorlesung 133 Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 7. Vorlesung 157 Das Wohnen 8. Vorlesung 178 Das Entwerfen 9. Vorlesung 206 Ästhetische Wirkung und architektonische Erfahrung 10. Vorlesung 224 Schön, nützlich, angemessen: Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 11. Vorlesung 247 Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten (Zur Kritik der Architekturkritik) 12. Vorlesung 275 Architektur und Landschaft Literatur 294 Namensregister 303 Inhaltsverzeichnis Architekturtheorie_Huter.indd 5 23.01.2008 15: 27: 42 Uhr <?page no="5"?> Vorwort „[...] Die Baukunst ist der einzige Gegenstand, über welchen man ein solches Buch schreiben kann; denn nirgends ist das erste Bedürfnis und der höchste Zweck so nah verbunden: des Menschen Wohnung ist sein halbes Leben, der Ort, wo er sich niederlässt, die Luft, die er einatmet, bestimmen seine Existenz […].“ Goethe an Johann Heinrich Meyer, 30. Dezember 1795 Das hier vorgelegte Buch basiert auf einer Vorlesungsreihe, die ich zuerst unter dem Titel „Ausdruck und Gebrauch. Einführung in die Architekturtheorie“ vor Studierenden der Architektur an der Technischen Universität Dresden gehalten habe. In vielen Gesprächen und Diskussionen mit den Studierenden sowie meinen Doktoranden bin ich davon überzeugt worden, dass Revisionen, Zuspitzungen, Verdeutlichungen und Ausweitungen des Vorgetragenen notwendig sind. Den Teilnehmern an den „realen“ Vorlesungen gilt an dieser Stelle mein besonderer Dank. Ich habe für diese Veröffentlichung den Vorlesungscharakter „stilistisch“ beibehalten, da ich so versuchen kann, den Leser persönlich anzusprechen und ihm das Gefühl zu geben, dass ich mich mit ihm „im Gespräch“ befinde. Das ist gute hermeneutische Tradition. Ich bemühe mich auch, Fragen und Einwände des Lesers auf das Niedergeschriebene zu antizipieren, nicht zuletzt um ihm zu zeigen, dass auch ich mich selbst erst dahin durchringen musste, was schließlich als eine eigene „Wahrheit“ formuliert wird. Jede Vorlesung sollte thematisch in sich abgeschlossen sein und wenn nötig „für sich“ stehen können. So sind „Wiederholungen“ bzw. Querverweise auf schon Formuliertes gar nicht zu vermeiden, sondern didaktisch wünschenswert. Sie fördern, Zusammenhänge zwischen notwendigerweise verstreuten Ausführungen herzustellen. Denn mal kommt man von der einen, mal von einer anderen Seite auf ein Thema zu. Zum anderen ist es nützlich und sinnvoll, hier und dort, wo es sich ergibt, auf andere Vorlesungen (nach vorne und nach hinten) zu zeigen, wo bestimmte Fragestellungen intensiver untersucht werden. Auf der einen Seite können und müssen Probleme begrifflich vertieft Architekturtheorie_Huter.indd 6 23.01.2008 15: 27: 42 Uhr <?page no="6"?> 7 angesprochen werden, auf der anderen Seite muss dargelegt werden, dass und wie sie miteinander korrespondieren. Dem Leser wird auffallen, dass ich an einigen wenigen Stellen ungewohnt lange Zitate anführe. Warum? Weil der Leser mit dem „Denk-Raum“ eines Autors vertraut gemacht werden soll. Dies gelingt am besten, wenn man seinen Gedankengang einmal unverkürzt und nicht paraphrasierend wiedergibt. So wird man auf direkte Weise mit einem (fremden) Denken konfrontiert. Natürlich hätte ich auch präzise zusammenfassen können. Aber darauf kam es mir gar nicht an. Ein ausführliches Zitat ist immer authentischer als jede sekundäre Darstellung. Diese Methode wende ich im übrigen auch in meinen Vorlesungen in Dresden an. Statt Bilder „zeige“ ich und lese mit meinen Studenten Zitate. So werden sie auch mit der Sprache und ihren Ausdruckmöglichkeiten, die immer etwas Einmaliges und Unmittelbares besitzen, vertraut. Ein zentrales Anliegen jenseits aller didaktischen Eigenarten habe ich freilich stets darin gesehen, deutlich und plausibel zu machen, dass Architekturtheorie die permanent vorgetragene Erwartung abzuweisen habe, so etwas wie eine Entwurfslehre sein zu sollen. Architekturtheorie ist nicht hand- oder lehrbuchfähig, denn, so meine Überzeugung, sie liefert kein Rezeptwissen, sie taugt nicht zum stets griffbereiten Ratgeber. Es geht uns doch um andere Probleme! Der Mensch sei das Maß aller Dinge (Protagoras) und auch der Architektur (Vitruv). Was oder wer ist aber der Mensch, dass er sich überhaupt das „Maß der Wahrheit“ geben kann? Dieses Buch unterbreitet seinen Lesern einen Vorschlag, wie sich Architekturtheorie geisteswissenschaftlich ausbilden könnte, um diese Frage (neben anderen) überhaupt in ihrer Fragwürdigkeit zu verstehen. Für dieses Ansinnen traue ich dem hermeneutischphänomenologischen „Denkstil“ am meisten zu. Er nimmt selbst eine inhaltliche Position ein und vertritt diese, indem eine bestimmte theoretische Haltung zur Sache des Wohnens, Entwerfens und Bauens vorgetragen wird. In deskriptiver Methode und im Rückgang auf die Phänomene sowie im interpretativen Bezug zur narrativen Pragmatik der alltäglichen Erfahrung breitet Architekturtheorie ihr Können aus. Sie versucht einen Ton zu treffen, dem es mehr um Hinführung, Verstehen und Einsichten geht denn um Erklärungen und Beweisbares. Dieser Ton gewinnt seine charakteristische Mitte dadurch, dass er die Phänomene in das Ganze unserer gemeinsamen Lebenswelt stellt. Wir dürfen die ästhetische Erfahrung mit Architektur, so meine Überzeugung, nicht gegen den Gebrauch der Wohndinge ausspielen, vielmehr haben wir zu zeigen, dass jene einer Erweiterung des Gebrauchs, ja einer eigenen Gebrauchserfahrung gleichkommt. Diese primär-ganzheitliche Bezugnahme auf die Lebenswelt und das menschliche Lebensführungswissen schafft wieder ein Verständnis wenn nicht für die Einheit von Ethik und Architekturtheorie_Huter.indd 7 23.01.2008 15: 27: 42 Uhr <?page no="7"?> Ästhetik, so doch für einen pragmatischen Zusammenhang von Wohnen, Entwerfen und Bauen. Dieses Buch konnte nur geschrieben werden, weil meine Fakultät und die TU Dresden so großzügig waren, mir ein Forschungsfreisemester zu bewilligen. Die meiste Zeit durfte ich im österreichischen Alpendorf St. Martin verbringen, wo ich die Ruhe fand, meine Gedanken zu sortieren. Seitdem erkunden sich die Bewohner freundlich bei mir, ob das Buch denn nun fertig sei. Zu danken habe ich meinem Verleger, Dr. Michael Huter, der vertrauensvoll mir den Vorschlag unterbreitete, in der renommierten Schriftenreihe der UTB zu veröffentlichen. Verschiedene Kapitel einer früheren Fassung lasen meine Kollegen Prof. Dr. Eduard Führ und Dr. Henrik Hilbig. Ich danke Ihnen sehr für ihre freundschaftliche und konstruktive Kritik. Berlin/ Dresden Januar 200 Architekturtheorie_Huter.indd 8 23.01.2008 15: 27: 43 Uhr <?page no="8"?> Einleitung Architekturtheorie, Architekturpraxis Entwerfen und Wohnen, Wohnen und Entwerfen - im Rahmen dieses Tuns und Erduldens hat sich Architekturtheorie zu etablieren. Sie weiß, dass sie sich auf eine Wirklichkeit einlässt, der sie nur nachträglich ihre Wirkung auf das Leben nachspüren und nachsprechen kann. Dabei macht sie unvermutete Entdeckungen, zum Beispiel diejenige, von der der Philosoph Ernst B loch (1 5 -1977) handelt: Nicht überall muß gleich der Fuß hingesetzt werden. Wie schön sieht eine entworfene Treppe aus, klein eingezeichnet. Immer schon wurde der Reiz der Pläne und Aufrisse bemerkt. Das meiste davon geht ins fertige Haus ein, und doch war es Geschöpf auf dem Papier, das zart ausgezogene, ein anderes. Ähnlich frisch, zuweilen auch trügend wirken gezeichnete Innenräume, selbst wirkliche Zimmer, sofern sie durchs Schaufenster gesehen werden oder durch eine Schranke abgetrennt sind. Wer wollte nicht in diesen edel schwellenden Sesseln ruhen, unter der freundlich gestellten Lampe, im abendlichen Zimmer. Möchte uns sein Friede eigen sein, der ganze Raum erzählt von Glück. Aber das Glück liegt im bloßen Blick von außen, Bewohner könnten es nur stören. Auch hier also lebt der reizvolle Plan fort, wenngleich als körperlich gewordener; eine täuschende Frische des Entwurfs lebt im unbetretenen Raum noch fort. 1 Am Wort „Glück“ reibt sich beides: der Entwurf und das Wohnen. „Glück“ (griech.: eudaimonia, wörtlich übersetzt: der gute Dämon) bringt das Strebeinteresse des Entwerfers, einen „schönen, gelungenen Raum“ zu schaffen, ebenso zum Ausdruck wie die Erwartung des Bewohners, im Frieden zu bleiben. Im Übergang dieser Wahrheiten hat Architekturtheorie ihren Platz: Damit das Entwerfen wirklich „glücken“ und gelingen kann, d.h. den Hinsichten des Wohnens entspricht, bedarf es nicht nur des positiven Wissens von Ursachen, Wirkungen und Mitteln, sondern ebenso des Könnens, die Ziele, Zwecke, Prinzipien und Maxime der menschlichen Lebensgestaltung zu treffen. Bloch 959, 8 9 Architekturtheorie_Huter.indd 9 23.01.2008 15: 27: 43 Uhr <?page no="9"?> Einleitung 10 1. Warum Theorie? „Nicht das Leben möglich, sondern es glücklich zu machen, sollte seit der Antike der Ertrag der Theorie sein.“ 2 Dabei können wir es offen lassen, ob das menschliche Theoriestreben dem Naturbedürfnis der puren Lebenserhaltung oder dem ungenötigten Impuls frei gewählter Neugierde folgt. Es ist aber Skepsis einer Theorie entgegen zu bringen, so Hans B lumenBerg (1920-1996), die sich allein innerwissenschaftlicher Problemlagen verdankt, denen gegenüber sie sich doch gerade kritisch oder begründend verhalten soll. Es stimme nämlich etwas mit der Motivationslage nicht, wenn Wissenschaft und Theorie sich wechselseitig bestätigen. Theorie bezieht ihre Beweggründe und Fragehaltung nicht aus dem akademischen Lehr- und Forschungsbetrieb, sondern empfängt sie von außerwissenschaftlichen Anregungen. Deshalb ist eine problematische Situation von Theoriebildung und ihrer gesellschaftlichen bzw. lebenspraktischen Relevanz erreicht, „wenn die motorischen Impulse der Theorie nicht mehr unmittelbar aus der ‚Lebenswelt‘ kommen, nicht mehr aus dem menschlichen Interesse der Orientierung in der Welt, nicht mehr aus dem Willen zur Erweiterung der Wirklichkeit oder dem Bedürfnis nach Integration des Unbekannten.“ 3 Inwiefern kann die Architekturtheorie in ihrer gegenwärtigen Ausrichtung dieser Maxime gerecht werden? Dass sich eine Fachwissenschaft über ihre leitenden Begriffe und Voraussetzungen sowie die zentralen Texte ihrer eigenen Profession verständigen muss, steht außer Frage. Nicht nur das: Sie muss die interne Auseinandersetzung mit den Klassikern und klassischen Texten als wesentlichen Zug der Schärfung und Profilierung der Disziplin unentwegt anstreben, fördern und durchführen. Dabei geht es nicht allein darum zu entscheiden, was jeweils zum Kanon gehört, sondern ebenso zentral ist die Interpretation ausgewählter Meisterstücke. Eine Disziplin ist immer so frisch und aufregend, wie es ihr gelingt, aus aktuellem Anlass, d.h. hinsichtlich des gesellschaftlichen und sozialen Wandels, ihren Traditionsbestand mit neuen Fragestellungen zu konfrontieren. Bei einer Disziplin wie der Architekturtheorie darf man getrost danach fragen, auf welchem Weg sie zu einem Einverständnis über ihre kanonischen Begriffe, Texte und Themen kommen will. In ihren Reihen führt sie keine autoritativen Wissenschaftler, die in beispielgebender Virtuosität die Themen, Aufgaben, zentralen Unterscheidungen und Grundbegriffe der Disziplin festlegen konnten. Von konsistenter Methodologie und Methode ganz zu schweigen! Stattdessen scheint man sich unter Architekten damit zufrieden zu geben, unter Architekturtheorie das verstehen zu wollen, „was von Archi- Blumenberg 997, 66 A.a.O., 65 Architekturtheorie_Huter.indd 10 23.01.2008 15: 27: 43 Uhr <?page no="10"?> Architekturtheorie, Architekturpraxis 11 tekten zu ihren Werken geäußert wird. Das hat natürlich große Tradition, ist teilweise ganz spannend, kommt aber heute oft sowohl als Pseudophilosophie daher, von der man meint, dass ihre Tiefe in der Unverstehbarkeit liege, als auch als Legitimations- und Marketinggeschwätz, bei dem jeder Mist durch eine Reihe beliebiger, aber sprachgewichtiger Satzmodule übertüncht wird.“ So kann Architekturtheorie freilich nicht grundlegend gesichert werden. Sie muss mit ihren Möglichkeiten in dem außerwissenschaftlichen Umkreis verankert sein, aus dem ihre zentralen oder prinzipiellen Fragestellungen und Bedeutungen erst zu gewinnen sind. Damit bleibt sie zum einen gebunden an das menschliche Erfahrungsleben, zum anderen an die Wissenschaften, die kompetent dieses lebensweltliche Feld bereits bearbeiten. Ein auch methodologisch anspruchsvolles Verständnis vom bauenden und wohnenden Menschen und seiner Welt lässt sich weder intern aus einer Beobachtung der herstellenden Tätigkeit des „Bauens“ noch extern im Horizont einer als Ästhetik missverstandenen Architekturbetrachtung erzielen. Vergewissern wir uns zunächst des Aufgabenfelds und des disziplinären Rahmens, in welchem sich die Architekturtheorie derzeit bewegt. 5 Aus Mangel an einer plausiblen Grundlegung ihrer Disziplin, behilft sich die Architekturtheorie seit Jahrzehnten damit, Anthologien zusammenzustellen in der Hoffnung, bei gegenseitiger Reibung der Autoren könnte ein Funken von Einsicht überspringen. 6 Immer wieder werden „neue“ Autoren „entdeckt“ in der Hoffnung, sie könnten dem Bauen und Beschreiben der Bauaufgabe entscheidende Impulse geben. Fritz n eumeyer (*1946) empfiehlt der Architekturtheorie, „ein neues Bewusstsein von der Kontinuität des Nachdenkens über die eigene Disziplin herzustellen und dieses zur Fortsetzung offene Erbe neu zu erschließen“. 7 Wünschenswert wäre es sicherlich, wenn dies gelänge. n eumeyer versucht, die Architekturtheorie selbstbewusst gegen Nachbardisziplinen wie die Philosophie abzugrenzen. Mit seinem Semper- Nietzschebuch Der Klang der Steine hat er viel in dieser Richtung geleistet. Eine Kontinuität und ein Erbe müssten aber doch auch im je konkreten Ringen um die Haltung des Theoretikers zur lebensweltlichen Bedeutung seines Gegenstands zum Tragen kommen. Auch Werner o echslin (*19 ) erwähnt „beiläufig … (den) Zusammenhang moderner Theoriebildung mit Führ 005 5 An dieser Stelle möchte ich auf das von Eduard F ühr und Fritz Neumeyer im Jahr 00 durchgeführte Rundgespräch zur Architekturtheorie verweisen, dessen Beiträge im Internet veröffentlicht vorliegen. Darin ist ein einzigartiger Überblick über die derzeitige Lage der deutschsprachigen Architekturtheorie zusammengestellt, vgl. Wolkenkuckucksheim http: / / www.cloud-cuckoo.net. 6 Gerade in jüngster Zeit sind entsprechende Zusammenstellungen veröffentlicht worden. Ich nenne hier: F. Neumeyer, Quellentexte zur Architekturtheorie ( 00 ); Á. Moravánszky, Architekturtheorie im 0. Jahrhundert ( 00 ); G. de Bryun, architektur-theorie.doc. Texte seit 960 ( 00 ); V. Lampugnani u.a., Architekturtheorie 0. Jahrhundert ( 00 ). Siehe auch die bei Moravánszky genannten us-amerikanischen Anthologien, 00 , , Anm. 7 Neumeyer 005 8 Neumeyer 00 Architekturtheorie_Huter.indd 11 23.01.2008 15: 27: 43 Uhr <?page no="11"?> Einleitung 12 der Tradition der Architekturtheorie“. 9 Schauen wir näher hin, dann merken wir, dass es o echslin um Kunsttheorie bzw. Ästhetik geht. Aber in einem kunstwissenschaftlichen Diskurs werden wir das pragmatisch-erfahrungsmäßige der Wirklichkeit von Architektur niemals entdecken. Insofern gibt es an dieser Stelle keine gelebte Tradition, die der Architekturtheorie aus ihrem Dilemma der Lebensweltvergessenheit heraushilft. So mag es den interessierten Beobachter auch nicht verwundern, wenn er feststellt, dass innerhalb der aktuellen Architekturtheorie kein Konsens darüber besteht, über was wir uns unterhalten, wenn wir uns „theoretisch“ zur Architektur verhalten: über Bau-Kunst, über die Befriedigung vitaler Bedürfnisse, über Massenphänomene, über kulturhistorische Formen von Umweltaneignung usw. Ich schließe mich hier dem Urteil Fritz n eumeyers an, der von der „durchgängig anzutreffende(n) allgemeine(n) Sprach- und Begriffslosigkeit“ spricht, die freilich nicht nur bei Studierenden der Architektur auftaucht. 10 Ákos m oravánszky (*1950) weist zurecht auf die „Ortlosigkeit der Architekturtheorie“ hin, die verstärkt zur Bereitschaft geführt habe, „Methoden und Inhalte der Geistes- und Naturwissenschaften zu absorbieren“ 11 . Es ließen sich ohne großen Aufwand einige Passagen aus gegenwärtigen architekturtheoretischen Werken anführen, die interessante, aber auch eigenwillige Zugänge zum Phänomen Architektur gewählt haben. In der Regel sind sie untereinander nur schwer vergleichbar. Dies hat wohl in erster Linie damit zu tun, welche gelernte Wissenschaft der jeweilige Autor im Rücken hat. Der überwiegende Teil ist von Hause aus Kunstwissenschaftler bzw. Kunst- oder Bauhistoriker. Freilich finden wir auch Architekten darunter, die sich auf die Theoriegeschichte ihres Fachs spezialisiert haben. Dies ist nicht zu kritisieren. Angreifbar ist jedoch die fehlende Reflektion der eigenen Position und ihrer Prinzipien im Umfeld pluralistischer Weltdeutungen sowie die Unschärfe der Begriffsverwendung. Ich möchte dies an folgendem Beispiel anschaulich machen. Hanno-Werner k ruft (193 -1993) stellt in seiner groß angelegten Geschichte der Architekturtheorie folgende These auf: „Die Wirkung der Architekturtheorie auf die gebaute Architektur ist durch Ambiguität [Mehrdeutigkeit] ... gekennzeichnet. Sie kann Normen setzen, deren Erfüllung eine wirklich schlechte Architektur nahezu unmöglich macht. ... Es muß möglich sein, Architekturtheorie an der gebauten Architektur zu überprüfen. Darf man darüber hinaus folgern, dass gute Architektur immer theoretisch begründbar ist oder sogar begründet werden muß? “ 12 9 Oechslin 005 0 Vgl. Neumeyer 005 Moravánszky a.a.O., 6 Kruft 995, 6 Architekturtheorie_Huter.indd 12 23.01.2008 15: 27: 43 Uhr <?page no="12"?> Architekturtheorie, Architekturpraxis 13 k ruft spricht von „guter Architektur“ und bringt damit eher beiläufig den Aspekt von „guter“ (wohl im Gegensatz zu „schlechter“) Architektur ins Gespräch, ohne auf die vielfältigen Verwendungsweisen von „gut“ einzugehen. Offensichtlich bemerkt er gar nicht, dass er hier eine lebensweltliche Überzeugung ausspricht - nämlich dass Jedermann am „Guten“ interessiert ist - der nachzuforschen architekturtheoretisch unverzichtbar ist. Umgangssprachlich verwenden wir oftmals gut und schön in fast gleichem Sinne. Das Schöne erfreut uns und tut uns gut - gleichermaßen. Der schön geschnittene Anzug steht uns gut und passt obendrein. Wir zeigen das, indem wir ihn oft und gerne tragen. Könnte man dies aber theoretisch begründen? Etwa so: Nimm nur diesen Stoff und diesen Schnitt, dann wird es ein „schöner“ Anzug, der gut sitzt und oft getragen wird? Wohl kaum. Wichtig ist in diesem Fall, dass der Schneidermeister seine Werkzeuge fehlerlos gebraucht. Dafür benötigt er weder einen strengen Begriff von „Werkzeug“ noch gar eine Theorie. Allein die „Hinsicht des Gebrauchs“ 13 zählt. Aber diese Hinsicht kann durchaus ein Verständnis von „guter Arbeit“ enthalten. Unser Meister wird sich bei seinem Tun auf etwas verstehen! Der erfahrene Maßschneider wird mehr als nur ein leidlicher Menschenkenner sein und die Persönlichkeiten und Vorlieben seiner Kunden kennen. Vielleicht muss er auch einiges von den Gelegenheiten wissen, bei denen dieser Ansatz getragen werden soll. Wir wollen uns wohlfühlen, wenn wir seinen Anzug tragen. Diese lebensweltliche Fundierung des Guten in einem „guten, gelingenden Leben“ hat offensichtlich nichts mit Theorie, wie k ruft sie sich vorstellt, zu tun. Sie hat aber gewiss damit zu tun, dass man „gut“ und „schön“ nicht vom Gebrauch und Gefallen derjenigen Dinge abstrahieren darf, die man als gut und schön anspricht. „Gute“ Architektur hingegen, wie k ruft glaubt, entspreche der Anwendung gewisser Regeln, insofern sie diese erfüllt oder auf sie zurückgeführt werden kann. Ist Architektur „gut“ und „gelungen“, weil sie nach festgeschriebenen Regeln der Kunst „gebaut“ wurde? „Gut“ ist aber auch ein moralischer Terminus, mit dem wir angeben, ob ein Tun unseren ethischen Lebensanforderungen entspricht oder nicht. Insofern wird es als Prädikat benutzt. „Das hast du gut gemacht.“ Damit bewerten wir ein Handeln, indem wir auch auf seine Folgen achten. Waren das Entwerfen, das Planen, das Bauen „gut“? Ist es aber möglich „gut“ im moralischen Sinne zu verwenden, wenn wir das Bauen (Herstellen) beurteilen wollen? Hier können wir doch nur untersuchen und feststellen, dass alles fachgerecht und insofern richtig, d.h. nach gesetzten und daher überprüfbaren „Regeln einer Kunst“ gemacht wurde. Allein der Sachverständige oder Fachmann kann die Richtigkeit eines Machens überprüfen. Eine Architektur als „gut“ zu bezeichnen, setzt indes Vgl. Rothacker 960 Architekturtheorie_Huter.indd 13 23.01.2008 15: 27: 44 Uhr <?page no="13"?> Einleitung 14 Erfahrungen mit ihrem Gebrauch voraus. „Gut“ können die Erfahrungen genannt werden, die eine menschliche Gemeinschaft im Umgang mit einer Architektur macht. Dieser Umgang wird dann als angenehm und nützlich bewertet in Bezug auf Angelegenheiten des Lebens, die man „mit“ einem Bauwerk verbindet. Achten wir deshalb auf die Folgen gemachter Erfahrungen! Mit den folgenden Autoren fühlt sich mein Ansatz verwandt. Er teilt mit ihnen die wesentlichen Fragen und eine differenzierte Sicht auf ihre wissenschaftliche Beantwortung. Dennoch ist es angebracht zu zeigen, wo ich dennoch eine andere Haltung einnehme und zu eigenen Antworten komme. Auch dies kann in dieser Einleitung nur kursorisch-prinzipiell an drei Beispielen vorgetragen werden. Häufig begegnen wir einem „Übersetzen“ von Architektur mit Baukunst. Dabei ist nicht immer ganz klar, was unter „Kunst“ verstanden werden soll. Es geht zum einen um die gesellschaftliche (begriffliche) Einordnung und Würdigung des „Könnens“, zum anderen um die Beurteilungsmaßstäbe gegenüber dem Hergestellten. Ich zitiere, um uns fürs erste ein wenig Klarheit zu verschaffen, den amerikanischen Philosophen und Architekturwissenschaftler Karsten h arries (*1937), der dieses Problem reflektiert: „Warum überhaupt Architektur? Verstehen wir Architektur einfach als das Bauhandwerk oder Baufach, den Architekten als den Baufachmann oder Bautechniker, beantwortet sich unsere Frage von selbst: so verstanden gehört Architektur zum alltäglichen Leben: es geht nicht ohne sie. Aber das Wort ‚Architektur‘ erhebt ja oft höhere Ansprüche, definieren wir doch Architektur als Baukunst, und Kunst meint hier mehr als ein besonders geschultes Können, erhebt Anspruch auf Schönheit und Schöpferkraft“. 1 Wenn h arries Architektur als (relativ autonomer) Kunst höher bewertet als das „Lebensmittel“ Architektur, dann verzichtet er auf eine Fülle alltäglicher Erfahrungen und nicht-ästhetischer Erkenntnisse. Fritz n eumeyer benutzt einen Theoriebegriff, wie er sich seit der Neuzeit mit ihrem Wissenschaftsverständnis immer drängender durchgesetzt hat. „Alle Theorie ist notwendigerweise Systemglaube und gründet, wie jeder Glaube, auf Metaphysik“. 15 Er will damit zum Ausdruck bringen, dass jede Theorie danach strebt, ein lückenloses Ganzes („System“) zu errichten, mit dem ihre Besitzer die Realität in ihrer „Was-heit“ definitiv in Griff bekommen wollen. Dabei muss stets schon eine Idee von Ordnung vorausgesetzt sein, auf welche das ausgedachte System zu passen hat. Ordnung und System bedingen bzw. ergänzen sich gegenseitig. Architekturtheorie macht hier keine Ausnahme, argumentiert n eumeyer . Aber nicht jeder theoretische Bezug Harries 996 5 Neumeyer 00 , 9 Architekturtheorie_Huter.indd 14 23.01.2008 15: 27: 44 Uhr <?page no="14"?> Architekturtheorie, Architekturpraxis 15 zur Welt ist systemisch, möchte ich zu bedenken geben. Mit „Realität“ wird traditionell der Bereich benannt, den der Mensch kraft seiner Vernunft (ratio) erforscht hat. Es ist der Bereich des Wissens, der das „Was“ der Dinge zu erfassen hofft. Dieser „rationalistische“ Weltbezug grenzt sich in seiner Haltung von der pragmatischen Lebenswirklichkeit ab, die am „Wie“ der Welt interessiert ist. An dieser Differenz setzt die Fundierung der hermeneutischen Philosophie durch Wilhelm D ilthey (1 33 -1911) an. Er war davon überzeugt, dass die Geistes- und Kulturwissenschaften „kein System bilden“. 16 Bezieht sich n eumeyer in seiner Bestimmung von Theorie auf den Begriff „Kosmos“, so dürfen wir diesen nicht als ein System im neuzeitlichen Sinne deuten. „Kosmos“ meint Welt. Welt in dem profunden Sinne, dass sich das menschliche Dasein und Selbstverständnis im Ganzen darin wiederfindet. Der „Bezug“ zum Kosmos oder zur Welt gehört zur menschlichen Existenz als ihrer Grundverfassung des In-der-Welt-seins. Das bedeutet aber nicht, dass Kosmos oder Welt als ein lückenloses System rationallogisch durchdacht und aufgefasst werden können. Welt oder Kosmos bilden den fraglosen und gewissen Hintergrund für unser Tun und Lassen. Sie sind Verstehens- und Auslegungshorizonte, die sich hermeneutisch erschließen lassen, wie D ilthey wusste. Im tatsächlichen Verhalten und Verstehen zeigt sich erst das „Wie“ der Haltung zum Dasein und zur Welt. „Systeme“ hingegen sind weltlose Konstruktionen des wissenschaftlichen Verstandes, die den Menschen von seinem unmittelbaren Verhältnis zur Wirklichkeit kompromisslos abschneiden. Angesichts des Dilemmas, heute keine ernstzunehmende Architekturtheorie vorzufinden, bemüht Eduard f ühr (*19 7) einen Ausweg in einer Historisierung der Architekturtheorie. Er sucht nach dem Anfang der Disziplin - und findet ihn, wenig überraschend, in dem römischen Heeresbediensteten v itruv (etwa 75 -10 v. Chr.), dessen Zehn Bücher über Architektur als Initialisierung der Architekturtheorie gelten. Ähnlich wie n eumeyer rekurriert f ühr zunächst auf das mit der (römischen) Antike und selbstverständlich mit v itruv verbundene Ordnungssystem und verknüpft dies mit dem Inhalt jeglicher Architekturtheorie. Interessanterweise nennt f ühr diese Ordnung jedoch eine „Ordnung des Handelns“. Leider bleibt, so weit ich sehe, unberücksichtigt, wie denn dieses Handeln (und Wissen) differenziert werden könnte, gerade wenn, wie f ühr es glänzend vorführt, die vitruv schen Begriffe architectura und aedificatio unbedingt zu unterscheiden sind. 17 Wenn nun allein architectura Wissenschaft (scientia) ist, wie f ühr herausstellt, warum soll sich dann die Architekturtheorie überhaupt mit einem Herstellungswissen, das mit der aedificatio (nach f ühr mit „Bauwesen“ zu übersetzen) 6 Perpeet 997, 7 7 Liegt hier möglicherweise ein ungewollter Vorgriff auf eine wesentliche Unterscheidung, nämlich die zwischen entwerfen und bauen, verborgen? Architekturtheorie_Huter.indd 15 23.01.2008 15: 27: 44 Uhr <?page no="15"?> Einleitung 16 verbunden ist, herumschlagen? Ohne Frage ist die Konsequenz, die gezogen wird, nachvollziehbar: „architectura ist also als Architekturwissenschaft verstandene Architekturtheorie.“ 1 Offensichtlich sind wir einem Missverständnis aufgesessen, als wir Architektur mit Baukunst gleichgesetzt und damit v itruv modernisiert und unserem gängigen Sprachgebrauch angepasst haben. Aber welche Art „Folgen“ praktizieren wir, wenn wir v itruv „neu“ übersetzen? Ist er uns noch Vorbild darin, architectura oder Architekturtheorie als „ein wahrheitssichtendes (d.h. theoretisches) praktisch werdendes System von Ordnung“ 19 aufzufassen? Auch hier ist die Frage zu stellen, ob es sinnvoll ist, v itruv s Verständnis von Ordnung als „System“ zu modernisieren. f ühr bejaht diese Möglichkeit und macht Vorschläge, wie eine moderne Wissenschaftstheorie damit umgehen könnte. Er setzt sich für die Nutzerperspektive ein und weist auf den „heute weitgehend verloren“ gegangenen Zusammenhang von „bauen, wohnen und denken“ hin, den die Antike noch gekannt habe. 20 Das „Machen von Wissenschaft“ deutet f ühr als einen Vorgang, der von Erfahrung zu Erkenntnis führt. Erkenntnisse müssen aber stets verbalisiert werden, in der Regel als Beschreibung dessen, was man nicht sieht, da man dem Denken bei seiner Arbeit ja nicht zuschauen kann. Wissenschaftliches Beschreiben und Argumentieren zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie Begriffsarbeit sind. Der Begriff muss dem Gegenstand, dessen Begriff er ist, adäquat sein. Damit sind Anforderungen formuliert, die heute vom Architekten verlangt werden dürfen: „Architekturtheorie als Theoretisieren von Architekten und als Bildung einer Theorie ist unabdingbar für das entwerfende und planende Handeln von Architekten“. 21 Aber am Ende frage ich mich, was mit einem „Theoretisieren von Architekten“ und einer „Bildung einer Theorie“ eigentlich erreicht ist, wenn diese nicht ausdrücklich bedenkt, wie das Entwerfen und Planen zu einer Orientierung kommen können, die selbst wiederum nicht aus Inhalten eines „technischen“ Entwerfer- oder Planerwissens abgeleitet ist? Dass Studenten der Architektur lernen müssen, ihre Entwürfe und Planungen zu erläutern und in ihren Konsequenzen zu bedenken, sollte selbstverständlich sein. Aber ist mit dieser Fähigkeit der eigenen Leistungsbeschreibung schon der überhaupt mögliche Theoriegehalt gefasst? Ist eine plausible Erklärung einer Entwurfsidee vergleichbar der „Bildung einer Theorie“? Die Ausrichtung des Entwerfens und Planens auf nicht-technische Ziele könnte indes ein sinnvolles Terrain der Architekturtheorie sein. 8 Führ 005 9 A.a.O. Während Eduard Führ, wie er mir mündlich mitgeteilt hat, durchaus in Vitruvs Begriff der ratiocinatio das Vorbild A ristoteles erkennt, bin ich eher skeptisch, ob Vitruvs Verständnis von „Können des Architekten“ Anklänge an die Nikomachische Ethik aufweist. 0 Vgl. Führ a.a.O. A.a.O. Architekturtheorie_Huter.indd 16 23.01.2008 15: 27: 44 Uhr <?page no="16"?> Architekturtheorie, Architekturpraxis 17 Geben wir an dieser Stelle eine verdichtete Beschreibung der zeitgenössischen architekturtheoretischen Vorstellungen und ihrer Auslassungen: Architekturtheorie sucht nach Regeln und Normen des Bauens und Beschreibens. Sie interpretiert Architektur als Baukunst und rückt so Architekturtheorie in die Nähe einer Bau- und Architekturästhetik. Architekturtheorie fragt aber nicht nach dem Guten der menschlichen Praxis, fragt nicht hinlänglich nach dem Wozu und Worumwillen des Entwerfens und Bauens. Sie stärkt nicht konsequent ihr Bild vom Menschen, um dessen Wohnen, Entwerfen und Bauen es geht. Dies hängt damit zusammen, dass sie nicht radikal genug nach dem forscht, was Theorie ist. 2 Zur Autorität Vitruv und das Unternehmen „Architekturtheorie“ Versuchen wir nun uns selbst ein Bild vom Aufkommen jenes Theoriebedürfnisses zu machen, das auf ein Interpretieren des Tuns des Architekten und seines Umfelds gerichtet ist. Dabei wollen wir darauf aufmerksam sein, ob mit dem historischen v itruv tatsächlich der Beginn von Architekturtheorie und von architekturrelevanter Theorie überhaupt zu reflektieren ist, dahinter dann nicht mehr zurückzugehen ist. Wie n eumeyer und f ühr werden wir uns, so knapp es einer Einleitung zumutbar ist, mit den vermeintlichen Anfängen dieses Bewusstseins auseinanderzusetzen haben. Wie wir heute wissen, ist der Begriff Architekt überhaupt erst seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. bezeugt. 22 Er leitet sich vom griechischen Wort architekton ab, das wiederum auf den griechischen Ausdruck für Zimmermannshandwerk zurückgeht. Daraus können wir schließen, dass der Architekt in früharchaischer Zeit zunächst mit Holz und erst später auch mit Stein als Baumaterial umging. Diesem griechischen Wortfeld ist der lateinische Ausdruck arc(h)itectus entlehnt, den v itruv verwendet. Im antiken Verständnis bezeichnet das Wort „Architekt“ mit dem Bauen verbundene banausischhandwerkliche Tätigkeiten. Dass die Aufgabe des Bauens in einer Person gebündelt werden musste, wurde wohl beginnend mit der Organisation erster großer Bauprojekte der griechischen Bürgergemeinschaft nötig und erkannt. In die Tätigkeit des Architekten ist damals überhaupt noch nicht eine schöpferische und künstlerische Berufsauffassung, wie wir sie heute kennen, eingegangen. Der Architekt der Antike hatte sich auf verschiedene Fertigkeiten mental und praktisch zu verstehen, weshalb sein Wissen überhaupt nicht theoretisch-analytisch war, sondern sich auf Umgangserfahrungen mit vielen Bauaufgaben bezog, so dass der Althistoriker Christian m eier (*1929) zur Im Folgenden beziehe ich mich auf verschiedene Artikel in: Der neue Pauly: Enzyklopädie der Antike (Hgg. Cancik/ Schneider) 996 ff. (mehrere Bände), auf Thielscher 96 , auf Knell 99 , Germann 99 sowie Bleicken 978 Architekturtheorie_Huter.indd 17 23.01.2008 15: 27: 44 Uhr <?page no="17"?> Einleitung 18 Kennzeichnung dieses Erfahrungswissens von einem Könnensbewusstsein spricht. 23 Dieses „Könner“-Bewusstsein orientiert sich am Handlungsvermögen des Sachkenners. Es behandelt jeden neuen Praxisfall für sich. Parallelen zu schon vollendeten Bauten konnte deshalb nur derjenige ziehen, der über einen gewissen Erfahrungsreichtum verfügte, um die praktisch gewonnenen Aspekte bereits erledigter Bauaufgaben auf die aktuelle Herausforderung anzuwenden. Damit war das handwerklich-praktische Können entscheidender und wichtiger als ein allgemeines architektur-theoretisches Wissen. Wir dürfen uns den archaischen und klassischen Architekten öffentlicher Gebäude nicht als eigensinnigen Schöpfer und autonomen Gestalter vorstellen. Er war in seinem Selbstverständnis eingebunden in das soziale Institutionengefüge der politischen Gemeinde einer Polis. Oft scheint der Architekt ein technisch begabter „Autodidakt“ und nicht notwendig ein im Bauwesen kontinuierlich beschäftigter Erwerbstätiger gewesen zu sein. Für die klassische Epoche ist deshalb auch von der „kollektiven Phase“ des griechischen Bauwesens gesprochen worden. Als Individuum tritt der einzelne Architekt nur selten in Erscheinung und wenn, dann lassen sich prominente Architektennamen nur mit einem einzigen Bauwerk konkret in Verbindung bringen. Neben der bauhandwerklichen Aktivität vermittelten die Architekten zwischen dem lokalen Bauhandwerk und den Polisgremien. Erst in spätklassizistisch-hellenistischer Zeit entwickelt sich der Architekt zum Spezialisten mit gelegentlich auch theoretischem Interesse. Er war dann in der Regel an Königshöfen, von Priesterschaften oder Polisgremien dauerhaft beschäftigt. Er benötigte nun universelle Kompetenz hinsichtlich handwerklicher Fähigkeiten und Kenntnisse, was ihn über auf einzelne Herstellungsweisen spezialisierte Handwerker und Künstler hinaushob. Darüber hinaus wurde verlangt, dass sich der Architekt in Geometrie, Mathematik und Zeichenkunst auskannte und schließlich musste er auf ein Organisations- und Kalkulationsvermögen zurückgreifen können und fähig sein, etwas schriftlich darzustellen und auszudrücken. Da ihn seine Stellung zwang, zwischen Auftraggeber, Behörde und Unternehmen zu agieren, erwartete man auch ein rhetorisch geübtes Verhalten. Schließlich hatte er als ein verlässlicher Partner zu gelten. Gegenstand der Tätigkeit des Architekten in der griechischen Antike war neben der Erstellung einer Bauzeichnung vor allem deren logistische Umsetzung, ferner die Planung und Organisation des Bauvorgangs selbst. Als mit dem . Jahrhundert v. Chr. die Großprojekte zeitlich unüberschaubar geworden waren, nahmen die Verwaltungsaufgaben überhand, so dass mit den handwerklich-praktischen Aufgaben des Projekts eine weitere Person betraut wurde. Vgl. Meier 980, 5 ff. Architekturtheorie_Huter.indd 18 23.01.2008 15: 27: 45 Uhr <?page no="18"?> Architekturtheorie, Architekturpraxis 19 Das an den modernen Ingenieur erinnernde Berufsbild des Architekten, wie es v itruv beschreibt, scheint sich erst mit späthellenistischer Zeit herausgebildet zu haben. Dieses Bild wurde dann aber in der römischen Kaiserzeit die Regel. Zugleich ist die römische Architektur noch anonymer als die griechische, Bauten sind überwiegend nur mit den Namen der Auftraggeber, selten mit dem Namen eines Architekten verbunden. Der römische Architekt ist nicht nur vielseitiger Handwerker. Neben der Beherrschung der baurechtlichen Bestimmungen galt es, sich mit technischen Neuerungen vertraut zu machen. So musste er sich in Fertigkeiten einüben, die als Folge technischer Innovationen sich im römischen Bauwesen durchsetzten. Daneben wuchsen die Bauaufgaben. Hatte es der griechische Architekt im Bauprozess mit einer vergleichsweise kleinen Zahl hoch qualifizierter Unternehmer-Handwerker zu tun, so dirigierte der römische Architekt bei Großbauten Heerscharen ungelernter Hilfsarbeiter. Man darf wohl auch annehmen, dass in der römischen Kaiserzeit der Beruf des Architekten prestigeträchtig genug war, was verschiedene Versuche römischer Kaiser belegen, sich selbst als Architekten zu versuchen. Wie ist nun in diese zugegeben knappe Vor-Geschichte des Architektenberufs und des damit verbundenen Könnens der Begriff „Architekturtheorie“ einzuordnen, unter dem wir heute den Inhalt der Zehn Bücher des v itruv verstehen? Der Ausdruck „Architekturtheorie“ war in antiken Zeiten unbekannt. Er entspringt einem neuzeitlichen Sprachgebrauch und Interesse, ohne dass aber in der Folge ein einheitliches bzw. allgemein anerkanntes Begriffsverständnis entstanden ist und sich durchsetzen konnte. Die Zehn Bücher sind also tatsächlich das erste Werk über Architektur, das als Architekturtheorie bezeichnet werden könnte. Der Leitfaden einer entsprechenden Betrachtung, den v itruv vorgibt, besteht aus Problemen der Ästhetik und aus Regeln, unter deren Anwendung vollkommene Schönheit angestrebt werden kann. Als Vorstufen zu solcherart Architekturtheorie gelten Beschreibungen, die von griechischen Baumeistern seit archaischer Zeit zur Erläuterung und zum Verständnis ihrer Werke angefertigt worden sind. Ihr zeitgemäßer Sinn wird jedoch nicht darin bestanden haben, theoretische Einsichten zur Architektur festzulegen, sondern sie gehörten zur notwendigen Plan- und Baubeschreibung, wie sie damals für einen Bauauftrag erforderlich war. In der klassischen Epoche treten dann konzeptionelle und theoretische Aspekte des Entwerfens entschiedener hervor. Vor allem Proportionsfragen und Bemühungen, uneinheitliche Bestandteile von Architektur befriedigend auszugleichen, werden diskutiert. Auch erscheint es kaum möglich, bedeutende Bauten herzustellen, ohne im Entwurfsprozess eingehend Lösungsvarianten auch theoretisch durchdrungen zu haben. Wenn wir festgestellt haben, dass mit dem Werk v itruv s ein erstes architekturtheoretisches Mani- Architekturtheorie_Huter.indd 19 23.01.2008 15: 27: 45 Uhr <?page no="19"?> Einleitung 20 fest vorliegt, so bedeutet dies keinesfalls, dass er damit die Basis für jegliches theoretisches Wissen gelegt hätte. Das Gegenteil ist der Fall! Wie wir gleich sehen werden, hat v itruv eine schon gut 350jährige Theorietradition auf seine ganz eigenwillige Weise beerbt und dabei wesentliche Elemente der theoretischen Haltung zur Welt ignoriert. 3 Die Erfindung der „Theorie“ Denn den grundsätzlichen und wesentlichen Schub bekam die Einnahme eines theoretischen Standpunkts gegenüber der Welt und der Bewältigung alltagsweltlicher Aufgaben durch die seit dem 5. Jahrhundert sich vehement anbahnende und bald sich durchsetzende wissenschaftliche Erkenntnishaltung. Erst auf der Grundlage der von P laton ( 27-3 7 v. Chr.) und a ristote les (3 -322 v. Chr.) geschaffenen philosophischen Einstellung gegenüber Natur und Gesellschaft konnte Theoriebildung überhaupt und Architekturtheorie im Besonderen möglich werden. Um welche Entdeckung handelte es sich dabei? Der griechische Ausdruck „theoria“ bedeutet ursprünglich „Anschauen“, „Betrachtung“, bald auch „Erkenntnis“. 2 Vorgängerbegriffe bezeichnen denjenigen, der eine Schau sieht, was sich auf den Abgesandten der Polis zur Teilnahme an Götterfesten und Orakeln bezog. P laton hat dann den entscheidenden Schritt getan, indem er den Erfahrungs- und Erkenntnissinn von „Theorie“ feststellt. Bei ihm wird „Theorie“ zum Terminus technicus philosophischen Wissens. An den vorphilosophischen Sprachgebrauch anknüpfend, kann der Begriff bei ihm sowohl sinnliches wie auch geistiges Schauen bedeuten. Die visuelle Metaphorik in P laton s Erkenntnislehre, die eine Nähe zur Ästhetik besitzt, beschreibt den Zustand des Wissens als Schauen der Gegenstände des Wissens. „Theorie“ bezeichnet im emphatischen Sinn den Blick für das Ganze und Umfassende. Die kontemplative Betrachtung des unveränderlichen Göttlichen, der Idee des Guten, die für alles andere Seins- und Erkenntnisprinzip ist, nennt P laton im Höhlengleichnis eine „theia theoria“ („göttliche Schau“). Wie man erst aus der Höhle steigen muss, um statt Schattenbilder die Sonne (als Metapher für die Wahrheit) zu erblicken, so muss man entsprechend zur theoria aufsteigen, um in seinem Handeln wirklich orientiert zu sein. Der Aufstieg zur Theorie bedeutet für P laton , Orientierung im Handeln zu erlangen: „theoria“ soll die Praxis des Menschen anleiten und führen! In der unmittelbaren Nachfolge verbindet P laton s Schüler a ristoteles den Begriff der Theorie eng mit dem der Wissenschaft. Die später als „Metaphysik“ bezeichnete „erste Philosophie“ wird von a ristoteles als die Vgl. zum Folgenden König 998 Architekturtheorie_Huter.indd 20 23.01.2008 15: 27: 45 Uhr <?page no="20"?> Architekturtheorie, Architekturpraxis 21 „theoretische Wissenschaft“ von den ersten Prinzipien und Ursachen bestimmt. Ziel der theoretischen Wissenschaft, die nach dem Seienden als Seiendes fragt, ist die Erkenntnis der Wirklichkeit von ihren Erklärungsgründen („Prinzipien“) her. a ristoteles unterscheidet drei Gattungen theoretischer Wissenschaft: Mathematik, Physik, d.h. Naturwissenschaft, und Theologie, die ihm als die vornehmste Wissenschaft gilt, da sie von den ehrwürdigsten Dingen handelt. Die theoretische Wissenschaft tritt als ein Neues zu den praktischen und poietischen (herstellenden) Wissenschaften hinzu. Sie ist nicht Mittel zu etwas anderem, nicht auf Nutzen gerichtet, sondern besitzt Selbstzweckcharakter: Theorie besteht um ihrer selbst willen. Die theoria als Tätigkeit des nus (der „reinen Vernunft“), die der Mensch mit den Göttern teilt, stellt für a ristoteles nicht nur die höchste Stufe des Wissens, sondern auch die höchste Form der Praxis dar. Theoria ist Praxis, ist eine praktische Lebensform, die er bei a naxagoras und t hales exemplarisch vorgeführt sieht. Das „theoretische“ Leben (vita contemplativa) wird von der politischpraktischen Lebensform (vita activa) und der Lebensform des Genusses abgehoben und nimmt den höchsten Rang ein. In der Folge stellte etwa c icero (106-43 v.Chr.) in einem wirkungsgeschichtlich einflussreichen Bild die Zuschauer festlicher Spiele über die Kämpfer und Händler und zeichnet auf diese Weise die Lebensform philosophischer „contemplatio“ vor den Beschäftigungen, die des Ruhmes bzw. des Geldes wegen unternommen werden, aus. Das Leben in reiner „theoria“, so a ristoteles , ist dem Menschen unmöglich, aber er kann im Vollzug des theoretischen Lebens, der das größte Glück gewährt, danach streben, „so weit wie möglich unsterblich zu werden“. Ein solcher Mensch wird von den Göttern am meisten geliebt. Für die Baukunst wurde parallel zur Erfindung der wissenschaftlichen Philosophie die symmetria zum dominanten theoretischen Begriff und Prinzip. Sie drückt das ideale Verhältnis und den richtigen Ausgleich von Teilen und Gliedern aus. Einmal gefunden und etabliert, wurde der Begriff symmetria zum Leitmotiv der Architekturtheorie. 25 Aber der Begriff beeinflusste ebenso andere antike Disziplinen und deren Theoriebildung nachhaltig, so dass die Idee, durch symmetria einen idealen Ausgleich loser Teile zu erreichen, durchgängig und gegenseitig die theoretischen Erörterungen in der Antike steuerte. Das griechische Substantiv symmetria und das Adjektiv symmetros begegnen in der Antike ausschließlich in der Bedeutung „mit gleichem Maß gemessen“, „Maßgleichheit“ und werden im Sinne von „Angemessenheit“ gebraucht. Abgesehen von der Geometrie, in der die messbare Vergleichbarkeit bzw. Nichtvergleichbarkeit der Seiten eines Dreiecks terminologisch fixiert ist, konnte der Ausdruck in vielen anderen Bereichen wie der Medizin, bei der richtigen Ernährung, der Biologie und der Ethik zu weiteren Bedeutungen 5 Vgl. Kambartel 998 Architekturtheorie_Huter.indd 21 23.01.2008 15: 27: 45 Uhr <?page no="21"?> Einleitung 22 kommen: Die Symmetrie des Lebens, dass alles im rechten Verhältnis stehe, sei die Eudaimonie, das höchste Lebensglück oder die Glückseligkeit. 26 Die Rhetorik kennt Symmetrie als Ausgewogenheit der Rede, und jede Darlegung muss um Symmetrie, d.h. um Verhältnismäßigkeit, bemüht sein. Dieser weite Symmetriebegriff, wie er in der Antike gebräuchlich war, hat seinen Kern in der alle lebenspraktischen Bereiche beherrschenden Grundauffassung des Maßhaltens und macht neben „Proportion“ den zentralen Gehalt der griechischen Schönheitsauffassung aus: Schönheit ist die Symmetrie, die Maßbezogenheit der Teile des Körpers. Später freilich ist dieser ursprüngliche Sinn verloren gegangen, insofern man damit „Achsensymmetrie“ meint, die allein noch die Spiegelbildlichkeit der Teile kennt. Angesichts eines durchgängigen theoretischen Milieus der klassischen Antike erstaunt es nicht, dass auch Architekten entsprechende Idealprojektionen aufgegriffen und diese in Korrespondenz mit anderen Disziplinen auf ihre eigenen Werke und deren Beurteilung übertragen haben. Damit wird deutlich, dass die theoretische Auseinandersetzung mit Architektur nicht isoliert und abgehoben von dem allgemeinen zeitgenössischen „wissenschaftlichen“ Klima geführt wurde. Das Bedürfnis, eine theoretische Grundlage für ein Handwerk zu schaffen, war mit Einführung und Vollzug der klassisch-antiken Philosophie und Naturwissenschaft allgemein geworden und kann nicht auf einen vereinzelten Bedarf von Architekten zurückgeführt werden. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass die in anderen Disziplinen diskutierten theoretischen Modelle dann auf Architektur übertragen wurden, wie es ja auch in späterer Zeit immer wieder der Fall sein sollte. 27 v itruv war selbstverständlich bestimmten kulturellen und intellektuellen Strömungen seiner Zeit verpflichtet. Der Anspruch des augusteischen Jahrhunderts bestand u.a. darin, die historisch überkommene Vormachtstellung des Griechentums ablösen zu wollen. Innerhalb dieser gesellschaftlichen Bewegung Roms hat nun v itruv seinen Beitrag darin gesehen, die italische Bautradition in ihrem Wert als gleichberechtigt der griechischen gegenüber zu stellen und darüber hinaus das künstlerische Potential Roms demjenigen Griechenlands als ebenbürtig zu demonstrieren. Im 2. Jahrhundert v. Chr. hatte Rom Griechenland unterworfen. Mit dem siegreichen Heere kamen auch gebildete Griechen als Geiseln oder als Sklaven in die Hauptstadt des neuen Weltreichs. Einige machten als Hauslehrer die Söhne vornehmer Familien mit griechischer Sprache und Literatur bekannt. Dazu kamen Mythologie und Philosophie der Eroberten. Die ersten Eroberergenerationen bekämpften die Griechen, nicht ohne sie gründlich zu studieren und von ihnen zu lernen. Schließlich ahmte man sie geflissentlich nach. 6 Die philosophische Ethik spricht bis heute vom „guten, gelingenden Leben“ und knüpft damit an Aristoteles an. 7 Denken wir nur an Begriffe wie Post-Moderne und De-Konstruktivismus. Architekturtheorie_Huter.indd 22 23.01.2008 15: 27: 45 Uhr <?page no="22"?> Architekturtheorie, Architekturpraxis 23 Es erscheint durchaus nahe liegend und nachvollziehbar, dass in dieser rasanten Zeit des Baubooms viele Architekturvorhaben nicht anders als chaotisch und ziellos durchgezogen wurden. Vielleicht sind die Zehn Bücher v itruv s Beitrag, Ordnung ins Bauen zu bringen, eine Ordnung freilich, die er sich nicht anders als durch strenge Regeln und Vorschriften gefasst vorstellen konnte. Bei diesem Unternehmen, das zügellose Bauen zu disziplinieren, hat v itruv sich sowohl auf römisch-italische als auch auf griechischhellenistische Traditionen und Vorgaben gestützt. 4 Vitruvs theoretisches Defizit Ich fasse an dieser Stelle unsere Überlegungen zum Status v itruv s und zur Bedeutung seiner Theorie zusammen: Abgesehen von der uns verschlossen bleibenden „wahren“ Intention ihres Schöpfers sind die Zehn Bücher die erste uns überkommene Schrift, die man als Architekturtheorie qualifizieren kann. v itruv s Verständnis von Theorie ist nicht originär, sondern abgeleitet aus einem griechisch-römischen Überlieferungsmix. Die für P laton und a ristoteles essentielle Aufgabe der Theorie, die wesentlichen allgemeinen Bedingungen des menschlichen Handelns zu erkunden, bleibt v itruv verschlossen. Gerade die für die gesellschaftliche und interpersonale Fundierung der Architektur zentrale Unterscheidung im menschlichen Handeln zwischen praxis und poiesis, also zwischen „das Leben führen“ und „die Welt verändern“, wird in den Zehn Büchern nicht verfolgt. Vielmehr konzentriert sich v itruv auf die Verkündung verbindlicher Normen der Ästhetik, die er als Proportions- oder Maßgesetze vorträgt. So entsteht erst ein systemischer Zusammenhang von Schönheit und Ordnung, der das Herstellen des „Schönen“ und „Maßvollen“ vom übrigen Handeln des Menschen isoliert. Für P laton aber, dessen Timaios oft und gerne als Quelle der Architekturtheorie herangezogen wird 2 , bestand die Bedeutung der Schönheit nicht in aufweisbaren Proportionsverhältnissen, diese waren vielmehr ihr „empirischer Bezug“, sondern in ihrer Übereinstimmung mit dem Guten. Im Timaios- Dialog begreift P laton den Kosmos als den schönsten sichtbaren Gott. Kosmos ist das Sinnbild für Ordnung und Harmonie. Im proportionalen Zusammenstimmen von Vielem zur sich selbst genügenden Einheit findet P laton den Grund des Schönseins. Dieser Grund wird jedoch auch für das Gutsein angeführt. Das Ziel des Menschen ist die Einheit mit sich selbst. Die Seele ist gut, wenn sie sich „wohl verhält“. Sie verhält sich entsprechend, wenn der Mensch aus vielem einer geworden ist. Dies ist dann der Fall, wenn alle seelischen Regungen harmonisch zur Einheit gestimmt sind. Dabei wird 8 Vgl. Oechslin 005 Architekturtheorie_Huter.indd 23 23.01.2008 15: 27: 46 Uhr <?page no="23"?> Einleitung 24 die Mitte als das rechte Maß gesehen. Das „mittlere Leben“, das das Übermaß nach beiden Seiten meidet, ist deshalb dasjenige, das zur Einheit strebt. Wer lebt, indem er stets die Mitte hält im Leben zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, wird das Gute an sich: der Glücklichste. Ein tätiges Leben in Harmonie hat die Extreme ins Gleichgewicht gebracht, indem es sich an der Idee des ausgleichenden Maßes orientiert. Richtiges Mittel-Maß und angemessenes Verhältnis der Teile untereinander werden offenbar überall zur Schönheit und seelischen Tüchtigkeit. Hans-Georg g aDamer (1900-2002) hat die P laton ische Konzeption des Schönen so ausgedrückt: Denn das ist das Wesen des Schönen: „nicht als eine hinzutretende Eigenschaft neben anderen angebbaren Eigenschaften in jedem Seienden, das schön ist, anwesend zu sein, sondern als ein Sichverhalten des Ganzen in seinen Teilen zu sich selbst; schönes Verhältnis sichtbarer Maße, schönes Verhalten und schöne Haltung menschlichen Tuns und Seins: beides im Einklang von Seiendem mit sich selbst, eine Vollendung, ein Sich-genügen“ 29 . g aDamer weist darauf hin, dass das Maß nicht eine jenseitige oder außermenschliche Norm ist, sondern Schönheit, Angemessenheit und Wahrheit des menschlichen Verhaltens zu sich selbst: ein Sichverhalten des Ganzen in seinen Teilen zu sich selbst. Denn es ist der Mensch, der sich auf das Gute hin versteht, indem er sich in Schönheit, Angemessenheit und Wahrheit bildet. Das Maß bindet ihn nicht von einem Übermächtigen und Übermenschlichen her. Das Maß ist eine Weise des menschlichen Sichverhaltens. Alles in allem ist allein der Mensch, nicht die Kunst oder etwas Hergestelltes oder die Natur, der Grund des Schönen. P laton macht den Grund des Schönen immer wieder in einer menschlichen Haltung fest. In der unanschaulichen Selbsterfahrung des „Guten an sich“ zeigt sich zugleich das „Schöne an sich“, beide eingebunden in die objektive Maßform von zum Beispiel Gesang und Tanz. „Erfahrung“ meint bei P laton Teilhabe an etwas Objektivem, die zur maß- und formvollen inneren Verfassung führt. Damit sind Theorie und Maß in den Kontext des gesellschaftlichen Lebens sowie des Handelns des Menschen gerückt, dessen Prinzipien die Wissenschaft aufzuklären hat. Das Handeln differenziert sich dann einmal hinsichtlich der Lebensführung, also der Besprechung und Umsetzung der individuellen und gemeinschaftlichen Ziele, und zweitens hinsichtlich des Bewirkens, nämlich einer geplanten Veränderung der Umwelt. Der Zusammenhang von Handeln und Prinzipien wird uns in der ersten Vorlesung beschäftigen. 9 Gadamer 985, 50 Architekturtheorie_Huter.indd 24 23.01.2008 15: 27: 46 Uhr <?page no="24"?> Architekturtheorie, Architekturpraxis 25 5 Theorie und Praxis Nachdem wir die klassische, vorvitruvsche Aufgabe von Theorie entwickelt haben, werden wir uns zum Abschluss der Einleitung mit der Erwartung beschäftigen, die wir einer zeitgemäßen Theorie der Architektur entgegenbringen wollen. Offensichtlich geht es jeder Theorie um das Beibringen eines Wissens. Hans J onas (1903-1993) unterscheidet beispielsweise das „theoretische“ vom „praktischen“ Wissen. 30 Die theoretischen Wissenschaften im klassischen Sinn befassen sich mit den unveränderlichen und ewigen Dingen. Solche Dinge können nur „angeschaut“, nicht indes einem Tun oder einer Bearbeitung unterworfen werden. Dem gegenüber zielen die praktischen Wissenschaften nicht auf „Theorie“, vielmehr sind sie „Kunst“. Dieser heute nur mehr dem philosophisch-philologischen Gespräch vertraute Begriff von „Kunst“ (techné) meint das Wissen, wie etwas Veränderliches planvoll verändert werden kann, nämlich im Sinne der Künste eines Handwerks, zu denen a ristoteles beispielsweise auch die Künste des Arztes und des Baumeisters zählte. Alles praktische Wissen basiert auf Erfahrung. Welche Verbindungen bestehen nun zwischen beiden Wissensformen, der theoretischen und der praktischen? „Die Leitung, welche die Theorie hinsichtlich der Künste übernehmen kann, besteht nicht im Fördern ihrer Erfindung und Ersinnen ihrer Methoden, sondern im Erleuchten ihres Benutzers (sofern er am theoretischen Leben teilhat) mit der Weisheit, jene Künste weislich, d.h. im richtigem Maße und zu richtigen Zwecken zu benutzen.“ 31 Derjenige, der für die Herstellung von etwas zu sorgen hat, wird also auf Erwartungen und Ziele aufmerksam gemacht, die zunächst außerhalb seines „praktischen“ Horizonts liegen. „Theorie“ in diesem Verständnis, so stellen wir mit J onas fest, wird von den Künsten in Gebrauch genommen, damit deren eigenes Werk überhaupt gelingen kann. Welchen Spielraum, der ja offensichtlich zwischen Gelingen und Scheitern liegt, legt der Einsatz von Theorie nahe? Er rückt die Frage des Gebrauchs der hergestellten Dinge entschieden ins Licht: „Wozu findet Gebrauch statt? Der letzte Zweck allen Gebrauchs ist derselbe wie der Zweck aller Tätigkeit, und dieser ist zweifach: Erhaltung des Lebens und Verbesserung des Lebens, d.h. Förderung des guten Lebens.“ 32 Das Wissen, auf welches bei der Klärung des Gebrauchs verwiesen wird, ist also nicht ein technologisches oder Herstellungs-Wissen, und das Gebiet, von dem Erkenntnisse dieser Art erwartet werden dürfen, ist nicht eine Ingenieurwissenschaft. Technik und Ingenieurwissenschaften können (und wollen) die Frage nach dem Wozu ihrer Hervorbringen nicht selbst beantworten. Denn die 0 Jonas 99 , A.a.O. A.a.O., 6 Architekturtheorie_Huter.indd 25 23.01.2008 15: 27: 46 Uhr <?page no="25"?> Einleitung 26 Frage nach dem Wozu ist eine Frage nach dem „Wert“ einer Leistung für ein Gemeinwesen bzw. seine Mitglieder. Insofern und so lange sich die Technik selbst als „wertfrei“ begreift, bleibt ihr diese Dimension des „Guten“, des „Glücken“ des Lebens, verschlossen. Wir sind inzwischen auf ein Verständnis von Glück oder vom Guten gestoßen, das uns eine empirische (d.h. experimentelle) Wissenschaft nicht verschaffen kann, sondern das auf das Verhältnis von Theorie und Praxis verweist. Diese Dimension des menschlichen Handelns hat weder v itruv gekannt, noch diskutiert sie die zeitgenössische Architekturtheorie. Unsere Aufgabe wird es sein, den Architekten in den Mittelpunkt dieses Verhältnis zu stellen: er ist darin verstrickt. Denn er muss um die Zwecke des Gebrauchs von Architektur ebenso wissen wie um die fachgerechten Regeln der Herstellung eines Gebäudes. Seine Berufspraxis besteht nämlich nicht allein im technischen Verfügen über Naturprozesse und in der Anwendung von empirisch erzeugten Wissensformen, sondern ebenso in deren praktischsituativen Bezügen und Interpretationen. Der Architekt hat mit bedeutenden architekturrelevanten Wissensbeständen zu tun, die selbst nichts darüber aussagen, wie ihr Inhalt kritisch bezüglich des Umsetzens in die Praxis zu beurteilen ist. Zwar geht etwa das ingenieurwissenschaftlich erzeugte Wissen auf regelrechte Kenntnisse einer Disziplin zurück, jedoch „ein reflektiertes Bewusstsein von dem praktisch Notwendigen“ 33 liegt nicht in Selbstverständnis und Horizont dieses Wissens. Mit Jürgen h aBermas (*1929) wollen wir diese Anforderungen an das Können des Architekten „Orientierung im Handeln“ nennen. Wir nehmen ausdrücklich h aBermas ’ Hinführung und Frage auf: „Das Verfügenkönnen, das die empirischen Wissenschaften ermöglichen, ist mit der Potenz aufgeklärten Handelns nicht zu verwechseln. Ist aber deshalb Wissenschaft überhaupt von dieser Aufgabe einer Orientierung im Handeln dispensiert? “ 3 Theorie findet ihre Motivation darin, dass sich eine „Wissenschaft von der Architektur“ vor allem in technologischer Hinsicht etabliert hat, dabei sich ungebunden an lebensweltliche Bedeutsamkeiten und Verpflichtungen wähnt. Es ist nicht unsere Aufgabe, diesen historischen Prozess der Autonomisierung einer technisierten Baufachwissenschaft zu rekonstruieren. Statt dessen will ich darauf hinweisen, dass Theorie und Wissenschaft nicht schon immer zusammen gehörten, denn „Wissenschaft“ im Sinne des Verfügens über ein entsprechendes Fachwissen lässt sich sehr wohl als Einsicht, über die ein Meister verfügt, der sich auf die Dinge seines Handwerks versteht, begreifen. So lange ein „technisches Können“ lebensweltlich integriert ist, liegt eigentlich kein Grund vor, warum Wissenschaft nicht mit der praktischen Welt des Notwendigen und Wünschenswerten verbunden bleiben Habermas 98 , A.a.O., Architekturtheorie_Huter.indd 26 23.01.2008 15: 27: 46 Uhr <?page no="26"?> Architekturtheorie, Architekturpraxis 27 könnte. Erst wenn Wissenschaft und Technisierung sich in lebensweltlich abgeschottete Sektoren ausdifferenzieren, sich vom unmittelbaren situativen Anwenden und von der praxisnahen Beobachtung ihrer Folgen emanzipieren, wird Theorie benötigt, um den Über gang der unabhängig gewonnenen allgemeinen Kenntnisse und Wissensbestände in die besondere Welt des praktischen und schaffenden Lebens kritisch zu begleiten. Als Theorie bleibt sie sich selbst und ihren eigenen Ansprüchen verpflichtet. Indem aber Theorie bewusst und gezielt ihrerseits zum Beispiel als methodisch kontrollierte hermeneutische Wissenschaft vom Wohnen oder von der pragmatischen Ästhetik ausgestaltet wird, nimmt sie die Form der auch das praktische Dasein leitenden Einsicht an: Sie ist Wissen der Gründe, Ursachen und Folgen der Dinge. Da sie aber zum Beispiel als Wohnwissenschaft mit den Prinzipien der Architekturtheorie vertraut ist, kann sie immer über die Vermehrung und Verwertbarkeit des wissenschaftlich erzeugten Wissens hinausfragen: Welches pragmatische (Lebens-)Ziel soll dessen Anwendung fördern? Das Vermögen, entsprechende Fragen stellen und beantworten zu können, werde ich Orientierungswissen nennen. Warum muss uns dieses Vermögen so sehr interessieren? 6 Architekturtheorie als Orientierungswissen Jürgen m ittelstrass (*1936) hat zwischen einem Verfügungs- und einem Orientierungswissen unterschieden. Während ersteres das technische Können des Menschen und ebendiesen Zugriff auf unsere Welt steigert und auf immer weitere Bereiche ausdehnt, stellt das Orientierungswissen dem Menschen die dazu notwendigen Begründungen und Zielperspektiven bereit. Keine Frage: das Verfügungswissen ist am Fortschritt ausgerichtet und darin positiv; aus diesem Grund benötigt es einen Orientierungsrahmen an seiner Seite, damit die Einwirkungen auf unsere Lebensformen mit ihren pragmatischen Sinnhorizonten bedacht werden: „Es [das Verfügungswissen, A.H.] beantwortet Fragen nach dem, was wir tun können, aber nicht Fragen nach dem, was wir tun sollen. Also muss zum positiven Wissen ein handlungsorientierendes Wissen, eben das Orientierungswissen hinzutreten, das diese Aufgabe übernimmt.“ 35 Der zentrale Schritt ist schon gemacht, wenn wir ganz selbstverständlich dazu kommen, beide Wissensformen zu unterscheiden und deren jeweilige, weil unterschiedliche Bedeutung uns klar machen. Wissensformen liegen ja nicht in oder an den Dingen, mit denen wir umgehen, selbst vor. Vielmehr müssen wir diese Unterscheidung schon in unserer Sicht auf die Dinge praktizieren. Konsequenterweise muss also 5 Mittelstraß 00 , Architekturtheorie_Huter.indd 27 23.01.2008 15: 27: 46 Uhr <?page no="27"?> Einleitung 28 schon in unserem Umgangskönnen jene Orientierung an wünschenswerten, vernünftigen und begründbaren Zwecken und Zielen verankert sein, damit unser Tun verantwortbar ist. Orientierungen vollziehen sich praktisch als bestimmtes Orientierungskönnen im Einzelfall. Nur zu wissen, um was es je geht, reicht nicht aus. „Orientierung ist allemal etwas Konkretes, nichts Abstraktes, etwas, das man kann, das man tut, nicht etwas, das man weiß […].“ 36 Dabei bleibt jedoch auch festzustellen, dass ein belehrendes Beibringen von Orientierungswissen kaum von Erfolg geprägt sein kann. Andreas l uckner (*1962) hat auf die persönliche Verankerung des Richtungen-könnens hingewiesen. Insofern Orientierungen immer Selbst-Orientierungen sind, beinhalten sie das Vermögen einer Person, ihren Aktivitäten eine Richtung zu geben. 37 Es ist aber nicht wirklich möglich, jemand anderen zum Beispiel durch eine Belehrung zu orientieren. Man kann andere Menschen nicht mit Mitteln der Expertenberatung oder durch wissensbasierte Vermittlung von einschlägigen Kenntnissen so in seinem Handeln orientieren, wie man ein Kirchengebäude nach Osten ausrichtet. Jeder erwachsene Mensch muss selbst entscheiden, welchen Weg sein Leben nehmen soll, muss sich selbst orientieren. Man kann so viel Orientierungswissen in die Welt setzen, wie man will, worauf es aber allein ankommt, ist, dass die Adressaten dieses Wissens die genanten Ziele auch als ihre eigenen Zwecke setzen. Nur wer diese Orientierungen für sein Handeln auch als maßgeblich erachtet, verfügt über das entsprechende Wissen. Es ist nur dann effektiv, wenn Menschen es als für ihre Handlungsleitung anerkennen. l uckner weist auf das unhintergehbare subjektive Moment beim Orientierungswissen hin. „Richtungen“ bestimmen eine Lebensführung im Ganzen. Ob die getroffenen Entscheidungen zu einem passen oder nicht, ob sie uns befriedigen oder nicht, stellt jeder nur als seine gemachte Erfahrung fest. So ist das Orientierungswissen abhängig von den Erfahrungen, die wir nur selbst machen können und müssen. Und man kann sich mit anderen darüber nur verständigen, wenn man in irgendeiner Weise auf ähnliche Erfahrungen zurückgreifen will. Der Zusammenhang von Verfügungs- und Orientierungswissen, wie wir ihn oben schon andiskutiert haben, präzisiert sich nun mit den Ausführungen von l uckner folgendermaßen: Damit ein Verfügungswissen über Richtungen tatsächlich in einer bestimmten Situation den Handelnden orientiert, muss es in die konkrete Perspektive des Orientierungssubjekts überführt sein. Architekturtheorie darf darauf hoffen, dass sie ihre Adressaten zu Einsichten führt, die sie bei ihrem Handeln richtunggebend leiten. Wir haben in dieser Einleitung die Frage nach der Theorie gestellt. Wir konnten feststellen, dass v itruv s Antworten unzureichend sind. Mehr noch, 6 A.a.O., 7 Vgl. Luckner 005, 8 ff. Architekturtheorie_Huter.indd 28 23.01.2008 15: 27: 47 Uhr <?page no="28"?> Architekturtheorie, Architekturpraxis 29 -V itruv -hat-das-zentrale-Anliegen-und-die-fundamentalen-Fragen-von-Theorienicht-gesehen.-Ihr-Anliegen-ist,-die-lebensweltliche-Motivation-der-menschlichen-Hervorbringungen-umfassend-zu-bedenken.-Die-„theoretische“-Fragenachder- Architekturlässtsichallgemeinals- Fragenachdem- Werdenvonkünstlich-Hergestelltem-auffassen.-Wie-aber,-so-lautet-nun-unsere-Kernfrage,muss-dieses-Werden-von-künstlich-Hergestelltem-untersucht-werden,-damitinder- Antwortauchdas- „Wozu“und- „Worumwillen“dieses- Werdensthematisiert-ist? -Denn-gerade-das-Ansprechen-von-Zwecken-und-Zielen-unseres- Tuns-zeichnet-unsere-„Orientierung-im-Handeln“-aus.-In-den-nachfolgenden- Vorlesungengilteszuzeigen,wie- Architekturtheorieeine- „Orientierungim-Handeln“-unterstützen-kann,-insofern-sie-die-(lebensweltlich-relevanten)- Prinzipien-von-Entwerfen,-Wohnen-und-Räumlichkeit-aufzeigt.-Architekturtheorie-willalsozu-Einsichten-führen,diejeder-Leser-nurselbst-vollziehenkann.-Das-heißt,-sie-vermittelt-eine-bestimmte-„Form-des-Wissens“.-So-bleibtalso-stets-die-Verbindung-von-praktischem-und-theoretischem-Erkennen-zubeachten.- Der- Architekturtheorie,wiejederanderen- Theorie,gehtesumdie- Hinführungzu- Prinzipien,andenensichder- Architektinseiner- Praxis-ausrichten-kann.-Die-Prinzipien-in der Praxis-zu-entdecken,-gehört-nichtins-Umfeld-des-theoretischen-Argumentierens.-Vielmehr-muss-der-Architektselbst-am-vorliegenden-Einzelfall,-in-der-Regel-im-Entwurfshandeln,-die-Prinzipien-„anwenden“.-Anwenden-meint-jedoch-nicht-die-Ableitung-aus-einem- Höheren,-also-einer-simplen-Beziehung-von-Allgemeinem-und-Besonderemnachzukommen.-Zwar-führt-uns-jeder-Praxisfall-„von-sich-aus“-zu-den-Prinzipien,zugleicherspürenwirjedoch,dassjeder- Falletwas- Einmaligesund- Besonderes-ist,-dem-wir-immer-wieder-aufs-Neue-gerecht-werden-müssen. Architekturtheorie_Huter.indd 29 31.01.2008 16: 02: 27 Uhr <?page no="29"?> 1. Vorlesung Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? In der ersten Vorlesung behandeln wir die Frage, wie sich die Architekturtheorie zu den von ihr befragten Dingen verhält. Die Themenstellung reicht weit in die Erkenntnisbzw. Wissenschaftstheorie. Wir werden darauf zu achten haben, dass wir der Architektur den „Raum“ geben, in dem sich die Menschen wirklich aufhalten und ihr Leben führen. Die hermeneutische Grundfrage einer Architekturtheorie ist die nach dem Wohnen und dem Entwerfen. Sie setzt eine öffentlich zugängliche, intersubjektive Sprache voraus. Unsere Erfahrungen, Wünsche, Gefühle und Normen sind ohne sprachliche Lebensform weder uns selbst zugänglich noch anderen mitteilbar. So haben wir eine Chance, in den Bereich der praktischen Werte hineinzukommen, den eine hermeneutische Architekturtheorie anstrebt. Für sie ist „Wahrheit“ das Ziel eines Interpretationsprozesses, der sich als ein Gespräch zu organisieren hat. Damit wird klar, dass es eine Verpflichtung zu Gespräch und intersubjektivem Austausch gibt. Diese Position vertritt auch Alberto P erez -G omez (* 9 9): Nur über das Sprechen und Argumentieren erreichen wir die Ebene, auf der Architektur und ihre Bedeutung begründbar und kritisierbar werden. „Wahrheit ist in der Hermeneutik Interpretation.“ 1 Architektur ist Lebens-Mittel! Es ist Zeit, die Karten aufzudecken und festzulegen, welche Antizipationen unser Unternehmen der Architekturtheorie leiten und warum es gerade diese sein sollen. Wir richten unser Hauptaugenmerk nicht auf ein Produkt, sondern auf ein Verhalten. Nicht die Architektur (als Produkt des Bauens) steht im Zentrum der Architekturtheorie, sondern dasjenige menschliche Verhalten, das sich auf Architektur bezieht. Um dies auszuführen, komme ich zu den spezielleren Antizipationen im Umfeld von Architektur bzw. im Umfeld des Verhaltens, das zur Architektur führt. Ich gehe davon aus, dass Architektur, ob es sich nun um Tempel oder um Wohnbauten handelt, Lebens-Mittel Vgl. Perez-Gomez 997 Architekturtheorie_Huter.indd 30 23.01.2008 15: 27: 47 Uhr <?page no="30"?> Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? 31 ist. Leben bedeutet, dass der Mensch in der Welt ist, dass er in Geschichten und Situationen verstrickt ist, dass er sich stets neu in seine Umwelt einpassen muss. Das Lebens-Mittel Architektur befriedigt Bedürfnisse, die mit unserem In-der-Welt-Sein (unserer Existenz) zusammenhängen. Wir müssen deshalb zunächst die Bedürftigkeit des Menschen feststellen und aufhellen, die wir in der räumlichen Grundsituation des Wohnens bzw. Bleibens sehen, um von hier aus nach dem architektonischen Handeln zu fragen. Das Ziel des menschlichen Handelns, das wir reichlich unpräzise als Bauen bezeichnen, ist nicht das Gebäude. Dies ist sein Resultat. Für die Bauleute ist das Gebäude Selbstzweck. Sie orientieren sich an den eingeübten Regeln und Gesetzen des Herstellens. Nicht so der Architekt. Für ihn kann sich der Entwurf erst in der Handhabung des Werks durch die Bewohner konkretisieren. Das Handeln des Architekten „vollendet“ sich im Gebrauch des Gebauten, ansonsten haben wir es mit Kunst zu tun. Deshalb dürfen wir sagen: Das Ziel des Bauens ist das Wohnen. Nur weil der Mensch wohnt, ein Wohnender ist, begehrt er überhaupt zu bauen. Der Mensch baut, insofern er wohnt. Er wohnt aber, weil er als Mensch leben will. Der Mensch lebt nicht nur, sondern er erlebt sein Leben. Er ist deshalb das Subjekt seiner Wahrnehmungen, seiner Aktionen und Initiativen. Zu diesem Subjektsein gehört, dass er es weiß und es kann. Der Mensch will sein Leben aber nicht irgendwie führen, sondern er will es klug führen: es soll gelingen. Aus diesen Gründen muss der Mensch auf den Gebrauchscharakter seiner Hervorbringungen großen Wert legen. Mit dem klugen Herstellen und Gebrauchen der Lebensmittel meine ich eine „gute“ und „gekonnte“ Lebensführung, nicht aber das Aufbrauchen und vernichtende Konsumieren von Hergestelltem. Gebrauch ist z.B. etwas, das man von einem Haus oder einem Garten macht. Das Gebrauchsversprechen, welches wir von Dingen, die uns umgeben sind und die von Menschen entworfen werden, „ablesen“, bestimmt sich näher so, dass etwa Architektur bestimmten menschlichen Maßstäben der Schönheit und Nützlichkeit genügen muss 2 . Gerade die „Schönheit“, an der wir die begeisterte Hingabe des Architekten an sein Werk bemerken und schätzen, lässt den Umgang schonenden Gebrauch sein und nicht etwa vernutzenden Verbrauch. Es gilt der Primat des Gebrauchs vor der Herstellung und technischen Realisierung. Denn ob der Gebrauch von Hergestelltem zufrieden stellt und auch ästhetisch zu unserer Welt passt, zeigt sich nur in der Erfahrung des wohnenden Umgangs. Vgl. Arendt 98 , 8; Paz 00 Architekturtheorie_Huter.indd 31 23.01.2008 15: 27: 47 Uhr <?page no="31"?> 1. Vorlesung 32 2 Vorläufige Unterscheidung zwischen Wohnen, Entwerfen und Bauen Das Bauen als handwerklich-technisches Herstellen und Aufrichten von Bauwerken wird uns in der Architekturtheorie nicht so sehr zu interessieren haben. Architektur als Lebensmittel gehört wiederum nicht in die Welt der Technik, der Werkzeuge und Geräte. Verstehen wir Architektur nur als Maschine, dann ist der damit für den Menschen verbundene Zweck nicht der Mensch und sein Leben, sondern die Funktion, genauer, der „Gang der Maschine“, also ein technischer Vorgang, der wiederum bestimmte Gegenstände erzeugt. Was sollte auch der Output einer „Wohnmaschine“ sein? Vielmehr sehen wir eine nicht hintergehbare lebenswirkliche Koexistenz von Wohnen und (architektonischem) Entwurf. 3 Das Entwerfen transzendiert die Wirklichkeit und ist als Handeln frei in einem offenen Horizont der Möglichkeiten. Unter der Praxis des Architekten verstehen wir also das freie vernünftige Handeln, das sich selbst sein Ziel gibt und um die Heterogonie der Zwecke weiß: Niemals wird das Beabsichtigte ganz erreicht, Absichten und Motive des Handelns sind nicht begrenzbar und nicht alle Wirkungen des Handelns können im Vorhinein gewollt bzw. vorhersehbar sein. Die Architekturtheorie verschafft aber dem Architekten Orientierung im Handeln, indem sie das Ziel des Entwurfs als Wohnen-Können des Menschen fokussiert. Damit wird das Wohnen-Können des Menschen das zentrale Thema der Architekturtheorie. Wie verhalten sich aber Wohnen und Entwerfen zueinander? Ich behaupte, dass jedes Wohnen und Bauen schon ein Entwerfen ist. Wohnend erfahren wir die Unzulänglichkeiten des Bewohnens, die es auszuschalten gilt. Zunächst antizipieren wir etwas uns Angemessenes und transzendieren damit die Gegenwart des Unzureichenden. Der Vorgriff, der schon im vor-architektonischen Bauen steckt, ist ein Entwurf unserer neuen Möglichkeit, an einem Ort zu bleiben, d.h. „hier“ zu wohnen. Diese Gedanken und Fragestellungen vertiefend, möchte ich eine feinsinnige und treffende Unterscheidung von Wilhelm k amlah (1905-1976) aufnehmen, indem ich vorschlage, das architektonische Handeln (Entwerfen) vom architektonischen Verhalten (Bewohnen, Bauen) dahingehend abzugrenzen, dass „das Handeln sich stets mehr oder weniger aus dem Verhalten gleichsam herausprofiliert“ . Es muss das wohnende und bauende Verhalten des Menschen notwendigerweise schon als gesellschaftliche Praxis geben, damit sich daraus das architektonische Handeln als eine eigenständige Aktivität herauskristallisieren und schließlich professionalisieren kann. Verglichen mit dem lebensweltlichen oder existenzialen Wohnen und dem vor- oder außerarchitektonischen Bauen ist das Entwerfen eine jüngere Tätigkeit des Menschen. Damit meine ich jene Praxis, für deren Verständnis sich die Architekturtheorie spätestens seit v itruv interessiert. Vgl. Rentsch 005 Kamlah 97 , 9 Architekturtheorie_Huter.indd 32 23.01.2008 15: 27: 47 Uhr <?page no="32"?> Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? 33 Entwerfen soll deshalb als typisches oder professionelles Handeln des Architekten bezeichnet werden. Das architektonische Verhalten wollen wir dasjenige menschliche Verhalten nennen, das auf Bedürfnisse reagiert und zwar auf die Weise, die wir als Wohnen und als Bauen kennen. Das Entwerfen des Architekten bearbeitet die - nun auch theoretisch verstandene - Aufgabe, dem menschlichen Wohnen eine nach den Regeln und Methoden einer „Kunst“ angemessene Form zu geben. Es zielt damit auf etwas Konkretes, das jedoch im Entwerfen erst gefunden wird und sich dann in der Welt zeigt. Das professionelle Entwerfen gilt dem expliziten Entdecken einer konkreten Theorie. Das Bauen als handwerklich-technisches Herstellen und Aufrichten von Bauwerken können wir an dieser Stelle vernachlässigen. Ich fasse zusammen: Architektonisches Verhalten heißt dasjenige menschliche Verhalten, das Bedürfnisse transzendiert und Möglichkeiten ergreift, die wir als Wohnen und Bauen beschreiben. Das Handeln des Architekten nennen wir jenes tätige Verhalten, das, vernünftig und wissenschaftlich angeleitet, im architektonischen Entwurf beziehungsweise Werk zu bestimmten Resultaten kommt. Eine Theorie des architektonischen Verhaltens muss vier Fragen ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen: Was ist der Mensch? Wie begegnet ihm seine (Außen-)Welt? Warum „baut“ der Mensch? Was bedeutet in diesem Zusammenhang „Kunst“? Eine Theorie, die das Handeln des Architekten (Entwerfen) ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt, fragt auch nach der besonderen Wissenschaftlichkeit dieses Tuns. Wir haben wiederholt gefordert, dass der wissenschaftliche Charakter der Architekturtheorie dadurch zur Geltung kommen muss, dass sie ihr Wissen aus einem Verständnis der menschlichen Lebenspraxis gewinnt. Dabei muss sie sich überzeugend gegen Wissenschaften wehren, die sich im Fahrwasser des Rationalismus oder des Empirismus bewegen. Wie muss, wie kann sich eine Theorie zu den vortheoretischen Erfahrungen produktiv verhalten, ohne ihr Erkenntnisinteresse aufzugeben? Am Anfang steht die Frage nach der Wahrheit. 3 Voraussetzungen für Erkenntnis Wir beginnen mit drei Sätzen, von denen behauptet werden kann, dass sie „wahr“ sind: a) „Jeden Morgen geht die Sonne auf.“ b) „Peter ist ein lieber Junge.“ c) „Die Höhe des Eiffelturmes beträgt 300 Meter.“ Was setzen die drei Sätze mit Wahrheitsanspruch voraus? Der erste Satz bezieht sich auf eine „allgemeine“ Erfahrung, die jeder Mensch gemacht hat Architekturtheorie_Huter.indd 33 23.01.2008 15: 27: 47 Uhr <?page no="33"?> 1. Vorlesung 34 bzw. machen kann. Kein „vernünftiger“ Mensch wird den Wahrheitsgehalt bezweifeln. Der zweite Satz setzt eine wie auch immer zustande gekommene persönliche Begegnung mit einem Jungen voraus, der Peter heißt. Der dritte Satz setzt seinen Wahrheitsanspruch auf die Richtigkeit einer mathematischrechnerischen Operation. Vergleichen wir nun die drei Sätze, so „benutzen“ sie Wahrheit auf eine je verschiedene Weise. Der Physiker mag bestreiten, ob die Rede vom „Aufgang der Sonne“ die Realität trifft, insofern von einem physikalischen Standpunkt aus die Vorstellung des „gesunden Menschenverstands“ völlig belanglos ist. Ob Peter tatsächlich ein „lieber Junge“ ist, hängt wohl davon ab, was je unter „lieb“ verstanden werden soll. Schließlich die Aussage über die Höhe des Eiffelturms. „Wahrheit“ meint doch in diesem Fall eher die Richtigkeit und Verlässlichkeit einer Berechnung. „Gerechnet“ werden kann hier nur, insofern sich das Messen vom Gebrauch eines Maßstabs ableitet, dessen praktische Handhabung keinen Spielraum zulässt, sondern auf ein quantitatives Maß konventionell und gesetzlich festgelegt wurde. Bezogen auf das universell anerkannte Urmetermaß lässt sich freilich die Exaktheit der Aussage beziehungsweise die Genauigkeit des Messens selbst überprüfen. Überblicken wir unsere drei Sätze, so mag es den Anschein haben, als sei die Frage nach der Wahrheit „relativ“. Genauer besehen, stellt sich Wahrheit stets in einem Kontext von Welt oder präziser: in einer konkreten Sprechsituation ein, die wir mit reflektieren müssen, wenn es um Wahrheitsfragen geht. Der Primat der Sprache ist für keine Erkenntnis hintergehbar. Wir können nämlich, wenn wir so genannte Wahrheitsfragen prüfen, nicht aus unserer Sprache austreten. Wir bleiben den Regeln des verständlichen Sprechens und Verstehens unser Leben lang verhaftet. Dazu kommt, dass wir diese Sprache von frühester Kindheit an gelernt haben. Unser seit dieser Zeit gewonnenes Bild von der Welt ist sprachlich gegliedert. Auch unser Wissen von dieser Welt ist durch und durch sprachlich. Die menschliche Fähigkeit zu sprechendem Handeln ist für alles Wissen und alle Erkenntnis von unserer Welt fundamental. Martin h eiDegger (1 9-1976) hat die ontologische Basisleistung der Sprache in einer „architekturnahen“ Metaphorik so ausgedrückt: „Das Sein von jeglichem, was ist, wohnt im Wort. Daher gilt der Satz: Die Sprache ist das Haus des Seins.“ 5 Dazu passt die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Auffassung, dass die theoretische Haltung zur Welt nicht in sich selber ruht, sondern sich erst nachträglich aus dem handelnden Leben ergibt oder zum alltäglichen Handeln hinzukommt. Wir kennen die Dinge unserer Welt zunächst in ihrem gewohnten „Zuhandensein“, in ihren vertrauten Umgangsqualitäten. Was ein Fenster, eine Tür ist, wissen wir schon aus dem Gebrauchen dieser Gegenstände. Dabei gehen das immer reichere Verstehen und Verwenden des Worts „Fenster“ in Redezusam- 5 Heidegger 986, 66 Architekturtheorie_Huter.indd 34 23.01.2008 15: 27: 48 Uhr <?page no="34"?> Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? 35 menhängen und die vielfältige praktische Handhabung eines Fensters Hand in Hand. Mit dem Erwerb von Handlungen wie „das Fenster öffnen, das Fenster schließen“ lernen wir zugleich den Gebrauch der Ausdrücke „richtig“ und „falsch“. Wir lernen nämlich auf diese Weise, das richtige vom falschen Handeln zu unterscheiden. Von dieser primären Kenntnis können wir die Vorhandenheit als solche, ihre bloße gegenständliche Gegebenheit, abheben. Um ein Fenster „an sich“ zu betrachten, bedarf es einer radikalen Distanz vom praktischen Umgangswissen. Beide Voraussetzungen führen zur Auffassung, dass jede bewusste Erkenntnisleistung erst aus einer Störung oder Durchkreuzung der primär selbstverständlich funktionierenden Gewohnheiten (engl.: habits) entspringt. Gegenüber dem praktischen Umgang mit den Dingen erwächst die Erkenntnisneugier aus einer wie auch immer verursachten Unterbrechung des vertrauten, eingeübten, habituellen Verhaltens. In der erkenntnistheoretischen Haltung können wir niemals damit beginnen, die Gesamtheit unserer Welt in Zweifel zu ziehen Unsere Grunderfahrung ist die des Orientiertseins in eine durch und durch sinnvolle Welt. Als Mensch leben und unsere Welt verstehen sind gleich ursprünglich. Und dieses ursprüngliche Verstehen orientiert auch den Wissenschaftler, der etwas erkennen will. Es ist der „natürliche“ Boden, auf dem wir alle stehen. Jedes Erkennen beruht auf einem selbstverständlichen Hinnehmen der Welt, das wir nicht zur Gänze in Zweifel ziehen können. Anderenfalls wäre uns der Boden unter den Füßen weggezogen und unsere Welt würde in sich zusammenbrechen. Es ist indes eine falsche Alternative, dem Menschen entweder Vernunft oder Emotion zuzuschreiben. So mag zwar eine Wissenschaft danach trachten, alles Emotionale in einen Bereich der Irrationalität abzudrängen. Jedoch würde sie dabei übersehen, dass auch der Wissenschaftler motiviert sein muss, um an seine Arbeit zu gehen. Wer eine Antwort sucht, muss zuvor schon eine Frage gestellt haben. Fragen lassen sich nicht einfach vom Baum pflücken, sie gehen auf ein Bemerken, Staunen und Neugierig-Sein zurück. Das Suchen und Entdecken ist ein willentlicher Akt. Ohne Willen und Gestimmt-Sein gibt es kein wissenschaftliches Streben, wobei dieses Streben und Motiviert-Sein der Vernunft gar nicht zugänglich sein muss und einem Beobachter als unvernünftig erscheinen kann. Dieses Streben ist ein leibliches Drängen, dem wir nachgeben. Es ist also unmöglich, die rationale Erkenntnis von dem leiblichen Untergrund der Willensregungen, Gefühle, Motivationen, Werthaltungen und Stimmungen abzulösen. Man kann den seelischen Anteil an der wissenschaftlichen Tätigkeit nicht ausschalten, um dadurch eine vermeintlich objektive Erkenntnis zu gewinnen. Vielmehr müssen diese Anteile als unablösbare Voraussetzungen in den Grund des Erkenntnisstrebens eingehen. Wir wissen seit Sigmund f reuD (1 56-1939), dass das Bewusstsein eben nur das bewusste oder gewusste Sein beinhaltet und damit nur einen be- Architekturtheorie_Huter.indd 35 23.01.2008 15: 27: 48 Uhr <?page no="35"?> 1. Vorlesung 36 grenzten Ausschnitt ausmacht von all dem, was uns zum Handeln veranlassen mag. Uns trägt in unserem Tun und Lassen das Nicht-Bewusste weit mehr, als dasjenige, was wir als unser bewusstes Wissen auch auszusprechen und darzulegen vermögen. Deshalb kann auch Erkenntnis nicht mehr in einem in sich selbst ruhenden autonomen Bewusstsein begründet werden. Es ist praktisch gar nicht nötig, über unsere Qualifikation und unser Wirken zu räsonieren. Es gibt ein Können, das notwendigerweise nicht kognitiv präsent ist, sondern vorbewusst bleibt. Die praktische Urteilskraft zum Beispiel, das kluge Abwägen in einer rasch zu lösenden Situation, dieses Vermögen ist und bleibt praktisch und lässt sich nicht theoretisch lernen und lehren. Wir müssen in Frage stellen, worauf wissenschaftliche Erkenntnis allein zu beruhen scheint: auf methodisch zweifelsfrei erforschtem, objektivem Wissen. Nicht allein dieses Wissen führt zu Erkenntnissen. Zum Beispiel gibt es außer- und vorwissenschaftliche Erkenntnisse, die auf Lebensformen in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten zurückgehen, die dem modernen wissenschaftlich-logischen Ideal der Neuzeit nicht anhängen. Zudem wissen wir, dass jede Wissenschaft relativ zum Weltbild ihrer Betreiber „aufgebaut“ ist. 4 Erfahrung und Prinzip a ristoteles hat wohl als erster die Überzeugung ausgedrückt, dass jegliche Art von Erkenntniserwerb, alles vernünftige Lehren und Lernen, von einem schon vorhandenen Wissen ausgeht. Dies ist auch leicht einzusehen. Fragen wir nach einer Sache, müssen wir von ihr schon „irgendwie“ wissen. Damit dieser Satz aber nicht widersinnig klingt, bedarf es offensichtlich einer Auslegung des Begriffs „Wissen“ in verschiedenen Hinsichten. a ristoteles will nämlich darauf aufmerksam machen, dass der Sinn von Wissen mehrdeutig ist. Es geht ihm dabei indes nicht, was vielleicht nahe zu liegen scheint, um die Unterscheidung zwischen Wissen und Nichtwissen. Vielmehr lässt sich leicht feststellen, dass wir von einer Sache in einer Hinsicht wissen, in einer anderen jedoch nicht. So unterscheidet sich etwa das Wissen von einer Sache aus Gewohnheit von einem Wissen der Sache aus wissenschaftlicher Perspektive. Vereinfacht gesagt, es gibt ein Wissen aufgrund von Erfahrung und ein Wissen aufgrund der Kenntnis allgemeiner Prinzipien. Dabei ist mühelos einzusehen, dass sich die Wissensinhalte nicht gegenseitig aufheben bzw. sich überflüssig machen, ebenso, dass es sich nicht um eine Hierarchie von Wissen handelt, als ob das eine besser sei oder mehr Wissen enthalte als das andere. Diese Einsichten sind jedenfalls die Ausgangssituation von a ristoteles ’ Prinzipienlehre, auf die ich im Folgenden zurückgreifen werde, weil sie insofern geeignet ist, in die Architekturtheorie methodologisch Architekturtheorie_Huter.indd 36 23.01.2008 15: 27: 48 Uhr <?page no="36"?> Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? 37 einzuführen, als sie die besondere Lehr- und Lernsituation berücksichtigt. Was bedeutet es, Prinzipien zu wissen? Damit ist nicht eine Erkenntnis gemeint, welche Prinzipien als etwas für sich Gegebenes herausstellt. Dass wir Prinzipien gleichsam nur im (über-)prüfenden Blick auf unsere Erfahrung erkennen, macht deutlich, dass wir ein Prinzip und das, dessen Prinzip es ist, nicht voneinader isolieren können. „Ein Prinzip ist seinem Begriff nach immer Prinzip in Beziehung auf etwas, wovon es Prinzip ist“. 6 Ebenso gibt es ein Lernen, das von einem passenden Beispiel zu einem Verständnis der prinzipiellen Hinsichten führt, als ein Lernen, das vom Allgemeinen zum Besonderen oder Konkreten führt. 7 An dieser Dialektik, auf die a ristoteles jeden Erkenntnisgewinn zurückgeführt hat, wollen auch wir festhalten. Wir sind in unserer Lebenswelt, die die Welt des Gebrauchens und des Genießens ist, mit der Sache des Wohnens und Bewohnens vertraut. Unsere ersten Erlebnisse mit dem, was Architektur ist, fanden im kindlichen Wohnen statt. Nur weil es diese frühen Begegnungen gibt, wollen wir ihre Prinzipien entdecken. Jenes Vorwissen aus einer Vertrautheit mit den Dingen ist zugleich der Boden, auf dem jedes darüber hinaus weisende Fragen nach Erkenntnis überhaupt möglich ist. Edmund h usserl (1 29-193 ) hat von der Lebensweltver gessenheit gesprochen und sich auf das Ignorieren unseres Vorverständnisses durch die theoretischen Wissenschaften bezogen, die sich vom Beginn der Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert hinein systematisch von der Lebenswelt abgekoppelt hatten. Dies galt auch für die Psychologie des Bewusstseins, so wie sie sich um 1900 dem Begründer der Phänomenologie präsentiert hatte und von ihm als „Psychologismus“ kritisiert wurde. h usserl wandte sich gegen das Ansinnen, eine Logik auf psychologischen Gesetzmäßigkeiten aufzubauen: „Die logischen Gesetze gehören einer ganz anderen Ordnung an als die psychologischen; sie sagen nichts darüber aus, wie erfahrungsmäßig gedacht wird oder gedacht werden sollte“, so der Philosophiehistoriker Hermann n oack . Auch hinsichtlich des Problems, wie wir zu „Verallgemeinerungen“ (Prinzipien) kommen, griff h usserl die psychologische Bewusstseinstheorie seiner Zeit an: „Was aber mit dem Allgemeinen gemeint ist und wie es gedacht werden muß, kann freilich nur eine Analyse der intentionalen Erlebnisse selber verdeutlichen“. 9 „Intentional“ bedeutet bei h usserl , dass jede Wahrnehmung ein Verhalten des Sich-richten-auf-etwas, eine Kenntnisnahme von Sachverhalten innerhalb meines Erfahrungslebens und meiner Orientierung darin ist. Das psychologistische Vorurteil besteht dann darin, dass man die Wahrnehmung als vorgängiges psychisches Erlebnis nachträglich mit einem realen Objekt verbindet. 10 (Der 6 Buck 989, 5 7 Dazu ausführlich Buck a.a.O. 8 Noack 96 , 0 9 A.a.O., 0 Vgl. Szilasi 959 Architekturtheorie_Huter.indd 37 23.01.2008 15: 27: 48 Uhr <?page no="37"?> 1. Vorlesung 38 hier wesentliche Zusammenhang von Wahrnehmen und Orientieren wird uns in der . Vorlesung ausführlich beschäftigen.) Wir meinen, dass Theorie, auch Architekturtheorie, aus den pragmatischen Lebensformen und den diese konstituierenden Erfahrungen zu entwerfen ist. Gerade an einer „Nicht-Wahrnehmung“ der Lebenserfahrung macht h usserl die „Krisis“ der theoretischen Wissenschaften fest. Wollen wir dies ändern, dann muss versucht werden, eine Lehre von der Architektur in der praktisch-konkreten Lebensganzheit zu gründen. Wir müssen verstehen, dass zu unserer Lebenswelt alle Praxis gehört, zu der der Mensch fähig ist, und damit auch die theoretische Praxis sowie die Praxis des Architekten. Der Zugang zur Welt der Architektur über jene Prinzipien, die wir bereits voraussetzen, wenn wir über Architektur sprechen, besinnt sich auf die Erfahrungen, die der Mensch von den Dingen seiner Welt gemacht hat, und versucht, diese Erfahrung phänomenologisch zu beschreiben. Wenn wir also von der Erfahrung und den in ihr anerkannten Prinzipien sprechen, dann bewegen wir uns stets im Horizont der Sprache, in der jede Erfahrung steht. Wenn ich sage: „Das“, was ich aus meinem Fenster sehend erblicke, „ist ein Haus.“, dann mache ich meine Leser nicht nur darauf aufmerksam, dass dieses Ding vor mir ein Haus ist und nicht ein Auto oder ein Baum. Darüber hinaus tue ich noch etwas ganz Außerordentliches: Ich behaupte nämlich, dass es Dinge wie Häuser überhaupt gibt, dass Häuser schlechthin existieren. Genau besehen, lautet meine Aussage: Was ich dort sehe, ist ein Beispiel für das, was wir (ich und meine Leser) als Häuser kennen und ansprechen. Woher weiß ich das? Offensichtlich „erkenne“ ich an diesem Ding mir gegenüber etwas wieder, was mir als „das Hausartige“ schon bekannt ist. Es ist mir aber aus Erfahrung bekannt. Im „Hausartigen“ weiß ich etwas Prinzipielles, das ich an jedem einzelnen Haus wieder finden kann. Ludwik f leck (1 96-1961) nannte dieses konkrete Prinzip auch „Gestalt“. (Darauf wird die 5. Vorlesung ausführlich Bezug nehmen.) Insofern verstehen wir schon Prinzipielles, nämlich das Hausartige, wenn wir etwas als „ein Haus“ ansprechen. Jedoch ist dieses Verstehen kein theoretisches Kennen und Wissen. Vielmehr liegt darin ein Entwerfen. (Wir werden dieses „Entwerfen“ in der . Vorlesung noch genauer zu untersuchen haben.) Das „Hausartige an sich“, losgelöst vom Einzelfall und der Situation seines „Erscheinens“, gibt es indes nicht. Es zeigt sich eben nur am einzelnen konkreten Beispiel. Damit ist der „Begriff“ Haus kein Einheitsbegriff, der alle Fälle unter sich subsumiert, sondern eine Konzeption, nämlich ein erfahrungsmäßiges Vertrautsein mit der konkreten Breite und empirischen Wandelbarkeit des „Hausartigen“. Jedermann besitzt also Prinzipienkenntnisse mit seinem Erfahrungswissen. Dieser Besitz ist grundlegend für jede weitere begriffliche Vermittlung, die diese „Einführung“ anstrebt. In jeder Erfahrung bin ich, der diese Erfahrung Architekturtheorie_Huter.indd 38 23.01.2008 15: 27: 48 Uhr <?page no="38"?> Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? 39 selbst gemacht hat, stets schon auf die Inhalte der Erfahrung bezogen. Darin drückt sich aus, dass es meine Erfahrung ist. Jede Erfahrung hat daher zu ihrem Inhalt „die Verständigkeit, mit der ich bei den Dingen bin“ 11 . „Bei den Dingen sein“ gehört zur Grundsituation des Bleibens und des Aufenthalts bei den Dingen und Angelegenheiten der Praxis. Mit anderen Worten: Es gibt keine Erfahrung, mit der sich nicht auch eine Bedeutung, eine Hinsicht verbindet. Wir können weder „hinter“ Bedeutung und Hinsicht kommen, um die „reine Erfahrung“ zu fassen, noch sie theoretisch „verbessern“ oder „vervollkommnen“. Vielmehr soll uns unser Lernen vor unsere Hinsichten bringen, sie begreifen lernen, sie für unser weiteres, theoretisch vertieftes Verständnis von der Sache fruchtbar machen. Eine Einführung, das Beibringen allgemeiner Sätze also, kann und muss auf dieses bedeutsame Vor-Verständnis vom praktischen Umgang mit den Dingen setzen, damit jeder Leser sich darauf besinnen lernt, was er, wenn auch pragmatisch-unausdrücklich, in seiner Erfahrung von Architektur schon selbst verstanden hat. Bislang habe ich argumentiert, dass das Entdecken von Prinzipien eine nicht hintergehbare Bezüglichkeit zu unserem Vorwissen aufweist. Aber ebenso gilt: das Entdecken von Prinzipien setzt eine Vertrautheit mit ihnen voraus. Wie das, wo ich sie doch noch gar nicht erkannt habe? Auch hier können wir auf ein Beispiel zurückgreifen, das A ristoteles angeführt hat. Der Satz vom Widerspruch, demzufolge dasselbe Urteil nicht zugleich bejaht und verneint werden kann, ist das schlechthin oberste Prinzip allen Wissens. Wir haben dieses Prinzip, in der Regel unwissentlich, schon unterstellt, wenn wir mit anderen Menschen diskutieren. A ristoteles sagt, dass wir den Satz vom Widerspruch implizit schon zugegeben haben, ohne ihn jedoch derart explizit gemacht zu haben, dass wir aus ihm etwas beweisen wollen. Der Satz vom Widerspruch, so Wolfgang W ielAnd (*1933) in seiner Auslegung von A ristoteles ’ Prinzipienlehre, ist kein Satz, „der sinnvoll zum Gegenstand oder nur zur willkürlich angenommenen Voraussetzung einer Diskussion gemacht werden kann, weil er selbst die Diskussion zwischen zwei Partnern erst ermöglicht. Können nämlich entgegengesetzte Meinungen gleich wahr sein, so ist jede Diskussion sinnlos“ 12 . Dieses Beispiel soll darauf aufmerksam machen, dass eine erfahrungsmäßige Vertrautheit mit den Prinzipien schon vorliegen muss, um überhaupt nach ihnen fragen und forschen zu können. Erinnern wir uns an unser Beispiel: „Das ist ein Haus.“ Wenn hier also vorgeschlagen wird, von unseren Erfahrungen und Wahrnehmungen auszugehen, dann aus dem sicheren Verständnis heraus, dass uns das Haus näher ist als der einzelne Stein, das Wohnen näher als ein einzelnes Bedürfnis. Aber wir dürfen nicht dem Irrtum verfallen, „Nähe“ mit Einfachheit gleichzusetzen, wie es die Empiristen tun. Vielmehr spüren 11 Buck a.a.O., 14 12 Wieland 1992, 212 Architekturtheorie_Huter.indd 39 31.01.2008 11: 48: 22 Uhr <?page no="39"?> 1. Vorlesung 40 wir hier: das Nahe ist zugleich das Komplexe. In unserem Leben werden wir mit Geschichten und Märchen früher bekannt als mit dem einzelnen Wort, dem einfachen Buchstaben. Erst später wird uns bewusst, dass wir beim Hören und Sprechen stets schon eine Grammatik (ein grammatisches Können) praktiziert haben, mit der wir uns dann auch sprachtheoretisch auseinandersetzen können. Unsere Wohnerfahrungen und Wohngeschichten sind uns benachbarter als eine „Geschichte des Wohnens im 20. Jahrhundert“. Aber niemand käme auf die Idee, eine solche historische Abhandlung zu verfassen, wenn er und seine Leser das Wohnen nicht schon lebensweltlich kennen würden. Das kindliche Wohnen geht „naiverweise“ davon aus, dass das selbst erfahrene Wohnen das Wohnen schlechthin sei. Erst durch die im Verlauf des weiteren Lebens einsetzende Konfrontation mit Wohnbeispielen anderer Menschen und Kulturen wird bewusst, dass es eine Vielfalt von Wohnweisen gibt. Haben wir zunächst (aus Mangel an Erfahrung) von unserem Wohnen auf ein Wohnen überhaupt geschlossen, also implizit auf ein Prinzip verallgemeinert, so merken wir nun dank neuer Erfahrung, dass wir fälschlicherweise generalisiert haben. Diese „Einführung in die Architekturtheorie“ ist nicht so konzipiert, als solle vom Leser ein Wissen lediglich übernommen werden. Vielmehr appelliert sie an jenes Vorverständnis von uns allen, dass wir auf eine bestimmte Weise wohnen und mit Gebäuden zumindest auf eine pragmatische Weise vertraut sind. Insofern mögen manche „ins Bauen“ eingebundene Leser auf den ersten Blick von dieser „Einführung“ nichts Neues erwarten, weil sie mit dieser Thematik schon bestens bekannt sind. Dennoch sollten diese Leser bedenken, ob nicht das Lernen innerhalb eines anderen (als des rein praktischen) Kontexts die Bedeutung und den Umfang des Wissenswerten tiefer und breiter verstehen lassen. Ich fasse zusammen: Es soll in der Weise über Architektur gesprochen werden, dass der Leser Prinzipien des Entwerfens, Wohnens und Im-Raum-seins begreift, auf die er sich vielleicht schon vorreflexiv verstanden hat, ohne sich jedoch über deren Gültigkeit und Reichweite im Klaren zu sein. Die bewusste Kenntnis der Prinzipien unter Berücksichtigung ihrer lebensweltlichen Kontexte ist auch eine Aufklärung über die eigene Praxis. Unter Praxis verstehen wir das freie Handeln des Architekten, das Handeln, das sich selbst das Ziel gibt. Der Soziologe und Kulturphilosoph Georg s immel (1 5 -191 ) hat in seinem Spätwerk den Begriff von Freiheit so interpretiert: „Freiheit ist nichts Negatives, nicht die Abwesenheit von Zwang, sondern die ganz neue Kategorie, zu der die Entwicklung des Menschen aufsteigt, sobald sie die Stufe der an seine innere Physis gebundenen Zweckmäßigkeit und deren bloßer Fortsetzung in das Handeln hinein verlassen hat.“ 13 Dieser „Einführung in die Architekturtheorie“ geht es um dieses Ziel des freien Handelns des Architekten. Simmel 9 8, 5 Architekturtheorie_Huter.indd 40 23.01.2008 15: 27: 49 Uhr <?page no="40"?> Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? 41 5 Zwischenbemerkung Der Zugang zur „Welt der Architektur“ über Prinzipien, die wir schon unterstellen, wenn wir über Architektur alltäglich sprechen, besinnt sich auf die Erfahrungen, die der Mensch von den Dingen seiner Welt gemacht hat, und versucht, diese Erfahrung phänomenologisch zu beschreiben. Wenn wir also von der Erfahrung und den in ihr anerkannten Prinzipien sprechen, dann bewegen wir uns stets im Horizont der Sprache, in der jede Erfahrung steht. Damit ist die Absicht dieses Buchs aufgezeigt. Es will z.B. dem Architekten ein Verständnis dafür eröffnen, welche Bedeutung Architektur für den Lebensprozess innerhalb unserer sozialen Lebenswelt hat. Wir alle wohnen „irgendwie“, und wir alle bewohnen „irgendwo“ ein Gebäude. Diese Erfahrung, die wir mit dem Bewohnen (eines Hauses, einer Stadt, einer Landschaft usw.) gemacht haben, geht als notwendiges Vorwissen in jedes Lernen über Architektur ein. Alles Lernen beruht auf einer Konfrontation mit unserem Vorwissen. Eine Belehrung wird zur Erfahrung nicht aufgrund einer Autorität, mit der jene durchgeführt oder gar durchgesetzt wird, sondern weil uns mit der Belehrung etwas widerfährt und sich uns aufdrängt, dem wir aufgrund seiner Einsichtigkeit zustimmen müssen. Das Vermögen, sich allgemeiner Prinzipien zu bedienen, lässt seine Tragweite darin erkennen, wie es uns an bestimmten Klippen und Hemmnissen unseres praktischen Tuns nützlich ist und weiterhilft. Theorie soll den Architekten über sein Handeln im Kontext unserer praktischen Welt aufklären, was nicht heißt, normativ festlegen zu wollen, was im einzelnen Fall zu tun ist oder gar wie ein Bauwerk auszusehen hat. Wir sollten aber jene Unterscheidung zwischen Praxis und Theorie vergessen, die auf eine Trennung von Lebenswelt und Wissenschaft, von Handeln und Denken, hinausläuft. Vielmehr wollen wir die theoretische Reflexion als eine Kompetenz betrachten, unter deren Gebrauch wir an den Punkten, wo wir mit unserem eingespielten Tun nicht mehr weiter wissen, Hilfe, Orientierung und Zuspruch erhalten. Eine Theorie ist keine Sammlung von Lehrsätzen und Anweisungen, die der Architekt, anstatt selbständig und eigenverantwortlich zu handeln, bloß umzusetzen brauchte. Theorien dienen der Orientierung im Handeln und reflektieren unser Selbstverständnis, ebenso aber haben sie ihre Bedeutung darin, die gewohnte Welt „mit anderen Augen“ zu sehen, die Dinge auf eine frische, unkonventionelle Art zu betrachten und vielleicht sogar „neu“ zu verstehen. Der könnende Umgang mit Theorie zeichnet also dasjenige Wissen aus, vorliegende Praxisfälle, die in der Regel Entwurfs-fälle sind, zu transzendieren und so auf Prinzipien zu stoßen, die den vorliegenden Fall in einer bewährten, nichtaktuellen Hinsicht zeigen. Ziel und Zweck des theoretischen Vermögens ist also das Zurückzufinden in eine Orientierung im Handeln. Architekturtheorie_Huter.indd 41 23.01.2008 15: 27: 49 Uhr <?page no="41"?> 1. Vorlesung 42 Theorien sind kein Selbstzweck, sondern sie versuchen, eine ins Stocken gekommene Praxis wieder in Gang zu setzen. Sie werden ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie nicht an den Erfahrungen anknüpfen, auf denen jede Praxis beruht und aus denen sie schöpft. Von wessen Erfahrungen sprechen wir hier? Diese Frage lässt sich nur dadurch beantworten, dass wir Architektur in den Kontext von Wohnen und Entwerfen stellen. Denn wenn wir zu Anfang bereits nach dem Zweck der Architektur gefragt haben, dann wollen wir jetzt eine vorläufige Antwort geben: wir bauen, insofern wir wohnen. Der negative Umkehrschluss gilt nicht, insofern nicht zu wohnen dem Menschen unmöglich ist. Der Mensch, einmal auf der Welt, muss irgendwo bleiben, er kann sich schließlich nicht in Luft auflösen. Wir werden über das Bauen nichts wirklich Wichtiges aussagen können, wenn wir nicht schon über das Wohnen Bescheid wissen. An dieser Stelle gründet unsere Hermeneutik der Architektur. Es liegt nämlich schon ein bestimmtes (hermeneutisches) Verständigungsproblem im Leben vor hinsichtlich des „zu uns“ passenden Wohnens, der „zu uns“ passenden Architektur. Deshalb ist der Ausgangspunkt dieser Einführung nicht die Architektur oder der Architekt, sondern die Praxis der Lebensführung und die dort geübte Sicht auf unsere Welt. Wie sind wir bislang in dieser Vorlesung vorgegangen? Wir haben Erfahrungen benannt und darin erste und vorläufige Erkenntnisse gewonnen. So konnten wir eine Spur aufnehmen, die selbst nicht aus theoretischen oder bewiesenen Sätzen abgeleitet wurde, sondern die eine gewisse Überzeugung ausdrückt und die uns in eine bestimmte Richtung der Untersuchung geführt hat. Diese Spur dürfen wir nur dann weiter verfolgen, wenn mit unseren Erfahrungen auch ein Wissen vorliegt - von welcher Güte und Reichweite dieses Wissen ist, ist noch nicht bekannt. So viel lässt sich indes sagen: Die Erkenntnis, zu der wir durch bewussten Prinzipiengebrauch geführt werden, ist kein Ableiten aus absoluten Gründen. Es ist ein könnender Umgang mit dem, was wir sprachlich-intersubjektiv schon leisten. 6 Der Neuansatz der Architekturtheorie Wenn wir uns weigern, Wahrnehmen, Verstehen und Denken unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen (Lebenswelt versus Wissenschaft) zuzuordnen, dann auch deshalb, weil wir davon überzeugt sind, dass Wahrnehmen und Denken einem unteilbaren Vorgang angehören. Jeder Wahrnehmungsleistung, jedem Denken läuft etwas voraus, dass wir vorläufig so fassen können: Der Mensch ist immer schon in der Welt, wenn er sinnvoll von Denken und Wahrnehmen spricht. Welt ist sprachlich gedeutete und ausgedeutete Welt. Wir nehmen ein Pferd wahr und zugleich all das, was wir von Pferden wissen: Architekturtheorie_Huter.indd 42 23.01.2008 15: 27: 49 Uhr <?page no="42"?> Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? 43 Dass man auf ihnen reiten kann, dass sie Säugetiere sind, dass sie zu gewissen Arbeiten herangezogen werden können, dass sie Vegetarier sind usw. Wahrnehmen und Denken gehen ineinander über, ohne dass wir diese Übergänge genau fixieren könnten. Man muss schon irgendetwas verstanden haben, wenn man sich Gedanken über den Aufbau einer Wissenschaft macht. Wir wollen also die Anfangslosigkeit der Erkenntnis grundsätzlich anerkennen. Es ist mit dem Erkennen- und Wissenwollen nicht anders als mit dem Leben überhaupt: Wir befinden uns immer schon in dieser sprachlich erschlossenen und gedeuteten Welt. Wir haben keine Chance, sie loszuwerden. Unser Leben ebenso wie die Welt sind kein Zustand, sondern ein Geschehen in Zeit und Raum. So wie wir uns an keinen Anfang in unserem eigenen Leben erinnern können, so können uns auch die Historiker nicht einen absolut ersten Gedanken, der auf dieser Welt gedacht wurde, präsentieren. So müssen wir festhalten, dass wir keinen absoluten Ursprung der Sprache, der Kultur und - ich füge nun hinzu - des Wohnens bzw. der Sorge um das Wohnen, ebenso des räumlichen Verhaltens finden können, weil wir, wo immer wir Menschen antreffen, wir auch schon immer Sprache, Kultur, Wohnen und die Sorge um das richtige Wohnen ebenso ein räumliches Verhalten usw. antreffen. Das architektonische Verhalten, als konkretes Zeugnis menschlicher Anwesenheit und Räumlichkeit, kann nicht abstrakt vorgebracht werden. Vielmehr muss es selbst in seiner Phänomenalität erfahren werden. Architekturtheorie ist Erfahrungswissenschaft in diesem prägnanten Sinne. Wenn also darauf verzichtet werden soll, das „absolute“ Wesen von Architektur und von Gesellschaft, was Architektur bzw. Gesellschaft eigentlich und überhaupt seien, zu definieren, dann haben wir uns mit diesem Verzicht nicht von der Frage nach dem Sinn von Architektur usw. verabschiedet, sondern fordern gerade zum Sinnverständnis auf. Dabei kommt der Sprache und dem Sprechen, wie schon mehrfach betont, eine besondere Aufgabe zu. Denn z.B. verweisen die wiederholt gebrauchten Metaphern von der „Sprachlichkeit“ der Architektur, von „Architektur als Bedeutungsträger“ auf die reale Sprachlichkeit der von Architektur Betroffenen. Bedeutung und Ausdruck von Architektur heißt doch nichts anderes, als dass die für jede Architektur bezeichnende „wechselseitige Durchdringung von Materialien, Formen und Zwecken sich mit einer kommunikativen Klärung der Zwecke real verschränken“ 1 muss. So gemahnt selbst die sprachliche Dimension der Architektur an die unhintergehbare Bedeutsamkeit aller „technischen“ Hervorbringungen für unser Leben. Im lauten und leisen Sprechen, im intersubjektiven Kommunizieren vollziehen und konkretisieren sich Bedeutungen und Sinnbezüge. Wir konstituieren unsere Welt sprachlich-situativ, und nur nachträglich im konsubjektiven Austausch un- Wellmer 985, 5 Architekturtheorie_Huter.indd 43 23.01.2008 15: 27: 49 Uhr <?page no="43"?> 1. Vorlesung 44 serer Erfahrungen können wir zum Thema machen, was die jeweilige Welt und ihre Werke für uns interessant oder problematisch macht. Das menschliche Handeln ist leiblich, situativ, kontextuell, aktuell. Das jeweilige konkrete Wohnen, Entwerfen, Bauen als Bewältigen der menschlichen Grundsituationen des In-der-Welt-seins, dass der Mensch, einmal auf der Welt, irgendwo bleiben und seinen Aufenthalt nehmen muss, hat seinen Sitz in diesen praktischen Verhältnissen des Denkens, Sprechens und der Lebensführung. Das Sprechenkönnen ist die wichtigste Handlungsfähigkeit und -gewohnheit des Menschen, weil es alle weiteren Fähigkeiten und Handlungen fundiert und konstituiert. Einzig der Mensch (nicht das Tier, nicht die Pflanze) wohnt, entwirft, baut, weil nur er sich redend (und denkend) über seine Bedürfnisse, Begehrungen, Überzeugungen, Wünsche und Absichten im transsubjektiven Handlungs- und Erfahrungsfeld klar werden und entsprechend reagieren kann. Für Hannah a renDt (1906-1975) enthüllt sich die Person und damit die Welt der Menschen erst im Handeln und Sprechen. 15 In der Praxis unserer Denk- und sonstigen Handlungen geben wir den Zielen, Situationen und Mitteln unseres Lebens eine bestimmte Form. Unsere gesamte Lebenspraxis wird von diesem Grundzug, dem eigenen Leben eine Form geben zu müssen, bestimmt. „Müssen“ bedeutet hier: Es ist für uns (für den Menschen) pragmatisch unmöglich, es nicht zu tun. Wir können nicht, in Situationen verstrickt, uns nicht entscheiden. Es ist pragmatisch unmöglich, als (erwachsener) Mensch sein Leben nicht ir gendwie zu führen und zu formen. Jedermann erfährt sich stets in das nicht hintergehbare Gefüge hineingezogen, das aus der Unbestimmtheit und Nichtfestgelegtheit der Form seines Lebens auf der einen Seite und dem praktischen Erfordernis seiner Form- und Gestaltgebung auf der anderen Seite besteht. Jeder Mensch muss ebenso seinem Wohnen Form und Gestalt geben. Jedes Haus ist geformt. Die Formgebung beginnt schon dort, wo wir unterwegs einen Stein ausgraben in der Absicht, ihn für den Hausbau zu verwenden. Damit binden wir gewissermaßen den in seiner Zufälligkeit ungebundenen, bloß vorhandenen Stein an uns, wodurch erst Form und Maß entstehen. Wir sprechen in einem weiten Sinne aber auch von Umgangsformen wie von Wohn-, Haus- und bekanntlich von Lebensformen und meinen damit etwas tatsächlich Auffindbares und durch Handlungen und Beschreibungen Festgelegtes. Sowohl unser Leben, da es gelebt werden muss, wie auch alles Hergestellte, welches im Kontext unserer Lebenspraxis vorkommt, sind nach ihrer Form und Gestalt weithin unbestimmt und nicht festgelegt. Das gilt ebenso für Städte wie für Gärten, Parks und Landschaften. In dieser Offenheit auch für das Überraschende und Unwahrscheinliche liegt überhaupt der Grund, Gegenstände 5 Arendt a.a.O., 6 ff. Architekturtheorie_Huter.indd 44 23.01.2008 15: 27: 49 Uhr <?page no="44"?> Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? 45 auch unter Aspekten des Schönen zu gestalten und über ästhetische Verantwortung praktisch-folgenreich zu diskutieren. (Dazu wird die 10. Vorlesung weiteren Aufschluss geben.) 7 Der Durchbruch in die Welt des architektonischen Verhaltens Ich komme jetzt zu den spezielleren Antizipationen im Umfeld von Architektur bzw. im Umfeld des Verhaltens, das zu Architektur führt. Wie sind nun Wohnen, Entwerfen und Bauen in ihrer Besonderheit wie in ihrem pragmatischen aufeinander Angewiesensein zu bestimmen? Ich möchte damit beginnen, zwischen Handeln und Gebrauchen als einer Sonderform von Handeln zu unterscheiden. Handeln bezieht sich zunächst darauf, das eigene Leben zu erhalten und zu vollziehen. Es dient der Orientierung in der Welt. Dabei wird sich der Handelnde auch darin begreifen, dass er Teilnehmer eines gemeinsamen, normativ bestimmten Lebenszusammenhanges ist. 16 Dieses Handeln, so können wir sagen, hat unser Leben selbst zum Ziel. Insofern endet es auch nicht mit der Herstellung eines Produkts. Eine Art dieses Handelns, als welches sich das Leben selbst vollzieht, ist das Gebrauchen. „Solches Handeln, zu dem wesentlich das Gebrauchen gehört, sind Handlungen des Menschen wie: wohnen, essen, sich kleiden, schlafen. Diese Handlungen sind selbst ein Bestandteil des Lebens, in ihnen findet zum Teil das Leben selbst seine Erfüllung.“ 17 Damit ist zunächst das Gebrauchen aus dem Handeln entwickelt. Das Gebrauchen wird zu einem wesentlichen Aspekt des Handelns. Es verweist darüber hinaus auf etwas anderes, nämlich auf dasjenige, das in Gebrauch genommen werden soll, damit sich das jeweilige Handeln überhaupt vollziehen kann. Die Beispiele, die fürs Gebrauchen angeführt werden wie: essen, sich kleiden, schlafen betreffen das Wohnen selbst. „Solche Handlungen [wie das Wohnen] sind aber nur möglich im Gebrauchen von etwas anderem, in ihnen ist der Gebrauchende auf anderes Seiendes bezogen [...] Wir können diese Dinge, deren Gebrauch unmittelbar zur Erhaltung des Lebens gehört, Lebens-mittel nennen. [...] Ihr Gebrauch ist ein Vollzug des Lebens.“ 1 So ist, um ein Beispiel zu nennen, der „Gebrauch des Hauses“ das Wohnen, und das Leben besteht dann im Wohnen. Diese Gewinnung eines Verständnisses von Wohnen aus dem Handeln als Lebensvollzug und dem Gebrauch von Lebens-Mitteln ist für uns essentiell. So sind notwendigerweise auch das Entwerfen und das Bauen ausgerichtet auf dieses Ziel, welches Wohnen als Lebensvollzug heißt. Das Leben als Handeln (Wohnen, Entwerfen) ist streng zu unterscheiden vom Herstellen 6 Kaulbach 985, 7 Ulmer 95 , 5 f. 8 A.a.O., 5 Architekturtheorie_Huter.indd 45 23.01.2008 15: 27: 50 Uhr <?page no="45"?> 1. Vorlesung 46 (Bauen). Denn anders als im Wohnen kann sich das Leben allein in der Herstellung nicht erfüllen, weil die Herstellung immer auf etwas anderes als auf den Herstellenden, nämlich auf ein Produkt, gerichtet ist. Das Leben aber ist Handlung und nicht Herstellung. Wir bemühen uns, die Aufgabe der „Einführung in die Architekturtheorie“ sehr ernst zu nehmen. Wir wollen uns gründlich auf diese Aufgabe vorbereiten, sinnvoll über das architektonische Verhalten zu sprechen. Zunächst einmal haben wir fast alles in Frage gestellt, um nicht blind unser Ziel zu verpassen. Offensichtlich wissen wir noch zu wenig über den Menschen und vor allem, was es bedeutet, „in der Welt“ zu sein. Zugleich müssen wir darüber verhandeln, „was“ uns überhaupt zum Reden und Denken über Architektur „antreibt“. Wir werden einsehen und möglicherweise wissen wir es bereits, dass es etwas ist, das „in uns selbst wirkt“. Wer aber ist dieses „Selbst“, das sich durch Selbstbewusstsein und Selbstverständnis auszeichnet, und das sich bei der Frage nach der Architektur engagiert? Offensichtlich ist dieses Selbst, das wir selbst sind, schon durch ein Verständnis von sich und seiner Welt durchwirkt. Die Frage nach dem architektonischen Verhalten, nach dem Wohnen und Entwerfen (Bauen) also, muss nicht eigentlich erst gestellt werden, sondern ist immer schon da, begleitet jeden von uns, insofern jeder schon wohnt, da das menschliche Wohnen zum In-der-Welt-sein gehört, und jeder besser wohnen möchte. Was aber passiert in der Welt des Wohnens? Ich zitiere eine Bewohnerin des Märkischen Viertels in Berlin. Das Märkische Viertel ist ein Berliner Stadterweiterungsprojekt, das man in den 1970er Jahren Menschen anbot, die nicht mehr in den „total-sanierten“ Wohnvierteln der Westberliner Innenstadt bleiben konnten. Das ist doch Irrsinn so was: die Schlafzimmer nach vorne, wo die großen Parkplätze sind, das musst du dir mal überlegen: um Uhr morgens fahren die ersten zur Arbeit und du liegst im Bett und möchtest vor Wut auf das Wagendach hopsen - um vier, um halb fünf, um fünf - ach hör doch auf ! Ich möchte manchmal vor Wut rennen und die Architekten an Arsch und Kragen packen, dass die mal hier wohnen sollten [...] [...] Ein großer zentraler Raum, da kann sich alles abspielen. Du teilst ein Stück von diesem Raum ab, den machst du schalldicht und da hat jeder seine Schlafkoje drin. Das müsste so sein, dass du mit einer Holzjalousie - zuerst das Rollo praktisch runter und hast deine völlige Ruhe, wenn du das Bedürfnis spürst, mal ganz allein zu sein. Und das ganze als Fensterwand außen, dass die in ihren Pritschen auch Licht kriegen. Unterm Fenster ein Schreibbrett oder was du immer damit tun willst, das ist ja völlig wurscht - für meine ganz persönlichen Dinge und damit Feierabend: 2 mal Architekturtheorie_Huter.indd 46 23.01.2008 15: 27: 50 Uhr <?page no="46"?> Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? 47 2 Meter reicht. Überleg dir mal unsere Wohnung so eingeteilt: ich möchte mal so eine Chance haben, ich möchte mal so ein Ding bauen, wirklich! 19 Mit einem Schlag sind wir mitten drin! Jemand hat etwas mitzuteilen. Das Beispiel versetzt uns in eine Welt und Situation, in der einige von uns so oder ähnlich sich schon einmal selbst befanden, in die aber zumindest jeder von uns kommen könnte. Einige Menschen, mit denen ich Sequenzen des Interviews besprach, machte diese Textpassage betroffen, sie spürten und meinten, dass dieser Frau aus dem Märkischen Viertel in Berlin ihr Wohnen misslungen sei. Andere entdeckten, dass diese Frau ganz selbstverständlich vom Bauen spricht, dass offensichtlich Wohnen und Bauen (Entwerfen) auf eine Art zusammengehören, von der wir vielleicht noch nichts wussten. Dieses Beispiel zeigt auch, dass die Grenze zwischen Entwerfen und Bauen im Sprachgebrauch fließend ist. „Bauen“ heißt hier nicht: handwerklich etwas errichten. Gemeint ist vielmehr ein Sich-entwerfen im Sinne des Umsetzens von Ideen zu einem Ganzen. Aus dem konkreten Wohnen heraus wird hier ein Anspruch auf das Bauen formuliert. Mit welchem Recht? Weil im Wohnen eine Erfahrung gemacht und so etwas gelernt wurde: zum Einen, dass man wohnend erst seine Bedürftigkeit als Wohnender entdeckt und bezogen auf diese Bedürftigkeit nun etwas vermisst. Zum anderen, dass diese Wohnung augenscheinlich nicht den konkreten Zweck erfüllt, brauchbares Lebens-Mittel für dieses bestimmte Wohnen zu sein. Als Mittel für die Zwecke des Lebens gewährt die Wohnung nicht die Spielräume, um die im eigenen Wohnen kreativ entdeckten Möglichkeiten verwirklichen zu können. Wie nehmen wir Architekturtheoretiker adäquat Kenntnis davon, dass es schon ein außerwissenschaftliches oder vorwissenschaftliches Begreifen gibt, für welches die Architektur ganz selbstverständlich ein zu nutzendes Lebens-Mittel ist? Vor allem: wie können wir die im Umgang gemachten Erfahrungen mit Architektur dem Entwerfen wieder nutzbar machen? Hier stehen wir vor einer methodologischen Entscheidung. Es muss nämlich am Tun des Wissenschaftlers deutlich werden, dass das menschliche Sich-Verhalten dem Zugriff unseres Bewusstseins nicht entzogen ist und somit nicht auf die Weise beobachtbar ist, wie Verhaltensforscher lebende Organismen objektiv erforschen. Für den Behavioristen beispielsweise ist jedes Verhalten eine grundsätzlich vorher bestimmbare Reaktion eines Lebewesens auf entsprechende Reize aus seiner Umgebung. Wir folgen indes der philosophischen Anthropologie, für die ein Verhalten im weitesten Sinne nicht beschrieben werden kann, „ohne dass man sich in irgendeiner Weise ‚hineinversetzt‘, wie wir uns in andere Menschen verstehend hineinversetzen, 9 Dieses Zitat begleitet mich schon seit vielen Jahren, ohne dass ich heute sagen könnte, woraus ich es einst entnommen habe. Architekturtheorie_Huter.indd 47 23.01.2008 15: 27: 50 Uhr <?page no="47"?> 1. Vorlesung 48 deren Handeln wir beobachten. Schon die Wörter ‚Verhalten‘, ‚sich verhalten‘, gehören zum Vokabular menschlichen Selbstverständnisses. Jemand verhält sich so und so, das verstehe ich nur, weil ich mich auch schon so oder so verhalten habe oder verhalten könnte und weil wir miteinander Wörter erfunden haben, mit denen wir uns über dergleichen verständigen“. 20 Wir müssen immer wieder die Frage nach dem Menschen stellen, der sich praktisch-pragmatisch seinen Bedürfnissen und Wünschen hingibt, ebenso wie nach dem, der - davon entlastet - darüber nachdenkt. Wir müssen uns hüten zu glauben, den Menschen erreichen zu können, indem wir zusätzlich zu unserem naturwissenschaftlichen Wissen vom Menschen noch den Geist oder das Bewusstsein hinzu addieren. Naturwissenschaften sind keine Grundwissenschaften, auf deren Boden wir den Menschen erreichen können, der sich entwerfend und wohnend verhält. „Wir müssen den Menschen überhaupt nicht erreichen, da wir Menschen sind“, sagt der Philosoph Wilhelm k amlah . 21 . Dass das Wohnen und die Sorge um das Wohnen zum Menschen gehören wie das Atmen, dieses Wissen beruht nicht auf einer wissenschaftlichen Untersuchung. Wir sind von seiner Richtigkeit überzeugt, weil wir es nur so kennen und es uns auch nicht vorstellen können, dass es anders sein könnte. Wir suchen nun, ausgehend von der Wohn-Geschichte jener Frau aus dem Märkischen Viertel, nach einer Möglichkeit, in diese schon bestehende Welt hineinzufragen, ohne freilich auf ein sicheres und unangreifbares Fundament mit bewiesenen ersten Sätzen zurückgreifen zu können. Außerhalb des Ganzen einer Welt finden wir überhaupt keinen festen Halt. Wenn wir nicht bei Null beginnen können, müssen wir bei dem ansetzen, was es schon gibt, was wir schon wissen und kennen. Wir müssen uns in dieses Vorverständnis und Bekannte hineinstellen, um es „korrigieren“ zu können. So werden wir in die Lage kommen, das bisher nur unzureichend Erkannte zu identifizieren. Diese Methode wird auch die hermeneutische genannt. Sie geht davon aus, dass wir hinter unser Verstehen der Welt nicht kommen können. Jenseits des Verstehens gibt es nur ein weiteres Verstehen. Wir müssen das architektonische Verhalten in dem Zusammenhang ergründen, in welchem unser Leben in der Welt organisiert ist. Kennzeichnend für Leben und Handeln sind Zeitlichkeit und Kontinuität, was wir bezogen auf die ganze Gesellschaft „Geschichte“, bezogen auf das Individuum seine Biographie oder seine Lebensgeschichte nennen. Dabei geht es um einen kreativen Anpassungsprozess an die Umgebung des Lebens. Unter Anpassung verstehe ich hier aber etwas anderes als passive Formung des Lebewesens durch seine Umgebung. Wir müssen diesen Prozess als einen wechselseitigen begreifen, insofern der Mensch in seiner Umgebung seine Wünsche und Zwecke verwirklichen will und dies nur kann, indem 0 Kamlah a.a.O., 6 Kamlah 97 , 0 Architekturtheorie_Huter.indd 48 23.01.2008 15: 27: 50 Uhr <?page no="48"?> Welche Erkenntnis liefert die Architekturtheorie? 49 er seine Umwelt kreativ verändert. Diese Veränderungen werden zu einer neuen Ausgangsbedingung für weiteres Handeln. (Dazu wird ausführlich in der 2. Vorlesung die Rede sein.) Der Mensch ist Täter und Opfer zugleich, handeln und leiden wechseln sich im tätigen Aneignungsprozess ab. Unsere Welt ist ein Überraschungsfeld, insofern uns immer neue Aspekte und Seiten an ihr auffallen, die uns neugierig machen. Für ein soziales Dasein gibt es nicht so etwas wie die bloße Angemessenheit an die äußeren Umstände und Bedingungen. Stattdessen ereignen sich Lernen und Erfahrung, Transformationen des Gebräuchlichen und Horizonterweiterungen. Wenn wir über das Entwerfen und Wohnen nachdenken, dann begreifen wir beides als ein aktives Verhalten in der Welt. Wir müssen verstehen, dass Erfahrung primär eine Angelegenheit des Handelns ist. Durch Handeln wirken wir auf unsere Umgebung ein und verwandeln sie. Der aktive Mensch erfährt, erleidet die Folgen seines eigenen Verhaltens. Das Bauen ist dafür ein prominentes Beispiel. Erfahrung umfasst also eine Einheit, die Tun und Leiden miteinander verknüpft. Unverbundenes Tun und unverbundenes Hinnehmen sind keine Erfahrungen. Nur wer aus seinen Fehlern lernt, hat eine Erfahrung gemacht, was er in der nächsten Situation unter Beweis stellen kann. Erfahrung ist also ein kumulativer, den Menschen bildender und unsere Welt gestaltender Prozess. Für uns gilt es nun, die Möglichkeit der Erkenntnis von Architektur, genauer: von Wohnen und Entwerfen, aus ihren anthropologischen Voraussetzungen zu begreifen. Wir wollen versuchen, eine Begründung der Architekturtheorie oder der Erkenntnis der Architektur und was es mit dem Bauen und Wohnen auf sich hat, zu liefern, die den Menschen in der Variabilität seiner Interpretationen und seine inneren Möglichkeiten in den Mittelpunkt der Untersuchung stellt. Nur wenn wir gewissenhaft Anteil nehmen am Umgang mit Architektur, werden wir uns ein Bild davon machen, was es mit dem konkreten Gebrauchswert unserer Räume auf sich hat. Jedes Bauwerk wird angeeignet von einem Vorrat an Wohnerfahrungen her. Für dieses Vorverständnis ist eine bestimmte, unausgesprochene Hinsicht leitend, eine Erwartung hinsichtlich dessen, was ich das „gute“ Wohnen nennen möchte. In dieser Erwartung, die der Architektur entgegengebracht wird, liegt der Vorgriff auf ihre Wohnlichkeit. Darauf hat sich das Entwerfen einzurichten. Wenn also Wohnen und Entwerfen die Themen der Architekturtheorie sind, dann ist zu fragen: Was setzen sie voraus? Die Antwort kennen wir nun: Die sinnlich wahrgenommene und sprachlich gegliederte Welt; ein Leben, das geführt werden muss; ein Bleiben, das zum Wohnen wird. Architekturtheorie_Huter.indd 49 23.01.2008 15: 27: 50 Uhr <?page no="49"?> 2. Vorlesung Welt und Umwelt des Bauens In dieser Vorlesung werden wir uns mit dem „Wesen“ des Menschen auseinandersetzen. Wer ist eigentlich der Mensch, dass er wohnt und baut? Wie, d. h. in welchem grundlegenden Sinne gehören diese Verhaltensweisen ihm an? Dabei ist uns das Bauen so selbstverständlich, dass wir gar nicht mehr wissen können, in welchen Zusammenhängen die Menschen je darüber gedacht haben. Inwiefern hat das Bauen etwas mit der Bildung des Menschen, d.h. mit der Sicht des Menschen auf sich selbst und darauf, was aus ihm werden kann, zu tun? Das Bauen, so wie es jeweils verstanden wird, entspricht einem Bild, das sich eine Kulturwelt vom Menschen macht. 1. Bauen als Kulturleistung Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm g rimm steht etwas Bemerkenswertes. Dort können wir unter dem Stichwort „Bauen“ nachlesen, dass angenommen wird, dass „ich bin“ ursprünglich „ich habe gebaut“ und dies wiederum „ich wohne“ bedeutete. Wollte man sich nämlich den abstrakten Begriff des „Seins“ vorstellen, so leitete man diesen aus der sinnlichen und konkreten Vorstellung des Wohnens ab. 1 Dies soll uns ein erster Hinweis sein, das Bauen nicht zu eng zu denken, es nicht allein als technische Aktivität zu verstehen, sondern es in produktiver Breite aufzunehmen. Wenn in dieser Vorlesung also von „Bauen“ die Rede sein wird, dann in einem weiten Sinne, der z. B. das vor-architektonische und außer-architektonische Bauen mit umfasst. Martin h eiDegger hat einmal „das alte Wort bauen“, seiner Sprachbedeutung nach, als Hegen und Pflegen sowie als Herstellen und Aufrichten ausgelegt. „Beide Weisen des Bauens - bauen als pflegen, lateinisch colere, cultura, und bauen als errichten von Bauten, aedificare - sind in das eigentliche Bauen, das Wohnen, einbehalten.“ So stellt er das Wohnen und Bauen in einen prägnanten Zusammenhang: „So wäre denn das Wohnen in jedem Falle der Zweck, der allem Bauen vorsteht. Wohnen und Bauen stehen Band , Sp. 7 Architekturtheorie_Huter.indd 50 23.01.2008 15: 27: 50 Uhr <?page no="50"?> Welt und Umwelt des Bauens 51 zueinander in der Beziehung von Zweck und Mittel.“ 2 Dieser Ansicht war der deutsche Philosoph Georg Friedrich h egel (1770 -1 31). h egel spricht im Abschnitt „Architektur“ seiner großen Ästhetik über die frühesten Anfänge der Baukunst. Es soll uns jetzt nicht interessieren, ob die Architektur ihren Ausgang bei der Hütte oder bei der Höhle, beim Holzbau oder beim Steinbau nahm. Wichtig ist für unseren Gedanken etwas anderes. Versuchen wir mit h egel den Anfang des Bauens zu bestimmen, „so liegt die Hütte als Wohnung des Menschen, der Tempel als Umschließung des Gottes und seiner Gemeinde als das Nächste da“ 3 . Das Bauen, so erkannte h egel , setzt schon eine, wie wir heute sagen würden: Bauaufgabe, voraus, einen Zweck, der aus dem Zusammenleben der Menschen und ihrem Umgang mit der Welt heraustritt. „Bei dem Hause und Tempel und sonstigen Gebäuden nämlich ist das wesentliche Moment, auf welches es hier ankommt, dass dergleichen bloße Mittel sind, welche einen äußerlichen Zweck voraussetzen. Hütte und Gotteshaus setzen Bewohner, den Menschen, Götterbilder usw. voraus, für welche sie ausgeführt werden“. Das Bauen setzt einen Zweck voraus, der aus dem Wohnen kommt. Zwecke sind verwandt mit Wünschen und Überzeugungen. Ohne solche Zwecke und Überzeugungen könnten wir im Leben nichts vermissen. Jene Wünsche, das Bauen betreffend etwa, regen sich vielmehr in uns, insofern wir schon Erfahrungen mit dem Wohnen gemacht haben. Überzeugungen, Wünsche, Zwecke, Mittel, Wohnen und Bauen: all dies sind Begriffe, deren jeweilige Inhalte mit dem zusammenhängen, was wir Kultur nennen. Wilhelm P erPeet (*1915) nennt Kultur „ein(en) Wesenszug des Menschen überhaupt“. „Wenn Kultur, dann ist sie ein Werk des Menschen.“ 5 Für Georg s immel ist „ nur der Mensch der eigentliche Gegenstand der Kultur“ 6 . So ist die Frage nach der Kultur zugleich die Frage nach dem Menschen. s immel sieht allein im Menschen „die Forderung einer Vollendung“, aufgrund eines „positiven Gerichtetseins“: „[…] das Sollen und Können der vollen Entwicklung ist mit dem Sein der menschlichen Seele untrennbar verbunden. Nur sie enthält die Entwicklungsmöglichkeiten, deren Ziele rein in der Teleologie ihres eigenen Wesens beschlossen liegen - nur daß auch sie diese Ziele nicht durch ihr bloßes Wachstum von innen her, das wir als das natürliche bezeichnen, erreicht, sondern dazu von einem bestimmten Punkte an einer Technik, eines willensmäßigen Verfahrens bedarf.“ 7 s immel hebt schließlich hervor, dass der Mensch zu seiner Entwicklung etwas bedarf, „das ihm äußerlich ist“ . „Kultivierung“ hat zwei Seiten: Heidegger 990, 0 f. Hegel 970, 67 A.a.O., 68 5 Perpeet 997, 7 6 Simmel 99 a, 66 7 A.a.O., 67 8 68 Architekturtheorie_Huter.indd 51 23.01.2008 15: 27: 51 Uhr <?page no="51"?> 2. Vorlesung 52 Kultivierung des Subjekts und Kultivierung der Objekte (Dinge). Kultur ist nichts, was „von selbst“ wächst. Es bedarf vielmehr der menschlichen Tätigkeit. Kultur ist Menschenwerk. An anderer Stelle spricht s immel davon, der Mensch sei „kultiviert“, insofern die „Seele zu sich selbst kommt“. Es geht dabei nicht um die Ausbildung einzelner Wissens- und Könnenssegmente, sondern allein darum sie in den Dienst jener „seelischen Zentralität“ zu stellen. Es ist der Weg von innen nach außen und wieder nach innen. Hinsichtlich des Verständnisses von Kultur und kultiviert vertraut s immel ganz dem Sprachgebrauch, der mit dem Wort „kultiviert“ sicher umzugehen weiß: „Ein Gartenobst, das die Arbeit des Gärtners aus einer holzigen und ungenießbaren Baumfrucht gezogen hat, nennen wir kultiviert; oder auch: dieser wilde Baum ist zum Gartenobstbaum kultiviert worden. Wird dagegen vielleicht aus demselben Baum ein Segelmast hergestellt - und damit eine nicht geringere Zweckarbeit auf ihn verwendet, so sagen wir keineswegs, der Stamm sei zum Maste kultiviert worden. Diese Sprachnuance deutet ersichtlich an, daß die Frucht, so wenig sie ohne die menschliche Bemühung zustande käme, doch schließlich aus den eigenen Triebkräften des Baumes heraustreibt und nur die in seinen Anlagen selbst vorgezeichnete Möglichkeit erfüllt - während die Mastform seinem Stamme aus einem ihm ganz fremden Zwecksystem und ohne jede Präformation in seinen eigenen Wesenstendenzen hinzugefügt wird.“ 9 Damit sind Mensch und Umwelt (Natur) als die beiden Komponenten des Kulturprozesses ausfindig gemacht. Im Hegen und Pflegen, im Herstellen und Hervorbringen eignet sich der Mensch seine Umwelt an. Bauen in diesem allgemeinen Sinne hat also seinen Ort in diesem Kulturbzw. Kultivierungsprozess. In dieser Tradition steht auch der Philosoph Jürgen m it telstrass . Er hat einen Aufsatz mit dem Titel „Bauen als Kulturleistung“ vorgelegt. Darin gibt er eine für uns sehr bedeutsame Beschreibung von „Kultur“: „Kultur ist in Wahrheit die bewohnte Welt selbst, die Welt bewohnbar gemacht, verwandelt in die Welt des Menschen, der sich nur in Dingen wiederzuerkennen vermag, die er selbst gemacht hat, die sein Werk sind.“ 10 Die Welt bewohnbar machen wird hier als Ziel eines permanenten Kulturprozesses aufgefasst. Dieser Zusammenhang von Mensch und Welt ist das zentrale Thema der philosophischen Anthropologie oder Kulturphilosophie bzw. Kulturanthropologie. Wir müssen uns die Resultate dieser Wissenschaften zunutze machen, um den Kontext von Wohnen und Bauen noch besser zu verstehen. Allerdings haben wir in dieser Vorlesung nicht die Möglichkeit, die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich an dem Bild, was der Mensch sei, wirksam beteiligen, auch nur im Ansatz vorzustellen. 11 9 Simmel 996, 87 f. 0 Mittelstraß 00 , 56 Vgl. zur Übersicht dieser Thematik: Lorenz 990 Architekturtheorie_Huter.indd 52 23.01.2008 15: 27: 51 Uhr <?page no="52"?> Welt und Umwelt des Bauens 53 2. Die „Entdeckung“ des Menschen Bauen und Wohnen sind kulturelle Leistungen des Menschen. Wir können ihre Bedeutung für den Menschen und sein Leben nur erfassen, wenn wir nach dem Medium fragen, nach dem Element, in welchem der Mensch sein Leben führt. Für die Fische ist deren Element das Wasser, die Vögel fühlen sich in den Lüften am wohlsten. Wo ist aber das Entsprechende des Menschen? Wir können dies gar nicht mit einem Wort ausdrücken, sondern nur mit dem Wortpaar Welt und Umwelt. Zuweilen findet man andere Begriffe vor wie etwa Lebenswelt, Milieu, Umgebung oder dergleichen. Wir wollen im Folgenden von Welt und Umwelt sprechen. Welt und Umwelt bedeuten je etwas Verschiedenes. Während in der Regel das Bauen immer als in eine Umwelt eingepasst betrachtet wurde, wollen wir nun sehen, inwiefern das Bauen nur in einer Welt bedeutsam werden kann. Beides - Welt und Umwelt - ist für eine menschliche Existenz unvermeidlich. Dass wir in einer Welt leben, bedeutet zunächst nichts anderes, als dass wir etwa die Frage: „Wo bist du und was machst du gerade? “ nicht nur verstehen, sondern auch präzise beantworten können: „Ich bin hier in Dresden und höre eine Vorlesung“. Inder-Welt-Sein heißt gerade dieses für uns selbstverständliche Vermögen: Für ein anderes Ich ein Du sein, in dieser Welt orientiert sein und gewisse Dinge wie Dresden und Vorlesung kennen. Nicht zufällig haben wir dafür den Dialog gewählt, denn vorzüglich im Gespräch praktizieren und verwirklichen wir unsere Fähigkeit zur Vernunft. Zunächst aber wollen wir festhalten, dass wir bei der Frage nach der Bauaufgabe nicht umhinkommen, uns über das Welt- und Umwelthafte des Menschen zu verständigen. Die philosophische Anthropologie gibt uns Hinweise darauf, warum der Mensch so geworden ist, wie wir ihn als etwas Selbstverständliches heute verstehen. Sie verarbeitet Resultate vieler anderer Wissenschaften, die wie Psychologie, Soziologie, Archäologie, Sprachwissenschaften mit dem Menschen, seinen Institutionen und den kulturellen Erzeugnissen zu tun haben. Ihr Gegenstand ist das so genannte „Wesen“ des Menschen, wobei gilt, dass die Geisteswissenschaften, wozu wir auch die Architekturtheorie zählen, davon ausgehen bzw. davon einen Begriff haben, wer der Mensch ist. Das Sein des Menschen ist nicht abzutrennen von dem Sinn, unter dem er sich selbst und seine Werke versteht. Der „Sinn des Bauens“ kann nicht losgelöst werden davon, wie wir uns selbst als Bauende und Wohnende begreifen. Sprechen, Handeln, Gestalten heißt nicht nur über bestimmte Organe und Werkzeuge verfügen, sondern zugleich über Sinn und Ausdrucksvermögen (hinsichtlich dieses Sinns). Unsere Organe tun nicht blindlings und automatisch ihr Werk, sondern der wissende Mensch gebraucht sie als sein Vermögen, die Welt zu deuten und ihr etwas zum Deuten zu geben: er versteht sich aufs Sprechen, Architekturtheorie_Huter.indd 53 23.01.2008 15: 27: 51 Uhr <?page no="53"?> 2. Vorlesung 54 Handeln und Gestalten, versteht seine Erzeugnisse und weiß sich zu ihnen zu verhalten. Der Sinn, von dem oben die Rede war, ist freilich nicht immer derselbe. Der Sinn, den wir heute mit einem Tempel verbinden, ist nicht der Sinn, den die Griechen und die Römer der Kaiserzeit damit verbanden. Sinn bedeutet sprachgeschichtlich „Gang“, „Reise“, „Weg“. Wir bewegen uns auf etwas zu, wenn wir dessen „Sinn“ entdecken wollen. Menschen verstehen sich je in ihrer Gesellschaft und ihrer Epoche. Erwachsene sehen die Welt mit anderen Augen als ihre Kinder. Der Förster betrachtet seinen Wald auf eine andere Weise als der Spaziergänger. Schließlich ist ein Gebäude für den Architekten etwas anderes als für den Bewohner. Wieder anders sehen es der Bauphysiker oder der Denkmalpfleger. Wenn es so vielfältig mit dem „Sinn der Dinge“ bestellt ist, dass jeder von uns erst in seiner besonderen Lage das Sinnverständnis feststellt, dann hat der Mensch offensichtlich viele „Wesen“. Und wenn wir dennoch irgendetwas Allgemeines über die inneren Möglichkeiten des Menschen aussagen wollen, etwas Prinzipielles eben, dann genau dieses, dass jeder von uns daran gestaltend beteiligt ist, was es mit dem Sinn der Welt und der Gegenstände dieser Welt auf sich hat. Der Mensch hat sich stets neu zu erfinden. Dies gilt selbstverständlich ebenso für die Wissenschaften vom Menschen, ihre Begriffe und Kategorien. Sie enthalten, da sie aus einmaligen historischen und biographischen Situationen des Forschens und Interpretierens erwachsen, Möglichkeiten und Vorschläge, die Welt auf eine bestimmte, hoffentlich aber eine interessante Weise zu deuten. Sie durchdringen mit ihren Interpretationen die Werke des Menschen in einer geschichtlichen Situation, der der wissenschaftliche Betrachter selbst angehört. Das gleiche gilt für die Architekturtheorie, die wir treiben. Eines der größten Probleme, sich in der Kulturwelt zurechtzufinden, bestand und besteht immer noch darin, die Begriffe: Körper und Geist, Leib und Seele, Wahrnehmung und Bedeutung „richtig“ zu gebrauchen. Es ist wohl unmittelbar nachzuvollziehen, dass wir Themen wie Bauen, Wohnen, Entwerfen, Räumlichkeit, wahrnehmbare Welt, Kommunikation usw. nicht befriedigend behandeln können, wenn uns nicht zuvor der Mensch insofern selbst, als alle diese Themen schließlich Leistungen des Menschen sind, zum Thema geworden ist. Wer ist der Mensch? Als man in der frühen Neuzeit bei der Beobachtung von Naturphänomenen erste physikalisch-mechanische Gesetze im Verhältnis von Ursache und Wirkung entdeckte, glaubte man, diese auch auf den Menschen übertragen zu können. Die physikalische Welt sei ein deterministisches System, also sind Körper und Geist des Menschen ebenso deterministisch zu erklären. Diese Vorurteile sind trotz der überzeugenden Widerlegungen von Gilbert r yle (1900-1976) 12 bis heute nicht überwunden, insofern man Ryle 969 Architekturtheorie_Huter.indd 54 23.01.2008 15: 27: 51 Uhr <?page no="54"?> Welt und Umwelt des Bauens 55 weiterhin das menschliche Verhalten auf Gesetzmäßigkeiten hin untersucht und dem menschlichen In-der-Welt-sein naturwissenschaftlich beikommen will. Glücklicherweise gab es eine Abwendung von jenem deterministischen Verständnis schon im späten 1 . Jahrhundert, als man begann, den Menschen mit seiner Geschichte zu konfrontieren. h erDer s Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (erschienen 17 -1791) ist ein erster Versuch, das „Ganze“ des menschlichen Wesens und seiner Leistungen zu ergründen. Schon in der „Vorrede“ zu seinem Werk bedient sich Johann Gottfried h erDer (17 -1 03) der Metaphern des Bauens sowie des Wohnens: „Was ist denn Ganzes auf der Erde vollführt? Was ist auf ihr Ganzes? Sind also die Zeiten nicht geordnet, wie die Räume geordnet sind? Und beide sind ja die Zwillinge eines Schicksals. Jene sind voll Weisheit; diese voll scheinbarer Unordnung; und doch ist offenbar der Mensch dazu geschaffen, daß er Ordnung suchen, daß er einen Fleck der Zeiten übersehen, daß die Nachwelt auf die Vergangenheit bauen soll: denn dazu hat er Erinnerung und Gedächtnis. Und macht nun nicht eben dies Bauen der Zeiten aufeinander das Ganze unseres Geschlechts zum unförmlichen Riesengebäude, wo einer abträgt, was der andere anlegte, wo stehen bleibt, was nie hätte gebauet werden sollen, und in Jahrhunderten endlich alles ein Schutt wird, unter dem, je brüchiger er ist, die zaghaften Menschen desto zuversichtlicher wohnen? “ 13 Für h erDer ist die Erde der „Wohnplatz“ des Menschen. Die Menschen sind „Erdbewohner“. h erDer sieht in dieser „Bindung der Menschengattung an eine individuelle Raumstelle“ keine Einschränkung. 1 Auf der Erde wohnen heißt leben und leben bedeutet, entsprechend unserer sinnlichen Ausstattung zu sein: „auf ihr lebt, was auf ihr leben kann. Mein Auge ist für den Sonnenstrahl in dieser und keiner andern Sonnenentfernung, mein Ohr für diese Luft, mein Körper für diese Erdmasse, alle meine Sinne aus dieser und für diese Erdorganisation gebildet: demgemäß wirken auch meine Seelenkräfte; der ganze Raum und Wirkungskreis meines Geschlechts ist also so festbestimmt und umschrieben als die Masse und Bahn der Erde, auf der ich mich ausleben soll“ 15 . h erDer erkennt ein allgemeines Gesetz, das allen Geschöpfen der Erde zukommt, nämlich „Bildung, bestimmte Gestalt, eignes Dasein“ 16 . So entsteht eine Kette und Reihe bestimmter Gestalten, angefangen vom Menschen bis hin zum unscheinbaren Sandkorn. Jedes einzelne Glied dieser Reihe ist in seiner Konkretheit gewordene Form. Für den Menschen ist Ziel und Zweck seiner Bildung Humanität, nämlich „inwendige Gestalt“, als Werk der Seele, als Arbeit am „inneren Leben seines Selbst“ 17 : „Unsere Vernunftfähigkeit soll zur Vernunft, unsre feinern Sinne zur Kunst, Herder 965, Vgl. Landmann 96 , 0 5 Herder a.a.O., 9 6 5 7 8 f. Architekturtheorie_Huter.indd 55 23.01.2008 15: 27: 51 Uhr <?page no="55"?> 2. Vorlesung 56 unsre Triebe zur echten Freiheit und Schöne, unsre Bewegungskräfte zur Menschenliebe gebildet werden“. 1 Das Ziel, das h erDer beschreibt, ist ein Strebeziel. Es muss im Leben erst erreicht werden. Der Mensch muss, was zur Vernunft gehört, erst lernen. 19 Das Tier kommt gleichsam „fertig“ zur Welt. Zwar „bauet“ auch das Tier, es tut es aber instinktmäßig, während der Mensch „Wohnung hat“. h erDer hat die spätere philosophische Anthropologie und Kulturphilosophie entscheidend geprägt. Auf ihn geht die intensive Beobachtung alles Lebendigen zurück, durch deren Vergleich untereinander er erst das spezifisch Menschliche zu entdecken glaubte. „Sowenig das Leben des Menschen hienieden auf eine Ewigkeit berechnet ist, sowenig ist die runde, sich immer bewegende Erde eine Werkstätte bleibender Kunstwerke, ein Garten ewiger Pflanzen, ein Lustschloß ewiger Wohnung. […] Das Tier lebt sich aus, und wenn es auch höhern Zwecken zufolge sich den Jahren nach nicht auslebt, so ist doch sein innerer Zweck erreicht; seine Geschicklichkeiten sind da, und es ist, was es sein soll. Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich und mit der Erde; denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen ist zugleich das unausgebildetste in seiner eignen neuen Anlage, auch wenn erlebenssatt aus der Welt wandert.“ 20 Sprache und Vernunft sind die Wesensmerkmale des Menschen: ohne Vernunft keine Sprache. Aber ebenso gilt: ohne Sprache keine Vernunft. 21 Beides muss sich jedoch erst in einem „tätigen“ Kulturprozess bilden. „Wie sich der Mensch schon bei der Aufnahme der überkommenen Kultur nicht rein passiv verhält, sondern in Auswahl und Verwandlung ein Träger ist, so äußert sich seine Tätigkeit nun aber auch in der Hervorbringung neuer kultureller Formen. Selbst bildbar, bildet er auch seinerseits weiter […]“, so kennzeichnet Michael l anDmann (1913 -19 ) h erDer s Verständnis einer aktiv-schöpferischen Kulturgeschichte. 22 Betrachten wir den Menschen aus seiner eigenen „Mitte“, so ist er kein Tier mit Sonderausstattung. Vielmehr hat er seine eigene auf Freiheit gerichtete Organisationsform, die er allein kraft der Sprache zu seiner Welt organisiert. Diesen Zusammenhang hat h erDer in seiner Untersuchung Über den Ursprung der Sprache (2. Aufl. 17 9) herausgearbeitet. Das Tier verbleibt in seiner ihm arteigenen „Umwelt“, während allein der Mensch sich frei und offen zur Welt verhalten kann. 23 So hat auch Jürgen h aBermas an h erDer herausgestellt: „Herder 8 86 9 Vgl. 87 0 9 Seit Herder hat sich die philosophische Anthropologie immer auch als „Sprachkritik“ verstanden. „Daß der Mensch die Fähigkeit der Rede, also ‚Sprache‘ im genauen Sinne hat und von dieser Potenz immerfort aktuell Gebrauch macht, ist ein Hauptthema der Anthropologie. (…) Philosophische Anthropologie ist dann die Lehre vom Menschen auf seinem Wege von der Sprache zur Vernunft, d. h. zum vernünftigen Reden und Verhalten“, Kamlah 97 , 0 und Vgl. Landmann, 08 Vgl. a.a.O. Architekturtheorie_Huter.indd 56 23.01.2008 15: 27: 52 Uhr <?page no="56"?> Welt und Umwelt des Bauens 57 begreift den Menschen als den ersten Freigelassenen der Natur. Jedes Tier ist in einen engen Kreis hineingeboren, in den es gleich eintritt, in dem es lebenslang bleibt und stirbt, gewissermaßen ein Gefangener, der sich in seiner Gefangenschaft freilich nur umso sicherer und kunstvoller bewegt. Der Mensch hingegen hat keine so einförmige und enge Sphäre, seine Sinne sind offen, seine Organisation ist unspezialisiert. Im Ganzen kommt der Mensch schwächer zur Welt als jedes Tier. Der Mensch steht den Tieren an Stärke und Sicherheit des Instinkts weit nach. Stattdessen ist ihm Vernunft, freilich nicht als Instinktersatz, angeboren; Vernunft ist überhaupt kein Vermögen, das der Mensch hat, sie ist vielmehr ‚das fortgehende Werk der Bildung des menschlichen Lebens‘. Der Mensch ist schwach auf die Welt gekommen, um Vernunft zu lernen; Vernunft ist das, was der Mensch aus seiner Lage macht, ‚eine gelernte Proportion und Richtung der Ideen und Kräfte‘. Der Mensch ist von Natur aus zur Freiheit organisiert; zu einer Freiheit, die ihn nötigt, ‚aus der Mitte seiner Mängel entstehenden Ersatz‘ zu finden.“ 2 h erDer begreift den Menschen also aus einem Vergleich mit dem Tier. Dessen Stärke, Instinktsicherheit und Umweltangepasstheit setzt der Mensch die Vernunft entgegen. Vernunft ist aber nichts Angeborenes, sondern etwas im Laufe des bewussten Lebens Gebildetes. Daraus entspringt die Freiheit des Menschen, aus der engen Sphäre seiner Natur auszubrechen, um eigene Ideen zu verwirklichen. Dass die menschlichen Sinne, die Organe seiner Leidenschaft, nicht wie die der Tiere mit spezifischen Bedürfnissen gekoppelt und nur mit bestimmten Gegenständen in Verbindung stehen, darin hat auch Karl m arx (1 1 -1 3) die „Weltoffenheit des Menschen“ gesehen. Bei ihm kommt nun Entscheidendes zur Bestimmung des Menschen hinzu, da der Mensch frei vom physischen Bedürfnis eine gegenständliche Welt praktisch erzeugt. Der Mensch kann nach freiem Maß seinem Produkt gegenübertreten: „Das Tier formiert immer nach dem Maß und dem Bedürfnis der Spezies, der es angehört, während der Mensch nach dem Maß jeder Spezies zu produzieren und überall das inhärente Maß den Gegenständen anzulegen weiß; der Mensch formiert daher auch nach dem Gesetz der Schönheit“. 25 Diese berühmte Bestimmung des Menschen in seiner leiblich-sinnlichen Existenz, die in m arx ens Frühschriften nachzulesen ist, wird noch ergänzt durch die Gewissheit, dass der Mensch ein soziales und gesellschaftliches Wesen ist, was freilich schon h erDer und a ristoteles wussten. Es ist die Arbeit, so konkretisiert m arx angesichts der frühkapitalistischen Produktionsverhältnisse Mitte des 19. Jahrhunderts, die den Menschen erst zum Menschen macht. Der Mensch ist von Natur aus gezwungen zu handeln, d.h. sich durch gesellschaftliche Arbeit am Leben zu halten. Erst in und durch Arbeit wird der Mensch das, was er ist. In der gesellschaftlich organisierten Arbeit Habermas 97 , 9 5 Marx 97 , 5 7 Architekturtheorie_Huter.indd 57 23.01.2008 15: 27: 52 Uhr <?page no="57"?> 2. Vorlesung 58 erzeugt er seine Welt und sich selbst in ihr. Mit anderen Worten: Der Mensch ist das Produkt seiner eigenen Arbeit. „Arbeitend verdankte der Mensch sein Dasein sich selbst, seine Geschichte ist die Geschichte seiner Arbeit“. 26 Bevor wir zu den wichtigen Philosophen des 20. Jahrhunderts kommen, fassen wir zusammen: Im Vergleich zum Tier ist der Mensch instinktschwach und organisch unspezialisiert ausgestattet. Nicht in eine spezifische Umwelt eingepasst, ist er von Geburt an bedürftig und auf die Hilfe anderer angewiesen in einer vergleichsweise offenen Welt. Um sich zu erhalten, muss der Mensch handeln, nämlich buchstäblich durch seine Hände Arbeit sein Leben reproduzieren. - Es sind aber erst die folgenden Theorien vom Menschen, die uns seine Kulturtätigkeit, nach der wir zu Anfang der Vorlesung gefragt haben, sein Wohnen und Bauen, zu verstehen geben. Vor allem finden wir nun erstmals den „Durchbruch in die konkrete Welt des Menschen“, wie es Erich r othacker von Max s cheler (1 7 -192 ) ausgesagt hat. 27 s cheler sucht „das Wesen des Menschen im Verhältnis zu Pflanze und Tier“. 2 Er diskutiert am Lebendigen wesentliche Begriffe wie Empfindung und Ausdruck. Die Pflanze besitze keine „Empfindung“, insofern diese „der Begriff einer spezifischen Rückmeldung eines augenblicklichen Organ- und Bewegungszustandes des Lebewesen an ein Zentrum und eine Modifizierbarkeit der je im nächsten Zeitmoment folgenden Bewegungen kraft dieser Rückmeldung“ 29 ist. Jedoch findet sich bereits im pflanzlichen Dasein das „Urphänomen des Ausdrucks“. „Ausdruck“ ist nach s cheler ein Urphänomen des Lebens, nämlich eine gewisse Physiognomik von Innenzuständen, der Zuständlichkeiten des Gefühlsdrangs als des Inneseins von Leben 30 . Erst beim Menschen baut sich auf Ausdrucks- und Kundgabefunktionen, die auch das Tier bestimmen, „die Darstellungs- und Nennfunktion der Zeichen“ 31 auf. Für s cheler hat der Mensch aber eine Sonderstellung „im Kosmos“ inne, die durch seine so genannte „Weltoffenheit“ charakterisiert wird. Es ist der „Geist“, der den Menschen auszeichnet und den Wesensunterschied zu anderem Lebendigen ausmacht. „Geist“ oder „Sosein“ stehen nicht allein über dem Leben, sondern allem Lebensdrang ausdrücklich entgegen. Das auf Umwelt bezogene praktische Dasein ist dem auf Welt bezogenen Sosein getrennt positioniert. Der „Geist“ hält gleichsam den „Triebmächten Ideen vor, um sie mit Leben füllen und verwirklichen zu lassen“ 32 . Die Sonderstellung des Menschen wird nicht biologisch, sondern metaphysisch begründet. „Alle Stufen des Lebens, vom Gefühlsdrang über Instinkt und assoziatives 6 Habermas a.a.O., 9 7 Rothacker 9 8 8 Scheler 976, 9 A.a.O., 0 5 A.a.O. Habermas a.a.O., 96 Architekturtheorie_Huter.indd 58 23.01.2008 15: 27: 52 Uhr <?page no="58"?> Welt und Umwelt des Bauens 59 Gedächtnis bis gar zur praktischen Intelligenz, hat der Mensch grundsätzlich mit anderen Lebewesen gemeinsam; was ihn allein auszeichnet, seine Instinkte schwächt, seine Triebe hemmt, Umwelt zur Welt öffnet, ist der Geist - ein Prinzip außerhalb dessen, was Leben heißt“. 33 3 Das Bauen als „Antwort“ auf die Natürlichkeit des Menschen Bei s cheler finden wir nun zum ersten Mal die Unterscheidung zwischen Welt und Umwelt. Durch „Geist“, sagt s cheler , öffnet der Mensch seine Umwelt zur Welt. Eine neue Dimension erhält das Verständnis vom Menschen durch die Arbeiten von Helmuth P lessner (1892-1985). Er verabschiedet sich von allen Dualismen, mit denen bislang das Wesen des Menschen begriffen werden sollte, solche Gegensätze wie: Geist und Leben, Seele und Leib, Denken/ Bewusstsein und Körper spielen keine zentrale Rolle mehr. P lessner tut etwas völlig anderes, er untersucht das jeweilige Verhältnis des Lebendigen zu seiner jeweiligen „Sphäre“. Pflanze, Tier und Mensch werden in Hinblick auf Umfeld, Umwelt und Welt interpretiert. Dieses jeweilige Verhältnis nennt P lessner Positionsform. Für Mensch und Tier wird die Positionsform, in dem Leib und Umwelt zueinander stehen, zum Schlüssel der anthropologischen Theorie. Jedes Lebendige ist nicht nur in seine Umgebung gestellt, sondern auch gegen sein Umfeld abgegrenzt und hat dadurch ein besonderes Verhältnis zu seiner Grenze. Auch der Mensch lebt in dynamischer Wechselwirkung zu seinem Umfeld. Diese wechselseitige Bezogenheit macht das Sein des Menschen aus. Typisch für den Menschen ist seine exzentrische Position, die nicht nur seine intelligenten, sondern einheitlich alle leiblichen Eigenarten auszeichnet. P lessner unterscheidet nicht mehr wie s cheler zwischen Körperlichem, Geistigem oder Seelischem. „Exzentrizität ist die Positionalität des Menschen, die Form seiner Gestelltheit gegen das Umfeld“. 3 Der Mensch lebt nicht nur, sondern erlebt sein „Sich“. Er ist deshalb das Subjekt seines Erlebens, seiner Wahrnehmungen, seiner Aktionen und Initiativen. Zu diesem Subjektsein gehört, dass er es weiß und es will. Der Mensch transzendiert die Grenze, in die er leiblich gesetzt ist, entwickelt sich über sie hinaus. Dieser Aspekt ist für P lessner ein „wirklicher Bruch seiner Natur“ 35 . Der Mensch muss mit diesem „Bruch“ fertig werden, nicht indem er ihn überwindet, sondern indem er ihn auslebt. Er lebt also ex-zentrisch, ohne die Zentrierung aufzugeben: ein versöhnendes Drittes ist ihm versagt, die Einheit von beidem ist der „Bruch“, der „unaufhebbare Doppelaspekt seiner A.a.O., 96 Plessner 98 , 0 5 A.a.O. Architekturtheorie_Huter.indd 59 23.01.2008 15: 27: 52 Uhr <?page no="59"?> 2. Vorlesung 60 Existenz als Körper und Leib“ (P lessner ). „Exzentrizität“ heißt auch: Wir müssen uns erst zu dem machen, was wir unseren Möglichkeiten nach schon sind. Wir können nicht lediglich aus unserer leiblichen Mitte heraus leben wie das Tier, sondern wir müssen unser Leben führen, es gestalten, nach unseren Überzeugungen und Wünschen handeln. P lessner unterscheidet beim Menschen dreifaches: Der Mensch besitzt einen organisch-lebendigen Körper, aber er ist zudem sein Leib, insofern er sich als etwas Inneres spürt und in sich gleichsam hineinhorchen kann, und drittens hat er einen ansichtigen Körper, den er kleidet und im Spiegel betrachtet. Als dieser sichtbare Körper wird er Blickpunkt für andere Menschen. In dieser Dreifachheit lebt der Mensch in einer Welt, die entsprechend seiner Konstitution drei Aspekte aufweist: Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt. Dreifach hat er es mit Sachen zu tun, die als eigene Sach-Wirklichkeit ihm gegenüberstehen. Leib und Körper bestehen nebeneinander, einmal als Mitte eines erlebten Umfelds, zum anderen als Gegenstand einer betrachteten Außenwelt, ohne dass beide Seinsweisen ineinander überführbar sind. Sie entsprechen zwei „Weltansichten“: „Der Mensch als Leib in der Mitte seiner Sphäre, die, entsprechend seiner empirischen Gestalt, ein absolutes Oben, Unten, Vorne, Hinten, Rechts, Links, Früher und Später kennt, und der Mensch als Kör perding an einer beliebigen Stelle eines richtungsrelativen Kontinuums möglicher Vorgänge.“ 36 Sich selbst ist der Mensch als Innenwelt gegeben, „als die Welt ‚im‘ Leib“ 37 , wie P lessner sagt. „Geht das Lebewesen in seinem Selbstsein auf, naiv oder reflektiert, so erlebt es, ‚wird‘ seiner Erlebnisse ‚inne‘ und vollzieht damit psychische Realität“. 3 Ich und Wir sind gleich ursprünglich. Der Mensch lernt das Du, bevor er zu sich selbst „Ich“ sagen kann. In der Mitwelt der Anderen, in ihrem Verhalten dem Einzelnen gegenüber, bekommt das Individuum gespiegelt, was es den anderen als Ich, was es der Mitwelt bedeutet - so wird es Person. „Die Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird“. 39 In der Mitwelt erlebt die individuelle Person das „allgemeine Ich“ der Gemeinschaft oder Gesellschaft, der es selbst angehört. Diese drei Welten, von denen bei P lessner die Rede ist, sind nicht schiere Räume, die man auch ausmessen könnte. Freilich ist die Innenwelt „innen“ und die Außenwelt „außen“, aber wer könnte im Ernst behaupten, es ließen sich die Grenzen zwischen beiden exakt definieren. Vielmehr gilt für diese drei Welten, dass sie nur hinsichtlich der exzentrischen Positionalität des Menschen verstanden werden können: Wir durchleben sie, weil wir es als natürliche Wesen gar nicht anders vermögen; zum anderen reflektieren, beschreiben, kommunizieren wir dieses Durchleben und machen uns nach- 6 A.a.O., 7 A.a.O. 8 A.a.O. 9 A.a.O. Architekturtheorie_Huter.indd 60 23.01.2008 15: 27: 53 Uhr <?page no="60"?> Welt und Umwelt des Bauens 61 träglich einen Begriff davon. Aber noch reflektierend und interpretierend leben wir unser natürliches Leben: atmen und halten unseren Blutkreislauf in Gang. Eine Unterscheidung zwischen Geist und Körper, Denken und Leben wird nun völlig sinnlos. Wir können niemals aus irgendeiner dieser Welten heraustreten, gleichsam als etwas Nicht-natürliches auf unsere menschliche Natur herabschauen. Mit diesem zentrisch-exzentrischen Doppelaspekt, der sich als Leib-Sein und Körper-Haben beschreiben lässt, muss jeder von uns umgehen. Wir tun dies, indem wir beides, draußen und drinnen, den Leib in der Welt mit der Welt im Leib vermitteln. Wir fassen zusammen: Der Mensch muss sein Leben selbst in die Hand nehmen, zwischen Bedürfen und Begehren unterscheiden, seine Zukunft planen, Entscheidungen treffen. Ihm ist gleichsam aufgezwungen, „zu machen, was er ist“ 0 . Er muss „etwas werden“. Dazu braucht er jedoch Nichtnatürliches, Nichtgewachsenes zur Komplettierung seiner Existenz. Weil diese bewusste Lebensführung etwas nur dem Menschen Zustehendes ist, sagt P lessner , sei der Mensch von Natur aus künstlich. Das exzentrische Wesen muss sich sein Gleichgewicht schaffen. Die „Hälftenhaftigkeit“ der exzentrischen Lebensform, die den Menschen von Natur aus ganz nackt erscheinen lässt, führt dazu, dass der Mensch des „künstlichen“ Ersatzes bedarf. Seine spezifische Natürlichkeit dringt auf Kompensation durch Künstlichkeit. „In dieser Bedürftigkeit oder Nacktheit liegt das Movens für alle spezifisch menschliche, d.h. auf Irreales gerichtete und mit künstlichen Mitteln arbeitende Tätigkeit, der letzte Grund für das Werkzeug und dasjenige, dem es dient: die Kultur.“ 1 4 Die Bedeutung des Künstlichen Damit hat P lessner einen wesentlichen Gesichtspunkt geklärt, nämlich wie die „kulturelle Sphäre“ des Menschen überhaupt „entstanden“ ist bzw. gleichsam „entstehen“ musste. Kultur im Sinne von Sprache, Kunst, Architektur, Moral und Ästhetik usw. ist Ausdruck der Natur des Menschen. Mit P lessner lässt sich nun behaupten, dass das Bauen eine gezielte Reaktion und Antwort auf unsere Leiblichkeit ist, z.B. auf unsere natürliche Einseitigkeit als Lebewesen, das unangepasst auf diese Welt kommt und sich die Welt als seine erst aktiv zurechtrücken muss, damit sie zu ihm passt. Diese zweite Seite macht das Kulturwesen Mensch aus. Der Mensch, halb Natur- und halb Kulturwesen, muss sich die andere Hälfte, seine künstliche, immer neu schaffen und erarbeiten. Natur und Kultur des Menschen ergänzen sich so, und nur insofern sich unsere kulturellen Schöpfungen mit den natürlichen Anlagen 0 Plessner 975, 0 A.a.O., Architekturtheorie_Huter.indd 61 23.01.2008 15: 27: 53 Uhr <?page no="61"?> 2. Vorlesung 62 des Menschen verfugen, ist der Mensch ganz. Der Mensch muss, verglichen mit dem Tier, auf Umwegen und über künstlich gemachte Dinge sein Leben führen. Es gibt für ihn keine natürliche Behausung. Das Haus entsteht auf der ganzen Welt verstreut im klugen Umgang mit den jeweiligen Umweltverhältnissen als kulturelle Leistung. Zwecke, die der eigenen Daseinserhaltung und Lebensbereicherung dienen, sowie Anpassungsstrategien gegenüber der Umwelt zeichnen das menschliche Bauen aus. 2 Der Mensch lebt nur, sagt P lessner , indem er sein Leben führt. Natürlichkeit und Künstlichkeit stehen zueinander in einem ungesicherten Ergänzungsverhältnis. Das Bauen ergänzt das Wohnen und gibt ihm zeitlich-historischen ebenso wie räumlich-regionalen Ausdruck. Das Gebaute dürfen wir in dieser Richtung auch als ein Werkzeug betrachten, das der Wohnende in Gebrauch nimmt. Diese allgemeine Nützlichkeit, die in allen Werkzeugen liegt, drückt darin ein objektives Seinsverhältnis aus. Gäbe es diese Seite des Wohnens, die aufs Bauen zielt, nicht, so wüsste der Mensch nicht, sich ir gendeine Behausung anzueignen. Das Bauen liegt also im Welthorizont desjenigen Lebendigen, das wohnt. In dieser Ergänzungsbzw. Kompensationsrichtung des kulturellen Daseins steckt also eine gewisse Objektivität, die man im Schaffen und Herstellen der Kulturgüter berücksichtigen muss. Erst der Gebrauch zeigt, ob die hergestellten Güter gleichsam „unserer Natur“ entsprechen, d. h. eine wirkliche, nämlich ergänzende Antwort auf die (natürliche) Grundsituation des Bleibens und Wohnens sind. So sagt P lessner : „Glaubt man also, dass die Dinge unseres Umgangs und Gebrauchs den vollen Sinn, ihr ganzes Dasein erst aus der Hand des Konstrukteurs empfangen und allein in dieser Relativität auf das Umgehen mit ihnen wirklich sind, so sieht man nur die halbe Wahrheit. Denn ebenso wesentlich ist für die technischen Hilfsmittel (und darüber hinaus für alle Werke und Satzung aus menschlicher Schöpferkraft) ihr inneres Gewicht, ihre Objektivität, die als dasjenige an ihnen erscheint, was nur gefunden und entdeckt, nicht gemacht werden konnte“. 3 Konstrukteure und Techniker sind nicht dafür verantwortlich, dass der Mensch der „kompensatorischen Kulturgüter“ bedarf. Sie „machen“ nicht die Kulturbedürftigkeit des Menschen. Nur weil der Mensch der künstlichen Resultate seines Tuns bedarf, die sich deshalb als Gegenstände von ihm ablösen lassen müssen, um für eine bewusste Bewältigung des Lebens „gebraucht“ zu werden, kann es einen eigenen Herstellungssektor geben. Dieser ist Ausdruck dessen, dass der Mensch selbst etwas aus sich machen muss. Ingenieure wirken in jener Wirklichkeit des Herstellens und Errich- In diesem Verständnis ist sich der Architekt Rudolf Schwarz mit den Einsichten der philosophischen Anthropologie einig. Schwarz, der Schelers und Plessners Werk kannte, führt in „Von der Bebauung der Erde“ aus: „Das abendländische Haus ist vorab Raum und Mittel des Lebens und seine Schönheit beruht mehr in dem, was getan wird, als in der kunstvollen Form, und es enthält also vorab das saubere und klare Gerät und wird tuend geleistet“, Schwarz 9 9, 8 . Plessner a.a.O., Architekturtheorie_Huter.indd 62 23.01.2008 15: 27: 53 Uhr <?page no="62"?> Welt und Umwelt des Bauens 63 tens, für die der Mensch als zentrisch-exzentrisches Wesen Veranlassung gab. Konstrukteure und Techniker, dies ist der grandiose Gedanke P lessner s, können nur das herstellen, für das die Gesellschaft schon potenziell Verwendung hat. Wie es keinen Hammer geben könnte, wenn es nichts zu hämmern gäbe, so kein Haus ohne die Grundsituation des In-der-Welt-seins. „Nicht der Hammer hat existiert, bevor er erfunden wurde, sondern der Tatbestand, dem er Ausdruck verleiht“. 44 Der Architekt kann die Grundsituation (den „Tatbestand“) des weltlichen Aufenthalts (das Wohnen des Menschen) weder erfinden, noch machen oder herstellen. Er kann nur auf das produktiv reagieren, was es schon an sich gibt. Aber der Architekt hat hier für dasjenige zu sorgen, für das es „objektiv“ Verwendung gibt. Schöpferkraft und Innovation können also nur greifen, insofern die Anpassung der geschaffenen Güter an die Objektivität der menschlichen Existenz (die Grundsituation des Bleibens/ Wohnens) tatsächlich gelingt. Zwar kann der Tatbestand des „Bleibens“ nicht erfunden werden, denn er liegt wesensmäßig schon vor, dennoch muss jedes Haus „erfunden“, d. h. die konkrete Form dafür gefunden werden. Das Finden der Form ist ein schöpferischer Griff, eine Ausdrucksleistung. Seine Künstlichkeit liegt in der Art und Weise, wie mit den vorgefundenen Materialien umgegangen wird. Hier liegt meines Erachtens der Kern der Kritik von Ernst B loch an den „Erfindungen“ der Baumeister der Neuen Sachlichkeit, die durch Flachdach, liegende Fenster und fließenden Grundriss die Wohnenden zu neuen Menschen des Maschinenzeitalters erziehen wollten. Ausdruck ist aber eine konkrete Manifestation von Kultur und nicht von Natur. 5 Vorstellen und Planen Nicht in erster Linie philosophisch, sondern eher am Handlungsmonopol des Menschen orientiert, beschreibt gut zehn Jahre nach P lessner Arnold G ehlen (1904 -1976) den Menschen. G ehlen nimmt die Impulse h erder s und s cheler s auf und verknüpft sie mit den Erkenntnissen diverser empirischer Wissenschaften. Der Primat des Handelns wird ihm vom amerikanischen Pragmatismus (John d ewey ) vermittelt. h aBermas fasst diese Erkenntnisse zusammen: „Werkzeuggebrauch und aufrechter Gang sind durch die freigewordene Greifhand zur Einheit vermittelt; die Aufrichtung des Körpers wiederum verweist auf die Offenheit des Wahrnehmungsfeldes, auf die Emanzipation von artspezifischer Umgebung, auf die Entwicklung des Großhirns; Weltoffenheit wiederum ist verknüpft mit der instrumentalen Auffassung des eigenen Körpers und der Fähigkeit zu sprechen. Körper- 44 322 Architekturtheorie_Huter.indd 63 31.01.2008 11: 52: 36 Uhr <?page no="63"?> 2. Vorlesung 64 liches und Geistiges, beides Weisen, wie der Mensch leibhaftig in seiner Welt lebt, sind gleichursprünglich, ja, sie sind auf der Ebene des Verhaltens, der Sprache, der Gestaltung und Gebärde eins.“ 5 Offensichtlich ist es also dies, was den Menschen ausmacht, nämlich Welt und Umwelt zu haben. Eine Situation, die man sich nicht ausgesucht hat. Jeder Mensch lebt stets in einer Welt und Umwelt. g ehlen versteht den Menschen als eine Antwort der Evolution auf die situativen und natürlichen Gegebenheiten unseres Planeten. Im Vergleich zu den bekannten tierischen Arten ist der Mensch ein Ausnahmefall. Beim Tier finden wir in der Regel evolutionäre Fortschritte vor, die auf eine organische Spezialisierung, nämlich die Ausbildung immer leistungsfähigerer natürlicher Anpassungen an bestimmte Umwelten, hinauslaufen. Das Tier ist vollkommen eingepasst in seine natürliche Umgebung. Der Biologe Jakob von u exküll (1 6 -19 ) hat bezogen auf diese „Harmonie“ auch von der Lebenswelt des Tiersubjekts gesprochen und damit den modernen Umweltbegriff eingeführt. Arnold g ehlen hat sein Verständnis vom Menschen ähnlich wie P lessner sowohl aus der Philosophie als auch aus den biologischen Naturwissenschaften geschöpft. Früh schon entdeckten die Biologen beim Menschen eine Reihe von Organen, die eigentümlich unspezialisiert sind. Dazu gehören Schädelwölbung, untergestelltes Gebiss, freigelegte Hand und Standfuß. Zusammengenommen machen diese die auffälligste biologische Auszeichnung des Menschen aus: seinen aufrechten Gang. Ein morphologischer Vergleich mit höheren Wirbeltieren zeigt, dass der Mensch seiner Naturgeschichte nach zu den Nestflüchtern gehört, dass er aber ein Jahr früher auf die Welt kommt, als seinem Zerebralisationsgrad (Stand der Gehirnbildung) angemessen wäre und folglich zu einem „sekundären Nesthocker“ wird - darin einzigartig unter allen Tieren. Mit anderen Worten: Erst nach einem Jahr erlangt der Mensch den Entwicklungsstand, den ein seiner Art entsprechendes Säugetier zur Zeit der Geburt verwirklichen müsste. Das ungewöhnliche Längen- und Massenwachstum des ersten Lebensjahres hat fötalen Charakter; erst dann tritt die Retardation (Verzögerung) ein. Dieses „extra-uterine Frühjahr“ bringt es mit sich, dass naturgesetzliche Abläufe, die sich sonst unter artspezifischen Bedingungen im Mutterleib vollziehen, bereits in lebensgeschichtlich individuellen Verhältnissen und unter dem „frühen Kontakt mit dem Reichtum der Welt“ (Adolf P ortmann ) geschehen. Der Bruch zwischen Trieb und Trieberfüllung muss nicht erst durch einen asketischen Willensakt hergestellt werden, vielmehr findet sich der Mensch von Natur aus in seiner gebrochenen Natur vor. g ehlen verarbeitet also die Ergebnisse der Biologen und Zoologen ebenso wie die Erkenntnisse der Ethologie, der Tierverhaltensforschung, und schließlich die Einsichten der modernen ame- 5 Habermas a.a.O., 97 Architekturtheorie_Huter.indd 64 23.01.2008 15: 27: 53 Uhr <?page no="64"?> Welt und Umwelt des Bauens 65 rikanischen Philosophie, des Pragmatismus. Er versteht den Menschen, seine Kultur und seine Institutionen als Ergebnis der Notwendigkeit, sein Leben praktisch-handelnd zu bewältigen. Der Mensch ist auf eigene Leistungen angewiesen, um überhaupt existieren zu können. 6 Umwelt als „Kultursphäre“ Gegenüber dem Tatbestand der perfekten Einpassung von Tieren in ihre jeweiligen Umwelten sieht g ehlen Schwierigkeiten, diesen biologischen Umweltbegriff auf den Menschen anzuwenden. Unter „Umwelt“, so befindet g ehlen , versteht die Zoologie die im ganzen Komplex einer Umgebung enthaltene Gesamtheit der Bedingungen, die einem bestimmten Organismus gestatten, sich kraft seiner spezifischen Organisation zu halten. 6 Nun hat g ehlen vor allem darauf aufmerksam gemacht, dass das, was gewöhnlich als Umwelt eines Organismus beschrieben wird, beim Menschen seine „Kultursphäre“ sei. Im Aufsatz Ein Bild vom Menschen führt g ehlen dazu aus: „Wir sehen weiter, wo wir auch hinblicken, den Menschen über die Erde verbreitet und trotz seiner physischen Mittellosigkeit sich zunehmend die Natur unterwerfen. Es ist dabei keine ‚Umwelt‘, kein Inbegriff natürlicher und urwüchsiger Bedingungen angebbar, der erfüllt sein muss, damit ‚der Mensch‘ leben kann, sondern wir sehen ihn überall, unter Pol und Äquator, auf dem Wasser und auf dem Lande, in Wald, Sumpf, Gebirge und Steppe ‚sich halten‘. Und zwar lebt er als ‚Kulturwesen‘. D. h. von den Resultaten seiner voraussehenden, geplanten und gemeinsamen Tätigkeit, die ihm erlaubt, aus sehr beliebigen Konstellationen von Naturbedingungen durch deren voraussehende und tätige Veränderung sich Techniken und Mittel seiner Existenz zurechtzumachen. Man kann daher die ‚Kultursphäre‘ jeweils den Inbegriff tätig veränderter urwüchsiger Bedingungen nennen, innerhalb deren der Mensch allein lebt und leben kann“. 7 Organische Mittellosigkeit und kulturschaffende Tätigkeit müssen aufeinander bezogen werden, sie bedingen sich gegenseitig. Der Mensch kann deshalb auch nicht in irgendeine natürliche Umwelt eingepasst vorgestellt werden. Deshalb benötigen wir einen besonderen Umweltbegriff, der nicht von der Tierverhaltenslehre abgeleitet ist. Der Mensch ist von Geburt in jeder natürlichen Umwelt gleich lebensunfähig. So muss er sich eine „zweite Natur“ erst schaffen, um lebensfähig zu werden. Diese Ersatzwelt ist entsprechend künstlich bearbeitet und passend gemacht. Der Mensch lebt also in einer „Kultursphäre“, insofern er die urwüchsige Natur in etwas Lebensdienliches 6 vgl. Gehlen 98 a, 79 7 Gehlen 98 b, 5 8 Kritisch dazu: Lorenz a.a.O., 6 f. und öfter Architekturtheorie_Huter.indd 65 23.01.2008 15: 27: 54 Uhr <?page no="65"?> 2. Vorlesung 66 verändert hat. Oder anders gesagt: Kultur gehört zu den physischen Existenzbedingungen des Menschen. Entsprechend ist das „kultürliche“ Bauen, da es zur Existenzsicherung des Menschen nötig ist, zu dieser Kultursphäre zu rechnen, zu dieser künstlichen Ersatzwelt, die der Mensch sich schaffen musste, weil er organisch mittellos ist. Für g ehlen wird die Ausbildung von Intelligenz und planendes Voraussehen geradezu durch die biologischen Anlagen des Menschen erzwungen. „Nur in voraussehende Veränderung der Natur ist ein organisch so beschaffenes Wesen lebensfähig“. 9 Der Mensch ist also ein kulturschaffendes, ein handelndes Wesen. Jedes Handeln verfolgt eine Absicht, versteht sich vom Erfolg her. Der Handelnde antizipiert gewissermaßen schon die Folgen des noch auszuführenden Tuns. Darin liegt ein besonderes Vermögen: Er entwirft sich in die Zukunft. Dem Menschen ist nicht allein das Vorhandene das Wirkliche, an das er sich hält. Er blickt darüber schon hinaus: Das Gegebene wird ihm vielmehr nur Durchgang, das Vorgefundene wird durch Neugruppierung vorstellend erweitert, kombiniert, verändert. Genau dieser entwerfende Sinn und dieser Vorgriff auf das Kommende sind das eigentlich Herauszustellende am Menschen. Die vorgefundene Realität ist Ausgangspunkt, ihre Veränderung jedoch Ziel des menschlichen Eingriffs: „Man kann sogar einfach den Menschen in höherem Grade ein vorstellendes als wahrnehmendes Wesen nennen, und gerade davon lebt er, denn er verhält sich mehr von den vorausgedachten und entworfenen Umständen her, als von den vorgefundenen und ‚wirklichen‘. Mit dieser Bestimmung ist das umrissen, was man die Weltoffenheit des Menschen nennen muß“. 50 Hat P lessner die exzentrische Positionalität herausgehoben und diese an den Anfang eines Verstehens des Menschen gestellt, so ist es bei g ehlen die Handlung, die im Zentrum seines Zugriffs auf den Menschen steht. Handlung soll dabei nichts Besonderes oder Außergewöhnliches meinen, sondern Handlung ist „jeder Griff nach etwas, jeder Arbeitsgang“ 51 . So kommt g eh len zu folgender Definition von Handlung: „Unter Handlung soll die voraussehende, planende Veränderung der Wirklichkeit verstanden werden, und der Inbegriff der so veränderten bzw. neugeschaffenen Tatsachen samt den dazu nötigen Mittel, sowohl der ‚Vorstellungsmittel‘, als der ‚Sachmittel‘ soll Kultur heißen“. 52 Es ist keine menschliche Gemeinschaft vorstellbar, in der es nicht „Kultur“ gibt. Das heißt nach unserem jetzt gewonnenen Verständnis von Kultur: Es gibt in jeder menschlichen Gemeinschaft aktive Eingriffe in die überkommene Wirklichkeit im Dienste des Menschen, die man als geplante Veränderung der Welt auffassen muss. Von daher lässt sich auch ein Verständnis von 9 Gehlen 98 b, 56 50 A.a.O., 6 5 Gehlen 98 a, 7 5 A.a.O., 7 f. Architekturtheorie_Huter.indd 66 23.01.2008 15: 27: 54 Uhr <?page no="66"?> Welt und Umwelt des Bauens 67 „Natur“ entwickeln, das insofern schlüssig zum kultur-schaffenden Handeln des Menschen ist, als Natur die nichtmenschliche, urwüchsige und sich selbst überlassene Natur meint. In diese Natur hat der Mensch gewissermaßen kulturelle Schneisen hineingearbeitet, sich seinen Weg gebahnt, „um die Natur zu nötigen, ihn zu tragen“ 53 : Kultur ist dort, wo Natur nicht mehr ist. „Nur in einem ‚entgifteten‘ und für ihre Zwecke zurechtgemachten Umkreis, den sie in die Natur hineinschneidet, existiert eine konkrete menschliche Gemeinschaft“. 5 Ich hatte oben schon auf den Ausdruck Kultursphäre hingewiesen und ausgeführt, dass g ehlen diesen im Sinne von „geschaffener“ Umwelt und „bearbeiteter“ Natur benutzt. Dieser ist entwickelt in bewusster Abhebung von dem Umweltbegriff, wie ihn die Zoologie im letzten Jahrhundert sich zurechtgelegt hat. Umwelt ist für die Zoologie ein „Ausschnitt“ aus einer weiteren Sphäre, die wir oben Umgebung genannt haben. Umwelt bildet einen spezifischen, also bestimmten Komplex. Sie ist dabei bezogen auf eine Art (Kühe, Käfer), nicht auf ein Individuum. Schließlich ist Umwelt nicht transponierbar, nicht von einer Art auf eine andere übertragbar, es sei denn, es gäbe an den Rändern der jeweiligen Umwelten Überschneidungen, an denen Tiere in Symbiosen miteinander leben. In der Regel jedoch gilt: Ein Käfer kann sich nicht in die Umwelt einer Kuh versetzen und umgekehrt. Wollte man mit entsprechender Allgemeinheit einen auf den Menschen angewandten, typischen, d.h. auf die Gattung bezogenen Komplex von Bedingungen angeben, der erfüllt sein müsste, damit der Mensch „sich halten“ und überleben kann, so würde man dies nicht können. „Der Mensch lebt nicht in einem Verhältnis organischer Anpassung oder Einpassung an irgendwelche bestimmten, angebbaren natürlichen ‚Sphären‘, sondern seine Konstitution erzwingt, leistet aber auch eine intelligente, planende Tätigkeit, die ihm gestattet, aus sehr beliebigen Konstellationen von Naturumständen durch voraussehende Veränderungen derselben sich Techniken und Mittel seiner Existenz zurechtzumachen“. 55 Es lässt sich also in jenem allgemeinen Sinne dem Menschen keine spezifische Umwelt zuordnen. Ein zentraler Gedanke kommt hinzu, wenn wir uns daran erinnern, dass wir oben Tierarten, jedoch nicht Tier-Individuen, unterschieden haben. Wir haben gesehen, dass der biologische Umweltbegriff bezogen ist auf eine Art bzw. auf beliebige Tierexemplare, die innerhalb ihrer Art austauschbar sind. Diese Generalisierung ist jedoch nicht auf den Menschen anwendbar! Zwar kann der Mensch sowohl in Wüsten und Polargebieten als auch im Hochgebirge und auf dem Wasser existieren, jedoch könnte sich zum Beispiel ein Angehöriger eines indigenen Volks des Amazonasgebiets, in eine Großstadt versetzt, nicht „hal- 5 7 5 7 55 79 f. Architekturtheorie_Huter.indd 67 23.01.2008 15: 27: 54 Uhr <?page no="67"?> 2. Vorlesung 68 ten“. Diese wichtige Unterscheidung nimmt g ehlen zum Anlass, um die genaue Differenzierung zwischen tierischer Umwelt und die dem Menschen adäquate Umgebung zu bezeichnen: „Aus denselben Gründen, aus denen der Mensch, generell gesehen, ‚überall‘ lebt, kann der konkrete einzelne in der Tat - manchmal - nicht austauschbar sein. Denn ‚der Mensch‘ lebt immer von den Resultaten seiner verändernden Tätigkeit, innerhalb und von seiner Kultursphäre, nicht aber angepasst an urwüchsige Umstände, und in dieses Kulturmilieu kann (nicht muss) er in speziellen Fällen gewohnheitsmäßig so verwurzelt sein, dass er in der Tat dann gebunden ist“. 56 Akzeptieren wir einmal diese Unterscheidung zwischen „allgemeiner“ Mensch und bestimmter Kulturmensch, dann wird etwas sehr deutlich. Es besteht offensichtlich ein Zusammenhang zwischen Loslösung von einer Umgebung und Entwicklung menschlicher Tätigkeiten. Gemeinschaften, die noch relativ angepasst an ihre Umgebung leben, haben einen geringeren „kulturellen Aufwand“ betrieben, als Gemeinschaften, die sich extrem von ihrer natürlichen Situation entfernt haben. Dabei ist zu bedenken, dass die Folgen der zivilisatorischen Tätigkeiten, die künstlichen Artefakte und die Weisen, mit ihnen umzugehen, zu den physischen Existenzbedingungen der jeweiligen Gemeinschaft zu rechnen sind. Um mit g ehlen zu reden: die Kultursphäre ist niemals stabil, jeder erst geplante und dann durchgesetzte Eingriff verändert die Umgebung des Menschen, der sich wieder neu auf diese Veränderungen einlassen muss und dafür mitunter Techniken erfindet und einführt, die dann wiederum Anlass geben zu neuen Bewältigungsformen - ein „Teufelskreis“, den wir Zivilisation nennen! g ehlen glaubt, es sei viel treffender beim Menschen statt von Umwelt von Welt zu sprechen. Der Mensch ist sicherlich ein wahrnehmendes Wesen, vor allem jedoch ein vorstellendes Wesen. Dabei ist das Vorstellen und Planen für den menschlichen Umgang mit dem Wirklichen wichtiger und entscheidender als das Wahrnehmen. Das Vorstellen überlagert nämlich immer schon unser Wahrnehmen, wenn wir die Welt gerade hinsichtlich ihrer Entwicklungspotentiale betrachten. Den Menschen zeichnet vor allem seine Fähigkeit zur Planung aus, und diese bedeutet: „Jede beliebige Einzelheit des Vorgefundenen kann ‚vorstellend‘ räumlich und zeitlich verlagert und vorstellend durch irgendeine andere überlagert werden. So sieht der Wilde in dem Baum das künftige Boot, so ist für den Mohammedaner, wo er auch sei, im Osten Mekka, so weiß man hinter dem Berge, obschon unsichtbar, das Dorf, so wird eine störende Windung des Flusses weggedacht und nächstens reguliert“. 57 Diese Beispiele könnte jeder von uns verlängern. Der Mensch lebt überhaupt davon, dass er sowohl wahrnehmen als auch vorstellen und planen 56 80 57 8 Architekturtheorie_Huter.indd 68 23.01.2008 15: 27: 54 Uhr <?page no="68"?> Welt und Umwelt des Bauens 69 kann. Dieses Können und Wissen, dass das Gegebene auch anders sein kann, diese Fähigkeit zum Weiterdenken, zum gedanklichen Entwickeln des Wahrgenommenen - und zwar in alle Richtungen - sprengt potentiell das Bestehende, Bekannte und Gewohnte. „Ein Wesen, dem die ganze Fülle des Raumes und der Zeit offen steht, hat also Welt und nicht Umwelt“. 5 7 Die Freiheit zur Kultur Weder P lessner noch g ehlen entwickeln ein weiteres Verständnis von Umweltaneignung durch menschliche Wohnbedürfnisse. Aber schon ein Blick auf die komparative Archäologie zeigt eine Übereinstimmung jenes Verständnisses vom Menschen mit den Ergebnissen einschlägiger menschheitsgeschichtlicher Forschungen. Bereits für den ältesten Abschnitt der Menschheitsgeschichte, die Altsteinzeit (Paläolithikum), den Zeitraum von 35000 - 000 v. Chr., sind artifiziell hergerichtete Lagerplätze und künstlich in den Boden eingelassene Behausungen festgestellt worden. Einige besaßen senkrechte Wände, die mit einer Holzverkleidung versehen waren. Dabei handelt es sich um in jeweiligen Umwelten vorgefundene und für Menschen brauchbare Mittel, wie Stein und Holz, gedeutete Naturbzw. Landschaftsfunde, die zu Lagerstätten hergerichtet wurden. Vor allem dem Schutz vor Wetter und Tieren dienten diese „ersten“ künstlichen Mittel, den Menschen als etwas Lebendiges zu halten. Und diese ersten Wohnstätten wurden von mehreren Sozialeinheiten, vermutlich Familien, benutzt. Auf dieser primitiven Stufe kann man allenfalls von zeltartigen bzw. zelthüttenartigen Behausungen sprechen, nicht jedoch schon von Häusern, bei denen Dach und Wand selbständige tektonische Elemente sind 59 . Für unseren jetzigen Zusammenhang ist nur wichtig, dass wir einsehen, dass schon das vor-architektonische Verhalten auf den Gebrauchscharakter seiner Hervorbringungen großen Wert legte: Um sich im Leben zu halten, das Leben als Mensch führen zu können, bedarf der Mensch der Naturdinge, die er für seine Zwecke nutzt und bearbeitet. Er verhält sich also zu seiner Umwelt kreativ, indem er kluge Vorrichtungen trifft und sich Stätten herrichtet, die seinen Bedürfnissen entsprechen. Das Überlegen und kluge Handeln zeichnet die menschliche Praxis aus. Die Herstellung von Lebens-Mitteln ist immer wieder Folge der Umsetzung dieser praktischen Klugheit. Zwischen Handeln (praxis) und Herstellen (poiesis) begrifflich zu unterscheiden, ist zwar eine Entdeckung der klassischen Antike und ihrer Philosophen gewesen, jedoch haben beide Verhaltensweisen die menschliche Art wohl schon immer geführt. 58 a.a.O. 59 vgl. Müller-Karpe 998, 5 Architekturtheorie_Huter.indd 69 23.01.2008 15: 27: 54 Uhr <?page no="69"?> 2. Vorlesung 70 Gerade dieser Zusammenhang von Handeln und Herstellen kann also schon für die Altsteinzeit angenommen werden, insofern man nämlich fragen kann, warum die Menschen zwar schon Feuer gebrauchten, nicht jedoch Höhlen als Unterschlupf nutzten. „So hilfreich bei der Inbesitznahme längerfristigen Lagernutzung von Höhlen die Verwendung von Feuer war, so wenig lässt sich allein damit dieser siedlungs- und kulturgeschichtlich bedeutsame Vorgang erklären, denn die Kenntnis des Feuergebrauchs begann bereits vor dem Ende des Altpaläolithikums. Es musste ein weiterer Faktor hinzukommen, der wohl in der psychischen Konstitution und dem Willen des Menschen vermutet werden darf, ein früher Entwicklungsschritt des Altpaläolithikers, der ihn dazu brachte, Eingriffe in die Gegebenheiten der natürlichen Umwelt zu seinem Nutzen vorzunehmen. So verstanden, wäre der am Ende des Paläolithikums vollzogene Beginn der Höhlennutzung indirekt Ausdruck des sich festigenden Selbstbewusstseins des frühen Menschen“ 60 . Die Kultur oder die Kultursphäre lässt sich vom Menschen und seiner Geschichte nicht loslösen. Kultur ist gewissermaßen das Äquivalent zur Naturseite des Menschen. 61 Das Bauen kompensiert im Sinne einer pragmatischen „Weltgewinnung“ die „Hälftigkeit“ des Menschen. Mit dem bewussten, an sprachlich ausgedeuteten Zwecken orientierten Errichten von Architektur gleichen wir sozusagen die Natürlichkeit des Menschen anspruchsvoll aus. Wir lassen uns damit aber auf jenen Zusammenhang interpretativ ein, in welchem das Bauen, als menschliches Kulturerzeugnis, durch seine spezifische Tradition („ich bin“ = „ich habe gebaut“ = „ich wohne“) unaufhebbar wurzelt. Architektur steht somit im Dienst der Bedürftigkeit des Naturwesens Mensch. Kompensation heißt hier nicht, dass das eine mit dem anderen verrechnet werden soll. Vielmehr muss das Bauen Rücksicht nehmen auf das, was der Mensch von Natur aus ist und bleibt. Das Begriffspaar Welt und Umwelt soll auf diese Aspekte hinweisen. Jede Bauaufgabe ist deshalb in diesen Kontext von Kultur und Natur zu stellen. Innerhalb dieser Grenzen hat das Entwerfen indes alle denkbaren Spielräume. Aber es ist ein fragwürdiges Bild, wenn wir die Kultur aus der Natur entstehen lassen, gleichsam Kultur zur natürlichen Anlage des Menschen erklärten. Scheitern wir in unserem Tun, dann können wir dieses Misslingen nicht auf „unsere Natur“ schieben. Kultur ist ein selbständiger Prozess, in welchem das Lehren und Lernen eine große Rolle spielen. Wir Menschen, einschließlich unseres spezifischen So- Wohnens und So-Bauens, stehen in einem kulturellen Traditionszusammenhang. Jeder muss seine eigenen Erfahrungen machen und erkennt darin, dass er sein Leben nur führen kann zwischen sozialer Anpassung und individueller Selbsterkundung: „Kein einzelner von uns ist durch sich selbst Mensch worden“, lässt uns h erDer dazu wissen 62 . 60 A.a.O., 5 6 Vgl. auch Moscovici 98 6 Zitiert bei Lorenz a.a.O., 6 Architekturtheorie_Huter.indd 70 23.01.2008 15: 27: 55 Uhr <?page no="70"?> Welt und Umwelt des Bauens 71 Damit ist unser Problem aber nur zum Teil geklärt. Der Mensch, so haben wir gehört, muss sein Leben führen. Es geht ihm also immer schon um mehr, als nur das Leben sich zu erhalten. Der Mensch entschließt sich dazu, sein Leben „zu können“. Dieses „Können“, auf das wir schon in der ersten Vorlesung gestoßen waren, drückt die Erfahrung der entdeckten menschlichen Selbständigkeit 63 aus. So liegt etwa in der Bildung (S immel : „Kultivierung“), zu der sich der Mensch bringen will, eine Antwort auf sein Mehr-Machen- Können. Im Leben-Können steckt darüber hinaus die Einsicht, dass man etwas mehr oder weniger „gekonnt“ bewältigt und beherrscht. In der Erfahrung des Gelingens und Misslingens erkennt der Mensch, dass er sein Leben mehr oder weniger „gut“ führen kann. Gerade das Sprechen und Handeln hebt den Menschen aus dem übrigen Naturgeschehen insofern heraus, dass er, sich-entwerfend und vorausschauend, sich um sein Leben und möglicherweise um das der anderen sorgt und kümmert. Die Frage nach dem Leben-Können ist umgangssprachlich die nach dem „lebenswerten Leben“. Sie umfasst immer schon die Güter, die der Mensch braucht, damit das Leben gelingen kann und nicht unerfüllt bleibt. Zur „vorblickenden“ Beschreibung dieser Güter ebenso wie zu ihrer Herstellung bedarf es einer gewissen Könnerschaft und Kunstfertigkeit. Dieses „Mehr-Machen-Können“ gründet auf dem Vermögen, zwischen „Ist“ und „Sollen“ zu unterscheiden. Es ist die Einsicht in die Differenz von „Natur“ und „Kultur“, die wir als menschliche Vernunft beschreiben wollen. „Die Entdeckung der Unterschiedenheit zwischen dem, was von selbst („von Natur“, A. H.) geschieht, und dem, was auf menschlichem Eingriff (auf „Kultivierung“, A. H.) beruht, eben dem Von-selbst-Entstandenen und dem Selbsterzeugten, ist als Entdeckung der Vernunft die Entdeckung menschlicher Selbständigkeit gegenüber einer Situation …“. 64 Wir wollen die könnenden Vermögen des Menschen noch ein wenig weiter verfolgen. Die produktive Einbildungskraft ist das Vermögen, so Ernst C aSSirer (1874-1945), mit dem der Mensch den sinnlichen Eindrücken seiner Umwelt durch Symbole begegnet. Damit hat der Mensch eine neue, in der Natur nicht vorhandene Weise erfunden, sich seiner Umwelt anzupassen. Symbole und ihre Verbindung zu einem Symbolsystem wie der Sprache sind sinnhafte Gebilde, die zum unmittelbaren Druck der Natur eine Distanz aufbauen und ihn geistig verarbeiten. C aSSirer , der die vom Menschen erfundenen symbolischen Formen eingehend untersucht hat, nennt den Menschen ein animal symbolicum. Dieser lebt nicht nur in einem natürlichen, sondern auch in einem symbolischen Universum. Die so geschaffene symbolische Welt objektiviert durch Sprache und Wissenschaft das ursprüngliche Haben in der Welt. „Statt mit den Dingen selbst umzugehen, unterhält sich 63 Vgl. a.a.O., 88 64 A.a.O., 26 Architekturtheorie_Huter.indd 71 31.01.2008 11: 56: 06 Uhr <?page no="71"?> 2. Vorlesung 72 der Mensch in gewissem Sinne dauernd mit sich selbst.“ 65 Alle Formen des menschlichen Kulturlebens sind symbolische Formen. Für c assirer bedeutet diese Auszeichnung des Menschen seinen Weg zur Zivilisation. Ein anderes, ebenfalls der Einbildungskraft zugeschriebenes zentrales Merkmal der inneren Möglichkeiten des Menschen hat Hans J onas in der „Freiheit des Bildens“ festgestellt. 66 Das Bildvermögen zeichnet unter allem Lebendigen nur den Menschen aus. Etwas in einem Bild darzustellen, ist biologisch absolut nutzlos, da es keinem vitalen Zweck dient. Jedes Bild beabsichtigt eine Ähnlichkeit mit etwas, das dem Bildner als „Bild“ vorschwebte. Diese Ähnlichkeit hat nicht das Ziel, im Original letztlich aufzugehen. Vielmehr ist die Ähnlichkeit nur oberflächlich und unvollständig vorhanden. Dem Bildner geht es mit seinem Bild vor allem darum, das Wesentliche des Vor-Bilds zu treffen. Die Leistungsbreite von der primitiven Kinderzeichnung bis zur künstlerischen Meisterschaft im Bilden ist nicht beschreibbar. „Es gibt fast keine Grenze für die Spannweite der Imagination, über die das Vermögen symbolischen Verstehens verfügt.“ 67 Aber auch zum vorblickenden Beschreiben (zur Konzeption) und planenden Entwerfen gehört ein Bildbewusstsein. Was ich zum Beispiel als vollen, lebendigen Körper imaginiere, muss in eine flächige Gestalt gebracht werden, ohne dass das Auszuzeichnende in der Zeichnung verloren geht. Damit ist das menschliche Vermögen angesprochen, das wir umgangssprachlich Phantasie nennen. Der Mensch ist „homo pictor“. Vielleicht kann sogar etwas Neues entstehen, das keine Ähnlichkeit zum Vor-Bild mehr aufweist, indes auf dem analogischen Umgang damit basiert. Auch jeder Begriffsbildung geht ein anschauliches Bewusstsein voraus. Dem Begriff, den ich mir vom Bauen mache, geht eine konkrete Anschauung des Bauens (das „Bauen“ des Kindes mit Holzklötzen etwa oder das Nester-„Bauen“ der Vögel) vorweg. Darüber hinaus gibt es auch eine intuitive Wahrnehmung, die ihren Gegenstand nicht vor sich hat, sondern ihn sich vor-stellt: es vergegenwärtigt ihn im Bild. (Darauf wird ausführlich in der . Vorlesung eingegangen.) Ludwig k lages (1 72-1956) hat in diesem Sinne vom Schauen der Bilder in ihrer eigenen Wirklichkeit gesprochen, das vorgängig und unabhängig von jedem Wahrnehmen eines Dinges sei. 6 Das Bauen beginnt, sobald der Mensch seine Höhle verlassen hat. Aber dieses Zurücklassen des naturräumlich vorgefundenen Ruhe- und Bergeortes bedeutet ebenso, dass der Mensch den Übergang in die Sichtbarkeit und potentielle Un-verborgenheit vollzieht, der nicht mehr umkehrbar scheint. Aus dem Dunkel und Bergenden der Höhle tritt er als Sehender ins Licht - und kann nun selbst gesehen werden. „Das eine Sichzeigen ist 65 Cassirer 960, 9 66 Jonas a.a.O., 65 ff. 67 A.a.O., 7 68 Klages 9 0 Architekturtheorie_Huter.indd 72 23.01.2008 15: 27: 55 Uhr <?page no="72"?> Welt und Umwelt des Bauens 73 ohne das andere nicht zu haben. Das gehört zur Gründungskonstitution der Gattung Mensch.“ 69 Sichtbarkeit heißt: dem anderen eine Ansicht bieten. Dem aufrechten Gang entsprechen nun die „aufgerichteten Gebäude“, die die Sichtbarkeit des Menschen nun auch stellvertretend durch seine Werke noch steigern und ihn an mehr oder weniger stabile Orte bindet. Bauen ist Sichtbarmachen von dem, wo wir sind, was wir können und schließlich wie wir sind: „Von diesem Typus wird die ganze kulturelle Lebenssphäre sein: Verstärkung der Sichtbarkeit, von Hügelgräbern und Pyramiden über Tempel und Dome bis zu Hochhäusern und Hängebrücken.“ 70 Sichtbarkeit heißt auch Verwundbarkeit. Der Mensch und seine Stätten werden wahrnehmbar für andere, für die der Anblick fremd, wie ohne Maßstab, eben stillos wirkt. „Die Aufspaltung der menschlichen Mitwelt in potentielle Freunde und Feinde, die analoge Dualisierung der Natur hängen mit den Unvermeidlichkeiten des Sichtbarwerdens jenseits der Verbergungen zusammen.“ 71 Geborgenheit und Fremdheit, privater und öffentlicher Raum haben hier eine ihrer kultur-anthropologischen Wurzeln, die auf der Sichtbarkeit der menschlichen Behausungen in der Doppelbedeutung von bekannt/ vertraut und neuartig/ fremd zurückgehen. Dass der Mensch nicht an eine bestimmte Umwelt gebunden ist, können wir als eine anthropologische Tatsache bezeichnen. Lässt sich daraus jedoch der Schluss ziehen, dass den Menschen Grenze und Maß nichts angehen? Dem Menschen ist sein Leib eine natürliche Grenze. Insofern gibt es die eigene Maßstäblichkeit im Sinne einer erlebten Richtigkeit innerhalb der Lebensführung. Das Tier ist an die Umwelt, in die es hineingeboren wird, gebunden. Ihm sind Grenzen der Umwelt Grenzen des Lebens. Auch würden wir meinen, dass jedes Tier, etwa sein Jagen und Fressen angehend, ein angeborenes Maß besitzt, über welches es nicht hinausgeht. Der Mensch besitzt offensichtlich „von Natur aus“ nicht solche festen Grenzen und soliden Maße. Für ihn kommen wohl eher Maßstäbe einer erlebten, gefühlten, empfundenen Grenze zum Tragen, innerhalb derer ein Leben zu führen den Menschen vernünftig erscheint. Das Leben wird geführt aus einer „Mitte“ heraus, die die Menschen selbst mit ihren Überzeugungen und Wünschen sind. Mitte und Grenze sind deshalb stets aufeinander bezogen. Das moderne Leben, über das n ietzsche gesagt hat: „Das Maß ist uns fremd, gestehn wir es uns“ 72 , stellt nun Möglichkeiten, Weiten und Offenheiten im Überfluss gegen konkrete Lebenslagen, so dass es jedem Menschen obliegt, Maß und Grenze selbst zu finden. 73 69 Blumenberg 989, 60 70 A.a.O., 6 7 6 7 Nietzsche 955, 688 7 Vgl. Hahn/ Steinbusch 006 Architekturtheorie_Huter.indd 73 23.01.2008 15: 27: 55 Uhr <?page no="73"?> 2. Vorlesung 74 Das spektakulärste Beispiel für das Abhandenkommen eines architektonischen Grenzbewusstseins entstammt dem Mythos: dem Turmbau zu Babel. Thomas m ann spricht in Joseph und seine Brüder vom „Anschaulichwerden und gegenwärtige(n) Erlebnis eines urweither übermachten Inbegriffs: Des Turmes, des bis an den Himmel ragenden Bauwerks von Menschenhand“ 7 . Hier waren die Menschen vermessen zu meinen, sie könnten das menschliche mit dem göttlichen Maß eintauschen. Dieser Bau ist Symbol für die menschliche Hybris, für die Anmaßung des Menschen, dem jedes Maß abhanden gekommen ist. Pieter B rueghel Der Ä ltere hat in seinem Gemälde von 1563 die ganze Maßlosigkeit des Bauwerks, der eingesetzten menschlichen und technischen Kräfte dargestellt. Von Natur aus kennt der Mensch offensichtlich weder Grenze noch Maß. Allein die kommunikativ gewonnene Einsicht ins menschliche Maß lässt ihn ein Grenzbewusstsein ausbilden, an das er sich halten kann. Dafür findet sich ein geschichtliches Beispiel, auf welches Hans B lumenBerg hingewiesen hat, mit dem mittelalterlichen Dombau: „So war das Bauwerk des gotischen Domes auch eine Erscheinung der Begrenzung nach oben, die die Endlichkeit des Stoffes vor der Helligkeit des Himmels wahrnehmbar machte.“ 75 Wollen wir unsere Bestimmungen zu Maß und Grenze zusammenfassen, so müssen der fehlenden Naturgegebenheit die gewonnenen Einsichten des Menschen in frei gewählte Maßbescheide und Selbstbegrenzungen entgegenkommen. Wir kommen am Ende der Vorlesung noch einmal auf das Zitat von Jürgen m ittelstrass zurück: Dass Kultivierung „die Welt bewohnbar machen“ bedeutet, lässt diesen Bau- und Schaffensprozess eigens ins Bewusstsein treten. Das „Machen“ bezieht sich auf Fähigkeiten der Konstrukteure und Techniker. Das Ziel dieses Prozesses ist die bewohnbare Welt, aber nicht bloß als realisiertes Produkt, sondern als innerweltliche Aufgabe und Ziel, was die „technische Welt“ selbst nicht bewältigen kann. Die „Halbfertigkeit“ des Menschen, nämlich dass er nicht bloß „lebendig“ ist und das in ihn gelegte Natürliche aktualisiert, sondern dass seine Unbestimmtheit ihm ein Schöpfertum auferlegt hat, muss er ebenso als Freiheit zum Wohnen umsetzen. 7 Mann 960, 75 Blumenberg 987, 0 Architekturtheorie_Huter.indd 74 23.01.2008 15: 27: 55 Uhr <?page no="74"?> 3. Vorlesung Soziale Umwelt und menschliche Grundsituation Sowohl Menschen als auch Phänomenen wie Häusern, Städten und Landschaften begegnen wir nur in lebensweltlichen Situationen. Ihre Ansichten gewinnt man allein von innerweltlichen Standorten, ebenso ist ein Verständnis, was denn Anschauungen ausmachen, nur situativ zu vollziehen. Wir sind unlöslich in die Situationalität und Lokalität konkreter Verhaltungen eingebunden. Wir konnten feststellen, dass unsere vielfältigen kulturellen Errungenschaften die fehlende natürliche Ganzheit gewissermaßen kompensieren. „Kultur ist […] alles, worauf der arbeitende, denkende, verändernde Mensch seinen Fuß setzt. Sie hat die Welt bewohnbar gemacht […]“. Doch auch wenn wir den Eindruck haben, „ganz“ in einer kulturellen Welt zu leben, bewohnen wir diese Welt als natürliche Wesen. Insofern wir nun berechtigterweise die Architektur, das Bauen, als Resultat einer „kompensatorischen“ Handlung begreifen, so verlangt diese Aufgabe doch nichts weniger als eben der besonderen Natur des Kulturwesens Mensch beizukommen, ihr zu dienen. Wie kommt aber überhaupt etwas in die menschliche Kultursphäre? Greifen wir etwa wahllos in die Wirklichkeit hinein, ohne jegliche innere Beteiligung und ohne gefasste Interessen? Wir müssen also weiter sehen, welche Umwelthaftigkeit dem Menschen eigen ist und wie er ihr kulturell, dass heißt: absichtsvoll, zielorientiert begegnet. 1 Welt und Wirklichkeit Wir verlassen die Gedankengänge P lessner s und g ehlen s, die uns in der letzten Vorlesung beschäftigt hatten, und folgen einem dritten wichtigen Vertreter der philosophischen Anthropologie oder richtiger der Kulturanthropologie: Erich r othacker (1888-1965). Für ihn ist „Kultur im Handeln des ‚natürlich‘ lebenden Menschen zu suchen.“ 3 Während g ehlen vor allem das vorausblickende Tun und Planen, also das Interesse des Menschen, Vgl. zu diesen anthropologischen Möglichkeitsbedingungen ausführlich Rentsch 990 Mittelstraß 00 , 0 So W. Perpeet 997, 78 Architekturtheorie_Huter.indd 75 23.01.2008 15: 27: 56 Uhr <?page no="75"?> 3. Vorlesung 76 die Zukunft in den Griff zu bekommen, hervorhebt, stellt R othackeR zunächst fest, dass der Unterschied zum Tier darin liege, dass nur der Mensch zeichnen könne. Das Zeichnen setzt Anschauung voraus. Schon im anschaulichen Vorstellen, nicht erst im Denken, liegt der zentrale Unterschied zu anderen Lebewesen. R othackeR bezieht sich hier auf Ludwig k lages : Zeichnen-können bedeutet Anschauen-können, darauf beruhen schließlich Darstellung und alles Bildhafte, letztlich die Kunst. Damit habe k lages deutlich gemacht, „daß die Eigenarten des Menschen schon im sinnesnahen Anschauungsapparat wurzeln“ , nicht erst im begrifflichen Denken. R othackeR s eigentliche Leistung für unser Verständnis vom Menschen liegt allerdings in der Erkenntnis, dass der Mensch umweltgebunden und distanzfähig ist. Damit nimmt er Begriffe von s cheleR und g ehlen , Weltoffenheit beim Menschen - Umweltgebundenheit beim Tier, auf, um dann jedoch zu zeigen, dass der Mensch sehr wohl „Umwelt hat“, jedoch von ihr „Abstand nehmen“ kann. R othackeR bemängelt, dass der Gebrauch der leitenden kulturanthropologischen Begriffe bei den genannten Autoren oftmals zu abstrakt sei. Man könne weder behaupten, die Menschen leben in der Welt, noch sprechen sie die Sprache und bringen sie die Kunst hervor. Richtiger müsse man stattdessen feststellen: sie leben jeweils in den fast umwelthaft beschränkten Welten ihrer konkreten Gesellschaft. Streng genommen lebt jeder Mensch nur in „seiner“ Welt. Unsere Erfahrung sagt uns jedoch, dass wir vieles unserer Welt mit anderen teilen. In erster Linie unsere konkrete Sprache. Wir leben also in bestimmten Sprachgemeinschaften. Wie sehr wir tatsächlich in der Welt unserer gesprochenen Sprache leben und unabrückbar an diese gebunden sind, bemerken wir immer dann, wenn wir unsere Gefühle oder Gedanken in einer fremden Sprache ausdrücken sollen. Wir meinen dann, dass wir eine bestimmte Tiefe von Gefühlen oder Gedanken nur in unserer Muttersprache adäquat zum Ausdruck bringen können. Dennoch liegt in der menschlichen, auf Sprache beruhenden Lebenswelt zugleich der Schlüssel zu ihrer Öffnung. Zwar kann niemand seine Lebenswelt, die Mitte seiner Welt, die sein Leib ist, verlassen, aus ihr heraustreten, sie wie einen Mantel an der Garderobe abgeben; dennoch besteht immer die Möglichkeit, sie zu überschreiten, zu erweitern und für andere Welten „zu übersetzen“. Jedes Gespräch, jeder Dialog, jedes Zuhören öffnet potentiell meine Welt für die Welt der anderen und umgekehrt. R othackeR lehrt uns, den Begriff der Umwelt nicht aufzugeben, sondern ihn auf den Menschen hin konkret zu gebrauchen. Wie machen wir das? Zunächst haben wir die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Welt zu treffen. Unter Wirklichkeit versteht R othackeR das schier unerschöpfliche Reservoir, aus dem wir im Laufe unserer Geschichte bestimmte Ein- Rothacker 196 , 61 Auf diesen Aspekt bei Rothacker hat J. Habermas aufmerksam gemacht, vgl. Habermas 19 8 Architekturtheorie_Huter.indd 76 31.01.2008 11: 58: 36 Uhr <?page no="76"?> Soziale Umwelt und menschliche Grundsituation 77 zelheiten entnommen haben, unter deren Wirkung wir stehen und auf die wir handelnd zurückwirken. Was war irgendeine Umgebung, sozusagen das Land hinter dem Meer und dem Horizont, bevor es von einem Menschen als Landschaft angesehen wurde? Etwas „als Landschaft“ anzusprechen, z. B. als Sächsische Schweiz, setzt eine menschliche Leistung (ein menschliches Können) voraus. Was war mit dieser Wirklichkeit aus Bergen, Täler, Flüssen usw. los, bevor jemand, ich weiß nicht wer, auf die Idee kam, aus jener Wirklichkeit etwas Einheitliches, etwas Begrenztes, nämlich eine konkrete Landschaft zu erschauen? Zwar war diese Umgebung längst Umwelt für verschiedene Tierarten, als Landschaft hat sie vorher jedoch nicht existiert, denn es gab niemanden, der sie als solche anschaute und auffasste. Wenn wir nun mit r othacker bestimmte Einzelheiten von Landschaften betrachten wie Strand, Höhle und Bucht, so zeigen schon die benutzen Begriffe, dass wir eine beliebige Wirklichkeit kraft der geschauten Gestalt zu unserer Welt gemacht haben. Beliebigkeit verwandeln wir in Bedeutsamkeit. 6 Dieser Begriff ist grundlegend, nicht der der Nützlichkeit. Und ebenso gilt für die „Wirklichkeit“ der Architekturen: Zwar können wir bestimmte Architekturstile und Hausformen unterscheiden, aber eben nur die, von denen wir wissen bzw. überhaupt wissen können. Niemals haben wir oder andere Sprachgemeinschaften jedoch Zugriff darauf, wie menschliche Kulturwelten das, was wir „Architektur“ nennen, je verstehen werden oder schon verstanden haben. Um diese „Leistung“ im Aufbau eines Weltbildes an einem Beispiel zu veranschaulichen, entwirft r othacker die Vision einer vollkommen menschenfreien Landschaft. Diese Landschaft hat es schon längst gegeben, bevor überhaupt Menschen existierten. Nie hat also ein Mensch sie betreten. Wollten wir eine solche Landschaft beschreiben, müssten wir auf uns gebräuchliche Begriffe zurückgreifen, um z. B. Einzelheiten wie Höhle, Wald, Bucht usw. hervorheben zu können. Wir könnten gar nicht anders, als diese Urlandschaft mit Worten zu beschreiben, die uns Menschen im 21. Jahrhundert zur Verfügung stehen. Nur so wäre überhaupt ir gendeine Beschreibung möglich. An dieser Stelle setzt nun r othacker mit erstaunlichen Folgerungen ein. Er erklärt uns nämlich, dass der Mensch sich seine Welt schöpferisch erdeuten muss. Welt ist etwas aus dem Umgang mit der Wirklichkeit Herausgeschnittenes, nicht zum Spaß oder nicht nur zum Spaß: sondern weil dieser Ausschnitt, dieses Stück Wirklichkeit für den Menschen bedeutsam ist, ihn etwas angeht, ihn anspricht. Dieses primäre, schöpferische Deuten geschieht nicht aus wissenschaftlicher Erkenntnisabsicht, sondern allein aus einem unerklärlichen Lebensinteresse. Blick und Sprache arbeiten dabei Hand in Hand. Um an dieser Stelle so anschaulich und konkret wie möglich zu werden, zitiere ich eine längere Passage: 6 Vgl. dazu Rothackers „Satz der Bedeutsamkeit“, in Rothacker 966, ff. Architekturtheorie_Huter.indd 77 23.01.2008 15: 27: 56 Uhr <?page no="77"?> 3. Vorlesung 78 Überlegen wir einmal: Wie sieht diese Landschaft nun eigentlich aus? Für die Fische im Wasser ist das Land absolut unartikuliert. Das Land ist für die Fische eine Modifikation des Wasserraumes, der sich in der Brandungszone anders bewegt als in der Tiefe. Die dahinter liegende Landschaft ist vollkommen unartikuliert.[…] Für die Vögel ist dieses Land eine Niststätte und der Ort, wo sie ihre Beute suchen. Für die Tiere des Gebirgswaldes ist eine ganze Menge von dem, was wir beschrieben haben, gar nicht da. Da sind für sie allerdings Bäume, Sträucher, auch Quellen und Bäche. Es gilt zu überlegen: war es in dieser völlig menschenfremden Landschaft nicht Jahrmillionen vielleicht so, dass es all diese von uns beschriebenen Dinge gar nicht gab? Es gab sie schlechterdings nicht. Es gab keine Landschaft, so wie wir das Wort verstehen, es gab keinen Strand, kein Gebirge, keine Bucht, keine Berge, keinen Wald, keine Quelle, keine Höhle usw. Die Höhle war ein ganz neutrales Luftloch im Gestein, die Bucht ein zufälliger Rand des Strandes, deren Ausdehnung die Tiere gar nicht interessierte, wenn sie es auch, wie die Vögel einigermaßen überschauten. Der Strand war teils eine felsige Fläche, teils eine Sandfläche. Gebirge ist eine relative Erhöhung des Geländes, für die hochfliegenden Vögel ist es ziemlich flach, für die am Wasser lebenden Vögel ist dieses Gebirge dahinten sowieso ganz unbeachtlich. Von außen betrachtet ist das Gebirge eine vollkommen neutrale botanisch-geologische Angelegenheit […]. 7 Abgesehen davon, dass schon jede Beschreibung menschliches Wirken ist, so versuchen wir, uns vorzustellen, was mit dieser nie von Menschen geschauten natürlichen Wirklichkeit passiert, sobald der Mensch sie zu seiner Welt macht. Er tut etwas, was für die Natur vollkommen gleichgültig ist: schauend deutet er etwas aus ihr heraus und gibt diesem Namen. Was im Einzelnen und warum gerade diese Dinge die Menschen an einer Wirklichkeit interessieren, bleibt völlig rätselhaft. Interessant und bedeutend wird die Angelegenheit, wenn wir an das denken, was wir eine Höhle nennen und von dem wir annehmen können, dass einige Exemplare von Menschen bewohnt wurden. Das alles hat der das tägliche Leben begleitende und dafür sorgende menschliche Blick und die menschliche Sprache erstmalig geschaffen: eine Schöpfung, zu der bestimmte Kräftekombinationen Anlass gaben, nur einen Anlass, keineswegs ein Modell für ein nachzubildendes Vorbild. Ein völlig neutrales Stück einer Gesteinsbildung wird jetzt mit einem Male eine Höhle, d.h. eine Wohn- und Zufluchtsstätte, die es nur für Wesen werden kann, die nicht, wie die Rehe im dicken Fell, im Wald schlafen können. Für uns - soweit wir das als ‚Bauende‘ nicht schon wieder vergessen haben - ist eine Höhle selbstverständlich ein Unterschlupf geworden. Für uns 7 Rothacker 96 , 6 f Architekturtheorie_Huter.indd 78 23.01.2008 15: 27: 56 Uhr <?page no="78"?> Soziale Umwelt und menschliche Grundsituation 79 ist eine Höhle eine Wohn- oder Fluchthöhle, so dass wir uns anstrengen müssen, zu sehen, dass diese angebliche Wesenheit ‚Höhle‘, die wir sehr kühn und leichtfertig Wesenheit nennen, beileibe gerade diese Wesenheit nicht von Natur ist, sondern dass diese Wesenheit ‚Höhle‘ nur streng bezogen auf den Zuflucht suchenden Menschen ist, evtl. auch auf einen Bären, der aber die Höhle nicht weiter wohnbar macht. Nichts liegt einem solchen Erdloch, ehe es Menschen gab, ferner, als gerade der Anspruch wesenhaft eine Höhle zu sein. Das höhlenhafte Wesen wächst ihm doch erst zu in Relation zu 1. einem Zuflucht suchenden Lebewesen, und 2. einer bestimmten Größe dieses Lebewesens, also in Relation zu vollkommen zufälligen Relationsgliedern. Vorher war es eben ein Luftloch, und jetzt gewinnt es Höhlencharakter. Mit diesem Beispiel macht r othacker sehr anschaulich, dass das, was wir sinnvollerweise unter „Welt“ zu verstehen haben, ganz auf Zwecke, Wünsche und Überzeugungen von Menschen bezogen ist, die ihre Umwelt sprachlich im Griff haben. Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass es für sie praktisch, nützlich und notwendig ist, Dinge wie Berge von anderen Dingen wie Tälern zu unterscheiden. Würde man diese Dinge aus der schöpferischen Perspektive des Menschen herausreißen, dann wären sie rätselhafte, unverständliche und tote Gebilde, wir würden sie vermutlich gar nicht wahrnehmen. Sprachlich gedeutete Umwelt dagegen ist immer etwas Konkretes: Menschen betreten zum ersten Mal ein bislang unberührtes Stück Natur, und da sie mit Booten gekommen sind, entdecken sie an einer Küstenstelle die Möglichkeit, mit ihren Booten anzulegen. Was eine „Bucht“ (prinzipiell) ist, wussten die Menschen bereits aus vielen ihnen bekannten Beispielen. Dass sich aber auch an genau dieser eben entdeckten Stelle Boote bequem lagern lassen, mussten sie erst finden und ausprobieren. Etwas als Bucht benennen und entsprechend praktisch nutzen ist im Grunde ein und derselbe Vorgang. Nur das ist zu bezweifeln, dass es in dieser Wirklichkeit, wenn gar keine Menschen da wären, nun gerade das gäbe, was es gibt in dem Sinne, in dem wir die Worte Bucht, Höhle, Jagdwild, Bach usw. gebrauchen, - ohne das sich das geringste dadurch änderte. Es ist zu bezweifeln, dass eine so und so lange Berührungsstelle zwischen Gestein und Wasser eine Meeresbucht sei. Die Bucht hat sich das seit Jahrtausenden nicht träumen lassen. Dieser Deutung bot sie einigen Anlass, eine überprüfbare Möglichkeit - das muss sie getan haben -, aber zur ‚Bucht‘ haben wir sie, nämlich soweit wir schiffahren, schöpferisch gemacht, und haben diesen Aspekt sprachlich fixiert und an diese Sprache kristallisieren sich immer weitere Deutungen an, deren sprachliche Fixierung den bisherigen folgt. 9 8 A.a.O., 65 9 A.a.O., 7 Architekturtheorie_Huter.indd 79 23.01.2008 15: 27: 56 Uhr <?page no="79"?> 3. Vorlesung 80 Dieses Ereignis des schöpferischen Erfindens, bestehend, wie wir gesehen haben, aus sprachlichem und pragmatisch-praktischem Zugriff, nennt r othacker : aus der Wirklichkeit eine Welt herausdeuten. Welt konstituiert sich durch menschliche Schöpfung aus Wirklichkeit. Und Welt bezieht sich stets auf die jeweils „lebendige“, das heißt die gesprochene Sprache. Diese gebräuchliche Sprache, so r othacker , „ist das lebendige Subjekt alles Wissens wie Handelns“ 10 . „Welt“ ist konkretes Wissen über Wirkliches, insofern Wirklichkeit überhaupt „erscheint“, d. h. für den Menschen wahrnehmbar ist. Mit Wissen, das müssen wir an dieser Stelle uns in Gedanken unterstreichen, ist hinsichtlich der Konstitution von Welt allein unser praktisches Können gemeint, also mit allen möglichen Dingen bewährt umgehen können. Alles so genannte wissenschaftliche oder höhere Wissen basiert auf diesem lebensweltlichen Umgangswissen. ,Welt‘ ist sprachlich formuliert der in sich zusammenhängende Inbegriff aller bereits konstituierten und akzeptierten Erlebnisse. Was eine menschliche Sprachgemeinschaft an konkretem Wissen über Wirkliches in den konstituierten Erscheinungen dieser Wirklichkeit besitzt, nenne ich von nun an ihre ‚Welt‘, ihre jeweilige erlebte, gelebte, getätigte und gewortete Welt. 11 2 Weltbilder sind konkret Dass wir Menschen überhaupt Welt und nicht wie die Tiere nur Umwelt haben, hat offensichtlich damit zu tun, dass wir fähig sind, unsere Umgebung zu deuten. Aber diese Deutungen sind niemals beliebig. Ein See bedeutet einem Schwimmer etwas anderes als einem Nichtschwimmer. Ein Bergsteiger betrachtet ein Alpenmassiv mit anderen Augen als ein Bauer. Es gibt niemals so etwas wie den See oder den Berg schlechthin. Das Bild, welches jeweils ein Architekt und ein Bewohner von einem Gebäude haben, ist streng bezogen auf ihre Welt, so wie wir Welt als „Wissen“ zuvor verstanden haben. „Bild heißt hier nicht nachträgliches Abbild, sondern anschaulicher bildhafter Eindruck der Wirklichkeit selbst“. 12 Ein solches Bild ist kein zufälliges oder willkürliches Resultat des Aufeinandertreffens von Subjekt und Objekt. Vielmehr begegnet ein erlebender Mensch in seiner besonderen Zuständlichkeit Gegenständen seiner Welt. Nennen nun Architekt wie Bewohner das Gebäude „schön“ oder „gelungen“, so haben wir keinen Grund anzunehmen, sie würden dasselbe von diesem Haus aussagen wollen. Damit kommen wir zu einem weiteren wichtigen Aspekt, wie wir Menschen uns auf Wirkliches 0 Rothacker 966, A.a.O. Rothacker 96 , 7 Architekturtheorie_Huter.indd 80 23.01.2008 15: 27: 57 Uhr <?page no="80"?> Soziale Umwelt und menschliche Grundsituation 81 beziehen. Niemand von uns kann einen Gegenstand „vollständig“ in seiner Welt erfassen. Wer nie wohnend mit einem bestimmten Gebäude seine Erfahrungen gemacht hat, wird sich auch kein eigenes Bild hinsichtlich des Wohnens (als Erlebnis und als Erfahrung) darin machen können. Nur unter bestimmten Hinsichten erschließen sich die Dinge unserer Welt. Man kann eine Siedlung hinsichtlich ihrer Erreichbarkeit vom Zentrum einer Stadt beurteilen. Man kann sie auch betrachten hinsichtlich ihres gestalterischen Eindrucks. Man kann einen Siedlungsraum auch erforschen, indem man das Vorkommen einer bestimmten Käferart untersucht. Aber es ist unmöglich, irgendeine konkrete Siedlung unter allen Hinsichten zu betrachten. Für r othacker gibt es keine Wirklichkeit, die man ganz ausschöpfen könnte. Von Vollständigkeit zu reden, die ja alle Aspekte umfassend berücksichtigen müsste, ist schlicht unsinnig. Hinsichten ergeben sich aus konkreten Zielen und Absichten. Nur weil Menschen ihre Welt etwas Bedeutsames ist, überhaupt etwas bedeutet, durcharbeiten sie diese Welt hinsichtlich verschiedener Zwecke, Absichten und Vorhaben. Unsere Welt ist voller menschlicher Aspekte. Sie sind stets bezogen auf die spezifische menschliche Perspektive: dass wir aufrecht durch die Welt laufen, dass wir auf unsere Gefühle Rücksicht nehmen, dass wir verschiedene Bedürfnisse und Begehrungen haben. Da es für uns pragmatisch unmöglich ist, Dinge anders als unter konkreten Hinsichten zu begreifen, wüssten wir auch nicht zu sagen, was man mit „der Siedlung“ meinen könnte, unter einer „Siedlung schlechthin“ verstehen sollte. Unsere Hinsichten, die wir gegenüber dem Wahrgenommenen einnehmen, sind uns nicht angeboren. Eine Wildgans reagiert auf die Silhouette eines Seeadlers geradezu automatisch mit Fluchtverhalten. Aber dass der Förster einen Wald als „Forst“ betrachtet, ein Bauer den gleichen Wald als „Gehölz“, ein Jäger ihn als „Jagdgebiet“ - dies ist zweifelsfrei nicht angeboren! Wir sind an einen weiteren Kernpunkt von r othacker s Verständnis von Wirklichkeit und Welt gekommen: Neben die natürlichen Umwelten der Tiere treten nun die menschlichen Umwelten. Haben wir von Johann Jakob von u exküll gelernt, dass es in der Libellenwelt nur Libellendinge gibt, in der Käferwelt nur Käferdinge, so zeichnen sich die Menschenwelt und die Menschendinge dadurch aus, dass sie auf eine konkrete geschichtliche Gesellschaft bezogen sind, eine Gesellschaft, in der Menschen soziale Positionen und Rollen einnehmen, Berufe erlernen und ausführen, in unterschiedlichen sozialen Gruppen und Milieus leben und entsprechende Interessen verfolgen. Was dem Tier als seine „Stellung“ in der Umwelt angeboren ist, muss der Mensch sich erst mühsam erwerben. Der Aufbau von Welt und Umwelt wird dem Menschen zur lebenslangen Aufgabe, die er sich von niemandem abnehmen lassen kann. „Das Tier trägt seine Lebensinteressen mit seinen Organen mit sich herum und der Mensch erwirbt sich seinen ‚Lebensstil‘. Architekturtheorie_Huter.indd 81 23.01.2008 15: 27: 57 Uhr <?page no="81"?> 3. Vorlesung 82 Dem Tier ist sein Lebensstil, d.h. seine Verhaltensweise mit dem Bauplan angeboren, der Mensch aber kann seinen Lebensstil sozialgeschichtlich erwerben“. 13 Ein Lebensstil setzt sich aus Gewohnheiten, Traditionen, Interessen und Haltungen eines Menschen zusammen. (Das Thema Stil und Lebensstil wird uns auch in der 10. Vorlesung beschäftigen.) All dies ist dem Menschen nur gegeben durch das Nadelöhr der gesprochenen Sprache. Deshalb kann r othacker sagen: „Was der Mensch erlebt und wie er es erlebt, schlägt sich in seiner Alltagssprache nieder“. 1 Die Sprachforscher und Linguisten haben in dieser Richtung erstaunliche Erkenntnisse gewonnen, was beispielsweise den Zusammenhang von Lebensstil, Lebensform und Sprachgebrauch angeht. Ein Schweizer Linguist hat die Sprache von Alpenbewohnern untersucht und dabei in erster Linie die mundartlich gebräuchlichen Ausdrücke für die Bergwelt analysiert. Es ist ihm aufgefallen, dass die hochaufragenden Gipfel bis ins 19. Jahrhundert überhaupt keine Namen hatten. Erst der später aufkommende Alpinismus führte zur Namensgebung, welche den lockenden Reiz der wilden Höhen ansprach: „Spitzhorn, Zahnnadel“ usw. Betrachtet man die Gipfel aus dem Flugzeug heraus, käme niemand auf den Gedanken, diese Nuancen („Spitzhorn“, „Zahnnadel“) herauszuheben. Da die Alpenbewohner die Bergumwelt von ihrer Wohnstätte her eroberten, erfolgte die Namensgebung praktischerweise „von unten“ - und nicht vom Flugzeug aus: „Erst liegt da der Hof: Turre, über ihm der Turreberg Nolle, ein runder Vorsprung, darüber erst der Turrebergspitz: eine Schichtung der Namengebung vom Hof über den Hügel auf den Berg hinauf“. 15 Extrem hohe Gipfelspitzen wurden früh beachtet, insofern sie zur Tagesorientierung dienten und Stunden anzeigten: etwa Mittagsspitz, Elfihorn, Zwölfihorn, Einshorn. Wir sehen also, dass die Namensgebung eng mit den jeweiligen Lebensgewohnheiten der Menschen verbunden ist: Es ist nützlich und sinnvoll, die Berge so zu benennen, da dies eine tageszeitliche Orientierung mit sich brachte. Wir wissen z. B. auch, dass die südamerikanischen Gauchos 200 Ausdrücke besitzen, um die Farben ihrer Pferde zu unterscheiden. Es sind also immer kontingente Hinsichten, alltagsweltliche Gesichtspunkte, differenzierte Interessenlagen, berufliche Einstellungen, gewonnene Lebenserfahrungen, unter deren Federführung wir uns unsere Welt erschließen. Dies gilt selbstverständlich für alle Bereiche unserer Umwelt. Ob wir nun an Altbauten, alte Industrieanlagen, Agrarlandschaften - was auch immer denken: sofern wir etwas „Neues“ in unseren Horizont aufnehmen, tun wir dies, weil wir darin einen praktischen Bezug erkennen. Z.B. wollen wir diese Gebäudekomplexe schützen und erhalten. Mit einem Mal ist das, was wir immer als eine überflüssige Ruine betrachtet hatten, ein historisch wertvoller A.a.O., 75 75 5 76 Architekturtheorie_Huter.indd 82 23.01.2008 15: 27: 57 Uhr <?page no="82"?> Soziale Umwelt und menschliche Grundsituation 83 Baubestand. Der nun erwachte Aspekt verdrängt den alten, uns jetzt gleichgültigen Aspekt unseres Interesses. Dabei ist es einerlei, ob wir ethische, religiöse, ästhetische, politische oder wirtschaftliche Interessen angeben. Aus irgendeinem Grund entdecken wir etwas als bedeutsam. Bedeutsamkeit heißt unser Grundinteresse, nicht Nützlichkeit! Was uns gar nicht interessiert, was uns nichts sagt von sich aus, dessen werden wir bestenfalls am Rande gewahr. In das Rund eines Wirklichkeitsbildes nehmen wir dann dieses Etwas erst auf, wenn es aus irgend einem Grunde beachtenswert wird. 16 Es wäre daran anschließend ein Leichtes, die unterschiedlichen Welt- und Wirklichkeitsbilder von Architekten zu untersuchen. Auch sie beschäftigen sich nur mit dem, was zu ihrer Welt gehört. Ihre Aussagen ebenso wie ihre Entwürfe und Bauten sind ebenso eine Antwort auf die Frage: In welcher Welt lebst du? Ihr Weltbild kommt darin zum Ausdruck. Weltbilder drücken sich indes vor allem im Sprechen aus. Denn was wir erlebt und erfahren haben, das versuchen wir in Worten darzustellen, genauer: wir erfahren überhaupt nur etwas aufgrund unseres Sprechen-Könnens. Insofern korrelieren konkrete Weltbilder und der jeweilige Gebrauch der Sprache. Soziale Gruppen artikulieren und differenzieren vor allem das, womit sie tagtäglich beschäftigt sind. „Ein Weltbild ist also methodisch nirgends greifbarer als am Sprachschatz abzulesen, besonders bequem natürlich an begrenzten Sprachschätzen, wie Fach-, Berufs-, Standessprachen“. 17 Weltbilder stützen sich auf Wirklichkeit. Solche notwendig an konkrete Weltbilder und deren Hinsichten und Bedeutsamkeiten gebundene Wirklichkeit ist absolut unübersehbar. Dies muss auch die menschliche Erkenntnis als ihre unbedingte Grenze einsehen. „Nichts ist intensiv restlos ausschöpfbar für unsere Erkenntnis“, sagt r othacker . „Die Erkenntnis bleibt hier immer im Rückstand. Wir sind also zu einer Selektion gezwungen und diese Auslese des Bedeutsamen ist zunächst einmal auf der Folie der unausschöpfbaren Wirklichkeit ärmer“. 1 3 Umwelt - Situation und Distanz Umwelt haben wir bislang als etwas kennengelernt, in das z.B. das Tier wie in eine Drangwelt eingeschlossen ist. Wie kann aber nun r othacker behaupten, auch der Mensch habe eine Umwelt, obwohl wir diesen doch vorgestellt bekommen haben als zur Welt aufgeschlossen? Im noch unbehauenen rohen 6 78 7 9 8 8 Architekturtheorie_Huter.indd 83 23.01.2008 15: 27: 57 Uhr <?page no="83"?> 3. Vorlesung 84 Holz und Stein zum ersten Mal einen Balken oder eine Säule bzw. gar ein Haus zu sehen, setzt große Schöpferkraft voraus. Es ist aber auch klar, dass zunächst das Lebensinteresse bestehen muss, dass uns „provoziert“, kreativ auf den Tatbestand unserer Bedürftigkeit zu reagieren. Vor der produktiven Umarbeitung der Natur liegt die antizipierende Ausdeutung der Wirklichkeit. Es ist die produktive Einbildungskraft, die uns befähigt, was zuvor für uns „Luft“ war, schlicht uninteressant, mit einem Mal als etwas Bedeutsames aufzufassen und entsprechend damit umzugehen. Jeder Antwort geht eine Frage voraus: ohne Kennen kein Erkennen, ohne Gesichtspunkte keine Betrachtung, ohne Richtung der Aufmerksamkeit kein Verstehen. Ohne sinnliches Angesprochen-Sein keine Erkenntnis. Diesen besonderen Ausschnitt der Wirklichkeit, diese Auslese des Bedeutsamen, den sich jeder von uns aus seinem Lebensinteresse heraus aufgebaut hat, können wir als spezifische menschliche Umwelt bezeichnen. Wir halten aber fest: diese Umwelt ist prinzipiell erweiterbar und wandelbar. Was wir zuvor als menschliche Kreativität und Einbildungskraft beschrieben haben, gilt es nun zu präzisieren bzw. weiter zu entwickeln. Dafür greifen wir den Begriff der Distanz auf. Distanz ist das Phänomen, welches zwischen uns und der Unmittelbarkeit des uns Gegebenen liegt. Der Mensch ist fähig zur Distanz, heißt: er kann sich die Tafel Schokolade, die so verlockend duftet, beiseite legen und für einen späteren Zeitpunkt aufheben. Dies fällt nicht allen Menschen leicht. Was ist hier passiert? Ein Hund würde sich zweifelsohne gleich über die Süßigkeit hermachen. Wir aber sagen uns: die Schokolade heben wir uns besser für den Abend auf. Vielleicht machen wir uns auch den Kaloriengehalt bewusst und nehmen uns vor, die Schokolade zu verschenken. Aufheben oder Verschenken sind „Ideen“, die uns durch Nachdenken kommen und die die verlockende Süßigkeit zu einem „Gegenstand“ oder einem „Gegenüber“ machen. Wir können deshalb sagen, der Mensch zeichnet sich durch Reflexivität aus. Reflexivität heißt: Sich-distanzieren-können. Dieser Abstand, den wir gewonnen haben, geht darauf zurück, dass wir uns die Freiheit genommen haben, dem unmittelbaren Impuls zu widerstehen. Wie haben wir das gemacht? Durch unser „Abrücken“ erst haben wir eine Gestalt wahrnehmen können, auf die wir dann reagieren: die Tafel Schokolade, die man verschenken oder auch aufheben kann. Tieren ist dieses bewusste Abrücken vom eindringlich Erlebten nicht möglich. r othacker will dieses Abstandnehmen nicht als ein begriffliches Denken verstanden wissen. Unser Beispiel zeigt wieder einmal die Fähigkeit des Menschen zu transzendieren, indem wir uns heute etwas vornehmen, nämlich die Schokolade beiseite zu legen, was wir erst morgen vollziehen wollen, etwa sie einem Bekannten zu schenken. Wir müssen an dieser Stelle einen weiteren für uns zentralen Begriff einführen: den der Situation. Eben noch waren wir in die Situation mit der Tafel Architekturtheorie_Huter.indd 84 23.01.2008 15: 27: 57 Uhr <?page no="84"?> Soziale Umwelt und menschliche Grundsituation 85 Schokolade verstrickt. Überwältigt vom sinnlichen Eindruck, mussten wir uns entscheiden, was zu tun ist. Unter Situation verstehen wir das jeweilige Hier und Jetzt, dem sich niemand entziehen kann: also die pure Gegenwart, in der wir je stehen und die wir so oder so bewältigen müssen. Der Mensch kann sich der Gegenwartbzw. Augenblicksgebundenheit ebenso nicht entziehen wie der Situationsgebundenheit. Alle drei Ausdrücke gleichen sich darin. Wir erfahren eine Gestalt, ein Bauwerk; plötzlich taucht es hinter einer Straßenecke auf, wir sind fasziniert. Aber wir laufen nicht blind auf es zu, sondern halten inne. Lösen oder bewältigen der Situation heißt für uns: Antworten auf Fragen bekommen, die in uns diese Situation und Begegnung ausgelöst haben: Wie heißt der Architekt? Wie mag es im Innern des Bauwerks aussehen? Aus welcher Epoche stammt es? Wiederum ist ein gewisser Abstand nötig, um überhaupt eine Gestalt sehen zu können. Aus weiter Ferne würden wir nur die Silhouette einer Stadt unterscheiden können, aus unmittelbare Nähe nur einen einzelnen Stein. Nur durch adäquates Distanznehmen erhalten wir die Freiheit, Gestalten ihre bekannte Form zu geben. Es ist wie mit dem Einstellen des Mikroskops: Um ein „deutliches Bild“ zu erhalten, muss ich durch Drehen eines Rädchens das Präparat in die passende Perspektive bringen. Deutlichkeit und Perspektive sind nicht voneinander zu trennen. Haben wir nun intensiv unseren Blick auf das Bauwerk gerichtet und versuchen wir unsere Situation zu lösen, dann stehen uns mehrere Möglichkeiten zur Verfügung. Wir können dazu übergehen, das Haus zu betreten und uns drinnen umzuschauen. Wir können uns einen Architekturführer kaufen, um uns über das Gebäude und seine Geschichte zu informieren. Wir können es aber auch „links“ liegen lassen, da gerade unser Freund um die Ecke kommt, den wir hier gar nicht erwarteten, mit dem wir aber zu einem Kinobesuch verabredet sind. Damit sind wir schon in die nächste Situation gestolpert, nämlich den kürzesten Weg in die Stadt zu finden. Uns selbst, in Situationen verstrickt, bleibt jedoch bei jeder Situationsbewältigung etwas Gravierendes völlig verborgen. Jede Beschäftigung mit der anschaulichen Welt setzt einen Standpunkt voraus, in unserem Beispiel: einen Stand-Ort. Bei jeder Anschauung haben wir Boden unter den Füßen. Es ist in der Tat nicht gleichgültig, von wo aus wir blicken. Der Blickpunkt verweist untrüglich darauf, woher wir gekommen sind. Damit wird jede Anschauung oder Situationswahrnehmung perspektivisch. Wir können nicht anders als mit den „eigenen Augen“ sehen. Und zu diesem Boden, auf dem wir stehen, gehören ebenso unsere Sehgewohnheiten wie unsere Hinsichten und Richtungen der Aufmerksamkeit, unsere Einstellungen. Jedoch: diesen Boden sieht der Schauende selbst nicht, er ist völlig auf sein Gegenüber eingestellt. An diesem Beispiel lässt sich gut nachvollziehen, wie wir die beiden Phänomene, das der Umweltgebundenheit und das der Distanz, zu verstehen haben. Architekturtheorie_Huter.indd 85 23.01.2008 15: 27: 57 Uhr <?page no="85"?> 3. Vorlesung 86 Dass der Mensch Umwelt hat, worauf r othacker gegenüber g ehlen besteht, auch wenn wir sie ganz anders als die tierischen Umwelten begreifen müssen, ergibt sich aus der Erlebnishaftigkeit alles Begegnenden. Wahrnehmen heißt sinnlich erleben. Den Himmel erleben wir heute traurig grau, die Musik ist zum Weglaufen laut, das Holz erscheint uns von einer warmen Härte, die Milch schmeckt säuerlich usw. Jenseits dieser Anmutungen stehen uns Begriffe von Farbigkeit, Lautstärke, Materialität und Geschmack zur Verfügung. Dass wir auch die Farbigkeit des Himmels erklären können, insofern wir unser Hintergrundwissen anwenden, dass wir unterschiedliche Härten von Hölzern bestimmen und dieses Wissen auf konkrete Fälle beziehen, verändert überhaupt nichts an unseren primären Eindrücken und Erlebnissen. Gewiss überschreiten wir mit den denkerisch-wissenschaftlichen Überlegungen unsere primären Umweltbegegnungen, aber diese waren unzweifelhaft überhaupt der Anlass, über gewisse Hintergründigkeit nachzudenken. Wenn wir nun unter „Welt“ das verstehen wollen, zu was uns das Erlebte führt, indem wir es z.B. mit früher Erlebtem vergleichen und daraus unsere Schlüsse ziehen, dann wird damit ja nicht die konkrete Umweltlichkeit des Wahrgenommenen aufgehoben. Insofern wir das umweltlich Erlebte mit unserer Welt konfrontieren, also mit dem Weltwissen, das wir uns schon sprachlich erschlossen haben, dann leisten wir etwas ganz Wichtiges: wir vereinheitlichen unsere vielen Erlebnisse und Eindrücke. Wir passen, mit anderen Worten, jedes neue Erlebnis in unsere Welt ein. Dann wird quasi automatisch aus einer konkreten Anschauung eine Kirche. Wie Kirchen normalerweise aussehen, diese Gestalt ist in meiner Welt schon vorhanden. Unsere Welt ist in der Regel - es sei denn, sie ist aus den Fugen geraten - geordnet. Hat jedoch ein Erlebnis neue und unbekannte Begleitumstände, dann reagieren wir staunend und verwundert, mitunter aber auch ängstlich und abwehrend. Wir suchen dann nach einer Bewältigung durch „Zeitgewinn“, bemühen uns in Ruhe, die Situation zu durchschauen, zu analysieren, mit ihr wissenschaftlich-rational fertig zu werden. Jede Wissenschaft, insofern sie empirisch arbeitet, geht vereinheitlichend und abstrahierend mit dem Beobachteten um. Dabei mag es Abstufungen geben. Nehmen wir z.B. den Maßstab auf Plänen. Je größer der Maßstab, desto grober das Dargestellte, je kleiner der Maßstab, desto detaillierter die Anschauung. Dennoch würden wir, bezogen auf das wirkliche Haus, dessen Plan wir vorliegen haben, davon sprechen, dass wir es mit einer legitimen Ungenauigkeit zu tun haben, „einer logisch widerspruchsfreien Abstufung des gestaltlich Charakteristischen, nach jeweils vor-genommen, vor-gesetzten kartographischen Maßstäben“ 19 . Diese Vereinfachungen haben den Vorteil, etwas übersichtlich darzustellen. Wir können sagen, unser Bewusstsein vereinfacht überhaupt. Es synthetisiert durchweg. Wenn wir feststellen: Der 9 Rothacker 96 , Architekturtheorie_Huter.indd 86 23.01.2008 15: 27: 58 Uhr <?page no="86"?> Soziale Umwelt und menschliche Grundsituation 87 Himmel ist wolkig, dann bedeutet dies eine immense Vereinfachung gegenüber den wirklichen Phänomenen. Das gleiche betrifft unsere Gefühlswelt. Wie unerträglich dünn ist die Feststellung: ich liebe dich, oder ich hasse dich, gegenüber den echten Gefühlsaufwallungen, die wir in unserem Innern erleben. Wie oft hören wir Menschen sagen: „Ich mag dieses Haus sehr“, doch wer würde sich zutrauen, all die erlebten Geschichten zu kennen, die hinter dieser Liebeserklärung sich verbergen. Oder wir hören in einer Siedlung, die die öffentliche Planung als Sanierungsfall beurteilt hat, einen Bewohner auf die Frage nach seinem Befinden antworten: „Ich fühle mich hier wohl“. Welchen Aufwand an lebensweltlichem Nachforschen und Beobachten müssten wir doch betreiben, um tatsächlich etwas von diesem Sichwohlfühlen verstehen zu können. 20 Der Mensch ist also fähig, so fassen wir an dieser Stelle zusammen, das unmittelbar Erlebte zu überschreiten und zu transzendieren. Mögen wir (als Wissenschaftler) auch von noch so vielen Perspektiven wissen, wir sind lediglich in der Lage, in einer Situation eine Perspektive zu vollziehen. Auch Typisierungen und Stilisierungen sind solche Vereinfachungen, die unser Bewusstsein vornimmt, um mit der Fülle und Mannigfaltigkeit des Erlebbaren umzugehen. Jede Stilkunde der Architektur, jede Anthologie der Architekturtheorie vereinfacht, aber sie tut dies unter bestimmten Hinsichten. Sie hebt hervor, was dem Autor wesentlich ist. Sie verdeckt und rückt in den Hintergrund, was ihm überflüssig erscheint. Schauen wir uns eine beliebige „Architekturgeschichte“ an, so werden wir schnell merken, dass bestimmte Architekten und Bauwerke gar nicht oder nur am Rande vorkommen. Warum? Nicht weil diese Architekten und Bauwerke nicht zu unserer gemeinsamen Wirklichkeit gehörten, denn sie sind ja anzusprechen, wir können die Gebäude besuchen. Vielmehr wird der Autor jener Architekturgeschichte uns sagen: „Ich kann ja nicht jedes beliebige Bauwerk in mein Buch aufnehmen. Der Platz, der zur Verfügung steht, ist begrenzt. Ich habe auch nur bestimmte Werke ausgewählt, die in mein Bild von moderner Architektur passen. Ich habe bewusst geprüft, welche Fälle den Kriterien, die ich aufgestellt habe, entsprechen und welche nicht.“ - Wir mögen uns fragen, geht es nicht anders, sozusagen „objektiver“? Im Grunde muss die Antwort lauten: Nein! - weil auch hier gilt: Vollständigkeit von Perspektiven und Hinsichten ist nicht möglich. Ich kann „nur“, von meiner Welt kommend, in die Geschichte eindringen. „Meine Welt“ - das sind die Hinsichten, von denen ich überzeugt bin, und Exzentrizität bedeutet nicht, über die eigene Weltanschauung erhaben zu sein. Um „ich“ zu sein, „muss“ ich meine Gewissheiten und Grundsätze dogmatisch vertreten! Soweit selbst wissenschaftlich-systematische Arbeiten „ein Überzeugungsmoment enthalten, bleiben sie reflek- 0 Vgl. Hahn/ Steinbusch 006 Architekturtheorie_Huter.indd 87 23.01.2008 15: 27: 58 Uhr <?page no="87"?> 3. Vorlesung 88 tierte Dogmatiken, deren innere Logik zwar systematisch ist, deren Sachbezug aber anschaulich bleibt.“ 21 Und was ist mit dem Bauwerk, das ich in der Anthologie vermisse? Für uns ist wesentlich, dass, obwohl wir das Bauwerk nicht in jener Veröffentlichung finden, es dennoch umweltlich erlebbar ist. Menschen bewohnen es oder arbeiten in ihm. Sie werden ihre Erfahrungen damit gemacht haben, es mit Vergnügen betrachten oder auch nicht, unabhängig davon, ob ein Kritiker das Haus für wert und würdig gehalten hat, es in seinem Buch zu erwähnen. Es existiert dennoch, auch wenn es nicht Eingang in ein unter „dogmatischen“ Hinsichten bearbeitetes literarisches Werk gefunden hat. 4 In Situationen verstrickt Es sind immer unsere Situationen, in die wir verstrickt sind und in der unsere Antwort gefordert ist. Und keine Situation ist mit einer anderen restlos identisch. Insofern wir also nur in Situationen oder Lebenslagen handeln, macht dieses In-Situationen-verstrickt-sein die spezifische menschliche Umwelt aus. Deshalb kann r othacker auch sagen: „Umwelt und Situation sind aber dasselbe. Aus Situationen besteht eine Umwelt; nicht die Welt, nicht der Gegenstand besteht aus Situationen, sie sind situationsfrei. Aber handeln kann ich nur in konkreten situativen Umwelten. Das ist Grund genug, um einzusehen, weshalb wir in Umwelten hängen bleiben und in Umwelten zurückfallen“. 22 Wir Menschen befinden uns immer in einer Situation. Immer ist eine dynamische Beziehung zur umgebenden Wirklichkeit dar. Wahrnehmend und deutend, redend und reagierend gehe ich auf bestimmte Bestandteile dieser Wirklichkeit ein. Darin schon ist der aktive Anteil unserer Sinne beim Zustandekommen einer Situation angesprochen. a ristoteles hat das Sehen als das Werk des Auges aufgefasst. Wenn unsere Sinne eine Aktivität des Leibes sind, dann ist das Sehen, Hören, Tasten, Riechen und Schmecken wirkliches Tun des Leibes. Wir „schaffen“ dann sozusagen die Situation, jedenfalls sind wir an ihrem Aufkommen beteiligt, auf die wir dann reagieren. Wir sind aktiv beteiligt an dem, was uns begegnet. Wir können aber nur handeln, wenn wir auch eine Auffassung von der Situation haben. Ziehen wir automatisch unsere Hand von der heißen Kochplatte zurück, dann haben wir nicht gehandelt. Erst anschließend reagieren wir auf die Situation der schmerzenden Hand. Es widerfährt uns in einer Diskussion die Aussage eines Kontrahenten ja nur insofern, als wir seine Worte auch verstehen. Sie müssen uns etwas zu sagen haben, aber es gibt keine automatisch oder objektiv richtige Antwort. Wir können freilich auf eine Frage mit einer Gegenfrage reagieren, wir müssen Rothacker 966, 5 Rothacker 96 , 7 Architekturtheorie_Huter.indd 88 23.01.2008 15: 27: 58 Uhr <?page no="88"?> Soziale Umwelt und menschliche Grundsituation 89 sie nicht beantworten. Das heißt, wir haben gewisse Freiheiten, wie wir uns in Situationen bewegen, aber es bleibt immer eine Situation, die wir zu bewältigen haben. Einer Diskussion aus dem Wege zu gehen, sie abzubrechen, gewisse Anspielungen des Partners zu überhören, all dies sind Versuche, mit einer Situation fertig zu werden. Jede Entwurfs- oder Planungsaufgabe bringt den Architekten in eine Situation, auf die er so oder so reagieren kann. Situationen zu meistern, wird zu einer Aufgabe, die man besser oder schlechter bewältigen, die einem gelingen oder auch misslingen kann. Es handelt sich immer um jemandes Situation, der sie zu seiner macht, indem er sie deutend erfasst. Egal wie man eine Situation auffasst, das obige Beispiel zeigt, dass es viele Möglichkeiten zu ihrer Auslegung gibt. Etwas Wahrgenommenes spricht uns situativ an. Das Mentale ist hier das Entscheidende: Es gibt niemals bloße Tatbestände. Ein Tatbestand geht auf eine Beschreibung zurück, die ich mir davon mache. Solche Beschreibungen von Tatbeständen sind Wirklichkeitsdeutungen, die eine Situation völlig wandeln können. Unsere Reaktionen, Antworten und Handlungen sind in der Regel sichere Beweisstücke, an denen wir im Nachhinein uns klar darüber werden, wie wir etwas verstanden haben. Beobachtung und Beschreibung sind nichts Äußerliches oder Neutrales, denn der Beobachtende ebenso wie der Beschreibende geht selbstverständlich mit ein in das, was von ihm beobachtet und beschrieben wird. Alles, was irgendwie auf eine menschliche Aktivität hinweist, geschieht in einer innerweltlichen Situation, zu der man sich bereits gestellt hat, insofern man erlebt. Nur so gewinnen wir eine Ansicht der Dinge. Auch der Wissenschaftler „theoretisiert“ in konkreten Situationen, in denen ihm etwas Interessantes einfällt oder auch nicht. Ja, und das muss uns besonders interessieren, auch das architektonische Entwerfen geschieht selbstverständlich in Situationen. Die Lösung einer Entwurfssituation geht entschieden darauf zurück, wie man die Situation selbst deutet. Hier hängt vieles davon ab, wie kreativ wir in unseren Deutungen sind. So mag es durchaus ein Auffassungstalent geben, das sich weiter schulen lässt. „Im Gewahrwerden antwortet der Mensch auf eine Veränderung seiner Lage mit dem Entwurf einer angemessenen Deutung des situativen Geschehens“ 23 . Dieses „Entwerfen“ kann mehr oder weniger schöpferisch sein. Es bleibt aber stets gebunden an die in Gang gebrachte Einbildungskraft dessen, der hier eine Antwort auf seine Lage gibt. An diesem Komplex Lage- Antwort ist der ganze Organismus, der ganze Mensch beteiligt. Körper, Seele und Geist, um es traditionell auszudrücken, alles ist bei der Situationsaufnahme und -deutung in Bewegung. Es liegt hier eine große Zahl von äußeren und inneren Ausdrucksbewegungen vor. Plötzlich machen wir ein aufmerk- A.a.O., 5 Architekturtheorie_Huter.indd 89 23.01.2008 15: 27: 58 Uhr <?page no="89"?> 3. Vorlesung 90 sames Gesicht und spüren, wie uns das Blut in den Kopf steigt. Durch den ganzen Körper geht ein Ruck. Die Lösung ist gefunden - oder doch nicht. Gerade an der Gesamtreaktion des Leibes wird deutlich, dass wir es mit der Wirklichkeit zu tun haben. Unser Wort „Wirklichkeit“ hängt mit Wirken und Wirkung eng zusammen. Wirklich im lebensweltlichen Beispiel ist das, was wirkt, was Wirkung erzielt. Für uns Menschen, die wir in Situationen verstrickt sind, besteht unsere Wirklichkeit aus dem, was auf uns einwirkt, was eine Reaktion bei uns auslöst. Die Wirklichkeit des Antwortens ebenso wie die Tatsache der motorischen und emotionalen Erregung sind Anzeichen und Kriterien dieses Für-wirklich-nehmens und Für-wahr-haltens. In jedem Fall haben wir den Zusammenhang von Lage und Antwort bzw. von Widerfahrnis und Handlung zu vergegenwärtigen. Die Wirklichkeit ist eine Herausforderung, aber sie trifft jeden auf eine besondere Art. Jeder gibt seinen Reaktionen ein individuelles Gewicht, und nur an diesem Antwortverhalten zeigen wir, wie gewichtig uns das Erlebte oder Widerfahrene ist. Wir sind jetzt so weit fortgeschritten, dass wir eine wichtige Unterscheidung treffen können. Es ist nämlich notwendig, zwischen momentanen Situationen, die wirklich etwas Neues für uns bereithalten, und Dauersituationen zu unterscheiden. Den größten Teil unseres Alltagslebens bewegen wir uns zwischen Dauersituationen. Darunter verstehen wir Situationen, die wir mit einer gewissen Routine bewältigen. Tätigkeiten, die sich tagtäglich wiederholen: Zähneputzen, Frühstücken, Autofahren, Einkaufen usw. All diese Dinge verrichten wir beinahe automatisch, sind kaum bei der Sache, machen verschiedene Sachen gleichzeitig: Zeitung lesen, Radiohören, Brote schmieren. Jeder kennt dies. Bei all dem gibt es nicht viel zu erleben. Solche Dauersituationen strukturieren unsere Umwelt und machen unser Alltagsleben aus. Dazu gehören selbstverständlich auch beruflich eingeübte Standards. Das Lesen von Fachzeitschriften, der Austausch mit Kollegen, das pauschale Fällen von Urteilen usw. Aber auch unsere Art und Weise die Welt zu sehen, standardisiert sich. Wir reagieren im Alltag mit Typisierungen: Bewohner, Architekten, Techniker - wir haben bestimmte sichere Vorstellungen, wie sie sich verhalten und was von ihnen zu halten ist. Unsere Perspektive auf die Welt hat sich eingeschliffen. Wir sind fest davon überzeugt, dass sich die Erde um die Sonne dreht, ohne dass einer von uns das tatsächlich überprüft hätte. Wir können nicht jedem Phänomen auf die Spur kommen, sondern sind in der Regel damit zufrieden, wenn wir Anzeichen haben, unser Vor-Urteil zu bestätigen. Die Summe unserer Überzeugungen und unseres naiven Glaubens an das So-Sein der Welt - diese Summe macht unser Weltbild aus. Nur punktuell wird dieser Alltagstrott durchbrochen von wirklichen Ereignissen und echten Widerfahrnissen. Die aus deren „Bearbeitung“ gewonnene Erfahrung kann unsere Dauersituation verändern. Der Umzug in eine Architekturtheorie_Huter.indd 90 23.01.2008 15: 27: 58 Uhr <?page no="90"?> Soziale Umwelt und menschliche Grundsituation 91 andere Stadt, mehr noch in ein fremdes Land ist in vielerlei Hinsicht ein Neubeginn. Wir können uns noch so sehr darauf einstellen und uns gut vorbereiten. Es gibt keine Möglichkeit, eine noch nicht eingetretene Situation im Voraus zu „bearbeiten“. Wir können Situationen distanzieren, auch analysieren. Der Mensch braucht sich nicht von ihr restlos gefangen zu nehmen, wie das Tier in seiner Situation gefangen ist. Der Mensch kann sie durchschauen, aber leiblich bewegt er sich weiter in ihr, insofern er mit ihr fertig werden, sie bewältigen muss. Theoretisch kann er alles Mögliche mit ihr anstellen, praktisch bleibt er jedoch immer in sie verstrickt. Architekturtheorie_Huter.indd 91 23.01.2008 15: 27: 59 Uhr <?page no="91"?> 4. Vorlesung Jenseits der Zuschauerperspektive: Wahrnehmung als sinnliche Begegnung mit der Welt In dieser Vorlesung wollen wir begründen, dass Bauwerke nicht „von sich aus“ Objekte der menschlichen Vorstellung sind, sondern Phänomene. Das hängt mit der Einsicht zusammen, dass wir unsere Welt allein in der sinnlichen Wahrnehmung und Anschauung erfassen können. Das ausgehende 9. Jahrhundert, das schon veritable Disziplingeschichten wie die der Ästhetik und der Kunstwissenschaften in seinem Rücken hat, ging von anderen Ursprungsideen aus, als es nach dem „Wesen“ der Architektur fragte, als noch V itruV . Die klassische Architekturtheorie, insofern sie sich als eine ästhetische Disziplin zu fundieren hoffte, behauptete stets, dass das betrachtende Subjekt einem vorgestellten Objekt gegenüber steht. Paradigmatisch für dieses Vorurteil können die architekturpsychologischen Ansätze von W ölFFlin , s chmArsoW und F rey angeführt werden. Erst der Phänomenologie gelang es, diese verstandzentrierte Erkenntnisweise zu überwinden. 1 Zur Zuschauerperspektive der Ästhetik Auch die Ästhetik hat sich in den letzten 250 Jahren zu einer wissenschaftlichen Disziplin im Zeichen der Neuzeit herausgebildet. 2 War sie ursprünglich eine Lehre vom Schönen, so hat sie sich inzwischen als eine Lehre von den Objekten der ästhetischen Betrachtung etabliert. 3 Eine Logik, die sich ganz auf die Erkenntnis von Objekten richtet, hatte k ant (172 -1 0 ) propagiert. k ant s Genialität wird in der Revolution des Denkens sichtbar, die er in Nachahmung der Mathematik und der Naturwissenschaften durchgesetzt hat. Worin liegt die „Umänderung der Denkart“, die k ant vorgenommen hat? „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe Vgl. Wölfflin 886; Schmarsow 89 ; Frey 9 5 Zur Geschichte der Ästhetik und seiner Begriffsverwendung vgl. den Artikel „Ästhetik“ von Joachim Ritter, in: Ritter 97 Vgl. z.B. die Ausführungen von Georg Picht, in: Picht 986 Architekturtheorie_Huter.indd 92 23.01.2008 15: 27: 59 Uhr <?page no="92"?> Wahrnehmung als sinnliche Begegnung mit der Welt 93 auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas feststellen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände, es auf ähnlich Weise versuchen.“ Hatte k oPernikus den Ort der Sonne zum Bezugspunkt der Weltbeschreibung gewählt, so bestimmte k ant den Verstand als einen solchen zentralen Ruhepunkt, um den sich von nun an die Gegenstände zu bewegen hatten. 5 k ant beschreibt darin eine Denkensart, die auf Erkenntnisse zielt, die das „Objekt der Sinne“ nach der Beschaffenheit des subjektiven Anschauungsvermögens erkennt. Die Begriffe, unter denen sich die Bestimmung des Objekts zu fügen hat, leiten sich aus Verstandesregeln ab, die „ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muß“. Nach diesen Begriffen a priori „(müssen) sich also alle Gegenstände der Erfahrung notwendig richten und mit ihnen übereinstimmen“. Damit hatte k ant eine wissenschaftliche Einstellung zur Anschauung festgelegt im Sinne einer begrifflichen Unterordnung der Phänomene unter die Logik des Bestimmens als Objekte. Demnach seien Phänomene an sich Objekte und entsprechend einer objektiven Erkenntnis zu unterziehen. Unterordnung unter die Logik des Bestimmens bedeutet den Vorgang, dass man das Phänomen so in eine Sicht rückt, dass sich eindeutige Aussagen machen lassen. Der Betrachter (bei k ant : der „Zuschauer“) entwickelt im Vorhinein ein begriffliches System, unter das er das Phänomen derart zwingt, dass objektiv-logische Aussagen möglich werden. Damit sind wir wieder auf den Ausdruck Perspektive (Sicht) gestoßen und fragen uns, ob die Perspektive des Objekts, die k ant für die neuzeitlichen Naturwissenschaften als bindend erkannt hat, die einzig mögliche ist, wie ein Phänomen angeschaut werden kann. 6 Um uns diesen Zusammenhang zu erschließen, müssen wir uns auch über die Wahrnehmung unterhalten. Der in diese Subjekt-Objekt-Perspektive verstrickte Ästhetiker nimmt darin die Rolle des unbeteiligten Zuschauers ein. Auch wenn W ölfflin , Kant 956, KdrV, Vorrede zur . Aufl., B XVI ff. 5 Vgl. Kaulbach 98 6 „Der Name ‚Objektivität‘ bezeichnet also das System von Regeln für eine in den Gesetzen der Logik vorgezeichnete, den Phänomenen selbst widersprechende Perspektive. Ein Objekt ist ein unter diese Perspektive gerücktes Phänomen“, Picht 986, 05 Architekturtheorie_Huter.indd 93 23.01.2008 15: 27: 59 Uhr <?page no="93"?> 4. Vorlesung 94 -S chmarsow -und-F rey inihren-verdienstvollen-Aufsätzen-die-Architekturinden-Mittelpunkt-stellen-und-dort-von-einer-Vorstellung-vom-Menschen,-seiner-Wirklichkeit,-und-seiner-Welt-(„Realität“)-ausgegangen-wird,-dann-in-der- Regeldochso,dasssiedasunterstellte- Wesendes- Menschen,oderbesser: sein-Menschsein,-als-bekannt-voraussetzen-und-es-nicht-für-nötig-halten,-esnäher-zu-beleuchten.-Was-jeweils-„Subjekt“-genannt-wird,-scheint-jedenfallskeinen-wirklichen-Ort-in-der-Welt-zu-haben.-Dieses-„Subjekt“-hat-weder-Geschichte-noch-Biographie,-aus-denen-sich-ein-Vorverständnis-von-Architektur-und-Erfahrungen-mit-der-gebauten-Umwelt-nachvollziehen-oder-herleiten-lassen.-Was-als-„Subjekt“-vorgebracht-wird,-ähnelt-eher-einem-Phantomals-einem-vernünftigen-Menschen,-der-in-einer-Welt-gemeinsam-mit-anderenwohnt-undlebt.-Dagobert-F rey -fragt-nicht-nach-dem-Menschen,in-dessenvertrauter- Welt- Architekturundandere- Künste- „wirklich“auftauchenundoffensichtlichein- Bedürfnisbefriedigenund- Wohlgefallenauslösen,sondernerunterscheidet- Architekturvondenanderen- Künstenanhandeines- Begriffsvon- „ästhetischer“- Wirklichkeit,undsuchtauf diese- Weisenachdem- „Wesender- Architektur“.- Indieserabgehobenen- Sonder-„Welt“der- Kunstwerkeundihrer- Betrachtunggibtesnurschöpferische- Künstlerundgut-informierte-Kunstinterpreten.-So-dürfen-wir-uns-nicht-darüber-wundern,dass,-sobald-F rey -Architektur-als-Kunstwerk-aufruft,-alles-leiblich-Sinnliche,ja-die-außerwissenschaftliche-Lebens--und-Erfahrungswirklichkeit-als-Ganze,vonder- Architekturabfällt.- Architekturwird- Objekteiner- „ästhetischen“- Untersuchung.-Das-„Wesen“-der-Architektur,-das-uns-versprochen-wird,-sollsichalleineinerkunst-wissenschaftlichen- Überprüfungerschließen.- Deren- Subjektistderaufgeklärte-Kunstkenner,dersichkontemplativ-wissendgegenüberdem- Architekturwerkverhält.- Aberdiepraktische- Lebenswelt,indiefreilichauchunser-Ästhetund-Kunstwissenschaftler,ister- „aus- Fleischund- Blut“,verstricktbleibt,wirdnichtalsderalleintragende- Bodenangesehen,auf demjedermannseine- Erfahrungmiteinem- Bauwerküberhauptnur machen kann. Wie soll dies auch möglich sein, wird doch geflissentlich unterstellt,-dass-der-Leser-prinzipiell-außerhalb-der-Architektur-und-des-architektonischen- Raumesstehtunddasseine-Ästhetikoder- Kunstwissenschaftdie-Aufgabe-hat,-ihn-in-das-Gebiet-der-Architektur-hineinzuführen.-Vielleichtistesaberumgekehrt,insofernunsdiese- „ästhetischen“- Einleitungendas- Phänomen-Architektur-überhaupt-verstellen. Architekturtheorie_Huter.indd 94 31.01.2008 11: 14: 06 Uhr <?page no="94"?> Wahrnehmung als sinnliche Begegnung mit der Welt 95 2 Die Entdeckungen der Phänomenologie Das k ant sche Verfahren hat sich weitgehend in der Ästhetik durchgesetzt. Wichtige aktuelle Ausnahmen sind die Ästhetiken von Martin s eel (*195 ) und Gernot B öhme (*1937). Bereits Georg P icht (1913-19 2) hat sich in seiner Vorlesung „Kunst und Mythos“ vom Sommersemester 1973 für eine Ästhetik als Wahrnehmungslehre eingesetzt. 7 Unter dem eingedeutschten Ausdruck Ästhetik hatte A. G. B aumgarten (171 -1762) den lateinischen Ausdruck „aesthetica“ 1750 in die Philosophie eingeführt. Es ist schon einer handfesten Verkennung der Begriffsgeschichte zuzuschreiben, darunter eher ein kunstrichterliches Urteil zu verstehen als eine Weise des sinnlichen Aufnehmens. Das griechische aisthesis bedeutet „Wahrnehmung, Empfindung“. Damit hat die Wissenschaft von der Kunst, die Ästhetik, das ästhetische Verhalten zu den Erscheinungen (Phänomenen) als ein logisches Bestimmen zu ihrem Maßstab gewählt, dem wir nicht folgen müssen und können. Fragen wir nach dem lebensweltlichen Dasein der Phänomene, messen wir den Erscheinungen eine andere Wirklichkeit zu. Eine neue Sicht auf die Wahrnehmung und das Wahrgenommene verdanken wir der Phänomenologie, die Edmund h usserl (1 59-193 ) mit der Veröffentlichung des 1. Bands der „Logischen Untersuchungen“ (1900) begründete. Über die rein philosophischen Grenzen bekannt geworden ist die Maxime der Phänomenologie: „Zu den Sachen selbst“. Wir werden uns zunächst mit einigen Grundzügen der Phänomenologie vertraut machen. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Vorlesungen von Martin h eiDegger aus dem Sommersemester 1925, in denen er die Phänomenologie kritisch würdigt, sowie auf das Standardwerk von Wilhelm s zilasi (1889-1966) Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls. Der Ausdruck „Phänomen“ ist griechischen Ursprungs. Er geht auf das Partizip phaimenon zurück, was bedeutet: das, was sich zeigt. Das entsprechende Verb heißt phaimestai, deutsch: sich zeigen. Man muss darauf achten, dass man nicht den deutschen Ausdruck „Erscheinung“ heranträgt, da dieser vieldeutig ist und als „bloße Erscheinung“ (Schein) oder in der Differenz von „Wesen und Erscheinung“ nicht die Bedeutung von Phänomen trifft: nämlich „das an ihm selbst offenbare Seiende selbst“ (h eiDegger ). Begegnen wir in der Wahrnehmung einem Phänomen, dann wird das „Phänomenale“ an ihm selbst sichtbar. Wir wollen uns damit nur insofern beschäftigen, als wir uns einen sicheren Begriff von der Wahrnehmung verschaffen müssen. Dazu wird es notwendig sein, die drei hauptsächlichen Entdeckungen der Phänomenologie zu referieren. Die erste Entdeckung ist mit dem Ausdruck der „Intentionali- 7 Vgl. Picht 986 Architekturtheorie_Huter.indd 95 23.01.2008 15: 27: 59 Uhr <?page no="95"?> 4. Vorlesung 96 tät“ benannt. Intentio heißt „Sich-richten-auf“. „Jedes Erlebnis, jede seelische Verhaltung richtet sich auf etwas. Vorstellen ist ein Vorstellen von etwas, Erinnerung ist Erinnerung von etwas, Urteilen ist Urteilen über etwas, Vermuten, Erwarten, Hoffen, Lieben, Hassen - von etwas“. Der Phänomenologie geht es darum, das schlichte Wahrnehmen und Festhalten 9 des Wahrgenommenen in seiner ganzen Selbstverständlichkeit nüchtern und sachlich zu untersuchen. Wahrnehmungen sind eingepasst in unseren lebensweltlichen Alltag. Ich nehme die Eingangstür eines Gebäudes wahr, da ich eine bestimmte Hausnummer suche, die über der Tür angebracht ist. Anschließend bediene ich einen Klingelknopf. Alltagsweltlich haben wir es durchweg mit solchen konkreten natürlichen Wahrnehmungen zu tun und nicht mit einem expliziten Wahrnehmen des hinstarrenden Prüfens. Was macht die Selbstverständlichkeit der Wahrnehmung aus? „Die natürliche Wahrnehmung, wie ich in ihr lebe, wenn ich mich in meiner Welt bewege, ist meist nicht ein eigenständiges Betrachten und Studieren der Dinge, sondern geht auf in einem konkreten praktischen Umgehen mit den Sachen; sie ist nicht eigenständig, ich nehme nicht wahr, um wahrzunehmen, sondern um mich zu orientieren, den Weg zu bahnen, etwas zu bearbeiten.“ 10 Damit ist ein Verhalten beschrieben, und wir sehen, dass dieses Verhalten, eine bestimmte Hausnummer an einem Gebäude zu suchen, von seiner Struktur her selbst intentional ist. Ihre Basis ist Orientierung in der Welt, diese konkretisiert sich hier als mein Verhalten zu dieser Tür: Ich drücke den Klingelknopf. Auch die mit diesem Verhalten verbundenen Erlebnisse sind als solche intentionale. Erlebnis wie Wahrnehmung begleiten mich ständig bei meinen alltäglichen Besorgungen und Angelegenheiten. Sie sind absolut notwendig, um mich in meiner Welt immer wieder neu zurechtfinden zu können. „Wahrnehmen ist kein eigenständiges Betrachten oder Studieren der Dinge, sondern ein dienendes und verbindendes Moment des Daseinsvollzuges“. 11 Tagtäglich nehme ich Dinge (reale Objekte) wahr, die in meinem Leben eine mehr oder weniger bescheidene Rolle spielen, wie die rote Ampel, an der ich fast reflexartig Halt mache. Ich nehme aber auch Gegenständliches von der Art eines freundlichen Winkens des Nachbarn wahr, das nicht Objekt ist. Ferner nehme ich Gegenstände wahr, die überhaupt nicht sind, wie z. B. nach dem Konsum halluzinogener Drogen, schließlich Objekte, die mich in ihrer Gegenständlichkeit täuschen: eine Maus, die sich bei näherer Untersuchung als ein vom Luftzug bewegtes welkes Blatt entpuppt. 8 Heidegger ( 9 5) 988, 7 9 Schlicht im Sinne von „natürlich“, unverstellt, alltäglich 0 A.a.O., 7 f. Szilasi 959, 5. Architekturtheorie_Huter.indd 96 23.01.2008 15: 27: 59 Uhr <?page no="96"?> Wahrnehmung als sinnliche Begegnung mit der Welt 97 3 Umweltding, Naturding, Bildding Bislang haben wir das Wahrnehmen als solches besprochen. Nun richten wir unsere Aufmerksamkeit auf das Wahrgenommene der Wahrnehmung. Was ist damit gemeint? Das Schild über der Tür, auf dem die Zahl 7 zu lesen ist. Die intensiv blau angestrichene Eingangstür, den metallenen Klingelknopf. Was ich wahrnehme, sind keine „Vorstellungen“ von einem Schild, von einer Tür, von einer Klingel, sondern die Dinge selbst. Was sehe ich in meiner „natürlichen“ Wahrnehmung, was kann ich über die Haustür aussagen? Ich kann ihren Zustand mit den Kratzern und Beschädigungen beschreiben, dass offensichtlich ihre ursprüngliche Farbe Orange war. Ich werde auf das kleine schmutzige Karofenster im oberen Drittel der Tür aufmerksam machen, das den Blick von innen auf den Besucher freigibt. Es ist also die ganz bestimmte Geschichte dieser Tür, die ich Punkt für Punkt in ihrer Banalität erzählen kann. Alles in allem beschreibe ich ohne großen Aufwand das Wahrgenommene dieser „natürlichen“ Wahrnehmung als Umweltding. Andere Bestimmungen lassen sich klären und beschreiben, wenn ich Holzart und Oberfläche der Tür untersuche, ihre Maße überprüfe, die Schwere der Türe berechne, ihre Feuerbeständigkeit und Schalldichte feststelle. Mit einigen Axthieben ließe sie sich freilich auch zerstören wie alles, was aus dem „Stoff“ Holz hergestellt ist. Wieder ist das Wahrgenommene selbst Thema der Aussagen, nicht Vorstellungen und Empfindungen, „und doch handelt es sich um andere Bestimmtheiten des Dinges als die vorigen“ 12 . Was nun bestimmt wurde, lässt sich von jedem beliebigen Stück Holz aussagen. Das Umweltding Tür tritt in den Hintergrund. Das Herausgestellte bestimmt die Tür nicht als Tür. Uns interessiert momentan nicht, dass das Wahrgenommene eine Tür ist, sondern die Tür wurde von uns als Naturding bestimmt. „Das Wahrgenommene ist Umweltding; es ist aber auch Naturding. Wir haben für diesen Unterschied in unserer Sprache sehr feine Unterschiede in der Art, wie die Sprache selbst die Bedeutung und den Ausdruck bildet. Wir sagen: Ich schenke Rosen; ich kann auch sagen: Ich schenke Blumen, nicht aber: Ich schenke Pflanzen. Die Botanik aber zerlegt nicht Blumen, sondern Pflanzen. Der Unterschied von Pflanze und Blume, welches beides von derselben Rose ausgesagt werden kann, ist der Unterschied von Natur- und Umweltding. Rose als Blume ist Umweltding, Rose als Pflanze Naturding.“ 13 Es gibt noch eine weitere, dritte Ebene des Wahrnehmens, der ich nachgehen kann. Zum Ding als solches gehört notwendigerweise Materialität, Ausdehnung, Farbe, Stelle und Beweglichkeit im Raum usw. All dies kann ich am Einzelding herausholen, da es an ihm vorfindlich ist. Aber nur dann, wenn ich das Ding (die Tür) weder als Umweltding noch als Naturding untersuche und beschreibe. Heidegger a.a.O., 9 A.a.O., 9 f. Architekturtheorie_Huter.indd 97 23.01.2008 15: 28: 00 Uhr <?page no="97"?> 4. Vorlesung 98 Stattdessen nehme ich mir die Dinglichkeit selbst vor. Die Kriterien der Materialität, Ausdehnung, Farbe usw. kommen jedem beliebigen Naturding zu: „Strukturen, die die Dinglichkeit des Dinges ausmachen, Strukturmomente des Naturdinges selbst, Sachhaltigkeiten, die aus dem Gegebenen selbst herausgelesen werden“. 1 Die Phänomenologie behauptet, dass in allen drei Fällen von dem ausgegangen wurde, was vom wahrgenommenen Ding an ihm selbst „gesehen“ wurde. Was meint man aber mit „sehen“? Gemeint ist jedenfalls nicht das rein „optische Empfinden“. „Sehen“ wird vielmehr gebraucht im Sinne von „schlichter Kenntnisnahme des Vorfindlichen“ oder „vernehmen“. Alles Wissenschaftliche wird absichtlich unterdrückt. Dieses Sehen soll „naiv“ sein. So sehen wir beispielsweise unserer Tür an, dass sie billige Fabrikware ist. Oder ich sehe der Blume in der Vitrine an, dass sie aus einem künstlichen Material besteht. Dies können wir, ohne dass wir zusätzlich die Empfindung einer Fabrik oder eines bestimmten Kunststoffs hätten. Es handelt sich vielmehr um ein schlichtes Ablesen am Gegebenen selbst, ein Vernehmen dessen, wie es sich um eine Sache verhält. Für s zilasi liegt das Charakteristische des „Etwas“ in der Aussage: „Jede Wahrnehmung als solche ist Wahrnehmung von etwas“, nicht im Hinschauen auf Dinge, sondern in der Kenntnisnahme von Sachverhalten. 15 Wir werden darauf noch zu sprechen kommen. Ein weiterer Schritt ist zu tun, indem wir von dem wahrgenommenen Seienden selbst (die Tür als Umweltding, als Naturding bzw. die Dinglichkeit der Tür) nun das abheben, wie sich das wahrgenommene Seiende in konkreter Wahrnehmung zeigt. Jetzt interessiert uns das „Seiende in der Weise seines Intendiertseins“ 16 . Auch diesmal vermeidet es die Phänomenologie, sich auf irgendwelche psychologischen Theorien zu beziehen, es geht ihr allein darum, den Unterschied zu den drei Arten der Dinglichkeit hervorzuheben. Das Haus und die dazugehörige Eingangstür, die ich endlich in der Straße gefunden habe, haben den Charakter der Leibhaftigkeit. Die Tür zeigt sich mir als Seiendes mit dem Charakter des Leibhaft-da. Selbst-gegeben und leibhaft-gegeben unterscheiden sich. Vergegenwärtige ich mir im Hörsaal den Dresdner Zwinger in seiner barocken Pracht und versetze mich dabei vor seinen Eingang, dann ist das Gebäude zwar „selbst“ gegeben, aber nicht originär-leibhaftig. Erst wenn ich den Hörsaal verlasse, mich zum Zwinger begebe und mich vor ihn stelle, ist er leibhaftig da. „Leibhaftigkeit ist ein ausgezeichneter Modus der Selbstgegebenheit eines Seienden.“ 17 Das Vorstellen des Zwingers ist schließlich auch als „Leermeinen“ möglich. In einem Gespräch erkläre ich jemandem den Weg zur Elbe und mache ihn darauf 5 5 Vgl. Szilasi a.a.O., 6 6 Heidegger a.a.O., 5 7 5 Architekturtheorie_Huter.indd 98 23.01.2008 15: 28: 00 Uhr <?page no="98"?> Wahrnehmung als sinnliche Begegnung mit der Welt 99 aufmerksam, dass er neben anderen Gebäuden auch den Zwinger passieren wird. Wieder meine ich den Zwinger selbst, aber ich vergegenwärtige mir nicht sein Aussehen, vielmehr meine ich das Gebäude im Sinne des Leermeinens. Leer heißt: das Gemeinte ist zwar selbst und direkt intendiert, aber ohne jede anschauliche Erfüllung. In unseren Alltagsgesprächen kommt Architektur auf diese Art des Leermeinens besonders häufig vor. Wir reden oft gedankenlos über die Häuser unserer Stadt, dass sie uns gefallen oder nicht gefallen, was wir dort erlebt haben, ohne das Gesagte einsichtig zu vollziehen. Das muss aber nicht bedeuten, dass wir Unsinn geredet haben. Vielmehr wissen und verstehen wir die Richtigkeit der Aussagen, ohne uns jedoch die einzelnen Häuser originär zu vergegenwärtigen. „Wir meinen die Sachen selbst, nicht Bilder oder Vorstellungen von ihnen, dennoch haben wir sie nicht anschaulich gegeben.“ 1 Damit ist schon auf eine weitere Art des Vorstellens vorgegriffen, nämlich auf die Bildwahrnehmung. Leibhafte Wahrnehmung, Leermeinen und Bildwahrnehmung gehören nicht zu den Dingen (z. B. einer Fotographie), auf die sie sich irgendwie beziehen, sondern allein zur aktuellen Situation des jeweiligen Intendierens. Wenn ich beispielsweise eine Bildpostkarte vom Dresdner Zwinger betrachte und eine Aussage über die Architektur mache, dann meine ich nicht die Karte, sondern das Bauwerk selbst. Eine Bildwahrnehmung unterscheidet sich deshalb auffällig von den bislang erörterten Fällen. Ich schaue mir also eine Fotographie vom Zwinger an. Wieder habe ich etwas leibhaft gegeben, jedoch nicht den Zwinger originär, sondern die Fotographie. Dieses Foto, das ich in der Hand halte, ist selbst ein Ding, so wie die Haustür oder der Zwinger je ein Ding sind. Aber dieses Ding ist ganz anders ein Ding, als der Zwinger ein Ding ist. Der belichtete Fotokarton ist ein Bild-ding. „Es wahrnehmend, sehe ich durch es hindurch das Abgebildete“, nämlich den Zwinger. „In der Bildwahrnehmung erfasse ich nicht thematisch das Bildding, sondern wenn ich eine Ansichtskarte sehe, sehe ich - natürlich eingestellt - das darin Abgebildete“. 19 Am Beispiel der Bildwahrnehmung erklärt h eiDegger die fundamentalen Erkenntnisse der Phänomenologie, die die Vorstellung vom Bewusstsein, wie sie sich die Psychologie der Zeit davon machte, revolutionierte. Das Vorurteil bestand damals (und besteht heute möglicherweise immer noch) darin, Bildwahrnehmung als Wahrnehmung schlechthin zu verstehen. Im Bildbewusstsein, so hat unser Beispiel von der Fotographie gezeigt, sind das Bildding (das belichtete Fotopapier) und das Abgebildete (die Ansicht vom Zwinger). Was immer ein Bildding nun tatsächlich sein mag, ob eine Tafel, eine Leinwand, eine Ansichtskarte, es ist niemals bloß Ding als Umweltding und Naturding. Vielmehr zeigt es etwas, das Abgebildete selbst. Diese mögliche Vielfalt an 8 5 9 55 Architekturtheorie_Huter.indd 99 23.01.2008 15: 28: 00 Uhr <?page no="99"?> 4. Vorlesung 100 Wahrnehmung habe ich aber nicht in der schlichten Wahrnehmung und Erfassung eines Objekts wie einer Tür. Darin findet sich kein Bildbewusstsein irgendwelcher Art. „Es läuft jedem schlichten Befund des einfachen Objekterfassens zuwider, wenn man diesen Befund so interpretiert, als würde ich zunächst, wenn ich dieses Haus da sehe, ein Bild in meinem Bewußtsein wahrnehmen, so daß ein Bildding gegeben und dieses Bildding hernach als abbildendes aufgefaßt würde, nämlich als Abbild des Hauses da draußen, d. h. innen ein subjektives Bild und draußen, transzendent, das Abgebildete. Davon ist nichts vorfindlich, sondern im schlichten Sinn der Wahrnehmung sehe ich das Haus selbst.“ 20 So zahlt es sich aus, dass die Phänomenologie von der schlichten Beschreibung des phänomenologischen Befunds ausgeht, getreu ihrer Devise: „zu den Dingen selbst“, und nicht zunächst Theorien aufstellt, um anschließend die Wahrnehmung so zu biegen, dass sie der Theorie auch entspricht. Vielmehr kann sie zeigen, dass die Intention selbst fähig ist, das mögliche Worauf des Gesichteten zu variieren - mal als Leermeinen, mal als originäres Sehen, mal als Bildwahrnehmung. 21 4 Intentionalität heißt: bei den Dingen sein Wir hatten oben schon davon gesprochen, dass der Fall gegeben ist, in der für die Wahrnehmung das wahrgenommene Seiende leibhaft da ist. Nun ergänzen wir: Hinzu tritt als weiteres Moment der konkreten Dingwahrnehmung seine Ganzheit. Kommen wir noch einmal zu unserer Haustür zurück. Wenn ich diese bekannte Tür sehe, so sehe ich nur eine bestimmte Seite von ihr und nur einen Aspekt. Ich sehe vielleicht nur den Ausschnitt um die Türklinke, da ich diese gleich ergreifen und bedienen werde, und am Rand dieser Sicht nehme ich noch schattenhaft das kleine Rautenfenster wahr. Als Aspekt interessiert mich in dieser Situation nur das Geschlossen-sein der Tür, nicht aber ihre Machart, sowie die Möglichkeit, sie zu öffnen. Dennoch glaube ich keine Sekunde, dass die Tür nur aus dem für mich unmittelbar Sichtbaren und Wahrgenommenen besteht. Sehe ich die Tür halb geöffnet, so verzerrt sich die Rechtwinkeligkeit des Türblatts, aber niemals käme ich auf die Idee, es mit einer schräg geschnittenen Tür zu tun zu haben. Betrete ich jetzt das Haus und schließe hinter mir die Tür, so sehe ich wiederum ganz neue Aspekte an ihr. Für alle Fälle aber gilt: Ich meine in jedem Moment im Sinne der schlichten Wahrnehmung die „ganze“ Tür zu sehen, nicht irgendeinen Teilaspekt. Mit meinem Zugehen auf die Tür, dem Öffnen der Tür, sich an ihr vorbei ins Haus bewegen und hinter sich die Tür zufallen sehen - ständig habe ich es mit der Mannigfaltigkeit der Aspekte zu tun. Obwohl sich viel in 0 56 Vgl. Szilasi a.a.O., Architekturtheorie_Huter.indd 100 23.01.2008 15: 28: 00 Uhr <?page no="100"?> Wahrnehmung als sinnliche Begegnung mit der Welt 101 meinem Blickfeld tut, die Tür bleibt als wahrgenommenes Ding dasselbe. „In der Mannigfaltigkeit der wechselnden Wahrnehmungen hält sich die Selbigkeit des Wahrgenommenen durch, ich habe keine andere Wahrnehmung im Sinne eines anderen Wahrgenommenen, wohl aber ist der Wahrnehmungsgehalt ein anderer, aber das Wahrgenommene ist als dasselbe vermeint.“ 22 Damit ist die natürliche Tendenz der Wahrnehmung beschrieben. Wir haben die Intentionalität als ein Verhalten (Wahrnehmen) mit einer besonderen Struktur kennen gelernt, nämlich als ein Sich-richten-auf-etwas. Es sollte deutlich geworden sein, dass der produktive Verhaltensakt des Sich-richten-auf sich nicht vom Worauf dieses Sich-richtens trennen lässt. Die Phänomenologie spricht hier von der gegenseitigen Zugehörigkeit von Intentio und Intentum. Es kommt noch ein Weiteres hinzu. Woher ergibt sich denn die jeweilige Bestimmung und Richtung des Verhaltens, ob Leermeinung oder konkrete Vorstellung? Die Antwort lautet: Das „Sehen“ im phänomenologischen Sinne geschieht immer aus einer konkreten Lebenssituation heraus, und mit der Wandlung der Situation wandelt sich seine Bestimmung: 23 Stehe ich noch auf der Straße und suche die richtige Haustür, oder habe ich sie bereits entdeckt und kann mich jetzt auf das Betreten des Hauses konzentrieren usw. Intentionalität als Handlung des Bewusstseins weist immer auf die Welt der menschlichen Angelegenheiten hinaus, richtet sich auf etwas, was außer sich selbst ist. s zilasi deutet die Seinsweise des menschlichen Bewusstseins so: „Wir sind auf Grund der Intentionalität so, daß wir von vornherein bei den Dingen sind, und von ihrem Zusammenhang mitgenommen werden.“ 2 5 „Kategoriale Anschauung“ Einen wesentlichen Moment der Wahrnehmung hat h usserl „kategoriale Anschauung“ genannt. Damit sind sprachliche Aussagen gemeint, die sich auf einen Sachverhalt beziehen. Anschauung ist zunächst ein anderer Name für sinnliche Wahrnehmung. Jedoch was wir Aussage nennen, ist in der Regel ein vollständiger Satz, der einen Sachverhalt betrifft und Elemente enthält, die selbst nicht sinnlich wahrgenommen werden können. Wenn wir nur den Namen „Dresdner Zwinger“ aussprechen, so ist damit keine Erkenntnis verbunden. Zwar wird der Name eine Fülle von Vorstellungen erwecken und sich in originären Wahrnehmungen erfüllen. Der Name allein ist jedoch keine Erkenntnisquelle wie die Aussage: „Der Zwinger befindet sich in Dresden und wurde nach Plänen von Matthäus Daniel Pöppelmann und Balthasar Permoser errichtet.“ Diese Aussage besteht zu Teilen aus Elementen, die Heidegger a.a.O., 58 Darauf hat Wilhelm Szilasi eindrücklich hingewiesen, Szilasi a.a.O., A.a.O., Architekturtheorie_Huter.indd 101 23.01.2008 15: 28: 00 Uhr <?page no="101"?> 4. Vorlesung 102 sich sinnlich erfüllen wie „Zwinger“, „Dresden“, „Pläne“. Aber die Aussage besteht darüber hinaus aus Wörtern, die nur etwas mitteilen wie „der“, „in“, „wurde“, „nach“ usw., die sich nicht sinnlich veranschaulichen lassen. Dennoch ist die Aussage als Ganze einleuchtend oder evident. Sie vermittelt eine einsichtige Erkenntnis. Alle Sachverhalte, im Gegensatz zu einzelnen Gegenständen, weisen Elemente auf, die sich nicht in einer Wahrnehmung erfüllen lassen. h usserl nennt diese Bestandteile „kategorial“. Dazu gehören auch die Kategorien „sein“ und „haben“. Die goldene Farbe vom Kronentor des Zwingers kann ich sehen, nicht aber das Farbe-Sein. Ein konkret gestaltetes Kronentor und einen Zwingerhof zu haben, ihre unbezweifelbare Zugehörigkeit zum Zwinger, ihr Sein, nicht als zufällige architektonische Teile, sondern als unverzichtbare Momente des „Zwingerseins“ überhaupt, ebenso die architektonisch-raumgestaltende Bedeutung von Kronentor und Hof - all dies sind Elemente, die durch eine sinnliche Wahrnehmungsleistung nicht erfüllt werden können. Diese Elemente, die wir nicht sehen können, wie wir das Gelb der Sonnenblume sehen können, nennt h usserl „Kategorien“. Diese Kategorien sind jedoch nicht Produkte des „reinen Verstands“. Sie sind überhaupt nicht Formen des Denkens, sondern Erzeugnisse der anschaulichen Erfahrung. So aber wird es erst möglich, zwischen Sinnlichem und Kategorialem zu unterscheiden. Jede architektonische Beschreibung, auch wenn sie vorgibt, nur das wiederzugeben, was der Autor „gesehen“ und „wahrgenommen“ hat, ist, sobald er darin Sachverhalte formuliert, durchsetzt mit „kategorialen“ Elementen. Die Gegenstände unserer Wahrnehmung sind nicht nur sinnlich, sondern zugleich inhaltlich-bedeutsam. Dies erkannt zu haben, sowie die Möglichkeit aufgezeigt zu haben, zwischen beidem zu unterscheiden, ist das Verdienst der h usserl schen Analyse der Intentionen. „Einen radikaleren Bruch mit der Tradition kann man sich kaum vorstellen, als den, der in diesen Feststellungen liegt. Sie behaupten, daß die Dinge selbst kategorial verfasst sind, darum enthalten die Anschauungen nicht nur sinnliche Daten. Das sinnlich Wahrgenommene ist mit kategorial angeschauten Elementen durchwirkt.“ 25 Wir müssen vor allem die Bedeutung der Akt-Einheit aus Wahrnehmen und kategorialer Anschauung verstehen. k ant noch hatte zwischen sinnlicher Rezeptivität und spontaner Denktätigkeit getrennt. h usserl hat dann herausgearbeitet: Die kategoriale Anschauung „gibt“ den Gegenstand in einem bestimmten Akt. „Es gibt nicht kategoriale Formen, die von dem Subjekt gemacht und an sinnliche Daten herangebracht werden.“ 26 Es findet also keine nachträgliche subjektive Formung oder Modifizierung eines real-seienden Gegenstands statt. Vielmehr sind die Anschauungsleistungen eingebettet in unsere faktischen Lebensbezüge, so dass sich von daher schon eine Reihe 5 Szilasi a.a.O., 9 6 9 Architekturtheorie_Huter.indd 102 23.01.2008 15: 28: 01 Uhr <?page no="102"?> Wahrnehmung als sinnliche Begegnung mit der Welt 103 von Verweisungen und Variationen ergeben: Besuche ich den Zwinger das erste Mal? Habe ich mich mit einem Freund am Kronentor verabredet? Findet heute Abend im Zwingerhof ein Konzert statt, für das ich einen Sitzplatz benötige? Nur im situativen Kontext tatsächlicher Lebensvollzüge nehme ich den „Sachverhalt Zwinger“ wahr. In unsere Welt verstrickt, gibt es weder eine isolierte Wahrnehmung noch die reine sinnliche Wahrnehmung. Vielmehr ist schon jede schlichte Wahrnehmung mit „kategorialer Anschauung“ durchsetzt. „Schlicht“ heißt eine Wahrnehmung, insofern ich dieses Haus, das ich aus meinem Fenster schauend sehe, „als Haus“ frei von jeder Subjektivität in der ganzen Fülle seiner Leibhaftigkeit wahrnehme. Ich frage weder nach seiner Geschichte noch nach seiner Bauart. Ich sehe es nur als dieses Haus. Vor dem Haus sehe ich auch einen Baum, der das Haus fast zur Hälfte verdeckt. Ich verlasse jetzt meinen Standpunkt im Haus, das am Beginn einer Häuserzeile sich befindet, und begebe mich auf die Straße. An ihr entlang schauend, nehme ich folgendes wahr: eine Häuserreihe und eine Kastanienallee. Das Sehen von Reihe und Allee ist fundiert in der erkennenden Wahrnehmung der einzelnen Häuser und der einzelnen Bäume. Aber mich interessiert nun nicht das einzelne Haus der Reihe und auch nicht jeder Baum der Allee, die sich alle voneinander unterscheiden. Ich sehe jetzt die Häuser zusammen, und ich sehe die Bäume zusammen. Es ergibt sich so eine neue Beziehung, die nicht auf dem Abzählen der einzelnen Bäume oder Häuser basiert. Vielmehr nehme ich im Sehen eine „figurale“ Beziehung zum Wahrgenommenen auf. Ähnlich wie ich am Himmel nicht viele einzelne Vögel wahrnehme, sondern den Zug der Wildgänse. Ich erfasse mit der Häuserreihe, der Allee, dem Vogelzug eine anschauliche Einheit („Gestalt“). Wieder ist herauszustellen, damit wir es auf keinen Fall unterschlagen, dass wir es immer „nur“ mit Anschauungen und nicht mit „logischen Akten“ zu tun haben. Bei der figürlichen Erfassung von Mannigfaltigkeit als einheitlicher Ganzheit war das Interesse stets auf die Gegenstände selbst gerichtet. Den Anblick der Allee begleiteten wir beispielsweise mit der Aussage: „Das sind Bäume“, den der Häuserreihe mit: „Das sind Häuser“. Während ich beim Blick durch mein Fenster noch das einzelne Haus und den einzelnen Baum in ihrer Individualität wahrnahm, achte ich beim Anblick der Häuserreihe nicht auf die individuellen Unterschiede der einzelnen Gebäude. Wir blicken gleichsam weg vom Besonderen. Nun interessiert uns nämlich nur das Allgemeine. h usserl nennt diese unmittelbar gesehenen Anschauungsakte „Ideation“. Aus meinem Fenster blickend, sage ich: „Ich sehe ein Haus“. Freilich sehe ich ein ganz bestimmtes Haus und nicht irgendein Haus. Wir kennen viele Häuser in ihrer breiten Verschiedenheit, was Größe, Materialität, Farbe, Bauweise usw. betrifft. Ich schaue aus dem Fenster und sage: „Ein Haus“. Offen- Architekturtheorie_Huter.indd 103 23.01.2008 15: 28: 01 Uhr <?page no="103"?> 4. Vorlesung 104 sichtlich sehen wir das, was bei allen Häusern das Allgemeine oder Invariante ist. h eiDegger hat die Akte der Ideation deshalb auch „Anschauung des Allgemeinen“ genannt. Als Akte der Anschauung geben sie eine „Idee“ oder bezeichnen eine „Spezies“. „Wenn ich schlicht wahrnehme, mich in meiner Umwelt bewege, so sehe ich, wenn ich Häuser sehe, nicht Häuser zunächst und primär und ausdrücklich in ihrer Vereinzelung, Unterschiedenheit, sondern ich sehe zunächst allgemein: das ist ein Haus. Dieses Als-was, der allgemeine Charakter von Haus, ist selbst nicht ausdrücklich in dem, was er ist, erfaßt, aber schon in der schlichten Anschauung miterfaßt als das, was hier gewissermaßen das Vorgegebene aufklärt.“ 27 Die ideierende Abstraktion ist das Heraussehen der Idee, sie „gründet auf einem vorgegebenen Erfassen von Vereinzelung“ 2 . Die Mannigfaltigkeit der einzelnen Häuser ist zwar Voraussetzung zur Anschauung der Spezies, aber im Akt der Ideation selbst interessiert mich gerade nicht das besondere Einzelne, sondern allein das Allgemeine. Die Ideation konstituiert eine neue Gegenständlichkeit. Auf einer ersten Stufe, wie gerade besprochen, negiert sie alles Individuelle. Weitere Beispiele: Alle geometrischen Sätze sind zwar kategorial, aber mit Hilfe der Sinnlichkeit (Räumlichkeit unserer Welt) bestimmt. Ebenso das rein sinnliche Heraussehen von Farbe überhaupt, Haus überhaupt, Stadt überhaupt. Auf einer weiteren Stufe kann die Ideation auch alles Sinnliche ausschalten. Die Phänomenologie spricht dann von der reinen kategorialen Anschauung. Begriffe wie Einheit, Mehrheit, Beziehung usw. gehören dazu. h eiDegger hat sich in seinen Vorlesungen, die er in den 20er Jahren gehalten hat, mit der Phänomenologie h usserl s intensiv auseinandergesetzt und auf den dort gebrauchten Begriff der Sinnlichkeit 29 hingewiesen. Es sei unbedingt darauf zu achten, dass wir in die Phänomenologie weder einen Sensualismus hineintragen, noch glauben, es handle sich in der Wahrnehmung lediglich um Empfindungen und Sinnesdaten. „Sinnlichkeit ist ein formaler phänomenologischer Begriff“ und beinhaltet alle materielle Sachhaltigkeit, wie sie von den Sachen, die wir in der Wahrnehmung erfassen, selbst vorgegeben ist. „Sinnlichkeit ist so der Titel für den Gesamtbestand des Seienden, das in seiner Sachhaltigkeit vorgegeben ist.“ 30 Um hier Missverständnisse abzuwehren, wir hätten es bei Sinnlichem mit „Stoff“ und bei Kategorialem mit „Form“ zu tun, ist es wichtig, sich klar zu machen, dass die so genannten kategorialen „Formen“ nichts vom Subjekt Gemachtes bzw. von ihm an die Gegenstände Herangetragenes sind, sondern Gegenstände, die in den verschiedenen intentionalen Wahrnehmungsakten sichtbar werden bzw. sich zeigen. Das dadurch möglich gewordene neue Konstituieren von Gegen- 7 Heidegger a.a.O., 9 8 9 9 „Sinnlichkeit ist der Titel für den Gesamtbestand des Seienden, der in seiner Sachhaltigkeit vorgegeben ist“, Szilasi a.a.O., 0 Heidegger a.a.O., 96 Architekturtheorie_Huter.indd 104 23.01.2008 15: 28: 01 Uhr <?page no="104"?> Wahrnehmung als sinnliche Begegnung mit der Welt 105 ständlichkeit ist nicht als Machen oder Herstellen misszuverstehen, es ist auch nicht Ergebnis einer Verstandestätigkeit oder geistvollen Bearbeitung von Empfindungen und Affekten, sondern ein „Sehenlassen des Seienden in seiner Gegenständlichkeit“ 31 . 6 Das „anschauliche Apriori“ In der philosophischen Tradition seit D escartes war man davon ausgegangen, dass jeder Erkenntnis etwas vorausgehen muss. Dieses, was „von früher her“ (a priori) schon ist, wurde als Apriori bezeichnet. Das Apriori an einer Erkenntnis war dann das, was an ihr immer schon früher ist. Bei D es cartes geht die apriorische Erkenntnis nicht auf ein empirisches, induktives Verfahren zurück, vielmehr ist sie nur im Subjekt immanent verfügbar. Sie wird allein in der Reflexion des Subjekts auf sich selbst einsichtig. Die Vorstellung von einer Erfahrung, die sich aus einzelnen Sinneseindrücken und isolierten Wahrnehmungen zusammensetzt, ist der Phänomenologie nicht zugänglich. Warum? Weil sie nicht mit unseren Erfahrungen übereinstimmt: „Kein Mensch hat noch je einen isolierten Sinneseindruck gehabt, ebenso je eine isolierte Wahrnehmung.“ 32 Wir haben auch bereits eine Antwort darauf gegeben, was für die Phänomenologie „das Erste“ ist. Es sind nämlich die „Sachverhalte“ selbst, die jeder Beschreibung einer Wahrnehmung bereits voraus sind. Nehmen wir etwa folgendes wahr: „2 < 3“, so ist uns intuitiv die Sachlage, dass die Zahl 2 „kleiner als“ die Zahl 3 ist, gegeben. Darin ist das Apriorische unmittelbar anschaulich, nämlich als diese Sachlage selbst. Ähnlich ist der Fall, wenn ich im Baumarkt zwei verschieden helle Farbmuster vorgelegt bekomme. Ich kann das „heller als“ als situativ bestimmte Sachlage unmittelbar und intuitiv sehen. Oder in der Abteilung Holzschnitt werden mir zwei unterschiedlich lange Holzleisten vorgelegt. Intuitiv erfasse ich, dass der eine Stab „länger als“ der andere ist. In der Erfahrung und in der Erkenntnis haben wir die einzig ursprüngliche oder primäre Kenntnisnahme im Sachverhalt selbst, nicht in irgendeinem Vermögen, das dieser Kenntnisnahme angeblich vorangeht. Der konkrete Sachverhalt, der alle Momente der Erfahrung und ebenso der Wahrnehmung einschließt, führt uns zu immer weiteren, untereinander verbundenen Gesichtspunkten. Die Wahrnehmung der Eingangstür, von der wir schon gesprochen haben, war für uns damit verbunden, sie zu öffnen, an ihr vorbei das Haus zu betreten und sie schließlich von ihrer Rückseite zu sehen. Die Haustür selbst fordert uns gleichsam auf, sie in ihrer Position zu verändern und uns an ihr vorbei ins Innere des Hauses zu bewegen. Diese „Aufforderung“ der Dinge selbst 97 Szilasi a.a.O., Architekturtheorie_Huter.indd 105 23.01.2008 15: 28: 01 Uhr <?page no="105"?> 4. Vorlesung 106 ist ein Beispiel für das, was h usserl das „anschauliche Apriori“ nennt. Die Aufforderung ist unmittelbar angeschaut. Es ist jetzt sicher einsichtig geworden, dass es zu immer weiteren Aufforderungen kommen kann - hinsichtlich eines Kontinuums von Erscheinungen: das Innere des Hauses mit seinen Gegenständen, Zimmern, Wegen und Treppen. Auch nehmen wir das Haus nicht isoliert von seinem Um-herum wahr, sondern z. B. umgeben von einem Garten. Und so können wir uns auch die weitere Umgebung des Hauses mit Garten in der Straße, im Viertel, in der Stadt erschließen. Dieser Prozess des Nachkommens der Erscheinungen kann faktisch nie zu einem Ende gebracht werden. Schließlich würde die „Welt“ selbst in Erscheinung treten. Es kann aber prinzipiell keine vollständige Bestimmung und Anschaulichkeit aller Weltdinge geben. Die sich darin aufweisende Inadäquatheit der Wahrnehmung hat nichts mit Verfälschung oder Verdeckung zu tun. Sie bezieht sich allein auf die Unvollständigkeit. Wir wüssten aber diese Aufforderung des Herumgehens um den Tisch und Sich-bewegens durch Haus, Garten und Viertel überhaupt nicht zu realisieren, wenn nicht „Räumliches“ selbst konkreter Bestandteil der Wahrnehmung ist. Wie könnten wir Tür, Treppe, Fenster, aber auch Straße, Haus, Garten unterscheiden, wenn wir sie nicht „durch den Raum“ perspektivisch geordnet vorfänden! („Raum“ und „Räumliches“ wird uns dann in der 6. Vorlesung intensiv beschäftigen). Das Wesentliche an diesen Beispielen ist die Tatsache, das der Wahrnehmende leibliche Bewegungen vollführt, besser: sich bewegt. Das Sich-Bewegen wird also von Jemandem her gedacht, der seinen Ort wechselt, und nicht von einem „Etwas“ her, das sich an wechselnden Stellen im Raum befindet. Nicht das Haus bewegt sich, sondern ich bewege mich durchs Haus. Auch im Falle einer Positionsveränderung der Tür in ihren Angeln ist diese „Bewegung“ doch immer bezüglich der Sicht des Wahrnehmenden auf Tür und Angel. Vom leiblichen Sich-Bewegen her muss jede Wahrnehmung verstanden werden. Der Eigenleib ist das „allgemeine Medium“, in dem sich der Bezug der Wahrnehmung zur Welt vollzieht. Der Leib, so hat es der Phänomenologe Maurice m erleau -P onty (190 -1061) 33 herausgearbeitet, ist immer präsent; diese Präsenz zeigt sich in der „Perspektivität“ der Wahrnehmung: Was man auch wahrnimmt, es wird von einem Standort aus wahrgenommen; was man auch wahrnimmt, es steht in einer räumlichen Beziehung zum Wahrnehmenden. Wollten wir an dieser Stelle die Diskussion weiter führen, so müssten wir zugestehen, dass es den einen „physikalischen“ Raum gar nicht gibt, sondern mehrere, entsprechend den möglichen Perspektiven, die Dinge an „ihrem“ Ort wahrzunehmen. Diese in der Phänomenologie h usserl s angelegten Zusammenhänge hat vor allem Maurice m erleau -P onty aufgenommen und fortgeführt. Merleau-Ponty 966 Architekturtheorie_Huter.indd 106 23.01.2008 15: 28: 01 Uhr <?page no="106"?> Wahrnehmung als sinnliche Begegnung mit der Welt 107 Wir haben an der Wahrnehmung des Hauses festgestellt, dass es zum einen in den Prozess der kontinuierlichen Erscheinungen einbezogen ist. Dennoch ist es das besondere Haus in dem unverwechselbaren Hier und Jetzt meiner Wahrnehmung. Die kategorial anschauliche Ideation bedeutete, dass wir in der Wahrnehmung dieses Hauses seine Hausartigkeit mit auffassen. Wir nehmen demnach am einzelnen Haus etwas Prinzipielles wahr. Nur weil dies der Fall ist, ist es für uns überhaupt möglich, dieses Haus in die Reihe der Häuser einzuordnen. s zilasi hat herausgestellt, dass der gerade beschriebenen Ideation die Anschauung des Generellen zugrunde liegt. Letztere richtet sich auf die „unendliche Kette des vollen Sachverhaltes“ (s zilasi ). Damit ist gemeint, dass dieses konkrete Haus nicht nur ein gestaltetes Exemplar einer Art ist, das alle wesentlichen Momente aufweist, die ein Haus erst zu einem Haus machen. Vielmehr ist dieses Gebäude das Wohnhaus unseres Freunds Werner (und nicht ein Tante Emma Laden oder eine Garage). Die Unterscheidung von Ideation und Anschauung des Generellen gründet auf dem Unterschied zwischen dem Gestalt(ungs)spielraum, den Architekt und Bauherr bei der Formgebung eines Hauses hatten, und den „generellen Funktionsmöglichkeiten“ (s zilasi ) dieses Hauses. „Erst die anschaulich apriorische Sichtbarkeit, wozu etwas dienen kann, was es leisten kann, was es sein kann, das Sehen des Bereiches dieses Könnens erlaubt zu erkennen, was es ist.“ 3 Es ist der Unterschied zwischen dem Ding, das (s)eine Gestalt zeigt, und dem Ding, das (wie auch immer) „wohnend“ in Gebrauch ist. Gebrauch ist dann eine konkrete Realisation der Möglichkeiten, die in einem „Wozu- Ding“ (Wilhelm s chaPP ) liegen. Einen Gegenstand, z.B. diese Schreib-Tafel im Hörsaal, nehmen wir direkt wahr, nicht über irgendeinen Umweg. Wir nehmen die Tafel als Tafel wahr und in diesem „als“ liegt schon, ohne dass wir dies durch einen zusätzlichen Akt der Reflexion durchsetzen müssten, die Mitwahrnehmung ihrer Dienlichkeit, ihres „Wozu“. Wir schauen die Tafel als Ding zum Draufschreiben an. Gestalt und Gebrauch nehmen wir also unmittelbar anschaulich wahr. Damit haben wir das Thema Wahrnehmung in einem ersten Anlauf mit den drei Entdeckungen der Phänomenologie: der Intentionalität, des Kategorialen und des Apriori, gewonnen. Eine Theorie, die als menschliche Erkenntnisleistung der Bedeutung von Architektur nachspürt, setzt die Beschreibung der Intentionalität in ihrem Apriori voraus. Selbst wohnend sind wir immer schon aufmerksam gerichtet auf Gebautes (Architektur) und auf das, was uns „das Wohnliche selbst“ bedeutet. Entwerfend ist der Architekt ferner aufmerksam gerichtet auf Architektonisches und auf das, was er als den Kern der ihm gestellten Aufgabe auffasst. Ohne Zweifel: das architektonische Verhalten ist intentionales Verhalten. Als nächstes wollen wir weiter nach den „Sachen“ forschen, Szilasi a.a.O., 7 Architekturtheorie_Huter.indd 107 23.01.2008 15: 28: 02 Uhr <?page no="107"?> 4. Vorlesung 108 auf die Architekturtheorie zurückgehen muss, damit sie von der Wahrnehmungs- und Anschauungslehre der Phänomenologie profitiert. Die genialen Entdeckungen h usserl s sind in der Folgezeit weiter entwickelt worden. Vor allem die Aufnahme von „Intentionalität“ und Apriori durch die hermeneutische Philosophie ist hier bedeutsam. An erster Stelle muss h eiDegger genannt werden, der unter dem Titel „Hermeneutik der Faktizität“ zu eigenen, die Phänomenologie konstruktiv beerbenden Hinsichten auf die Wahrnehmung gekommen ist. Wahrnehmen setzt ein Da- und Dabei-sein des Wahrnehmenden voraus. Zwar nimmt auch h eiDegger die Intentionalität als das Grundfeld, in dem die Gegenstände vorzufinden sind. Er fragt aber radikal nach dem „Wie“ der Befindlichkeit oder Betroffenheit des Wahrnehmenden. (Dieses Thema wird ausführlich in der 12. Vorlesung behandelt.) Dieses „Wie“ arbeitet er als das Verständnis („Aufgefaßtheit“, „Ausgelegtheit“) aus, in dem der Mensch immer schon lebt. Damit führte h eiDegger die phänomenologische Forschung auf ein ganz neues Feld, indem er das Wahrnehmen im Dasein (im „In-der-Welt-sein“) fundierte, und dieses inhaltlich in der Erfahrung gründete. m erleau -P onty , der andere ausgezeichnete Kenner der Philosophie h usserl s, hat es ebenfalls abgelehnt, irgendein Apriori vor jeder Erfahrung auszuzeichnen. Am Anfang jeder Erkenntnis steht die Erfahrung, die er näher als „die Offenheit für unsere faktische Welt“ kennzeichnet. Erfahrung und was immer darin als Wahrheit anerkannt ist, ist nichts anderes als die „Auslegung des Faktums der Sinneserfahrung als Übernahme einer Weise des Existierens“. Damit kommt m erleau -P onty der h eiDegger schen Sicht auf das Apriori als „Aufgefaßtheit“ ausgesprochen nah. 35 Da-Seiend nehmen wir wahr. Wahrnehmen setzt In-der-Welt-sein voraus, nämlich: Das Sich-aufhalten bei den Dingen und Verstrickt-sein in die Grundsituation des Wohnens und Entwerfens 36 beinhalten das Apriori, das jeder Wahrnehmung immer schon voraus ist. Das intentionale Verhalten greift also intuitiv auf einen Erfahrungs- oder Auslegungszusammenhang zurück, der es überhaupt erst sinnvoll erscheinen lässt, ein bestimmtes Haus in einer Straße zu suchen, zu diesem Haus die Hausnummer zu identifizieren und durch die Eingangstür das Haus zu betreten. Die „Zuschauerperspektive“, wie sie die Architekturtheorie in ihrer ästhetischen Tradition anbietet, kann diese Bestimmung des leiblichen Wahrnehmens und Begegnens nur verdecken und sie auf diese Weise neutralisieren, nicht jedoch zum zentralen Thema der Anschauung machen. Ihr muss zwangsläufig jede lebensweltliche Intention suspekt sein, da diese das vermeintlich Wissenschaftliche unterwandert. Die Frage nach dem Sinn ist die Frage danach, was unter „etwas“ verstanden wird. Das Sich-richten-auf ist also keineswegs neutral, sondern seine „Richtung“ ist bestimmt durch das, was mir bereits bedeutsam geworden ist. So haben wir 5 Vgl. Merleau-Ponty 966, 59 6 Vgl. Rentsch 005 Architekturtheorie_Huter.indd 108 23.01.2008 15: 28: 02 Uhr <?page no="108"?> Wahrnehmung als sinnliche Begegnung mit der Welt 109 also das Apriori des Sich-selbst-Vorausseins des Wahrnehmenden, das jeder Wahrnehmung als ihr Vorgriff (Antizipation) innewohnt. Das ist der von h eiDegger radikal verstandene Sinn des phänomenologischen Prinzips. Architekturtheorie_Huter.indd 109 23.01.2008 15: 28: 02 Uhr <?page no="109"?> 5. Vorlesung Schauen, sehen, wissen: Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt Was sehen wir „wirklich“, wenn wir behaupten, ein Haus zu sehen? Was bedeutet der Hinweis auf die „Unlesbarkeit der Landschaft“? Im Folgenden wollen wir der spezifischen Wahrnehmungsbereitschaft des Architekten nachgehen, uns fragen, wie etwas überhaupt in seine „Welt“ kommt, und diskutieren, wie sich Grenzen dieses „Sehens“ bestimmen lassen. 1 Schauen und Sehen Wir beginnen mit einem Experiment. Wir betrachten eine Abbildung, die wir zuvor noch nie gesehen haben. Vielleicht eine Abbildung aus einem naturwissenschaftlichen Grundlagenbuch oder auch ein Werk der modernen „gegenstandslosen“ Kunst. Wir blicken von nahem auf das Abgebildete. Was sehen wir? Wo sind Hinter- und Vordergrund? Was könnte es sein? Was tun wir, wenn wir gewisse Möglichkeiten der Inhaltserfassung durchspielen? Wir vergleichen es mit Dingen, die wir schon kennen. Beim Fall der Kunst haben wir es etwas leichter, denn wir wissen ja schon, dass die Abbildung in die uns bekannte Reihe „abstrakte Malerei“ einzuordnen ist. Sind wir mit der entsprechenden Grundlagenforschung einer Wissenschaft nicht vertraut, so werden wir nur banal antworten können: Es erinnert mich an … Oder: Könnte es nicht dies oder jenes sein? Was passiert aber, wenn uns jemand verrät, was auf dem Bild zu sehen ist? Was geschieht „mit uns“, wenn wir die Unterschrift zur Abbildung lesen? Wir blicken jetzt ein zweites Mal auf diese Abbildung, nun aber, indem wir uns von ihr fernhalten. Wir schauen jetzt nicht mehr auf eine Abbildung, sondern wir sehen jetzt etwas Bestimmtes. Wenn wir schon wissen, was das Abgebildete ist, dann wissen wir auch, wie wir darauf schauen müssen. Dann sehen wir sofort. Ein solches Sehen muss gelernt werden. Der polnische Wissenschaftstheoretiker und Mediziner Ludwik f leck (1 96-1961) legt eine schwarz-weiße Aufnahme eines bewölkten Himmels vor und fragt, was man erkennen kann. Man sieht unregelmäßig verteilte helle Architekturtheorie_Huter.indd 110 23.01.2008 15: 28: 02 Uhr <?page no="110"?> Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 111 und dunkle Flecken und unregelmäßige Strukturen, die eine Morphologie andeuten könnten - mehr nicht. Um zu sehen, muss man wissen, was wesentlich und was unwesentlich ist. f leck fragt in der Bildunterschrift: „Was ist das? Die Haut einer Kröte unter dem Mikroskop oder eine Kultur des Penizillinpilzes? “ 1 Man muss den Hintergrund vom Vordergrund unterscheiden können. Man muss darüber orientiert sein, zu welcher Reihe von Gegenständen der abgebildete gehört. Man muss schon im Bilde sein, um eine Abbildung verstehen und lesen zu können. Sonst schauen wir bloß, aber wir sehen nicht, wir starren dann lediglich auf irgendwelche Einzelheiten, begreifen aber nicht das Ganze. Wir erfassen im Schauen keine bestimmte Ganzheit. Es ist hier ganz wichtig, dass wir diesen Unterschied zwischen Schauen und Sehen nachvollziehen. Wir starren auf eine Abbildung, wenn wir sie nicht einordnen können, wenn unser erster Blick darauf versagt und suchen verzweifelt Anhaltspunkte. Wir sehen in einem Bild nur das, was wir schon wissen. Dies gilt für die einfachste Wahrnehmung wie für die komplizierteste. Wir müssen uns vor allem davor hüten, die Welt in atomare Gegebenheiten zerfallen zu lassen. Die Wahrnehmung beginnt nicht mit zerstreut um uns liegenden Impressionssplittern, die wir anschließend als Bewusstseinsleistung in eine Ordnung bringen. Vielmehr sind in Wahrnehmung und Erfahrung immer schon bestimmte Organisationsformen im Spiel. 2 Wenn es das Unmittelbare ist, das wir wahrnehmen, dann ist das Unmittelbare keine Impressionen und einzelne Empfindungen, sondern Gestalten. Das Grundmoment der Gestaltbildung besteht in einer Differenz, einer Unterscheidung, nämlich der zwischen Figur und Grund. „Ich höre etwas“, bedeutet: etwas tritt hervor, anderes, das ich auch hören könnte, tritt in den Hintergrund. Gestaltbildung läuft immer auf eine Differenz hinaus: Ich sehe (höre) etwas nur vor einem Hintergrund. Eine Differenz durchfurcht das Wahrnehmungsfeld. Etwas bekommt die Oberhand gegenüber anderem, das nicht wahrgenommen wird. Schon beim Lernen ist die Differenzbildung das Entscheidende - und nicht der Vorgang, dass wir Daten und Fakten ansammeln. Wahrnehmen ist ein Unterscheidungsakt: man lernt, bestimmte Differenzen zu sehen, andere auszublenden. Kleinkinder lernen in der Regel nach etwa acht Monaten das Gesicht der Mutter von anderen zu unterscheiden. Jedoch nicht Einzelheiten des Sehfeldes und isolierte Punkte oder Flecken, sondern das Gesicht der Mutter ist eine gegenständliche Erscheinung, eine bestimmte Konfiguration. Mit anderen Worten: am Anfang der kindlichen Wahrnehmung steht nicht eine isolierte Impression, sondern eine ganzheitlich verstandene, situativkontextuelle Form: eben eine Gestalt. Der bekannte Kunstwissenschaftler Ernst H. g omBrich (1909 -2001) legt in seinem Aufsatz Zur Psychologie des Bilderlesens eine Aufnahme vor, die mit Fleck 98 , 8 Vgl. Waldenfels 000, 6 -70 Architekturtheorie_Huter.indd 111 23.01.2008 15: 28: 02 Uhr <?page no="111"?> 5. Vorlesung 112 „Geländestreifen im Hochgebirge“ betitelt ist - allerdings stellt er die Abbildung auf den Kopf. Erst der Text macht den Leser darauf aufmerksam. Niemand hätte dies ansonsten wohl bemerkt. Wollen wir uns ein „Bild“ davon machen, was es mit einer Abbildung auf sich hat, suchen wir nach festen Anhaltspunkten. Da uns jedoch die Bildunterschrift bekannt ist, stellen wir uns „automatisch“ auf die Größenverhältnisse der Bodenschwellen und Felsstücke ein. Interessant wird es erst dann, wenn wir nun das Buch auf den Kopf stellen und die Aufnahme so sehen, wie sie auch der Fotograph gesehen haben muss. „Wie viele Leser werden da bemerken, daß das Bild absichtlich auf den Kopf gestellt und daß das, was wie Geländefalten wirkt, in Wirklichkeit Mulden sind? Es ist lehrreich, das Bild umzudrehen und dabei zu beobachten, wie mit der anderen Lesung auch die Größenverhältnisse zu wechseln scheinen, denn richtig gesehen, erklärt sich die Perspektive und die Lage der Steine viel leichter“. 3 Für g omBrich ist das Sehen eine besondere Form von Wissen, dessen Inhalte naturwissenschaftlich nicht darstellbar sind. Dieses Wissen ist zum Teil demjenigen, um dessen Wissen es geht, gar nicht als solches bewusst, dennoch ist es von großer Bedeutung für das jeweilige Verstehen und Können. Wie wir etwa das räumliche Wissen von unserer Welt erlangen, so eine grundlegende These von g omBrich , dies ist nicht mit den Gesetzen der physikalischen Optik erklärbar. Kommen wir auf das obige Beispiel zurück. Lesen wir die Unterschrift „Geländestreifen im Hochgebirge“, dann entdecken wir plötzlich Mulden, Höhlen, Felsblöcke, Steine usw. Wahrnehmen und Sehen - Deuten und Interpretieren sind nicht in verschiedene, voneinander getrennte Akte aufzulösen und gesondert zu betrachten. Gerade die Beispiele, die uns verunsichern hinsichtlich ihrer Bedeutung, weisen auf eine Aktivität des Sehens hin. Der Mensch nimmt die Eindrücke von der Außenwelt nicht passiv auf, sondern alle Sinneswahrnehmung ist aktives Deuten, Ordnen und Komponieren. Frank g ehry s Museum von Bilbao erschließt sich dem Betrachter nicht auf den ersten Blick. Dass es sich dabei um ein Museum handeln soll, sieht man dem Gebäude nicht an. Es passt nicht in die Reihe der Museen, die wir kennen. Schon der Versuch, das Bauwerk als eine Plastik anzusprechen, zeigt das Bemühen, es dadurch zu verstehen, dass man es einer anderen „Art“ zuschlägt. Dahinter steht offensichtlich das menschliche Bedürfnis, Sinn im Sinneseindruck zu suchen. Als architektonische Plastik wird das Gebäude uns eher verständlich. Ein Bild stellt also nur dem etwas vor, der sich etwas vorstellen kann. g omBrich s Beispiel ist das Röntgenbild. Der Röntgenologe kann sich nur darum aus der „Aufnahme“ ein Bild machen, weil er schon im Bilde ist. Hier haben wir nun das Phänomen des professionellen Lernens vor uns. Das Lesen von Röntgenbildern setzt eine eigene Welt voraus, in der Dinge wie Gombrich 99 , Architekturtheorie_Huter.indd 112 23.01.2008 15: 28: 03 Uhr <?page no="112"?> Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 113 Haarriss und Lungenschatten vorkommen und in deren „Sehen“ man sich erst mühsam einweisen lassen muss. g omBrich schließt deshalb mit Recht: Wir müssen immer selbst so viel zum Bilde hinzubringen, als wir daraus „entnehmen“ wollen. Hier taucht nun wieder das „anschauliche Apriori“ auf, das uns schon in der . Vorlesung begegnet ist. Auch der in der 3. Vorlesung erörterte Zusammenhang von „Wirklichkeit und Welt“ ragt in dieses Phänomen hinein. Gerade an den Abbildungsbeispielen, die wir nicht gleich entziffern und verstehen können, lernen wir, wie Ausdrucksloses in Ausdrucksvolles „verwandelt“ wird: Durch ein Hereintragen von Bedeutung in das an sich Bedeutungslose. Indem uns plötzlich die Gestalt „aufgeht“, sehen wir in Schwarzweißkontrasten mit einem Mal Felsen oder in einer Wolkenformation Gesichter. Nun müssen wir dieses „Hereintragen“ recht verstehen. Wir haben ja nicht zwei verschiedene Eindrücke vor uns, deren Unterschiede wir uns bewusst machen könnten. „Dies in Berührungkommen mit den Dingen und sie wahrnehmen ist nicht eine Modifikation desselben, sondern es ist ein Ruck, wenn man von dem einem zum andern übergeht“, so schon die treffende Beschreibung des Phänomenologen Wilhelm s chaPP (1 -1965). Denn auch die schwarzweiß gefleckten Flächen auf der Abbildung lassen mich ja „etwas“ sehen. Und allemal sehe ich „eine Wolke“, und erst auf den Hinweis meiner Tochter hin sehe ich plötzlich darin ein Hexengesicht. 2 Sehen und Lesen k amlah nennt das Lesen „eine besonders raffinierte Leistung des aktiven Sehens“ 5 . Beim Lesen sind wir nur halbaufmerksam, da wir zugleich Gesprochenes leise hören. Dieses hörende Lesen oder lesende Hören konzentriert sich aber vor allem auf die Sachverhalte, „die im gelesenen Text besprochen werden“ 6 . Immer ist das Lesen aber doch mit dem Verstehen verknüpft. Wer liest, ohne zu verstehen, liest nicht wirklich, sondern baut nur ein Lautbild nach. Lesen setzt ein Sehen voraus, in der Regel das Sehen eines Textes. In den neueren Stadt- und Regionalwissenschaften ist immer wieder die Rede von der „Unlesbarkeit einer Landschaft“ 7 . Dieses Phänomen der „Lesbarkeit“ ist sehr interessant, weil es uns lehrt, was in diesem Fall Architekt und Planer von einer Landschaftswahrnehmung erwarten. Sie soll beide auf das führen, was sie an Erwartung mitbringen und wovon sie nicht absehen können. In der Regel sind dies Vorstellungen von einer „schönen“ Landschaft, die die modernen „Zwischenstädte“ freilich nicht bedienen. „Schönheit“ be- Schapp 976, 5 Kamlah a.a.O., 79 6 79 7 Vgl. zum Beispiel Sieverts 997 Architekturtheorie_Huter.indd 113 23.01.2008 15: 28: 03 Uhr <?page no="113"?> 5. Vorlesung 114 zieht sich dabei auf ein Raumbild, wie sie tradierten räumlichen Ordnungsvorstellungen von bebauten und unbebauten Stellen entsprechen. Entsprechende Landschaftsgestalten sind uns aus der Malerei ebenso wie aus den Landschaftsblättern des Matthäus m erian bekannt und vertraut. Aber auch der rasante Wandel in den städtischen und landschaftlichen Erscheinungen lassen viele von der „Unlesbarkeit“ sprechen. Aber für all diese Fälle müssen wir entsprechend von einem Aspektwandel ausgehen. Denn selbstverständlich waren die historischen Landschaften und Städte stets einem Gestaltwandel unterzogen. Wenn auch nicht in dem Tempo, wie es Industrialisierung und Globalisierung durchsetzen. Wir wollen jetzt aber danach fragen, was denn „lesen“ bedeutet. Lesen ist ein Können, das derjenige erwirbt, der einen Text nicht nur durchbuchstabieren kann, sondern darin auch etwas versteht. Was wird aber in einem Text verstanden? Auch hier müssen wir antworten, wie wir dies schon bei unserer Vorlesung über „wahrnehmen“ getan haben, dass wir eigentlich Sachverhalte verstehen: was es mit einer bestimmten Sache auf sich hat. Bei Kunstwerken, die wir „lesen“, verstehen wir Sinngestalten. g aDamer (1900 -2002) spricht davon, „daß durch das Lesen etwas Sichtbares geweckt wird, das wir ‚Anschauung‘ nennen“ . Nichts was wir auf eine bestimmte Weise „lesen“, sagt uns ja, was wir in ihm verstehen („anschauen“) sollen. Das Verständnis für den Sachverhalt oder für die Sinngestalt ereignet sich wirkungsvoll „in uns“. Was sich ereignet, wird angestoßen durch eine „anschauliche“ Schilderung oder Darstellung. Es ist wie ein Weckgeschehen, insofern unsere Einbildungskraft, unser Phantasie „geweckt“ wird. Aber der eigene Anteil an diesem Wecken liegt eben im „echten“ Lesen begründet. Wer nicht lesen kann, der kann auch nicht durch ein Werk „geweckt“ werden. g aDamer hat an anderer Stelle „über das Lesen von Bauten“ gesprochen. 9 Hier entspricht das „Lesen“ einer ästhetischen Erfahrung. Bei Bauten als Kunstwerke geht g aDamer davon aus, dass in ihnen Fragen erhoben werden, die im Lesen „beantwortet“ werden. So etwa im Kirchenbau die Lösung der Aufgabe, die die Einheit von Vierung und Längsschiff betrifft. „Zweifellos ist es eine Frage, die in dem Moment, in dem man sie sich bewusst macht und sozusagen selber fragt, das Gebilde sprechend macht, vor dem man steht.“ 10 Er berichtet von dem Besuch der Kathedrale von St. Gallen bei welcher Gelegenheit er „den eigentümlichen Raumeindruck dieses Bauwerks (empfing)“. „Wenn wir in den Kirchenraum treten, erfahren wir diese Spannung wie eine Antwort. Die Erfahrung, die wir da machen, scheint mir eine gute Exemplifizierung für das, was Interpretation ist.“ 11 Das Lesen-können 8 Gadamer 99 a, 7 9 Gadamer 99 b, - 8 0 A.a.O., Architekturtheorie_Huter.indd 114 23.01.2008 15: 28: 03 Uhr <?page no="114"?> Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 115 von Kunstwerken bedeutet also am Ende einen hermeneutischen Gewinn, insofern wir das auslegen können, was erst wir spüren und geradezu leiblich verstehen. Zwar beginnt das Lesen mit dem Anschauen, aber es erfordert dann das Sich-bewegen im architektonischen Raum: Wir müssen uns „auf es zu, um es herum, in es hineingehen und es auf diese schreitende Weise gleichsam für uns aufbauen“ 12 . Auch Pläne müssen gelesen werden. Damit meinen wir aber nicht die Übereinstimmung von Legende und Richtigkeit des Inhalts. Vielmehr soll auch hier von der Anschaulichkeit des Gezeigten die Rede sein. Was wir beim Lesen architektonischer Pläne erfassen, ist die Sinngestalt des Dargestellten: das Großartige des Entwurfs. Wir müssen aber die Sinngestalt auslegen. Auslegen und lesen heißt: nichts hineinlegen, was nicht dargestellt ist. Wiederum ist aber das Auslegen und Lesen kein neutrales Beobachten und Betrachten. Zwar müssen wir darin geübt sein, aber letztendlich kommt es auf die Begegnung mit dem Plan selbst an: „Aber das Eigentliche ist doch offenbar etwas anderes, nämlich daß wir an der Sinnfigur, der wir begegnen, teilgewinnen.“ 13 3 Sehen und Wissen Die Gestaltpsychologie, deren Begründer Max W ertheimer , Wolfgang k öh ler und Kurt k offka waren, verstand sich als eine wissenschaftliche Reaktion auf die „atomistische“ oder Elementenpsychologie. Nach deren Verständnis soll sich das Seelenleben aus seelischen Einzelelementen aufbauen, vergleichbar den Struktur-Elementen, mit denen es die Naturwissenschaften wie Physik und v.a. die Chemie zu tun haben: aus Atomen. Die Gestaltpsychologie bekämpfte diese Betrachtungsweise. Sie nimmt statt von Atomen ihren Ausgang von der „Ganzheit“, der „Gestalt“ des Seelischen. Nicht von den Teilen zur Ganzheit, wie die „atomistische“ Psychologie es vorsah, ist zu gehen, sondern von der Ganzheit zu den Teilen. Nach den Vorstellungen der „atomistischen“ Psychologie, die in der griechischen Naturphilosophie (Leukipp, Demokrit) ihre Vorgänger erkannte, ist die Welt aus äußerst kleinen, nicht weiter teilbaren, mit gewissen Kräften ausgestatteten Elementen aufgebaut. Dieses Bild vom Aufbau der Welt hat in den Vorstellungen der Naturwissenschaften ihren Niederschlag gefunden und konnte sich insbesondere in der Chemie und in den chemischen Grundelementen durchsetzen. Es gab aber auch eine entsprechende Übertragung auf die Biologie und v. a. auf die Physiologie: Der Organismus wurde aufgefasst als ein Verband kleinster Elemente, den Zellen. Kannte man das Funktionieren der einzelnen 7 Architekturtheorie_Huter.indd 115 23.01.2008 15: 28: 03 Uhr <?page no="115"?> 5. Vorlesung 116 Zelle, dann ergab sich das Verständnis für die Arbeitsweise des Gesamtorganismus gewissermaßen von selbst. Das Labor-Experiment war die wissenschaftliche Einrichtung, die geeignet erschien, die atomistische Betrachtungsweise zu unterstützen und auf ihre Tauglichkeit hin zu veranschaulichen. Zwar bewährte sich das Experiment in den Naturwissenschaften, jedoch wurde sehr kritisch untersucht, ob es der Eigenart des Seelischen ebenso gerecht werden könnte. Es ist das bleibende Verdienst der Gestaltpsychologen, diese Kritik vertieft und ihr schließlich zum Durchbruch verholfen zu haben. Wie wird der Gestaltbegriff bei den Gestaltpsychologen definiert? Bei W ertheimer heißt es: „Gestalten sind Ganze, deren Verhalten nicht durch das Verhalten ihrer individuellen Elemente bestimmt wird, sondern durch die innere Natur des Ganzen“. Das Ganze sollte aber auf keinen Fall als eine einfache Summe verstanden werden, sondern eben als Gestalt. Dies erläutert David k atz 1 (1 3-1953) an folgendem Beispiel: „Ein Zusammen ist dann und nur dann eine Summe von Teilen oder Stücken, wenn es aus ihnen, und zwar einem nach dem andern, hergestellt werden kann, ohne dass infolge der Zusammensetzung einer der Teile sich ändert. Man kann ein Kilogramm Butter in kleine Stücke aufteilen, ohne dass ihr Nährwert oder ihre sonstige Verwendbarkeit dadurch verändert würde. Man kann aber nicht eine Melodie in ihre einzelnen Töne zerlegen, ohne dass der Charakter der Melodie verändert wird.“ Die Gestaltpsychologie ist zu bedeutenden Erkenntnissen und Behauptungen (sog. „Gestaltgesetze der Wahrnehmung“) hinsichtlich der menschlichen Sinneswahrnehmung gekommen 15 , die wir hier nicht aufführen können. Wir wollen uns stattdessen folgende Frage, die man sich dort gestellt hat, vornehmen: Wie kommt es, dass ich die Dinge meiner Umgebung, z. B. die konkreten Gegenstände, die vor mir auf dem Tisch liegen wie Heft, Bleistift, Buch usw., jedes für sich als eine Einheit, als einen selbständigen Gegenstand auffasse? Geschieht dies deshalb, weil ich diese Dinge immer einzeln benutzt habe, sie also aus dem Umgang und Gebrauch in ihrer einzelnen Abgrenzung kenne? Ist also die Wahrnehmungsleistung durch die individuelle Erfahrung bestimmt? Die Gestaltpsychologie gibt darauf folgende Antwort: Gewiss ist alles, was wir sehen, mit erfahrungsmäßigem Wissen geladen, aber nicht dieser Umstand führt in erster Linie dahin, dass sich die Dinge in unserem Sehfeld in der geschilderten Weise konstituieren. Eher gilt jedoch das Gegenteil, die Dinge konstituieren sich als Einheiten aus anderen, tiefer liegenden Gründen, und erst dies ist Voraussetzung dafür, dass wir an den Dingen Erfahrungen machen können. Nach der Auffassung der Gestaltpsychologie würde bereits im erfahrungslosen Bewusstsein eines Kleinkindes der Drang Katz 95 , 85 ff.; Goldstein 997, 70 ff. 5 Vgl. auch den Abschnitt: „Wahrnehmungsorganisation: Gestalttheoretische Erklärung“ in, Goldstein 997 Architekturtheorie_Huter.indd 116 23.01.2008 15: 28: 03 Uhr <?page no="116"?> Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 117 zur Dingkonstitution gesetzmäßig wirksam sein. Die Gestaltpsychologie geht also von der Annahme aus, dass alles sich als ursprüngliche Einheit gibt, was sich infolge des Wirksamwerdens ursprünglicher angeborener gestaltender Faktoren als Einheit zusammenschließt. Wir alle haben im Laufe unseres Lebens gelernt, die komplexesten Gestalten zu sehen. Als Autofahrer, als Museumsbesucher, als Handwerker, als Arzt, Architekt oder Landwirt können wir uns in unserer jeweiligen Umwelt nur dann orientieren, wenn wir die erworbene Bereitschaft zum Gestalt-Sehen umsetzen. Wir können aber immer nur eine Gestalt sehen. Es ist wie mit der bekannten Kippfigur, die man einmal als Entenkopf, einmal als Hasenkopf lesen kann. Die gesehenen Formen und Linien sind gleich und doch nicht gleich. Der Ausdruck der Wahrnehmung ist entweder Ente oder Hase. Ente und Hase sind zwei verschiedene Gestalten, die zu sehen wir einmal gelernt haben mussten. Wir halten, so f leck , die entsprechende Wahrnehmungsbereitschaft ständig aktiviert, wir sind entsprechend getrimmt. Darin können wir verstehen, dass Wahrnehmung genauer als Ausdrucks- oder Gestaltwahrnehmung zu begreifen ist. Wenn wir nicht nur in einer Erlebnissondern vielmehr in einer Ausdruckswelt leben, dann ist jeder Ausdruck etwas Bestimmtes. Der Ausdruck meint den Sinn, den wir im Sinneseindruck gesucht haben. Als in der Wahrnehmung „gefundener“ Ausdruck schließt er das Sehen ab. Das Umschlagen der Gestalt, eben sahen wir noch den Hasen - jetzt sehen wir die Ente, der sich vollzieht, bedeutet aber auch ein verändertes „Sehen als ...“ 16 . Wir fassen je ein anderes „Bild“ (einen anderen Ausdruck) auf, ohne dass sich an der gezeichneten Form irgendetwas veränderte. Je nachdem welcher Aspekt uns interessiert, 17 sehen wir entweder eine Ente oder einen Hasen. Wir können jedoch niemals mehrere Aspekte bzw. Gestalten auf einmal sehen. 6 Vgl. dazu auch die grundlegenden Forschungsergebnisse und Überlegungen bei Wilhelm Schapp: „Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung“, Frankfurt/ M. 98 ; zuerst 9 0 7 Interesse hier verstanden als „Anteilnahme“ Architekturtheorie_Huter.indd 117 23.01.2008 15: 28: 04 Uhr <?page no="117"?> 5. Vorlesung 118 Was wir auf der einen Seite an Gestalt-Sehen gewinnen, verlieren wir auf der anderen Seite wieder. Wenn wir bereit sind, in einem Gemälde ein außergewöhnliches Kunstwerk zu sehen, dann ist es unmöglich zur gleichen Zeit darin einen bedeutenden Versicherungswert zu sehen. In demselben Museum sieht ein geschulter Museumsbesucher etwas völlig anderes als der ebenfalls geschulte Detektiv. Denn die Schulen des Sehens lehren den Kunstliebhaber etwas völlig anderes als den Detektiven. Wir haben es hier mit zwei Welten zu tun, die sich gegenzeitig ausschließen: Denn die Beobachtungen des Museumsbesuchers verlangen eine Stimmung oder Aufmerksamkeit, die sofort verschwindet, wenn man sich auf die Bereitschaft zu polizeilichen Beobachtungen umstellt und umgekehrt. Gehen wir mit einem Fußballunkundigen ins Stadion. Er macht ganz andere Beobachtungen als unsereiner, insofern wir etwas von Spiel-Taktik verstehen. Machen Sie mit einem Geologen eine Schiffsreise auf dem Rhein! Er macht hinzeigend auf etwas aufmerksam, bei dem Sie gar nicht wissen, wohin Sie genau schauen sollen. Grob gesprochen: Man kann in derselben Menge von Elementen verschiedene Gestalten wahrnehmen. Dass jede Wahrnehmung das Sehen von Ganzheiten oder Gestalten ist, man ihre einzelnen Elemente erst danach sehen kann, gilt nicht für alles Wahrnehmen. Manchmal können diese Elemente auch völlig unerkannt bleiben. Wenn wir in einer Menschenmenge einen Freund erkennen, dann können wir in der Regel nicht exakt angeben, an welchen Einzelheiten genau wir ihn erkannt haben. Ebenso weiß der Kenner gleich, welches Gebäude der Stuttgarter Weißenhofsiedlung von Mies van der Rohe stammt. Es ist aber stets die Gesamterscheinung, die uns hier sicher macht, nicht das isolierte Detail. Wir sehen sofort, dass unsere Freundin einen traurigen Ausdruck hat, aber wir sind nicht imstande zu sagen, welcher ihrer Gesichtszüge sich verändert hat. Einen wichtigen Anreger hatte die „psychologische Gestalttheorie“ in dem Philosophen Christian von e hren fels (1859-1832). Dessen 1 90 erstmals veröffentlichte Arbeit Über „Gestaltqualitäten“ gehört zu den Gründungsdokumenten der Gestaltpsychologie. Am Beispiel der Melodie sprach er von „Tongestalt“ und kam zu einer ersten Definition: „Unter Gestaltqualitäten verstehen wir solche positiven Vorstellungsinhalte, welche an das Vorhandensein von Vorstellungskomplexen im Bewußtsein gebunden sind, die ihrerseits aus voneinander trennbaren (d. h. ohne einander vorstellbaren) Elementen bestehen. - Jene für das Vorhandensein der Gestaltqualitäten notwendigen Vorstellungskomplexe wollen wir die Grundlage der Gestaltqualitäten nennen“. 1 Eine Melodie, z. B. die einer Arie aus Mozarts Oper Don Giovanni, bleibt die gleiche Gestalt, egal ob sie ein Salzburger Laufbursche gekonnt vor sich hin pfeift, oder die Wiener Philharmoniker sie orchestral aufführen. Das Wort „Vater“, ausgesprochen von 8 Von Ehrenfels 960, Architekturtheorie_Huter.indd 118 23.01.2008 15: 28: 04 Uhr <?page no="118"?> Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 119 einem kleinen Knirps, hat nicht einen einzigen gemeinsamen Ton mit der Artikulation eines alten Mannes: dennoch bleibt es dasselbe Wort. Das Wort „Einfamilienhaus“, benutzt von Herrn Philipp Wohnguth aus dem Dresdner Vorort Pesterwitz im Gespräch mit seiner Frau, bleibt dasselbe Wort, wenn es Herr Architekt Ungers vor Architekturstudenten in Köln verwendet. Wir bräuchten nur einen Dolmetscher zu beobachten, wie er die Wörter des Kindes sowie des Alten bzw. die der Herren Wohnguth und Ungers in eine dritte Sprache übersetzt. Solche Ganzheiten, die sich der sinnlichen Wahrnehmung direkt aufdrängen, nennt die Psychologie „Gestalten“. Es gibt nicht nur visuelle Ganzheiten oder Gestalten, ebenso gibt es auditive Gestalten ( von e hrenfels : „Tongestalten“) oder Geruchs- und Tastgestalten. Wir „wissen“ sofort, dass eine Mücke im Zimmer ist, ohne sie zu sehen, und das Aufheulen eines Motors „erkennen“ wir unter unserem Fenster. Wir verstehen uns „blind“ darauf, wie sich Holz anfühlt und spüren tastend den Unterschied zu Stein. Mit verschlossenen Augen und verstopften Ohren wüsste jeder von uns sicher anzugeben, ob er sich auf einem U-Bahnhof befindet oder in einer Parfümerie. So können wir natürlich auch von Raumgestalten sprechen. Wenn wir z.B. den Kölner Dom betreten, dann haben wir die Anschauung des Sakralraums. Oder wir fahren ins Grüne, verlassen den Bahnhof und treten an eine Stelle, wo wir einen weiten Fern- und Überblick bekommen: sofort stellt sich die Anschauung des Landschaftsraums ein. Francesco P etrarca (130 -137 ) hat dies im Jahre 1335 eindrucksvoll anlässlich der Besteigung des Mont Ventoux beschrieben. Dass es tatsächlich solche Gestalten gibt, spüren wir immer dann, wenn wir ein Gebäude, einen Platz, eine Straße usw. nicht gleich „verstehen“. So gehört zur Gestalt eines Gebäudes, dass dieses nicht allein aus einer Fassade besteht, zu der des Straßenraums der PKW, zur Gestalt des Platzes der Überblick. Das Phänomen des Gestaltsehens, um das es uns geht, ist vielleicht am eindrücklichsten am Sehen eines Buchstaben zu verdeutlichen. 19 Nehmen wir als Beispiel den Buchstaben A des lateinischen Alphabets. Dieser kann ein sehr unterschiedliches Aussehen annehmen, d. h. trotz der Änderung vieler Details hört er nicht auf, ein A zu sein. Man muss sich nur unterschiedliche Handschriften vornehmen, zu denen jeweils eine andere persönliche Ausgestaltung des Buchstaben A gehört, dennoch bleibt das Schriftzeichen als ein A sichtbar. Besinnen wir uns auf unsere ersten Schreibübungen in der Schule. Denken wir an den Unterricht, bei dem wir gelernt haben, wie ein A auszusehen hat. Immer wieder wurden wir im Fach „Schönschreiben“ darauf getrimmt, es richtig zu machen. Doch was heißt hier eigentlich „richtig“? Ich bleibe jetzt der Einfachheit halber beim Druckbuchstaben A. Auch 9 Ich folge hier den Ausführungen Ludwik Flecks, die er 9 7 in seinem Aufsatz Schauen, sehen, wissen vorgetragen hat, vgl. Fleck 98 a Architekturtheorie_Huter.indd 119 23.01.2008 15: 28: 04 Uhr <?page no="119"?> 5. Vorlesung 120 hier kennen wir verschiedene Drucktypen und Ansichten vom Buchstaben A. Wir wussten damals, weil wir es in der Grundschule eindringlich gepaukt hatten, dass sich der Buchstabe A aus zwei Schenkeln, die sich oben treffen, und einem Querstrich zusammensetzt. Das sind seine Hauptmerkmale, die wir unendlich geübt haben, bis wir sie schließlich perfekt beherrschten. Als Kinder, die erst lernen, welche konkrete Form eine Gestalt besitzt, haben wir den Buchstaben „abgemalt“, versucht, ein genaues Abbild zu erzeugen. Heute schreiben wir, indem wir die Buchstaben gebrauchen im Hinblick auf etwas Drittes: ein Wort, einen Satz, eine Geschichte. Wir nutzen die Bildhaftigkeit des Buchstaben im Zusammenhang anderer Buchstaben. Mit der Zeit wurde unsere Handschrift ein wenig nachlässiger. Nicht immer sind heute die beiden Schenkel identisch lang. Noch weniger sind sie immer schön gerade, sondern, insbesondere weil es oftmals schnell gehen muss, schief und krumm. Aber etwas haben wir behalten und uns eingeprägt: Komme was wolle, die zwei Schenkel müssen oben zusammenlaufen, zumindest fast zusammenlaufen. Und der waagerechte Strich darf ebenfalls nicht fehlen. Warum ist gerade dies so wichtig? Warum achten wir beim Schreiben vor allem darauf ? Weil sonst das A in ein H übergehen würde. Und mit dem H besitzen wir, wie f leck heraushebt, eine konkurrierende Gestalt. „Wenn die Tendenz der Schenkel zusammenzulaufen durch ihre Neigung zueinander angezeigt ist, ruiniert eine nicht allzu große Lücke die Gestalt nicht: Wir vervollständigen sie unwillkürlich“ 20 . Jede Gestalt besitzt nicht nur positive Merkmale, sondern auch negative. Diese sind die Hauptmerkmale einer konkurrierenden Gestalt. Eine Treppe kann gerade, über Eck oder im Bogen zwei Ebenen verbinden. Sie darf aber keine glatte Verbindung zwischen den Ebenen aufweisen, sondern sie muss aus Absätzen oder Stufen bestehen, weil wir sonst die Gestalt einer Rutsche oder Rampe vor uns hätten. Stufen oder Absätze sind ein Hauptkennzeichen der Gestalt einer Treppe. Ein Handlauf kann fehlen. Man muss also, um eine Gestalt wieder zu erkennen, ebenso die Kenntnis der konkurrierenden Gestalten besitzen. Das Lesen von Gestalten funktioniert in der Regel souverän und gewohnheitsmäßig. Wir wissen heute in vielen Fällen gar nicht anzugeben, worin das Hauptmerkmal gewisser Gestalten liegt. Wir fühlen eine Gestalt eher intuitiv heraus. Aber nur die wie auch immer erworbene Kenntnis einer Gestalt schafft die Disposition, sie wahrzunehmen, schafft das Vermögen, welches wir mit f leck „Wahrnehmungsbereitschaft“ nennen können. Wir gehen im Einüben und Gebrauchen der Gestalten pragmatisch vor. Wir lernen aus Alltagssituationen und achten dabei auf die Reaktionen der anderen. Wir bewältigen unseren Alltag nicht analytisch, sondern indem wir darauf bedacht sind, erkannte Fehler in ähnlichen Situationen nicht zu wie- 0 A.a.O., 50 Architekturtheorie_Huter.indd 120 23.01.2008 15: 28: 04 Uhr <?page no="120"?> Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 121 derholen. Ebenso wie wir als Kleinkinder mühsam lernen mussten zu laufen, zu schwimmen und auf dem Rad zu fahren, so beherrschen wir diese Fähigkeiten heute blind, nämlich ohne dass wir irgendwelche Einzelheiten darüber wüssten. Aus dem oftmals nur langsam und durch Rückschläge erworbenen Wissen ist durch häufiges Verwenden dann die eingeschliffene Fähigkeit und unmittelbare Bereitschaft entstanden, in einer bestimmten Situation das Richtige zu tun. Jeder kennt das Problem, einen selbst verfassten Text Korrektur zu lesen. Sie haben schon zehnmal denselben Abschnitt gelesen, verstehen seinen Sinn und sind sich auch sicher, alles korrekt geschrieben zu haben. Dann kommt ein Bekannter und macht sie auf drei oder vier Rechtschreibfehler aufmerksam. Sie waren davon überzeugt, dass der Text fehlerfrei ist und nun dies. Was Sie gemacht haben, war folgendes: Sie haben nur auf Grund einiger Anzeichnen auf den Sinn von Wort und Satz geschlossen. Dabei haben sie gar nicht mehr auf irgendwelche Einzelheiten und Elemente geachtet, da der Text ihnen ja schlüssig erschien. Sie hatten nur Augen für die Sinngestalt Ihres Satzes gehabt, nicht jedoch für die korrekte Aufeinanderfolge einzelner Buchstaben. Diese Phänomene treffen auf alles Bekannte in unserer Welt zu. Wenn wir durch eine Stadt gehen, dann sehen wir keinesfalls Punkte, Kreise, Kanten, Lichter oder Schatten, aus denen wir erst durch Synthese oder Schlussfolgerung zusammensetzen, „was das ist“, sondern wir sehen das Haus, die Straße, den Platz, die Menschenmenge vor dem Kaufhaus. Unsere Welt ist nicht aus isolierten Urfiguren aufgebaut, aus geometrischen Formen wie Quadraten, Parallelogrammen, Zylindern usw., die wir wahrnehmend zu einer Einheit kombinieren. Es gibt vollendete Gestalten und Ganzheiten, die wir sehen, aber auch unvollendete. Es gibt deutliche Gestalten und Ganzheiten und weniger deutliche. Ein Kirchturm ohne Uhr, ein Haus ohne Schornstein, eine Tür ohne Griff sind für uns unvollendete Gestalten. Ein Mann in grüner Tracht mit umgehängtem Gewehr und Hund an seiner Seite bildet für Angehörige unserer Kultur eine unzweifelhaft deutliche Ganzheit, weil Jäger mit Hund, in dieser Einheit, auf die bekannte Tätigkeit des Jagens hinweist. Ein Reiter auf einem Pferd bezeichnet ebenfalls eine starke Gestalt, nämlich einen Jockey. Sehen wir einen Reiter in der für einen Sportreiter typischen Kleidung ohne Pferd, dann haben wir den Eindruck, dass hier etwas fehlt. Wir erkennen hierin das Phänomen, dass wir bei bekannten Gestalten, die man oft gesehen und von denen man viel gehört hat, eine hohe Bereitschaft spüren, diese Gestalt zu sehen, d. h. sie zu vollenden: „Es ist klar, dass die Deutlichkeit einer Gestalt, obwohl die Augen des Individuums diese Gestalt anschauen, in diesen Fällen aus außerhalb des Individuums liegenden Quellen herrührt; aus der Meinung der Allgemeinheit, aus der verbreiteten Denkgewohnheit. Die Gestalt ist nicht aus ‚objektiven phy- Architekturtheorie_Huter.indd 121 23.01.2008 15: 28: 04 Uhr <?page no="121"?> 5. Vorlesung 122 sikalischen Elementen‘ aufgebaut, sondern aus kulturellen und historischen Motiven.“ 21 Die Hinweise darauf, dass diese Gestalten nicht im Besitz eines Individuums, sondern sozusagen öffentliche Gestalten sind, deuten in Richtung gesellschaftlicher Kultur. Nur insofern wir als Mitglieder oder Teilnehmer an einer Kultur an dem Gestaltrepertoire dieser Kultur partizipieren, erlangen wir die Möglichkeiten, Gestalten zu verstehen und selbst anzuwenden. Gestalten sind etwas, das einen Namen, eine Tradition und innerhalb dieses gesellschaftlich-kulturellen Kontexts Sinn und Bedeutung haben. Zu einem Haus gehören gewisse Hauptmerkmale: Würfelform entsprechender Größe, Straßenfront, ein Dach, Fenster und eine Tür. Die Gestalt Wohn- oder Einfamilienhaus konkurriert mit anderen Gestalten wie Schloss, Villa, Kirche, Bahnhof, Hütte und Schuppen. Notwendig für unser Gestaltwissen ist auch das Bewohntwerden von Häusern durch Menschen, im Unterschied zu einer Theaterkulisse. Negative Merkmale, die wir einem Einfamilienhaus nicht zuschreiben, sind: das Fehlen eines Turms, das Fehlen einer außen angebrachten Uhr oder das Fehlen einer Bel-Etage, also alles Kennzeichen, die wir als Hauptmerkmale wiederum einer Kirche, einer Villa, eines Mehrfamilienhauses usw. zuordnen würden. Wir wollen aber nun auf Folgendes hinaus: Es ist klar, dass nur ein Mensch aus unserer Gesellschaft ein „Einfamilienhaus“ auf diese Weise sieht, d.h. „diese Gestalt in der ganzen Skala seiner möglichen Transpositionen heraus kennt“ 22 . Wir können diese Erkenntnis von f leck weiter zuspitzen. Wir können das Vermögen, bestimmte Gestalten zu sehen, als ein „kollektives“ Eingeübtsein verstehen, das für Mitglieder einer Gesellschaft typisch ist. Wir wachsen in solche Gemeinschaften, bestehend aus Kultur, Sprache und Tradition hinein, auch dadurch, dass wir lernen, bestimmte Gestalten zu sehen. Solches Lernen geschieht mitunter so, dass wir negativ sanktioniert werden, wenn wir etwas anderes „sehen“, als die Gesellschaft es vorgibt. Wir werden geradezu dressiert und gedrillt auf gewisse Ganzheiten. Ähnlich wie wir es schon als Kinder beim Lernen der einzelnen Buchstaben und Zahlen gelernt hatten und schon nicht mehr wissen, was wir einst wissen mussten. Wann geht das Sehen eines Hauses in das Sehen einer Ruine über? Wann geht das Vernehmen von etwas Lebendigem in das Sehen einer Maus über? Usw. Ludwik f leck hat davon berichtet, dass im Polen der Nachkriegszeit zerstörte Gebäude durchaus noch als Wohnhäuser „gesehen“ wurden, in denen man Unterschlupf finden konnte. Er habe aber Amerikaner gekannt, die in diesen Gebäuderesten nur mehr unbewohnbare Ruinen sehen wollten. Dies hat zweifelsfrei nichts mit optischer Täuschung zu tun, es hat überhaupt nichts mit Psychologie zu tun. Hier liegt das Phänomen vor, dass in dem 55f. 56 Architekturtheorie_Huter.indd 122 23.01.2008 15: 28: 05 Uhr <?page no="122"?> Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 123 Gesehenen verschiedene „Apriori“ zur Anschauung kommen. Das „Hausgemäße“ hat offensichtlich unterschiedliche kulturelle Wurzeln und Grenzen. Jeder sollte mal im Selbstversuch testen, wie bei ihm das Gestaltsehen funktioniert. Welcher Anteil an diesem Sehen einer bestimmten Gestalt kommt dem eigenen individuellen Sehen zu, welcher Anteil dem erlernten Sehen, dem Sehen mit den Augen der Gemeinschaft, der wir angehören? Ebenso wie es einen gemeinsamen „Stil des Denkens“ gibt, etwa bei Landwirten, Seeleuten oder Architekten, so gibt es eine gemeinsame Bereitschaft, bestimmte Gestalten zu sehen: „Ohne Zweifel! Ein später Nachfolger Le Corbusiers! “ - „Schauen Sie hier! New Urbanism auch in Dresden! “ Landwirte beobachten das Verhalten ihrer Tiere, Seeleute spüren den Wechsel des Windes, Architekten prüfen die Proportionen der Fassadenelemente. f leck hat dies auf folgende Formel gebracht: „Wir schauen mit den eigenen Augen, aber wir sehen mit den Augen des Kollektivs Gestalten, deren Sinn und Bereich zulässiger Transpositionen das Kollektiv geschaffen hat.“ 23 Statt Kollektiv sagen wir besser: Sprachgemeinschaft oder Berufsgruppe, die sich eine eigene Ausdrucksfähigkeit, eigene Gestalten und eine entsprechende Wahrnehmungsbereitschaft geschaffen hat. f leck hält uns an, genauer zu unterscheiden zwischen schauen, sehen, beobachten und beschreiben. Ausrufe wie „New Urbanism“, „Internationaler Stil“, „Postmoderne“ gehen niemals auf ein bloßes „Schauen“ zurück. Dann müssten ja alle Menschen, die denselben Gesichtsausschnitt einer Umgebung haben, zu ebendiesem Ausdruck kommen. (Das Thema „Stil“, „Denkstil“, „Lebensstil“ werden wir in der 11. Vorlesung noch einmal aufnehmen). 4 Beobachten und Beschreiben Wir haben gezeigt, dass jedes Sehen Einfluss auf den Gehalt des in Blick genommenen Gegenstands hat. Charakteristisch nehmen sich neben den gesellschaftlichen und kulturellen Denkformen und Lebensstilen die beruflichen Beobachtungsstandards aus. f leck , Mikrobiologe und Mediziner, weiß wovon er spricht 2 : „Mein Beruf zwingt mich, täglich von einem bestimmten Standpunkt aus sehr einfache Dinge zu beobachten: Mikroskoppräparate. Wenn ich mir ein Mikroskoppräparat anschaue, z. B. Diphtheriekulturen, dann, in der Umgangssprache gesagt, sehe ich allein eine gewisse Menge Striche von gewisser eigentümlicher Struktur (bzw. Färbung), gewisser Gestalt und gewisser Anordnung. Doch ich versuchte vergebens, diese drei Elemente des Bildes so zu beschreiben, um für den Laien mit Worten das Bild dieser 57 Ich zitiere aus seinem bahnbrechenden Aufsatz Über die wissenschaftliche Beobachtungen und die Wahrnehmung im allgemeinen, vgl. Fleck 98 b, 59 f. Architekturtheorie_Huter.indd 123 23.01.2008 15: 28: 05 Uhr <?page no="123"?> 5. Vorlesung 124 charakteristischen Gestalt eindeutig wiederzugeben, wie sie ein geschulter Beobachter sieht, aber die ein Laie anfangs einfach zu sehen außerstande ist. Nach kurzer Zeit jedoch erwerben fast alle Schüler die Fähigkeit, sie wahrzunehmen und gelangen zu übereinstimmenden Ergebnissen. Man muss also erst lernen, zu schauen, um das wahrnehmen zu können, was Grundlage der gegebenen Disziplin bildet.“ 25 Es würde nun doch überhaupt nicht sinnvoll sein, einen allgemein geschulten Beobachter, vielleicht einen Fernsehreporter oder einen Schriftsteller aufzufordern, er solle das mikroskopische Bild beschreiben. Natürlich würde er „etwas“ sehen. Aber er könnte die „Idee“, die gleichsam „hinter“ dem Ausdruck Diphtheriekultur steht, nicht anschauend realisieren. Vielleicht würde z. B. ein Architekt „Gliederungsmuster einer Fassade“ in starker Verzerrung sehen. Alle drei müssten indes vor dem Präparat ebenso scheitern wie jeder andere Laie, der in das spezifische Sehen einer bestimmten Disziplin nicht eingewiesen ist. Das gleiche gilt, wenn man uns die Aufgabe übertrüge, ein Röntgenbild zu lesen. Wir müssten schon auf charakteristische Gestalten vorbereitet sehen, um einen Haarriss oder Schatten auf der Lunge sehen zu können. Um zu verstehen, was auch hier das Gestaltsehen bedeutet, müssen wir uns fragen, wie z. B. Ärzte es gelernt haben, im Röntgenbild eine typische Gestalt zu erkennen. Ich sehe hier grundsätzlich keinen anderen Vorgang, wie auch jeder von uns irgendwann in seiner Sozialisation gelernt hat, die charakteristische Gestalt des Pferdes von der der Kuh zu unterscheiden. Wir haben diese Erfahrung und die dazugehörende Geschicklichkeit im Differenzieren mehr oder weniger mühsam erwerben müssen. Die Inhalte dieses Vermögens lassen sich jedoch nicht durch Worte ausdrücken und sind auch nicht vom Lehrer auf den Schüler übertragbar. D. h., das spezifische Gestaltsehen kann nicht gelernt werden, wie wir gelernt haben, eine Addition richtig durchzuführen. Wir müssen die Erfahrung des rechten Sehens am eigenen Leibe gemacht haben. Auch das Wissen, das wir als Erfahrene in unserem Beruf uns angeeignet haben, lässt sich nicht durch Wortformeln oder dgl. ersetzen. Es ist eher ein Können denn ein auf andere übertragbares Wissen. Wir müssen für ein bestimmtes Wissen disponiert und vorbereitet sein. Während das „anschauliche Apriori“ offensichtlich allen Menschen eignet, baut das spezifische kulturelle Gestaltsehen auf diesem Vermögen auf und schult es konkret. Aber diese Disposition ist nicht eine angeborene, sondern eine erworbene. a ristoteles hat einmal erwähnt, dass Kleinkinder zunächst zu jedem Mann Vater sagen. Erst wenn sie die Unterscheidung zwischen Vater und Mann, dem Besonderen und dem Allgemeinen, gelernt haben, erlangen sie auch die Fähigkeit, im eigenen Vater auch einen Mann zu sehen, bzw. andere Männer nicht als „Vater“ anzusprechen. Es ist deshalb not- 5 Fleck 98 a, 57 Architekturtheorie_Huter.indd 124 23.01.2008 15: 28: 05 Uhr <?page no="124"?> Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 125 wendig, dass sich jeder einzelne sozusagen persönlich in der Wahrnehmung spezifischer Gestalten aus verschiedenen Bereichen schult. Es gibt hier keine allgemeingültige Beobachtersprache, die in irgendeiner alles umfassenden Grammatik das Gesehene eindeutig beschreiben könnte. Nur der jeweilige Fachmann wird einschätzen können, ob bestimmte Beobachtungen und Beschreibungen zu seiner Disziplin gehören oder nicht. Es ist deshalb unmöglich, allgemein über gutes oder schlechtes Beobachten, gutes oder schlechtes Beschreiben zu befinden, „sondern nur über mit einem bestimmten Wissenszweig übereinstimmendes und nicht übereinstimmendes Beobachten [bzw. Beschreiben]“ 26 . Was wir hier über das Sehen gesagt haben, gilt selbstverständlich auch für das Hören, Tasten und Schmecken. Für uns ist dabei wichtig zu erfassen, wie eng Beobachten und Beschreiben zusammengehören. Wer nicht gelernt hat, gewisse Dinge zu beobachten, von dem ist nicht zu erwarten, dass er sie „gut“ beschreiben wird. „Gut“ ist hier relativ zum passenden Vokabular eines bestimmten Wissensgebiets. Nur der in einem gewissen Bereich geschulte Beobachter wird uns brauchbare Beschreibungen liefern. Immer geht eine besondere Scharfsichtigkeit mit einer gewissen Blindheit überein. Der auf seinem Fachgebiet Spezialisierte ist in der Regel „auf einem Auge blind.“ Der Insektenkenner hat nur ein Auge für den Schmetterling nicht aber für die Blume, auf dem das Insekt sitzt. Der Automechaniker hört eine technische Störung am Motorengeräusch des Wagens, hat aber kein Ohr für die Violinsonate, die zur gleichen Zeit aus dem Autoradio erklingt. Das bringt uns zu unserer nächsten Frage: Wo beginnt und wo endet der Aufmerksamkeitsbereich einer Disziplin? Bislang sind wir davon ausgegangen, dass es vor allem eine gewisse Schulung ist, die „im Geiste“ einer bestimmten wissenschaftlichen Tradition durchgeführt wird, die unsere Bereitschaft, Gestalten zu sehen, beeinflusst. Eine Baulücke soll bebaut werden. Wo aber beginnt und wo endet ein Bereich? Diese Frage muss jedenfalls der beantworten, der für einen Kollegen, also einen zweiten Experten, eine genaue Beschreibung der Situation liefern soll. Eine Fotographie anzufertigen, nutzt nichts, denn man müsste entsprechend wissen, was alles aufs Photo gehören soll, wie weit der Bildausschnitt gewählt werden soll. Hat der geschulte Architekt, wenn er durch eine Straße geht, ein Bauwerk beobachten und beschreiben zu können, oder muss er auch die Erfahrungen, die mit der Nutzung eines Gebäudes verbunden sind, beobachten und beschreiben können? Wie ist es mit der Umgebung des Gebäudes? Lässt sich eine befriedigende Beschreibung einer architektonischen Situation geben, ohne die Gegend, in der das Gebäude steht, als Wohnort zu charakterisieren? Lässt sich die Wohnqualität eines Quartiers beobachten und beschreiben mit der Aufmerksamkeitshal- 6 Fleck 98 b, 60 Architekturtheorie_Huter.indd 125 23.01.2008 15: 28: 05 Uhr <?page no="125"?> 5. Vorlesung 126 tung, die man bei der fachmännischen Prüfung eines Fassadendetails bereit ist aufzubringen? Oder muss hier erst ein Ruck unsere Wahrnehmungsfähigkeit neu justieren? 5 Sehen, neu-sehen, über-sehen Unsere Fragen führen uns zu zwei wesentlichen Merkmalen, die jede Beobachtung und Beschreibung etwas angehen: 1. Es besteht die Notwendigkeit einer gewissen standardisierten Ausbildung und Einübung des Beobachters, ohne die von einem Beobachten des gegebenen Gegenstands keine Rede sein kann, und 2. Es ist sogar unter ausgebildeten Beobachtern unmöglich, sich völlig über den Rahmen des Gegenstands zu verständigen. Wenn wir diese beiden Schwierigkeiten verstanden haben, so dürfen wir nicht der Versuchung erliegen, diese Merkmale auf die Willkür der Subjektivität und Persönlichkeit des Beobachters zu schieben. Man tut dann so, als ob der Beobachter sich bei jeder Beobachtung im Vorhinein klar ist oder klar sein kann, welche Details er beobachten will und welche nicht. In Wirklichkeit hat er jedoch kein eindeutiges Wissen von der Auswahl relevanter Einzelheiten, sondern die bestimmte Auswahl drängt sich ihm bindend auf, zwingt ihn gleichsam, indem sie aus seiner Aufmerksamkeitsstimmung, aus dem Komplex seiner Wahrnehmungsbereitschaft, aus seinen Denkgewohnheiten hervorgeht. f leck nennt diese Disposition Denkstil. Die Ergebnisse sind nicht zufälligerweise, sondern notwendigerweise verschieden, weil wir von unterschiedlichen „Ideen“ oder „Stilen“ ausgehen müssen. Man kann freilich einen Beobachter schulen, jedoch nicht im Hinblick auf eine immer allgemeingültigere Beobachtung, sondern nur in Hinblick auf ein bestimmtes Gestaltsehen. Nehmen wir einen Städtebauer und einen Stadtsoziologen. Zusammen beschäftigen sie sich mit einem Viertel in Dresden. Schauen wir uns ihre Beobachtungsprotokolle an, so werden wir den Eindruck haben, sie hätten jeweils einen anderen Gegenstand untersucht. Aber so war es gar nicht. Und in der Tat: Der Bewohner desselben Viertels wird möglicherweise aus beiden Protokollen nichts von der erlebten Wohnwirklichkeit in seinem Quartiers wiederfinden. Zwei Forscher, vertraut im Gestaltsehen ihrer unterschiedlichen Denkgemeinschaften, haben niemals einen gemeinsamen Gegenstand, sondern jeder von ihnen beobachtet einen „anderen“ Gegenstand. Noch komplizierter wird die Sache, wenn beide ihre Beobachtungen beschreiben, denn sie werden dann entweder verschiedene Ausdrücke für denselben Gegenstand oder die gleichen Ausdrücke in anderer Bedeutung verwenden. Dies ist nicht dem unterschiedlichen Temperament oder der außerordentlichen Architekturtheorie_Huter.indd 126 23.01.2008 15: 28: 05 Uhr <?page no="126"?> Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 127 Persönlichkeit der Forscher geschuldet, sondern es hängt mit den jeweiligen gesellschaftlichen Sozialisations- und Professionalisierungsprozessen zusammen, denen niemand sich entziehen kann, insofern er überhaupt Gestalten zu sehen gelernt hat. Eine wissenschaftliche Beschreibung funktioniert nur im Rahmen einer bestimmten wissenschaftlichen Disziplin und ihrer Sprache. Eine alltägliche Beschreibung funktioniert nur im Rahmen einer bestimmten Alltagskultur und ihrer Sprache. Jeder Beobachter wird in einem Viertel die Gestalten suchen und finden, die er schon kennt: das Vorstädtische, das typische Arbeitergebiet, das Cityhafte usw. Findet er keine, dann wird er versuchen, aus dem gesehenen Material Gestalten zu konstruieren, die den bekannten ähnlich sind. Immer ist er auf der Suche nach dem Charakteristischen, Typischen, für das er schon Aufmerksamkeit besitzt. Um dieses Typische zu beschreiben, wird er traditionelle, gewohnte Vergleiche angeben, etwa indem er an den Prototyp einer Vorstadt, einer City, eines Dorfes usw. erinnert. Der Vergleich kann benutzt werden, um auf Ähnlichkeiten hinzuweisen, aber ebenso gut, um auf Unterschiede aufmerksam zu machen. Wie hat man gelernt, das typische Dresdner Würfelhaus zu sehen? Man hat gelernt das „Spezifische“, „Allgemeine“ herauszusehen, den typischen Unterschied z. B. zwischen einer Berliner Mietskaserne und einer großzügigen Stadtvilla, ebenso wie man gelernt hat, das Spezifische des Buchstaben A zu sehen - trotz aller Veränderlichkeit. Dazu noch einmal F leck : „Vorher, bevor man lernt, die Gestalt zu sehen, drängen sich verschiedene Vergleiche auf. Aber die Beziehung dieser Gestalt zu der verglichenen, anderswoher bekannten, flimmert uns in den Augen: Einmal sehen wir die Ähnlichkeit, einmal den Unterschied. Genau so lernen wir eine neue Gestalt zu schaffen. Wenn wir sie schon kräftig erfassen, entfallen die Vergleiche oder haben nur einen didaktischen Wert, d.h. für den, der zu sehen lernt.“ 27 Der Ausdruck der Wahrnehmung ist eine Wirkung, die im gesehenen Bild sowohl gesellschaftliche, soziale als auch individuelle Erfahrungen vermittelt. „ ,Sehen‘ heißt: im entsprechenden Moment das Bild nachzubilden, das die Denkgemeinschaft geschaffen hat, der man angehört“. 28 Um was es dabei geht, wenn wir ein „neues“ Bild sehen, hat F leck das Entdecken einer neuen Perspektive genannt, die nicht mehr stilgemäß ist. Sicher waren L e -c orbusier s „Vers uns Architecture“ und V enturi s „Complexity and Contradiction in Architecture“ Versuche, ein verändertes Sehen unter Architekten durchzusetzen. Nicht mehr stilgemäß heißt gerade nicht, dass solche Perspektiven stillos sein könnten. Eine Perspektive ohne Stil wäre eine Wahrnehmung ohne Wirkung, ein Sehen, das nichts sieht und keinen Eindruck hinterlässt. Das neue Gestaltsehen, die ungewohnte Perspektive, gehört gewissermaßen einer anderen Sehschule an als der überkommenen. Jene will 27 72 28 82 Architekturtheorie_Huter.indd 127 31.01.2008 12: 04: 55 Uhr <?page no="127"?> 5. Vorlesung 128 die alte ablösen, weil deren Blick auf die Welt der Architektur nicht mehr überrascht und nur die bekannten, jetzt als überholt und nutzlos erachteten Reaktionen auslöst. Darum unterstreicht das neue Sehen nicht mehr die bekannten Gestaltmerkmale, die bis dahin landläufig hervorgehoben wurden. Das „neue“ Sehen in Einheit mit der neuen Beschreibung schafft inmitten einer Epoche folgenloser Wiederholungen und eingespielten Gleichgewichts eine produktive Unruhe. Wie lässt sich aber die Neigung zum Gestalt-Wechsel verstärken und dauerhaft durchhalten? „Das bis dahin feststehende Bild zerfällt in Kleckse, die sich zu verschiedenen, widersprüchlichen Gestalten formen“. 29 Andere Motive aus anderen Zusammenhängen, die bislang vernachlässigt waren, gewinnen schlagartig an Bedeutung und stoßen dazu. Plötzlich werden auch die Rolle und der Beitrag anderer Wissenschaften, die lange Zeit nicht beachtet waren, akut: Der Ingenieur- und Flugzeugbau im Falle l e c orBusier s oder die Alltags- und Kitschkultur im Falle v enturi s. Es entsteht ein Chaos an Anregungen und Verwerfungen. Ist erst einmal die Spitze einer neuen Gestalt gegriffen, dann muss die neue Gestalt sogleich vor der Auflösung geschützt werden. Was einst die Führerschaft des Gestaltsehens ausmachte und was früher wichtig und unabdingbar war, um die alte Gestalt zu identifizieren, darf, ja muss jetzt vernachlässigt und dementiert werden. Ganz andere Bestimmungen rücken stattdessen in den Vordergrund, müssen zugleich vor der Banalisierung bewahrt werden. „Man muß sie [die neue Gestalt, A.H.] von dem absondern, was von nun an unwichtig, zufällig sein wird. Man muß ein gerichtetes Interesse schaffen, man muß feindliche Interessen zerstören. Man muß eine andere Denkbereitschaft schaffen und Menschen zu ihr erziehen. Wenn dies gelingt, werden alle, die an ihr teilnehmen, die neue Gestalt unmittelbar, direkt durch Augenschein sehen, wie wenn es eine vom Menschen unabhängige, einzige, ewige Wahrheit wäre“. 30 Die dem neuen Sehen unterbaute „Idee“ ist das, als was der angeschaute Gegenstand in der Wahrnehmung aufgefasst wird. Betrachten wir als Architekten eine Stadt, dann schärfen wir unbewusst unser Sehen auf das einzelne Gebäude. Es fällt uns auf. Dieses Auffallen ist jedoch nichts Zufälliges, sondern nur die Folge eines längst schon eingeübten Festgestelltseins unseres Blicks auf die deutliche Gestalt des Architektonischen. Ähnlich arbeitet auch der geübte Chemiker, wenn er mit seinem Mikroskop hantiert. Beim Mikroskopieren kommt es ja bekanntlich darauf an, das Präparat „deutlich“ zu sehen. Das gelingt, indem man das Gerät „scharf“ einstellt. Schärfe und Deutlichkeit sich dabei nicht zu trennen, sondern bedingen einander. Was aber unter Deutlichkeit je verstanden wird, das bringt man zum Mikroskopieren schon mit. Der Stadtplaner sieht andere Gestalten in der Stadt als der Architekt. Wilhelm s chaPP hat deshalb 9 80 0 8 Architekturtheorie_Huter.indd 128 23.01.2008 15: 28: 06 Uhr <?page no="128"?> Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 129 im Zusammenhang von Sehen und Deutlichkeit vom Wirklichkeitsaspekt der Wahrnehmung gesprochen. 31 Beim „richtigen“ Einstellen des Geräts kommt der Forscher auf etwas zurück, was er schon weiß: nämlich die Dinge auf eine bestimmte, bekannte Art zu sehen. f leck hat dann aber beobachtet, dass dieses Wissen, in welchem man sich gezielt geschult hat, vom bewussten Sehen zur Sehgewohnheit übergeht. Was wir einmal zu unterscheiden gelernt haben, braucht man im folgendem nur mehr zu kennen, nicht mehr explizit zu wissen. Diese Unterscheidung zwischen Kennen und Wissen ist sehr bedeutsam. Sie erklärt nämlich eine gewisse „Verwandtschaft“ im Wahrnehmen und Sehen ähnlich geschulter Menschen. Wenn wir etwa vom gekonnten Blick des Arztes, des Handwerkers oder des Architekten sprechen, meinen wir dieses durch Wissen und Übung angeeignete Aspekt- oder Gestaltsehen. Je mehr sich aber ein Sehen berufsspezifisch durchsetzt, d.h. während der wissenschaftlichen Ausbildung konzentriert eingeschliffen wird, desto größer ist die Gefahr, dass Dinge und Gegebenheiten übersehen werden. Wird dieses Übersehen zur berufscharakteristischen Gewohnheit („Blindheit“) und in mehr oder weniger abgeschotteten Gemeinschaften praktiziert, dann wird die hohe Spezialisierung durch Einseitigkeit teuer erkauft. Genau an dieser Stelle setzt die Architekturtheorie an. Das geschulte Auge ist gleichsam angehalten, das zu übersehen, worauf zu achten es nicht getrimmt wurde. Eine wichtige Aufgabe der Architekturtheorie besteht nun darin, dass wir uns der Begrenztheit des architektonischen Gestaltsehens bewusst werden. Der architektonisch eingestellte Blick ist nicht nur unvermeidlich, sondern auch unverzichtbar. Wir müssen immer wieder daran arbeiten, ihn zu schulen. Wir müssen genau analysieren, wie er sich aufbaut und was er typischerweise in den Blick nimmt. Vor allem aber müssen wir uns fragen: Wo sind seine Grenzen? An welcher Stelle versagt sozusagen dieses Können des Architekten, wo kann er nicht mehr folgen? D. h., wo sieht er nichts mehr? Wir müssen uns diesen Grenzen aussetzen, sie uns bewusst machen und uns entscheiden, ob wir diese Grenzen transzendieren, also überschreiten wollen oder nicht. Jedes eingeschliffene Sehen macht die Menschen, die sich seiner unbewusst bedienen, „blind“. Der blinde Fleck muss hingenommen werden, weil ja die vollständige Wahrnehmung einer Situation unmöglich ist. Aber wir haben die Möglichkeit, gezielt die Grenzen des Auffassens zu verschieben. Das gelingt aber nur, wenn wir uns in die Lage bringen, den architektonischen Blick bewusst auszusetzen, uns davon zu distanzieren. Wir probieren dann einmal, die gebaute Welt „mit anderen Augen“ zu sehen. Wir sind gewohnt und haben dies im Studium auch gelernt, mit einem einseitig ästhetisch geschulten Auge die Gebäude unserer Einfamilienhaussiedlungen zu betrachten. In der Anschauung, wie architektonische Laien sie allein aus Schapp 976 Architekturtheorie_Huter.indd 129 23.01.2008 15: 28: 06 Uhr <?page no="129"?> 5. Vorlesung 130 der Alltags- und Gebrauchsperspektive praktizieren, ist die typische Gestalt eines Einfamilienhauses freilich eine andere als in der professionellen, an Proportionen und Goldenem Schnitt geschulten architektonischen. Was wir nicht dürfen, ist die Laienperspektive zu kolonialisieren, ihnen also eine Gestalt überwerfen, die im Wahrnehmen durch ihre Bewohner nicht mehr als geglückte oder verstehbare „Hausgestalt“ angeschaut werden kann. Denn oftmals wissen wir gar nicht genau, worin die positiven und worin die negativen Merkmale einer Gestalt konkret bestehen. Deshalb sollten wir versuchen, zunächst die Grenzen und Übergänge der Gestalt zu erkunden, indem wir einzelne Merkmale auf ihren positiven bzw. negativen Charakter hin verstehen lernen. Wir versuchen dann, die „Idee“ Einfamilienhaus, das „Hausgemäße“, in ihren konkreten Formen uns von architektonischen Laien begegnen zu lassen. Wir probieren dann, ein Haus mit den Augen seiner Bewohner zu sehen. Was hier vorgeschlagen wird, bedeutet nichts anderes, als dem Bewohner und seiner Anschauungswelt „Aufmerksamkeit“ zu schenken. Nicht in dem banalen Sinne, dass wir „an ihn“ hinsichtlich seiner allgemein menschlichen Bedürfnisse denken, in dem wir etwa „auf“ den Statistiker „hören“, wie es G ropius getan hat. Aufmerken und Beachten sind Verhaltensweisen, die uns helfen, tatsächlich mit anderen Augen sehen zu lernen. Jemandem unsere Aufmerksamkeit schenken bedeutet ihm zuhören. 6 Gestalt und Ausdruck Was kommt in dem Bildhaften des Angeschauten zum Ausdruck, was erfassen wir, wenn wir das Verhalten von Menschen zur Umwelt beobachten? Wir sehen Männer Steine aufeinander schichten und beobachten, dass unterschiedlich große Flächen freigehalten werden. Wir sehen zusammengehörende Abfolgegestalten, die jedoch mehr als bloße Gestalten sind. Es kommt darauf an, mit der Gestalt noch etwas Wesentliches zu fassen, nämlich „Sinn“. Der Mensch hat die Fähigkeit in dem Verhalten eines anderen Menschen nicht nur seine Ganzheitlichkeit, sondern auch das Motiv in der Gestalt wahrzunehmen 32 . Im Erschließen der Sinngestalt sind wir uns sicher: „Ein Haus wird gebaut! “ Wir erkennen jetzt Außenwände und Fensteröffnungen. Uns fällt ein, es gibt einen Bauherrn und einen Architekten. All dies wird natürlich nicht gesehen. Vielmehr fügen wir diesen Sinn dem Sinneseindruck hinzu. Wir erschließen die Gestalt in Gänze erst dadurch, dass wir dem menschlichen Tun eine Motivation oder Richtung auf ein Ziel unterstellen. Nur so wird die Gestalt sinnvoll und bedeutend. Ein Handeln erschließt sich uns erst dann als ein sinnvolles Tun, wenn wir darin eine Absicht verste- 32 Vgl. Plessner 1953, 162 Architekturtheorie_Huter.indd 130 31.01.2008 12: 07: 13 Uhr <?page no="130"?> Die Wirklichkeit architektonischer Gestalt 131 hen. Wenn wir also in einem Ausdruck einen Sinn deuten, dann haben wir etwas entdeckt, nämlich dass sich ein Tun auf ein Ziel hin ausrichtet. Jedes Handeln ist orientiert an einem Ziel, strebt seiner Vollendung zu. Helmuth P lessner hat diese Hinordnung von Aktivitäten zu einem Ganzen so ausgedrückt: „Wort und Geste meinen etwas, bringen unsere Aufmerksamkeit in eine Richtung, zielen auf etwas hin. Eine Maßnahme übt die gleiche Funktion aus, da sie auf einen Zweck zielt. Ein Zusammenhang lässt sich aus sich selber heraus verstehen, wenn in seinen Teilen ein Richtungszug waltet, in welchem sich die Geschlossenheit der Teile in einem Ganzen kundgibt“. 33 Dieser Sinn oder Richtungszug, der die Gestalt erst bedeutsam macht, ist selbst nicht gegenständlich gegeben. Auch ein Schild mit der Aufschrift „I’m a monument! ” (Ich bin ein Monument), das Robert v enturi als der Alltagsarchitektur angeheftet verstand, erteilt selbst keine Auskunft darüber, was es soll. Nur wer schon im Bilde ist, kann diesem Bild (Schild) etwas abgewinnen. Es beendet also nicht unser Fragen, sondern heizt es erst richtig an, insofern wir den Witz (das Ziel einer Aktivität) der Aufschrift verstehen wollen. Dieses Nicht-Gegenständliche des Motivs oder des Gerichtetseins „ist aber gegeben, trotzdem wir es, wenn wir scharf darauf achten, weder im Objekt noch im Subjekt der Beachtung unterbringen können“ 3 . Das Bild oder der Ausdruck „nimmt“ den Betrachter sozusagen „mit“. Geht der Ausdruck der Gestalt vom Objekt oder vom Subjekt aus? Weder noch: Das Motiv liegt nicht im Objekt, denn dem ist nichts Gegenständliches der Art nachzuweisen. Auch nicht dem Subjekt, denn dieses wird ja erst auf den Sinn aufmerksam in der Begegnung mit dem Geschauten. Wir sprechen deshalb besser von der Gegenseitigkeit von Ausdruck und Verständnis. Es ist natürlich schon wichtig zu wissen, mit was wir es eigentlich zu tun haben, wenn wir von Dingen wie Fenster, Tür, Treppe sprechen. Wenn wir durch eine Straße gehen und Menschen vor ihren Häusern und in ihren Gärten beobachten, nehmen wir dann Dingeigenschaften wie eine Haustür, die man verriegeln und aufsperren kann, Fenster, die man öffnen kann, eine Treppe, die in zwei Richtungen benutzt werden kann usw. wahr, oder erfassen wir „Bilder“ und verstehen „Motive“, wie das geübte Öffnen der Haustüre mit sicherem Griff des passenden Schlüssels, das wohlige Sonnen bei bequem geöffnetem Fenster oder auch das mühsame Erklettern eines steinernen Hindernisses? Nur wenn wir die Situation als etwas Ganzes erfassen, verstehen wir das Motiv und den Sinn des Angeschauten. Wir miterleben das Glück eines sonnigen Tages, das schwere Geschäft des Alterns, das rastlose Tagwerk des Berufstätigen. Und diese Wirklichkeit erleben wir eingebettet in architektonisch-räumliche Gestalten. Das Problem, das wir damit haben, ist, dass wir den situativ in Ausdrucksbildern angeschauten faktischen Erleb- A.a.O., 6 6 Architekturtheorie_Huter.indd 131 23.01.2008 15: 28: 06 Uhr <?page no="131"?> 5. Vorlesung 132 nistatbestand gleich nüchtern meinen, distanzieren zu müssen. Tun wir dies jedoch nicht, sondern erfassen darin angeeignete Gebrauchsqualitäten, gewinnen wir ein unmittelbares Verstehen von Möglichkeiten des wohnenden Verhaltens. Damit wird nicht behauptet, dass wir irgendeinen geheimen Zugang zur „Psyche“ eines Menschen haben, dem wir mit unserem Blick begegnen. Unserem Verständnis ist genüge getan, wenn wir eine Verhaltensgestalt erfahren, die im Bezug zur architektonischen Umgebung eine bestimmte Haltung festlegt. Architekturtheorie_Huter.indd 132 23.01.2008 15: 28: 06 Uhr <?page no="132"?> 6. Vorlesung Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens Innerhalb der Architekturtheorie müssen wir uns mit verschiedenen Raumkonzeptionen beschäftigen. Wohnen, Entwerfen und Bauen beziehen sich je anders auf Raum und auf Räumliches. Wir benutzen das Wort Raum im Sinne eines Behälters, in dem sich etwas befindet, als auch im mathematischgeometrischen Verständnis, wenn wir z. B. vom Kartenraum oder Planungsraum sprechen. Wichtig ist jedoch, dass wir lernen, wie die verschiedenen Raumkonstellationen ineinander greifen bzw. sich gegenseitig ausschließen, vor allem aber, wie wir falsche Aufbau- und Ableitungsverhältnisse der unterschiedlichen „Raumbegriffe“ und ihrer Inhalte abwehren. Das letzte Kriterium soll aber unsere Raumerfahrung sein, weshalb wir es vermeiden, von einem „architektonischen Raum“ zu sprechen. Und deshalb wird auch gerade bei der anstehenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Raums es nicht ausbleiben können, sich den fundierenden Denktraditionen zu nähern, in denen über die Räumlichkeit des Menschen in einer kaum zu überbietenden Ernsthaftigkeit nachgedacht wird. 1 Raum, geräumt, räumen In-der-Welt-sein oder kurz In-Sein bezeichnet den Aufenthalt des Menschen auf der Erde. Dabei nimmt der Mensch selbst mit seinem Körperleib einen Raum ein, wie er auch einen Raum zwischen sich und dem anderen Körperleib bildet. Künstlich hergestellte Räume grenzen einen Raum für den Menschen ein, insofern als sie von dem einen unbegrenzten natürlichen Raum oder Umwelt-Raum weitere in sich gegliederte Räume in ihren Grenzen bereitstellen und zur alltäglichen menschlichen Betätigung freimachen. Raum gibt es nur, insofern es Grenzen gibt: Grenzen des Leibes, Grenzen der Dinge, Grenzen menschlicher Bewegung und Aktivität. Nur weil der Mensch im Raum lebt, Raum hat und benötigt, sein Dasein faktisch räumlich ist, kann ihm Architektur überhaupt zur Aufgabe werden. Raum-Erfahrung versteht sich nur hinsichtlich eines Leibsubjekts in seinem konkreten Hier. Insofern Architekturtheorie_Huter.indd 133 23.01.2008 15: 28: 07 Uhr <?page no="133"?> 6. Vorlesung 134 nun das Architektonische gerade die Raumkunst ist, zu der nur der Mensch fähig ist, weil er sich zum Raum verhält, müssen wir nach der Räumlichkeit des menschlichen Daseins fragen. Was aber meint überhaupt der Ausdruck „Raum“ (lat.: spatium, locus, intervallum)? Einen Hinweis auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes 1 geben sowohl das Adjektiv „geräumt“ als auch das Verb „räumen“. Die altnordische adjektivische Form „rûm“ drückt auch „urbar gemacht“ aus, im Gegensatz zu „rauh, bewachsen“, wie das Tätigkeitswort „räumen“ beispielsweise im Forstwesen ein mit Gestrüpp bewachsenes Land säubern und kulturfähig machen bedeutet, wozu wieder am nächsten das einen Platz, einen Lagerplatz räumen, ihn durch Entfernung von Stauden und Stöcken zum Lagern passend machen, tritt. So weisen diese sprachlichen Formen auf Raum als einen frühen Ausdruck der Ansiedler hin, der zunächst die Handlung des Rodens und Freimachens einer Wildnis für einen Siedelplatz bezeichnete, dann den so gewonnenen Siedelplatz selbst; und es gehen hieraus zum einen die Bedeutung des freien Platzes und der Weite mit ihren Ausläufern, zum anderen die des Platzes im Haus und der Hauseinteilung hervor. Schließlich sind alle diese Formen von Raum die Voraussetzung zum Wohnen des Menschen. Interessant ist freilich hier schon der Unterschied zum Wort „Ort“: Raum ist zunächst die gegebene Stätte für eine Ausbreitung oder Ausdehnung, im Gegensatz zum Ort, der auf einem solchen Raum erst entsteht. Auch ist der Platz die örtlich fest beschränkte Stelle. Der Begriff Raum ist freilich nicht auf das freie Feld beschränkt geblieben, sondern hat sich auf jede Stätte übertragen, die Gelegenheit zur Entfaltung einer Tätigkeit für einen Zweck bietet; in diesem Sinne ist Raum gleichsam bloßes Stoffwort und als solches ohne Plural. Entsprechend wird der Begriff in den folgenden Wendungen eher formelhaft gebraucht: Raum im Haus, im Zimmer; Raum auf dem Papier zum Schreiben; Raum auf der Diele zum Spielen; freier, weiter Raum; enger, beschränkter, knapper Raum; so ist noch Raum im Haus für Gäste da, wie auch Raum ist in der kleinsten Hütte. Weiters können Menschen einen großen oder einen kleinen Raum einnehmen; seine Bücher beanspruchten wenig Raum; das Haus wurde bescheiden angelegt, so dass auch noch Raum für einen kleinen Garten blieb. Man kann Raum geben, zum Beispiel zur Entfaltung eines Tuns; Raum machen und Raum schaffen, zum Beispiel für eine bessere Entwicklung. Man tritt selbst ein wenig zurück, um anderen Menschen mehr (freien) Raum zu lassen. In diesen Wendungen spielt aber eine wissenschaftliche Betrachtungsweise von Raum überhaupt nicht hinein. Man spricht vielmehr davon, dass man „Raum hat“ oder „Raum braucht“, um sich zu entfalten oder gewisse Tätigkeiten auszuüben. Immer heißt in Vgl. zum Folgenden: Grimm 85 - 960, Artikel „Raum“ Architekturtheorie_Huter.indd 134 23.01.2008 15: 28: 07 Uhr <?page no="134"?> Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 135 diesen Beispielen Raum: zur Verfügung stehender, nicht anderweitig in Anspruch genommener Raum, also Raum, in dem man sich ungehindert und frei bewegen kann. Raum ist also im übertragenen und weitesten Sinne der „Spielraum“ oder „Freiraum“ einer menschlichen Bewegung, der zur freien Entfaltung notwendige „Zwischenraum“ zwischen einer Aktivität und den Dingen. Enge und Weite sind die ursprünglichen Bestimmungen dieses Raums. Der Raum wird knapp, so dass man sich in ihm beengt fühlt, oder der Raum ist reichlich vorhanden, so dass man verschwenderisch damit umgehen kann. Wir würden das Wesentliche dieser sprachlichen Raumkonzeption nicht verstehen, wollten wir diesen Raum zum Beispiel mit Quadratmeterangaben auszumessen versuchen. Wir haben es hier mit einem menschlichen Maß zu tun, das vom Raum nur insofern zu sprechen vermag, als er durch ein konkretes Lebensbedürfnis auch ausgefüllt werden kann. Der Spiel-, Frei- oder Entfaltungsraum reicht nie weiter als die konkret zu erfüllende Reichweite des Lebens. 2 Insofern ist es in diesem Verständnis nicht sinnvoll, sich einen unendlichen Raum vorzustellen: man kann wenig oder viel Raum zur Verfügung haben, aber unendlich viel Raum haben kann nur bedeuten: mehr Raum haben, als man je für sich in Anspruch nehmen kann. An dieser Stelle würden wir jedoch über ein Mehr oder Weniger nicht mathematisch rechnen, sondern moralisch diskutieren. Das Wort Raum wird ebenfalls gebraucht, um eine Ausdehnung oder Breite zwischen zwei Gegenständen zu bezeichnen, einen Zwischenraum oder Spielraum: Raum zwischen zwei Säulen (intercolumnium), Raum zwischen zwei Landschaften (intermundium), Raum zwischen zwei Mauern (intermurale). Die Ausdrücke „spatium“ und „intercolumnium“ tauchen bei v itruv auf und werden im Sinne von Zwischenraum (Distanz) und Säulenabstand gebraucht. 3 Von einem Raum zwischen zwei Landschaften ist die Rede bei der „Zwischenstadt“ oder „Zwischenlandschaft“, insofern sich zwischen „kompakter“ Stadt und „offener“ Landschaft ein eigenständiger Raum, nämlich der „zwischenstädtische“, aufgetan hat. Ferner wird davon gesprochen, dass es ein großer Raum zwischen uns beiden ist; wir können auch einen engen Raum (zwischen uns) lassen, so dass kein Blatt dazwischen passt. Dann aber finden wir Raum mit dem Plural Räume vor, wenn von einer von bestimmten festen Grenzen eingeschlossenen Stätte die Rede ist. Das Wort kommt nun in der Bedeutung von einem Raum als dem Teil eines Hauses vor, also als ein Oberbegriff, der die Zimmer, Kammern, Küche, die gute Stube und die anderen Räumlichkeiten eines Gebäudes unter sich fasst. Damit bezeichnen Im Gegensatz zur potentiellen Erreichbarkeit von Orten und Dingen, der man in der Regel alltagspraktisch gar nicht nachkommen kann, vgl. die zahlreichen Beispiele in: Hahn/ Steinbusch 006 Zehn Bücher über Architektur, Drittes Buch: Von den fünf Arten der Tempel a.a.O. Vgl. Thomas Sieverts 997 Architekturtheorie_Huter.indd 135 23.01.2008 15: 28: 07 Uhr <?page no="135"?> 6. Vorlesung 136 wir auch die Einheiten, Abschnitte oder Stücke, aus denen eine Wohnung besteht. Der einzelne Raum in diesem hier betrachteten Sinne ist ein durch Zwischenwände abgetrennter selbständiger Teil eines Hauses, wobei jede Untereinheit ihren eigenen Zweck haben kann. Die einzelnen Zimmer eines Wohngebäudes werden nach ihrer vorgesehenen Zweckbestimmung oder ihrem tatsächlichen Gebrauch unterschieden: die unteren Räume des Hauses dienen als Büro, die oberen bewohnt die Familie. Auf eine Besonderheit ist noch aufmerksam zu machen, womit man sich den hier zuletzt gemeinten Raumbegriff gut vorstellen kann: Nehmen wir als Beispiel einen Versammlungsraum, so sprechen wir, wenn die Versammlung unter freien Himmel stattfindet, vom Versammlungsort oder -platz, nicht etwa vom Versammlungsraum. Darin wird nun auffällig, dass der Raum hier immer einen Teil eines Gebäudes, d. h. etwas von der Umwelt Abgeschlossenes, einen Hohlraum bedeutet. In diesem Verständnis von begrenztem Raum wird dann auch von einem freien Raum vor oder hinter einem Haus gesprochen; auch von einem eingezäunten Raum, der zu einem Garten (Gartenraum) hergerichtet wurde. Dieser in diesen Wendungen gemeinte Raum gibt in seinen Grenzen etwas Höhlenmäßiges oder eben einen Hohlraum frei. Unter Raum in diesem sprachgeschichtlichen Sinne, so können wir zusammenfassend sagen, ist der Ort des wohnenden Menschen zu verstehen. Neben dem am Wohnen des Menschen orientierten Raumverständnis steht der Raum im philosophischen Sinne als eine besondere Form des Denkens oder Anschauens, so in Friedrich s chiller s Gedicht Sprüche des Confucius : Dreifach ist des Raumes Maß: Rastlos fort ohn‘ Unterlaß Strebt die Länge: fort ins Weite Endlos gießet sich die Breite; Grundlos senkt die Tiefe sich. Bei g oethe etwa heißt es: „Raum und Zeit, ich empfind es, sind bloße Formen des Anschauns“ 5 . Dies ist offensichtlich eine Referenz an k ant , der Raum und Zeit als Formen der sinnlichen Anschauung auslegte. 2 Raumverständnisse Dieses tief in die Geschichte des Menschen zurückreichende sprachlich bewältigte Raumverständnis, das den Menschen als unangepasst an eine Umwelt zeigt, der er nicht entkommen kann, sondern in die er sich immer wieder 5 Vgl. beide Beispiele in: Grimm a.a.O. Architekturtheorie_Huter.indd 136 23.01.2008 15: 28: 07 Uhr <?page no="136"?> Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 137 klug handelnd einpassen muss, indem er Raum schafft und sich so Ort und Platz macht, ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten. Aber wir müssen, um die wesentliche Bestimmung des Bauens aus dem Wohnen zu begreifen, hier klar sehen: Architektur ist die menschliche Art und Weise, sich in einer Umwelt, die „von sich aus“ keinen künstlich-gemachten Raum hat, diesen erst herzustellen. Denn was der Mensch unter Wohnen versteht, und darunter wohl schon immer verstanden hat, wessen er bedarf, um zu existieren, bringt die Umwelt schlechterdings nicht hervor. Der Mensch muss zum Zwecke nicht nur des Sich-Einrichtens in der Umwelt, sondern oftmals des puren Überlebens, erst entsprechenden Raum für sich schaffen. Welcher Raum, qualitativ gesprochen, entspricht aber dem menschlichen Maß? Offensichtlich ist auch dieses anthropologische Raumwissen in Vergessenheit geraten. Das mag damit zu tun haben, dass sich seit der Neuzeit unser Raumbewusstsein geradezu revolutioniert hat. Dafür lassen sich verschiedene Ereignisse anführen: die beiden wichtigsten waren wohl die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus und die so genannte Kopernikanische Wende, die aus unserem geozentrischen Weltbild ein heliozentrisches machte. In ihrer Folge kam es zu einer radikalen Veränderung des gesamten Raumgefühls. Zum ersten Mal schien es möglich, einen unendlichen Raum zu denken. Ganz neue, schier unendliche Räume und Weiten taten sich auf: die Ozeane ebenso wie das Weltall. Diese Entdeckungen lösten nicht immer nur Begeisterung aus, sie waren ebenso befremdlich. Denn mit der Entdeckung der Weite und Fremde geht der Verlust von Nähe und Vertrautem einher. So musste es zwangsläufig zu einer Relativierung in der alltäglichen räumlichen Orientierung kommen. Konnte man bislang ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass das eigene Volk, die eigene Sippe oder Familie der Mittelpunkt der Welt bedeutete, so wurde man nun eines besseren belehrt. Die kopernikanische Wende hatte nicht nur zur Folge, dass der Mittelpunkt der Welt von der Erde in die Sonne verlegt wurde, sondern dass der griechische Fixsternhimmel insgesamt gesprengt wurde: es taten sich immer neue Welten hinter den alten auf. Man kann mit Hans s eDlmayr vom „Verlust der Mitte“ oder von einer gekappten Erdung des Menschen sprechen, insofern diese Welten nicht eigentlich unserem räumlichen Bedürfnis dienen bzw. man nicht genau weiß, wozu wir diese Welten zu unserer Umwelt, die wir uns anzueignen haben, machen sollten. Denken wir jedoch an die Nutzung von Höhlen zu Beginn der Menschheitsgeschichte, so wird man sich Architektur als Lebensmittel durchaus auch als einen Hohlraum vorzustellen haben, dessen Entdeckung zur Vergrößerung des menschlichen Aktionsradius wesentlich beitrug. 6 Architektur gestaltet des Weiteren auch ihre Umgebung, die bauliche Umwelt des Menschen, insofern sie als Grenze Räume konstituiert: Zwischenräume, Straßenräume, 6 Blumenberg 989, 60 f. Architekturtheorie_Huter.indd 137 23.01.2008 15: 28: 07 Uhr <?page no="137"?> 6. Vorlesung 138 Gartenräume usw. Auch diese Räume sind zu beziehen auf den Menschen, der sich dort aufhält, einer Betätigung nachgeht, sich in diesen Räumen spürt. Georg s immel hat den Raum als „an sich wirkungslose Form“ bestimmt, die dennoch notwendig ist, damit sich Menschen nah oder fern sein und überhaupt Dinge konkret und in ihrer Besonderheit hervortreten können. 7 Dinge und Vorgänge wie auch alle gesellschaftlichen Vorkommnisse sind auf eine bestimmte Weise an einen Raum und seine Bedingtheiten gebunden, der jene einzigartig ausfüllt. Der Zusammenhang von Bleiben, Bauen und Raumschaffen ist evident. Raum trennt und vereint, und allein das rechte Maß hält klug die Mitte zwischen Nähe und Distanz. Diesen Gedanken sprach der Jurist und Politiker Adolf a rnDt (1904 -1974) anlässlich der Eröffnungsfeier der Berliner Philharmonie, eines Bauwerks Hans s charoun s, aus: „Das widerspruchsvolle Geheimnis des Raumes, den Menschenhand durch das uns zum Bleiben notwendige Bauen stiftet, ist sein Doppelsinn, daß Raum uns zur Vereinzelung trennt und uns zur Gemeinsamkeit eint und daß dadurch Raum auf unsere zwiespältige Sehnsucht antwortet, Mensch im Eigenen allein bei sich selber zu sein und sich gesellschaftlich als Mensch im Gefüge der Gemeinschaft zu bewähren, die uns aus der Verlassenheit befreit“. Auf die praktisch-pragmatische Bedeutung der Sprache und des Sprechens für unser Raumverständnis weist Thomas r entsch (*195 ) hin, indem er uns aufmerksam macht auf die grammatische Gruppe von lokalen Indikatoren („hier“, „da“, „dort“ usw.), die wir zur räumlichen Orientierung verwenden („Ich bin hier“) und die untereinander einen sprachpragmatischen Gesamtzusammenhang bilden, der nicht aufgebrochen und in Stücke zerlegt werden kann. 9 Der jeweilige Gebrauch einzelner sprachlicher Wendungen (z. B.: „ich wohne jetzt hier in Dresden“) impliziert notwendigerweise einen Komplex anderer (räumlicher Orientierungs-) Möglichkeiten (z. B.: „damals wohnte ich noch dort in Leipzig“), die mir grundsätzlich ebenso zur Verfügung stehen: „Eine Gestalt unserer räumlichen Orientierung ergibt sich erst mit der Gleichursprünglichkeit der möglichen Aspekte.“ 10 Orientierung in der Welt beschreibt immer einen Gesamtzusammenhang von Möglichkeiten, „hier“ zu sein. 3 Der „erlebte“ Raum Um uns nun gezielter mit dem hier uns angehenden Phänomen der Räumlichkeit vertraut zu machen, wähle ich die Unterscheidung zwischen dem 7 Simmel 995a, 8 Adolf Arndt: Zur Eröffnung der neuen Philharmonie, Berlin 96 9 Rentsch 990, 96 f. 0 A.a.O., 97 Architekturtheorie_Huter.indd 138 23.01.2008 15: 28: 08 Uhr <?page no="138"?> Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 139 mathematischen Raum und dem erlebten Raum. Der mathematische Raum, insbesondere der euklidische Raum, ist uns seit Schulzeiten bekannt. Bei der mathematisch-geometrischen Bewältigung von Bau- und Konstruktionsaufgaben wird darauf zurückgegriffen. Der Baugrund ist ein genau abgemessenes Stück Raumfläche. Auch für die Darstellung architektonischer Größen- und Entfernungsverhältnisse wird vom quantitativen Raummaß Gebrauch gemacht. Was bleibt von unserer anschaulichen Raumerfahrung, wenn wir uns diesem räumlichen Denken hingeben? Beim Umgang mit dem Raummaß der Mathematik wird es weiterhin darauf ankommen, dass die anschauliche Raumerfahrung nicht weggedrückt wird vom abstrakten, mit hypothetischen Setzungen experimentierenden Verstand. Im Hinblick auf die Räumlichkeit des menschlichen Aufenthalts sollte beim Entwerfen und Planen vermieden werden, die Axiome der Geometrie als freie Setzungen des Verstandes aufzufassen, sondern darauf Rücksicht genommen werden, sie als stimmige und maßvolle Inter pretationen anschaulicher Inhalte auszugestalten. Die Räume, die das Lebensmittel Architektur schafft, sind pragmatisch aufzufassende Räume, die Geborgenheit geben und den Einzelnen eingliedern. Wenn der Entwerfer und Planer aber nichts von der Herkunft des mathematischen Raums vom lebensweltlichen weiß, wird ihm dies schwerlich gut gelingen. „Das mathematische Denken, welches auf den freien Gedankenspielraum logischer Setzungen pocht, bedenkt oft zu wenig, daß sein Verfahren nur auf dem ihm unbekannten Hintergrunde von Erfahrungen des realen Raumes möglich ist und daß die mathematischen Raum-Systeme nur als abstrakte, konstruierte Modelle aufzufassen sind, in denen sich die Verhältnisse des Raumes spiegeln, von denen wir eine pragmatische Erfahrung schon haben.“ 11 Aber der mathematisch-geometrische Raum ist uns so geläufig, dass uns seine Abhängigkeit von bestimmten Wirklichkeits- und Denkabstraktionen nicht mehr präsent ist. Die Idee eines objektiven Raums bezieht sich auf ein Bewusstsein, das allen vor- und außer„neuzeitlichen“ Menschen fremd war bzw. ist. h eiDegger hat diesen mathematischen Raum einmal das „sinnlich nicht wahrnehmbare Auseinander“ genannt. 12 Seine bestimmende Eigenschaft ist Homogenität, Gleichförmigkeit. Dies bedeutet im Einzelnen, dass keine Punktstelle im mathematischen Raum vor dem anderen ausgezeichnet ist. Man kann durch willkürliche Setzung jeden Punkt zum Koordinatenmittelpunkt machen. Auch keine Richtung im Raum ist vor einer anderen ausgezeichnet; jede beliebige Richtung kann man als Koordinaten-Achse wählen. Dieser Raum ist auch gleichgültig gegenüber den Dingen, die ihn erfüllen - oder auch nicht erfüllen. Der mathematische Raum erstreckt sich so ohne innere Gliederung bis in die Unendlichkeit. Dieser Raumbegriff ist uns so selbstverständlich geworden, dass wir uns seine Herkunft vom konkreten Kaulbach 99 , 9 Heidegger 00 a, 0 Architekturtheorie_Huter.indd 139 23.01.2008 15: 28: 08 Uhr <?page no="139"?> 6. Vorlesung 140 Lebensraum, auf dessen Abstraktion der mathematische Raum basiert, nur selten bewusst machen. Aus diesem Grunde hat B ollnoW (1903 -1991) den erlebten Raum 13 in seiner Unterschiedenheit vom mathematischen Raum wie in seiner Eigenart herausgestellt: „Unter erlebtem Raum verstehe ich die Art und Weise, wie der konkrete Umwelt-Raum dem Menschen erscheint. Und meine Behauptung geht dahin, daß dieser erlebte Raum ganz anders ist als der mathematische Raum, daß er nämlich eine reiche und interessante Gliederung aufweist, nur dass wir diese Gliederung in der Regel nicht bemerken, weil unser Blick dafür durch die uns selbstverständlich gewordene mathematische Raumvorstellung verdeckt ist“. 1 Leiblich und lebensweltlich haben wir uns stets schon darin eingerichtet, dass es in diesem Raum die gegensätzlichen Richtungspaare oben und unten, links und rechts, vorne und hinten gibt. Während die Orientierungsrichtungen von links/ rechts bzw. vorne/ hinten mit der Drehung des Körpers und der Blicknahme sich ändern, hat die Oben/ Unten-Unterscheidung für uns größere Bedeutung. Den Blick heben oder senken hat je mit unserer Befindlichkeit zu tun. Wir lachen freudig die Sonne an oder blicken beschämt zu Boden. Das Halten der Senkrechten entspricht unserer natürlichen, konstanten Position, dem aufrechten Gang, uns immer voraus die Grenzlinie des Horizonts. Das Raumverständnis, um das es B ollnoW geht, ist nicht, wie es der Terminus „gelebter Raum“ ansinnen mag, psychologisch. Vielmehr versucht B ollnoW einen anthropologischen Zugang. Als „Philosophie der Geschichte“ führt die Kulturanthropologie immer wieder neue Beschreibungen des Menschen über den Menschen an. Nur in diesem kulturellen Kontext immer neuer Aneignungsversuche der inneren und äußeren Natur, was der Mensch „eigentlich“ sei, lassen sich auch Architektur und architektonischer Raum in ihren Erscheinungen begreifen. Architektur, das Wohnen und Bauen, hängt also aufs Engste und Entschiedenste mit der „räumlichen Verfassung des menschlichen Lebens“ (Bollnow) zusammen. Das menschliche Verständnis, was es mit einem reinen (allgemeinen) Raum (auch: das „reine Auseinander“; das „unbegrenzte Rundum“ 15 ) auf sich hat, ist wiederum eine eigene Geschichte und zeigt, dass der mathematische Raumbegriff relativ jungen Datums ist. 4 Zur Weltlichkeit des Umweltraums - Martin Heidegger Der Gedanke, dass Raum der Teil einer Umwelt ist, den sich der Mensch lebensdienlich geschaffen hat, geht meines Wissens ebenfalls auf dieses eben entfaltete Raumverständnis zurück. Für den frühen h eiDegger des Gedan- Bollnow 96 ; vgl. auch Dürckheim 005 Bollnow 96 , 5 Vgl. etwa Brinkmann, 0 ff. Architekturtheorie_Huter.indd 140 23.01.2008 15: 28: 08 Uhr <?page no="140"?> Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 141 kenkreises von „Sein und Zeit“ bestimmt sich das Dasein des Menschen im Umgang mit der Welt. Das menschliche Dasein wird von H eidegger auch als In-der-Welt-sein oder kurz In-Sein bezeichnet. Erstaunlicherweise sind beide Ausdrücke primär nicht räumlich gemeint. Jedenfalls nicht in dem klassischen Sinne, dass sich etwas „in“ einem anderen befindet, wie wir davon sprechen können, dass Wasser „im“ Glas ist oder die Tafel „im“ Hörsaal. Dieses Verständnis meint ein räumliches Enthaltensein des einem im anderen, wobei beides, Wasser wie Glas und Tafel wie Hörsaal, selbst Dinge im Raum sind. H eidegger spricht von dem Vorhandensein der Dinge als Orte im Raum. So sind ebenso der Zwinger, die Stadt Dresden und das Bundesland Sachsen usw. vorhanden. Dem gegenüber soll der Ausdruck „In-Sein“ nicht analog zu den obigen Beispielen das Vorhandensein eines Körperdings, z.B. des Menschenleibs, in einem räumlichen Behälter wie in einem Zimmer, in einem Haus, in einem Seminarraum bedeuten. Hier wäre doch weiterhin der Gedanke eines räumlichen Ineinander leitend. Mit In-Sein möchte H eidegger vielmehr den „Aufenthalt des Menschen bei der Welt als dem Vertrauten“ 16 bezeichnen. Er denkt also zunächst gar nicht an etwas Räumliches, sondern an das primäre Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt: das Vertraut-sein-mit. Die Welt steht dem Menschen nicht gegenüber, sondern sie ist sein ständiges Um-herum. H eidegger leitet das Wort „in“ vom Ausdruck „innan“ ab und „innan“, so führt er aus, heißt wohnen, habitare. 17 Von dieser Grundsituation des In-Seins klären sich dann die weiteren Bestimmungen von Raum, Ort, Stelle und Platz, die örtliche Modifikationen des In-Seins sind. Die leitende Hinsicht aller Raumkonstitutionen, für die dann die Architektur zuständig ist, ist letztlich etwas Nichträumliches: das anfängliche Vertraut-sein des Menschen mit einer Umgebung. H eidegger will auf einen Begriff von Räumlichkeit hinaus, der sich nicht aus der „Dimensionalität des metrischen Raumes, im Sinne des Raumes der Geometrie definiert. Andererseits aber deutet die ständige Abwehr der Räumlichkeit, zu der wir bei der Bestimmung des In-Seins, bei der Charakterisierung von Welt und noch mehr von Umwelt gezwungen sind, die ständige Notwendigkeit einen bestimmten Sinn von Räumlichkeit hier auszuschalten, darauf hin, daß in all diesen Phänomenen doch in irgendeinem Sinn so etwas wie Räumlichkeit im Spiele ist. […] Weil es darauf ankommt, den primären Sinn von Welt zu verstehen, muß eine bestimmte Raumidee im Sinne des metrischen Raumes zunächst ferngehalten werden“. 18 H eidegger s Ausgangspunkt ist der alltägliche Umgang des Daseins mit seiner Welt. 19 Diese nennt er auch die nächstgegebene Welt, also die Welt, die 16 Heidegger 1988, 213 17 213 18 A.a.O., 230 19 229 Architekturtheorie_Huter.indd 141 31.01.2008 16: 35: 59 Uhr <?page no="141"?> 6. Vorlesung 142 vor jeder wissenschaftlichen Betrachtungs- und Erkenntnisweise den Menschen etwas angeht. Deshalb kann h eiDegger auch von der „Weltlichkeit der Umwelt“ sprechen, insofern dasjenige, was den Menschen umgibt, je schon durch den Menschen verstanden und interpretiert ist. Die Weltlichkeit der Umweltraums meint die Umwelt, wie sie nur für den Menschen ist als seine Um-welt: das Um und Umherum. Was macht nun für h eiDegger die Weltlichkeit der Umwelt aus? Er kritisiert die Sicht, dass wir die Dinge unserer Umwelt zunächst als isolierte Objekte betrachten und wahrnehmen und dieses Wahrgenommene in einem zweiten Schritt durch ein Bewerten ergänzen: Zunächst stellten wir die bloße Existenz eines Hauses fest, um anschließend in einem getrennten Schritt das „als Haus“ Vorgestellte deutend einzuschätzen. Dem gegenüber stellt h eiDegger die primäre Orientierung des Menschen, der es mit den Dingen seiner Umwelt immer schon zu tun hat. Diese alltägliche Orientierung ist die spezifische natürliche Umgangsart 20 des Menschen, in die man sich nur zu versetzen habe. In unserer vertrauten Lebensumwelt „begegnen“ uns die Dinge unserer Umwelt im Umgang: Häuser, Gärten, Möbel sind nicht einfach „da“, sondern sie bedeuten etwas. Das Haus wollen wir besichtigen, den Garten wollen wir betreten, die Möbel wollen wir entsorgen. Haus, Garten und Möbel sind auch mit Erinnerungen behaftet, in denen wir uns selbst als geschichtliche Wesen erkennen können. Nun ist es aber unmöglich, alltagsweltlich ein „Möbel an sich“ zu verstehen. Die zentralen Begriffe, mit denen h eiDegger die Weltlichkeit der Umwelt charakterisiert, sind Begegnung, Interpretation und Bewandtnisganzheit. Es geht mir im Folgenden darum, dem Leser zu ermöglichen, Raum als Umweltraum zu verstehen. Als Umweltraum, als städtischer oder landschaftlicher, ist er durch Menschenhand geschaffener und hergestellter Raum. Wir leben in ihm, insofern wir ihn bewohnen. So wird er das Umherum unseres Alltagslebens. Die Häuser dieses Raums bilden meine Umgebung und sind mit mir verbunden über diverse Wege. Deshalb nur lassen sie sich befragen hinsichtlich ihrer Dienlichkeit und Belange für menschliche Zwecke. Der Umweltraum und die Dinge, die ihn ausfüllen wie Häuser und Plätze, Straßen und Alleen, Wege und Gärten sind hinsichtlich ihres Wozu und Wofür zu befragen. Sie kommen nicht einfach in unserer Welt vor. Vielmehr verweisen sie auf etwas Lebenszuträgliches. h eiDegger will uns davor warnen, die menschliche Raum- und Umweltwahrnehmung, nur weil wir es gewohnt sind, sie uns durch das Herbeiziehen von Theorie begreifbar zu machen, als nur theoretisch mögliche Dingwahrnehmung und -erfassung vorzustellen. Architektur wird im alltäglichen Umgang eben nicht theoretisch erfasst, sondern mit pragmatischer Hinwendung bewohnt, genutzt, bewertet - wie auch immer. Die umweltlichen Dinge verweisen z.B. auf ihre Nützlichkeit. 0 Vgl. 5 Architekturtheorie_Huter.indd 142 23.01.2008 15: 28: 08 Uhr <?page no="142"?> Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 143 Das begriffliche Erfassen ebenso wie das wissenschaftliche Interpretieren basieren auf dem leiblichen Begegnen. Der architektonische Blick auf die Umweltdinge muss wieder lernen, was Begegnungen sind. 5 Bedeutsamkeit der Dinge „im Raum“ Die Wirklichkeit der Architektur und die der Dinge in ihren Grenzen bestimmen sich innerhalb eines pragmatischen Bedeutungszusammenhangs. Architektur gewinnt ihre Wirklichkeit aus der Umgebung, zu der sie gehört. Als sozialräumliche Umgebung umgibt sie die Menschen, denen sie ihre anschauliche Welt ist. Dieser Zusammenhang von Ding und Umgebung ist stets als inhaltliches Gefüge des Belangvollen und Belanglosen, des Nahen und Fernen, des Bekannten und Fremden gegeben. Es ist unmöglich, diese Zusammenhänge im Einzelnen aufzuzählen. Sie müssen einem als Architekten in konkreten Situationen begegnen. Zentral ist indes die Einsicht, dass es in der Umwelt des Wohnens keine bloßen oder neutralen, keine rein architektonischen Häuser, Wohnungen und Räume gibt, wie sie sich in einer Entwurfszeichnung symbolisch darstellen lassen. Der Ausdruck „Weltlichkeit der Umwelt“ soll gerade auf den ganzheitlichen und vielfältigen Charakter, den die umweltlichen Dinge in der menschlichen Wirklichkeit haben, eindringlich aufmerksam machen. Um dies zu illustrieren, möchte ich eine längere Passage eines Textes h eiDegger s aus dem Jahr 1925 zitieren: Diese Verweisungsbezüge sind es, in denen sich eine Mannigfaltigkeit von Umweltdingen zeigt, z.B.: ein öffentlicher Platz mit seiner Umgebung, ein Zimmer in seiner Einrichtung. Die hier begegnende Dingmannigfaltigkeit ist gerade nicht eine beliebige vorkommender Dinge, sondern zunächst und einzig gegenwärtig in einem bestimmten Verweisungszusammenhang. Dieser Verweisungszusammenhang ist selbst eine geschlossene Ganzheit. Sie zeigt aus ihr heraus das einzelne Möbelstück. Das Zimmer begegnet nicht in dem Sinn, dass ich ein Ding nach dem anderen zunächst auffasse und eine Mannigfaltigkeit von Dingen zusammensetze, um dann ein Zimmer zu sehen, sondern primär sehe ich eine Verweisungsganzheit als geschlossene, aus der heraus das einzelne Möbelstück und das, was im Zimmer da ist. Eine solche Umwelt vom Charakter einer geschlossenen Verweisungsganzheit ist zugleich ausgezeichnet durch eine spezifische Vertrautheit. Die Geschlossenheit des Verweisungsganzen gründet gerade in der Vertrautheit, und diese Vertrautheit besagt, dass die Verweisungsbezüge bekannt sind. Das alltägliche Besorgen geht als Verwenden von, Hantieren mit, diesen Bezügen ständig nach; man hält sich in ihnen auf. 21 5 f. Architekturtheorie_Huter.indd 143 23.01.2008 15: 28: 09 Uhr <?page no="143"?> 6. Vorlesung 144 Im alltäglichen Umgang haben wir es niemals mit theoretisch wahrgenommenen Gegenständen zu tun. Haus und Straße gehören zu unserem Umweltraum, zur Umgebung des wohnenden Menschen, und was sie bedeuten, ermisst sich hinsichtlich der Wirklichkeit und Selbstverständlichkeit des Wohnens. Dass die Dinge „im Raum“ sind, heißt also soviel wie, dass sie zur Umgebung des Wohnens gehören. So fallen uns in der Umgebung unseres Wohnens Dinge auf, die wir gut gebrauchen und Dinge, die wir weniger gut gebrauchen können, Gebäude, die wir mit Freude immer wieder anschauen, aber auch Gebäude, von denen wir uns abwenden. Wird der Umgang durch defekte Dinge gestört, so bedeutet dies einen Bruch der vertrauten Umgebung. Etwas gehört nicht „hier hin“, insofern es die feste und vertraute Ordnung der Dinge im Raum verletzt. Jede Haus-, jede Wohnungseinrichtung von Menschen, auch wenn sie uns in ihrer Ausstattung und ihrer Aufmachung fremd und unzugänglich erscheint, begegnet uns nicht als ein Durcheinander zufällig beieinander liegender Dinge, sondern hinsichtlich der Umgangsorientierung eines uns unvertrauten Lebens und Wohnens. „Wir erfahren primär die Welt des Mannes, in der er lebt, obzwar fremd, so doch als Welt, als geschlossene Verweisungsganzheit.“ 22 Architekturtheorie hat sich pragmatisch die Räumlichkeit des Menschen zu verstehen zu geben, damit sie sich nicht vorschnell einen wissenschaftlichen Raumbegriff zu eigen macht, der am Raumverhalten des Alltagslebens vorbeigreift. h eiDegger hat im Anschluss an den phänomenologischen Rückgang „zu den Dingen selbst“ die Pragmatik des selbstverständlichen Umgangs mit den Gegenständen, bei denen wir uns räumlich aufhalten, herausgearbeitet. Wir müssen unsere Welt zunächst alltäglich-vorwissenschaftlich als eine Werk-Welt verstehen, weil dies die ursprüngliche Zuwendung zu den Gegenständen der Welt ist. Fragen wir als Architekten oder Architekturtheoretiker nach Haus, Straße, Platz und Bepflanzung, dann richten wir unser Interesse auf Werke (Hergestelltes) und unterstellen ganz selbstverständlich eine Vertrautheit mit diesen Dingen. Wir wissen nämlich von Kindesbeinen an, was ein Haus, eine Straße und ein Platz sind, insofern sie uns für unser Leben etwas bedeuten. Diese Werke sind uns geläufig aufgrund ihres Umzu-Charakters. Das Haus ist zum Be-Wohnen, die Straße zum Be-Fahren, der Platz zum Versammeln. Diese primäre Bedeutsamkeit der umweltlichen Dinge will uns h eiDegger bewusst machen. Alles Weitere ist nur etwas Abgeleitetes. Wenn wir den Sinn der primären Zuwendung zur Welt verpassen, dann haben wir schon jede Möglichkeit verspielt zu verstehen, welche Folgen die sekundären Beschreibungen für unser Umweltwissen haben. Die Weltlichkeit der Umwelt gipfelt in der These, dass jedes Begegnen der Dinge ein Bedeuten ist. Die Umweltdinge gehen uns etwas an, weil sie etwas bedeuten. Sie bedeuten 55 Architekturtheorie_Huter.indd 144 23.01.2008 15: 28: 09 Uhr <?page no="144"?> Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 145 uns nur etwas, weil sie Gegenstände unserer Umwelt sind. Diese Bedeutsamkeit der Umwelt ist jedoch nichts Zusätzliches oder durch isoliertes Bewerten Dazukommendes: Das Primäre der „Weltlichkeit der Umwelt“ macht gerade ihre Bedeutsamkeit für das menschliche Handeln aus. „Weltlichkeit“ der Umwelt heißt, dass die uns umweltlich begegnende Werkwelt bedeutsam ist, wir auf ihre Werke in Erwartung ihrer Verständlichkeit reagieren. In diesem Zusammenhang haben wir auch die Architektur als Werk (Wozu- Ding) zu fassen. Sich-aufhalten darin (In-Sein) bedeutet ein Haus in Gebrauch haben. Als solcher Gebrauch vollzieht sich unser Leben. Das Haus als Werk verweist auf seine Verwendbarkeit, z.B. das Wohnen, das Arbeiten, das Ruhen, das Kochen usw. Leib und Maß hängen hier eng zusammen. Für den Gebrauch ist das Werk der Architektur gleichsam auf den menschlichen Leib zugeschnitten. Das Werk der Architektur trägt der Leiblichkeit, dem Schutzbedürfnis, der Sichtbarkeit usw. Rechnung. Das architektonische Werk ist darin charakteristisch, dass es eine Unbestimmtheit und Beliebigkeit aufweist, damit der konkrete Mensch sich selbst in das unbestimmt-bestimmte Werk einbringen kann. Unsere nächste Umwelt ist eine Werk-Welt. Bei solchen Werken halten wir uns tagtäglich auf. Tritt man indes aus diesem Verständnis der nächsten Umwelt heraus, dann betrachtet man nur mehr das pure Naturding als Objekt. Es wird lediglich wahrgenommen, die Welt des Gebrauchs ist verdeckt. Wird nun in diesem Zusammenhang beispielsweise davon gesprochen, die Architektur, Straßen und Plätze hätten ihre Funktionen zu erfüllen, so gibt diese Wortwahl Anlass zu Missverständnissen. Denn der Funktionsbegriff orientiert sich auf die spezifische Bestimmung der Objektivität der Welt als Natur in der Fixierung der räumlich-zeitlichen Beziehungen. Entsprechend konstituiert sich die eigentliche Realität in diesen analytisch bestimmten Funktionszusammenhängen. Hier haben wir einen Realitätsbegriff vorliegen, der an der wissenschaftlichen Erkenntnis von Natur gewonnen ist. Das Worum und Wozu von Architektur, Stadt usw. liegt indes nicht in deren objektiver „Natur“, sondern in deren „Dienlichkeit“ und „Verfügbarkeit“ im weitesten Sinn für die menschliche Lebensführung. „Dienlichkeit“ der Dinge kann sich so und so zeigen: als brauchbar und unbrauchbar, als ansehnlich und unansehnlich. Wichtig ist indes: Insofern wir unser Leben führen, verfügen wir immer schon über eine bestimmte Hinsicht, unter der wir die Dinge „ansprechen“ und in Gebrauch nehmen. Erst wenn wir diese unmittelbare Hinsicht für Erkenntniszwecke distanzieren, uns also von der Alltagswelt abwenden, erhalten wir einen objektiven Begriff von „Funktion“. So ist aber zunächst von der Weltlichkeit der Umwelt auszugehen, genauer dann von einer anschaulichen Werkwelt, die uns umgibt, die wir uns hinsichtlich unserer Interessen und Vorlieben erschlossen haben und die uns aus Gebrauchserfahrungen vertraut ist. In der Begegnung Architekturtheorie_Huter.indd 145 23.01.2008 15: 28: 09 Uhr <?page no="145"?> 6. Vorlesung 146 verweist die Werkwelt, „in“ der wir tagtäglich leben, auf ihre Bedeutsamkeit für das menschliche Leben. So mag es gerade „die Welt“ sein, „in“ der sich der Mensch „räumlich“ aufhält. Aber ebenso konstituiert sich unsere Welt doch nur, indem wir sie uns begegnen lassen mit den Dingen und Werken, die sie „enthält“. Hier scheinen wir an eine logische Grenze zu stoßen, die wir nicht zu überschreiten wagen. 6 Die „leibliche Raumerfahrung“ bei Merleau-Ponty Vom menschlichen Leib aus betrachtet, gibt es den orientierten und den intelligiblen Raum. Letzterer, den wir oben auch den „objektiven Raum“ genannt haben und der auf einem Denkakt (des Leibes) gründet, ist indes nur eine besondere Auslegung oder Interpretation des orientierten Raums. Die objektive Räumlichkeit, die wir uns nur denkend vorstellen können, basiert auf der Räumlichkeit des Leibes: „Sobald ich den leiblichen Raum thematisiere und seinen Sinn entfalte, finde ich nichts in ihm als den intelligiblen Raum. Doch zugleich löst dieser intelligible Raum sich vom orientierten Raum nicht los, er bleibt eben dessen Explikation; aus ihm entwurzelt, hat er gar keinen Sinn, so daß der homogene Raum den Sinn des orientierten Raumes nur auszudrücken vermag, sofern er von ihm ihn empfangen hat.“ 23 Nur insofern der Mensch leiblich orientiert ist, kann er Gegenstände in einem Außenraum hinsichtlich des Hier seines Leibes unterscheiden. Leib und „Ich“ sind selbst nicht durch einen Raum getrennt, auch ist mein Leib nicht in mir oder das Ich im Leib, wie Organe „im Körper“ sind. Leib und Ich stehen überhaupt nicht in einem Verhältnis von Behälter und Inhalt zueinander, sondern: ich bin mein Leib! Metaphorisch gesprochen: Das Ich bewohnt den Leib. Vor allem handelnd vollzieht der Mensch die Räumlichkeit des Leibes, insofern das praktische Verhalten stets mit Eigenbewegungen verknüpft ist. Der Leib wohnt dem Raum immer gekonnter ein und zwar dank der Bewegungserfahrungen, die er macht. Dies erläutert m erleau -P onty an vielen Beispielen. Für unseren Kontext von Wohnen, Entwerfen, Bauen ist ungemein erhellend, was er über die „Gewohnheit“ aussagt. Aufgrund der Bewegungserfahrungen, den mein Leib macht, bildet sich ein Hantierungsraum, dem wir mit unserem Leib sein Maß geben. So können wir viele Handlungen „blind“ ausführen, ohne den Raum, in dem unser Tun sich abspielt, vorher ausgemessen oder uns in seinen Plan eingelesen zu haben. Dabei greifen wir auf einen leiblichen Maßstab zurück. Unser Leib ist auf den alltäglichen konkreten Raum unserer Welt in seiner Wandelbarkeit derart eingerichtet, dass wir uns in der Regel mühelos über und durch Hindernisse bewegen. Ich springe über Merleau-Ponty 966, 7 Architekturtheorie_Huter.indd 146 23.01.2008 15: 28: 09 Uhr <?page no="146"?> Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 147 den Gartenzaun und weiß die Treppe hinunterzulaufen: Ich habe beide Räume gleichsam „mit den Füßen“ im Griff. Problemlos steuere ich den PKW in die Garage, ohne zuvor die Breite des Autos mit der Öffnung der Durchfahrt verrechnet zu haben. „Die Orte des Raumes bestimmen sich nicht als objektive Positionen im Verhältnis zur objektiven Stelle unseres Leibes, sondern zeichnen um uns her die wandelbare Reichweite unserer Gesten und Abzweckungen in unsere Umgebung ein.“ 2 Auch das Schreiben am PC lerne ich immer schneller zu erledigen, ohne zuvor die räumlichen Abstandsverhältnisse von Tisch, Tastatur und Körper analysiert zu haben. Vielmehr hat sich buchstäblich „unter meinen Händen“ ein Bewegungsraum eröffnet, die ja nicht blind in die Tasten fahren, sondern immer geschickter und sicherer den richtigen Buchstaben treffen. Das Vermögen, es immer perfekter zu beherrschen, zeichnet auch den erfahrenen Klavierspieler bei der Bedienung seines Instruments aus. Weder der PC-Benutzer noch der Klavierspieler handeln im objektiven Raum, vielmehr spannen beide mit ihren Gesten und Griffen einen Leibraum auf. m erleau -P onty führt das Beispiel des Organisten an, der Gesten ausführt, die einen eigenen Ausdrucksraum kreieren: „Das ganze Problem der Gewohnheit ist hier dies, wie die musikalische Bedeutung einer Geste sich dergestalt an einem bestimmten Ort niederschlagen kann, daß der Organist, ganz der Musik hingegeben, gerade diejenigen Register und Pedale trifft, die sie zu verwirklichen vermögen.“ 25 In all diesen Fällen haben wir es mit einem „habituellen“ Wissen der Hand, des Fußes, des ganzen Körpers zu tun. m erleau -P onty spricht von einer Gewohnheit, die sich der Leib erworben hat. Dieser lernt, den Raum um sich „zu verstehen“. „Verstehen“ meint indes nicht, z.B. eine Empfindung unter eine Idee zu subsumieren und den Leib einschließlich seiner einzelnen Glieder als „Gegenstände im Raum“ zu begreifen. m erleau -P onty interpretiert das Verstehen als Übereinstimmung von Absicht und Vollzug: Wenn ich die Treppe hinuntergehen will und dann mühelos diese Intention vollziehe, dann hat sich mein Leib mit den Besonderheiten des Raums vertraut gemacht. Ohne Leib keine Raumerfahrung! „Der Leib ist unsere Verankerung in der Welt.“ 26 Raumerfahrungen sind Erfahrungen des Leibes. Man stelle sich nur vor, wie jeder Autofahrer den „Pedalraum“ eines Fahrzeugs mit seinen Füßen beherrscht, ohne dass sich linker und rechter Fuß in die Quere kommen und ohne das Gaspedal mit dem Bremspedal zu verwechseln, dabei einem kontrollierenden Zusehen des Autofahrers gänzlich entzogen. So entwickelt sich beinahe spielend ein leibliches Können der Bewegung im Betreten eines Hauses, im Durchschreiten eines Zimmers, in der Benutzung einer Treppe. Solche Bewegungserfahrungen, die wir am eigenen Leib machen, zeigen uns, dass der Raum im A.a.O., 7 5 76 6 A.a.O., 7 Architekturtheorie_Huter.indd 147 23.01.2008 15: 28: 09 Uhr <?page no="147"?> 6. Vorlesung 148 Dasein, in der Existenz wurzelt. Sie zeigen aber auch, dass erst die Bewegung, genauer: mein „Mich-Hindurchbewegen“ oder „Mich-zwischen-den Dingenbewegen“ den Raum erzeugt. Der Leib ist nicht im Raum, sondern „zum Raum“ und damit „zur Welt“. Es wäre aber ein großes Missverständnis, wollten wir dieses Raumwissen etwa „primitiv“ nennen, als eine Vorform einer eigentlichen Raumerkenntnis, nämlich der mathematischen, ansehen. Unsere Beispiele machen deutlich, dass wir irren, wenn wir meinen, Raum oder Räumliches erschlösse sich dem Menschen erst durch bewusstes Messen und durch den Abstände errechnenden Umgang mit Karten und Plänen. Das professionelle (architektonische) Entwerfen von physischen Räumen muss sich bewusst machen, dass sein Entwurf hinsichtlich leiblicher „Bewegungsentwürfe“ wirken wird. Dem architektonischen Entwerfen geht dieses leibliche Entwerfen „in“ die Welt immer schon voraus. Der Raum der Architektur begrenzt das leibliche Entwerfen, verschafft ihm aber auch konkrete Richtungen und ermöglicht „raumerzeugende“ Entdeckungen: „Die Welt muß uns umgeben nicht nur als ein System von Gegenständen, deren Synthese wir bilden, sondern als ein offenes Ganzes von Dingen, auf die hin wir uns entwerfen. Die ‚raumerzeugende Bewegung‘ entfaltet nicht die Bahn irgendeines metaphysischen Punktes ohne Ort in der Welt, sondern die Bahn von einem bestimmten Hier zu einem bestimmten Dort […] Der Bewegungsentwurf ist ein Akt, und das besagt, daß er raum-zeitliche Abstände vorzeichnet, indem er sie selbst durchschreitet.“ 27 Der Leib, einschließlich seiner Sinneserfahrung, konstituiert den Raum als ein „Milieu der Koexistenz“: der „räumlichen“ Einheit oder Zugehörigkeit von Leib und Ding. Jede Dingwahrnehmung ist ein Berühren, und jedes Berühren, im breiten Verständnis von sinnlichem Empfinden, ist ein Berühren im Raum: „Zu berühren, ohne in einem Raum zu berühren, ist a priori unmöglich, da unsere Erfahrung Erfahrung der Welt ist.“ 2 Der „Raum“ ist das Lebenselement, innerhalb dessen die Dinge für das menschliche Erleben und Erfahren erst „be-greifbar“ werden. 7 Leiblicher Raum und Ortsraum bei Hermann Schmitz Für jede Architekturtheorie, die die leibliche Kompetenz des Menschen in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellt, ist die Unterscheidung zwischen dem erlebten und erfahrenen Raum und dem Raum, den die Dinge an bestimmten Orten durch die Einnahme einer Fläche bilden, entscheidend. Immer wieder muss man sich deren Differenz und deren aufeinander Bezogensein vor Augen führen. Am schwersten ist es offensichtlich, den geometrisch bestimmten Ortsraum als eine naturwissenschaftliche Ausle- 7 8 59 Architekturtheorie_Huter.indd 148 23.01.2008 15: 28: 09 Uhr <?page no="148"?> Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 149 gung des menschlichen Erfahrungsraums zu verstehen. Denn diese Abhängigkeit des Begriffs von der menschlichen Erfahrung zeigt erst die ganze fundierende Reichweite des leiblichen Raums für alle nachfolgenden wissenschaftlichen Raumideen. So unterscheidet auch Hermann s chmitz (*192 ) den „leiblichen“ Raum vom Ortsraum. Den dreidimensionalen Ortsraum haben wir schon kennengelernt. Er entspricht dem geometrischen Raum, der Lagen und Abstände von Dingen untereinander metrisch festhält. Offensichtlich ist diese Raumvorstellung abgeleitet von einem hinstarrenden Sehen auf feste Gegenstände im vorausliegenden Gesichtsfeld. Der Ortsraum ergibt sich, insofern verschiedene Dinge sich in einem als invariant gedachten Bezugssystem befinden und ihre Lage darin bestimmt werden kann. Das System selber muss als konstant erhalten bleiben, auch bzw. gerade wenn sich die Dinge zu anderen Orten bewegen. Ein Ding kann immer nur mit einem Ort verknüpft sein, ebenso kann sich an einem Ort jeweils nur ein Ding befinden. Um aber einen Raum ganz ohne Dinge, die ihn erfüllen, zu denken, muss man auf elementare leibliche Erfahrungen zurückgehen. s chmitz denkt dabei an Erfahrungen, die nicht auf eine Vorstellung unserer fünf Sinne und ihre körperlich-habituellen Organe zurückgehen, sondern auf einem „Spüren“ basieren. „Leibliche Regungen in diesem Sinn sind zum Beispiel Angst, Schmerz, Hunger, Durst, Wollust, Ekel, Frische, Müdigkeit und alle Weisen des affektiven Betroffenseins von Gefühlen“. 29 s chmitz erkennt an diesem Sich-bemerkbar-machen des Leibes die allgemeine Empfänglichkeit des Menschen für das Schicksal. In solchen Grenzsituationen erfasst den Leib eine Dynamik, die man sich als Ineinandergreifen von Enge und Weite verstehbar machen kann. Engung und Weitung bilden eine antagonistische Konkurrenz, wenn angreifend der Schreck uns zuschnürt und wir uns in nachfolgender Beruhigung wieder entspannen. Weite und Enge haben kein metrisches Maß, sondern sind maßlos in dem Sinne, dass sie uns schier überwältigen. s chmitz nennt diesen Weiteraum auch den primitiven, „weil wir als leibliche Wesen aus diesem Raum stammen“; „wir sind gleichsam Kinder des Raumes in diesem Sinn, der nicht Ortsraum ist“ 30 . Gegenüber den relativen Orten des Ortsraums, die sich durch ihre jeweilige Lage und ihren Abstand unterscheiden, besitzt der Leib absolute Orte, die sich durch ihr Erspürtwerden zeigen. Der Leib selbst ist ein Ganzort mit verschwommenen Leibesinseln. Spüre ich durch ein Jucken und Brennen meiner Haut einen Insektenstich, dann greift meine Hand automatisch und zielsicher an die entsprechende Stelle („Insel“). Dieser „Ort“ muss nicht erst umständlich gesucht werden, wie indes der Arzt die Vene „suchen“ muss, will er eine Injektion an einen vorbestimmten Hautort setzen. Der Arzt muss sich an relativen Orten wie Hand, Oberarm, Armbeuge usw. orientieren, während 9 Schmitz 00 , 8 0 A.a.O., 9 Architekturtheorie_Huter.indd 149 23.01.2008 15: 28: 10 Uhr <?page no="149"?> 6. Vorlesung 150 die gereizte Hautinsel „keineswegs mit räumlicher Orientierung an Lage- und Abstandsbeziehungen da gesucht zu werden (braucht), wo sie gerade ist, sondern (sie) steht ohne solche Orientierung über relative Orte für genaues Zielen und Treffen sogleich zur Verfügung. Ihr absoluter Ort genügt dazu“ 31 . Andere Weiteräume entstehen durch das leibliche Spüren von Atmosphären, wie wir sie z. B. als „Wetterfühligkeit“ oder konkret als Gefühle, die uns überwältigen, kennen. Gemeinsam sind ihnen die Maßlosigkeit des Raumes sowie die Absolutheit der Orte. Wie verhalten sich leiblicher Raum und Ortsraum zueinander? s chmitz zeigt, wie der Ortsraum auf dem leiblichen Raum basiert. Die an einem Ortsraum befindlichen Dinge müssen gesehen, getastet usw. werden und sind allein darin vom sinnlichen Leib und seinem Umraum, der sich im Sehen oder Greifen konstituiert, abhängig. Wie könnten wir den Ortsraum überhaupt definieren, etwa hinsichtlich der Unbewegtheit der verschiedenen Dinge an ihren relativen Orten, brächten wir nicht schon ein Wissen mit von dem, was Unbewegtheit oder Ruhe bedeuten? „Ruhe“ ist aber eine Raumerfahrung, die auf den Leib zurückgeht. „Der leibliche Raum ist nicht nur begrifflich dem Ortsraum vorausgesetzt, sondern beide Raumtypen gehören auch in der Lebenserfahrung zusammen und durchdringen sich.“ 32 So lässt sich zweierlei Art von Sehen unterscheiden, einmal das Zusehen, indem wir eine Zuschauerperspektive einnehmen und dabei selbst unbewegt eine Szene in unserem Blickfeld beobachten. „Ein solches Sehen orientiert sich ganz überwiegend im Ortsraum an Lagen und Abständen.“ 33 Jede perspektivische architektonische Ansicht bietet ein solches Schauspiel. Orientiert sich diese Ansicht am geometrischen Raum, so das „motorische Sehen“ im leiblichen Raum. Meistens sind wir nämlich in Bewegung, wenn wir sehen. Um uns etwa in einer Fußgängerzone zu orientieren, das heißt, darauf achten, nicht mit entgegenkommenden Passanten zusammenzustoßen, muss ich die Eigenbewegung meines Körpers geschickt steuern. Nicht allein sehend, vielmehr ganzheitlich bewältige ich die Situation. Der ganze Körper ist unwillkürlich beteiligt und steht dabei in „leiblicher Kommunikation“ mit den anderen Körpern, die in der Regel sich ebenfalls geschickt verhalten. In solchen Situationen wird der Blick (das motorische Sehen) zu einem maßnehmenden „Fühler“, der die anwesenden Partner auf Distanz hält und so eine räumliche Orientierung ausübt. „Auf diese Weise spannt der Blick im motorischen Sehen ein räumliches Feld auf, das über das Gesehene hinausreicht und den nicht gesehenen eigenen Leib und Körper einbezieht. Entscheidend sind dabei die Bewegungssuggestionen, an denen er Maß nimmt. […] Bewegungssuggestionen, wahrgenommene Vorzeichnungen von Bewegung, sind eigentlich Gestalt- 0 0 Architekturtheorie_Huter.indd 150 23.01.2008 15: 28: 10 Uhr <?page no="150"?> Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 151 qualitäten, die Gestalten aller Art - optischen, ganz besonders akustischen, taktilen und auch Bewegungsgestalten wie beispielsweise Gebärden, die ihren Gebärdesinn von über die ausgeführte Bewegung hinausreichenden Bewegungssuggestionen empfangen - das Gepräge geben und zugleich in der Einleibung die Brücke schlagen, weil sie sowohl am eigenen Leib gespürt wie an Gestalten wahrgenommen werden können.“ 3 Der hier beschriebene optisch-motorische Raum kann mit seinen spontanen Richtungswechseln in einem Ortsraum mit seinen metrisch bestimmten Lagen und Abständen nicht eingezeichnet werden. Vielmehr konstituiert er sich spontan und unaufgefordert. Der Weg, der genommen wird, und die Richtungen, die eingeschlagen werden, lassen sich weder vorausberechnen noch wiederholen. Weitere Beispiele können dem Sport entnommen werden, wo wir nicht nur anderen menschlichen Körpern (Mitspielern/ Kontrahenten), sondern auch toten Geräten ausweichen oder diese in ihrer Eigenbewegung geschickt mit unserer Motorik kombinieren und schwungvoll aufnehmen, wie zum Beispiel bei Ballsportarten oder beim Geräteturnen. Einen Raum eigener Art erkennt s chmitz im Gefühlsraum. „Gefühle als ortlos ergossene, leiblich ergreifende Atmosphären sind nicht nur überhaupt räumlich, sondern bilden miteinander einen Raum eigentümlicher Struktur“. 35 Auch für den Gefühlsraum ist Weite maßgeblich. Diese atmosphärische Weite kann sich in der Grundstimmung der Zufriedenheit als erfüllt, in der Grundstimmung der Verzweifelung als leer präsentieren. Zwischen diesen beiden Polen liegen alle anderen leiblich spürbaren Stimmungen. Zu unterscheiden sind situationsbedingte Stimmungen, die uns treffen, etwa wenn wir plötzlich in eine Trauergemeinschaft eintreten. s chmitz spricht von der Autorität der Trauer, „die über die ganze aktuelle Umgebung den Anspruch einer Atmosphäre verbreitet“, dann von situationslosen Atmosphären, bei denen uns das ergreifende Gefühl unvermittelt überfällt. Schließlich lassen sich Atmosphären auch ungerührt darstellen: der Landschaftsmaler kann den atmosphärischen Ton der Melancholie treffen, ohne während des Malens von einer entsprechenden melancholischen Stimmung ergriffen zu sein. Spannend wird die Rede von Gefühlen, Stimmungen und Atmosphären für die Architekturtheorie besonders dann, wenn sie „im Raum“ oder „räumlich“ gespürt werden bzw. uns treffen: etwa als erhabene Landschaft oder in einem Haus, das uns deprimiert, schließlich in einem Garten, der uns heiter stimmt. Solche Gefühle haben aber weder in der Landschaft, noch in Haus und Garten einen konkret angebbaren Ort. Sie sind ortlos im Sinne einer exakt bestimmbaren Lage im dreidimensionalen Raum, dennoch erleben wir sie und drücken sie auch sprachlich entsprechend als örtlich gebunden aus. (Diese Thematik wird in der 12. Vorlesung wieder aufgenommen.) 5 Schmitz 998, 6 Architekturtheorie_Huter.indd 151 23.01.2008 15: 28: 10 Uhr <?page no="151"?> 6. Vorlesung 152 Kommen wir noch einmal auf den Ortsraum zurück. Zweifellos ist dieser für den Architekten auf Grund seiner leichten Identifizierbarkeit im geographischen Raum eingängig und beliebt. Als leer geräumter Platz wird der Ort zum Bauplatz und als Grundfläche für einen geplanten Bau begriffen. Mit der Schaffung und der Annahme seiner Flächigkeit unterscheidet sich der Ortsraum grundlegend sowohl vom Gefühlsals auch vom leiblichen Raum. Beide sind nämlich flächenlos. In welchem konkreten Sinn lässt sich denn überhaupt von Flächen sprechen? Der Leib selbst ist prädimensional, d.h. sein Raum liegt überhaupt außerhalb eines dreidimensionalen Denkens, das die Fläche als zweite Dimension mitdenkt. Für s chmitz leistet die Fläche aber den entscheidenden Dienst zur „Konstruktion des Ortraumes“ 36 . Allein die Rede von der Oberfläche bei festen Körpern suggeriert, dass wir es dabei mit etwas Selbständigem zu tun hätten. Solche Vorstellungen von der Flächigkeit aller Weltkörper, die sich durch Schnitte finden und verifizieren lassen, bezeichnet s chmitz als eine „phantasierte Wunschvorstellung“: „Dieses Verlangen nach Flächen mit der Bereitschaft, Flächen in alles Räumliche hineinzusehen und hineinzudeuten, entspringt einem tiefen Bedürfnis und einem großartigen Angebot der Fläche an den Menschen. Mit der Fläche beginnt die Entfremdung des Raumes vom Leib und damit die Chance einer Orientierung, sich von den Verstrickungen leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation einschließlich des Ergriffenseins von Gefühlen so zu lösen und darüber hinwegzusetzen, daß alles im Raum, was die Vergegenständlichung übrig lässt, einschließlich seiner räumlichen Anordnung gleichmäßig objektiviert und verfügbar gemacht werden kann.“ 37 Diese Interpretation lässt sich in ihrer Reichweite für das architektonische Denken in Flächen, Aufrissen und Schnitten, schließlich für die Konstruktion eines architektonischen (dreidimensionalen) Raums schwerlich überschätzen. Sie berührt einen Kernpunkt des Selbstverständnisses des Architekten hinsichtlich seiner Raumvorstellung und der Darstellung von Räumen: der leibliche Raum kann nämlich „architektonisch“, in Schnitten, Grundrissen und auch in Zentralperspektive, nicht dargestellt werden. Denn: eine Fläche lässt sich ebenso wenig bewohnen, wie man nicht auf der Wasseroberfläche schwimmen kann. Oder anders ausgedrückt: mit der Konstruktion des Ortsraums emanzipiert sich der Mensch von der leiblichen Kommunikation und seiner primären Welt-Orientierung. Alle lebensgeschichtlichen Verstrickungen des konkreten Menschen sind im Ortsraum aufgehoben zugunsten einer beliebigen Verortung auf Flächen. s chmitz deutet diese Vorgänge als ein räumliches Verfügenkönnen über den eigenen Körper, beim architektonischen Entwurf über die Körper anderer, indem Körper (wie andere Dinge auch) fortan als Objekte unter Objekten in einem Netz relativer Orte im Ortsraum 6 Schmitz 00 , 7 Schmitz 998, 7 Architekturtheorie_Huter.indd 152 23.01.2008 15: 28: 10 Uhr <?page no="152"?> Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 153 gedacht werden können. s chmitz lässt aber auch sehen, was die Kehrseite dieses Denkerfolgs ausmacht. Der leibliche Raum ebenso der Gefühlsraum mitsamt ihren Qualitäten verschwinden, und damit geht die Einsicht verloren, dass die geometrische Erkenntnis eine leiblich-anthropologische Grundlage hat, auf der sie fußt. Das mathematische Verfahren der Vernetzung beliebiger relativer Orte erfindet immer wieder neue Möglichkeiten von Raumkonstruktionen, unabhängig vom räumlichen Leib- und Erfahrungswissen des Menschen. „Der Spielraum für gedankliche Konstruktionen ist auf diese Weise großartig erweitert, das Verständnis für den Raum aber, in dem die Menschen wirklich leben, erfahren und sich verhalten, verkümmert worden.“ 3 Die Faszination, die die durch Linien und Punkten gestaltete Flächigkeit von architektonischen Entwürfen auslöst, scheint ein Spiegelbild jener Emanzipation vom prädimensionalen leiblichen Raum zu sein, die den „flächenhaften Sammelplatz Raum“ (s chmitz ) erst möglicht gemacht hat. Vor diesem begrifflichen Hintergrund, den s chmitz entfaltet, geht die Bedeutsamkeit des architekturtheoretisch relevanten Raumzugriffs besonders von Haus und Wohnung aus. Denn beide Werke verknüpfen gewissermaßen die unterschiedenen Raumverständnisse. Auf der einen Seite verdankt sich ihre Planung und Herstellung dem Ortsraum. Jedes Bauwerk ist dem Ortsraum konstruktiv abgerungen. Zugleich schützt es die Bewohner vor störenden Außenraumeinflüssen und verschafft ihnen einen „intimen“ Gestaltungsraum für ihre Gefühle. Deshalb orientiert sich der Gebrauch von Haus und Wohnung auf der anderen Seite am leiblichen Raum seiner Bewohner. s chmitz spricht von der „Kultur der Gefühle in der häuslichen Wohnung“ 39 . Die Räumlichkeit der Gefühle, die in Haus und Wohnung ihre einmalige Rahmung findet, wird gemeistert durch Rückzug vom Ortsraum und Gewinn von spezifischer Weite („Gemütlichkeit“). Dieses einzigartige Geschehen verweist auf das Urphänomen des Wohnens. 8 Orientierung und Standort bei Charles Taylor Im Sprechen über Architektur ist immer wieder davon zu hören, dass dieser oder jener Entwurf eines Architekten das Zeug habe, „Identität“ zu schaffen. Bei solchen Gelegenheiten wird „Identität“ durch geschickte und ansprechende architektonische Setzungen und eingängige Gestaltung als machbar erklärt. Dem soll nicht widersprochen werden. Dennoch bleibt aber zu zeigen, dass es ein ungemein reiches Verständnis von Identität gibt, das über jenes Bild von „Identität“ als Summe von Eigenschaften eines Bauwerks hinausgeht. Identität hat mit Orientierung zu tun. Was bedeutet also 8 Schmitz 00 , 5 9 Schmitz 977, 58 ff; vgl. auch Hasse 005 Architekturtheorie_Huter.indd 153 23.01.2008 15: 28: 10 Uhr <?page no="153"?> 6. Vorlesung 154 Identität? Orientierung in der Welt und Orientierung im Raum hängen untrennbar zusammen. „Wissen, wer ich bin, ist eine Unterart des Wissens, wo ich mich befinde“. 0 Wenn wir von Identität sprechen, dann im konkreten Kontext unserer räumlichen Verortung in der Welt. Dies zeigt eindrucksvoll schon das Wort Standort. Das Wort beschreibt sowohl dieses „Hier“, an dem wir uns leiblich gerade befinden, aber auch das „Selbst“, für das jeder sich selbst hält, das zu diesem Hier gekommen ist und sich dazu verhalten kann. Letzteres gelingt zum Beispiel im Erzählen der eigenen Wohngeschichte, die davon handelt, wie es dazu gekommen ist bzw. welchen „Weg“ wir genommen haben, dass wir uns nun hier befinden. Das Erzählen selbst bringt das Verhältnis zum Standort und der so gewonnenen Perspektive sprachlich zum Ausdruck. Orientierung über uns und Orientierung über unseren Aufenthaltsraum beziehen sich wechselseitig aufeinander. Beide verbindet der Ausblick auf einen Horizont. Einmal ist es der Horizont, in den wir uns handelnd „entwerfen“, nämlich als konkreter Rahmen („Raum“) unserer sozialen Lebenswelt. Innerhalb der Pragmatik unserer Welt wissen wir uns durch Bindungen an Menschen und Orte eingepasst und gehalten. Zum anderen meint Horizont die Reichweite, in der wir uns alltäglich bewegen können. Auch hier spielen wiederum soziale und örtliche Bindungen hinein. Die Rede vom Horizont impliziert aber gerade auch, dass dieser begrenzt ist. Einen unendlichen Horizont gibt es nicht. Horizont und Grenze bedingen einander. Beide sind für den Menschen durch ihre Endlichkeit, die als „haltgebend“ erlebt wird, geprägt. Unser Standort innerhalb der körperlich-empirischen Welt ist nur ein möglicher. Nichts könnte mich daran hindern, einen anderen Standort einzunehmen. Aber auch dann nähmen wir das, was „unser Horizont“ heißt, mit - unter Umständen leicht modifiziert mit weiteren und anderen Bindungen und Identifikationen. Niemals aber könnte der Mensch überhaupt jenseits irgendeines Standorts „horizontlos“ in der Welt leben und sein Leben führen. Allein ein theoretischer Standpunkt überschritte diese Grenze, die unser leiblicher Standpunkt ist. Der kanadische Philosoph Charles t aylor (*1931) fasst den Horizont als den Rahmen auf, innerhalb dessen der Mensch von Fall zu Fall entscheidet, was zu tun oder zu lassen, was gut oder weniger gut ist, was als gelungen oder misslungen zu gelten hat. Innerhalb dieses Umkreises bestimmt der Mensch seinen Standort, der dann in jenen konkreten Entschlüssen und Entscheidungen zum Ausdruck gebracht wird, die z. B. das Bleiben oder das Wegziehen betreffen. Ohne diese Übereinstimmung unserer Entschlüsse mit unseren festen Überzeugungen wüssten wir weder zu sagen, was die Dinge bedeuten, noch was für uns wertvoll ist und was nicht. Wir haben also eine enge Verknüpfung zwischen der Identität eines Menschen und seiner 0 Taylor 996, 55 Architekturtheorie_Huter.indd 154 23.01.2008 15: 28: 11 Uhr <?page no="154"?> Zur Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens 155 räumlichen Orientierung anzuerkennen. Es ist für den Menschen essentiell, die Kontrolle über den eigenen Standort im physikalischen Raum nicht zu verlieren. Jeder Umzug macht die Menschen unsicher, was an Bindungen sie möglicherweise dadurch verlieren bzw. welche neuen sich möglicherweise gewinnen lassen. Orientierung ist immer auch Orientierung am Guten. Dies hat zur Folge, dass wir in die Lage geraten, den räumlichen Standort, unser Hier im Raum, ebenfalls unter ethischen Gesichtspunkten zu deuten und zu wählen. Genauer: unter der Hinsicht, welches Leben hier möglich ist oder: Welches Leben können wir hier verwirklichen? Man weiß, wer man ist, wenn man weiß, wo man steht. Wenn aber Orientierung-gewinnen mit Richtungen, Zielen und Wegen zu tun hat, dann ist Orientiert-sein das (vorläufige) Ziel, das man gefunden hat, das man aber auch wieder verlieren kann. Orientierung und Identität verhelfen uns dazu, die für unsere Lebensführung wichtigen Unterscheidungen treffen zu können. „Unsere Identität ist das, wodurch wir zu bestimmen vermögen, was für uns wichtig ist und was nicht.“ 1 Wir können für unsere Lebensführung nicht ohne eine Orientierung auf das Gute auskommen. Jeder von uns definiert den moralischen Raum der qualitativen Unterscheidungen durch seinen Standort, d.h. durch seine Identität. Die begriffliche Durchdringung der leiblichen und moralischen Räumlichkeit des Menschen, wie wir sie versucht haben, konfrontiert das architektonische Handeln mit einem breiten Einblick in die humane Existenz, die sich als Dasein zum Raum erweist. Allein der gekonnte Einsatz von geometrischem Wissen wird nicht ausreichen, angemessen mit diesem Phänomen der räumlichen Orientierung und Identität gedanklich umzugehen, geschweige denn, es kompetent durch das Entwerfen „bewohnbarer Räume“ zu bewältigen. Es ist die Einsicht zu gewinnen, dass das architektonische Arsenal bestehend aus „Zirkel und Lineal“ (einschließlich seiner modernen Äquivalente) unzureichend ist, den Anforderungen zu entsprechen, die sich aus der Phänomenologie und Hermeneutik des Raums ergeben. Wir müssen davon Abschied nehmen, dass das „Bewohnen von Räumen“ allein „ästhetisch“ erschlossen werden kann. Erst das gelebte Leben selbst enthüllt die Kraft eines Raums. Ich möchte mich ganz der Skepsis Rudolf s chWarz ’ (1 97-1961) hinsichtlich einer Zuschauerperspektive der Architekturbetrachtung anschließen, deren positives Maß freilich die Phänomenologie des leiblichen Raumkonstituierens (Wohnens) ist: „Diese Art von Raum ist von größter Zartheit. Dem Leben entsprungen, atmet und bewegt er sich mit ihm, fließt hin und zurück, ballt und dehnt sich, leuchtet auf und verdämmert. Ist einmal das erzeugende Leben fortgenommen, so ist er mit ihm zugleich erloschen. Entstanden aus dem Elementartrieb zu wölben und zu türmen, ist er nur sinnvoll zu diesem A.a.O., 60 Architekturtheorie_Huter.indd 155 23.01.2008 15: 28: 11 Uhr <?page no="155"?> 6. Vorlesung 156 großen Leben, kann er auch nur im Akt der Bewohnung erfahren werden. Es ist darum aussichtslos, ihn durch irgend ein ‚ästhetisches‘ Experiment begreifen zu wollen.“ 2 Eine zentrale Aussage dieses Kapitels mag darin anerkannt werden, dass die Vorstellung vom dreidimensionalen Raum nicht in der Lage ist, die Räumlichkeit des menschlichen Verhaltens zu verstehen, abzubilden oder darzustellen. Es müssen also andere, vielleicht sprachliche Bilder aufgegriffen werden, die es ermöglichen, literarische Beschreibungen von Raumerfahrungen in ihrer Komplexität und Ganzheitlichkeit zu transportieren. Anschauliche Geschichten zeigen durchaus die Kompetenz, leibliche Erfahrungen mitzuteilen. Schwarz 979, 8 Architekturtheorie_Huter.indd 156 23.01.2008 15: 28: 11 Uhr <?page no="156"?> 7. Vorlesung Das Wohnen In dieser Vorlesung wollen wir uns um das Wohnen bemühen. Wir hatten ja schon festgestellt, dass das Ziel des Bauens nicht ein Gebäude ist. Das Gebäude oder Bauwerk bezeichneten wir richtigerweise als das Produkt des Bauens. Das Ziel des Bauens im Sinne einer Lebenspraxis, des Könnens eines innerweltlichen Ziels und nicht im Sinne des Herstellens - ist aber das Wohnen. Wir bauen, weil wir bleiben wollen. Raum und Zeit bedingen auch hier einander. Ein Nomadenvolk braucht keine Bauten, allenfalls Zelte für den kurzfristigen Aufenthalt. Bleibend gewöhnen wir uns an den Ort, werden vertraut mit seinen Menschen, seiner Umgebung, und richten unser Leben darin ein. Es wird im Folgenden darauf ankommen, den „Autor“ des architektonischen Handelns davon zu überzeugen, dass sich sein Wirken nicht im aufgestellten und erscheinenden Bauwerk allein erfüllt, geschweige denn darin zu einem Ende kommt. Erst der gebrauchende Umgang mit einem Haus, die Wirklichkeit des Wohnens selbst, lässt das Ziel des Tuns erkennen und wird zeigen, ob und wie das Wohnen den Raum „räumlich“ in Griff bekommen hat, auf welche Weise von einem gelungenen Entwurf gesprochen werden kann. 1. Missverständnisse Wir fragen: „Wo wohnst du? “ und: „Wie wohnst du? “. Meistens interessieren uns dabei mehr oder weniger konkrete Ortsangaben bzw. gewisse Umstände oder Modalitäten, die dem städtischen Wohnen eigen sind: Wir wohnen in Dresden Plauen oder in der Neustadt, wir wohnen im Erdgeschoss zur Miete oder in einer Wohngemeinschaft auf der dritten Etage. Das Wohnen selbst - als genuin menschliche Lebenspraxis - kommt bei solchen Antworten selten oder nur auf Nachfrage zur Sprache. Das „wirkliche“ Fragen nach dem Wohnen sind wir oftmals gar nicht gewohnt. Die Frage nach dem Wohnen ist eine der bedeutsamsten und vielleicht auch schwierigsten Fragen, die sich Menschen stellen können. Denn diese Frage ist nicht technisch zu beantworten. D. h. es ist sinnlos, sie allein nach der Stelle im geographischen Ortsraum, nach qm-Zahlen und Mietpreisen zu beantworten. Sie ist auch nicht psy- Architekturtheorie_Huter.indd 157 23.01.2008 15: 28: 11 Uhr <?page no="157"?> 7. Vorlesung 158 chologisch aufzufassen, indem wir nach einem besonderen Wohnbedürfnis forschen, das sich in uns regt, wenn wir uns vielleicht zu einem Apartment bei Malibu hinträumen oder nach der Reethütte an den Ostseestrand sehnen. Immer schon wohnend, stellt sich eine Unzufriedenheit ein, nicht mehr bleiben zu wollen. Nicht mehr bleiben zu können, weil wir z. B. anderenorts einen Arbeitsplatz angeboten bekommen haben, führt zu einer Orientierungsnot. Führt man sich ferner vor Augen, dass Wohnen erst „gelernt“ werden muss, denn niemand kommt als „Wohnender“ auf die Welt, und dass jedes Lernen einen Erfahrungsprozess beschreibt, an dessen Ende ein Können und Vertrautsein mit einer Sache steht, dann kann auch ein verstehender Zugang zum Wohnen gelingen und das Handeln des Architekten orientieren. Bevor wir im späteren Verlauf der Vorlesung auf unmittelbare alltagspraktische Erfahrungen mit dem Wohnen eingehen, soll zunächst der Bedeutung nachgegangen werden, die das Wort „Wohnen“ im Kontext des allgemeinen Sprachgebrauchs besitzt. Wir gebrauchen in unseren spontanen Redewendungen unentwegt den Ausdruck „Wohnen“, ohne jedoch seine implizite Bedeutung zu reflektieren. Die Werbung ist neuerdings voll mit Slogans, die das Wohnen mit dem Leben verrechnen wollen. Allen Ernstes wirbt eine Immobilienfirma mit einem Zitat des Religionsphilosophen Paul t illich (1886-1965), der, die Unkenntnis der Verantwortlichen noch steigernd, als Publizist bezeichnet wird. Das aus seinem Kontext gerissene Zitat lautet (einschließlich der fehlerhaften Zeichensetzung): „Wir wohnen nicht um zu wohnen, sondern wir wohnen um zu leben.“ Leben und Wohnen lassen sich nicht gegenseitig aufrechnen, als ob das Leben eine Steigerung des Wohnens darstellte. Gerade die Hersteller und Vertreiber von Häusern und Möbeln wollen aber den Menschen einreden, dass das rechte Wohnen vom Kauf bestimmter Wohnungseinrichtungsgegenstände abhänge. Es steckt sogar eine gewisse Tradition darin, die Güte unseres Wohnens unmittelbar mit einer Wohnung und ihrer Lage sowie Ausstattung in Beziehung zu setzen. In der Tat gab und gibt es „unmenschliche“ Behausungen. Der Kenner der Berliner Hinterhöfe der Kaiserzeit und ihrer Wohnverhältnisse, der Zeichner und Fotograph Heinrich z ille (1858-1929), hat die Erfahrung gemacht, dass man einen Menschen mit einer Wohnung genauso wie mit einer Axt erschlagen kann. Auch scheint es mir nachvollziehbar zu sein, davon zu sprechen, dass das Wohnen „gelernt“ werden muss. Inwiefern aber liegt die „Richtigkeit“ des Wohnens im Horizont der Benutzung einer Wohnung? Bedeutet „richtig“ die gekonnte Verteilung von Aktivitäten auf Zimmer und Flure? Liegt also die Auslegung von „richtig“ in den Anweisungen des Architekten? Viele Architekten sind der Meinung gewesen und sind es vielleicht heute immer noch, dass sie die Menschen beim Wohnen zu führen hätten. Und es ist durchaus verständlich, dass ein bedeutender Intellektueller wie Adolf B ehne Architekturtheorie_Huter.indd 158 23.01.2008 15: 28: 11 Uhr <?page no="158"?> Das Wohnen 159 (1 5-19 ) die Architekten in den 1920er und 1930er Jahren darin unterstützte, die zukünftigen Bewohner der Häuser und Wohnungen des Neuen Bauens zu einem besseren Wohnen zu verhelfen. Bessere Wohnungen und besseres Wohnen gilt es aber zu unterscheiden. Der erste Fall spricht von einem Planungs- und Herstellungsprozess und schließlich einem Produkt: das Haus, die Wohnung. Das „bessere“ Wohnen aber orientiert sich am „guten“ Wohnen. Das Verhalten, das wir Wohnen nennen, verweist auf die Bewältigung einer menschlichen Grundsituation. Das „Gute“ bezieht sich hier auf die menschliche Lebensführung, nämlich dass unser Leben gelingen soll. Und insofern sich jedes „empirische“ Wohnen entwickelt und verändert, mal lebt man in einer großen Familie, mal lebt man nur mit einem Partner, entscheidet man sich bei der Bewältigung der menschlichen Grundsituation, des „Bleibens“, bezogen auf die Widerfahrnisse und Umstände des Lebens für eine jeweils andere Wohn-Form. Deshalb ist es sinnvoll und entspricht Jedermanns Erfahrungen, zwischen der Grundsituation des Wohnens und dem so-Wohnen zu unterscheiden. Das so-Wohnen hat mit den praktischen Lebenskonzepten oder Lebensstilen 1 der Menschen zu tun. Es beruht in erster Linie auf den „gemachten“ Wohnerfahrungen und betrifft nicht nur das Wohngefühl, sondern ebenso die Weise, wie dieses Wohnen anschaulich in Erscheinung treten soll. Jeder Umzug ist deshalb ein Anlass, über das „gute“ sowie das „bessere“ Wohnen (nach dem Umzug) nachzudenken. Statt also von einem „richtigen“ Wohnen möchte ich vom „passenden“ und „angemessenen“ Wohnen sprechen, insofern Lebenskonzeption und Wohnen zueinander passen müssen. Und nur in diesem konkreten lebenspraktischen Zusammenhang des von Jedermann erstrebten angemessenen Wohnens lässt sich sinnvoll davon sprechen, dass das Wohnen gelernt werden muss. Wie empirische Studien gezeigt haben, ist das angemessene Wohnen in erster Linie keine Geldfrage! 2 Vielmehr geht es darum, sich als Mensch in der Welt zu orientieren. Sich von der jeweiligen konkreten Form des Wohnens ein Bild zu machen, ist Aufgabe des architektonischen Handelns, des Entwerfens. Die Vorstellung, eine Wohnung könnte wie ein Automat funktionieren, verkennt, dass das menschliche Wohnen eine Praxis ist, ein freier Umgang mit den eigenen Fähigkeiten, Wünschen und Gefühlen, dass dabei eine Wohnung „in Gebrauch“ genommen wird. Das Lernen des Wohnens meint das Vermögen sich im Leben zu orientieren. Insofern etwa Adolf l oos (1 70-1933) vom „modernen Menschen“ spricht, hat er Recht, damit ein bestimmtes Wohnen verknüpft zu denken. Unrecht hat aber jeder, der die entsprechende „moderne“ Lebenskonzeption als Folge oder Wirkung eines architektonischen Programms deutet, statt als eine genuine Lebens- und Wohnerfahrung. Ohne Zweifel können wir z. B. Dabei meine ich nicht einen soziologischen Begriff von Lebensstil; dazu mehr in der . Vorlesung. Vgl. Hahn/ Steinbusch 006 Architekturtheorie_Huter.indd 159 23.01.2008 15: 28: 12 Uhr <?page no="159"?> 7. Vorlesung 160 die Wohnungen aus der Gründerzeit mit unseren heutigen Wohnvorstellungen bewohnen (und tun dies ja auch). Das Wohnen ist nämlich auch eine kreative Interpretation des zugestandenen Wohnraums. Das heißt: die Frage nach dem Wohnen stellt sich nicht allein vom Bau-Entwurf und seinem Produkt, der Wohnung. Erst die Praxis des Wohnens, die konkrete Aneignung dem Wohnen zur Verfügung gestellter Räume, konstituiert das gesamte architekturtheoretische Phänomen. 2 Wortbedeutung Hans-Georg g aDamer hat einmal gesagt: Ein Wort sei immer eine Antwort. Worauf antwortet das Wort „wohnen“? Wie lautet die Frage, auf die das Wort „Wohnen“ eine vom allgemeinen Sprachbewusstsein angenommene Antwort darstellt? So können wir uns zunächst der sichtenden Konzeptionen versichern, die von der Sprache, in der wir heimisch sind, vorgeprägt sind. Im kindlichen Lernen und Gebrauchen der Wörter unserer Gemein- oder Umgangssprache haben wir nämlich schon ein Vorverständnis übernommen, was es denn mit dem „Wohnen“ auf sich hat. Wohnend lernen wir die Bedeutung des Worts „wohnen“. Diese im Sozialisationsprozess mitgelernte Wortbedeutung, wie sie für eine konkrete Sprachgemeinschaft gültig ist, gibt eine tragende Richtung vor, auf deren Hintergrund das „persönliche“ Wohnen gesucht und entdeckt wird. Um uns also zunächst einmal die Dimension und Tragweite der Frage nach dem Wohnen zu stellen, ist es hilfreich, die Wortbedeutung zu erkunden und einen Blick auf die Herkunfts-, Bedeutungs- und Gebrauchsgeschichte zu werfen. Die durchlebte Wirklichkeit des Wohnens ist nämlich nicht anders zu fassen als im Medium der bereits terminologisch fixierten Sprache; denn jede Besinnung auf das, was wir unmittelbar erfahren, bedeutet ein Artikulieren und Aussprechen. In der lebendigen Sprache, die die Wortbedeutung austrägt, hat sich die vorwissenschaftliche Weltansicht in ihrem Reichtum und ihrer Anschaulichkeit niedergeschlagen. Schauen wir also auf die Sprache, so erfahren wir, dass die uns heute in erster Linie geläufige räumliche Bestimmung im Wort wohnen, nämlich „seinen ständigen Aufenthalt haben“, nachträglich ausgeprägt wurde. Das Zeitwort wohnen stammt von ähnlich lautenden althochdeutschen, altsächsischen und altfriesischen Vorformen ab, die die Bedeutungen „wohnen, sein, bleiben“ haben. Deren Grundbedeutung ist aber, wie altnordische und gotische Formen lehren, offensichtlich „zufrieden sein“. Das mittelhochdeutsche „wonen“ meint: „wohnen, sein, bleiben, (ver)weilen“, auch „ausharren, pflegen“. Und das gotische „wunian“ trägt die Bedeutung von „bleiben, wohnen, gewohnt sein“ und sagt damit Architekturtheorie_Huter.indd 160 23.01.2008 15: 28: 12 Uhr <?page no="160"?> Das Wohnen 161 deutlicher, wie dieses Bleiben erfahren wird: „zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben“ 3 . Nach k luge ist die Grundbedeutung von wohnen „zufrieden sein“ . Die heutige Auffassung, nach der wir das Wohnen mit der Einnahme eines ständigen Wohnsitzes verbinden, ist offensichtlich eine spätere Interpretation gegenüber der früheren Bedeutung des Verweilens an einem bestimmten Ort. 5 Das „Etymologische Wörterbuch des Deutschen“ weist auf folgende interessante Bedeutungsverschiebung von wohnen hin: „Die Bedeutungsentwicklung geht von ‚streben (nach etwas)‘ aus und führt wohl über ‚erreichen, befriedigt sein, etwas gern haben, gewohnt sein‘ zu ‚wohnen‘, d. h. ‚sich an einem gewohnten Ort ständig aufhalten‘“. 6 Eine vergleichbare Wandlung hat auch das Wort Wohnung durchgemacht. Zunächst meint es nämlich nicht den uns heute geläufigen bestimmten Raumort, an dem jemand wohnt, also: „fester Wohnsitz, Unterkunft“. Das mittelhochdeutsche „wonunge“ ist noch allgemeiner bezogen auf den Aufenthalt, den der Mensch an einer bestimmten Stelle nimmt. Es meint „das Bleiben, Aufenthalten, Gegend, Gewohnheit“. Auf die Bedeutung des „Wohnens“ (habitare) in familiärer Gemeinschaft für die tugendhafte Lebensführung weist Leon Battista a lBerti (1 0 -1 72) in seinem architekturtheoretischen Traktat „De re aedificatoria“ hin. 7 Ein Wörterbuch des Mittelhochdeutschen zitiert einen Autor Secundus mit der Zeile: „Was ist der mensche? Einer kleinen zît woner“ . Der Mensch ist ein Wohnender, er bewohnt die Welt für die Zeitspanne eines Lebensalters, welche im Vergleich mit der Ewigkeit winzig erscheint. W alch führt in seinem Lexikon von 1726 allein den Begriff Wohnung auf. 9 Sie „dient unmittelbar zur Erhaltung des Leibes“ und „dessen Gesundheit“. Aber diese pragmatische Sicht wird unterstützt durch das moralische Gebot, dass eine Wohnung zu haben „zu den Pflichten gegen sich selbst gehöre“. W alch findet allerdings auch ein Wort zum Maß der Wohnung: Der Mensch habe „die Wohnung so abzumessen, daß er drinnen sich bequem aufhalten kann, wozu noch der Wohlstand kommt, daß man sich nach seinem Stande einrichtet.“ 10 Mit diesen Wortauslegungen des allgemeinen Sprachbewusstseins ist ein vertiefter Vorgriff auf das Wohnen getätigt. Die Wirklichkeit, der wir uns nähern wollen, bekommt so eine willkommene dichte Gliederung. Vgl. Heidegger 990, Kluge 999, 869 5 Vgl. Bollnow 96 , 7 6 Pfeifer 989, 988 7 Vgl. Mühlmann 98 , f. u. Anm. 5 8 Lexer 99 9 Philosophisches Lexicon, Leipzig 7 6 0 Walch 7 6, 9 6 Architekturtheorie_Huter.indd 161 23.01.2008 15: 28: 12 Uhr <?page no="161"?> 7. Vorlesung 162 3 Die Grundsituation des Wohnens Wir werden im Folgenden sehen, dass sowohl das Haus, mehr noch das Wohnen zentrale Phänomene der menschlichen Wirklichkeit benennen, die immer wieder Anlass gegeben haben, deren nachhaltigen Sinn auszulegen. Zugleich zeigt aber der Blick in den Reichtum dieser Unternehmungen, dass all diese Interpretationen nie wirklich zu einem verbindlichen Abschluss kommen können, sondern dass stets von Neuem, nämlich vor dem Hintergrund selbst erworbener Lebenserfahrungen, versucht werden muss, der Bedeutung von Haus und Wohnen gerecht zu werden. Keine Architekturtheorie kommt aber am Wohnen vorbei. Es kann niemandem durch wen auch immer abgenommen werden, sich sein eigenes Verständnis vom Wohnen aufzubauen, d. h. konkret irgendwo zu wohnen. Seinen Essay Of Building (dt.: Über das Bauen) beginnt der englische Renaissance-Philosoph Francis B acon (1561-1626) folgendermaßen: „Häuser baut man zum Wohnen und nicht zum Anschauen; deshalb hat auch die Zweckmäßigkeit den Vorrang vor der Schönheit, ausgenommen wo man beides vereinigen kann.“ 11 Ein ähnliches anti-ästhetisches Argument findet sich auch bei Rudolf S chwarz : „Wohnen aber ist etwas anderes als Anschauen, es wird von dem ganzen Menschen mit Leib und Seele und allen Sinnen geleistet, ist Weitung des eigenen Leibraumes ins Breite und Hohe, ist Kommunion mit vielen anderen Menschen in einer gemeinsamen Gestalt, Gemeinschaft in einem höheren Leib.“ 12 S chwarz macht das Wohnen zum zentralen Thema des architektonischen Entwerfens. Architektur „beginnt überhaupt erst dort, wo ein Werk Haus ist, das heißt, wo es bewohnbar wird“. 13 Den tiefen Zusammenhang von Haus und Wohnen thematisiert auch Gaston B achelard (1884-1962) 14 . Er spricht von der Urfunktion des Wohnens: „Jeder wirklich bewohnte Raum trägt in sich schon das Wesen des Hausbegriffes.“ 15 Für B achelard beginnt das Leben des Menschen „im Schoße des Hauses“ 16 . Wichtig ist aber dann sein Hinweis, dass wir „Bilder“ des geglückten Wohnens in uns tragen. Die Grundsituation des Wohnens bedeutet zunächst, dass der Mensch, einmal auf der Welt, irgendwo bleiben muss. Unabhängig davon, ob man diese Situation als ein Geworfensein (Existenzialismus) oder als ein Bleibendürfen in Geborgenheit interpretiert: Jeder Mensch muss sich irgendwo in der Welt seinen Aufenthalt nehmen. Dabei ist immer wieder festgestellt worden, 11 “Houses are built to live in, and not to look on; therefore let use be preferred before uniformity, except where both may be had.” Bacon 1965, 295 12 Schwarz 1960, 8 13 Schwarz 1979, 17 f. 14 Bachelard 1987, 31 15 A.a.O. 16 33 Architekturtheorie_Huter.indd 162 31.01.2008 11: 23: 17 Uhr <?page no="162"?> Das Wohnen 163 dass diese Grundsituation die Notwendigkeit eines „Maß-nehmens“ enthält. Schon das polis-Verständnis bei a ristoteles sieht den Menschen auf ein gemeinschaftliches Wohnen in der Stadt hin orientiert. Das Leben, das der Mensch (nur) dort verwirklichen kann, ist das „gute“ Leben. 17 Die hebräische Sprache, die das Wohnen im alttestamentlichen Verstehen gefasst hat, bringt das Nebeneinander der biblischen Wohnvorstellungen durch die beiden Aspekte göttlicher Präsenz, nämlich die des „thronenden“ (jšb) und des „dynamisch gegenwärtigen“ (škn) JHWH (Jachwe), zusammen. 1 Darin kommt die Abhängigkeit des menschlichen Wohnens auf der Erde zum Ausdruck. Der Bedeutungskern in der Basis jšb kombiniert den Sinn von Ortsgebundenheit mit Ruhestellung. „Über das Bedeutungspaar ‚Sich-setzen‘ / ‚Sitzen‘ hinaus führt als weitere Abstraktionsstufe die Sinnverbindung ‚Sich-Niederlassen‘ / ‚Wohnen‘ bzw. ‚Bleiben‘“. 19 Der Aspekt des „Bleibens“ rückt in den Mittelpunkt, wenn vom Wohnen in der Zukunft die Rede ist. Der Vorblick richtet sich hier auf das „Sich-Niederlassen“ im künftigen Erbbesitz. Dabei geht es um ein „Wohnen in Sicherheit“, für welche Gott zuvor gesorgt hat. Außerhalb der göttlichen Garantie käme das menschliche Wohnen einem „Nicht- Wohnen“, d. h. künftiger Nicht-Existenz gleich. 20 Die Basis škn bedeutet ein Wohnen, bei dem der Akzent auf dem angstfreien Niederlassen ohne bleibende, d. h. auch besitzrechtliche Ortsbindung liegt. Es bezeichnet die offene Orientierung hin zu einer noch nicht definierten, zukünftigen Lebensform. Im Vordergrund steht nicht die lokale Fixierung oder territoriale Verhaftung, sondern die dynamische Gegenwart im Vorblick auf ein kommendes Geschütztsein. 21 Die neutestamentliche häufigste Entsprechung für wohnen findet das griechische Wort κατασχηνόω vorrangig mit der Bedeutung: länger oder dauernd verweilen, Bestand haben. Darin wirkt der alttestamentliche Sprachgebrauch nach, nämlich das Sich-Niederlassen, um einstweilen zu bleiben. 22 Wir hatten in einer früheren Vorlesung schon auf h erDer hingewiesen, für den der geschichtliche Mensch, der „Erdbewohner“, angesichts der Brüchigkeit des Überkommenen „zuversichtlich wohnen“ kann. Zwar „baut“ auch das Tier, aber nur der Mensch hat eine Wohnung. Eine gezielte Auseinandersetzung mit der Grundsituation des Wohnens kommt erst im 20. Jahrhundert auf. Unübersehbar steht dieses Phänomen in Verbindung mit einschneidenden gesellschaftlichen und technologischen Veränderungen: Industrialisierung, Verstädterung, Wohnungsnot, Technisierung des Bauens. 7 Vgl. die eingehenden Untersuchungen zum Zusammenhang von „Polis“ (Stadt) und „Ethik“ bei Aristoteles in: Ritter 969. Ähnlich auch: Bien 985, XVII-LIX 8 Vgl. Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Bd. III und Bd. VII 9 A.a.O., Bd. III, 0 0 A.a.O. A.a.O., Bd. VII, f. Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. VII, 9 Architekturtheorie_Huter.indd 163 23.01.2008 15: 28: 12 Uhr <?page no="163"?> 7. Vorlesung 164 Paul t illich nimmt die Verbindung von Technik und Kunst in Architektur und Kleidung wahr. Diese sind für ihn jedoch „Zweckgebilde, die zugleich der Lebensganzheit angemessen, die also nach Stoff und Form Ausdruck dieser Lebensganzheit sein müssen, der sie dienen.“ 23 Aus diesem Grund kann das Haus niemals eine „Wohnmaschine“ sein. Vielmehr ist das Haus „ein doppelsinniges Gebilde, in dem sich rationale Zwecke einigen müssen mit innerer Symbolkraft für das Leben des Bewohners.“ 2 In dem 192 veröffentlichten Zeitungsartikel Die technische Stadt als Symbol wird das Wohnen von der Technik her an den Beispielen Haus, Stadt und Architektur in Griff genommen. Das Grundbefinden des Menschen sei das Urgefühl des „Unheimlichen“. Um es zu fliehen oder zumindest einzudämmen, macht es sich der Mensch auf der Erde heimisch. „Um dem Unheimlichen zu entfliehen, sucht der Mensch sich heimisch zu machen im Dasein, sucht er dem Dasein das Fremde, das Drohende zu nehmen. Ein hervorragendes Symbol dieses Willens ist das Haus (einschließlich seiner Vorgänger, der Höhle und des Zeltes). Das Haus hat seinen sachlichen Gehalt, seinen Zweck, dem es dienen muß und durch den es gestaltet und umgestaltet wird. Aber es hat zugleich einen symbolischen Gehalt. Im Hause wird ein Stück des Daseins heimisch gemacht, zur Vertrautheit gebracht.“ 25 Für t illich ist deshalb auch „alle Technik eine Überwindung des Unheimlichen in den Dingen“. 26 Der Unendlichkeit des Kosmos steht der begrenzte Raum, „den wir erfüllen können mit unserem Dasein“, gegenüber. Der Mensch muss sich die Erde als „Haus der Menschheit“ „zu einer Wohnung im unendlichen Kosmos“ gestalten. Die „technische Stadt“ „vereinigt den Gedanken der Seinsbeherrschung mit dem der Einwohnung ins Sein“ 27 bzw. „der Einwohnung des Menschen in die Erde“. 2 Mit dem der Architekturdiskussion der Zeit entnommenen Ausdruck „Wohnmaschine“ ist schon die Bedrohung angedeutet, die t illich darin sieht, dass sich mit der „technischen Stadt“ „ein neues Element des Unheimlichen mitten in dem Bekanntesten (erhebt)“ 29 . Schließlich stelle sich angesichts der technischen Herrschaft die Frage nach dem Lebenssinn, „nach dem Sinn des ‚wohleingerichteten Hauses Erde‘ “. Es ist die Frage nach dem Wohnen, die die „technische Stadt“ selbst stellt, ohne sie freilich beantworten zu können: „Wir wohnen nicht, um zu wohnen, sondern wir wohnen, um zu leben. Wenn aber das Leben, unser ganzes Leben, im Dienste des Wohnens, im Dienste der technischen Stadt steht: wozu dann dieses Leben? “ 30 Das Wohnen in der Maschine ist kein Leben, aber das Tillich 975a, 0 f. A.a.O., 0 5 Tillich 975b, 08 6 A.a.O., 09 7 09 8 0 9 0 Architekturtheorie_Huter.indd 164 23.01.2008 15: 28: 13 Uhr <?page no="164"?> Das Wohnen 165 Wohnen ist die „erste und unmittelbarste Beziehung, die der Mensch zum Raum überhaupt hat. In ihr schafft er sich den Raum, der sein Raum ist. Und erst von seinem Raum aus kann er vorstoßen in den Raum überhaupt, in den unendlichen Raum“ 31 . 4 Das Maß des Wohnens Mit h eiDegger wird dann die Beziehung zwischen „Wohnen und Maß“ diskutiert. Zunächst war es Friedrich h ölDerlin (1770 -1 3), der einen entsprechenden Zusammenhang gestiftet hatte. h ölDerlin fragt in dem 1 07/ 0 entstandenen Text In lieblicher Bläue nach dem Verhältnis der Götter zu den Menschen. Die Götter oder „Himmlischen“ sind „immer gut“, und dieses Gutsein dürfen die Menschen „nachahmen“. Sie dürfen zu den Himmlischen aufschauen, sie sich zum Vorbild nehmen („so will ich auch seyn“), sich mit ihnen messen. Dann stellt h ölDerlin fest, dass Gott nicht „unbekannt“ ist, sondern „offenbar wie der Himmel“. Daraufhin findet sich die für uns und h ölDerlins Interpreten zentrale Stelle: „Des Menschen Maaß ist’s. Voll Verdienst, doch dichterisch, wohnet der Mensch auf dieser Erde“. Später im Text wird das Thema des Maßes wieder aufgenommen mit der Frage: „Giebt es auf Erden ein Maaß? Es giebt keines. Nemlich es hemmen den Donnergang nie die Welten des Schöpfers.“ 32 Vor allem h eiDegger hat in verschiedenen Hinwendungen und Einlassungen auf die Dichtungen h ölDerlins aufmerksam gemacht. Uns interessieren seine Aufnahme der Grundsituation des Wohnens, er nennt das Wohnen den „Grundzug des Menschseins“, und seine diesbezüglichen Auslegungen von Wohnen und Maß. Zunächst in Sein und Zeit taucht das Wohnen bei der Erläuterung von „In-Sein“ auf. 33 „In“ und „inan-“ meinen ursprünglich „wohnen, habitare, sich aufhalten“. „Sein“, als Existenzial („ich bin“) verstanden, bedeutet „wohnen bei.... vertraut sein mit“. Das Zeitwort Wohnen, so h eiDegger dann hingegen im Vortrag „Hebel - der Hausfreund“ 3 , „nennt uns die Weise, nach der die Menschen auf der Erde unter dem Himmel die Wanderung von der Geburt bis in den Tod vollbringen“ 35 . Die Wanderung sei der „Hauptzug des Wohnens“ als des „Aufenthalts zwischen Erde und Himmel, zwischen Geburt und Tod, zwischen Freud und Schmerz, zwischen Werk und Wort“ 36 . Die Welt ist das Haus, das der Mensch „als der Sterbliche“ bewohnt. Das menschliche Wohnen, so führt h eiDegger aus, steht zwischen Technik und Dichtung. Die „technisch Tillich 975c, 8 Hölderlin 998, 908 Heidegger 98 , 5 Heidegger 00 b 5 A.a.O., 8 f. 6 9 Architekturtheorie_Huter.indd 165 23.01.2008 15: 28: 13 Uhr <?page no="165"?> 7. Vorlesung 166 beherrschbare Natur der Wissenschaft“ hat sich mit rasender Geschwindigkeit von der „natürlichen Natur des gewohnten, gleichfalls geschichtlich bestimmten Wohnens des Menschen“ 37 entfernt. Vom ursprünglicheren Wohnen des Menschen her gedacht, ist das „bloße Leben, das man lebt, noch kein Wohnen“ 3 . Denn, das Wort h ölDerlin s zitierend, der Mensch wohnet dichterisch ... auf dieser Erde. Damit ist das Maß (des Wohnens) angesprochen: „Die irdisch Dichtenden sind nur die Maß-Nehmenden einer himmlischen Maßgabe“ 39 . Die Menschen, insofern sie sich allein „technisch“ zum Wohnen verhalten, können sich selbst kein Maß geben, insofern „das Maß für den nur noch rechnenden Menschen das Quantum (ist)“ 0 . Die Ausführungen h eiDegger s zum Wohnen, die in vielen Stellen dunkel und schwer nachvollziehbar sind, haben dennoch oder gerade wegen ihrer Undurchsichtigkeit in der Folgezeit zur Auslegung angespornt. Vor allem die Unmöglichkeit, die in ihnen angesprochen wird, als Mensch heute wohnen zu können, wurde nicht hingenommen. Schließlich können nicht alle Menschen Dichter werden. Der Kern der h eiDegger schen Aussagen zielt offensichtlich auf die Frage, wie überhaupt ein vertrauensvolles Verhältnis zum Mitmenschen und zur Natur möglich sein kann. Denn das Wohnen, so wurde klar, bedeutet ein anderen Menschen und Dingen „Nahe-sein“. Nähe aufbauen heißt Vertrauen schaffen. Der Philosoph Werner m arx (*1910) reagiert auf die bei h eiDegger aufgelassene Kluft, insofern dieser, nachdem das Dichterische als leitend für das Errichten von Bauten aufgezeigt wurde, es jedoch versäumt habe zu sagen, wie der Weg für den Menschen, der kein Dichter ist, zu gehen sei, damit er das jetzige undichterische Wohnen überwinde 1 . Diese Lücke schließend, stellt m arx dem „dichterischen Wohnen“ ein „Wohnen in den Maßen“ gegenüber. m arx entwickelt ein „nichtmetaphysisches“, d.h. ein für den sterblichen Menschen erfahrbares Maß, insofern er ein Maß-nehmen denkt, in welchem der „Maßnehmende ‚wohnt‘“ 2 . Dafür stehe paradigmatisch das Maß des Heilenden, welches sich im Bereich des „Mitmenschlichen“ ereignet, da die Erfahrung des Liebens, des Mitleidens und des (den Anderen) Anerkennens ein „Wohnen“ in jenen Maßen bedeutet. Dieses Maß wohnt als Gestimmtheit im Menschen, der jene maßgebenden mitmenschlichen Erfahrungen gemacht hat. m arx spricht deshalb vom „ ‚Wohnen‘ in den Maßen“ 3 . Es ist der Tod, der die Menschen überhaupt für die Erfahrung von Maßen öffnet, in denen zu wohnen sie freilich erst noch lernen müssen. 7 6 8 7 9 Heidegger 00 c, 5 0 9 Marx 986, 5 60 68 Vgl. 6 Architekturtheorie_Huter.indd 166 23.01.2008 15: 28: 13 Uhr <?page no="166"?> Das Wohnen 167 Schon bei a ristoteles , wie wir gleich sehen werden, dann offensichtlicher bei v itruv wird unter dem Maß etwas genommen, was man von außen an eine Sache heranführt. Der Maß-Stab, insofern wir ihn etwa wie einen Zollstock als ein Messgerät von einer bestimmten Länge verstehen wollen, ist ein entsprechendes Gerät, mit dessen Hilfe ein quantitatives Maß an etwas Drittem, passenderweise einer Säulenstärke, abgenommen werden kann. Diesen Umgang mit solchem Gerät nennen wir „messen“. Bei v itruv deutet sich damit schon jenes Maßnehmen an, das h ölDerlin dem Menschen nicht zutrauen mag und von dem h eiDegger sagt, der Mensch kenne das Maß nur mehr als Quantum. Letzterer nennt dass Messen ein Maß-Nehmen, welches nicht in einem Zugreifen bestehe, vielmehr „in einem Kommen-lassen des Zu-Gemessenen“. Bei v itruv heißt es: „Symmetrie wird dann erreicht, wenn die einzelnen Teile eines Gebäudes in richtigen Verhältnissen zueinander stehen“. 5 Was meint v itruv aber mit „richtig“? Offensichtlich: exakt und genau berechnet. Wir wollen an dieser Stelle Adolf a rnDt , einen Freund des Architekten Hans s charoun , zitieren, dessen Rede Demokratie als Bauherr von 1960 sich ebenfalls, wenn auch eher unterschwellig, mit dem Begriff des Maßes beschäftigt 6 : a rnDt bezieht sich explizit auf h eiDegger s Darmstädter Vortrag und spricht vom „Geheimnis des Gleichgewichts“, das der Mensch sowohl zu sich selbst als auch zum gebauten Raum schafft. Warum „Geheimnis“? Wohl deshalb, weil wir uns hier in einem Bereich des Nichtmessbaren aufhalten oder, wie der Politiker a rnDt auch sagt: des Unabstimmbaren, jenseits eines quantitativen Mittelmaßes. Jenes Gleichgewicht gehe also vor allem das Menschenmaß an, was aber weder Durchschnittlichkeit noch Mittelmäßigkeit sein kann. „ ‚Das Maß“, so a rnDt den Schriftsteller und Philosophen Albert c amus zitierend, „ist nicht das Gegenteil von Aufruhr [...] Es triumphiert weder über das Unmögliche noch über das Versinken im Abgrund. Es hält ihnen die Waage.‘ Dieses Kommen zum Die-Waage-halten wird sich nicht berechnen lassen, mit keinem goldenen Schnitt, wie ein Mensch nicht berechenbar ist.“ Das richtige Gleichgewicht lässt sich nicht ausmessen, vielmehr verbleibt es im quantitativ Unbestimmbaren. Das Menschenmaß zielt auf den „zum Überleben und zum rechten Leben notwendigen Entwurf“ (a rnDt ). Die Richtigkeit im Sinne des ethisch Richtigen lässt sich finden oder mit h eiDegger gesprochen: stiften, nicht aber auf etwas anderes, wie z. B. auf ein Zahlenverhältnis, zurückführen. Was inhaltlich erst zu qualifizieren wäre, wird in den formalisierten Proportionsverhältnissen der Teile untereinander bereits vorausgesetzt. Was menschliche Verhältnisse sind, die heute durch Kommunikation und Austausch inhaltlich erst gestiftet werden müssen, erscheinen danach im Vorhinein mathematisierbar. Schon durch a ristoteles 5 Vitruv a.a.O., f. 6 Vgl. Arndt 965 Architekturtheorie_Huter.indd 167 23.01.2008 15: 28: 13 Uhr <?page no="167"?> 7. Vorlesung 168 soll es, mit den Worten h usserl s, zu einer „Mathematisierung der lebensweltlichen Füllequalitäten“ gekommen sein. r entsch hat diese Verschiebung vom qualitativen Maß zum rechnerisch Messbaren am Begriff der Gerechtigkeit gezeigt. „Die kommunikative, soziale, inhaltliche und qualitative Aufgabe der Stiftung sozial gerechter Verhältnisse zwischen individuellen Personen wird (durch Aristoteles) in den Bereich der Meßbarkeit und des Rechnens verschoben“. 7 Es geht dabei um das Verhältnis des Qualitativen zum Quantitativen, genauer um die Transformation einer ethischen Qualität in eine rechnerische Quantität, wobei das Qualitative sich als Nachgang einer Rechnung darstellt. Das hat zur Folge, dass in dieser Auffassung „die mathematischen Quantitäten Grund und Norm des Guten und Gerechten (sind)“. Denkbar wäre jedoch ebenso, dass das Gute und Gerechte qualitatives Maß des wie auch immer Messbaren sei. Inwiefern h eiDegger und in dieser Sache sein Mentor h ölDerlin , wenn sie von den Göttlichen oder Himmlischen sprechen, auf ein mythisches und damit vorwissenschaftliches Denken und Wissen verweisen wollen, wage ich nicht zu entscheiden. 9 Die Grundsituation des Wohnens, an deren konkrete Formung im so-Wohnen wir anknüpfen wollen, wird in den oben skizzierten Auseinandersetzungen mit h ölDerlin s Text nicht weiter differenziert. Der Gebrauch des Wortes Wohnen erscheint in jenen philosophischen Interpretationen, die sich im Nachblick auf h eiDegger s In-der-Welt-sein entfalten, in erster Linie als ein metaphorischer. Vor allem wird die Grundsituation des Wohnens nicht mit der Pragmatik eines angemessenen Wohnens, wie sie im mitweltlich gemeinten „Wohnen in den Maßen“ anklingen mag, konfrontiert: also mit Orientierung, Räumlichkeit und Lebensführung verknüpft. Deswegen scheint es uns wichtig, auf die konkreten Formen zu achten, in denen die Grundsituation des Wohnens praktiziert und sprachlich bestimmt wird. Die alltägliche Formung des Wohnens geschieht als das so-Wohnen und orientiert sich an einem Verständnis des pragmatisch angemessenen Wohnens. Man wohnt, um zu bleiben. 5 Das so-Wohnen Der Mensch, einmal auf der Welt, muss irgendwo bleiben. Er kann sich schließlich nicht in Luft auflösen. Wir können uns nicht gegen das Wohnen entschließen; vielmehr müssen wir unserem Leben und Wohnen eine konkrete Form geben: Nun wohnen wir z. B. in einem Hochhaus am Rande der City. Auch mit Blick auf diese Pragmatik des Formfindens sprechen wir das 7 Rentsch 998 8 Vgl. Demmerling/ Rentsch 00 9 Vgl. dazu die interessanten Ausführungen in Harries 00 Architekturtheorie_Huter.indd 168 23.01.2008 15: 28: 14 Uhr <?page no="168"?> Das Wohnen 169 Wohnen (Bleiben) als eine menschliche Grundsituation an. Unser Bedürfnis, das je im Umfeld dieses unvermeidlichen Wohnens akut wird, richtet sich deshalb auf das je angemessene oder zu-uns-passende Wohnen. Auf die Frage: Wie können wir besser wohnen? , antwortet der Mensch mit Begehrungen (Wünschen) und Wohnentwürfen. „Angemessener, besser, passender“ wohnen zu können, bezieht sich nicht auf das monetäre Potential des Menschen, sein Wohnen quantitativ zu steigern. „Können“ heißt hier die praktische und kreative Fähigkeit ausschöpfen, die darin liegt, Möglichkeiten (Chancen) des Wohnens zu entdecken und Grenzen (das „rechte“ Maß) des Wohnens zu erfahren. Qualitäten und Gestalten des Wohnens lassen sich nicht empirischstatistisch erheben, da so die Konzeptionen des Wohnens als etwas Ganzes schon gesprengt wären. Das konkrete faktische Wohnen ist nun eine vorzügliche menschliche Praxis, an der man immer wieder das Gelingen oder Misslingen erfahren kann. Dabei geht es umgangssprachlich nicht um die Frage, ob man überhaupt wohnen kann. Das Können wird vielmehr als das menschliche Vermögen angesprochen, etwas in der Verfolgung eines gefassten Entschlusses umzusetzen. Es ist dem Menschen nämlich pragmatisch unmöglich, nicht zu wohnen, wie es ihm ebenso unmöglich ist, sich nicht räumlich zu verhalten. Das Wohnen des Menschen ist kein so genanntes Grundbedürfnis (neben anderen). Bedürfen und Begehren, Wohnen und So-Wohnen sind überhaupt nicht voneinander zu trennen. Und gerade darin zeigt sich, dass die menschliche Grundsituation des Wohnens stets eine konkrete Form annehmen muss. Der Mensch kommt gar nicht umhin, die Form seines Wohnens festzulegen: „Wohnend“ befriedigt er das Bedürfnis, auf diese bestimmte Weise zu leben. Es gibt aber keinen vorgängigen „wohnfreien“ Reiz-Zustand eines reinen Wohnbedürfnisses, auf den man mit einem konkreten hier-Wohnen dann reagierte, um jenes Bedürfnis zu befriedigen. In diesem Sinne spricht Walter B enJamin (1 92-19 0) von einer ununterbrochenen Dauer des Bauens: „Bauten begleiten die Menschheit seit ihrer Urgeschichte. […] Das Bedürfnis des Menschen nach Unterkunft aber ist beständig“. 50 Zwar streben heute z. B. viele junge Menschen danach, allein zu wohnen. Aber immer schon haben sie (in der Regel in einer Familie gewonnene) Wohnerfahrungen „im Rücken“, und nur auf Grund „gemachter eigener Erfahrungen“, wie wir umgangssprachlich sagen können, tritt nun das Bedürfnis und Begehren auf, anders, nämlich z. B. allein zu wohnen. Dieser auftretende Wunsch ist zunächst ein Widerfahrnis, das ein Verhalten (Unruhe, Nachdenken, Überlegen) auslöst und schließlich zu Handlungen (Suche, Umzug) drängt und (im Finden einer angemessenen Wohnung) zum (vorläufigen) Abschluss kommt. 50 Benjamin 007, 6 Architekturtheorie_Huter.indd 169 23.01.2008 15: 28: 14 Uhr <?page no="169"?> 7. Vorlesung 170 Das Thema des so-Wohnens oder besser-Wohnens betrifft die Menschen stets in einer bestimmten familiären, beruflichen oder persönlichen Situation. Wir Wohnende stehen gleichsam mit beiden Beinen an der Spitze unserer jeweiligen Lebens- und Wohnerfahrung und sprechen „eingebettet in unsere Lebenslage“ über unser Wohnen. 51 Nur mit ir gend einer Lebenserfahrung (und Sprachpraxis) im Rücken lassen sich die eigenen Handlungen, Unterlassungen und Absichten überhaupt verstehen und kommunizieren. Darin liegt überhaupt die Möglichkeit einer „Hermeneutik des Wohnens“. Darüber hinaus lebt jeder stets eingebunden in seine besondere Wohnsituation, wenn er es unternimmt, etwas dafür zu tun, dass sein Wohnen (und Leben) besser gelingen möge. Zwar kann ein (bestimmtes) Wohnen scheitern und gründlich misslingen, aber diese Einsichten (Bewertungen), wenn sie jemand gewinnt, stehen immer schon vor dem Hintergrund, „gut“ wohnen zu wollen. „Gut“ ist hier in einem vormoralischen Sinne gemeint und bezieht sich auf den anthropologischen Tatbestand, das eigene Leben so zu führen, dass die es begleitenden Wünsche und Überzeugungen erfüllt werden können. Angemessen zu wohnen ist, um es ein wenig anders auszudrücken, ein wahres Gut, das zu erlangen uns etwas (z. B. einen Umzug) wert ist (wir einen Umzug in Kauf nehmen). Hierin mag auch ein Grund liegen, sich an den Architekten zu wenden, damit er für jene Angemessenheit Sorge trägt. Der Architekt muss aber die Wohnenden wieder davon überzeugen, dass „gut“ zu wohnen, dem eigenen Können die größte Herausforderung bedeutet. Besonders aufschlussreich sind deshalb die Fälle (Beispiele), wo der Mensch es unternimmt, „besser“ (angemessener) wohnen zu wollen. Hier müssen die kulturellen Umstände und gefühlten Stimmungen des Wohnens wahrgenommen werden, um, im begründeten „kritischen“ Eingehen auf wechselnde Lebens- Lagen, es nun anders, nämlich angemessener und passender zu machen. Sich vorzustellen, dass man es in seinem Wohnen „besser“ machen kann, deutet auf eine Umorientierung (einen „neuen Entwurf“) in der Lebensführung hin, die auf Entscheidungen und Beschlüsse zurückgeht, die dann sprachlich in Begründungen „nachgeholt“ werden können: „Warum“ etwas anders als bisher getan werden soll. Orientierungen und Begründungen stehen in einem engen Wechselverhältnis zueinander, und beide haben ihren festen Sitz in umgangssprachlich gefassten Lebensformen, jener Praxis, mit der wir unserem Leben als Ganzes eine konkrete praktische Gestalt geben (müssen). Auch der Wohnende „entwirft“ sich mit jedem Be-Wohnen eines Hauses hinsichtlich zukünftiger Erfüllung. Deshalb sind die aktuellen Wohnerfah- 5 Auch die aktuelle Situation des Erzählens von jener Wohnpraxis geschieht vor dem Hintergrund einer dabei (und dafür) konstitutiven Lebenslage. Der Erzählende muss sich selbst in seiner Welt fraglos voraussetzen, um über sich, sein Tun und seine Ziele, die in dieser Weltlichkeit gründen, berichten zu können. D.h. auch, er kann diese Fraglosigkeit, in die die Situation des Erzählens eingebettet und für diese konstitutiv ist, nicht selbst thematisieren. Dennoch drückt er diese selbstverständliche Grundsituation in seinem Sprechen (und Verhalten insgesamt), also leiblich, mit aus. Architekturtheorie_Huter.indd 170 23.01.2008 15: 28: 14 Uhr <?page no="170"?> Das Wohnen 171 rungen auch immer kritische Erfüllungsnachfragen, inwiefern die Erwartungen an ihr Ziel gekommen sind oder doch enttäuscht wurden. In diesen Kontexten von Wohn-Entwurf, Erfüllung und Erfahrung ist Architektur theoretisch zu befragen. Die Grundsituation des Wohnens bedarf also stets der Konkretisierung und Formfindung. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass dieses Existenzial ein alternativloses Bleiben-müssen bedeutet, nämlich einen (räumlichen) Aufenthalt in unserer Welt, von dem aus das Handeln in den menschlichen Angelegenheiten seinen Ausgang nimmt und auf den es immer wieder (als Bleibe 52 , Haus usw.) zurückkommt. 6 Das Wohnen als Gebrauchen und die „Kunst“ des Herstellens In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft, in der die meisten Beschäftigungen und Aktivitäten sich zu Spezialgebieten ausdifferenziert haben, bleibt das Wohnen von Arbeitsteilung und Leistungsdruck verschont. Es gibt nämlich einen Bereich von „Tätigkeiten“, zu dem auch das Wohnen gehört, den jeder von uns in einem menschenwürdigen und vernünftigen Leben selbst wahrnehmen sollte, weil er sich von niemandem in diesem Handeln vertreten lassen kann. Nach Friedrich k amBartel (*1935) konstituieren solche Tätigkeiten „sozusagen das (entwickelte) menschliche Leben selbst.“ 53 Unter diese Aktivitäten sind die zu rechnen, von denen wir schon gesprochen haben, als wir die Praxis des Wohnens als einen besonderen Gebrauch des Lebensmittels Architektur auslegten. Wir hatten bereits in unserer zweiten Vorlesung zwischen Handeln und Gebrauchen unterschieden. Damals sagten wir: Unter Gebrauchen wollen wir eine besondere Art des Handelns verstehen. Was zeichnet dieses gebrauchende Handeln aus? Ganz im Vordergrund steht die Bestimmung, dass sich dieses Handeln nur im Gebrauch von etwas anderem vollziehen kann. Haus, Nahrungsmittel, Kleidung, Bett sind solche Lebensmittel, von denen dieses Handeln, zu dem wesentlich das Gebrauchen gehört, abhängt. Das Herstellen des Lebensmittels „Haus“, auch wenn das die Architekturtheorie nie wirklich herausarbeiten konnte, ist nicht Selbstzweck, sondern antwortet auf das Leben des Menschen, das zum großen Teil aus dem Gebrauch besteht. Wie steht es nun mit dem Herstellen und Hervorbringen solcher Dinge und Güter, bei deren Gebrauch wir uns nicht von anderen vertreten lassen können? Auch die „Kunst“ gehört zum Menschen, insofern er Lebewesen ist, d. h. insofern er zu seiner Erhaltung angewiesen ist auf Dinge außerhalb seines Seins, die er herstellen oder sich vom Leibe halten muss. Eigentlich ist seine 5 Kühn 007 5 Kambartel 99 , 0 Architekturtheorie_Huter.indd 171 23.01.2008 15: 28: 14 Uhr <?page no="171"?> 7. Vorlesung 172 Einzigartigkeit als Lebewesen ganz allgemein die Fähigkeit des Verstandes, aber diese Meisterschaft tritt doch als unterscheidendes Merkmal gegenüber dem Tier am offensichtlichsten an der Kunst hervor, weil sich auf diesem Können ein Verhalten gründet, das man auch beim Tier zu finden glaubt und so überhaupt einen direkten Vergleich möglich macht. Das Verhalten, das hier den Vergleichsbezug hergibt, ist das Hervorbringen oder Herstellen (griech.: poiesis). Dieses „bauende“ Verhalten gibt es doch auch beim Tier, wie das Vogelnest, der Bienenstock, der Ameisenhügel zu belegen scheinen, aber eben ohne Kunst. Die Kunst ermöglicht dem Menschen einen freieren Gebrauch der Dinge seiner natürlichen Umwelt, und macht seine Lebenserhaltung der der Tiere mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Der Vernunftbegabung des Menschen entspringt die Möglichkeit und Notwendigkeit, in der Gemeinschaft zu leben, die wiederum auf Kommunikation und Austausch beruht. Im kommunikativen Austausch bildet sich auch das Verständnis des Gerechten und Ungerechten, des Guten und Schlechten, des Schönen und Hässlichen, des Passenden und Maßlosen aus. Zu allem menschlichen Handeln gehört dann auch ein „Werk“. Mit dem Begriff des Werks bezeichnen wir dasjenige, was aus dem Handeln hervorgeht und durch es in Erscheinung tritt, in der Welt auftaucht, sich zeigt. Werk bedeutet nicht allein etwas handwerklich Angefertigtes, ein gestaltetes Ding, wie die fromme Rede vom „guten Werk“ belegen mag. Als Mensch etwas vermögen bedeutet: zu etwas imstande sein, etwas können. Im Vermögen liegt zunächst eine Möglichkeit. Im fertigen Werk ist das bloß Mögliche aber Wirklichkeit, d. h. konkret geworden. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen dem, was das Handeln, das Tun als es selbst ist, und dem, was in diesem Handeln und aus ihm hervorgeht, aus ihm folgt, was jenseits und außerhalb der Handlung in Erscheinung tritt, sich zeigt. Damit greifen wir wieder die Unterscheidung zwischen praxis und poiesis auf, indem wir auf deren je unterschiedlichen Werk-Charakter hinweisen: So kann einmal das Handeln selbst das Werk oder Ziel sein, wenn ich z. B. einem Menschen gut zurede, ihn berate oder auch ihn tröste. In diesen Fällen sind dann wieder gefasster Mut, Trost oder Rat das Ziel des Handelns. Solche „Werke“ (wie Mut, Trost, Rat) sind aber nicht Gegenstände in der Welt, die sinnlich in Erscheinung treten, sich zeigen. Davon ist zu unterscheiden das vom Menschen ablösbare Werk, das das Resultat eines Hervorbringungsprozesses ist, z. B. das Bauwerk oder sonst etwas Hergestelltes: der Tisch, die Zeichnung, das Gipsmodell. Was ein Werk ist, und warum der Mensch überhaupt der Werke bedarf, dies ist aus unserem Bild und Verständnis vom Menschen, das wir haben, zu deuten. Die Werke des Menschen entsprechen der Eigentümlichkeit der menschlichen Natur. Sie sind gleichsam charakteristisch für die menschliche Eigenart. Bezeichnend für diese Eigenart, die auch jedes Tun als menschlich Architekturtheorie_Huter.indd 172 23.01.2008 15: 28: 14 Uhr <?page no="172"?> Das Wohnen 173 ausweist, ist das Wort (logos: Rede, Überlegung, Verstand, Beratung, Entscheidung usw.), d. h. das Vermögen, über das Wort zu verfügen und es anzuwenden: Zu-hören und an-sprechen, fragen und antworten. Alles Weisen des logos, die nur innerhalb einer sozialen Mitwelt überhaupt sinnvoll sein können. Die Tüchtigkeit, auch eine menschliche Eigenschaft, liegt in der Fähigkeit, sowohl ein Werk gut auszuführen als auch in der Fertigkeit, die Mitte und das rechte Maß zu finden und sie im Werk festzuhalten bzw. umzusetzen. Die Kunst im Sinne des Sich-verstehen-auf ist eine Haltung des praktischen Verstandes (im Unterschied zum theoretischen Verstand). Ihre besondere Bedeutung liegt darin, dass die Kunst in der Praxis ihre Wurzel hat. Praxis heißt, dass der Mensch als soziales Wesen in den Bezügen der Gemeinschaft und der Gesellschaft immer schon drin ist. Er wird in eine Welt hineingeboren, die immer schon auf eine bestimmte gesellschaftliche Weise organisiert ist. Die kulturelle Existenz in Gemeinschaft (Recht, Tradition, Sitte und Moral usw.) bedarf aber eines Herstellungskönnens und daraus hervorgehender Artefakte wie Wohnhäuser. Der Mensch bedarf dieser Lebensmittel, und nur in ihrem Gebrauch vollzieht sich das Streben, sich im Leben zu erhalten. Die Bedingung des Gebrauchs ist deren Besitz (nicht deren Eigentum), und insofern dieses Verfügen nicht schon verwirklicht ist, begleitet die auf das Verfügen gerichtete Aufmerksamkeit jene, die auf die Bereitstellung gerichtet ist. Das Besor gen von Lebens-Mitteln, zu deren Gebrauch der Mensch dieser Dinge bedarf, ist Herstellung im weitesten Sinne (poiesis). Das Verhalten, insofern es sich auf die Besorgung, die Beschaffung und den Besitz von architektonischen Werken richtet, kann man das architektonische Verhalten nennen. Es bildet eine eigene Weise des Fürwahrhaltens 5 aus. Fürwahrhalten heißt: der Mensch hat „immer schon“ ein erfahrungsgemäßes Verständnis von dem Lebensmittel, das er braucht. Er muss ja auf den Gebrauch schon vor-blicken können, damit er überhaupt weiß, was er warum und wie herstellen soll. Der Mensch antizipiert den erst noch „umzusetzenden“ Gebrauch. Im Herstellen macht er dann gleichsam seine Vorstellung wahr, indem er das bloß Mögliche nun wirklich hervorbringt, so dass es tatsächlich in den Gebrauch gehen kann. Die Herstellung der Lebens-Mittel ist also zu unterscheiden von ihrem Gebrauch. Das Hervorbringen von Architektur ist eine andere Handlung im Leben des Menschen als der Gebrauch des Gebäudes. Inwiefern ist das Handeln des Architekten „Kunst“? Insofern es Teil hat am Vermögen, das sich auf die Herstellung (poiesis) von Lebensmitteln richtet. Das aufs Werk gerichtete Interesse, so wollen wir noch einmal feststellen, hat nicht allein 5 Dieses Verständnis von „Wahrheit“ als „Fürwahrhalten“ und „Wahrmachen“ entnehme ich dem amerikanischen Pragmatismus. Vgl. dazu meine Auseinandersetzung mit Peirce, James und Dewey in: Hahn 996 Architekturtheorie_Huter.indd 173 23.01.2008 15: 28: 15 Uhr <?page no="173"?> 7. Vorlesung 174 vordergründig das „Produkt“ im Fokus der Aufmerksamkeit, sondern darüber hinaus hat es sich auf das Ziel des Werks, nämlich dass es für den Gebrauch bestimmt ist, zu richten. Und der Gebrauch wiederum, so wiederholen wir, ist bezogen auf das Leben selbst, nämlich dass es gut gelingen soll. Insgesamt steht also auch die Herstellung im Zeichen jenes Fürwahrhaltens und Wahrmachens, die überhaupt erst ein Hervorbringen ermöglicht, und auf das gekonnt sich zu beziehen erst Kunst ist. 7 Wohnen als Erfahrung, der Architekt als Wohnforscher Jedes architektonische Handeln hat einen Anteil an Forschung. Es muss wieder gelernt werden, was es heißt, Erfahrungen mit Architektur zu machen. Solche Erfahrungen sind in Geschichten des Wohnens „aufgehoben“. Und der Architekt muss sich gegenüber den Wohngeschichten verstehend verhalten. Um dies tun zu können, bedarf es des Zugangs zu den Geschichten des Wohnens. Was ist mit solchen Geschichten gemeint? Geschichten sind erzählte oder sonst wie vorgetragene Wohnerfahrungen. Das biographische Erzählen lässt sich durch kein wissenschaftliches (beobachtendes) Verfahren ersetzen. Das Hören einer (fremden) Wohngeschichte macht den Architekten zu einem Zeugen, auf was es dem Menschen, dem er zuhört, in seinem Wohnen ankommt. Es ist viel von der Kommunikationskompetenz des Architekten gesprochen worden. In der Regel meint man damit die flüssige Ansprache eines Architekten, mit der er einem Publikum seinen Entwurf erläutert. Auch das muss der Architekt können. Aber ich meine, mindestens genauso wichtig wie das Sprechen ist das Hören, genauer: das Zuhören. Wir fragten bereits: Worauf ist das Wort Wohnen eine Antwort? Offensichtlich auf die Art und Weise, wie Menschen auf der Welt sein können: Zufrieden, und zwar so, dass sie bleiben wollen. Das Wohnen ist also mehr als ein bloßes Sich-befinden an einem bestimmten Ort. Es hat ein Ziel, das sich als eine konkrete Befindlichkeit bestimmen lässt, die sich vorläufig als ein Gefühl so beschreiben lässt: Hier gehöre ich hin, und es ist gut so. Damit will ich sagen, dass das Wohnen ein äußeres und ein inneres Verhältnis zu der konkreten Räumlichkeit, in der man sich tagtäglich findet, ausdrückt. Äußerlich, insofern unser Körper sich dauerhaft an einer bestimmbaren Stelle im Raum befindet, innerlich, insofern wir in und an unserer Leiblichkeit unser räumliches Da-Sein an einem konkreten Ort erleben und erfahren können. An dieser Stelle unserer Argumentation ist das Wort Wohnen also in erster Linie ein Wort mit Erlebnis- und Erfahrungsgehalt. Der Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler Alexander m itscherlich (190 -19 2) hat in seinem berühmten Buch Die Unwirtlichkeit unserer Städte von 1965 unter an- Architekturtheorie_Huter.indd 174 23.01.2008 15: 28: 15 Uhr <?page no="174"?> Das Wohnen 175 derem die Frage nach dem „heimatlichen Wohnen“ gestellt. Er begreift darin, ähnlich wie ich es vorgeschlagen habe, Wohnen als die mitmenschlichen Erfahrungen und Beziehungen, die an einen Ort geknüpft sind. Nehmen wir aus unserer anfänglichen Begriffsbestimmung noch den Hinweis, dass wohnen auch den Bedeutungsinhalt „gewohnt sein“ trägt, so verstehen wir nun auch, dass unser Wohnen einen Prozess durchmacht, der eine bestimmte Lebenszeit qualifiziert, und eine erzählbare Geschichte beinhaltet, die anderen mitgeteilt werden kann. Gewöhnung und Gewohnheit, beide enthalten den gleichen Wortstamm wie wohnen, zeichnen sich aber durch einen erfahrungsgemäßen Verlauf aus. Wir gewöhnen uns an etwas, insofern wir ähnliche Situationen dauerhaft bewältigen und sich bei uns ein bestimmter Umgangs-Habitus einstellt. Das Wohnen bekommt damit ein Reifungsmerkmal, das sich in konstanten Subjekt- und Objektrelationen, also in dauerhaften Beziehungen zu Menschen und Dingen zeigt. Man kennt sich vor Ort aus, kann sich räumlich und im lokalen Gemeinwesen orientieren, man erwirbt schließlich eine an vielen Praxisfällen erprobte soziale Kompetenz. Es ist ein Gemeinplatz, dass man (Wohn-)Erfahrungen nicht lehren kann. Dennoch kann man von ihnen etwas lernen. Sie zeigen, wie Bewohner und Mieter eines Hauses Architektur als „Lebens-Mittel“ auffassen und so darüber reden. Sie reden dabei möglicherweise nicht „fachgerecht“ über Architektur. Nutzer bedienen sich nämlich in der Regel eines anderen Sprachspiels als Architekten. Ihre Expertenperspektive basiert auf einem „Wissen in Geschichten“, nicht auf architekturästhetischen Urteilen. Das wohnend erworbene Können ist Resultat einer langen Übung, sich zu den Architekturelementen in ein Verhältnis zu setzen, das befriedigt. Man muss sich aber schon auf dieses Sprachspiel einlassen, will man den konkreten „Gebrauchswert“ von Architektur kennen lernen. Bewohner sprechen also nicht über Architektur, sondern sie erzählen von ihren Erfahrungen als Wohnende. Diese Form von „Lernen“ des Architekten ist also gemeint: Sich an den Umgangserfahrungen der Menschen mit Architektur ein Beispiel nehmen, sich davon überraschen zu lassen, was eine Tür, ein Fenster, eine Treppe alles sein kann. Ich meine, der Architekt als Wohnforscher müsse sich gerade um diese Erfahrungen der Menschen kümmern. Deshalb kann im Folgenden vom Architekten als Forscher ausgegangen werden, der sich in der Wohnwelt der Menschen umschaut. Jedes Forschen und neugierige Sich-umtun ist immer auch ein Lernen und darin ein notwendiger Vorgriff aufs Entwerfen. Insofern das Wohnen ein Können bedeutet, in der Umwelt eines Gebäudes einen bleibenden Stand zu gewinnen, lässt sich dieses Können auch mitteilen. Erst das Mit-teilen, nämlich das Teilen eines Wissens über das eigene Können mit anderen, vollendet dieses Können zu einer Erfahrung, an die man sich dann hält. Das mitteilende Beschreiben ist eine praktische Tätigkeit Architekturtheorie_Huter.indd 175 23.01.2008 15: 28: 15 Uhr <?page no="175"?> 7. Vorlesung 176 und veranschaulicht an Beispielen, wie Wohndinge, z.B. ein Sessel, genutzt werden und daraufhin dies oder jenes bedeuten. Die Beschreibungen der Wohnenden sind also Interpretationen ihres Wohnens. Der Architekt als zuhörender Wohnforscher hat keinen Zugang zu irgendeiner beschreibungsunabhängigen Wahrheit jenseits von Erfahrung und Auslegung. Begriffe oder sprachliche Konzeptionen, mit denen wir uns untereinander über den Umgang mit den Wohn-Dingen verständigen, lassen sich nicht unmittelbar an den baulichen Erscheinungen ablesen. Vielmehr werden sie nur durch das Verhalten, oder genauer: durch das gebrauchende Verhalten, sichtbar. Wir „benötigen“ deshalb Beschreibungen vom Gebrauch dieser Wohndinge von Menschen, die damit ihre Erfahrungen gemacht haben. Der Stuhl ist nicht einfach ein Stuhl, das Fenster nicht schlechthin ein Fenster und die Treppe nicht ein Exemplar einer allgemeinen Idee „Treppe“. Denn was sie sind, zeigt sich erst und nur im Gebrauch. Man kann sich an den beschriebenen „lokalen“ Erfahrungen ein Beispiel nehmen, wie man es besser machen oder auch nicht machen sollte. Man kann aber auch lernen, wie Menschen mit einer bestimmten räumlich-sozialen Situation fertig geworden sind, nämlich sie bewältigt haben. Jede Beobachtung ist relativ zur Sprache, in der wir das Beobachtete ausdrücken. Erst in der Beschreibung werden Erlebnisse und Widerfahrnisse mitteilbar. Deshalb würde jedes Beobachtungsverfahren zu kurz greifen. Auch den Wohnenden selbst zwingt die Beschreibung praktizierter Umgangsweisen eine verstehende Deutung auf. So können z. B. auch die räumlich-architektonischen Elemente ihre Starrheit aufgeben, in die sie Systematik und Logik der Architektur gezwängt haben: mit einem Male sind sie Umgangsdinge, die erst in der erfahrungsmäßigen Reflexion auf ihre konkrete Nützlich- oder Brauchbarkeit das werden, was sie sind. Bedeutungen machen nur Sinn in einer Bedeutungswelt, in der jede Auslegung ihren besonderen Platz hat. Wir haben als Interpreten nichts erreicht, wenn wir die lebensweltliche Ordnung missachten, in die der Gebrauch der Wohndinge hineingehört. Diese Dinge, mit denen es der Architekt im Entwurf zu tun hat, sind nicht zunächst „Dinge an sich“, deren konkreter Sinn dann nachträglich festgelegt wird. Es gibt aber keinen „architektonischen Raum“, sondern nur Erfahrungen mit der Räumlichkeit des eigenen Handelns. Deshalb ist es so wichtig einzusehen, dass solche Dinge wie Tür, Fenster, Wand usw. nicht allgemeine, irgendwie vorherbestimmte Inhalte haben, über die sich dann eine subjektive Vorstellung legt. Ein „Ding an sich“ sehen hieße es ohne Perspektive sehen, was schlicht unmöglich ist, weil Menschen nur von einem Standpunkt aus etwas sehen können. Es gibt kein eigentliches So-Sein der Dinge jenseits ihres konkreten Ansprechens und Hantierens. Dinge haben nicht eine allgemeine abstrakte Bedeutung, von der man sich dann eine konkrete Vorstel- Architekturtheorie_Huter.indd 176 23.01.2008 15: 28: 15 Uhr <?page no="176"?> Das Wohnen 177 lung macht. Im Ansprechen und Hantieren praktizieren wir ohne Umweg die Bedeutung, die die Dinge für uns haben. Das Wohnen kann nur in einer Beschreibung verschiedener Tätigkeiten gefasst werden, deren Einheit indes erst durch den Bezug auf eine bestimmte Lebenskonzeption vollzogen wird. Wohnen ist eine besondere Art von Praxis. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie am Gelingen orientiert ist. Unser Wohnen soll gelingen! Was ist aber das „Kriterium“, auf das wir uns ganz selbstverständlich beziehen, wenn wir vom Gelingen sprechen? Ich möchte annehmen, dass sich das „Gelingen“ des Wohnens in einem konkreten Gefühl der Zufriedenheit und des Bleibenwollens ausdrückt. Dieses Gefühl ist eine Folge des Wohnens selbst. Offensichtlich kann ein Haus wie ein gut geschnittener Anzug „sitzen“. Doch auch dieses Passen und Sitzen ist etwas sehr Kompliziertes - vor allem auch für den Architekten als Wohnforscher. Denn es gibt keine eingespielte Übereinkunft, wie man Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen hat oder wie Jemand seine Überzeugungen zu rechtfertigen hat. Gefühl, Wille, Überzeugung sind vor-rational und deshalb nicht objektivierbar. Salopp ausgedrückt: Gefühl, Wille, Überzeugung kommen ebenso sehr „aus dem Bauch“ wie „aus dem Kopf“. Aber: Weder kann man als Wohnender in Sachen Gefühl, Wille und Überzeugung irren, noch als Forscher wissenschaftlich geprüfte Bedingungen angeben, die die Wahrscheinlichkeit der Wahrheit von Überzeugungen der Wohnenden erhöhen. Wir sollten uns damit zufrieden geben, wenn uns eine bestimmte Sache gezeigt wird. Unser Maß ist die Plausibilität der Rede oder anderer Gesten, die uns einsichtig machen, dass das Wohnen in diesem Fall gelungen (oder gescheitert) ist. Als Zuhörer können wir die Mitteilungen nur akzeptieren oder zurückweisen, indem wir sie mit unseren eigenen Erfahrungen konfrontieren. Dies werden wir umso mehr können, als uns die gegebenen Praxis-Beispiele, an denen uns etwas gezeigt wurde, plausibel und nachvollziehbar erscheinen. Beschreibungen von Wohnerfahrungen sollten nicht als eine laienhafte Wiedergabe von Realität aufgefaßt werden, die wissenschaftlich verbessert werden kann. Vielmehr sind die darin zum Ausdruck kommenden Überzeugungen gewissermaßen vor Ort erprobte Verhaltensregeln. Die gebrauchten sprachlichen Konzeptionen sind praktische „Be-Griffe“ von erfolgreichen Handlungen. Und die Wohndinge sind schlicht das, als was sie beschrieben werden: Gegenstände gewöhnlicher Erfahrung und vertrauten Umgangs. Architekturtheorie_Huter.indd 177 23.01.2008 15: 28: 15 Uhr <?page no="177"?> 8. Vorlesung Das Entwerfen Um eine feinsinnige und treffende Unterscheidung von Wilhelm K AmlAh aufzunehmen, können wir das architektonische Handeln (Entwerfen) vom architektonischen Verhalten (Bewohnen, Bauen) so abgrenzen, dass „das Handeln sich stets mehr oder weniger aus dem Verhalten gleichsam herausprofiliert“ . Das wohnende und bauende Verhalten des Menschen muss es notwendigerweise schon als gesellschaftliche Praxis geben, damit daraus das architektonische Handeln als eine eigenständige Aktivität sich gleichsam herauskristallisieren und schließlich professionalisieren kann. Gegenüber dem lebensweltlichen oder existenzialen Wohnen und dem vor- und außerarchitektonischen Bauen ist das Entwerfen, so wie es für die Architekturtheorie relevant geworden ist, die jüngere Tätigkeit des Menschen. Ich meine damit jenes hervorgehobene Verständnis von Entwerfen, für das sich die Architekturtheorie spätestens seit V itruV interessiert. 1 Das Entwerfen des Menschen Das Entwerfen wird gemeinhin als ein typisches Handeln des Architekten verstanden. Das, was wir Entwurf nennen, konstituiert aber jede menschliche Praxis. 3 Unser Tun, insofern wir es mit einer Absicht verbinden, antizipiert seinen Erfolg, der in einer Wirkung vorliegen wird. Entwurf und Intention sind begrenzt in ihren Möglichkeiten, da niemand aus den Beschränkungen seiner Welt austreten kann, sondern nur das zu verwirklichen anstreben kann, was er sich als seine Aufgabe überhaupt vorzunehmen imstande ist. Darin begreifen wir eine grundsätzliche Berufung des zur Selbstbestimmung fähigen, weltoffenen Menschen, die k ant als Grundlage der menschlichen Vernunfterkenntnis fixiert hat: „die Vernunft (sieht) nur das ein, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt“. Auf das praktische Tun bezogen, schließt der Entwurf immer den Entwerfenden, sein Selbst- Kamlah 97 , 9 Zur Professionalisierung des architektonischen Handelns siehe Oliver Schmidtke 006 Vgl. Biella 999, der darin ausführt, dass der „architektonische Entwurf teil (hat) am Existenzentwurf des Architekten“. KrV, B XIII, Kant 956 Architekturtheorie_Huter.indd 178 23.01.2008 15: 28: 16 Uhr <?page no="178"?> Das Entwerfen 179 und Weltverständnis, mit ein. Deshalb gehören Entwurf und Horizontbildung zusammen. Der Horizont oder Sinnbzw. Auffassungsrahmen, in welchem ich mich im Entwerfen bewege, ist mir grundsätzlich sprachlich erschlossen. Ich kann und muss über Absichten meines Entwurfs sprechen und kommunizieren, so schon im „leisen Sprechen“ des Denkens. Denn der Entwurf führt ja zu einer konkreten Umsetzungsabsicht, der ich nachzukommen habe. Doch in den seltensten Fällen sind wir uns der Herkunft und Geltung unserer Überzeugungen bewusst, die den Horizont unserer Lebensform inhaltlich füllen und ihn gegenüber anderen Überzeugungen abstützen. Vielmehr ist unsere Weltperspektive uns selbstverständlich und fraglos gegeben. Sie bedeutet aber eine Vor-Meinung, ein Vor-Urteil. Jeder Entwurf macht ein Verstehen sichtbar, wie etwas aufgefasst wird. Das Verstehen ist immer situativ, d.h., es vollzieht sich im Entwerfen selbst, genauer: in der einmaligen Situation des konkreten Entwerfens. Der architektonische Entwurf ist darüber hinaus immer auch ein Verstehen der Situation „der anderen“ und „für andere“, denen der Entwurf gilt. Dies hat eine Architekturtheorie zu berücksichtigen. Der Entwurf ist eine kreative Suchbewegung, die sich allgemein an der Sache des Wohnens bewähren muss. Im Entwurf wird ein bestimmtes Verständnis von der Sache ausgelegt. Der Entwurf nimmt etwas vorweg, was sich im konkreten Bewohnen erst bestätigen soll. Dies nennen wir das „gute Wohnen“, es ist orientiert am Prinzip des für den Menschen Wohnlichen. Der Entwurf erhält seine Legitimation, wenn seine Herkunft (Entwerfen aus Gewohnheit) und seine Geltung (Gültigkeit der Intentionen) geprüft sind. Antizipationen im Zuge des architektonischen Entwerfens können nicht einfach vollzogen werden, sondern müssen in ihrer besonderen Vor-Struktur bewusst gemacht und auf die Probe gestellt werden. Dann kann kritisch überprüft werden, was zur Kontrolle ansteht: Herkommen und Auswirkung der Entwurfsabsichten sowie ihre Konkretisierung. 2 Können und Wissen des Architekten bei Vitruv Es stellt sich uns die Frage nach dem spezifischen Wissen und Können des Architekten, das im Entwerfen sich Geltung verschafft. V itruV s Vorstellungen von dem, was der Architekt zu wissen habe, sind eingebettet in dasjenige Verständnis, das er sich selbst von dem Können der Handwerker und Baumeister seiner Zeit erworben hatte. Man kann also davon ausgehen, dass V itruV s Zusammenstellung des verlangten Könnens immer auch ein kritischer Kommentar zur damaligen Ausbildung war. Es fällt dabei zunächst die Weite der Aufgaben auf, die V itruV dem Architekten zumutet. So soll die- Vgl. Rentsch 200 Architekturtheorie_Huter.indd 179 31.01.2008 12: 13: 29 Uhr <?page no="179"?> 8. Vorlesung 180 ser wissenschaftliche und elementare Kenntnisse aller Werke haben, „die von den übrigen Künsten geschaffen werden“. v itruv unterschied bekanntlich den Architekten vom „bloßen“ Handwerker hinsichtlich des Wissens, das der Architekt (idealerweise) in sich vereinigt. Und dieses Wissen, möglicherweise unterschieden von einem nur angelernten „Können“, galt v itruv zu Recht als Voraussetzung des besonderen architektonischen Handelns. Dieses Handeln des Architekten wird bei v itruv auch hinsichtlich eines sprachlich auftretenden Beurteilungswissens (ratiocinatio) gedeutet 6 . Er unterscheidet zwischen fabrica (handwerkliches Können) und ratiocinatio (Beurteilungswissen). 7 Unter fabrica ist das Wissen gemeint, dass einen Handwerker auszeichnet. Ratiocinatio, ein Wort das ursprünglich Berechnung meint, ist hingegen das Wissen, das aus geistiger Arbeit erwächst. Heute würden wir vielleicht zwischen Hand- und Kopfarbeit unterscheiden. Den Ausdruck ratiocinatio erklärt der Herausgeber und Übersetzer f ensterBusch so: „Daneben aber erscheint es [ratiocinatio] in allgemeinerer Bedeutung und lässt sich etwa mit ‚planvolle, theoretische Überlegung‘, ‚Konzeption‘ [...] “ wiedergeben. Der Begriff der Konzeption macht auf den Vorgriff aufmerksam, den jedes Entwerfen eignet. v itruv vergleicht die Tätigkeit des Architekten mit derjenigen des Arztes bzw. des Musikers, wie es schon P laton und a ristoteles getan haben, ebenfalls um auf das besondere Wissen und Können (téchne) dieser „herstellenden“ Berufe hinzuweisen. v itruv hebt hervor, dass der Architekt sein Ziel, also das zu errichtende Bauwerk, schon im Voraus berechnen und planen können muss. Offensichtlich war es zu seiner Zeit üblich, dass man irgendwie mit einem Bau begonnen hat, ohne sich schon ein festes Bild vom fertigen Bauwerk gemacht zu haben. Da fehlte es vor allem an Darstellungsmethoden und methodisch geschultem vorblickenden Können, planvoll zu entwerfen und die notwendigen Schritte zur Ausführung sinnvoll vorauszusehen und zu berechnen. Einen Zugang zu dem, was v itruv möglicherweise unter dem Entwurf verstand, findet man etwas verschlüsselt im Folgenden: „Wie nämlich auf allen Gebieten, so gibt es ganz besonders auch in der Baukunst folgende zwei Dinge: was angedeutet wird und was andeutet (quod significat). Angedeutet wird der beabsichtigte Gegenstand (das Ziel), von dem man spricht“. 9 Erhellend ist wieder die Interpretation von f ensterBusch , der vorschlägt, dass quod significat die „Erläuterungsschrift“ meint, „die das Werk begleitet“. Insofern ist der Entwurf (auch) eine selbständige sprachliche Deutung oder Interpretation (das Ziel, von dem man spricht, betreffend) und nicht (nur) die Anwendung eines theoretischen, propositionalen 6 Kruft übersetzt in seiner Geschichte der Architekturtheorie den Ausdruck ratiocinatio mit „theoretische Konzeption“, 995, . Führ deutet ratiocinatio als „praktisch seiende Rationalität“, 00 , . 7 Vgl. Vitruv 99 , Kap. I, 8 A.a.O., Anm. 7, 5 f. 9 A.a.O. Architekturtheorie_Huter.indd 180 23.01.2008 15: 28: 16 Uhr <?page no="180"?> Das Entwerfen 181 Wissens. Dieses Gebrauchswissen zählt f ensterBusch zu den Kompetenzen des Architekten, nämlich „in beidem geübt (zu) sein, d.h., er muß eine richtige Vorstellung haben von dem, was er schaffen soll, und er muß das Mittel beherrschen, das zum Ziel hinführt.“ 10 Es ist also vor allem die Vorstellung des Architekten, wie das fertige Gebäude einmal aussehen soll, die v itruv nur mit wissenschaftlichen Methoden der Darstellung glaubt erklären zu können. Wenn er dann im einzelnen auf das Wissen eingeht, das der Architekt für seine Darstellung benötigt, dann wird klar, dass der Architekt auch seine Ideen, die Bedeutung seines Entwurfs, das Ziel seines Strebens soll mitteilen und verständlich machen können. Es geht v itruv sicherlich nicht um eine rein zeichnerische Aussage, sondern auch um eine sinnvolle sprachliche Begründung des Entwurfsziels. Ausdrücklich hebt er hervor, dass der Architekt zu wissenschaftlich-methodischer Schulung bereit sein muss sowie im „schriftlichen Ausdruck gewandt“. Wir haben gesehen, dass v itruv das Wissen des Architekten zweispurig verfolgt: Theorie und Praxis. Weder das eine, noch das andere allein, sondern beides zusammen und vereint. Man soll also nicht nur die theoretischen („naturwissenschaftlichen“) Grundlagen kennen, sondern man muss dieses Wissen auch am Praxisfall anwenden können. An einer eher versteckten Stelle macht er an einem Beispiel deutlich, wie er den Zusammenhang von propositionalem und „technischem“ Wissen verstanden wissen will. Dazu zitiert v itruv eine Aussage des Architekten P ytheos , der schon Vortreffliches geleistet habe: „ein Architekt müsse in allen Zweigen der Kunst und Wissenschaft mehr leisten können als die, die einzelne Gebiete durch ihren Fleiß und ihre Tätigkeit zu höchstem Glanz geführt haben“. 11 Dieser Anspruch geht v itruv doch zu weit. Interessant ist an dieser Stelle, dass er diesen Ehrgeiz, den P ytheos zeigt, empirisch zurückweist. v itruv behauptet: „Das aber wird durch die Wirklichkeit nicht bestätigt“. Diese Replik zeigt v itruv als einen aufmerksamen Beobachter der Welt des Bauens und dessen, was Menschen überhaupt zu erreichen fähig sind. Eine „empirische“ Beobachtung wird herangeführt, um das rechte Maß einer Ausbildung festzusetzen. Was unerreichbar ist, ist sinnlos zu fordern. v itruv ist realistisch genug, um darzulegen, dass ein Architekt nicht die Spitzenkräfte auf ihren Spezialgebieten übertrumpfen kann und soll. Freilich bleibt sein Anspruch aufrecht, der Architekt müsse auf vielen Gebieten Kenntnisse erwerben. v itruv setzt sich dann noch weiter mit dem Wissen und dem Können des Architekten auseinander und wehrt insgesamt das Ansinnen ab, der Architekt könne in der Summe seiner Fertigkeiten auch alle einzelnen Wissenschaften und Künste überdurchschnittlich beherrschen. Dennoch bleibt v itruv bei seiner Behauptung, die Architektur, da sie Wunderbares und Großes zuwege bringe, übertreffe alle Künste. Dann will er noch ein- 0 A.a.O., 5 Vitruv a.a.O., Architekturtheorie_Huter.indd 181 23.01.2008 15: 28: 16 Uhr <?page no="181"?> 8. Vorlesung 182 mal ausführlich zeigen, warum P ytheos geirrt hat, der vom Architekten die Meisterschaft auf allen Gebieten forderte. v itruv stellt klar, dass die einzelnen Künste jeweils aus zwei Faktoren bestehen: aus Konzeption und Ausführung. Die Fertigkeiten, etwas tatsächlich auch ausführen und umsetzen zu können, ist allein Sache derer, die auf dem speziellen Gebiet ausgebildet sind. Die Konzeption dagegen sei „Gemeingut aller wissenschaftlich Gebildeten“. Dabei gehe es um Grundlagenkenntnisse, nämlich die bewusste vernünftige, d.h. theoretische Überlegung, die z. B. Arzt und Musiker anstellen müssen, wenn sie sich allgemein mit dem Pulsschlag und der Bewegung der Füße beschäftigen. Steht dann jedoch ein Praxisfall an, der aufgrund realer Erfahrung bearbeitet werden muss, dann wird für diese besondere Tätigkeit, die eine ausführende ist, entweder der Arzt oder der Musiker zugezogen, damit diese je ihren Einzelfall lösen. Die Wunde wird nämlich der Arzt versorgen, das Flötenkonzert wird der Musiker spielen. Theoretisches oder propositionales Wissen ist also mögliches Gemeingut aller wissenschaftlich Gebildeten, den aktuellen Praxisfall gekonnt zu bewältigen, dies kann allein Aufgabe des praktisch Ausgebildeten sein. v itruv gibt weitere Beispiele, in denen unterschiedliche Kenner gemeinsam theoretische Probleme besprechen, bei deren konkreten Erledigung jedoch der je auf diesem Gebiet Geschulte der Ausführende ist. v itruv s Fazit, als Replik gegen P ytheos unrealistischen Anspruch gemeint, lautet: „Also scheint mehr als genug erreicht zu haben, wer von den einzelnen Wissenschaftsgebieten Teilgebiete und ihre Methoden nur einigermaßen kennt, und zwar diejenigen, die für die Baukunst nötig sind, damit es ihm, wenn er über diese Dinge und Kunsterzeugnisse ein Urteil abzugeben und sie zu prüfen hat, nicht an Befähigung fehlt“. 12 v itruv kommt es vor allem auf die praktische Urteilsfähigkeit des Architekten an. Denn offensichtlich war es schon zu antiken Zeiten nicht leicht, ein begründetes Urteil zu fällen, das der nachfolgenden Zeit auch standhielt. 3 Formen des Wissens „Bei allem, was Menschen heute wissen müssen und wissen können - und das ist nicht wenig! -, fehlt diesem Wissen jede synthetisierende Kraft. Es bleibt, was es sein soll: Stückwerk - rasch herstellbar, schnell anzueignen und leicht wieder zu vergessen.“ 13 Eine Gesellschaft, die ihr Hauptpotential in der Anhäufung von Wissen sieht, stellt die entsprechenden Informationen, von denen sie glaubt, dass jeder über sie verfügen müsse, in der Regel in Sätzen oder Aussagen bereit. Denn diese Gesellschaft geht davon aus, dass der- A.a.O., 5 Liessmann 007, 8 Architekturtheorie_Huter.indd 182 23.01.2008 15: 28: 16 Uhr <?page no="182"?> Das Entwerfen 183 jenige, der etwas weiß, auch sagen kann, was er weiß. Dem ist jedoch nicht so. Wissen muss nicht in jedem Fall auf einer richtigen Aussage beruhen. Es gibt auch ein Wissen, das sich in der praktischen Fertigkeit zeigt, wie etwas auf eine gekonnte Weise zu tun ist. Wir wollen diese beiden Wissensformen näher untersuchen. Jede schriftlich fixierte Aussage hat einen Gegenstand, über den sie etwas Bestimmtes behauptet. So kann alles, was sich formal als begründete Aussage über einen Gegenstand aufführt, den Anspruch erheben, zu wissen, dass etwas Bestimmtes der Fall ist. Aussagen haben den Vorteil, dass sie dargestellt, präsentiert und mitgeteilt werden können; aber auch die Eigenschaft, dass ihnen widersprochen werden kann. Jeder Satz, der eine Behauptung enthält, ist entweder wahr oder falsch. Liegen Behauptungen erst einmal in schriftlicher Form vor, dann hat sich der Autor von diesem Wissen maßgeblich distanziert. Solche Aussagen füllen dann Bücher oder Internetseiten, was überhaupt eine Voraussetzung dafür ist, damit Aussagen Allgemeingut werden. Dass die Erde „rund“ ist, hat kaum jemand mit eigenen Augen gesehen. Erst als Aussagesatz, der seinen Urheber „verlassen“ hat, wird dieses Wissen auch ein Wissen für alle, die den Satz „die Erde ist rund“ verstehen, verfügbar. Aussage- oder propositionales Wissen gilt oder gilt nicht. Ist etwas entgegen einer Satz-Behauptung nicht der Fall, dann hat sich der Sprecher geirrt. Alles propositionale Wissen ist deshalb irrtumsfähig. Es ist immer eine Alternative möglich, insofern eine Behauptung durch ihre Verneinung oder auch durch eine andere Behauptung ersetzt werden kann. Dem gegenüber gibt es Wissensformen, die alternativlos sind und die allgemein gesprochen auf Erfahrung und Intuition beruhen. Eine Aussage kann falsch sein, wenn die Behauptung, die mit ihr gemacht ist, nicht mit dem übereinstimmt, was der Fall ist. Eine Intuition ebenso wie eine Erfahrung sind weder richtig noch falsch. Sie müssen als solche hingenommen werden. Jede Evidenz, sei sie durch Schau, Intuition, Erleuchtung, Einsicht, Erfahrung usw. zustande gekommen, beruft sich mit gutem Recht auf ihre Irrtumsfreiheit, da gar keine Irrtumsfähigkeit besteht. Sie ist intuitives Wissen, das gar nicht in eine sprachliche Form gebracht werden kann und so nicht mitteilungsfähig ist. Auch beziehen Intuition und Erfahrung sich nicht auf einen Gegenstand oder Tatbestand, von dem behauptet werden kann, was und was nicht faktisch der Fall ist. Folgende Gestalten nichtpropositionalen Wissens, denen keine abgrenzbaren Gegenstände oder Sachverhalte, sondern Wissensfelder mit eigenen Bezugsbereichen zugeordnet sind, lassen sich unterscheiden: Fähigkeiten und Fertigkeiten, Kompetenzen und bewusstes Können, Urteilskraft, Gebrauchswissen und Erfahrung. 1 Diese letztgenannten Wissensformen, die wir allgemein auch als Vertrautheit mit unserer Welt bezeichnen können, machen einen weitaus größeren Teil unserer Kenntnisse Vgl. Wieland 98 Architekturtheorie_Huter.indd 183 23.01.2008 15: 28: 17 Uhr <?page no="183"?> 8. Vorlesung 184 aus als das Aussage-Wissen, wenn auch dieses Wissen, da sein Inhalt in Sätzen vorliegt, greifbarer ist. Wir dürfen hier nicht meinen, dass die Tatsache, dass man über jedes Wissen mit Sätzen reden kann, die Konsequenz nach sich zieht, dass auch der Inhalt jedes Wissens in Gestalt von Sätzen objektivierbar ist und anderen mitgeteilt werden kann. 15 Eine Gesellschaft, die sich vor allem durch ihr proportionales Wissen und ihre Informationssysteme charakterisiert, hat deshalb noch lange nicht mehr Erfahrungswissen auf dem Gebiet der praktischen Lebensführung als irgendeine andere Gesellschaft. Wir haben also grob zu unterscheiden zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und individueller Erfahrung. Wissen, zu dem sich jeder Mensch befähigen sollte, wollen wir dann diejenige Bildung nennen, die sowohl mehr ist als Erfahrung, als auch mehr ist als Erkenntnis. Alle Wissensformen, die wir oben angesprochen haben, beruhen auf vielfältigen Austauschpraktiken der Menschen untereinander, auf der Reichhaltigkeit von Handlungs- und Redezusammenhängen. Konkretes Wissen tritt allein in Gestalt von „Situationen“ auf. Zum Beispiel beim Studieren einer Naturwissenschaft, wo jemand „autoritär“ Behauptungssätze vorträgt, die viele andere hören, sich einprägen und so lernen. Oder in Beschreibungen einer Erfahrung an Beispielen, die ein anderer liest (hört) und so aufgrund ähnlicher gemachter Erfahrungen zu einer Einsicht geführt wird. Oder in Lehrer-Schüler-Situationen, in denen der eine etwas vormacht, was der andere so lange selbst ausprobiert und übt, bis er diese Fertigkeit eigenständig beherrscht. Schon diese einfachen Beispiele zeigen, dass manches Wissen nicht von denjenigen getrennt werden kann, deren Wissen es ist. Habe ich eine Einsicht gewonnen, dann ist sie meine Einsicht, die kein anderer einfach „lernen“ kann. Das Gleiche gilt von Fertigkeiten, die ich erworben habe. Aussagewissen hingegen kann ich anderen vortragen, damit sie es selbst lernen. Die meisten Wissensformen machen den, der sie beherrscht, erst zu dem, der er ist. Deshalb kann man hinsichtlich des weiten Felds des Gebrauchswissens, insofern man es beherrscht, auch von einem Können sprechen. Gilbert r yle unterscheidet zwischen einem knowing-how („ich weiß, wie…“) und einem knowing-that („ich weiß, dass…“). Beide sind Formen des Wissens, wobei das knowinghow eine praktische Betonung erfährt, nämlich etwas tatsächlich vormachen, ausführen und handhaben zu können, während das knowing-that eher die Betonung einer Beweisdurchführung bekommt, nämlich etwas vor allem erklären und begründen zu können. 16 Vor allem im handwerklichen Bereich besteht ein Wissen, das dem Ausübenden unmittelbar zur Verfügung steht. Er muss sich dessen nicht stets 5 A.a.O., 5 6 Vgl. das Kapitel „Können und Wissen“ bei Ryle 969. Heute immer noch aktuell sind die Untersuchungen aus den 9 0er- 0er Jahren zur Wissenssoziologie von Ludwik Fleck, z.B.: Über einige besondere Merkmale des ärztlichen Denkens von 9 7, vgl. Fleck 98 c Architekturtheorie_Huter.indd 184 23.01.2008 15: 28: 17 Uhr <?page no="184"?> Das Entwerfen 185 durch die Kenntnisnahme von Sätzen neu vergewissern. Die sichere Handhabung von Zielen und Mitteln ist ein bewusstes Können, eine bewusste Fähigkeit, deren Resultat sich dann auch mit Worten ausdrücken und beschreiben lässt. Auch lässt sich jede Einzelentscheidung begründen, denn diese Fähigkeit macht erst das Fachwissen aus. Dieses Wissen und Können, das den Handwerker ebenso wie den Architekten und Arzt auszeichnet, beruht auf einem Prozess der Anleitung und Einübung, bis das entsprechende Wissen in die entsprechenden Handlungen gleichsam eingewachsen ist, so dass der Handelnde sich von seinem Wissen gar nicht mehr distanzieren kann. Er muss sich aber, wenn eine bestimmte Situation es erfordert, grundsätzlich seines Wissens und Könnens bewusst werden können, sonst bestünde keine Möglichkeit, es an andere weiterzugeben. Wir reden hier vom Fachwissen oder vom „technischen“ Wissen, das niemals ganz in den einzelnen Anwendungsfall eingeht. Denn diese Wissensform besteht immer auch aus überschüssigen Wahlmöglichkeiten, auf die in dem einen Fall bewusst verzichtet wurde, da man sich anders entschieden hat, die aber grundsätzlich dem Fachmann innerhalb seines Kompetenzbereichs zur Verfügung stehen. Deshalb kann der Experte auch das genaue Gegenteil dessen hervorbringen, was er hervorgebracht hat. „Der Arzt ist gerade auf Grund seiner Kunst in der Lage, den Patienten nicht nur zu heilen, sondern ihn umgekehrt auch erst recht krank zu machen.“ 17 Neben diesem Fachwissen haben wir das praktische Wissen zu unterscheiden. Während das „technische“ Gebrauchswissen innerhalb eines bestimmten Kompetenzbereichs über Alternativen verfügt, die für den Einzelfall gekonnt ausgewählt werden, ist das praktische Wissen das Wissen des Guten. Das Gebrauchswissen kannte v itruv , wenn er in seiner Antwort auf P ytheos den Arzt und den Flötenspieler anspricht, die ihr Können am Einzelfall zeigen. Als Wissen ist das „technische“ Wissen ambivalent. Die davon Gebrauch machenden Fachleute haben die Kompetenz, sich an unterschiedlichen Standards ihres Könnens zu orientieren, von ihrer Fähigkeit zu unterschiedlichen Zwecken Gebrauch zu machen. So kann man, aus welchen Gründen auch immer, etwas nur „mit halber Kraft“ angehen. Ärzte, Architekten oder auch Naturwissenschaftler agieren in Demokratien und in Diktaturen. Ludwik f leck , der als Gefangener im Konzentrationslager Buchenwald zu Herstellungsmethoden von Typhusimpfstoff arbeiten musste, stellte ohne Kenntnis der Lagerleitung zweierlei Impfstoff her. Einen hochwirksamen für gefährdete Häftlinge und einen zweiten minderer Qualität, der zwar nicht schadete, aber auch nichts nutzte, für die SS (Schutzstaffel der NSDAP). 1 So muss es also etwas geben, das den Baumeister, den Arzt oder den Flötenspieler anleitet, wie die Anwendung ihrer Fachkompetenz eingesetzt werden soll. Das praktische Wissen, 7 Wieland a.a.O., 55; weitere Beispiele zur „ärztlichen Kunst“ finden sich bei Fleck 98 c 8 Davon wird in der Einleitung von Fleck 98 berichtet, 8 ff. Architekturtheorie_Huter.indd 185 23.01.2008 15: 28: 17 Uhr <?page no="185"?> 8. Vorlesung 186 das diese Leitung ausfüllt, ist ein Wissen des Guten, der Gerechtigkeit. Ihm kommt eine vergleichbare Ambivalenz zu, wie sie das „technische“ Wissen auszeichnet, nicht zu: „Wer das die Tugend der Gerechtigkeit konstituierende Wissen besitzt, hat nicht nur die Fähigkeit gerecht zu handeln, sondern er handelt notwendigerweise gerecht.“ 19 Diesem praktischen Wissen kommt also die Fähigkeit zu, den Handelnden unmittelbar bzw. kompromisslos zu motivieren, so dass dieser sich nicht mehr zu Zwecken oder Zielen abwägend verhalten kann. „Der Inhaber eines praktischen Wissens … hätte sich mit seinem Wissen ohne Einschränkung identifiziert.“ 20 v itruv wusste offensichtlich zwischen einem Aussagewissen (irrtumsfähiges Behauptungswissen davon, was der Fall ist) und einem „technischen“ Wissen (Gebrauchswissen) zu unterscheiden. Wenn er vom „Gemeingut aller wissenschaftlich Gebildeten“ spricht, dann meint er das proportionale Wissen, das jeder Gebildete an Aussagesätzen gelernt hat. Dieses Wissen charakterisiert v itruv näher als die Befähigung, „über diese Dinge und Kunsterzeugnisse ein Urteil abzugeben und sie zu prüfen“. Ein Urteil kann richtig oder falsch sein. Im Unterschied dazu hebt v itruv hervor, dass „die Ausführung der Arbeit, eine eigene Sache derer ist, die auf speziellen Gebieten ausgebildet sind“. Von dieser Art ist das Gebrauchs- oder „technische“ Wissen, welches nur durch längere Übung erlangt wird und das sich allein in der Ausführung an den Gegenständen zeigt und bewährt. „Die Ausführung der Werke aber, die mit der Hand oder durch technische Bearbeitung zu vollendeter Feinheit gebracht werden, ist Sache derer, die auf einem Gebiete der Kunst zur Ausführung ausgebildet sind.“ 21 Die dritte Wissensform, die wir unterscheiden wollen, das praktische Wissen oder Wissen des Guten, was die griechische Antike herausgearbeitet hat, finden wir bei v itruv unberücksichtigt. Schon P laton hat sich aber gefragt: Welches Wissen reguliert die Ausführung, dass ich darin mein Können alternativlos dem Guten zukommen lasse? In welchem Sinne wende ich meine Fähigkeit am besten an? Denn mein Können ließe sich problemlos für andere Zwecke als das Gute, nämlich z.B. für das Schlechte, einsetzen. Zwar gibt es Experten auf allen möglichen Gebieten des „technischen“ Wissens, nicht aber auf dem Gebiet der Lebenspraxis. Jeder muss sein Leben selbst führen, darin besteht die Freiheit des Menschen. Der auf seinem Gebiet Sachkundige plant und realisiert mühelos alternative Ziele und ist deshalb auch am besten zur Täuschung anderer fähig. Kann aber etwas Unrechtes bewusst zu tun, ein Ziel des Handelns sein? Oder ist das Resultat als misslungen zu betrachten, nicht weil wir es so intendiert, sondern weil wir einen Fehler begangen hatten? Reicht es aus, sich beim richtigen Handeln allein an der eigenen Fertigkeit, seine Ziele zu erreichen, 9 Wieland a.a.O., 6 0 A.a.O., 6 Vitruv 99 , 5 Architekturtheorie_Huter.indd 186 23.01.2008 15: 28: 17 Uhr <?page no="186"?> Das Entwerfen 187 zu orientieren, oder müssen wir auch in der Lage sein zu erkennen, was wir eigentlich in unserem Leben wollen? Gewiss, wir erstreben stets das in der jeweiligen Situation erkannte Beste auch zu tun. Da das Gute und Nützliche eng miteinander verknüpft sind, will jeder das im Tun verwirklichen, was für ihn selbst nützlich ist. In der Idee vom „guten Leben“ treffen sich nun alle Aspekte des praktischen Handelns, insofern jeder Mensch auf dieses Ziel ausgerichtet ist. Offensichtlich kann man aber darin irren, insofern man der Meinung ist, das eigentliche Ziel des Handelns bestehe in dem Resultat eines konkreten Machens, nämlich in seinem Produkt. Oder jemand täuscht sich darin, dass sein Handeln mit seinen Überzeugungen übereinstimme. Dann hätten wir ihn darüber zu belehren, dass er nicht so handelt, wie er selbst davon überzeugt ist, was das Gute ist. 4 Forschen und Entwerfen Das architektonische Entwerfen bearbeitet allgemein die Aufgabe, dem menschlichen Wohnen und Bauen eine Form zu geben. Es zielt aber ebenso auf etwas Konkretes, das sich dann in der Welt zeigt. Ich möchte das Entwerfen deshalb als eine Antizipation des Künftigen beschreiben. Der Entwurf als Konzeption nimmt etwas gedanklich und bildhaft vorweg und kann dies doch nur, indem das Künftige oder Neue mit dem Bekannten und Vertrauten in eine Beziehung gesetzt wird. Ein Haus kann nur entworfen (konzipiert) werden, insofern der Entwerfer bereits ein anschauliches „Bild“ und eine Auffassung davon besitzt, was ein Haus „überhaupt“ ist, zu dem das zu entwerfende Haus in eine besondere logische Beziehung gebracht wird, nämlich in die von Fallreihe zu Einzelfall bzw. von Prinzip zu Beispiel 22 . Unter einer Fallreihe sind alle konkreten Häuser gemeint, die der Entwerfer als Häuser kennt und erinnert, d. h. im Gedächtnis hat. Was sie miteinander konkret verbindet, ist ihr durchgängiges Prinzip: das „Haushafte“. Das Haushafte erkennen wir als bestimmte Gestalt in jeder konkreten Anschauung, die wir als „ein Haus“ ansprechen, wieder. Alle konkreten Fälle einer Reihe verbindet eine bestimmt-unbestimmte Ähnlichkeit. Was das Haushafte „an sich“ ausmacht, lässt sich allgemein nicht vollständig klären. Wir besitzen davon kein Aussagewissen. Allein das Geben von exemplarischen Beispielen kann uns in die Situation bringen, das Prinzip selbständig auf einen neuen Fall anzuwenden. Damit vergleichbar ist die Sache, wenn wir nach dem Museumhaften, dem Fabrikhaften, dem Schulgebäudehaften usw. fragen. Nun kann es sein, dass wir das Prinzip dieser Reihen, was ihre konkrete Gestalt ausmacht, erst erkunden und erkennen müssen. Ein Prinzip ist aber Zum Verhältnis von Prinzip und Beispiel vgl. vor allem Buck 989, ff. Architekturtheorie_Huter.indd 187 23.01.2008 15: 28: 17 Uhr <?page no="187"?> 8. Vorlesung 188 nichts selbständig Existierendes. „Ein Prinzip ist seinem Begriff nach immer Prinzip in Beziehung auf etwas, wovon es Prinzip ist. Seine Erkenntnis ist Erkenntnis der Art und Weise, wie es dasjenige bestimmt, dessen Prinzip es ist.“ 23 Wir müssen Beispiele suchen und finden, ansonsten wüssten wir nicht, mit welchem Entwurfsprinzip wir unseren Praxisfall zu konfrontieren hätten. In diesem konkreten Sinne der Prinziperkundung ist der Entwurfsprozess immer auch ein Forschungsprozess. 2 Die konkret uns vorliegenden Beispiele sind aus ihren Prinzipien zu erkennen. Die Prinzipienerkenntnis ist anschauliche Forschung an konkreten Sachen, die uns vorher nur oberflächlich geläufig waren. Die Prinzipienforschung ist abgeschlossen, wenn wir die Beispiele aus ihren Gründen erkannt haben. Dabei hat das Erkennen des Prinzips eine uns leitende und zur Gestalt hinführende Funktion für das Entwerfen. Aber unser konkretes Entwurfsbeispiel ist keine wie automatisch sich ergebende Deduktion aus einem Höheren. Wir können hier keinen Ableitungsmechanismus in Gang setzen. Vielmehr setzt der Entwurf mit einem gelungenen Beispiel die Reihe selbständig fort. Wir müssen also das Tun des Entwerfers als eine praktische Erkenntnisleistung und Prinzipienforschung verstehen, die nicht ohne Theorie, d.h. ohne das Wissen von etwas Allgemeinem oder Prinzipiellem auskommen kann. Um uns das Handeln des Architekten besser vorstellen zu können, vergleichen wir es mit ähnlich gelagerten Situationen anderer praktischer Disziplinen und ihren besonderen Wissensformen wie die Jurisprudenz und die Medizin. Dass hier schlagende Ähnlichkeiten vorliegen, war schon v itruv bekannt, der den Architekten mit dem Arzt und Musiker verglich. Verwandt mit Entwurf und Konzeption des Architekten sind das „Urteil-sprechen und Urteil-begründen“ des Richters sowie das „Diagnose-stellen und Therapie-verordnen“ des Arztes, wenn man jeweils deren offene Kontexte des Suchens, Findens und Erwerbens solcher (sprachlicher) Gestalten (Urteil, Diagnose, Therapie, Konzepte usw.) in den Mittelpunkt dieser Handlungen stellt. In all diesen Berufen ist der Praktiker vor einen Fall gestellt, in dem er klären muss, inwiefern und auf welche Weise allgemeine Normen (Gesetze) auf den konkreten Fall passen. Dieses Können, vom Besonderen zum Allgemeinen zu gelangen, nennen wir das praktische Urteilsvermögen. Es setzt Erfahrung voraus. Das heißt: durch ständiges Üben und Überprüfen werden wir immer sicherer in unserem Urteil. Kann es aber überhaupt wiederholbare Techniken der einwandfreien Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine geben, die man wie eine sichere Methode nur reproduzieren bräuchte? Oder wird der „Findungsprozess“ selbst zu einer höchst anspruchsvollen A.a.O., 5 Vgl. auch die Ausführungen von Hille von Seggern und Julia Werner, Entwerfen als Forschung, in denen die Autorinnen für den Bereich der Landschaftsarchitektur „rational-intuitive Strategien“ fordern. Parallel müssen die Entwerfer die Fähigkeit ausbilden, „ihre Fragen und Antworten auch entsprechend verbal zu formulieren“, von Seggern/ Werner 005, 9- Architekturtheorie_Huter.indd 188 23.01.2008 15: 28: 18 Uhr <?page no="188"?> Das Entwerfen 189 und wissenschaftlichen Tätigkeit? Mit anderen Worten: Kann die Lösung des Einzelfalls mit einer schon bekannten Theorie verrechnet werden, oder führt erst der gekonnte Umgang mit dem Einzelfall, also der Gebrauch des praktischen Urteilsvermögens, zu einer passenden Erkenntnis? Ich werde versuchen, auf diese Fragen eine befriedigende Antwort zu geben. Da das Suchen, Finden und Erwerben der praktischen Berufe gleichsam innerhalb eines offenen Such-Horizonts und Gestaltungsprozesses geschieht, kann sich das Handeln der praktischen Disziplinen gar nicht an vorgängige praxisferne Bedingungen und Voraussetzungen streng binden, wie es beispielsweise die exakten und experimentierenden Wissenschaften hinsichtlich ihres geschlossenen Theoriehorizonts notwendigerweise tun müssen. Wird allgemein für die Medizin das Ziel in der Gesundheit, für die Jurisprudenz in der Gerechtigkeit gesehen, so kann entsprechend das allgemeine Ziel des architektonischen Handelns im schließlich gefundenen Maß gesehen werden, genauer im Maß fürs Bleiben. Bei der Definition von Zielen ist aber folgendes zu beachten: „ [...] nicht Gesundheit oder Gerechtigkeit ‚als solche‘ sind zu ‚verwirklichen‘, sondern Krankes ist nach den Regeln der Heilkunst, Streitiges nach den Regeln juristischer Kunst zu behandeln. Was aber ‚krank‘ oder ‚streitig‘ ist, ist eine Frage des Einzelfalles; und die ‚Regeln der Kunst‘ beruhen auf nichts anderem als auf den Erfahrungen, die man in der langen Reihe der Behandlung dieser Einzelfälle gemacht hat“. 25 Will man nun entsprechend die „Regeln der Kunst“, die im architektonischen Handeln zum Tragen kommen, anführen, dann haben wir danach zu fragen, was das Erfahrungswissen des Architekten in der Bewältigung vieler Einzelfälle als Ziel erkannt hat. Es gibt darin kein „allgemeines“ Maß fürs Bleiben, da wir es immer nur mit konkreten Wohnsituationen zu tun haben. Inhaltlich muss es darum gehen zu überprüfen, ob die Umsetzung der entwurflichen Konzepte ihr Ziel erreichen kann. Dies lässt sich jedoch nur am Einzelfall überprüfen. Wir müssen also so fragen: Ist dieser konkrete Entwurf der besonderen (Wohn-)Situation angemessen? Wir müssen also auf den Ausdruck der „Angemessenheit“ zurückgreifen. Denn die Erfahrung des Architekten ist darin zu suchen, dass die gefundene Lösung, die der konkrete Entwurf darstellt, der gestellten Aufgabe angemessen ist. Angemessenheit hinsichtlich des architektonischen Werks bezieht sich auf den Aufenthalt des Menschen, dass der Mensch bleiben kann. Das rechte Maß fürs Bleiben lässt sich indes nur hinsichtlich der Situation, in die Entwurf und Werk hineingehören, treffen. Das Bleiben-können ist das qualitative Maß, dessen mathematisch-quantitative „Umrechnung“ dann in den Aufgabenbereich des Ingenieurs fällt. Der Architekt muss das Maß in der Sache des konkreten Wohnens selbst finden, damit es sich als das rechte Maß auch erweisen kann. Er folgt dann dem Blick 5 Gröschner 98 Architekturtheorie_Huter.indd 189 23.01.2008 15: 28: 18 Uhr <?page no="189"?> 8. Vorlesung 190 auf das Maßvolle und orientiert sich an dem, „was sich als richtig erweist und dem man gehorcht“ 26 . Dazu bedarf es der inneren Freiheit, das „geschaute“ Angemessene gelten zu lassen. Solcher „intuitiven“ Einsicht Folge zu leisten, muss aber selbst anerkannt sein und als Richtmaß bestehen dürfen. Aufgrund dieses Maßes das Richtige zu tun, ist eine Gabe des „Spüren(s) dessen, was hier das Richtige ist“ 27 . 5 Zur Erkenntnisaufgabe des Architekten Um die spezifische Erkenntnisleistung, zu der der Entwerfer fähig ist, besser zu verstehen, wollen wir das Entwerfen des Architekten mit rein theoretischen Tätigkeiten des Naturwissenschaftlers vergleichen. Dabei werden wir davon absehen, dass selbstverständlich auch der Naturwissenschaftler praktische Fertigkeiten besitzen muss. Will man den Wissenschafts- und Forschungscharakter des architektonischen Handelns abwehren und bestreiten, dann scheint dies mit der Behauptung zu gelingen, das Können des Entwerfens bestünde darin, das Wissen anderer, nämlich exakter, primärer Disziplinen, das diese durch Grundlagenforschung und Theoriebildung systematisch erarbeitet und bereit gestellt haben, anzuwenden. Das Wissen, das das Handeln des Architekten ausmacht, sei dem gegenüber nur „angewandtes“, nicht-originäres und sekundäres Wissen, Architektur, wenn es hoch kommt, eine angewandte Wissenschaft. Die Auffassung von Architektur als Baukunst mag diesem Verständnis des architektonischen Handelns Vorschub geleistet haben, da es Herstellungs- und Beurteilungskriterien für ein Bauwerk nahelegt, die der Kunstphilosophie und Ästhetik entstammen. Allerdings ist die Denkfigur der Anwendung oder Applikation von fremdem Wissen nicht haltbar. Wir sind inzwischen in der Lage, das Wissen des Architekten, das im Entwerfen eingesetzt wird, zu differenzieren. Der systematischen Erkenntnis der exakt und experimentell arbeitenden Wissenschaften können wir jetzt eine Wissensgestalt entgegen setzen, die dem praktischen Verstricktsein des Architekten (Mediziners, Juristen) ins konkrete Handlungs- und Erfahrungsfeld der Praxis gerecht werden kann. Dieses Wissen und Können folgt einem eigenen Vernunftverständnis. Dies nicht, weil es auf diese Weise eine Abkürzung nehmen und es sich leicht machen will, sondern weil diese Intelligenz, die die Praxis auszeichnet, die passende und kluge Antwort auf unsere Handlungssituationen ist. Mit dem Begriff der „praktischen Vernunft“ hat k ant eine Erkenntnisleistung des Menschen beschrieben, die sich auf die Veränderung der Welt durch Handeln richtet. Damit sich diese Kompetenz 6 Gadamer 00 , 7 7 A.a.O., 8 Architekturtheorie_Huter.indd 190 23.01.2008 15: 28: 18 Uhr <?page no="190"?> Das Entwerfen 191 nicht allein am Sollen (Pflicht), sondern ebenso am Können (Gelingen des Lebens) orientiert, wurde die „praktische Vernunft“ für die Praxis der Lebensführung, die die mitweltlichen Handlungs- und Redezusammenhänge integriert, insgesamt bindend: „Von Praxis bzw. Handlung wird man nur in dem Falle sprechen, in welchem der Handelnde mit sich oder andern zu Rate gegangen ist, Möglichkeiten und alternative Wege des Handelns erwogen und sich für die ‚beste‘ entschieden hat. Beraten, Abwägen, Entscheiden sind Formen des Denkens, die für Praxis wesentlich sind: im Hinblick darauf ist es begründet, von einer praktischen Intelligenz, einem praktischen Denken oder auch mit Kant von praktischer Vernunft zu sprechen. Praktische Vernunft ist nicht nur in Praxis umgesetzte ‚Theorie‘, sondern sie stellt den Inbegriff der Denkvollzüge dar, welche zum Aufbau der Handlungswelt, zur Beratung über Zwecke oder Mittel, zur Motivation der Entscheidungen rechnen.“ 2 Es wird nun zu zeigen sein, dass die praktische Intelligenz, wie ich es nennen möchte, sich gar nicht theoretisch-systematisch konstituieren kann, ohne damit nicht schon ihre Besonderheit eingebüßt zu haben, unmittelbar in die Lebens- und Wohnwelt zu wirken. Die praktische Intelligenz ist keine kognitive Instanz, die ein an irgendeiner Stelle im Gehirn abgelegtes Behauptungs- und Aussagewissen zum Einsatz bringt. Die praktische Intelligenz wird vielmehr als ein Umgangswissen angesprochen, das den Entwerfer dahin führt, sein jeweiliges Handeln als ein bestimmbares und bestimmtes zu begreifen, als ein Handeln, das Ausdruck einer „Idee“ (z. B. Entwurfsidee) und zugleich gefasste Form dieser „Idee“ (z. B. als „Bild“) ist. So geht es also um Orientierung im Handeln des Architekten und damit auch um Gestaltung dieses Handelns, dessen Begründung, Rechtfertigung und Beurteilung grundsätzlich möglich sein muss. 29 Erkenntnis ist kein von irgendeiner Praxis isoliertes Produkt, kein abgesondertes Gesetz, das die Handlung und ihr Werk vertreten könnte. Erkenntnis ist vielmehr als ein integriertes Handlungs- und Entscheidungsziel zu bezeichnen, welches z. B. sich in der Erkenntnis der Individualität des Einzelfalls erfüllt. Denn lebensweltlich, das heißt konkret: in Entwurfs-Situationen verstrickt, besteht für den Menschen gar nicht die Möglichkeit, nicht zu handeln. Es ist ihm dann pragmatisch gar nicht möglich, der Situation „zu entrinnen“, die durch Entscheiden zwischen Tun oder Lassen gelöst werden muss. Schauen wir uns ein wenig näher die Wissensgestalt der praktischen Intelligenz an, in der sich das Handeln der „technischen“ Disziplinen orientiert. Dies soll im Folgenden nur darin gezeigt werden, dass diese Wissensgestalt mit den theoretisch-systematischen Wissenschaften weder in Konkurrenz treten noch mit ihnen hinsichtlich von „Wissenschaftlichkeit“ überhaupt verglichen werden kann. Ich beziehe mich im Folgenden wieder auf die einschlägige 8 Kaulbach 98 , 9 Vgl. dazu auch Kambartel 997 Architekturtheorie_Huter.indd 191 23.01.2008 15: 28: 18 Uhr <?page no="191"?> 8. Vorlesung 192 Untersuchung von Wolfgang W ielanD . Der theoretische Vernunftgebrauch beschränkt sich in der Regel auf die Aufgabe, Allgemeines in Gesetzesform zu fassen. Ihm ist es ganz recht, wenn er „Singuläres und Individuelles in seiner Kontingenz auf sich beruhen lassen kann, um ihr Interesse (das der theoretischen Vernunft, A.H.) ungeteilt Gesetzen und Strukturen zukommen zu lassen“. 30 Die praktische Intelligenz dagegen, insofern sie etwa im architektonischen Entwerfen praktiziert wird, findet ihr Feld allein in der genuin menschlichen Praxis, wo sich die Menschen bemühen, „gut“ zu wohnen. Weil der Architekt niemals vom konkreten Ziel, ein singuläres Bauwerk für den Menschen zu schaffen, absehen kann, erschöpft sich seine Tätigkeit auch nicht in der Aufstellung allgemeiner Behauptungen und Gesetze. Dem Architekten ist mit dem Verweis auf theoretische Sätze nicht ausreichend gedient, denn es bleibt immer noch erst „von Fall zu Fall“ zu entscheiden, ob eine Theorie und ihre Norm sich auf die besonderen, konkreten und stets wechselnden Situationen anwenden lassen, in denen sich der Handelnde und sein Gegenüber, der Bauherr, vorfinden. Denn das praktische Handeln, das Entwerfen, hat es immer mit dem konkreten Einzelfall zu tun, den es niemals derart distanzieren kann, dass eine bloße Anwendung rein systematischen Wissens möglich erscheint. Ihre Wissenschaftlichkeit zeigen dieses Handeln und seine Konzepte gerade darin, dass sie von dieser Unmöglichkeit Kenntnis haben und darüber hinaus sich methodisch derart auf die nicht-hintergehbare Situationalität des Entwerfens einstellen, dass sie dem Lösen des Einzelfalls gerecht werden. Die praktische Intelligenz wächst sich zu einem Können aus, das darauf abzielt, ihr Werk in der primär-weltlichen Sphäre des Singulären zu realisieren. In der theoretischen Einstellung der Gesetzesformulierung kann der Wissenschaftler völlig vom Individuellen, Kontingenten und Besonderen absehen, in ihrer welt-enthobenen Sphäre des Allgemeinen und Gesetzmäßigen gibt es keinen konkreten Ort, keine konkrete Zeit und keinen konkreten Fall. Der hier und jetzt zu entscheidende Fall hingegen ist immer so einzigartig, vielfältig und reichhaltig in seinen Merkmalen, dass diese singuläre Präsenz durch eine allgemeine Theorie, die ja dem konkreten Fall logisch vorangehen muss, niemals erfasst werden kann. Dazu passt eine Beobachtung aus der medizinischen Praxis. Der Wissenschaftstheoretiker und Mediziner Ludwik f leck liefert eine ähnliche Beschreibung der ärztlichen Denkleistung, die er von der naturwissenschaftlichen Erkenntnis unterscheidet. Der Arzt habe es immer mit nicht typischen, nicht normalen, sondern krankhaften Phänomenen zu tun, die darum nicht auf die typischen Muster passen, wie sie die naturwissenschaftliche Erkenntnis bereitstellt: „Aber diese unerhört reiche Vielfalt immerfort anderer und anderer Varianten muß gedanklich bezwungen wer- 0 Wieland 989, Architekturtheorie_Huter.indd 192 23.01.2008 15: 28: 18 Uhr <?page no="192"?> Das Entwerfen 193 den, denn dies ist die Erkenntnisaufgabe der Medizin. Auf welche Weise ist ein Gesetz für nicht gesetzmäßige Phänomene zu finden? - so lautet die grundsätzliche Frage des ärztlichen Denkens.“ 31 Die ärztliche Erkenntnis ist ein Weg, an dessen Ende etwas gefunden wird. Dabei wird man immer, wie f leck aus eigener Erfahrung wusste, auf die Wissensform der Intuition angewiesen sein. Wenn es aber keine Möglichkeit gibt, den konkreten Fall ohne wesentlichen Substanzverlust unter ein vorgängiges allgemeines Gesetz zu subsumieren, auf der anderen Seite jedoch nicht darauf verzichtet werden kann, im Handeln sich an allgemeinen Normen und Erkenntnissen zu orientieren, dann muss eine dritte Instanz aufgerufen werden, der sich der Praktiker anvertrauen kann. Diese Instanz ist eben das Urteilsvermögen. 6 In Situationen entwerfen: Vom Gebrauch zweier Vermögen Der Erwerb fremder Wohngeschichten ist eine wesentliche Auszeichnung des architektonischen Könnens. Dies ist überhaupt der Weg, wie der Architekt zu einem „rechten Maß“ kommen kann. Die rechte Aufnahme jenes Wohnen-wollens und Wohnen-könnens des Anderen wird nun selbst zum Maßstab des Könnens des Architekten. Dazu bedarf es allerdings einer Verständigung im Medium einer gemeinsamen Sprache. Wir können nämlich nicht davon ausgehen, „einer wüsste ohne weiteres, was ein anderer kann, ist er nur zugegen. Im Gegenteil, im Können, das zwei, die miteinander handeln, aktualisieren […] gibt es stets beides, ein Moment des miteinander Vertrautseins - wir machen ‚dasselbe‘ - und ein Moment des einander Fremdseins - was wir machen, ist ‚verschieden‘ -, und darüber bedarf es einer Verständigung.“ 32 Das Entwerfen besteht aus Konzept und Entwurf. Das Konzept gewinnt ein „Bild“ oder eine anschauliche Vorstellung von der Aufgabe aufgrund einer kommunikativen Einlassung auf fremde Wohngeschichten. Der Entwurf verknüpft das Konzept zu einem konkreten Bild (einer „räumlichen Figur“) unter Rückgriff auf das Einbildungsvermögen des Architekten. Hier stehen wir erst auf dem Boden, den der Architekt zu seiner Selbstbestimmung braucht. Er erfüllt seine Bestimmung jedoch nur in einem dialogischen Prozess mit dem Bauherrn, auf dessen Bedürfnis der Entwurf antwortet. Wenn dem nicht so wäre, könnte der Architekt gar nicht darüber „im Bilde sein“, um was es hier geht und was jetzt zu tun ist. Grundlage eines Dialogs ist die Zugehörigkeit beider Teilnehmer zur sprachlich erschlossenen gemeinsamen Welt, in der es Dinge wie Häuser, Wohnungen, Gärten, Entwürfe, Konzepte usw. gibt, die jedoch aus verschiedenen Perspektiven angesprochen werden. Demnach blicken Architekt und Fleck 98 c, 7, kursiv durch mich Lorenz 990, Architekturtheorie_Huter.indd 193 23.01.2008 15: 28: 19 Uhr <?page no="193"?> 8. Vorlesung 194 Bauherr auf unterschiedliche Erfahrungen zurück. Allein der dialogische Austauschprozess schafft die nötige Verständigung über die Inhalte des Entwurfs. Verbunden sind beide über gesellschaftliche Sozialisationserfahrungen sowie über die Erfahrung der menschlichen Grundsituationen des Entwerfens wie des Wohnens, getrennt durch die je individuellen Wohn- und Entwurfsgeschichten. Die Situation ist gegenseitig verschränkt. Der Architekt begreift sich auf der einen Seite als handlungskompetent hinsichtlich des architektonischen Entwerfens, aber als Nichtkönner hinsichtlich jenes konkreten Wohnens, für welches er zu entwerfen hat. Der Bauherr weiß sich hinsichtlich des konkreten architektonischen Entwerfens ohne Fertigkeiten, jedoch als Experte seiner Wohnerfahrungen. Beide kommen sie zusammen, um sich über ihre jeweiligen Handlungskompetenzen und Erfahrungen in einem Dialog auszutauschen und zu verständigen. Das Gespräch ist das gemeinsame Können aller mit sozialen Rede- und Handlungszusammenhängen vertrauten Menschen: „Die Vollzüge beider werden einerseits als jeweils verschiedene (subjektive) Perspektiven eines gemeinsamen (objektiven) Stücks Welt, eines buchstäblich ‚geteilten‘ Könnens, begriffen, andererseits aber in ihrer Verschiedenheit jeweils als ein Nichtkönnen dessen, was der andere kann, erlitten.“ 33 Zur Kompetenz des Architekten gehört es, beide Aspekte, das eigene Wissen (und Nichtwissen) und das Wissen (und Nichtwissen) des Anderen, zu kontrollieren. Das Entwerfen des Architekten muss Menschen, ihren Geschichten und Situationen gerecht werden, die entweder den Entwurf in Auftrag geben und/ oder das entworfene Werk „demnächst“ in Gebrauch nehmen werden. 3 Entwerfen besteht deshalb in nicht geringem Maß in der gezielten und wiederholten Herstellung von zwischenmenschlichen Situationen. Aber dazu muss das praktische Urteilsvermögen eingesetzt werden, da nur unter seinem Gebrauch die besondere Qualität der individuellen Wirklichkeit verstanden und erkannt werden kann. Der Architekt sieht sich, sobald er das Werk des Entwerfens beginnt, z.B. mit Menschen konfrontiert, deren Wohnen infrage steht. Ein architektonisches Werk entwerfen bedeutet: für Menschen, ihre Wünsche und Überzeugungen entwerfen. Davon sollte sich der Architekt in seinem Tun leiten lassen. Das sollte ihn in Bewegung setzen. Denn die Aufnahme von Rede- und Handlungsbeziehungen führt den Entwerfer weg von seiner speziellen Architektenwelt, jetzt bewegt er sich mitten in der „Wohn- Welt“ des Bauherrn, die er sich intersubjektiv erschlossen hat. Sie wird Teil der eigenen Welt. Denn nur wer als Architekt „selbst“ erfahren hat, für welches Wohnen oder welche Orientierungsnot der Entwurf benötigt wird und A.a.O., 06 Vgl. dazu die einschlägigen Erfahrungen und konstruktiven Schlussfolgerungen des Architekten Jonas Olfe (Olfe 00 ). Er weist vor allem auch auf das kommunikative Element im Handeln des Architekten hin. Architekturtheorie_Huter.indd 194 23.01.2008 15: 28: 19 Uhr <?page no="194"?> Das Entwerfen 195 eine Lösung sein soll, kann seinen Entwurf verantworten. 35 Denn Wohnen und Entwerfen gehören zusammen wie Frage und Antwort. Der Entwurf ist nämlich auch die Antwort auf die Frage: Wie wohne ich, damit mein Wohnen gelingt? Das „Wissen, wie …“ beschreibt ein wesentliches Kompetenzfeld des Architekten. Und verantwortliches Handeln, das sich dem Umgang mit dieser Frage bewusst stellt, ist eine genuine Aufgabe der praktischen Intelligenz und ihres Urteilsvermögens. k ant nannte den Mangel an Urteilskraft „Dummheit“. Die Urteilskraft ist eng mit dem verbunden, was man auch dem „gesunden Menschenverstand“ als sein positives Merkmal zuschreibt. Es ist nämlich sein untrügliches Kennzeichen, dass derjenige, der ihn besitzt, auch im Besitz von Urteilsvermögen ist. Der Sensus communis oder common sense zeichnet denjenigen aus, der das, was er allgemein gelernt hat, auch auf den besonderen Einzelfall anwenden kann. Dieser „gemeine Sinn“ kann indes nicht als Vorstufe zum wissenschaftlichen Verstand betrachtet werden, da er so seine spezifische Eigenart und Selbständigkeit einbüßen würde. Dieses Vermögen, angemessen zu urteilen, kann selbst nicht wie eine generelle Regel gelernt werden, sondern muss immer wieder in der Praxis an Beispiel-Fällen geübt und ausprobiert werden. Wollte man dieses Können auf eine lehr- und lernbare Regel zurückführen, so müsste für die richtige Anwendung dieser entsprechenden Regel wieder eine Urteilskraft benötigt werden, was zu keinem Ende käme. Wir haben das Urteilsvermögen schon kennengelernt, als wir den Zusammenhang von Prinzip und Beispiel in der 1. Vorlesung diskutierten. Dabei ging es uns nicht um das Verhältnis von Fall und Gesetz, wie es der Naturwissenschaftler bearbeitet. Gegenstände des praktischen Urteilsvermögens können Dinge, Sachverhalte, Handlungen und Situationen sein, die hinsichtlich ihrer Lebensdienlichkeit für den Urteilenden sowie ihrer moralischen und ästhetischen Qualitäten begutachtet werden. Das Urteilsvermögen ist die durch Übung gewonnene Disposition, eine Übereinstimmung in vielen Einzelheiten zu erkennen, ohne das Einzelne auf ein abstraktes Allgemeines zu beziehen. Die Beurteilung wird also nicht durch Blicknahme auf allseitige Gesichtspunkte angestellt, sondern unter Berücksichtigung dessen, worauf es hier und jetzt anzukommen hat. Dieses Vermögen steht in einem engen Zusammenhang mit dem Besitz dessen, was man „guten Geschmack“ nennt. Vor allem in die Ästhetik spielt das „Geschmacksurteil“ oder das ästhetische Urteilsvermögen hinein, nämlich die Schönheiten der Dinge sinnlich zu erkennen. „Sinnlich“ heißt nun, das Erkennen lässt sich nicht von 5 Der Soziologe Oliver Schmidtke spricht von einer „Autonomiekrise“, insofern das Wohnen aus Routine unterbrochen wurde. Der Architekt erscheint nun als der „professionalisierte Dienstleister“, der zur Krisenlösung herbeigerufen wird, vgl. Schmidtke 007. Siehe ausführlich auch Schmidtke 006. Architekturtheorie_Huter.indd 195 23.01.2008 15: 28: 19 Uhr <?page no="195"?> 8. Vorlesung 196 dem konkreten Anblick, an dem es sich vollzieht, lösen. Ästhetische Urteilskraft liegt dann z. B. in der Orientierung vor, im Bereich des Schönen das Exemplarische zu erkennen. Wer dies an Beispielen gelernt hat und nun dieses Vermögen im architektonischen Entwerfen anwendet, urteilt nicht nach einem fertig feststehenden Maßstab; vielmehr bestimmt er beiläufig das „konkrete Allgemeine“, fügt ihm ein weiteres Beispiel hinzu. Dies tut im Übrigen auch der Architekt, wenn sein Entwurf den „Geschmack der Zeit“ trifft. Damit unterstellt er sich nicht der Normativität einer flüchtigen Mode. Es geht auch nicht darum, sich selbst oder seine privaten Vorlieben ins Werk zu setzen, sondern sich an einem gesellschaftlichen Phänomen, dem „guten Geschmack“, zu orientieren. Man kann seinen Geschmack aber nur an einzelnen, beispielhaften oder exemplarischen Produkten bilden, da ein allgemeingültiges, begründbares Prinzip gar nicht konkret vorliegt. Der ästhetische Stümper hat nicht einen schlechten Geschmack, sondern keinen Geschmack. „Guter Geschmack ist eine Empfindlichkeit, die alles Auffällige so naturhaft meidet, daß seine Reaktion dem, der keinen Geschmack hat, schlechthin unverständlich ist.“ 36 Es reicht also nicht aus, etwas aus einer allgemeinen Begrifflichkeit erklären zu können. Es bedarf der praktischen Urteilskraft oder des produktiven Verstandes, um den vorliegenden konkreten Fall richtig einzuordnen. Erst die Bestimmung des Beispiels bedeutet eine effektive Ergänzung unseres Wissens. Der konkrete Entwurfsfall ist immer mehr als der Fall einer allgemeinen (Entwurfs-)Regel. Ihn ästhetisch zu bestimmen, bedeutet gerade ihn als individuellen oder besonderen Fall zu sehen. Dies ist kein logisches Vermögen, sondern ein sinnliches. Das kritische Urteilsvermögen, das im Entwurfsprozess zur Geltung zu kommen hat, urteilt in freier Selbstverantwortung, inwiefern und auf welche Weise das prinzipiell als gut, richtig und schön Gewusste einen weiteren Anwendungsfall gefunden hat. Die gekonnte Begutachtung des Falls wendet nicht einfach den Urteilsmaßstab des Allgemeinen an, leitet nicht das Niedere vom Höheren ab, sondern bestimmt diesen selbst mit, ergänzt oder berichtigt ihn auch notfalls. „Konstruktiver Verstand oder Bildungskraft bei der Entwicklung neuer Gestaltungen und Formen ist in gewissem Sinn noch Teil der technischen Kompetenz des Architekten […] Dabei weist der fast synonym zu ‚Einbildungskraft‘ gebrauchte Ausdruck ‚Phantasie‘ (per Konnotation) darauf hin, daß der produktive Verstand gerade nicht schematisch vorgehen kann, sondern eher auf einen teils ‚spielerischen‘, teils diszipliniert-kontrollierenden Umgang mit ‚Einfällen‘ angewiesen ist.“ 37 Damit sind wir beim Einbildungsvermögen angelangt als einer weiteren Auszeichnung des Könnens des Architekten. Die Geisteswissenschaften 6 Gadamer 986, 7 Stekeler-Weithofer 995, 69 Architekturtheorie_Huter.indd 196 23.01.2008 15: 28: 19 Uhr <?page no="196"?> Das Entwerfen 197 zeichnete stets ein ambivalenter Umgang mit der Phantasie aus. Diese spielte oftmals die Rolle eines bloß niederen Erkenntnisvermögens. Für k ant gilt sie mit Rücksicht auf die Bedingungen von Erkenntnis überhaupt als die dunkle, aber die höchste, d.h. unüberbietbare menschliche Kraft der Erfahrung. k ant hat aber Zeit seines Lebens geschwankt, ob zwei (Sinnlichkeit und Verstand) oder drei (zusätzlich Einbildungskraft) Erkenntnisquellen anzunehmen seien. Für Wilhelm s zilasi ist das Einbildungsvermögen in der Hauptsache kein Untervermögen des nach Regeln verfahrenden Verstandes, sondern das mit dem Leben identische orientiert oder eben: „im Bilde“ Sein. Die menschliche Einbildungskraft ist das Vermögen, sich ein (anschauliches) Bild zu machen und zugleich die Bildwandlungsmöglichkeit zu sehen. Auf das Entwerfen bezogen heißt dies: Die Einbildungskraft macht sich ein Bild von der Wohnsituation und bildet dieses Bild weiter, führt es fort, indem das Wohnliche neu gefügt wird. Das Einbildungsvermögen schafft (entwirft) ein neues, dem Gewohnten verwandtes Bild. So kommt Bild zu Bild und reiht sich in die historische Folge der Bilder ein. Der Entwurf bewerkstelligt eine Metamorphose, einen Gestaltwandel. Bei Bild wie Gestalt kommt es darauf an, etwas in sich Stimmiges, Ganzes entstehen zu lassen. Gestalten werden geschaffen, ihr Ziel ist aber das „Charakterbild“. Es muss stimmig sein! Bilder sind erinnert, nicht allein vorwegnehmend, am Bild vom Menschen, seinen Haltungen, seinem Lebensstil. Gerade darin, in ihrer Stilgemäßheit, sind Bilder öffentlich-gemeinschaftlich. Keine Frage, dass hier u.a. auch Intuition und Schöpferkraft im Spiel sind und Anwendung finden. Der Architekt Rudolf s chWarz spricht von „Dichtung“. Er denkt das architektonische Gestalten (Bilden) als ein Dichten im Gleichklang mit der Natur: „alles Geschaffene durchlebt die immer gleich gebaute Folge der Gestalten. Diese Übereinstimmung verbürgt, daß die Schöpfung eine gemeinsame Geschichte haben kann. [...] Der Natur gelingt die große Übereinstimmung immerfort, sie quillt in Gestalten, die sich zu immer neuen Gestalten vereinbaren, der Mensch muß die Übereinstimmung schaffen, und sie wird ihm zur Dichtung. [...] Große Dichtung ist da zu tun, daß all diese vielerlei Räume zu einer gemeinsamen Form übereinkommen. Ein äußerster Fall wäre ihre völlige Einhelligkeit. Der Pflanze gelingt sie, im menschlichen Werk ist sie selten, aber diese völlig ineinander geraumten Räume müssen, wenn nicht einhellig, so doch vielstimmig ineinander gedichtet sein.“ 3 Bei s chWarz finden wir den g oethe ’schen Gedanken der Metamorphose, des Wandels von Gestalten. Das gewonnene Voll-Bild ist die eigentlich produktive Entwurfsleistung, seine Umsetzung in flächige Pläne und Risse nur die notwendige Konsequenz, die sich aus der Beherrschung des drei- 8 Schwarz 960, 9 Architekturtheorie_Huter.indd 197 23.01.2008 15: 28: 19 Uhr <?page no="197"?> 8. Vorlesung 198 dimensionalen Ortsraums und seiner Veränderung ergibt. Mit Hans J onas können wir sagen, dass das Einbildungsvermögen das Prinzipielle (hier: Gestalten des Wohnlichen und Haushaften) mit der konkreten Wohnkonzeption (gleichsam dem Lebens-Motto einer individuellen Wohngeschichte) verknüpft. Es kommt darauf an, in bestimmten Hinsichten etwa auf Gebäude eine Ähnlichkeit zu erinnern, nämlich das, was sie alle z. B. zu gelungenen Beispielen von Wohnhäusern macht, und dies Gemeinsame bzw. Ähnliche als Gestalt vorzustellen. Der Architekt entwirft, unter Rückgriff auf das Vermögen der Einbildungskraft, nach der „allgemeinen, eingebildeten“ Gestalt, die er erinnert, das konkrete Haus. Dies ist ein weiteres Beispiel für das Prinzip des Hausartigen, des Wohnlichen. Es steht in einer analogischen Beziehung der Ähnlichkeit zu den anderen Fällen der Reihe. In ihm ist jenes allgemein bekannte und geläufige Bild auf eine neue Weise ausdrücklich gemacht. Mit einem treffenden Wort spricht Thomas W ill (*1951) von der „poetischen Neuinterpretation gewohnter Zustände“ 39 . So werden auch die künftigen Nutzer in dem Hergestellten Ähnlichkeiten entdecken, die sie „immer schon“ als Bilder vom gelungenen Wohnen kennen bzw. erinnern. Wie zentral das Bildmachen, das auch im Entwerfen des Architekten zum Ausdruck kommt, für den Menschen ist, weist J onas auf, wenn er das Bild- Vermögen in die menschlichen Bemühungen um Wahrheit einreiht. 0 7 Erfahrung über Wohnen Mit welchem Wissen wird der Entwerfer konfrontiert, wenn er sich den Wohnerfahrungen stellt? Der Architekt soll über das Wohnen als Ganzes unterrichtet sein, der einzelne Bewohner weiß von seinem eigenen Wohnen zu berichten. Beide sind zweifellos Sachkundige eines bestimmten Wirklichkeitsbereichs und geben echte Beispiele dieses Wissens ab. Sie sind im Besitz des fraglichen Wissens, das aber als Erfahrung in einer Form vorliegt, die als solche gar nicht mitteilungsfähig ist. Das eigentliche Erfahrungswissen lässt sich nicht in Gestalt von Sätzen ausdrücken. Es ist ja ein Können, mit der „Sache des Wohnens“ auf eine „geübte“ und „angepasste“ Weise umzugehen. Die Wohnkundigen haben ihr Wissen dadurch erworben, dass sie sozusagen am eigenen Leib ihre Erfahrungen gemacht haben. Wenn sie jedoch von diesen Erfahrungen berichten, dann äußern sie eine Meinung über diese eigenen Erfahrungen. Sie deuten ihre Erfahrung im Medium der Sprache. Deshalb hat W ielanD Recht, wenn er das außersprachliche „leibliche“ Erfahrungswissen („Können“) von den sachkundigen Beschreibungen, die wir über diese gemachten Erfahrungen liefern, unterscheidet: „Diese Erfah- 9 Will 998/ 99 0 Jonas 99 , 9 Architekturtheorie_Huter.indd 198 23.01.2008 15: 28: 20 Uhr <?page no="198"?> Das Entwerfen 199 rungen befähigen sie beispielsweise, über Gegenstände ihres Erfahrungsbereichs in Gestalt von Aussagen richtige Meinungen mitzuteilen und zu begründen. Die Erfahrung selbst ist aber von anderer Struktur als die Summe der richtigen Aussagen, die auf ihrer Grundlage mitgeteilt und begründet werden können.“ 1 Der Ort des Wissens, so W ielanD , liegt nicht in den Sätzen, denen wir zuhören. Er ist in der vorsprachlichen Struktur der Erfahrung zu suchen. Wohnend wenden sie ihr Erfahrungswissen an und überprüfen es so. Die Grenzen der Mitteilbarkeit von Erfahrungen bestehen ebenfalls entlang der sprachlichen Natur des Mitgeteilten. Der Architekt kann und muss diese richtigen Meinungen, die in Sätzen und Geschichten ausgedrückt werden, zur Kenntnis nehmen und sie sich eine Lehre sein lassen. Er kann sich aber nicht von diesen als Erfahrende vertreten lassen. Eine Erfahrung kann nur jeder selbst machen. Die Bewohner sind auf dem Gebiet des Wohnens Wissende und Meinende zugleich. Nur lässt sich ihr „am eigenen Leib gemachtes“ Wissen nicht unmittelbar in Worten darstellen. Auf der anderen Seite dürfen wir dieses Erfahrungswissen auf keinen Fall in seiner Bedeutung unterschätzen. Es bedeutet nämlich eine Disposition des praktischen Umgangs mit den Dingen unserer Welt. Meinungen können wir negieren und uns leicht von ihnen distanzieren. Dies gelingt jedoch nicht von unserem Erfahrungswissen. Das entsprechende Wohnwissen ist immer auch ein Gebrauchswissen hinsichtlich der architektonischen Elemente. Es resultiert aus einer besonderen Form der Vertrautheit mit den Dingen. Dass man über entsprechende Vertrautheit verfügt, zeigt sich in der Fähigkeit, auf angemessene Weise mit den Gebrauchsdingen umzugehen, nicht im Besitz von Auffassungen über sie zu sein. P laton war davon überzeugt, dass nicht der Hersteller von Gebrauchsdingen, sondern nur der die Dinge Gebrauchende „über ein auf diese Sache bezogenes adäquates Wissen im strengen Sinnes des Wortes (verfügt).“ 2 Der Inhaber von Gebrauchswissen ist dem von Herstellungswissen überlegen. Dies wusste auch Adolf l oos : „Ich behaupte, daß der Gebrauch die Form der Kultur ist, die Form, welche die Gegenstände macht … Wir sitzen nicht auf diese oder jene Weise, weil ein Tischler einen Stuhl auf diese oder eine Weise gemacht hat, eher macht ein Tischler einen Stuhl, wie er ihn macht, weil jemand auf diese Weise sitzen möchte.“ 3 Im Begriff des „Stils“ (oder Lebensstils) war für l oos dieses Erfahrungswissen gebündelt und anschaulich. Der Hersteller von Gebrauchsdingen muss sich den Anweisungen dessen fügen, der über Gebrauchswissen verfügt. Freilich verfügt er selbst auch über Gebrauchswissen, nämlich wie mit seinen Werkzeugen sachgerecht umzugehen ist. Er kann beurteilen, ob die zu gebrauchende Sache gut oder schlecht hergestellt ist. Zu seinem Wissen gehört jedoch Wieland 98 , 9 A.a.O., 9 Loos zitiert nach Janik/ Toulmin 998, 7 Architekturtheorie_Huter.indd 199 23.01.2008 15: 28: 20 Uhr <?page no="199"?> 8. Vorlesung 200 nicht die Beurteilung über die Güte des Gebrauchs. Ohne Zweifel orientiert sich l oos , wenn er vom Wissen und Können des Architekten spricht, an den Fertigkeiten und Kompetenzen des Baumeisters oder Handwerkers. Ihn zeichnen Wissen und Meinungen aus. Aber es wäre falsch anzunehmen, dass eine Anhäufung von Meinungen sich zum echten Wissen qualifizieren könnte. „Selbst noch so viele richtige Meinungen über ein Ding geben seinem Hersteller noch nicht die Fähigkeit, mit ihm richtig umzugehen.“ 5 Das einschlägige Gebrauchswissen, das den Umgang mit Architektur leitet, ist durch nichts zu ersetzen oder auszugleichen. „Für den Herstellenden mag es genügen, im Besitz hinreichend vieler wahrer Meinungen darüber zu sein, was der Fall sein muß, wenn das Resultat seiner Arbeit brauchbar sein soll.“ Aber dieses Streben nach wahren Meinungen, also nach Mitteilungen über gelingendes Wohnen und Wohnerfahrungen, muss er sich für sein Entwerfen immer neu erschließen. Das Gelingen des Wohnens (und damit des Lebens als Ganzes) ist der Orientierungspunkt, an dem sich der Wohnende fraglos ausrichtet, wenn er die Güte der Gebrauchsdinge, so wie er sie erfahren hat, beurteilt. Das Gelingen ist damit die Konstante, die nicht nur dem Umgang mit den einzelnen Architekturelementen Orientierung und Maß gibt, sondern dem Wohnen insgesamt. W ielanD nennt diesen Bezug, der sich jeden Tag neu aktualisieren mag, das Zusammenhängende allen Gebrauchswissens: „Daher kann man sogar den Besitz von Gebrauchswissen geradezu durch die Fähigkeit charakterisieren, sich stets auf verlässliche Weise an einer solchen Konstante zu orientieren, auch wenn diese Konstante niemals direkt intendiert wird.“ 6 Die Architekturtheorie ist jedoch dazu verpflichtet, da es ihr um Orientierung im Handeln geht, das Stetige dieses Wissen zu reflektieren. Der Inhaber von Gebrauchswissen tut dies in der Regel nicht. Er verspürt das Gelingen oder Misslingen des Wohnens in der Befriedigung von Bedürfnissen oder in ihrer Versagung. 7 Da das eigene konkrete Wohnen sich kontinuierlich wandelt und sich die konkreten Lebensziele verschieben, bedarf es der ständigen Aktualisierung von Gebrauchswissen. Man kann als Architekt von seiner Urteilskraft und seinem Einbildungsvermögen mehr oder weniger kreativ Gebrauch machen. Ludwik f leck spricht hinsichtlich des ärztlichen Denkstils von einem Faktor, der von der Logik nicht fassbar sei: die „spezifische Intuition“, die z. B. beim Stellen der Der Dresdner Architekt und Architekturwissenschaftler Thomas Will sieht zwei gegensätzliche Aspekte des Entwerfens: „einmal der Entwurf als Handwerk, als geduldiges Arbeiten in einer sinnvollen Tradition von fachlichen Erfahrungen und Errungenschaften, als Einordnen auch in die kollektiven Regeln der Nachbarschaft“. Einen dazu konträren Aspekt erblickt Will im „Entwurf als Feld der Innovation, der Phantasie, der kritischen oder poetischen Neuinterpretation gewohnter Zustände“ (Will 998/ 99). 5 Wieland 98 , 95 6 A.a.O. 7 Wir erinnern uns an das Zitat einer Bewohnerin aus dem Märkischen Viertel in Berlin, vgl. unsere . Vorlesung 8 Vgl. auch Hans Joas, Die Kreativität des Handelns. Frankfurt 996. Architekturtheorie_Huter.indd 200 23.01.2008 15: 28: 20 Uhr <?page no="200"?> Das Entwerfen 201 Diagnose eine besondere Rolle spielt: „Gerade die besten Diagnostiker sind am häufigsten nicht imstande, konkret anzugeben, wonach sie sich in der Diagnose gerichtet haben, wenn sie nur erklären, daß das ganze Aussehen typisch für den und den Krankheitsfall ist“. 9 Immer jedoch kommt es auf das Können an, mit einer architektonischen Konzeption das Wirkliche zu treffen. Diese „Kunst“, die im Treffen liegt, muss als eine Kunstfertigkeit unablässig geübt werden. Zumindest besteht eine Beziehung zwischen dem jeweiligen Gebrauch der „architektonischen“ Urteilsbzw. Einbildungskraft auf der einen Seite und der Erfahrenheit („Treffsicherheit“) des Architekten auf der anderen Seite. Die praktische Intelligenz stellt sich hier als eine unstrittige menschliche Tugend heraus, das eigene Tun und Lassen „nach Gründen“ (für sich und andere ebenso vernünftige Wesen) nachvollziehbar zu gestalten. 8 Entwurf als konkrete Theorie Den architektonischen Entwurf mit Theorie in Verbindung zu bringen, setzt ein Verständnis von Erkenntnis voraus, in dem analogische und praktische Formen des Wissens ihren lebensweltlich-pragmatischen Ort bekommen. Wir teilen damit das „Interesse an einer übergreifenden Theorie des Erkennens, in der auch solche Erkenntnisformen Berücksichtigung finden, die nicht auf proportionale Erkenntnis, also auf die Anerkennung von Aussagen als wahr oder falsch, zurückgeführt werden können“ 50 . Der Entwurf, wie ihn praktische Intelligenz, Urteilskraft und Einbildungsvermögen hervorbringen, lässt sich durchaus als eine Theorie begreifen. 51 Was ist damit gemeint? Die Vermögen, die das Entwerfen des Architekten ausmachen, dienen dem Ziel, eine Wahrheit zu entdecken. Die Wahrheit, für die ein Entwurf steht, beruht, so die jetzt zu verfolgende These, auf der Aufstellung einer Theorie. Wer eine Theorie besitzt, hat sein Ziel erreicht. „Eine Theorie aufstellen heißt: reisen; eine Theorie haben heißt: am Bestimmungsort sein.“ 52 Der Tätigkeit des Entwerfens entspricht die des Findens und Aufstellens einer Theorie. Wer im Besitz einer Theorie ist, kann sie formulieren, mitteilen und anwenden. Haben wir zuvor vom Entwerfen als Forschungsprozess gesprochen, so ist es nur folgerichtig, das Ziel der Erkenntnisleistung im Erwerb und 9 Fleck a.a.O., 9 und 0. 50 G. Gabriel a.a.O., 78; vgl. zur Geschichte einer an der technischen Praxis orientierten Erkenntnisansprüche: Hänseroth/ Mauersberger, Der Anteil von Baulehren und Maschinenbüchern an der Ausformung einer Ikonographie der Technik in der frühen Neuzeit, 006. Zur Thematik der „intuitiven“ Erkenntnis bei Ingenieuren allgemein: Ferguson, Das innere Auge. Von der Kunst des Ingenieurs, 99 5 Jedenfalls in dem Sinne wie Gilbert Ryle das Aufstellen einer Theorie beschreibt. Zum folgenden vgl. Ryle: Der Begriff des Geistes, Kap. 9/ : „Theorien aufstellen, haben und anwenden“, 9 ff. 5 A.a.O., 9 Architekturtheorie_Huter.indd 201 23.01.2008 15: 28: 20 Uhr <?page no="201"?> 8. Vorlesung 202 Besitz einer Theorie zu sehen. Diese artikulieren können heißt in der Lage sein, „jedermann eine gute Antwort zu geben […] worin die Theorie besteht, d.h. mündlich oder schriftlich eine verständliche Fassung der Schlußfolgerungen der Theorie abzugeben sowie der Probleme, die sie löst“. 53 Der Entwurf muss in seiner Präsentation sichtbar machen, welche Erkenntnisfrage er identifiziert hat. Es ist oft auf Plänen gar nicht mehr zu sehen, dass zuvor Probleme identifiziert, interpretiert und Alternativen verworfen werden mussten, bevor die Aufgabe gelöst werden konnte. Vom Gebrauch intuitiver oder logischer Schlussverfahren finden sich darin oftmals keine oder allenfalls rudimentäre Spuren. Vor allem aber der Auftraggeber eines Entwurfs ist an einer guten Antwort interessiert. Ob das präsentierte Ergebnis eine solche tatsächlich ist, kann nur beurteilt werden, wenn es kommunikativ einsichtig wird, auf welche konkrete Frage und auf welches konkrete Problem denn geantwortet und eine Lösung gefunden wurde. Eine Theorie oder eben auch ein Entwurf bestehen aus der Interpretation der Fragestellung und der darauf passenden Antwort. Beide sind dann schlüssig und überzeugend, wenn jeder intelligente Mensch sie im Ganzen nachvollziehen und selbst erwerben, nämlich sie sich zueigen machen kann. Im Unterschied zu den allgemeinen Theorien, die in den exakten Wissenschaften aufgestellt werden und gesetzartige Verwendung finden, ist die Theorie, die der Entwurf (einschließlich aller Erläuterungen) zum Ausdruck bringt, konkret. Konkret heißt: Ihr „Anwendungsfall“ ist einmalig, da er die besondere Situation, den besonderen Zweck und die besondere Umgebung des Einzelfalls berücksichtigt, die sich nicht wiederholen können. Für den architektonischen Entwurf bedeutet dies, dass dieser nur in einem Verhältnis der Ähnlichkeit oder Analogie, nicht der Gleichheit oder Identität zu anderen Entwürfen stehen kann: „Denn jeder Fall liegt anders. Es gibt keine reinen, sondern immer nur irgendwie ausgefallene Fälle“. 5 Jeder Entwurf ist darüber hinaus zukünftig: denn dem Architekten steht die konkrete Theorie für den besonderen Fall noch nicht zur Verfügung, er will sie sich ja erst im Entwerfen erarbeiten. Entwerfen ist demnach kein Ableiten aus einer bereits zur Verfügung stehenden Theorie, denn dazu müsste die passende Theorie schon fertig vorliegen. Der Entwurf beschreibt (und fasst zusammen) vielmehr den Prozess, der zur Entdeckung der angemessenen konkreten Theorie geführt hat. Dieser Prozess ist der Weg von Bekanntem zu Neuem. Dazu gehören genuin wissenschaftliche Kompetenzen wie Begriffsgebrauch, das Erkennen von Kausalbeziehungen, Urteilfällen, Schlüsseziehen und Erkenntnisse generieren. Der architektonische Entwurf ist dann die gesuchte Theorie! Und der Architekt erwirbt diese Theorie, indem er sie aufstellt. Eine konkrete Theorie, wie die im Entwurf gewonnene, 5 A.a.O., 9 5 Lipps 976, 55. Architekturtheorie_Huter.indd 202 23.01.2008 15: 28: 21 Uhr <?page no="202"?> Das Entwerfen 203 anwenden, heißt nichts anderes, als den Entwurf umsetzen, ihn „bauen“. Damit wird klar, dass das architektonische Handeln nicht lediglich ein von außen zur Verfügung gestelltes, vorgängig verfasstes generelles Wissen bestehend aus allgemeinen Theorien anwendet, sondern dass die gefundene konkrete Theorie des Architekten ihre Bewahrheitung in der Praxis des Wohnens findet. An dieser Stelle mag noch einmal die Analogie zum Arzt und Richter nützlich sein. Das Urteil wie die Diagnose müssen dem konkreten Einzelfall, der vorliegt, angemessen sein. Sie werden hier und jetzt verkündet bzw. gestellt. Sie sind konkrete Theorien, die nur in der zukünftigen praktischen Umsetzung und Befolgung der Konsequenzen zur Lösung oder Behandlung des besonderen Falles führen. Ihre Beziehung zu den allgemeinen Theorien der Gesetzgebung und der medizinischen Indikation sind niemals subsumtions-logisch. Vielmehr verhalten sie sich zueinander situations-logisch wie Prinzip und Beispiel. 55 Der architektonische Entwurfsprozess dient der Generierung und Entdeckung dieser konkreten Theorie. Diese steht nicht am Anfang des architektonischen Entwurfshandelns, sondern an dessen Ende. Die spezifische Leistung des Architekten hinsichtlich der hier betrachteten Typik des Entwurfshandelns setzt den gekonnten Umgang mit naturwissenschaftlichen Theorien der Statik, der Tragwerkskonstruktionen, der Materialität der Baustoffe usw. voraus. Der Entwerfer muss sich also in einem bestimmten architekturspezifischen System von bau-relevanten theoretischen Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten gut auskennen. Dazu gehören einschlägige ökonomische ebenso wie psychologische und soziologische Erkenntnisse. Dank der Urteilskraft des Architekten kann der individuelle Fall unter diesen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten betrachtet werden. Aber es besteht eben nicht allein diese Bindung des architektonischen Wissens an schon bereitstehende theoretische Aussagen, sondern der Entwerfer muss immer dafür Sorge tragen, dass dem individuellen Einzelfall die ihm zukommende konkrete Angemessenheit widerfährt! Diese durch die praktische Urteilskraft bestimmte Angemessenheit kann selbst nicht durch Rückgriff auf einen Ableitungsmechanismus verwirklicht werden. Es gibt nämlich an diesem entscheidenden Punkt des Einsatzes der Urteilskraft des Architekten keine situationsüberlegene Gültigkeit allgemeiner Aussagen und Behauptungen. An diesem zentralen Punkt des Entwerfens werden Intuition, Kreativität und die Kunst des „Augenmaßes“ eingefordert, den besonderen Fall in der Gesamtheit seiner architektonisch-relevanten Verflechtungen zu erfassen und dementsprechend die seiner Eigenart zuträgliche architektonische Antwort zu geben. Und zu diesen im Entwerfen relevant werdenden Verflechtungen gehören mit an erster Stelle jene Kenntnisse des architektonischen Verhaltens, auf die in den anderen Vorlesungen hingewiesen werden konnte. Natürlich 55 Vgl. dazu die einschlägigen Untersuchungen in Buck 989 Architekturtheorie_Huter.indd 203 23.01.2008 15: 28: 21 Uhr <?page no="203"?> 8. Vorlesung 204 deutet dieses Verständnis von Entwerfen auf eine wissenschaftliche Bildung des Architekten hin, die sich zuvörderst an einer hermeneutischen Logik des Einzelfalls zu orientieren haben wird. Dabei muss uns aber klar sein, dass etwa der Gebrauch der Urteilskraft sowie des Einbildungsvermögens nicht gelehrt werden kann, da der persönliche Erwerb und Gebrauch von Dispositionen gar nicht einer Regel, die ja wieder allgemein gültig sein müsste, unterstellt werden kann. Vielmehr muss man z. B. Studenten der Architektur praktischen Entwurfs-Situationen aussetzen, in denen nur einsichtig werden kann, dass zur Lösung solcher Situationen eine Kompetenz gehört, die immer wieder geübt, ausprobiert und verfeinert werden muss. 56 Der architektonische Entwurf ist die konkrete Theorie für eine besondere Situation. Da jeder Praxisfall anders liegt, besteht die wissenschaftliche Aufgabe des Architekten darin, Theorien zu erwerben, die es noch nicht gibt. Ihr Ziel ist die Umsetzung von etwas, was auf eine systematische Untersuchung dieser besonderen Situation zurückgeht. In der Regel erheben sich in diesem Prozess an verschiedenen Stellen, die jedoch nicht vorhersehbar sind, auch Fragen zu externen Theorien, die herbeigezogen werden können, um ein „spontan“ aufgetretenes Problem in Griff zu bekommen. Aber die Anwendung einer externen Theorie führt niemals zu konkreten Lösungen des bestimmten Entwurfshandelns. Das Lösungskonzept für den konkreten Fall ist einer allgemeinen Theorie grundsätzlich unverfügbar. Der vorliegende Fall kann nicht in einer allgemeinen Theorie, die ja gerade dem individuellen Kontext der Wirklichkeit entrückt ist, schon enthalten oder auch nur vorgesehen sein. Der Entwurf ist die Lösung, zu der die systematische Untersuchung nur dann kommen kann, wenn sie die besondere Situation der Entwurfsaufgabe berücksichtigt. „Die Handhabung der Urteilskraft [...] weist die spezifische Eigenart auf, daß das unter den allgemeinen Begriff zu Subsummierende die besondere Qualität der individuellen Wirklichkeit hat, die nur von demjenigen auch begrifflich in der rechten Weise behandelt wird, der ein Können im Gebrauch der Urteilskraft besitzt“. 57 Das Herausfordernde einer konkreten Theorie besteht darin, dass es sie erst dann gibt, wenn sie für den besonderen Einzelfall aufgestellt ist und als solche vorliegt. Insofern erwirbt der Architekt die konkrete Theorie „im Augenblick“ ihrer Entdeckung. Dieser konkreten Theorie geht es nicht darum, als Gesetz etwas „mechanisch“ bewirken zu wollen, sondern dem entdeckten „Charakterbild“ des Einzelfalls angemessen zu sein. Sie entsteht erst im Entwurfshandeln des Architekten. Entwerfen und das Aufstellen einer konkreten Theorie sind im 56 Vgl. dazu Pahl/ Vosskötter 00 . Dort wird von einem gemeinsam von den Professuren Architekturtheorie und Raumgestaltung der Fakultät Architektur der TU Dresden durchgeführten Lehrprojekt berichtet. Das Besondere dieser Lehrveranstaltung lag in der Konfrontation der Studierenden mit „ihren“ Bauherren, deren Wohnsituation sie in einem „Bauherrngespräch“ erkunden sollten. Erst daraufhin konnte das zeichnerisch-figürliche Entwerfen von Einfamilienhäusern beginnen. 57 Kaulbach a.a.O., 60. Hvhg. durch mich Architekturtheorie_Huter.indd 204 23.01.2008 15: 28: 21 Uhr <?page no="204"?> Das Entwerfen 205 Grunde eine Tätigkeit, die das praktische Handeln des Architekten als eine wissenschaftlich-erfindende, d.h. im Fall des Entwerfens: eine konkrete Theorie generierende Tätigkeit ausweist. Die investierte Bildungs- und Formkraft versammelt das Mannigfache zur Einheit des Entwurfs - freilich nicht wie die theoretischen Wissenschaften als unanschaulicher Begriff, sondern als bewohnbares Bild. Architekturtheorie_Huter.indd 205 23.01.2008 15: 28: 21 Uhr <?page no="205"?> 9. Vorlesung Ästhetische Wirkung und architektonische Erfahrung „Die Erfahrung ist von Anfang an auf die Sache gerichtet. Aber sie lernt ständig aus sich selbst. Was sie lernt, ist die Angemessenheit, die sie in ständiger Bemühung um die Sache aus der Sache gewinnt.“ Das Wohnen und Entwerfen misst sich an den Sachen und Aufgaben der Architektur und des Gebauten. Den Grund der Sachangemessenheit kann die Erfahrung selbst nicht einsehen, denn sie bleibt dem Praktisch-pragmatischen verhaftet. Es ist Aufgabe der Architekturtheorie, den offensichtlichen Ertrag der Angemessenheit nachvollziehbar zu machen. 1 Erfahren und Erfahrung „Jedes menschliche Wissen ist Erfahrung.“ 2 Zwar wird das Verb „erfahren“ auch im Sinne des bloßen Gewahrens und Vernehmens der Dinge gebraucht, ohne dass ein Fahren und Forschen vorausging, aber weit öfter meinen wir damit Geschehen wie Sachen und Dinge erfahren, erforschen und erkunden, Situationen und Widerfahrnisse, die mit einer räumlichen Bewegung verbunden sind. Erfahrungen machen wir selten daheim in der Stube. Warum? Weil wir hier schon alles kennen, uns alles bekannt und vertraut ist. Deshalb sagt das Deutsche Wörterbuch auch zum Gebrauch von „erfahren“: „Nicht selten mit einem vorausgeschickten Verbum des Gehens, wodurch gleichsam äußerlich ausgedrückt wird, was ursprünglich in erfahren selbst gelegen war: […] denn in allen diesen Fällen ist der Erfahrende als ein dahin, wo er forschen soll, Gehender gedacht.“ „Erfahren“ kommt von „fahren“ und in diesem Fahren steckt auch das Wort „Gefahr“. Eine Gefahr ist dasjenige, was einem auf der Fahrt begegnet oder was jemand auf der Fahrt erleidet. „Erleiden“ müssen wir im Sinne von „etwas durchmachen“ verstehen. Man ist dem ausgesetzt, man muss hinneh- Szilasi 969, A.a.O., Grimm 85 - 960 Architekturtheorie_Huter.indd 206 23.01.2008 15: 28: 21 Uhr <?page no="206"?> Ästhetische Wirkung und architektonische Erfahrung 207 men, was einem unterwegs passiert. Es ist somit ein unkalkulierbares Risiko, das wir mit dem Fahren eingehen, insofern wir eben nicht zuhause geblieben sind. Das Fahren führt uns weg vom Vertrauten ins Unvertraute. Wenn wir umgangssprachlich davon sprechen, dass jemand Erfahrungen macht, dann bedeutet dieses Machen kein Herstellen oder Erzeugen oder sonst eine Tätigkeit. Erfahrungen können überhaupt nicht hergestellt werden, vielmehr werden sie „erlitten“, insofern wir etwas „durchmachen“. Der Mensch ist in der Erfahrung dem ausgeliefert, was auf ihn zukommt! Eine neue Erfahrung ist immer auf eine gewisse Weise schmerzhaft und unangenehm. Warum? Dies ergibt sich notwendig aus den Situationen, in denen wir von Erfahrung sprechen. Das Machen einer Erfahrung besteht nicht daraus, Daten und Fakten aufzunehmen und zu verarbeiten. Denn zur Erfahrung gehört immer die durchkreuzte Erwartung. Wenn ich die Treppe hinaufsteige, mache ich nicht die Erfahrung, dass die Treppe noch da ist, denn das habe ich ja erwartet. Eine Erfahrung besteht aus einer enttäuschten Erwartung. Diese Bezüglichkeit von Erwartung und neuer Erfahrung hängt mit der umweltlichen Stellung des Menschen zu seiner Welt unmittelbar zusammen. Nur weil der Mensch immer schon orientiert ist in seiner Welt, kann ihm überhaupt etwas als fremd und unvertraut begegnen. Erwartung setzt Orientiertsein voraus. Das Fremde, das uns beim Fahren begegnet, bricht so immer wieder als das Neue, Störende und darum Schmerzhafte in die vertraute Welt herein. Es durchkreuzt zunächst den gewohnten und erwarteten Ablauf. Eine Erfahrung, und dies lehren uns die Beispiele, bedeutet eine Ausweitung unseres Lebens, sie macht uns reicher und reifer. Wir machen zwar Erfahrungen, wir können sie jedoch nicht willkürlich erzwingen. Wir machen sie, insofern wir sie durch-machen und durch-stehen. Zwar sind wir sozusagen darauf angewiesen, dass uns „von außen“ etwas zustößt, also etwas uns ungeplant zu-fällt, jedoch können wir eine Erfahrung weder planen noch bewusst herbeiführen. Vielmehr ist der Mensch in der Erfahrung wesentlich reaktiv, er erleidet das Unvertraute, und erst in der Reaktion, also im Antworten und Lernen, ist er produktiv und kreativ. 2 Eindruck und Wirkung: Erfahrung machen mit Architektur Neapel, Freitag, den 23. März 17 7 ... Das Land ward immer flacher und wüster, wenige Gebäude deuteten auf kärgliche Landwirtschaft. Endlich, ungewiß, ob wir durch Felsen oder Trümmer führen, konnten wir einige große länglichviereckige Massen, die wir in der Ferne schon bemerkt hatten, als überbliebene Tempel und Denkmale einer ehemals so prächtigen Stadt unterscheiden. Kniep, welcher schon unterwegs die zwei Architekturtheorie_Huter.indd 207 23.01.2008 15: 28: 21 Uhr <?page no="207"?> 9. Vorlesung 208 malerischen Kalkgebirge umrissen, suchte sich schnell einen Standpunkt, von wo aus das Eigentümliche dieser völlig unmalerischen Gegend aufgefaßt und dargestellt werden könnte. Von einem Landmanne ließ ich mich indessen in den Gebäuden herumführen; der erste Eindruck konnte nur Erstaunen erregen. Ich befand mich in einer völlig fremden Welt. Denn wie die Jahrhunderte sich aus dem Ernsten in das Gefällige bilden, so bilden sie den Menschen mit, ja sie erzeugen ihn so. Nun sind unsere Augen und durch sie unser ganzes inneres Wesen an schlankere Baukunst hinangetrieben und entschieden bestimmt, so daß uns diese stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen lästig, ja furchtbar erscheinen. Doch nahm ich mich bald zusammen, erinnerte mich der Kunstgeschichte, gedachte der Zeit, deren Geist solche Bauart gemäß fand, vergegenwärtigte mir den strengen Stil der Plastik, und in weniger als einer Stunde fühlte ich mich befreundet, ja ich pries den Genius, daß er mich diese so wohl erhaltenen Reste mit Augen sehen ließ, da sich von ihnen durch Abbildung kein Begriff geben läßt. Denn im architektonischen Aufriß erscheinen sie eleganter, in perspektivischer Darstellung plumper, als sie sind, nur wenn man sich um sie her, durch sie durch bewegt, teilt man ihnen das eigentliche Leben mit; man fühlt es wieder aus ihnen heraus, welches der Baumeister beabsichtigte, ja hineinschuf. Und so verbrachte ich den ganzen Tag, indessen Kniep nicht säumte, uns die genausten Umrisse zuzueignen [...]. g oethe (17 9-1 32) beschreibt die Begegnung mit einer konkreten Örtlichkeit. Zusammen mit dem Landschaftsmaler Christoph Heinrich k nieP ist er auf einem zweirädrigen Fuhrwerk unterwegs. Die durchfahrene Landschaft und Umgebung werden genau beobachtet. Dann tauchen unversehens die Reste dorischer Tempel auf. Der „erste Eindruck“ ist: unförmige Trümmermassen. Und eigentümlich und unmalerisch erscheint die Gegend. 5 Was haben wir unter dem Wort Eindruck zu verstehen? „Der Eindruck kommt ungesucht“, sagt Hans l iPPs (1 9-19 1), „von mir aus zeigt sich etwas“. „Im Eindruck, den man von etwas hat, liegt etwas. Was darin liegt, muß ich erst finden“. 6 Das nur undeutlich Sich-Zeigende wird als Gedanke aufgenommen und schließlich artikuliert. Dieses Geschehen der Verdeutlichung ereignet sich „aus mir heraus“, wie l iPPs weiter feststellt. Er spricht auch von der Doppeldeutigkeit des Eindrucks: Dieser ist „sowohl das, wovon als etwas auf mich Wirkendem ich in meinen Gedanken bewegt werde, als auch der Gedanke selbst, der sich in mir regt“ 7 . Darin markiert sich zwischen Goethe 957, 9 f. 5 Die Rede vom „ersten“ Eindruck täuscht insofern, als Goethe die Tempel von Paestum schon bekannt waren. Johann Jakob Winckelmann, der Begründer der wissenschaftlichen Archäologie, hat sie in seiner Schrift „Anmerkungen über die Baukunst der Alten“ von 76 eingehend beschrieben. Goethe war also mit der griechischen Baukunst wohl bekannt und vertraut. 6 Lipps 977, 90 7 A.a.O. Architekturtheorie_Huter.indd 208 23.01.2008 15: 28: 22 Uhr <?page no="208"?> Ästhetische Wirkung und architektonische Erfahrung 209 Eindruck und Gedanke eine Grenze, die zu beachten ist, insofern die Wahrheit, die in einer treffenden Deutung des Eindrucks gesucht wird, nur im Wort gefunden werden kann, nicht aber im vorsprachlichen Eindruck, der mich als Eindruck ungewollt trifft. Ein Eindruck kann gar nicht falsch oder richtig sein, sondern nur der Gedanke, den er in mir erweckt. Das, was im Eindruck ungebrochen und intuitiv „rein sinnlich“ erfasst wird, bleibt von jeglicher Mitteilung ausgeschlossen, da es jenseits des überhaupt Artikulierbaren liegt. Was der Eindruck in g oethe schließlich erweckte, waren offensichtlich auch Hinsichten und Gesichtspunkte, die mit seinem Wissen vom Bauen der Alten zusammenhängen. g oethe s Erfahrungen, die er auf den 23. März 17 7 datiert hat, müssen nämlich verstanden werden vor dem Hintergrund eines Vorwissens. Dies gilt übrigens für jede Erfahrung. Immer hat man schon irgendwelche Erfahrungen gemacht, wenn man in einer Begegnung etwas Neues lernt. g oethe lässt sich also von einem Landmann in den Gebäuden herumführen. Dies ist nicht uninteressant, denn er-fahren nennen wir auch umgangssprachlich denjenigen, der be-wandert und herumgekommen ist. Etwas erfahren ist also nur möglich durch ein Sich-bewegen. Man er-fährt, er-wandert und er-geht sich eine Landschaft, eine Gegend oder auch ein Gebäude. Am Ende hat man davon sich seinen Begriff gebildet, was nichts anderes bedeutet, als dass man einen bestimmten Raum, ein bestimmtes Gebäude in Griff genommen hat. Die Vorbildung eines Menschen und seine Erfahrung im „Sehen“ bestimmen den „Bildeindruck“ mit. Mit „Sehen“ ist nicht ein von außen aufgezwungener Reiz eines inneren Organs gemeint. g oethe s „Sehen“ ist spezifisch: „[...] ich pries den Genius, daß er mich diese so wohl erhaltenen Reste mit Augen sehen ließ, da sich von ihnen durch Abbildung kein Begriff geben lässt“. Zum Sehen-können gehört der nötige Abstand zu den Dingen; nur wenn sich uns die Dinge deutlich darstellen, können sie gesehen, d.h. verstanden werden. Abstand verweist nicht auf die exakt gemessene Entfernung zwischen zwei Punkten im Raum, sondern dass sich die Dinge uns nur unter einem Bedeutsamkeitsaspekt, den wir an die Dinge heranführen, deutlich zeigen . In der „Einleitung in die Propyläen“ (179 ) brachte dies g oethe auf den Punkt: „Was man weiß, sieht man erst“, was nichts anderes meint als: wir lernen sehen und hören, es ruht darin ein Können ebenso wie ein Vorgriff auf das, was im Wahrgenommenen vorliegt. Dass g oethe das Auge gleich zweimal im Zusammenhang der Erfahrung nennt, ist kein Zufall. Das Auge war für ihn nicht irgendein beliebiges Organ. Das Auge ist der Erfahrungs-Sinn schlechthin. Mit Hilfe des Lichts erfährt es die Dinge im Raum. Das Auge reproduziert nicht eine Realität „da draußen“ als „innere“ Kopie, sondern es bestimmt das Gesehene: als 8 Vgl. auch den Ausdruck „deutliche Wahrnehmung“ bei Wilhelm Schapp, s. Schapp 976 Architekturtheorie_Huter.indd 209 23.01.2008 15: 28: 22 Uhr <?page no="209"?> 9. Vorlesung 210 „diese stumpfen, kegelförmigen, enggedrängten Säulenmassen“ und als den „strengen Stil der Plastik“. Das Sehen hat sich dabei selbst in der Hand, es ist aktiv. Ja, es leistet eine „Interpretation der Dinge“ (Hans l iPPs ). „Sichtbarkeit“ ist indes keine Eigenschaft der Dinge, sondern es ist das Vermögen, den Sinnen etwas erscheinen zu lassen. Ebenso ist Sinnlichkeit ein Vermögen, so dass die Wirkung, die g oethe empfindet, nicht allein von den Dingen her verstanden werden kann. g oethe löst sich auch bald aus der starren Betrachterposition, um sich unter die Dinge zu begeben und sich zwischen ihnen zu bewegen, damit sich die Phänomene erfahren lassen: „Sofern man in der Welt steht, nicht aber sie gegenüber hat, kann man empfinden.“ 9 Im Sich-umtun unter den Dingen teilt man den Dingen das eigentliche Leben mit und fühlt es aus ihnen wieder heraus, wie g oethe sagt. Er selbst hat 1795 unter der Überschrift BAUKUNST notiert, dass die Baukunst nicht allein fürs Auge arbeite, sondern für die Bewegung des menschlichen Leibes insgesamt. Anschließend wird die überraschende Erfahrung vermerkt: „Wir fühlen eine angenehme Empfindung wenn wir uns im Tanze nach gewissen Gesetzen bewegen; eine ähnliche Empfindung sollten wir bei jemand erregen können den wir mit verbundenen Augen durch ein wohlgebautes Haus hindurch führen“. 10 Deshalb bedeutet ja auch, dass die Dinge auf mich „wirken“ nicht, dass sie an mir einen Eindruck hinterlassen, wie sich ein Schuh z. B. im frischen Schnee eindrückt und einen für alle sichtbaren Abdruck hinterlässt. Vielmehr zeigt sich in mir, besser: spüre ich, eine Aufgeschlossenheit für das, was ich empfinde, als ein Vermögen - als Wirkung überhaupt nicht vergleichbar einem Schuh, der eine physische Veränderung im Schnee verursacht (ursächlich be-wirkt). Was g oethe über den Aufenthalt in Paestum in sein Tagebuch notiert hat, ist die Beschreibung einer ästhetischen Erfahrung. Damit gibt er sich Rechenschaft über den Eindruck und worin sich dieser verdichtet. g oethe entspricht auf diese Weise der offenbaren Bedeutsamkeit des Eindrucks, den er als Erfahrung zuspitzt. Erfahrung deshalb, weil er es nicht beim eindrücklichen Erleben belassen hat, sondern den Gedanken, den der Eindruck anstieß, in bestimmter Richtung weiterverfolgte und schließlich in einer Beschreibung etwas gefunden hat. Gefunden wurde schließlich das „passende Wort“. Dem Eindruck-von gegenüber steht das so-Wirken. Der Sprachphilosoph Josef k önig (1 93-197 ) diskutiert ebenfalls den Zusammenhang von Eindruck und Wort. 11 Der Eindruck veranlasst ein Suchen, nämlich das nach dem (den Eindruck) klärenden Wort, das schließlich in der treffenden Beschreibung gefunden ist. Im „rechten“ Begriff, der „sitzt“, wird hier der Eindruck auf eine Mitte hin fixiert. Ohne seine sehr diffizile Ausarbeitung 9 Lipps 977, 77 f. 0 Aus den italienischen Kollektaneen, in: Goethe 986, 5 . Vgl. auch von Einem 956 König 978 Architekturtheorie_Huter.indd 210 23.01.2008 15: 28: 22 Uhr <?page no="210"?> Ästhetische Wirkung und architektonische Erfahrung 211 hier auch nur ansatzweise wiedergeben zu können, möchte ich aber auf das „so-Wirken“ bei k önig kurz eingehen. Er fasst den Eindruck-von und das so-Wirken als ein Weckgeschehen: „Das fragliche so-Wirken ist vergleichbar einem ‚Anstoß, unter dem ich erwache‘. Nur einen Schlafenden können wir wecken; und nur, wer erwachen kann, schläft. Das Ding gibt oder vermittelt mir den Eindruck-von ‚nach Art eines Weckens‘. Wie einer, der auf Grund eines Anstoßes erwacht, gleich sehr ‚sowohl von selbst, als auch durch‘ den Anstoß erwacht, so erhebt und rührt sich das Bewusstsein um das Wovon wie von sich aus und wie von selbst und doch zugleich unter dem Anstoß des Wirkens der Sache“. 12 Das Geschehen von Wirkung und Eindruck oder Eindruck und Wirkung ist insofern verwirrend, als man nicht angeben kann, welcher Anteil dabei dem wahrnehmenden Individuum zukommt und welcher dem wahrgenommenen Gegenstand. In einer Fußnote unterscheidet k önig zwischen dem objektiven (nachprüfbaren) Tatbestand eines leeren (d. h. leer geräumten) Zimmers, insofern es keine Möbel enthält, und der Wirkung eines Zimmers „als“ leer. Das leer-wirkende Zimmer bezeichnet nicht das Wirken als „leer“, sondern es ist eine Bestimmung des Gegenstands selbst, nämlich des Zimmers. Man könnte sogar sagen, dass entsprechend gebrauchte Prädikate wie „leer“, „kalt“, aber auch „gerecht“, „schön“, „gut“ nicht eine Eigenschaft bezeichnen, sondern gewissermaßen ein Verhalten beurteilen, d. h. eine Wirkung beschreiben. „Ein Zimmer, in dem keine Möbel darin stehen, ist leer in determinierendem Verstand; es ist, wie man, obzwar sehr missverständlich sagen kann, objektiv leer“ 13 . „Hingegen nun, wenn z. B. ein Zimmer leer-wirkt, nicht etwa leer zu sein scheint. Möbel mögen in ihm so viel darinstehen, wie für seinen Zweck erforderlich ist; gleichwohl wirkt es leer“ 1 . Von Interesse ist nun für uns, was auf diese Wirkung, auf diesen Eindruck folgt. Insofern mein eigenes Zimmer mit einem Mal auf mich „leer“ wirkt, so werde ich sicher reagieren, insofern mir ein solcher Eindruck nicht behagt und mir mein eigenes Zimmer fremd und unwohnlich wird. Sobald das treffende Wort nämlich gefunden ist (und nur dann! ) und damit der Eindruck als Wirklichkeit bestimmt werden konnte - „Ja, dieses Zimmer ist wirklich leer! “ - weiß ich, was zu tun ist. So ist es sinnvoll, im Zusammenspiel von Eindruck und Wirkung von einer Wahrnehmungssituation, die zu lösen ist, zu sprechen, auf deren „bearbeitete“ Eindrücklichkeit man sich als gemachte Erfahrung von etwas Neuem nachträglich reflexiv beziehen kann. Zur Bestimmung von (sinnlichen) Eindrücken ist es unverzichtbar, sie sprachlich-begrifflich zu fixieren, d. h. zu deuten. Damit kommen wir mit k önig auf ein Moment der ästhetischen Wirkung zu sprechen, das ihm signifikant für diese Erfahrung ist. Wie erfasst König 969, König 969, FN , 7 A.a.O., 7 Architekturtheorie_Huter.indd 211 23.01.2008 15: 28: 22 Uhr <?page no="211"?> 9. Vorlesung 212 der Wahrnehmende den Erfahrungsgehalt, der in Eindruck und Wirkung vorliegt? Eindruck und Wirkung sind ja gerade auf Grund dieses Erfahrungsgehalts nicht ohne weiteres verallgemeinerbar, jeder muss bekanntlich seine eigenen Erfahrungen machen. In der Beschreibung, so k önig , teilt sich die Erfahrung mit. Erst in der sprachlichen Hinwendung zum Erlebnis, erschließen wir uns den Gehalt, den wir Erfahrung nennen. 15 Die Beschreibung, an die k önig hier denkt, untersucht den Gegenstand nicht in seinem Aussehen oder in seinen Maßen, Eigenschaften oder Bestandteilen, seiner Farbe usw., sondern sie erfasst sprachlich seine Wirkung auf den Beschreibenden und macht so den Gegenstand für ihn erst sichtbar. Dies, so scheint mir, entspricht dem Vorgehen g oethe s, der das im Eindruck gesuchte Wort in der Beschreibung der ästhetischen Erfahrung gefunden hat. Wird die Beschreibung als Mitteilung realisiert, so wird dieses so-Wirken Inhalt der Ansprache an den anderen, den Hörer oder Leser. k önig denkt dabei ein eigentümliches Verhältnis zwischen dem so-Wirken der Dinge und dem dafür-ansprechbar-Sein der Menschen. Erst die Beschreibung, so k önig , klärt den Sprecher darüber auf, welche Wirkung das Wahrgenommene bei ihm hinterlassen hat. Und offensichtlich liegt in der Art der Beschreibung der Schlüssel zum jeweils Eindrücklichen, zur spezifischen Erfahrung. Das Beschreiben ist ein Zeigen auf die Wahrnehmungssituation und ebenso auf ihre Lösung. Josef k önig war davon überzeugt, dass der Beschreibende „in der Beschreibung des Beschriebenen gleichsam ansichtig wird oder allererst in ihr das Beschriebene erschaut“ 16 . D. h., was wir hier als ästhetische Wirkung oder Erfahrung meinen, realisiert sich erst in der treffenden Beschreibung, im „Hervorbringen eines Ausdrucks, der als eine treffende Beschreibung dessen, wovon der Eindruck ein Eindruck ist, empfunden wird“ 17 . Später hat B ollnoW diese These k önig s zunächst in all ihrer Denkaber auch Fragwürdigkeit zugespitzt: „Man könnte nun fragen, ob die Erfahrung einer ästhetischen Wirkung wirklich daran gebunden ist, dass der Mensch sie in der angegebenen Weise ausspricht, d.h. ob sie nicht schon vorhanden ist, ehe der Mensch, den sie zu einer solchen Aussage ‚legitimiert‘, von dieser Möglichkeit Gebrauch macht. König vertritt die Auffassung, dass die Existenz der ästhetischen Wirkung an die Beschreibung gebunden ist“. 1 Es gibt sicherlich unterschiedliche besondere Formen des Umgangs mit einer ästhetischen Wahrnehmung. Eine reflexive Aneignung dieses Erlebnisses als „gemachte“ Erfahrung, wie man umgangssprachlich sagen kann, bedarf aber wohl des sprachlichen Ausdrucks. Soll sie anderen mitgeteilt werden, ist man auf die prägnante Beschreibung angewiesen. Die sprachliche Vergegenwärtigung in- 5 Kamlah hat von der „geniale(n) Vergegenwärtigungsleistung der menschlichen Rede“ gesprochen und damit darauf verwiesen, dass unsere Weltkenntnis immer sprachlich ist, s. Kamlah 97 , 68 6 König 978, 66 7 A.a.O. 8 Bollnow 990/ 9 Architekturtheorie_Huter.indd 212 23.01.2008 15: 28: 22 Uhr <?page no="212"?> Ästhetische Wirkung und architektonische Erfahrung 213 des, darauf will k önig hinaus, ist nichts Zusätzliches, das zu Eindruck und Wirkung hinzukäme, vielmehr bringt sie ein Erleben erst zum Abschluss, zum Verständnis. 3 Beispiele architektonischer Erfahrung Es ist wohl sehr wichtig, dass wir lernen, auf Erfahrungen mit Architektur oder auch so genannte ästhetische Erfahrungen zu „hören“. Architekten müssen lernen zuzuhören. Ausgehend von Beispielen, die nahe legen, dass es Erfahrungen mit Architektur gibt, die nicht in der Betrachtung verharren, sondern im gebrauchenden Umgang münden, stellt sich auch die Frage nach der ästhetischen Erfahrung mit Architektur auf eine interessante neue Weise: Man „lernt“ nicht nur die Architektur in ihrer konkreten Nützlichkeit „anders“ zu gebrauchen, sondern man macht dabei auch eine Erfahrung über sich selbst als Wohnender. Um dieses gemeinsame Auftreten von Nützlichkeit, Erfahrung und Schönheit besser zu verstehen, brauchen wir vielleicht ein Verständnis des Ästhetischen, das das Schöne und Wohlgefällige (ebenso wie das Gute) immer schon in der Praxis unserer Lebenswelt erwartet bzw. erwartbar macht 19 . Bevor ich den Leser an ein Beispielfeld heranführen werde, bei dem es um eine Erkenntnis des Schönen oder Guten und des Nützlichen durch Wahrnehmung und Erfahrung geht 20 , möchte ich einige Voraussetzungen aufzählen, an denen wir im folgenden nicht festzuhalten gedenken. Zunächst ist es für meine Beispiele nicht praktisch, Architektur im Vorfeld mit Baukunst zu identifizieren. Denn die Autoren bzw. Wohnenden, von denen gleich zu reden sein wird, sind darauf überhaupt nicht eingestellt. Nicht jede Rede, vor allem nicht das alltägliche Sprechen über Architektur fasst diese als Baukunst im Sinne der Ästhetik auf. Vielmehr wollen wir dem alltäglichen Sprachgebrauch folgen und dasjenige Architektur nennen, was als etwas nach einem Entwurf Hergestelltes verstanden und dem ein Gebrauchssinn „angeschaut“ werden kann. Zum anderen ist auf die Verwendung der Wörter schön, richtig , falsch usw. hinzuweisen und darauf aufmerksam zu machen, dass es viele Verwendungsweisen dieser Wörter gibt. Die Ausdrücke „schön“ und „hässlich“ werden nicht unbedingt benutzt bei der Gelegenheit, ein Urteil über den Kunstwert einer Sache abzugeben. Auch nicht er- 9 Vgl. z.B. Friedrich Kambartel: „Mit dem Erwerb von Handlungen lernen wir nämlich zugleich einen Gebrauch der Ausdrücke ‚richtig‘ und ‚falsch‘. Das heißt, wir lernen zugleich, das richtige, intendierte, einzuübende, geforderte usw. Handeln vom anderen, ‚falschen‘, zu unterscheiden“, in: Kambartel 997, . 0 Vgl. Martin Seel: „,Wahrnehmung‘ meint dabei nicht nur eine sinnliche, sondern meist zugleich eine affektive und imaginative Aufmerksamkeit (die oft genuine Weisen der Erkenntnis enthält)“, in: Seel 996, . Architekturtheorie_Huter.indd 213 23.01.2008 15: 28: 23 Uhr <?page no="213"?> 9. Vorlesung 214 hebt jeder Gebrauch des Wortes schön den Anspruch, überhaupt etwas über ein Kunsterleben mitzuteilen, noch sollten wir den Ausdruck „hässlich“ als einen Beitrag zu einer ästhetischen Diskussion betrachten. Entsprechendes gilt für das Wort gut. Es verwirrt nur, wollten wir stets unterstellen, dass wir uns schon in einem ethischen Diskurs befinden, wenn die Wörter gut oder richtig fallen. In unserem Zusammenhang der Klärung des Verhaltens, dass wir wahrnehmen nennen in Verbindung mit sprachlichen Ausdrücken, die wir eine Erfahrung machen nennen, sind wir auf Phänomene einer ästhetischen Erfahrung gestoßen, die nicht Kunsterfahrung sind. Letzteres interessiert uns hier nicht. Wir müssen zu diesen Phänomenen eine Einstellung gewinnen, die nicht darauf abzielt, Kunstvon Alltagswahrnehmungen strikt zu scheiden. Wir sollten, wenn wir über ästhetische Erfahrung nachdenken, nicht damit beginnen zu fragen, ob ein Bauwerk Kunst ist, d. h. gewissen „richterlichen“ Kriterien entspricht, sondern wir wollen uns dafür interessieren, ob ein Bauwerk eine ästhetische Erfahrung ermöglicht. Ich möchte auf einen bestimmten Unterschied hinaus, der damit zusammenhängt, dass Architektur ein Lebensmittel ist, ein Lebensmittel, dessen Gebrauch an einen konkreten Nutzen gebunden ist. Es kann sinnvoll sein, zwischen einem allgemeinen Nutzen von z. B. Wohnarchitektur und dem konkret Nützlichen dieses Hauses, dieser Wohnung für einen bestimmten Bewohner zu unterscheiden. Ästhetische Umgangserfahrung mit Architektur, so die These, bezieht sich dabei auf die Wahrnehmung dieses konkret Nützlichen. Das Nützliche, insofern sein individueller Nutzen konkret erlebt und erfahren werden kann, wird als etwas Schönes wahrgenommen. Offensichtlich ist es ferner nötig, zwischen Wahrnehmung und ästhetischer Wahrnehmung zu unterscheiden. Ich beziehe mich auf ein Verständnis von ästhetischer Wahrnehmung, wie es Martin s eel an verschiedenen Stellen seiner Schriften vorgeführt hat. Wir heben nun den Sonderfall hervor, der dann vorliegt, wenn uns das Wahrgenommene zu fesseln vermag, nämlich so, dass wir vergessen, was wir eigentlich vorhatten, bevor diese Wahrnehmung uns zustieß. Im nachhaltigen Unterbrechen und Umlenken des Motivs, oder wie man das Phänomen sonst beschreiben soll, liegt das Besondere der ästhetischen Wahrnehmungsweise. „Ästhetische Wahrnehmung setzt erstens eine nicht-ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit voraus und stellt zweitens eine Modifikation dieser nicht-ästhetischen Wahrnehmungsvollzüge dar. Denn ästhetische Wahrnehmung hat ihren ganzen Sinn darin, sich von anderen Wahrnehmungsweisen abzuheben“. 21 Ästhetisches Wahrnehmen ist ein Sonderfall von Wahrnehmen, wie man auch das Handeln als einen Sonderfall von Sich-verhalten verstehen kann. Unter diesem Abheben Seel 996, 8 Architekturtheorie_Huter.indd 214 23.01.2008 15: 28: 23 Uhr <?page no="214"?> Ästhetische Wirkung und architektonische Erfahrung 215 der ästhetischen Wahrnehmung von seiner Basis, auf die sie freilich für ihr Auftreten nicht verzichten kann, wird verstanden, dass die Empfindung sich zur Aufmerksamkeit für das Wahrgenommene steigert, wobei dieses Geschehen seinen Zweck, nämlich „auf etwas“ aufmerksam zu werden, in sich trägt. Eine ästhetische Wahrnehmung wäre also eine solche, der es zunächst um diese selbst geht. „[Es geht der] ästhetischen Erfahrung um ein Verweilen in einer Wahrnehmung und bei einem Objekt dieser Wahrnehmung“. 22 Nehmen wir gemeinhin wahr, um uns bei unseren Besorgungen zu orientieren, so scheint hier zunächst ein anderes Motiv sich vorzukehren: das Verweilen in der Schau. Dies zeichnet dann die ästhetische Wahrnehmungssituation aus: Irritiert, staunend, betroffen, gerührt - wie auch immer: die Wahrnehmung wird um ihrer selbst gehabt. Das Gegenüber, das Wahrgenommene, wird nicht unmittelbar als etwas Gedeutetes (also Bekanntes) verstanden. Vielmehr vertieft sich die Wahrnehmung in sich selbst, bleibt bei sich. So führt die ästhetische Wahrnehmung zu einer Unterbrechung des Handlungsablaufs. Ich habe oben das „zunächst“ deshalb betont, weil es mir wichtig ist, anschließend zu zeigen, welche Folgen dieses Aufmerken nach sich zieht. Ich möchte nun mit einem Beispielfeld bekannt machen, auf dem architektonische Erfahrungen sich am Ende als ein Finden oder Entdecken einer Nützlichkeit erweisen, nach der bewusst gar nicht gesucht wurde, das Entdeckte aber dennoch wie die Antwort auf eine Frage wirkt. Mein erstes Beispiel stammt aus einer Untersuchung im Berliner Umland, bei der mich die Frage interessierte, wovon die Menschen, die in die Brandenburger Umlandgemeinden gezogen sind, im Hinblick auf ihr Wohnen überzeugt sind. Mein Interesse zielte genauer darauf, etwas von ihren Erwartungen zu hören, mit denen sie ihr altes Wohnen verlassen haben, um in einem Neubaugebiet „anders“ zu beginnen oder fortzufahren. Familie Büchner erzählte davon, wie sie plötzlich den Wohntyp entdeckte, der zu ihr passte. Dieses Entdecken möchte ich hier als ein erstes Beispiel für eine ästhetische Erfahrung vorstellen. Heinrich Büchner berichtete uns in einer ausführlichen Passage davon, wie er und seine Frau zu ihrem Reihenhaus gekommen sind. Das Suchen ging, so lässt sich das Motiv interpretieren, in gewisser Weise davon aus, was man nicht will, aber auch dies wusste man nur so ungefähr. Man will es, nach einem Umzug, besser haben als bisher, denn sonst bräuchte man es ja erst gar nicht zu unternehmen. Dennoch hatte man keinen exakten Begriff davon, was dieses „Besser“ konkret bedeutete. Doch das Finden ist kreativ, insofern es eine Antwort auf eine Lage ist, der man sich erst bewusst ist, sofern man findet. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Büchners zu Beginn ihrer Suche nicht klar war, wonach sie genau suchen sollten, damit es auf ihre Umstände passte. Niemand hätte ihnen deshalb das Suchen abnehmen Seel 996, 50 Architekturtheorie_Huter.indd 215 23.01.2008 15: 28: 23 Uhr <?page no="215"?> 9. Vorlesung 216 können. Das, was man am Ende gefunden hat, ist so etwas wie die Antwort auf die Lage, in der man sich während des Suchens befand und die sich ihnen erst im Finden klärte. Ich zitiere aus dem wörtlich wiedergegebenen Interviewtext: „Also verschiedene Sachen haben wir uns angesehen, also, was wir nicht wollten, war - also in gewisser Weise haben wir das jetzt doch - war so ein Neubau. Also so ein Mehrfamilienneubau, so was wie eine Platte oder Plattenähnliches, das wollten wir eigentlich auf keinen Fall, und dass wir dann jetzt ein Reihenhaus haben, ist ein bisschen dadurch beeinflusst, dass wir das bei Freunden gesehen haben. Die haben sich (...) das gekauft in Leipzig, ein kleines Doppelhaus, und das ist praktisch so (...) ja das ist ähnlich wie hier, nicht, drei Stockwerke und ein Keller, also ab diesem Zeitpunkt haben wir ein bisschen gezielt nach so etwas gesucht. Da waren wir ein bisschen befangen, was den Wohntyp auch angeht. Und das kriegt man ja mehr oder weniger auch nur draußen, also außerhalb von Berlin“. Welchen konkreten Wohntyp Büchners am Ende finden sollten, der zu ihnen passte, war ihnen, als sie sich auf die Suche machten, gar nicht klar. „Dass wir das bei Freunden gesehen haben“, meint das Sehen als Einsehen, so dass man in der Wahrnehmung frei wird für eine Sicht, die als Einsicht entdeckt. „Also wir waren erst in dieses erste Haus sehr verliebt und waren ein bisschen traurig, als das nicht klappte, dann aber haben wir gesagt, gut, dann nehmen wir eben das. [...] Wir wollten schon gerne einen Keller dazu haben, weil es einfacher praktischer ist, man hat ja die gesamte Wohnfläche noch mal unten drunter als Keller, das ist schon nicht schlecht. Und darauf hatten wir Wert gelegt“. Herr Büchner hat eine ästhetische Erfahrung mit dem Haus seiner Freunde in Leipzig gemacht, die ihm sozusagen zeigte, wonach er „gezielt“ suchen musste: „Ja es ist nicht so der letzte Traum [nämlich das Haus, in dem zur Zeit gewohnt wird, A.H.]. Es ist, also in gewisser Weise, es ist schon ein Traum, es war ja schon ein Traum gewesen, dadurch dass wir das Haus von Freunden gesehen hatten. Das fanden wir traumhaft. Das war schon traumhaft“. Die Traumanalogie bringt ihre architektonische Erfahrung als ein Ziel, als einen Wert zum Ausdruck, der in der folgenden sprachlichen Wendung als körperlich-ästhetische Wirkung dieses Wohntyps eine zusätzliche Bedeutung erhält: „Mit diesem kleinen Garten und, die Treppe rauf und Treppe runter, das fanden wir schon traumhaft, und als wir dann in so einem Haus standen, erst dort drüben und dann hier, Treppe rauf, Treppe runter [...] das war schon traumhaft“. 23 Unser zweites Beispiel stammt aus einer Untersuchung des französischen Architekturtheoretikers Philippe B ouDon (*1941), die bei uns unter dem Titel „Die Siedlung Pessac - 0 Jahre Wohnen à Le Corbusier“ erschienen ist. Diese Siedlung, die ein Unternehmer für seine Arbeiter planen und bau- Auf die Vorstellung vom Haus als ein “vertikales Wesen” hat ausführlich Gaston Bachelard in seiner Poetik des Raumes (Bachelard 987) hingewiesen. Architekturtheorie_Huter.indd 216 23.01.2008 15: 28: 23 Uhr <?page no="216"?> Ästhetische Wirkung und architektonische Erfahrung 217 en ließ, wurde 1925 eingeweiht. Die schließlich umgesetzten Grundrisse, ebenso aber auch Fassade, Flachdach und Dachterrasse, die l e c orBusier (im Stil des „Neuen Bauens“) entwarf, entsprachen ganz und gar nicht dem traditionellen Wohnhaustyp, an den die Menschen, die dort einzogen, gewohnt waren. Es wurden von den Bewohnern an diesen Häusern über die Jahre tief greifende Veränderungen vorgenommen, so dass sie dem traditionellen Typus immer ähnlicher wurden. Eine der vielen Besonderheiten des von l e c orBusier entwickelten Grundrisses bestand in der Platzierung des Kamins in der Mitte der Wohnung und im Verzicht auf eine Wand zwischen Wohn- und Esszimmer. Die folgende Passage aus einem Interview, das B ouDon mit einem Bewohner geführt hat, lässt auf eine besondere Erfahrung mit diesem Grundriss schließen: „Dieser Kamin ... er ist gleichzeitig gut gesetzt und schlecht gesetzt ... ein Kamin mitten im Zimmer, ich finde, dass das stört ... er ist gut gesetzt, weil er ein Kamin ist und gleichzeitig dort der Gang ist ..., sehen Sie, man gewöhnt sich dran ... wenn man sich dran gewöhnt, sieht man es anders ... Im Anfang war es eher schockierend: die Treppe mitten im Zimmer, sehen Sie, das ist komisch ... die Küche liegt auch falsch, weil gegenüber eine Halle ist, daher sieht man dort nichts ... sie ist gut und schlecht, das ist schwer zu verdauen. Manche Dinge machen den Eindruck, als wenn sie nicht dort wären, wo sie hingehören ... und gleichzeitig gehören sie doch dorthin ... und das ist, gerade das ist gut! ... Ich finde nämlich auch, dass die Treppe dorthin gehört, weil so, zwischen Esszimmer und dem Wohnzimmer, weil so die beiden Zimmer getrennt werden ohne eine Wand, das ist gut ... und das ist gleichzeitig doch nicht gut ... und das gerade ist gut ...“. 2 Dieser etwas verwirrende Gebrauch der Ausdrücke „gut“ und „schlecht“ bzw. „falsch“ deutet auf eine Wohnerfahrung hin, die zwischen dem traditionellen Wissen um einen Grundriss und der neuen Sicht auf ein Wohnen mit einem zentralen Kamin und einer Treppe als Trennelement verharrt. Die Wohndinge können also gut und schlecht sein - das erscheint merkwürdig. Der Umgang mit dieser Wohnung ermöglicht offensichtlich eine neue interessante Perspektive auf den Gebrauch der Dinge des Wohnens, mit dem man so nicht gerechnet hat. In diesem Fall setzt die Begegnung mit einem „Schock“ ein („Im Anfang war es eher schockierend“) und endet mit dem „Finden“ einer Überzeugung, dass dies gerade gut ist („Ich finde nämlich auch, dass die Treppe dorthin gehört“). Mein drittes Beispiel entstammt einer empirischen Untersuchung, die ich vor ein paar Jahren in einem sogenannten Hallenhaus einer Berliner Wohnungsbaugenossenschaft durchgeführt habe. 25 Ich interessierte mich damals für die Wohnerfahrungen der Mieter, die dort drei Jahre „kommunikatives Wohnen“ hinter sich hatten. Die Erschließung der 20 Wohnungen in diesem Boudon 97 , 9 5 Vgl. Hahn 997 Architekturtheorie_Huter.indd 217 23.01.2008 15: 28: 24 Uhr <?page no="217"?> 9. Vorlesung 218 Haus erfolgt über eine zentrale Halle, von der aus man über eine interne Treppenanlage und innen liegende Laubengänge zu den Wohnungen gelangt. Diese Halle ist gleichzeitig Mietertreffpunkt, Kinderspielplatz und der von allen Mietparteien einsehbare Eingangsbereich. Alle Wohnungen haben mindestens ein Fenster zu diesem überdachten Innenhof. Ein Mieter erklärte mir damals, warum die Architektur „verbindend“ und „optimal“ sei: „Die Architektur ist verbindend, und selbst wenn es die negativen Ausdünstungen aus den Küchen sind, die alle in den Innenhof gehen. Also ich kam letztens hoch und dachte: Haben die wieder Schweinefleisch? ! So ein Mist! Das kann doch nicht wahr sein! Ja und dann habe ich erfahren, dass das Hans und Gabi waren. Dann war ich später auch noch drin [nämlich in deren Wohnung, A.H.], da gings schon wieder, als ich das auf dem Tisch stehen sah. Also selbst über die negativen Ausdünstungen, die einen stören, wenn jemand mit Knoblauch kocht oder irgendjemand macht Fisch. Und dann gibt es natürlich 20%, die mögen keinen Fisch, es gibt so ein bisschen Reibereien. Aber darüber kommt auch der Kontakt! Ja, also die Architektur ist optimal! “ Auch bei diesem Beispiel beginnt die Geschichte mit dem Ausdruck des Unbehagens und des Missmuts: „Haben die wieder Schweinefleisch? ! So ein Mist! Das kann doch nicht wahr sein! “ Auch hier gelangt der Sprecher ausgehend von einer durchkreuzten Gewohnheit zu einem neuen Verständnis dieser Architektur, dieses Gebäudes: „Die Architektur ist verbindend“, „Ja, also die Architektur ist optimal! “ Herr Mittler, mein Gesprächspartner, hat auf eine ganz bestimmte Weise dieses Haus kennen gelernt, insofern durch die erlebte Offenheit der Architektur dieses Hauses, das dann auch für Gerüche aller Art offen ist, eine Sinn- und Motivsuche angeregt wird und in Gang kommt, die im Finden einer Bedeutung für diese Unverbautheit und Großzügigkeit der Architektur („die Architektur ist optimal“) gleichsam an ihr Ziel gekommen ist. Man entdeckt diese Bedeutung jedoch nur, wenn man etwas tut, nämlich die Folgen verfolgt und diese sich praktisch vor Augen führt: „Aber darüber kommt auch der Kontakt“. 4 Eindruck und Wirkung Was in diesen drei Geschichten als das Finden einer neuen Seite der Dinge erkannt wird, möchte ich eine architektonische Erfahrung nennen. Der Zusammenhang von Suchen und Finden ist ein spezifischer. In der Regel suchen wir etwas Bestimmtes, bei dem wir vorher wissen, wonach wir suchen sollen: Ein bestimmtes Buch im Bücherregal, den Autoschlüssel auf dem Küchentisch, das Haus mit der Nummer 2 in der Goethestraße. Mit meinen Beispielen ist es signifikant anders: Erst im Finden wird den Menschen klar, was Architekturtheorie_Huter.indd 218 23.01.2008 15: 28: 24 Uhr <?page no="218"?> Ästhetische Wirkung und architektonische Erfahrung 219 sie eigentlich gesucht haben. Niemand meiner Gesprächspartner hätte wohl vor seiner Erfahrung bestimmen können, dass sie gerade dieses gefundenen Gutes bedürfen. Alle haben überhaupt nicht das gesucht, was sie schließlich gefunden haben. Insofern mag man gerade „das Finden als Moment des Schöpferischen“, wie eine Monographie von 1966 betitelt ist 26 , ansehen. Wollten wir im Zusammenhang dieses Entdeckens alternativ von Eindruck und Wirkung sprechen, so haben die Menschen mit diesen Beispielen ein bestimmtes Wirken einer bestimmten Architektur entdeckt, insofern sie den konkreten Eindruck hatten von der Vertikalität des Wohnens, der Richtigkeit von platzierten Architekturelementen und schließlich von dem Verbindenden der Hallenarchitektur. Die Wirkung der Dinge, insofern man sich auf sie praktisch-pragmatisch einlässt, auf die Treppe im dreigeschossigen Haus, auf den Kamins inmitten der Wohnung, auf die „offene“ Halle, die nicht nur dem Augensinn etwas zu verstehen gibt. Die Wirkung ist also die, dass die Dinge auf uns einen bestimmten Eindruck machen. Nun ist dieser Eindruck sicher nicht so zu verstehen, wie der Eindruck eines Schlüssels im weichen Wachs, den man weiter verfolgen kann. Die vom plastischen Material aufgenommene Spur der Dinge bestätigt ja lediglich unser vorgängiges, verallgemeinerbares Wissen, das man vom hinterlassen Eindruck des Metalls im weichen Material hat. Wir können einen Schlüssel als entsprechendes Passstück dem Abdruck einwandfrei zuordnen und auch von diesem selbst unterscheiden. Insofern könnte man auch bezogen auf Schlüssel und Wachsabdruck von einem kausalen Bewirken sprechen. Dieser Fall ist unter Umständen auch dahingehend weiter verfolgbar, dass man gewisse Eigenschaften der Dinge, z. B. die Schlüsselnummer und auch den Hersteller der Serie, feststellen könnte. Dem gegenüber haben wir es in den drei Beispielen mit je einem Eindruck zu tun, den ein konkreter Mensch hat. Es sind Beschreibungen von bestimmten Eindrücken von bestimmten Weisen eines Wirkens: „Treppe rauf, Treppe runter“; „Manche Dinge machen den Eindruck, als wenn sie nicht dort wären, wo sie hingehören ... und gleichzeitig gehören sie doch dorthin“; „Ja, also die Architektur ist optimal“. Vielleicht ist es sogar treffender, nicht von der Wirkung von Gegenständen zu sprechen, sondern von einer Wahrnehmungssituation. Diese Eindrücke sind ja doch stets jemandes Eindrücke z. B. von der Vertikalität des Wohnens, der richtigen Platzierung des Kamins, der Menschen verbindenden Hallenhausarchitektur und sie sind keine beliebigen in dem Sinne, dass man sich in ihnen auch hätte täuschen können (z. B. hätte der Wachsabdruck durchaus eine Kopie von einem schon zuvor nachgemachten Original stammen können), vielmehr sind sie nachhaltig und deutlich, dass wir deswegen auch von einer Erfahrung sprechen können, die ja immer auch etwas von Lernen und Umdeuten an sich hat. 6 Vgl. Bräuer 966 Architekturtheorie_Huter.indd 219 23.01.2008 15: 28: 24 Uhr <?page no="219"?> 9. Vorlesung 220 Wir wollen an diesen drei Beispielen festhalten, dass eine ästhetische Erfahrung mit Architektur zu einem veränderten Umgang mit ihr führt. Dazu muss nun aber tatsächlich eine Ausdruckserfahrung vorliegen. Denn nur diese lässt die Menschen begreifen, in welche Richtung gleichsam der „neue“ Umgang ausprobiert werden soll. Zur Beschreibung gehört bei unseren Beispielen immer auch ein Aussprechen des Schocks, des Ärgers, auch der Freude usw., indem man so selbst erst darauf aufmerksam wird, was sich endlich als Neues ausdrückt. Mit solchen Ausrufen zeigt man gewissermaßen sich selbst das Besondere der Wahrnehmung. Ich meine, dass wir bei der ästhetischen Erfahrung von einem unmittelbaren Ineinandergreifen von so-Wirken und Ausdruck-von ausgehen sollten. Im Ausdruck der Dinge zeigt sich etwas, was man nur im Verstehen fassen kann. Man hat diesen bestimmten Eindruck, insofern sich das passende Wort findet. Die Bestimmung liegt im Ansprechen der Wahrnehmung als diese besondere. Der Eindruck, den Herr Büchner vom Haus der Leipziger Freunde hatte, wird als der besondere dreigeschossige Wohntyp, den er als den für sich passenden begriff, wonach man konkret suchen sollte, nachdem das Wort „Treppe rauf, Treppe runter“ gefunden wurde. Und der Ausruf: „Die Architektur ist verbindend“ schließt Herrn Mittler erst diese Seite der Hallenarchitektur auf, die ihn zu einem bestimmten Verhalten geführt hat, nämlich die Urheber der Essensgerüche aufzusuchen. Auch bei unserem dritten Beispiel konnte sich der Wohnende seinem Ärger und Schock gegenüber erst verhalten, nachdem er das so-Wirken des Kamins und der Treppe beschreiben konnte. Gerade die Verwendung der Ausdrücke „gut“ und „schlecht“ ließ ihn sehen, besser: ein-sehen, dass man die Dinge so oder so verstehen kann. Die treffende Beschreibung bewährt sich schließlich darin, dass sie auf einen unvertrauten Gebrauch hinweist: Das neue Ingebrauchnehmen der Dinge in die Umwelt des eigenen Wohnens. Insofern haben wir es bei diesem Beispielfeld mit einer Erkenntnis im Sinne einer Einsicht in den Gebrauch und die Vielgestaltigkeit der Dinge zu tun. Es gibt aber noch eine andere Besonderheit, auf die diese Beispiele hinweisen. Denn die Beschreibungen sind auch Selbstbeschreibungen, insofern sie vom eigenen Verhalten beim Nutzen der Wohndinge handeln. Denn die konkrete Nützlichkeit der Dinge ist nur die eine Seite des Prozesses. Die andere Seite beantwortet gleichsam die Frage, um wessen Nutzen es geht. Die Wahrnehmung gehört zu einem konkreten Individuum, das im Finden dieser Nützlichkeit auch etwas über die eigene Befindlichkeit oder Bedürftigkeit als Wohnender erfährt. Allein das Unterbrechen des gewohnten Handelns, des Wohn-Habitus sozusagen, z. B. der Wechsel vom horizontalen zum vertikalen Wohnen usw., was seinen Ausdruck in Ausrufen findet wie: „Das war schockierend“, „Das darf doch nicht wahr sein“, „Das ist traumhaft“ usw., deutet Architekturtheorie_Huter.indd 220 23.01.2008 15: 28: 24 Uhr <?page no="220"?> Ästhetische Wirkung und architektonische Erfahrung 221 unmissverständlich darauf hin, dass in dieser Wahrnehmung tatsächlich etwas gefunden oder entdeckt wurde, dessen man bedurfte. Erst nachträglich, erst im darauf folgenden Gebrauch der Wohndinge zeigt sich den Menschen, ob oder inwiefern es eine Entsprechung von allgemeiner Nützlichkeit und konkretem Nutzen gibt. Büchners wussten nun konkret, welcher Haustyp zu ihnen passte. Wenn wir dem zustimmen wollten, hätte dies natürlich erhebliche methodische Konsequenzen. Wir könnten dann von architektonischer Erfahrung nur insofern sprechen, als wir tatsächlich solche Beschreibungen vorliegen hätten, die das so-Wirken mit dem Eindruck-von ansprechen. 5 Erfahrungsgewinn durch ästhetische Wahrnehmung Ein Anlass dieser Vorlesung ist das Unbehagen, Architekturkritik nur als Kunsturteilskritik von professionellen Kunstrichtern gelten zu lassen. Jürgen h aBermas hat, nach seinen eigenen Worten, gelernt, dass es Experten der Lebenswelt gibt, die auf ästhetische Gebrauchserfahrungen mit Architektur zurückgreifen können. Es geht also um Fälle, wie den unsrigen, bei denen „die ästhetische Erfahrung in eine individuelle Lebensgeschichte eingeholt […] wird.“ 27 Diese Konfrontation führt zu einem Wissen aus Erfahrung, das mehr und etwas anderes ist, als die Expertenkritik aus einer frei wählbaren Zuschauerperspektive. „Die Rezeption durch den Laien, oder vielmehr durch den Experten des Alltags [kursiv durch mich], gewinnt eine andre Richtung als die des professionellen, auf die kunstinterne Entwicklung blickenden Kritikers. Albrecht Wellmer hat mich darauf aufmerksam gemacht, wie eine ästhetische Erfahrung, die nicht primär in Geschmacksurteile umgesetzt wird, ihren Stellenwert ändert. Sobald sie explorativ für die Aufhellung einer lebensgeschichtlichen Situation genutzt, auf Lebensprobleme bezogen wird, tritt sie in ein Sprachspiel ein, das nicht mehr das der ästhetischen Kritik ist. Die ästhetische Erfahrung erneuert dann nicht nur die Interpretation der Bedürfnisse, in deren Licht wir die Welt wahrnehmen; sie greift gleichzeitig in die kognitiven Deutungen und die normativen Erwartungen ein und verändert die Art, wie alle diese Momente aufeinander verweisen.“ 2 Am Ende ist noch die Frage zu beantworten, zu welcher Erkenntnis man durch ästhetische Wahrnehmung kommt, bzw. inwiefern sich durch die Gewinnung solcher ästhetischer Architekturwahrnehmung („Ästhetische Praxis“) etwas Neues, Wichtiges, Anderes über Architektur zeigen und sagen lässt. s eel sieht das Besondere der ästhetischen Wahrnehmung darin, dass sie „keine bloße Empfindung (ist), sondern Aufmerksamkeit für ein Objekt 7 Habermas 98 , 60 f. 8 A.a.O., 6 Architekturtheorie_Huter.indd 221 23.01.2008 15: 28: 24 Uhr <?page no="221"?> 9. Vorlesung 222 oder eine Umgebung“ 29 . Die ästhetische Wahrnehmung bringt uns zu einem Verständnis, wie wir mit etwas besser oder angemessen umgehen. Die Sinne verselbständigen sich auf gewisse Weise und erzwingen so unser Interesse für die Situation. Es geht um eine Einsicht in Umgangsgewohnheiten und gleichzeitig um das Aufzeigen von Wegen, diese Gewohnheit aufzubrechen. Es liegt stets etwas Überraschendes, ja Widerständiges vor, das es anzueignen und zu bewältigen gilt. Darin unterscheidet sich die ästhetische Erfahrung von anderen Wahrnehmungsleistungen. Die Erkenntnis ist hier etwas Praktisches und liegt sozusagen vor in dem, was auf die Erfahrung folgt. Denn das Aufmerksamwerden für eine Situation mündet in einer Veränderung, so dass sich die Spannung der Wahrnehmungssituation lösen kann. Der Mensch reagiert ja nicht nur auf Reize, sondern er handelt, u.a. indem er der Situation einen Sinn gibt, auf den hin sie „neu“ angesprochen und mit ihr umgegangen werden kann. Ob es sich tatsächlich um eine ästhetische Erfahrung gehandelt hat, müsste sich dann in der Praxis des Wohnens zeigen. Z. B. legt man ja nun auf etwas Bestimmtes einen besonderen Wert: „Treppe rauf, Treppe runter“; man nutzt die Dinge auf eine neue Weise und wird sich über etwas klarer, „dass man sich auch an so etwas gewöhnen kann“, nämlich an einen Kamin in der Mitte des Raums und einer Treppe als Grenze zwischen Wohn- und Esszimmer. Oder man stellt fest, dass der Gebrauch von Architektur eine Erfahrung ermöglicht, mit der man nicht gerechnet hat. Diese Erfahrung besagt, dass ein Bedürfnis befriedigt wurde, nämlich das nach räumlicher Großzügigkeit, womit man jedoch zunächst gar nicht gerechnet hatte. Diese Phänomene lassen sich mit einem treffenden Wort, das Franz k oPPe (*1931) in seinen „Grundbegriffen der Ästhetik“ benutzt, Bedürfnisver gegenwärtigung nennen. 30 „Schön“ können dann Erfahrungen genannt werden, „wenn in ihnen Bedürfnisse als befriedigend vergegenwärtigt werden“ 31 . Wir werden darauf in der nächsten Vorlesung näher eingehen. Hier sehen wir jedoch schon den Bogen gespannt: von der selbstverständlichen Erwartung, dass unser Wohnen gelingen soll, und dem dann positiv erlebten Vollzug, dass diese Erwartung, wenn auch dann in ihrer Plötzlichkeit überraschend, erfüllt wurde. Darauf bezogen nennt der Begriff „Schönheit“ die je erfahrene bzw. vergegenwärtigte Bedürfniserfüllung. 32 Praktische Ästhetik als genuines Aufmerksamkeitsfeld der Architekturtheorie hätte auf die prägnante Beschreibung solcher ästhetischer Erfahrungen mit Architektur zurückzugreifen, weil diese sozusagen die Antwort auf Spielräume sind, die die Architektur den Menschen gelassen hat. Ich begreife 9 Seel 996, 9 f. 0 Koppe 98 , 56 A.a.O. 65 Architekturtheorie_Huter.indd 222 23.01.2008 15: 28: 24 Uhr <?page no="222"?> Ästhetische Wirkung und architektonische Erfahrung 223 die Beschreibung als eine mögliche „Aneignung in besonderen Formen des Umgangs“ 33 . Praktisch heißt diese Ästhetik deshalb, weil sie die Folgen der architektonischen Wahrnehmung ernst nimmt. Sie versucht auf diese Weise dem gerecht zu werden, dass Architektur nicht zweckfrei ist, sondern eine Bauaufgabe erfüllt. Solche Zwecke, die sich aus Bauaufgaben ergeben, finden ihre Umsetzung in den Gebrauchsweisen mit Architektur, nämlich genau in den Aneignungsformen des Umgangs 3 , zu dem mein Beispielfeld führen wollte. Folgen für wen? An erster Stelle sicher für den Bewohner selbst, ferner für die „Haltung“ des Architekten - dem Bewohner ebenso wie dem Entwerfen gegenüber. So kann auch der Architekt seinerseits eine Erfahrung machen und noch etwas lernen, z. B. wo, wie und warum er überhaupt Spielräume des Bewohnens „einräumen“ soll. Vgl. Kambartel 99 , Vgl. zum Thema Aneignung aus Sicht der ökologischen Psychologie: Kruse/ Graumann 978 sowie Petmecky 007 Architekturtheorie_Huter.indd 223 23.01.2008 15: 28: 25 Uhr <?page no="223"?> 10. Vorlesung Schön, nützlich, angemessen: Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen Die Begegnung mit Schönem ist ein wesentlicher menschlicher Bezug zur Welt. Seit der Antike stehen die Menschen unter seinem Bann. Heute scheint man sich jedoch daran gewöhnt und damit abgefunden zu haben, das Auftauchen des Schönen mit der Anwesenheit von Kunstwerken und der Abwesenheit von Nützlichem zu erklären. Danach schafft der schöpferische Mensch schöne und nicht Zweck-Dinge. Schauen wir in die Geschichte des Verständnisses von Schönem, so finden wir nicht schon immer das Zerwürfnis zwischen Kunst und Gebrauch vor, das so sprachmächtig Adolf l oos für seine Zeit wahrnimmt: „Das Haus hat allen zu gefallen. Zum Unterschied zum Kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat.“ Ich will in dieser Vorlesung die Frage diskutieren, wie eine Klärung im Bereich der Architekturtheorie aussehen könnte. 1 Platons Verständnis von Schönheit und Angemessenheit Der Grundgedanke des theoretischen Bezugs auf das Schöne gipfelt in der Devise: Es gibt eine objektive Schönheit der Welt. Was für den Kosmos und damit den Inbegriff des Ganzen der Welt gilt, muss erst recht für den Menschen gelten. Deshalb hat er sich etwa bei der Beschäftigung mit Musik, Bildhauerkunst und Baukunst nach Maß und Zahl zu richten. Dieser für die antike Welt insgesamt verbindliche theoretische Bezug zur künstlerischen Arbeit gilt heute nicht mehr. Er galt schon nicht mehr für l oos und seine Zeitgenossen, die aus dem Dilemma zwischen Schönheit und Nützlichkeit nicht wirklich herausfanden. Immerhin praktiziert das Denken und Deuten des Schönen einen Zusammenhang von In-der-Welt-sein und Merkmalen menschlicher Erfahrungen und Erwartungen, den die Architekturtheorie nicht aufgeben will. Jedoch: der Gebrauch des Worts „schön“ ist verzweigt und lässt sich nicht durch eine Definition, die gerade die Breite des situativen Beschreibens ausblendet, eingrenzen. Die Architekturtheorie sollte dazu bei- Vgl. Rentsch 995 Loos 995, 8 Architekturtheorie_Huter.indd 224 23.01.2008 15: 28: 25 Uhr <?page no="224"?> Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 225 tragen, die Rede vom Schönen und Nützlichen so zu präzisieren, dass das, was damit einmal gemeint war, wieder dem Entwerfen des Architekten, aber generell ebenso dem Sprechen über Architektur dient, statt beides einer ästhetizistischen oder funktionalistischen Beliebigkeit anheimzustellen. Die Weite und Besonderheit eines „schönheitlichen“ Bezugs zur Welt wurde vor allem durch die griechische Kultur herausgestellt: In allen Bereichen des Lebens steht das Schöne für das Hervorragende, besonders Geeignete, Nützliche, Brauchbare, Schickliche, Angemessene, Wohlgefällige, Begehrens- und Liebenswerte, Gelungene. Aus heutiger Sicht ist bemerkenswert, dass die antike Theorie eine enge Verwandtschaft und gegenseitige Anteilnahme des Schönen mit dem bzw. am Guten enthüllte. Man erkannte nämlich eine Übereinstimmung von ästhetischem und ethischem Verhalten zur Welt. Exemplarisch hat dies P laton ausgestaltet: „Ach, der schöne und weise Hippias! “ 3 Mit diesem Willkommensgruß, der schon die subtile Ironie P laton s gegenüber den vermeintlichen Weisheiten der Sophisten andeutet, beginnt der etwa 2 00-Jahre alte Dialog des Sokrates mit Hippias, dem Größeren (entst. nach 399 v. Chr.). Dieser Dialog, in dem es vordergründig allein um Ästhetik oder um die Idee des Schönen zu gehen scheint, wartet mit einer interessanten lebensweltlichen Dichte auf, die für uns heute noch von Bedeutung ist. Die Architekturtheorie, insofern sie sich auf Themen einer reinen Baukunst verengt, gelangt so freilich nie in den Bereich des vorarchitektonischen, hier: des ethischen Verhaltens und Handelns. Lebensweltliches Reden und Handeln, daran gemahnt uns der Dialog, meint ja nichts anderes als das alltägliche Verhalten in unseren vertrauten sozialen Welten. Unser Tun und Lassen im Umkreis anderer Menschen ist weder weltlos noch „ethisch neutral“, sondern immer schon eingelassen in eine sprachlich vermittelte soziale Lebensform und ihre Verantwortungs- und Orientierungsverhältnisse. Die aller Theorie vorgängige lebensweltliche Verankerung auch des „technischen“ Verhaltens soll in dem Ausdruck „Angemessenheit“ zum Tragen kommen. Nachdem Hippias von seiner Lehr- und Vortragstätigkeit in den Städten Griechenlands berichtet hat, die ihn zu einem reichen Mann machte, fordert Sokrates ihn auf, eine Probe seines Wissens abzugeben, welches ja durch die Erfolge hinreichend bestätigt zu sein schien. Sokrates erzählt davon, wie man ihn einst in Verlegenheit gebracht habe, als er danach gefragt wurde, „was das Schöne ist“. Sokrates konnte darauf nicht antworten, und deshalb scheint ihm jetzt die Gelegenheit günstig, von Hippias darüber zu erfahren: Hippias der Größere, 8 A- 8 C; zitiert nach Platon 98 Grundlegend für die philosophische Einordnung von Angemessenheit in den metaphysischästhetisch-lebensweltlichen Diskurs ist Thomas Rentsch: Wie lässt sich Angemessenheit ästhetisch denken? , s. Rentsch 998. Architekturtheorie_Huter.indd 225 23.01.2008 15: 28: 25 Uhr <?page no="225"?> 10. Vorlesung 226 ... und so belehre mich nun genügend über das Schöne selbst, was es ist, und versuche, es mir so gründlich als möglich, auf meine Fragen antwortend, zu sagen, damit ich nicht, zum zweitenmal überfragt, mich abermals zum Gelächter mache. 5 Im weiteren Verlauf des Gesprächs einigen sich die Kontrahenten zunächst darauf, dass alle schönen Dinge durch das Schöne schön sind. Sokrates bringt Hippias dann dazu, zwischen dem zu unterscheiden, was schön ist, und dem, was das Schöne ist: „So ist ein schönes Mädchen etwas Schönes“. Daraufhin zählt Sokrates weitere Dinge auf, von denen, wenn Hippias recht hätte, ähnlich behauptet werden kann, sie seien schön: die schöne Stute, die schöne Leier, der schöne Topf usw. Hippias stimmt dem allen zu. Doch dann gibt Sokrates zu bedenken, dass doch gewiss der schönste Affe hässlich sei im Vergleich mit einem Menschen, und der schönste Topf hässlich im Vergleich mit einem Mädchen. Auch dem wagt Hippias nicht zu widersprechen und sieht sich plötzlich mit der Feststellung konfrontiert, dass Dinge, von denen er vorhin noch behauptet hatte, sie seien schön, ebenso hässlich seien. Wieder wird die Frage, was denn das Schöne selbst sei, gestellt. Und wieder bleibt sie unbeantwortet. Hippias kommt nun auf die Idee, dasjenige, was sich mit anderen Gegenständen verbindet, deren Schmuck zum Beispiel, als das Schöne zu bestimmen. Indem Dinge sich also mit Schmuck verbinden, erscheinen sie als schön. Für Hippias ist die Sache nun geklärt, da jenes Schöne, wonach gefragt wurde, nichts anderes als das Gold sei. Denn Gold ist unter allen Materialien das schönste. Denn gewiss wissen wir alle, dass, wo dieses sich mit den Gegenständen verbindet, derselbe, wenn er auch vorher als hässlich erscheint, nun, mit einem Schmuck von Gold versehen, als schön erscheinen wird. 6 Sokrates weist alsdann auf die Kunst des Pheidias hin, ein allseits anerkannter Künstler, von dem man getrost annehmen darf, dass er jenes Schöne, wonach gefragt wird, kennt. Pheidias hatte eine Statue der Athene geschaffen, deren Augen jedoch nicht von Gold, sondern von Elfenbein gemacht. Nun muss Hippias eingestehen, dass der Künstler gewiss nicht aus Unkenntnis, was es denn sei, was die Dinge schön mache, gehandelt habe. Vielmehr habe er recht daran getan, „denn auch das, was von Elfenbein ist, glaube ich, ist schön“ 7 .Es kommt nun im Dialog zu einer höchst interessanten Wendung. Wir haben schon von den beiden Materialien Gold und Elfenbein gehört. 5 Hippias der Größere, 86C- 87B 6 A.a.O., 89B- 89E 7 89E- 90C Architekturtheorie_Huter.indd 226 23.01.2008 15: 28: 25 Uhr <?page no="226"?> Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 227 Alle Beispiele, die Sokrates vorbringt, handeln nicht von einem Allgemeinen, sondern stets vom Besonderen. Dennoch war ja bekanntlich die Ausgangsfrage danach, was das Schöne (allgemein) sei: Das schöne Mädchen, der schön geformte Topf, die schönen Elfenbeinaugen der Athene. An dieser Stelle nun wirft Hippias einen neuen Begriff ins Gespräch: das Passende, das Angemessene (griech.: prepon; lat.: decorum, aptum). P laton , der nun einen anonymen Partner auftreten lässt (kursiv), macht auf den Zusammenhang von Material und Angemessenheit aufmerksam, um der Sache auf den Grund zu gehen: Sokrates: Wie aber nun? ‚Das Elfenbein und das Gold‘, wird er sagen, ‚o du Weiser, macht es nicht ebenfalls zwar, wenn es passt, dass die Dinge schön, wenn aber nicht, dass sie hässlich erscheinen‘. Werden wir das leugnen wollen, oder ihm zugestehen, dass er recht habe? Hippias: Das werden wir freilich zugestehen, dass das, was gerade für etwas passt, es auch gerade schön mache. Sokrates: ‚Passt nun wohl‘, wird er sagen, ‚wenn einer den Topf, von dem wir vorhin redeten, jenen schönen, mit schönem Bohnenbrei gefüllt kocht, ein goldner Rührlöffel dazu oder eher einer von Feigenholz? ‘ [...] Was werden wir sagen? Welcher von jenen zwei Rührlöffeln sich wohl passe für den Bohnenbrei und für den Topf ? Offenbar doch der von Feigenholz? Denn er macht ja den Bohnenbrei wohlriechender, und zugleich, mein Freund, wird er uns nicht dadurch, dass er den Topf zerschlägt, den Bohnenbrei verschütten und das Feuer auslöschen und die, welche ihn essen sollten, um ein gar edles Gemüse bringen; jener goldene aber könnte leicht alles dies anrichten, so dass es mir scheint, wir müssen sagen, der aus Feigenholz passe sich besser als der goldene, wenn du es nicht etwa anders meinst. Darauf weiß Hippias nicht mehr zu antworten. Er muss zugeben, dass seine Behauptung, das Schöne sei Gold, voreilig war. Denn es ist ihm vorgeführt worden, dass Gold um nichts schöner ist als Feigenholz. Sokrates fragte anfangs nach dem Schönen an sich. Im Hin- und Herwenden von alltäglichen Beispielen wurde deutlich, dass die Frage nach dem Schönen aber stets an Einzelfällen überprüft werden muss. Die Beispiele führen (dem Hippias) Orientierungssituationen vor, so dass die Antwort in der Beschreibung eines Kontextes oder einer Lebensform gefunden werden muss. Dies wird besonders darin deutlich, als Hippias vom Gold spricht und meint, man könne schlechthin von Gold (als Material) etwas behaupten. Sokrates Beispiel vom Rührlöffel zeigt indes, dass „Material“ nur als „Form“ (als geformte Materie, als produzierte Gestalt) in Erscheinung treten kann: als Goldmünze, 8 90C- 9 B Architekturtheorie_Huter.indd 227 23.01.2008 15: 28: 25 Uhr <?page no="227"?> 10. Vorlesung 228 als Goldring, als goldener Rührlöffel. Es gilt ebenso das Umgekehrte: In unserem alltäglichen Umgang gibt es keine puren Formen, sondern stets nur die Gestalt eines bestimmten Gegenstands. Was durch die Verbindung von Material und Form erst hervorgebracht wird, sind Dinge. Dinge, die der Mensch zum Leben braucht und auf dessen Herstellung er sich deshalb spezialisiert hat. Dazu gehört der Topf ebenso wie der Rührlöffel. Schauen wir uns das Beispiel P laton s näher an. Die Frage nach dem Schönen lässt sich allgemein nicht beantworten oder definieren. Es gibt keine praktische Lebensform, in der man umgangssprachlich sinnvoll von Gold an sich sprechen könnte. Die Frage selbst benötigt also, um sie überhaupt zu verstehen, ihre Berechtigung, sie muss sich erheben. Dass sie Menschen etwas angehen kann, macht P laton dadurch deutlich, dass er sie in der gemeinsamen Lebensform der beiden Disputanten platziert. Sokrates kann nämlich dem Hippias jene Situation vor Augen stellen, in der Bohnenbrei, offensichtlich ein edles Gemüse, in irdenen Töpfen über offenem Feuer angerührt wird, währenddessen vor der Küche Menschen auf das Essen und den damit verbundenen Genuss warten. In diesen und ähnlichen praktischen Formen bewegt sich unser Leben. Nur wenn man diese (oder eine andere) Lebensform bedenkt, in welche das Beispiel passt, kann überhaupt die Frage nach dem Schönen ebenso wie die nach dem Angemessenen verstanden und sinnvoll beantwortet werden. Genau genommen handelt es sich um eine sprachlich verfasste Lebensform, insofern ja Worte (wie wohlriechend, Feuer auslöschen, edles Gemüse usw.) in ihrer Bedeutung verstanden werden. Was hat es nun mit dem Begriff des „Passenden“ oder „Angemessenen“ auf sich? Wir finden diesen Ausdruck bei P laton in Verbindung mit einem - aus bestimmtem Material zu geformter Gestalt hergestellten - Lebens-Mittel verwendet. Lebens- Mittel sind vorgezeichnet durch ein Bedürfnis des menschlichen Lebens. Sie sind gleichsam Werkzeuge zum Leben. Der Topf, der Rührlöffel, auch wohl das zum Kochen gehütete Feuer, sind solche Werkzeuge. Als Werkzeuge sind Topf, Rührlöffel und Feuer auf einen Zweck bezogen, und dieser Zweck ist der Gebrauch, den der Mensch von ihnen machen will. Darauf nimmt P laton eindeutig Bezug: alle Werkzeuge dienen hier dem Hervorbringen eines guten Bohnenbreis. Damit ist die Bestimmung der Werkzeuge durch ihren Gebrauch festgelegt. Wir können an dieser Stelle noch weiter fragen, zum Beispiel: Welchem Ziel dient dieses Hervorbringen einer Speise? Ein „letztes“ Ziel müssten wir schließlich als das Leben gut führen beschreiben, insofern die zubereitete Speise den Menschen am Leben erhält, zum anderen aber auch: dass das gemeinsame Speisen der Tugend der Gastfreundschaft dient. Solche Ziele gehören ebenso in die gemeinsame Lebenswelt des Sokrates und des Hippias. Architekturtheorie_Huter.indd 228 23.01.2008 15: 28: 26 Uhr <?page no="228"?> Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 229 Den Zusammenhang von „schön“ und „angemessen, brauchbar“ wird indes noch an einem anderen Beispiel vorgeführt. P laton nennt das Auge ein „Werkzeug“ (organon). Insofern kann der platonische Sokrates auch davon sprechen, dass das Auge schön ist, insofern es zum Sehen taugt. Das Sehen ist aber keine Eigenschaft (Beschaffenheit) des Auges, vielmehr ist es das Wozu seines Gebrauchs: ...das nämlich soll uns also das Schöne sein, was brauchbar ist. Ich sage aber dieses, indem ich in meinem Sinn von folgendem ausgehe: Schön, sagen wir, sind die Augen, - nicht diejenigen, die uns so beschaffen zu sein dünken, dass sie nicht zu sehen imstande sind, sondern diejenigen, die imstande und brauchbar zu Sehen sind ... 9 Insofern wir nun den Gebrauch von Lebens-Mitteln als ursächlichen Anlass ihres Hervorbringens festgestellt haben, können wir noch das Problem des „richtigen“ Materials angehen. Die Frage nach der Materialform lässt sich auch hier nur vom späteren Gebrauch des Werkzeugs selbst erfassen. Von Ernst B loch stammt der sinnige Spruch: „Eine Geburtszange muss glatt sein, eine Zuckerzange mitnichten“ 10 . Damit ist auf eine schlichte Weise auf die Angemessenheit unserer Lebens-Mittel hingewiesen. Material und Form ergeben sich letztlich aus der Zweckbestimmung des herzustellenden Werkzeugs. Zwecke sind aber niemals technische, sondern stets Ziele des menschlichen Lebens. „Technisch“ ist allenfalls das nötige Wissen, etwas hervorzubringen. Die Werkzeuge müssen also, um einen neuen Ausdruck einzuführen, diesen Zielen und Zwecken gerecht werden. Erst die Anwendung des Hergestellten zeigt, ob sein Gebrauch tatsächlich das Bedürfnis, worumwillen es hergestellt wurde, befriedigt oder nicht. Auf dieses Gerechtwerden der Werkzeuge macht P laton ganz subtil den Leser aufmerksam, indem Sokrates auf den Unterschied zwischen einem Rührlöffel aus Gold und einem aus Feigenholz hinweist. Er wird nun, ganz konkret, mit dem Bohnenbrei und dem Topf zusammengebracht. Denn nur in dieser Handhabung des Geräts zeigt sich sein Nutzen. Wir hören, dass ein Rührlöffel aus Feigenholz das Aroma des Bohnengerichts verbessere, ein goldener hingegen den Topf zerschlägt, den Brei verschüttet, das Feuer auslöscht und schließlich die Hungrigen um ihre Mahlzeit bringt. P laton macht in seiner kleinen Geschichte um die richtige Zubereitung von Bohnenbrei mit einfachen umgangssprachlichen Mitteln klar, dass es sich innerhalb des gemeinsamen Lebenszusammenhangs nicht gehört, einen goldenen Rührlöffel zu verwenden. In einer Gesellschaft, in der Gastfreundschaft ein hohes Gut ist, riskiert man nicht das Zerstören des Topfes und 9 95A- 95D 0 Bloch 959, 858 Architekturtheorie_Huter.indd 229 23.01.2008 15: 28: 26 Uhr <?page no="229"?> 10. Vorlesung 230 das Unbrauchbarwerden der Speise, so etwas tut man seinen Gästen nicht an. Auch wenn man mit dem metallenen Löffel noch so sorgfältig hantiert, wäre der aus Feigenholz Geschnitzte immer noch der „schönere“ weil besser passende, weil dieser nämlich zusätzlich den Geschmack des Gerichts bereichert. Dieses Beispiel, das uns P laton vorführt, gehört in eine praktische Lebensform und gibt uns ein Bild von den konkreten Orientierungsverhältnissen, die ein entsprechendes Handeln der Menschen plausibel macht. In seine Lebensform ist der Mensch sprachlich verwurzelt. Was „angemessen“ und „materialgerecht“ bedeuten, kann sich nur auf dem sprachlich verfassten Boden der alltäglichen Lebensform selbst zeigen. „Material an sich“ kann niemals schön sein, nämlich ästhetisch-sinnlich in unserem Leben in Erscheinung treten. Schön sind immer Dinge, Gegenstände, Werke. Insofern können nur „zählbare“ Dinge schön sein, d.h. eine bestimmte Wirkung auf uns ausüben. Das Beispiel P laton s führt uns vor Augen, dass der Stoff an sich überhaupt keinen sinnlichen Eindruck macht, weil man ihm phänomenal gar nicht begegnen kann. Einen sinnlichen Eindruck machen indes der Rührlöffel aus Feigenholz, indem er benutzt wird, gut zum Kochen des Bohnenbreis in der Hand liegt, schließlich der duftende Brei, wenn wir ihn schmecken, oder schließlich die zufriedenen Mienen der beköstigten Gäste. Bezogen auf solche Beispiele spreche ich von den Umgangsqualitäten dieses Rührlöffels. Einen ganz anderen Eindruck würde dieser Rührlöffel aus Feigenholz auf uns machen, wenn wir ihn plötzlich auf einem Kaminsims zu Gesicht bekämen oder in einer Vitrine des archäologischen Instituts. Immer stellt P laton uns auf konkrete Situationen ein, in welchen wir etwas vorhaben, mit bestimmten Gegenständen hantieren, am Ende zusehen, dass unsere Beschäftigung gelingt. Von Lebensform kann in diesem Zusammenhang nur die Rede sein, insofern uns (aber auch den Hippias) das Beispiel betrifft, wir es verstehen, den Witz der Geschichte nachvollziehen können, also wir uns darin selbständig orientieren. Lebensformen, so können wir sagen, sind bestimmte praktische Orientierungsverhältnisse, in denen sich der Mensch immer schon bewegt. Die Frage nach der „Schönheit eines Materials“ lässt sich dagegen praktisch nicht beantworten, insofern wir uns nur in konkreten Situationen, in denen einzelne Dinge und Gegenstände auftauchen, zurechtfinden. Einem goldenen Rührlöffel mögen wir sehr wohl begegnen, vielleicht in einem Museum - aber Gold schlechthin können wir nicht wahrnehmen! Von einem „schönen“ Topf zu sprechen, wirkt stets dann unangemessen, wenn wir zuvor etwa die Schönheit eines Mädchens bewundert haben. Und ein Mensch ist in einem ganz anderen Sinne schön, als etwa die Griechen ihre Götter als schön beschrieben haben. Architekturtheorie_Huter.indd 230 31.01.2008 17: 23: 15 Uhr <?page no="230"?> Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 231 2 Decorum bei Vitruv Damit ist nun die Rede von der Angemessenheit greifbarer geworden. Hat indes die Architekturtheorie davon Kenntnis genommen? Hier mag zunächst ein erstes Beispiel aus ihrer Geschichte weiterhelfen. v itruv spricht in den Zehn Büchern über Architektur ausführlich über Decor. Die praktische Bedeutung des Dekor-Begriffs zeigt v itruv dann in seinen rhetorisch-metaphorisch verfassten Anweisungen oder Orientierungshinweisen für den Architekten: [...] durch Beachtung von Satzung, wenn dem Jupiter Fulgor, dem Himmel, der Sonne und dem Monde Gebäude unter freiem Himmel ohne Dach über der Cella errichtet werden. Denn dieser Götter Erscheinen und Wirken sehen wir gegenwärtig in dem offenen und lichtdurchfluteten Weltraum. Der Minerva, dem Mars und dem Herkules werden dorische Tempel errichtet werden, denn es ist angemessen, dass diesen Göttern wegen ihres mannhaften Wesens Tempel ohne Schmuck gebaut werden. Für Venus, Flora, Proserpina und die Quellennymphen werden Tempel, die in korinthischem Stil errichtet sind, die passenden Eigenschaften zu haben scheinen, weil für diese Götter wegen ihres zarten Wesens Tempel, die etwas schlank, mit Blumen, Blättern und Schnecken (Voluten) geschmückt sind, die richtige Angemessenheit in erhöhtem Maße zum Ausdruck zu bringen scheinen. Wenn für Juno, Diana und Bacchus und die übrigen Götter, die ganz ähnlich sind, Tempel in ionischem Stil errichtet werden, wird ihre Mittelstellung berücksichtigt sein, weil sich die diesen Tempeln eigentümliche Einrichtung von der Herbheit des dorischen Stils (einerseits) und Zierlichkeit des korinthischen Stils (andererseits) fernhält. 11 Wir befinden uns bei v itruv im Bereich der theoretischen Konzeption, der ratiocinatio, also der geistigen Auseinandersetzung mit der Baukunst. Zu den sechs ästhetischen Grundbegriffen, die v itruv nennt, gehört auch der lateinische Ausdruck decorum. In unserem heutigen Verständnis ist Dekor eine schmückende Zutat: man dekoriert z. B. ein Schaufenster, das heißt, man stellt in einem geschmückten Raum bestimmte Dinge aus, die dank der Dekoration dem Besucher/ Betrachter auffallen, sein Interesse erregen mögen. Dekor hat in diesem Verständnis etwas mit Ausschmückung und Verzierung zu tun. Ganz offensichtlich kannte v itruv diese Bedeutungsvariante nicht. v itruv sagt nach der Übersetzung von f ensterBusch : „Decor ist das fehlerfreie Aussehn eines Bauwerks, das aus anerkannten Teilen mit Geschmack geformt ist“. Im Original steht „cum auctoritate“. Eine alternative (wörtliche) Übersetzung lautet: „Decor ist das fehlerfreie Aussehen eines Bauwerks, welches aus Vitruv 99 , 9 f. (Hvhg. durch mich) Architekturtheorie_Huter.indd 231 23.01.2008 15: 28: 26 Uhr <?page no="231"?> 10. Vorlesung 232 anerkannten Dingen mit Ansehnlichkeit gestaltet ist“ 12 . f ensterBusch s Übersetzung mit „Geschmack“ ist an dieser Stelle von Interesse. Mit Geschmack ist, anders als h orn -o ncken annimmt, nicht nur etwas Subjektives gemeint. „Über Geschmack verfügen“ meint ein sinnliches Vermögen, das Einzelne einem Ganzen unterordnen zu können: zu dem, was allgemein als schön anerkannt ist, etwas Passendes hinzuzufügen. Dies darf jedoch nicht als Mode missverstanden werden, die auf eine zeitweilige gesellschaftliche Verallgemeinerung aus ist, der man sich anschließen kann, aber nicht muss. Dagegen ist der Besitz „guten Geschmacks“ durchaus eine „geschulte Empfindlichkeit“, die man von einem Menschen fordern kann. Man macht nicht „sinnlich kritiklos“ jede Mode mit, sondern achtet, wenn man über ein Geschmacksurteil verfügt, darauf, dass der eigene Stil gewahrt bleibt. In der Übersetzung der v itruv -Stelle durch August r oDe von 1796 heißt es: „Schicklichkeit wird das untadelhafte Ansehen eines Gebäudes genannt, wann jeder Theil desselben hinlängliche Autorität für sich hat“. Auch wenn der Ausdruck „Schicklichkeit“ heute unüblich geworden ist, ist er glücklich gewählt. Was meint das Wort „Schicklichkeit“? Das, was sich schickt, was schicklich ist, bzw. was passt und angemessen und also richtig ist. Damit ist ein Bereich des menschlichen Verhaltens gemeint, in welchem praktische, ästhetische und ethische Fragen ineinandergreifen. 13 Darin kommt ein Können zum Tragen, das sich weder auf ausdrückliche Normen noch fertige Regeln berufen kann. Nur der Vergleich mit dem Exemplarischen hilft wirklich weiter und lässt eine adäquate Übereinstimmung von Form und Inhalt zum Muster werden. „Schicklichkeit muß sich zum Gespür für Verhältnisse und Wirkungen weiterentwickeln, die in einer Lebensform gleichsam unterhalb formulierter Imperative zu beachten sind.“ 1 Es liegt darin vor allem ein immer wieder geübtes Unterscheidungsvermögen. Um dies z.B. in der Baukunst umzusetzen, müssen die Gesetze der Symmetrie befolgt ebenso wie die Natur und die Verwendung anerkannter Formen berücksichtigt werden. Anpassung an Natur und Umwelt ebenso wie die Rücksichtnahme auf Gewohnheiten sind im Grunde keine ästhetischen Programme. Vielmehr haben wir es bei v itruv mit einer ethisch-sozial-umweltlichen Konzeption tun. v itruv fragt wiederholt nach der „richtigen Angemessenheit“. Den verschiedenen Göttern soll der Tempel errichtet werden, der zu ihnen passt. Wo steckt das Maß für Angemessenheit und Richtigkeit? Dieses Maß lässt sich nicht mathematisch herleiten oder sonst wie errechnen. Wenn es sozusagen in der Gewohnheit steckt, dort festgesetzt ist, dann kann es nur aus der Gesellschaft und ihren praktizierten Werten selbst entwickelt werden. Gewohnheit heißt griechisch „ethos“. Folgt man dem Ethos, dann orientiert man sich am „richtigen“, nämlich dem guten Handeln. Das richtige Horn-Oncken 967, 8, Anm. 7 Vgl. Bräuer 99 , 7 A.a.O., 7 Architekturtheorie_Huter.indd 232 23.01.2008 15: 28: 26 Uhr <?page no="232"?> Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 233 Handeln (hier: des Architekten) soll in der Architektur zum Ausdruck gebracht werden: Jeder Gott bekommt die Tempelform, die ihm angemessen ist. Konvention oder Kanon, Tradition oder Überlieferung und schließlich das Naturbzw. Umweltgemäße gehören zum insgesamt nur schwer zu fassenden Dekorbegriff, sind dessen Voraussetzung. Ohne Zweifel hat sich v itruv hier einer eingeführten Begriffsbildung bedient, um sie für die neue Theorie von der Baukunst fruchtbar zu machen. In diesem Zusammenhang muss vor allem an die antike Rhetorik gedacht werden, wo prepon den angemessenen sprachlichen Ausdruck meint. 15 Wir werden diese Einordnung in den nächsten Kapiteln ausführlich beleuchten. 3 Das Schöne und das Gute; pulchrum und ornamentum bei Alberti Die postantike und postmittelalterliche Neuzeit ersetzt den nachahmenden Künstler durch den erfindenden und produktiven Fachmann. Humanismus und Frührenaissance erkennen das Kunstwerk als Ausdruck des schaffenden Menschen, der sich seines besonderen Könnens bewusst ist. Die bewusste Anwendung des Prinzips des Schönen und Nützlichen (Angemessenen) auf die Architektur begegnet uns zuerst in der Frührenaissance. Der Architekturtheoretiker und Architekt Leon Battista a lBerti (1 0 -1 72) versteht das Prinzip der Architektur einerseits als Körper, andererseits als Ort eines bestimmten Verhaltens mit entsprechenden Handlungen wie Gottesdienst, Rechtsprechung oder Wohnen. Bezogen auf den Körper gilt die Schönheit als das allgemeine Maß; bezogen auf den Ort der Handlung und die Handlung selbst besteht das Maß in der Tugend oder im Gerechten. a lBerti s Schönheitsbegriff, auf dem dann die Proportionslehre der Renaissance beruhen wird, unterscheidet sich grundlegend von dem antiken des v itruv und zeugt ganz vom humanistischen Selbstbewusstsein, nachdem der Mensch selbst Schöpfer schöner Dinge ist und nicht mehr nur Naturschönes nachzuahmen hat. Auf das Problem der Schönheit reagiert die Architekturtheorie der Frührenaissance mit einer Proportionslehre. Diese wird auf eine kosmische Ordnung zurückprojiziert, mathematisiert und daraus allgemeinverbindliche Regeln ihrer Anwendung abgeleitet. Mit der Auslegung der beiden Prinzipien der Architektur teilt a lBerti das Verständnis des Zusammengehens des Schönen mit dem Tugendhaften. Diesen Zug seiner Theorie hat Heiner m ühlmann herausgearbeitet: „Schönheit bezieht sich auf die Architektur insofern die Gebäude Körper sind. Die Bestimmungen des Schönen liegen aber, so stellt a lBerti selbst es dar, eben- 5 Auf die rhetorischen Quellen Vitruvs kommt u.a. Horn-Oncken (Horn-Oncken 967) zu sprechen. Den Zusammenhang von antiker Rhetorik und dem Traktat De Architectura des Humanisten Alberti hat Heiner Mühlmann (Mühlmann 98 ) eindrucksvoll herausgearbeitet. Architekturtheorie_Huter.indd 233 23.01.2008 15: 28: 27 Uhr <?page no="233"?> 10. Vorlesung 234 so den Bewegungen der Himmelskörper und dem Werden und Vergehen des Lebens zugrunde, betreffen also auch das menschliche Leben und somit die menschlichen Handlungen. Leben und Handeln des Menschen auf die Architektur bezogen bedeutet: Bewohnen des Gebäudes“. 16 Diesen grundlegenden Gedanken, „schöne“ Architektur habe ihr Ziel im richtigen „Wie“ ihres Bewohnens, aber so, dass jene die Voraussetzungen schafft, dass dieses überhaupt gelingen kann, finden wir von a lBerti selbst ausgesprochen: „Ist es nicht das Höchste, für dich und die Deinen etwas zu beginnen, das Segen bringt, das das Leben wert und angenehm macht? Hier kannst du das anregendste Studium treiben, hier wirst du Kinder und eine liebe Familie haben, hier wirst du Tage der Arbeit und Muße verleben, hier laufen alle Fäden des Lebens zusammen. Daher bin ich der Meinung, daß man im ganzen menschlichen Leben außer der Tüchtigkeit nichts findet, auf das man größere Sorgfalt, Mühe und Fleiß verwenden muß, als daß man glücklich mit seiner Familie ein schönes Heim bewohne. Und wer könnte behaupten, schön zu wohnen, wenn er alles außer acht lässt, was ich hervorgebracht habe? “. 17 Auch schon zu Beginn des Traktats, in der Vorrede, stellt a lBerti die Bedeutung der Architektur für das Gemeinwesen unter dem Gesichtspunkt des „Nützlichen“ deutlich heraus. Einige Beispiele: „Nützlichkeit und Notwendigkeit von Decke und Wand, [...] die Menschen zu vereinigen und zusammenzuhalten“ 1 ; der Architekt habe viel erfunden, „daß ohne Zweifel überaus nützlich und für die Bedürfnisse des Lebens immer von neuem äußerst angemessen ist“ 19 ; er habe viele Leistungen erbracht, „was zum Heil und Segen des Lebens beiträgt“ 20 ; er habe dabei geholfen, „das Vaterland, die Freiheit, den Besitzstand und das Ansehen der Bürgerschaft zu schützen und zu vermehren, sowie die Herrschaft zu befestigen und auszubreiten“ 21 . Schmuck und Ornament, vom Privatmann eingesetzt, werden besonders gelobt: „Wenn du eine Wand oder eine Portikus recht prächtig ausgeführt hast, oder dir den Schmuck der Türgewände, der Säulen oder der Decke geleistet hast, so sind die guten Leute mit dir und mit sich zufrieden und beglückwünschen dich und sich; wohl hauptsächlich deshalb, weil sie wissen, dass du durch diese Anwendung deines Reichtums dir, deiner Familie, deinen Nachkommen und der Stadt Zier und Würde sehr vermehrt hast“ 22 . Um die Bemerkungen a lBerti s hinsichtlich dieser Beziehung des Bauens auf das „gute Leben“ im Gemeinwesen zu vervollständigen: „Endlich sei noch gesagt, dass die Beständigkeit (stabilitas), das Ansehen (dignitas) und 6 Mühlmann 98 , 7 Alberti 99 , 9 8 A.a.O., 0 9 0 0 f. Architekturtheorie_Huter.indd 234 23.01.2008 15: 28: 27 Uhr <?page no="234"?> Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 235 die Zier (decus) eines Gemeinwesens am meisten des Architekten bedürfe, der es bewirkt, dass wir zur Zeit der Muße in Wohlbehagen, Gemütlichkeit und Gesundheit, zur Zeit der Arbeit zu aller Nutz und Frommen, zu jeder Zeit aber gefahrlos und würdevoll leben können“ 23 . Die Beständigkeit und Fortdauer des Gemeinwesens bedarf des technischen Könnens des Architekten, ob für das öffentliche oder private Bauen. Schmuck und Ornament werden dem Erbauer zur Ehre, der städtischen Bürgerschaft zum Ansehen gereichen. „Die Ornamente der Architektur verhelfen dem Gemeinwesen zum Erscheinen Lassen seiner Prinzipien“. 24 Offensichtlich liegen wir nicht falsch, wenn wir behaupten, dass in A lberti s ästhetischen Bestimmungen einer Theorie der Baukunst nicht nur der Aspekt des Erscheinen-lassens von Schönheit, sondern die ethische Forderung des Gerechten und Richtigen gemeinsam auftauchen. Damit sind „Schönheit“ und „Zweck“ der Architektur als eine Einheit gesehen. M ühlMAnn s These, A lberti s ästhetische Theorie sei vom Prinzip des kommunikativen Handelns bestimmt, insofern ihre Gegenstände, Gebäude usw. aufs Engste mit den Zwecken des Handelns verbunden sind, ist nachvollziehbar. Im zweiten Kapitel von Buch 6 finden wir mehrere Stellen, an denen A lberti auf die Bedeutung des Schönen hinsichtlich der menschlichen Tugend und Leidenschaft zu sprechen kommt. Wir wollen darauf achten, welche Aufgabe oder welcher Zweck der Schönheit und dem Schmuck von Bauwerken zugewiesen werden. In der Überschrift zu diesem Kapitel ist zusammenfassend von der „Würde der Bauwerke“ die Rede. „Die Anmut und Wohlgefälligkeit, meint man, komme nirgends anders her, als von der Schönheit und vom Schmucke. Deshalb kann man auch niemanden finden, der so traurig und stumpf wäre, so rau und bäurisch, dass er nicht durch besonders schöne Sache in höherem Maß ergötzt würde und unter Hintansetzung aller andern nur an den prächtigsten Gefallen fände; durch hässliche Dinge aber sich beleidigt fühlt und alles Rohe und Vernachlässigte verurteilt; der ferner nicht merkte, wie viel einer Sache an Schmuck fehlte und dennoch zugesteht, nicht zu wissen, was so sehr zum Wohlgefallen und zur Erhabenheit beiträgt“ 25 . Hier wird zunächst an die ursprüngliche Aufgeschlossenheit des Menschen für schöne Dinge erinnert, was A lberti nicht als Meinungsäußerung versteht, sondern als eine angeborene Einsicht, die sich auch dem menschlichen Verstand erschließt. Schönes kann von jedem Menschen erkannt werden, er reagiert auf schöne Dinge anders als auf hässliche. Das Schöne aber trägt zum Wohlgefallen und zur Erhabenheit bei, insofern ist es nützlich hinsichtlich eines „guten“ Lebens. Dann teilt uns A lberti mit, dass die „klugen (! ) Vorfahren“ auf „größte Schönheit“ geachtet hätten, als 23 13 24 Mühlmann 1981, 23 25 Alberti 1991, 292 f. Architekturtheorie_Huter.indd 235 31.01.2008 12: 19: 29 Uhr <?page no="235"?> 10. Vorlesung 236 sie ihre öffentlichen Angelegenheiten (Gesetzgebung, Militärwesen, Gottesdienst) auf das Prächtigste ausstatteten. Gerade a lBerti s Bezug auf das „ganze öffentliche Gemeinwesen“ zeigt die außerordentliche Bedeutung, die er der Schönheit und dem Schmuck beimisst, „ohne welches das menschliche Leben kaum bestehen kann“ 26 . Es ist unverkennbar, dass a lBerti den klassischen Topos von der Einheit des Guten mit dem Schönen in seiner Architekturtheorie aufnimmt. Das gerechte Leben bedarf zu seiner Sicherung und Unterstützung des Schönen, des Bequemen, des Eleganten. Die um Sorge für die Durchsetzung des Guten und Gerechten bemühte Bürgerschaft muss sich zu ihrer eigenen Unterstützung der besten Architektur versichern. Hier liegt der tiefe gesellschaftliche Zweck von Schönheit und Schmuck der Architektur. „Denn was löst ein unförmiger und sinnloser Steinbau für andere Gedanken in uns aus, als was wir eher bedauern sollen: die hinausgeworfene Menge Geldes, oder aber die sinnlose Leidenschaft Stein auf Stein zu häufen? Die Notwendigkeit gerecht zu werden ist leicht und eine Kleinigkeit, aber für Bequemlichkeit gesorgt zu haben, ist undankbar, sobald die Uneleganz des Werkes beleidigt. Dazu kommt, dass dies, worüber wir sprechen, zugleich die Bequemlichkeit und der Unvergänglichkeit eine große Unterstützung gewährt. Wer wird nämlich nicht zugeben, dass er sich zwischen schmucken Wänden wohler als zwischen vernachlässigten befindet.“ 27 Mit diesen Worten des Humanisten a lBerti wird dem Bauen ein gesellschaftlicher Rahmen aufgespannt, der sowohl das einzelne Bauwerk in seinen Proportionen achtet, als auch die Architektur im öffentlichen Bewusstsein des gesellschaftlichen Lebens fundiert. Es gibt Regeln, ein Bauwerk „schön“ zu machen, genauso wie es soziale Zwecke gibt, für welche die schmuckvolle Architektur die passende Antwort liefert. Das Gerechte und das Schöne konvergieren, die Prinzipien von Recht und Gesetz decken sich auf dieser allgemeinen Ebene mit denjenigen Prinzipien, die zur Grundlage der Architektur zählen. Aber auch die gesellschaftlichen Zwecke und Ziele von Recht auf der einen Seite, Architektur auf der anderen Seite stimmen darin überein, dass sie die Handlungen der Menschen leiten wollen. 4 Schönheit (pulchrum) und Schmuck (ornamentum) Ein zentraler Gedanke in a lBertis Konstruktion der Architektur liegt in dem Verhältnis des Schönen zum Schmuck. Das Schöne ist etwas Außerordentliches, etwas sehr Seltenes, sogar in der Natur ist es kaum vorzufinden. a lBerti ist klar, dass es bei der Anwendung des theoretisch Schönen auf die Praxis des Bauens und Herstellens eines Zusatzes bedarf, der das Schön- 6 A.a.O., 9 7 9 f. Architekturtheorie_Huter.indd 236 23.01.2008 15: 28: 27 Uhr <?page no="236"?> Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 237 sein gewissermaßen unterstützt. Wie macht man es jedoch passend, dass mit dem Gebäude sowohl der Schönheit als auch dem gesellschaftlichen Ziel des Bauens entsprochen werden kann? Wir wiederholen an dieser Stelle: a lBerti unterscheidet auf der einen Seite das Erscheinen der natürlichen Körper hinsichtlich ihrer mehr oder weniger substanziellen Schönheit. Dem gegenüber stellt er das göttliche, unveränderliche Gesetz der Schönheit, das sich der Mensch durch Einsicht und Verstand aneignen kann. Die totale Übereinstimmung beider ist eine Seltenheit. Für diesen empirischen Zusammenhang, insofern die fehlende Übereinstimmung von ästhetischer Substanz und (architektonischem) Körper ein Erfahrungsurteil beinhaltet, entwickelt a lBerti sein Schmuck-Konzept. „Jener Kenner der Formenschönheit merkte, dass denen [a lBerti diskutiert an dieser Stelle c icero s Beispiel, dass nur wenige unter den Athenern schöne Jünglinge sind], welche er nicht billigte, etwas fehlte oder dass etwas bei ihnen zuviel war, was mit den Regeln der Schönheit nicht übereinstimmte. Bei diesen wäre, täusche ich mich nicht, die Anwendung von Schmuck sehr vorteilhaft gewesen; durch Färben und Verdecken aller etwaigen Unförmigkeiten, durch Kämmen und Glätten wären sie schöner geworden, so dass das Unerwünschte weniger abgestoßen und das Anmutige mehr ergötzt hätte“. 2 Die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Sein ist kennzeichnend für a lBerti s Traktat. Der Schmuck wird von a lBerti immer dann angeführt, wenn nicht vom Begriff der Schönheit die Rede ist, sondern „empirisch“ von Gebäuden, Decken und Wänden. Die einem Gebäude innewohnende Schönheit ist vom äußeren Erscheinen der architektonischen Teile und Elemente zu trennen. a lBerti sagt, dass der „Schmuck gleichsam ein die Schönheit unterstützender Schimmer und etwa deren Ergänzung“ 29 sei. Die Trennung von „innerlich“ und „äußerlich“ wird in dem folgenden Zitat noch deutlicher herausgestellt: „Daraus erhellt, meine ich, dass die Schönheit gleichsam dem schönen Körper eingeboren ist und ihn ganz durchdringt, der Schmuck aber mehr die Natur erdichteten Scheines und äußerer Zutat habe, als innerlicher Art sei“ 30 . Da der empirische Aufweis von Schönheit so selten gelingt, bedarf es der Unterstützung durch passenden Schmuck. Das griechische Wort „prepon“ (angemessen) hat den gleichen Stellenwert wie das Wort „ornamentum” (Schmuck). Das Angemessene ergänzt den Körper, der selbst nicht vollkommen schön ist, aufs Trefflichste, insofern der angebrachte Schmuck passt. Das „Angemessene“ heißt im Lateinischen aptum oder decorum. Wir fassen zusammen: Schönheit und Schmuck stehen im Zentrum von a lBerti s Architekturtraktat. Was Schönheit ist, kann begrifflich definiert werden und lässt sich aus Gesetzmäßigkeit und Regeln deduzieren. Sie ist 8 9 f. 9 9 0 9 Architekturtheorie_Huter.indd 237 23.01.2008 15: 28: 27 Uhr <?page no="237"?> 10. Vorlesung 238 dem menschlichen Verstand einsichtig und beruht nicht auf Meinung. Das Ornament ist angemessene Zutat, stellt sich den konkreten Bedingungen der Bauaufgabe, ist deshalb kontingent und muss von Fall zu Fall als passender Schmuck für ein konkretes Gebäude entschieden werden. a lBerti s Konzept der Architektur lässt sich also nicht ausschließlich aus einem allgemeinen Begriff der Schönheit verstehen. Nur wenn wir fallweise, das heißt: nach Person, Zeit, Ort und Anlass, die Verbindung mit Schmuck und Zierde vollziehen, durchdringen wir a lBerti s Auffassung. Das Prinzip des Angemessenen, Passenden, Schicklichen leitet und führt das schmückende Ornament. 31 Was ist aber unter diesem Prinzip zu verstehen? Zunächst ist zu sehen, dass wir bei der Frage nach dem Verhältnis des Architekturbegriffs decorum-ornamentum auf die rhetorische Theorie zurückgehen müssen. Dort ist die „schmückende Rede“ der Vortragskunst, elocutio, untergeordnet. Die Vortragskunst befasst sich mit den Kommunikations- “techniken“, die dazu führen sollen, dass die Zuhörer auf Zweck und Inhalt der Rede aufmerksam werden. Elocutio behandelt also nichts Inhaltliches bzw. die Aussage der Rede Betreffendes, sondern erarbeitet sich Regeln, die sich auf gestalterische Aspekte der Rede beziehen. Ihre Anwendung soll bewirken, dass die Zuhörer sinnlich angesprochen werden. Wir haben also zwischen dem Redeinhalt und seiner angemessenen Ausschmückung zu unterscheiden. Letztere zielt auf die „ästhetische“ Wirkung eines Inhalts, der ohne schmückendes Beiwerk unter Umständen den vom Redner beabsichtigten Ausdruck entbehren müsste. Diese Unterscheidung zwischen Aussage und Wirkung nimmt a lBerti in seinem Traktat auf. Bezugnehmend auf das gesellschaftlich Leben hat sich das aptum (Angemessene) nach zweierlei zu richten: nach dem Nützlichen (utilitas) und nach dem Ehrenvollen (honor). „In“ der Ehre erscheint die Tugend, insofern sie sich als solche „nach außen“ zeigt. In dieser Verbindung des Angemessenen mit Ehre und Tugend wird das aptum ethisch. Neben der inneren besitzt die Rede auch eine äußere Angemessenheit. Dazu kommt die soziale Lage von Redner und Adressat der Rede. Der Redner muss nämlich auch auf Zeit, Ort und Zuhörerschaft angemessen reagieren. Damit weitet sich der Dekorum- Begriff zu einer üppigen Komplexität aus und unterstützt die Forderung, die Besonderheiten des Einzelfalls zu berücksichtigen: Seine Reichweite umfasst ein Spektrum „von der Angemessenheit zwischen Redeschmuck und Redegegenstand [...] bis zur Angemessenheit des Ortes, der architektonischen Gestaltung des Ortes, der Zeit im Kalender, der politischen Aktivität, dem Rang des Redenden, dem Rang der Zuhörer, dem Kostüm des Redenden usw.“. 32 Der Begriff der Angemessenheit knüpft an die Nikomachische Ethik des a ristoteles an, in der das Treffen der Mitte zwischen dem Zuviel und dem vgl. auch Horn-Oncken 967 A.a.O., 70 Architekturtheorie_Huter.indd 238 23.01.2008 15: 28: 28 Uhr <?page no="238"?> Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 239 Zuwenig als eine Tugend beschrieben wird. So liegt z.B. die Tapferkeit zwischen der Feigheit und der Tollkühnheit in der Mitte. Auch der Geiz und die Verschwendungssucht, um eine weiteres Beispiel zu nennen, hat in der Sparsamkeit die rechte Mitte. Ebenso bezeichnet das „Aptum“ die Mitte zwischen den Extremen. Angemessen ist eine Rede, insofern sie weder übernoch untertreibt. Es kommt damit zu einer folgenreichen Verknüpfung von virtus (Tugend) und ornatus (Schmuck). Es lässt sich nämlich von einer Tugend des Schmucks reden, insofern der rechte Umgang mit Schmuck, ebenso wie das tugendhafte Verhalten im Leben, aus einem Wissen um die Bedeutung der Mitte heraus erfolgt: Die Verwendung von Schmuck ist nur dann angemessen, wenn sie die Mitte zwischen einem Zuviel und Zuwenig hält. Im Bereich des Ästhetischen hat aber alles eine Außen- und Schauseite. Es geht hier um Ausdruck und Wirkung, um sinnlich Erfahrbares. Das ästhetisch Erscheinende erzielt eine Wirkung, die man „intuitiv“ nennen könnte, da der Schmuck eben nicht den Verstand anspricht. Das Angemessene wird somit zu einem Mittel, sich mit Hilfe dessen, was nur sinnlich in Erscheinung tritt, zu orientieren. m ühlmann drückt diesen Umstand, auf den das „Aptum“ trifft, so aus: „Indem es [das Aptum] stärker die sinnliche als die semantische Schicht der Sprache verwendet, wendet es sich an den sinnlich zerstreuten, nicht an den kontemplativ verharrenden Zuhörer“. 33 Damit sind die ästhetischen Regeln weniger an den in ruhiger Betrachtung versunkenen Zuhörer anzupassen. Vielmehr gilt es den am intellektuellen Gehalt der Rede eher uninteressierten, dennoch vom Anlass einer Rede betroffenen, aber leicht ablenkbaren Zuhörer gerade atmosphärisch für sich zu gewinnen. Zuerst liegt der einzelne Fall, das Besondere und Konkrete vor. Für dieses Einzelne, auf seine situative Stellung bezogen wird die Angemessenheit von etwas gesucht, das insofern etwas Nachträgliches und Hinzugefügtes ist. Zugleich ist das Finden und Herstellen des Angemessenen an eine erfinderischempirische Haltung gebunden, da es zum vorliegenden bestimmten Einzelfall passen soll. Das Wissen des Angemessenen geht auf Erfahrungen zurück, auf ein allgemein geteiltes Verständnis von dem, was sich in bestimmten Situationen schickt. Es ist ein zur Gewohnheit gewordener, konventioneller Umgang. Man begreift das schön Scheinende, die ästhetische Erscheinung unmittelbar, auch ohne kontemplative, rationale Hinwendung zum Schönen. Die Verknüpfung dieses Verständnis des Schönen mit dem Angemessenen gibt der „künstlerisch-gestalterischen“ Aufgabe ihr Maß darin, für den einzelnen Fall das ihm Zustehende zu verwirklichen. Das Schöne kann dann in Erscheinung treten, wenn bei den hergestellten Dingen das zu ihnen Passende getroffen wurde. 7 Architekturtheorie_Huter.indd 239 23.01.2008 15: 28: 28 Uhr <?page no="239"?> 10. Vorlesung 240 5 Zur Angemessenheit des Schönen Kaum ein anderes Ereignis hat die Fragestellungen, inwiefern Architektur ein Kunstwerk sei und welche gesellschaftliche Stellung dem Architekten auf dem Gebiet der Kunst zukommt 3 , so befeuert, wie das Aufkommen der nicht mehr handwerklichen Herstellung von Gebrauchsgegenständen. Dieser Sog der industriellen, auf rein technischen Verfahrensweisen gründenden Produktion hat auch die Architektur und ihre Kritiker vereinnahmt. Der Glaube an wissenschaftlich-technischen Fortschritt einerseits, an die Rückständigkeit handwerklicher Herstellungsweisen von Gebrauchsgütern andererseits hat die sich im Modernisierungsprozess befindenden Gesellschaften und ihr Selbstverständnis insgesamt tief beeindruckt. Aus architekturtheoretischer Sicht stand die Frage an, welche Auswirkungen das proklamierte Ende des Handwerks auf Hausbau und seine Gestaltungsmöglichkeiten haben könnte. Nützlichkeit und Schönheit traten mit einem Mal unversöhnlich auseinander: Die industrielle Produktion liefert nützliche Dinge, während Schönheit allein das Kennzeichen von Kunstwerken ist. Warum betrifft uns diese Diskussion heute noch? Architektur kann nicht Kunst sein, wenn sie unter Gebrauchsaspekten in Erscheinung tritt. Architektur stellt nämlich nicht eine eigene Welt dar, die sich, wie das Kunstwerk, von seiner Umgebung distanziert. Georg s immel hat diesen Grenz-Aspekt der Kunst, eine Welt für sich zu sein, sehr schön am (Bilder-)Rahmen, der eine absolute Welt-Grenze bedeutet, demonstriert. „Er [der Bilderrahmen] schließt alle Umgebung und also auch den Betrachter vom Kunstwerk aus und hilft dadurch, es in die Distanz zu stellen, in der allein es ästhetisch genießbar wird.“ 35 Das Kunstwerk ist „selbstherrlich in sich geschlossen“, heißt es an anderer Stelle, „[…] jedes eine Welt für sich, Zweck in sich selbst, schon durch einen Rahmen symbolisierend, daß es jedes dienende Eingehen in die Bewegungen eines ihm äußeren und praktischen Leben ablehnt“. 36 Nach s immel s Verständnis kann bewohnte Architektur niemals ein Kunstwerk sein, da Türen und Fenster die Wechselwirkung von Innen und Außen, von Bewohner und seiner Umgebung festlegen. „Nach dem Hand-Werk“ bedeutet das Auseinandergehen von Schönheit und Nützlichkeit in die autonomen Bereiche Kunst und Industrie. Der „Funktionalismus“ in der Architektur wies sich dadurch aus, dass er Historismus und Eklektizismus in der Architektur zu überwinden versprach als eine Art „moralisch-ästhetischer Reinigung“, vergleichbar der Reinigung der Sprache durch Ludwig W ittgenstein (1 9-1951). So jedenfalls sieht W ellmer die kulturelle Situation im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Jedoch ist dieser Vgl. Ricken, 990 5 Simmel 995b, 0 6 Simmel 99 b, 78 f. Architekturtheorie_Huter.indd 240 23.01.2008 15: 28: 28 Uhr <?page no="240"?> Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 241 Impuls verdampft zur nur mehr dicken Luft eines „mechanischen und technokratischen“ Funktionalismus, für den Statistik, Verkehr und Hygiene zu Werten an sich einer „guten“ Architektur und Stadt avancierten. W ellmer fordert, das Herzustellende „an kommunikativ geklärte Zwecksetzungen“ zurückzubinden. 37 Wie lässt sich Angemessenheit als ethisch-ästhetischer Grundbegriff einer praktisch fundierten Architekturtheorie begründen? Wir haben den Gebrauch von Lebens-Mitteln als ursächlichen Anlass ihres Hervorbringens festgestellt. Die „richtige“ Form ergibt sich letztlich aus der Zweckbestimmung des herzustellenden Werkzeugs. Die Werkzeuge müssen den Zielen und Zwecken gerecht werden. Aber erst unsere Anwendungserfahrungen mit dem Hergestellten zeigen, ob sein Gebrauch tatsächlich das Bedürfnis, worumwillen es hergestellt wurde, befriedigt oder nicht. Dieses Gerechtwerden der Werkzeuge und Lebens-Mittel lässt sich aber nur im gemeinschaftlichen Gespräch klären, das jene Erfahrungen thematisiert. Nur in der konkreten Handhabung des Mittels zeigt sich sein Nutzen. Hersteller (Entwerfer) und Nutzer klären ihre Absichten, Erwartungen und Erfahrungen. Allein die Einbettung des Dialogs in eine gemeinsame Lebensform zeigt auf das Passende hinsichtlich einer geteilten Orientierungswelt. Erst der Gebrauch, der Umgang und seine Folgen lassen dann auf eine Angemessenheit schließen und sie „beurteilen“. Gerade die Besinnung auf den Zweck (l oos : Das Haus deckt ein Bedürfnis) macht die vorgängige Absicht kenntlich, worumwillen etwas hergestellt und in Dienst genommen wurde. Von „Moralität“ dürfen wir lebensformbezogen reden, insofern wir das Bauwerk als ein Lebens-Mittel begreifen, dessen Zweck 3 es ist, ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen. Denn nur durch die Befriedigung solcher Bedürfnisse, so das Selbstverständnis unserer Lebensform, kann unser Leben gelingen. Thomas r entsch entwickelt einen philosophischen Blick auf die „maßbezogene Angemessenheit“, dem wir folgen wollen. 39 Schönheitstheorien betonen durchweg die Notwendigkeit des Künstlers, sich Regeln zu unterwerfen. Das erklärt sich daraus, dass sich in Bestimmungen des Maßes, der Proportion, der Symmetrie, der Ordnung und Harmonie etwas Grundsätzliches spiegelt: Der Mensch kann dem Grundzug seiner Lebenspraxis, dem eigenen Leben eine Form zu geben, nicht ausweichen. Er muss sein Leben konkret führen. Gegenüber dieser naturgegebenen Unbestimmtheit und Nichtfestgelegtheit der Form unserer Lebenspraxis liegt das Erfordernis der unbedingten Form- und Gestaltgebung. Jeder Mensch muss seinem Leben eine Form, eine Gestalt geben. Sowohl die individuelle Lebensführung mit ihren 7 Wellmer 985, 8 Vitruv führt die (gesellschaftlichen) Zwecke des Bauens Verteidigung, Gottesverehrung und allgemeiner Nutzen an, s. Vitruv 99 , 5 9 Rentsch 998 Architekturtheorie_Huter.indd 241 23.01.2008 15: 28: 28 Uhr <?page no="241"?> 10. Vorlesung 242 konkreten Ausformungen als auch alle Gegenstände, die im Kontext unserer Lebenspraxis hergestellt werden und in Gebrauch kommen, sind nach ihrer Gestalt weithin nicht festgelegt. Dieses Formapriori gilt für die unscheinbarsten Gebrauchsgegenstände wie Zahnbürsten, Münzen, Büroklammern, Besteck, Tische und Stühle, als auch für größte Lebenszusammenhänge: unsere Wohnungen, Häuser, Städte, Parks und Landschaften. Der für unseren Zusammenhang entscheidende Aspekt liegt in der Einsicht, dass wir überall form- und gestaltgebend tätig werden müssen. Freilich sind Gestalt und Form durch die Funktionen, die die Gegenstände im Lebensprozess erfüllen, schon bestimmt. Denken wir an Besteck, Möbel, Wohnung, Haus. Aber ihre Gebrauchsfunktion legt nicht die Gestalt insgesamt fest. Deshalb lässt sich negativ von einem nicht-funktionalen und positiv von einem ästhetischen Überschuss in all unseren Praxis- und Umgangsformen sprechen. Mit anderen Worten: Wir müssen das Formproblem wieder und wieder lösen. Formen der Angemessenheit im Kontext des noch funktional mitbestimmten und nicht rein-künstlerisch verstandenen Gestaltgebungsapriori sind leicht aufzuzählen: die Dienlichkeit und Zierlichkeit von Kämmen, Bürsten und Bestecken, die schmuckvolle Eleganz und Bequemlichkeit von Möbeln und Kleidern, sicher auch die vornehme Geräumigkeit einer Altbauetage usw. Von großem Einfluss indes ist, dass Begriffe wie Passung und Wohlproportioniertheit unter den klassischen Kategorien des Geeigneten, Nützlichen, Brauchbaren, Schicklichen stets auch das Wohlgefällige, deshalb Begehrens- und Liebenswerte, das Gelungene bedeuteten. Bei den klassischen Beispielen (Bemalung einer Vase, Anlage von Gärten und Städten, Abfassung einer Lobrede), die alle in dieser Tradition des Maßes stehen, geben die jeweiligen Gebrauchsaspekte, die so vielfältig wie das Leben sind, die internen Kriterien dafür vor, was angemessen ist, d.h., wie etwas zu machen ist. Erinnert sei an die Begriffe Decorum bei v itruv bzw. Aptum bei a lBerti 40 . r entsch weist darauf hin, dass mit der bürgerlichen Ästhetik ab etwa 1750 eine extreme Engführung des Verständnisses des Schönen verbunden gewesen sei. Aufklärung und Romantik brachten es in Verbindung mit Subjektivierung, Verinnerlichung und Ästhetizismus, Musealisierung und Avantgardismus. In der Folge ist die Grundproblematik des Schönen und der sinnlichen Gestaltgebung grob verkürzt ausgelegt worden. Umso mehr sind wir heute aufgefordert, die Bestimmung des Schönen in lebenspraktischer Hinsicht auf die Gestaltung unserer Wohnwelt wieder zu erweitern. Für das Wohnen und Bauen bedeutet dies eine Wiederaufnahme der Zusammenführung des Schönen und Guten unter dem Leitbegriff des Angemessenen bei der Umsetzung von praktischen Maßverhältnissen. 0 Vgl. Horn-Oncken 967 sowie Mühlmann 96 Architekturtheorie_Huter.indd 242 23.01.2008 15: 28: 29 Uhr <?page no="242"?> Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 243 Wenn wir nach dem ästhetischen Formgebungsproblem fragen, müssen wir unseren Blick auf die sprachlich verfasste kommunikative Lebenspraxis richten. Der Mensch als leiblich-sinnliches, als bedürftiges und endliches Wesen ist der kommunikativen Praxis fähig. In lebensweltlich-praktischen Situationen verwenden wir Worte wie „wahr“, „richtig“, „es gibt“, „wirklich“ usw., die zu einer Praxis der (architektur-)theoretischen Intersubjektivität führen kann, in welcher wir uns an begrifflichen Diskussionen beteiligen. Aus der kommunikativen Praxis der Verwendung von Worten wie „gut“, „sinnvoll“, „menschlich“, „anständig“ erwächst die kommunikative Lebensform des mitmenschlichen Austauschs, in denen wir uns z.B. über moralische Standards auch des „guten Geschmacks“ verständigen. Eine dritte kommunikative Lebensform lässt sich an der alltäglichen Verwendung von urteilenden Prädikaten wie „schön“, „hässlich“, „meisterhaft“, „wohlgefällig“, „grauenhaft“, „einmalig“, „gelungen“, „misslungen“ aufzeigen. Darin geht es um ästhetische Praxis und ästhetische Erfahrung, den Gebrauch der Lebensmittel und deren Ausdeutung für die eigene Lebensführung. In den ästhetischen Erfahrungen, die wir im Umgang mit gestalteten Räumen und Landschaften machen, so r entsch , erfahren wir mehr als nur den Gegenstand, der in Erscheinung tritt. Wir erfahren gleichzeitig die Sinnbedingungen einer menschlichen Welt. Wir erfahren damit auch etwas über uns selbst und über unsere Welt. Und zwar erfahren wir die sinnlich entscheidenden Bedingungen humaner Selbst- und Weltverhältnisse. Diesen Zusammenhang wusste k ant entsprechend auszudrücken: „Die schönen Dinge zeigen, daß der Mensch in diese Welt passe.“ In der Erfahrung des Schönen deute ich den begegnenden Gegenstand als „schön“, „weil er in die Perspektive einer mir günstigen Welt passt, durch deren Gebrauch ich mich in ein ästhetisches Verhältnis zu dieser gesetzt habe.“ 1 r entsch plädiert dafür, die Frage nach der Ästhetik in den kommunikativen und praktischen Aspekten unserer Lebenswelt aufzusuchen. Im Austausch mit anderen bewegen wir uns nicht nur in subjektiven, sondern vor allem in gemeinsamen Gesprächen über das Schöne in unserer Welt. Innerhalb dieser Lebenswelt geht es uns allen um die wahre und gute Orientierung, die wir als das Gute und Schöne schlechthin aussprechen. Nur die jeweilige Lebenspraxis kann zeigen, wie uns diese Orientierung und damit das Gestaltungsproblem unseres Lebens gelingt. Der praktisch-kreative Zusammenhang von Entwurf (was wir uns erhoffen) und Erfüllung (was uns tatsächlich gelingt) eignet insbesondere das Wohnen. Im wohnenden Gebrauch geben wir den Architekturelementen ihre Bedeutung. Darüber hinaus zeigt der Umgang die Nützlichkeit und Angemessenheit ebenso die Veralterung und Unbrauchbarkeit von künstlich Hergestelltem. Kaulbach 98 , f. Architekturtheorie_Huter.indd 243 23.01.2008 15: 28: 29 Uhr <?page no="243"?> 10. Vorlesung 244 6 Geschmack und Gefallen Adolf l oos wusste das Wesentliche des Hauses zu treffen. Das Haus hat allen zu gefallen. Zum Unterschied zum Kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. Das Kunstwerk ist eine Privatangelegenheit des Künstlers. Das Haus ist es nicht. Das Kunstwerk wird in die Welt gesetzt, ohne daß ein Bedürfnis dafür vorhanden wäre. Das Haus deckt ein Bedürfnis. Das Kunstwerk ist niemandem verantwortlich, das Haus einem jeden. Das Kunstwerk will die Menschen aus ihrer Bequemlichkeit reißen. Das Haus hat der Bequemlichkeit zu dienen. Das Kunstwerk ist revolutionär, das Haus konservativ. Das Kunstwerk weist der Menschheit neue Wege und denkt an die Zukunft. Das Haus denkt an die Gegenwart. Wir lieben alles, was unserer Bequemlichkeit dient. Wir hassen alles, was uns aus unserer gewonnenen und gesicherten Position reißen will und uns belästigt. Und so lieben wir das Haus und hassen die Kunst. 2 Man hat sich in der Beschäftigung mit l oos immer wieder allein auf seinen Aufsatz „Ornament und Verbrechen“ bezogen, andere seiner Texte aber zumeist ignoriert. Anders ist es kaum zu erklären, dass man l oos eine rückständige ästhetische Position vorgeworfen hat. Konservativ ist er allenfalls hinsichtlich seines Umgangs mit praktizierten Lebensformen. Wie kein zweiter Architekt und Kritiker macht l oos aufmerksam auf die Einbettung unseres Wohnens in übergreifende Stile des Lebens. Zwar weigert er sich, das Haus als Kunst auszuzeichnen, dennoch soll es dem Menschen gefallen. Vielleicht kann es ihn auch beglücken. s eel behandelt das „Gefallen“ als eine Weise der ethischästhetischen Geltung und betont den intersubjektiven Wert der Gegenstände, die einem ethisch-ästhetischen Geschmacksurteil unterzogen werden. Dafür infrage kommt, nach s eel , auch die „Schönheit einer Wohnung“: „Ein guter Geschmack ist stets das Gefallen am Guten des Geschmacks“. 3 Bei l oos etwa steht der Ausdruck „Gefallen“ ganz im Dienste bestimmter Stile des Lebens. Der Kontext, in den er das Haus und seine allgemeine Gefälligkeit stellt, ist ein lebensweltlich-pragmatischer. Sein Hinweis auf „Bequemlichkeit“ und „gesicherte Position“ ist eine Anspielung auf die Ziele des Wohnens. Wenn l oos von „gefallen“ spricht, dann fällt er durchaus auch ein ethisch-ästhetisches Urteil. Wer einen sicheren Geschmack hat, sieht auf ein Ganzes hin. Er orientiert sich an einer Norm, die der Zustimmung einer Gemeinschaft sicher ist, für die jedes Einzelteil zum bestehenden Ganzen zu passen hat. „Schön“ ist etwas in Hinsicht auf seine Angemessenheit zum Gesamten. Loos 995, 8 Seel 99 , Vgl. Hans-Georg Gadamer: „Die griechische Ethik - die Maßethik der Pythagoreer und Platos, die Ethik der Mesotes [Mitte], die Aristoteles geschaffen hat - ist in einem tiefen und umfassenden Sinne eine Ethik des guten Geschmacks“, in: Gadamer 986a, 5 Architekturtheorie_Huter.indd 244 23.01.2008 15: 28: 29 Uhr <?page no="244"?> Zur Einheit des Ethisch-ästhetischen 245 In welchem Sinne lässt sich von Dingen der täglichen Nutzung hinsichtlich ihrer Schönheit überhaupt sprechen? Offensichtlich liegt die Schönheit eines Gegenstands wie zum Beispiel eines Krugs gerade darin, dass er seinen Dienst am Menschen verrichtet, in der Gabe, die er schenkt. Die Schönheit erfüllt sich im Vorgriff auf die Befriedigung eines Bedürfnisses, die man dem Gegenstand ansieht, wie auch in der sicheren Ausführung des Dienstes, gleichsam „Hand in Hand“ mit dem, um dessen Bedürftigkeit es hier geht. Das Gefallen teilt sich als Vergnügen an den Formen mit, die nicht der Ökonomie der Funktion gehorchen. Das Gelingen der Lebenspraxis zeigt sich hier in der durchaus ästhetischen Perspektive des Vergnügens und Wohlgefallens, die dem Bedürfnis nach einer zu uns passenden Welt entsprechen. „Der handwerkliche Gegenstand befriedigt ein Bedürfnis, das nicht minder gebieterisch ist als Durst und Hunger: das Bedürfnis, uns der Dinge, die wir sehen und berühren, zu erfreuen, zu welchem täglichen Gebrauch sie immer bestimmt sein mögen.“ 5 Das Haus deckt das Bedürfnis des Wohnens ab. Es ist deshalb „mit Geschmack“ zu entwerfen. „Geschmack“ ist als Sinn ein sicheres Empfinden für die Wirkung von etwas. „Während in dem, woran einer Geschmack hat, sich Persönliches reflektiert, wird als schön etwas erkannt und entdeckt. Etwas ‚ist‘ schön - nämlich ein Park oder eine Gegend, aber auch ein Weg, ein Tier, ein Bild, eine Frau usw. Und auch in dem ‚hier ist es schön‘ ist in der Situation des - irgendwo - Hierseins angegeben, worin das Schönsein zu finden ist.“ 6 Geschmack setzt die Interessiertheit im Sinn des praktischen, lebendigen Verhältnisses voraus, in dem man zum Beispiel zu einem Haus stehen muss, um es bewohnend in seiner Schönheit entdecken zu können. Fehlt die praktische Freiheit, etwas auf sich wirken zu lassen, so kann man an der Schönheit der Dinge vorübergehen. 7 „Geschmack“ ist, nach den Worten g aDamer s, eine eigene Erkenntnisweise. Dieses sinnliche Unterscheidungsvermögen besteht darin, „nicht nur dieses oder jenes als schön zu erkennen, das schön ist, sondern auf ein Ganzes hinzusehen, zu dem alles, was schön ist, zu passen hat.“ l oos geht es - ganz im Sinne a lBerti s - um die sichere Beurteilung des Einzelnen, mit dem sich die Architektur abgibt, hinsichtlich eines Ganzen: Das Einzelne muss mit allem anderen zusammenpassen. Der Geschmack „erkennt“, ob etwas „passend“ ist. Was soll es denn sonst bedeuten, wenn l oos fordert, „das Haus muß gemütlich aussehen“ 9 ! - Weil es ihm um das konkrete Gelingen eines besonderen Wohnens ging, musste l oos sich gegen den Einfluss von künstlerischen Stilmitteln wenden, die aus Gebrauchs- 5 Paz 00 , 6 Lipps 977b, 8 7 A.a.O., 85 8 Gadamer 986a, 9 Loos 995, 86 Architekturtheorie_Huter.indd 245 23.01.2008 15: 28: 29 Uhr <?page no="245"?> 10. Vorlesung 246 gegenständen „künstliche“, das heißt welt- und lebensfremde Dinge machte. Praktische Lebensformen sind nicht Selbstzweck, sondern das Ganze gewachsener kultureller Überzeugungen, wie sich ein Haus „gut“ bewohnen lässt. l oos wollte mit seinen Polemiken darauf aufmerksam machen, dass es eine richtige und eine falsche Beziehung zwischen Stil und Leben gibt. Beide Bezugnahmen aber bringt man nur praktisch zum Ausdruck. Jetzt bemerken wir, dass auch das architektonische Handeln sich mit Entwürfen von Gebrauchsgegenständen abgibt, deren Erfüllung erwartet wird. Aber diese Erfüllung sah l oos allein im Zusammenhang zeitgemäßer „Nützlichkeit“. Jenseits einer autonomen Kunst gibt es ästhetische Ansprüche innerhalb von „gelebten Stilen“, die eine zeitgemäße Architektur befriedigen muss. Die konkrete Form der Gebrauchsgegenstände entspricht präzise einem gesellschaftlichen Lebensstil. Oder anders gesagt: wir können etwas nur in Gebrauch nehmen, wenn wir verstehen, wozu es gut ist. Architekturtheorie_Huter.indd 246 23.01.2008 15: 28: 29 Uhr <?page no="246"?> 11. Vorlesung Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten (Zur Kritik der Architekturkritik) In dieser Vorlesung fragen wir danach, was die Rede vom architektonischen Stil auf sich hat und bedeutet. Z.B. verbinden wir die Sichtbarkeit von Architektur mit dem Erscheinen eines formalen Schemas, das wir daraufhin Stil nennen. Stil ist dann etwas, was sich von demjenigen, der ihn „anwendet“, isolieren kann und sich in seine Einzelheiten oder Elemente auflösen lässt. Solche stilistischen Elemente, mit denen das moderne Bauen arbeitet, können zum Beispiel das „liegende Fenster“, der „offene Grundriss“ oder das Flachdach sein. Stilelemente liegen dann wie in einem Werkzeugkasten dem Architekten zur Benutzung bereit. Zuerst wählt man einen Stil aus und bedient sich alsdann seiner als typisch genommenen Merkmale. Aber liegt in diesem Wählen und Sich-bedienen nicht selbst etwas Charakteristisches vor? Weist die selbstverständliche Art etwas zu tun, zu entwerfen, zu begründen, nicht sehr prägnant auf einen Denk- und Lebens-Stil hin? 1 Der „Internationale Stil“ Im Jahr 1932 wurde in New York die Ausstellung „The International Style: Architecture Since 1922“ eröffnet. 1 Die beiden Ausstellungsmacher, Philip C. J ohnson und Henry-Russell h itchcock , konnten darauf vertrauen, dass ihr Publikum auf die sichtbaren Bestandteile und Einzelheiten der gezeigten Architekturen ihr Augenmerk richteten. Ordnungsprinzipien, unter denen entworfen wurde, waren sichtbar, insofern bestimmte architektonische Lösungen ähnliche äußere Formen hervorbrachten. Ziel von Ausstellung und gleichnamigem Buch war es, plausibel zu machen, dass „heute ein moderner Stil existiert“. In welchem Sinne ist bei h itchcock / J ohnson von einem bestimmten, identifizierbaren Stil die Rede, damit überhaupt „Ähnliches“ entdeckt werden kann? Es scheint ihnen darum zu gehen, nachzuweisen, dass In deutscher Sprache ist das Buch zur Ausstellung unter dem Titel „Der Internationale Stil 9 “ erschienen. Architekturtheorie_Huter.indd 247 23.01.2008 15: 28: 29 Uhr <?page no="247"?> 11. Vorlesung 248 die Architektenschaft nicht mehr länger auf der Suche (nach einem Stil) ist, sondern dass sie einen „gefestigten Stil erlangt“ habe. So ist Stil etwas, das man sucht und am Ende gefunden hat. Was die beiden Autoren unter Stil verstehen, korrespondiert mit einer bestimmten Beschreibung, die den Leser auf etwas aufmerksam machen soll, auf was er z. B. beim Betrachten der Fotographien und Pläne (sowohl in der Ausstellung als auch im Katalog/ Buch) zu achten hat. Der so genannte Internationale Stil wird in eine Reihe mit den großen kunstwissenschaftlich bezeugten geschichtlichen Stilen gestellt, die jener seinerseits „als Stil“ beerbt. Insofern wird eine kontinuierliche Geschichte der Stile unterstellt, wie folgendes Zitat Salomon r einach s von 190 , welches die Autoren breit anführen, bezeugen soll: „Die lichten und luftigen Konstruktionssysteme der gotischen Kathedralen, die Freiheit und Schlankheit ihrer Tragskelette vermitteln die Vorahnung eines Stils, der sich im 19. Jahrhundert zu entwickeln begann […] In dem Konflikt, der zwischen den beiden Elementen des Bauens, feste Materie und offener Raum, besteht, scheint alles darauf hinzuweisen, daß das Prinzip des offenen Raumes die Vorherrschaft erlangen wird, daß die kommenden Paläste und Häuser von Licht und Luft durchflutet sein werden“. 2 Nur vor dem Hintergrund dieser Geschichts- und Stilauffassung, wonach die Geschichte der Architektur eine Abfolge von Stilen sei, in der ein moderner einen traditionellen ablöst, ist folgende Behauptung zu verstehen: „Le Corbusier […] ließ […] Behrens und Loos schnell hinter sich“. 3 Die Architekturkritik stellt einen „neuen“ Stil fest, sobald er sich „einheitlich und umfassend“ durchgesetzt hat. Sie verweist dann auf eine typische Weise der „Behandlung der Probleme der Konstruktion, [...] der Form, [...] der Funktion“ . Der Internationale Stil lässt sich nun an seinen Produkten zeigen. Was im architektonischen Diskurs unter Stil gefasst wird, wiederholt sich in der Auslegung des Architekturkritikers, wenn er am fertigen Bauwerk dessen „Wirklichkeit“ zu beschreiben unternimmt und dabei immer wieder auf dieselben Ausdrücke zurückgreift. Wahrnehmung und Interpretation sind nicht mehr zu unterscheiden. Die Aufgabe der Architekturkritik ist es offensichtlich, durch ungewöhnliche, zumindest unerwartete Wortwahl bestimmten Beobachtungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken als anderen. Aber erst die Zusammenfassung unter ein paar gemeinsame bzw. einheitliche Gesichtspunkte (so genannte Prinzipen, derer man sich wie fester Regeln bedient) lässt dann so etwas wie einen „Stil“ überhaupt in Erscheinung treten. Einen Stil gibt es nur, insofern ihn eine stilgerechte Beschreibung begleitet. So bleibt die Bestimmung von Stil durch die Architekturkritik stets bezogen Johnson/ Hitchcock 985, A.a.O., 6 Architekturtheorie_Huter.indd 248 23.01.2008 15: 28: 30 Uhr <?page no="248"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 249 auf ihre eigene Leistung, sprachlich-erfinderisch Darstellungen anzubieten, die das Zeug haben, von Dauer zu sein. 2 Stil kann mehr Der Begriff des Stils (bzw. die Wortverwendung) ist in seiner Geschichte und Bedeutung schillernd, nicht eindeutig und unklar. 5 Sein Sinn schwankt zwischen der Auslegung als Einkleidung von Gedanken und jener, wonach der Stil der Mensch selbst sei. Als logisch-periodisches Ordnungsprinzip zur Bewältigung unserer Wirklichkeit und ihren Werken wird von „Stil“ vor allem in den historischen Kunst- und Kulturwissenschaften gesprochen. 6 „Stile“ gelten darin als Kategorisierungseinheiten, unter die Werke (nicht nur) der Kunst subsumiert werden. Gottfried s emPer verwendet den Ausdruck Stil in einem systematischen Sinne: Stile lassen sich lehren und herstellen, was der ehemalige Göttinger Student der Mathematik durch die Aufstellung einer Funktionsgleichung „stilistisch“ eindrucksvoll zum Ausdruck bringt. Ein Kunstwerk ist nach s emPer s Verständnis ein „Gesamtresultat“. 7 Eine andere Perspektive auf das Thema der Darstellung eröffnet der Begriff Denk-Stil. Damit kann gezeigt werden, dass das, was in Erscheinung tritt, in einer unlöslichen Einheit mit seinem Träger oder Erfinder, hier dem Architekten, steht. Diesem Verständnis geht es um den Ausdruck von Dargestelltem selbst, nicht um etwas, was möglicherweise „hinter“ dem Ausdruck stehen könnte. Jetzt kann „Stil“ nicht mehr wie ein Oberflächenmerkmal behandelt werden. Das Dargestellte ist die Wirklichkeit, auf die wir, es wahrnehmend und deutend, reagieren. In diesem Verständnis sind auch Geschichten, die erzählt werden, eine konkrete Form, durch die wir ein Erlebnis oder eine Erfahrung darstellen. Ebenso stellen wir im „Wie“ unseres Erzählens, in der Anderen gezeigten und sichtbaren Haltung, mit der wir etwas beschreiben und weitergeben, etwas dar: uns selbst. Wenn wir nun sagen: „Sein Vortrag hatte Stil“, dann meinen wir etwas Einheitliches und Ganzes: Den Vortragenden (seine Gesamt-Erscheinung) können wir nicht vom Akt des Vortragens (den Inhalten, den Gesten, der Gestalt der Stimme usw.) trennen. Der vortragende Mensch ist also eine „Ganzheit“ und wird in dieser Ganzheit wahrgenommen. Das Denken, hier als Sichtbarwerden eines Denk-Stils, können wir nicht davon separieren, wie es in Erscheinung tritt, sich darstellt, in der Welt sich zeigt. Vielmehr haben wir es mit einer „ganzen Gestalt“ zu tun. Um einen Vergleich zu wagen: Der Zorn, den jemand in seinem Gesicht zeigt, lässt sich nicht von diesem zornigen Menschen abheben, so als ob wir 5 vgl. Heinz 986; Müller 98 6 vgl. Gombrich 98 7 So in der berühmten Formel Y=F (x,y,z), vgl. Semper 979 Architekturtheorie_Huter.indd 249 23.01.2008 15: 28: 30 Uhr <?page no="249"?> 11. Vorlesung 250 es mit zwei Erscheinungen zu tun hätten, mit dem Menschen und dann noch zusätzlich mit seinem Zorn. Ein entsprechendes Verständnis von Stil scheint umso berechtigter, wenn man die Einsicht gewonnen hat, Formen (des Lebens, des Umgangs, des Wohnens, aber auch Haus- und Gartenformen) nicht als etwas Zufälliges und Beliebiges anzunehmen, sondern als notwendige und alternativlose Konkretion alles menschlichen Handelns und Tuns. Als „sichtbare“ und „sehende“ Individuen, die in einmaligen Situationen stehen, müssen wir unserem Leben eine konkrete Form geben, wie auch wir die Welt in ihrer Besonderheit und Situationalität erleben. 3 Stil und Lebens-Stil Eine vorbzw. außerwissenschaftliche Betrachtung des Menschen und seiner Welt, so wie er sie zunächst erlebt, erfährt und auf vielfältige Weise zum Ausdruck bringt, ist das philosophische Feld, in der die sogenannte Lebensphilosophie (etwa zwischen 1 90 und 1920) sich einen Zugang zur Wahrheit zu verschaffen bemühte. Der abstrakten Vernunft, wie sie etwa Rationalismus und Empirismus jeweils propagieren, wird eine „lebendige“ oder „konkrete Vernunft“ entgegengestellt. Stil reduziert sich nicht auf eine formalästhetische Auseinandersetzung mit einzelnen Kunstwerken, sondern erweitert sich zur Lebensauffassung. Damit wird Stil in den Kontext des „ganzen“ Lebens gerückt. Er wird zum Symbol eines Gesamtbefindens. Zum Stil gehört dann eine Weltanschauung, die alle Bereiche des Lebens, seine Bewältigung und Deutung, einbezieht. Auch werden Erkennen und Leben aus einer einheitlichen Stil-Perspektive gesehen. 9 Dieser, wenn man so will, „lebensphilosophische“ Standpunkt unterscheidet nicht mehr zwischen Weltbild und Stil (des Denkens). 10 Haltung, Beschreibung, Begriffsgebrauch und Denkgestalt vereinigen sich zum echten Formausdruck, der eine Epoche materiell und geistig auszeichnet. 11 Die Übereinstimmung von Überzeugung und Stilausdruck ist das Kriterium für „Echtheit“. Der Primat der Praxis des Lebens, der für die Lebensphilosophie leitend ist, lässt die Einheit von Überzeugtsein und Tun als stildominant erscheinen. „Stil bedeutet dabei mehr als eine bloße Technik der Problemlösung; Stil ist die notwendige Form der Vermittlung des Problemdenkens mit den für das Handeln erforderlichen praktischen Stellungnahmen des Menschen zur Welt. In diesem Sinne meint Stil in der 8 Von einer ästhetischen Wahrnehmung können wir überall dann sprechen, wenn es sich dabei um eine sinnliche Erkenntnis handelt, vgl. G. Gabriel 997 9 Vgl. Fellmann 98 , 0 0 Ähnlich kommentiert Joachim Schulte ( 990) die Begriffe Weltbild und Stil bei L. Wittgenstein. Vgl. Fellmann 98 , 0 ff. Architekturtheorie_Huter.indd 250 23.01.2008 15: 28: 30 Uhr <?page no="250"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 251 Lebensphilosophie die Überzeugung von einer Wirklichkeit.“ 12 Stil ist weder Rezeptwissen noch beliebiges Methodenarsenal, nach welchen wir unser Handeln kognitiv ausrichten und sichtbar machen. Vielmehr erscheint alle Wirklichkeit schon in ihrem vorwissenschaftlichen Erfassen als stilgemäß. Bezogen auf ein Verstehen der Werke, die sich in der Welt zeigen, bedeutet dies: Erst nachträglich erkennen wir am Gemachten „seine Machart“, an der dann ein bestimmtes Bild von der Wirklichkeit bemerkbar (rekonstruiert) wird. Vertiefter als in der sogenannten Lebensphilosophie wird dann Stil oder Lebensstil ein zentrales Thema in Erich r othacker s Geschichtsphilosophie von 193 . r othacker verfolgt die Aufgaben einer philosophischen Anthropologie oder auch Kulturanthropologie. Sein Thema ist die Auseinandersetzung menschlicher Gruppen mit ihrer Umwelt und Mitwelt. Damit wendet er sich vor allem gegen rein biologistische Antworten einiger Zeitgenossen auf die Frage nach dem Wesen des Menschen. Er spricht von der „geschichtsphilosophischen Grundfrage nach der Einheit von Lebensstilen“ 13 und davon, dass Kulturen sich als Lebensstile darstellen und sich aufgrund ihrer Lebensstile voneinander unterscheiden. r othacker begreift „Lebensstil“ als Totalantwort des Menschen auf seine Lage. Lebensstile sind Gewohnheiten einer stabilen Lebensform, einschließlich wesentlicher Gebiete des sozial eingeübten Verhaltens sowie der Symbolsysteme Kunst, Mythos, religiöses Verhalten. Die menschlichen Lebensstile, im Sinne einer jeweiligen Totalität der menschlichen Existenzform, „äußern sich aber in körperlicher Haltung, im Technischen und Wirtschaftlichen nicht anders als im Geistigen, und es ist keineswegs nur ein Zufall und Notbehelf, dass sich die Völkerkunde an Materialien wie Werkzeuge, Waffen, Bekleidungsformen, Hausformen, Begräbnisformen, Tänze, Masken usw. neben Riten, Mythen, Märchen, Ornamenten hält. Es gibt kein Menschenwerk, das sich nicht sinnvoll und organisch in den Lebensstil seiner Schöpfer und Träger einfügte“. 1 Der Ausdruck Stil ist also insofern berechtigt, als das ästhetische Moment des Lebens, nämlich sich für andere sichtbar in allen Lebensäußerungen auszudrücken, nicht unberücksichtigt bleiben darf. Dieses Stilverständnis impliziert gewissermaßen eine „interne“ Dogmatik, da der Stil ein Verhalten begründet, insofern er auf die Wirksamkeit einer Sichtweise zurückgeht. Sichtweise (Standpunkt, Perspektive) und Verhalten sind zwei Seiten des einen „gelebten“ Stils. Das Thema der dogmatischen Denkweise hat r othacker später ausgearbeitet. 15 Der Stil zwingt nämlich, mit bestimmten Augen zu sehen. „Stile lassen sich folglich im Unterscheid A.a.O., Rothacker 9 , A.a.O. 5 Rothacker 95 Architekturtheorie_Huter.indd 251 23.01.2008 15: 28: 30 Uhr <?page no="251"?> 11. Vorlesung 252 zu Theorien weder begründen noch nach festen Kriterien überprüfen. Ihre Wahrheit ist eine Funktion der Fähigkeit, kontrolliertes Sehen zu erzeugen und damit eine bestimmte Sichtweise einzuüben.“ 16 4 Stil und „Richtigkeit“ Joachim s chulte macht darauf aufmerksam, dass sich auch der Philosoph und Architekt W ittgenstein mit „Stilfragen“ beschäftigt hat. 17 Gewiss verwendet W ittgenstein den Ausdruck Stil auf verschiedene Weise. Der, wie ich meine, unseren Zusammenhang erhellende Gebrauch zeigt die Nähe von Stil zu der Art Gedanken zu äußern. Die „Art zu denken“ und Worte zu gebrauchen lässt sich nicht auf eine Logik des „wahren“ Sprechens herunterbrechen, an welcher sich Sprecher oder Zuhörer orientieren und die wir auch noch erklären oder explizieren könnten. Denkstile haben keinen logischsystematischen Aufbau, den man verbessern und vervollständigen könnte, da sie von Weltbildern nicht zu trennen sind: Diese sind etwas Ganzes, und alle Denkstile sind „gleich rational“. Das Denken geschieht auf eine Art, die andere nachvollziehen können oder auch nicht. Nachvollzug bedeutet hier jedoch nicht, sich an einer bestimmten lehrbaren Methode und an Regeln geschult zu haben, sondern etwas Ähnliches selbst zu tun, z. B. bemerken, dass man einen ähnlichen Gedanken „schon selbst einmal“ gedacht hat. Dabei berühren sich die Begriffe Stil und Lebensform aufs Engste. Im Vorwort zum Tractatus führt W ittgenstein aus: „Dieses Buch wird vielleicht nur der verstehen, der die Gedanken, die darin ausgedrückt sind - oder doch ähnliche Gedanken - schon selbst einmal gedacht hat.“ 1 Damit weist W ittgen stein auf eine Denkgemeinschaft hin, die sich einig ist hinsichtlich der Art, wie bestimmte Gedanken „richtig“ ausgedrückt werden sollten. Allein der ausgedrückte Gedanke kann auf die „Denkart“, der er „entspringt“, verweisen. Im Ausdruck, in der konkreten Form, stellt sich die Praxis des Denkens dar. Das Denken einer Gemeinschaft müsste sich jedoch auch als Übereinstimmung zeigen, Dinge „ähnlich“ wahrzunehmen und zu verstehen. Die Art des Gedankenausdrucks ist also kein „Oberflächenmerkmal“ (s chulte ), sondern betrifft den Stil des Denkens selbst. Wenn es ähnliche Denkstile gibt, dann muss es auch konkurrierende Denkstile geben. Es gibt auch die Gleichzeitigkeit verschiedener Kulturen und Stile (Traditionen) einschließlich der Auffassung, was unter einem „kultivierten Geschmack“ zu verstehen sei: 6 A.a.O., 9 7 Vgl. Schulte 990 8 Wittgenstein 969, 9 Architekturtheorie_Huter.indd 252 23.01.2008 15: 28: 30 Uhr <?page no="252"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 253 Ich weiß nicht, wie sich Frank Dobsons 19 Beurteilung der Negerkunst neben der eines gebildeten Negers ausnimmt. Wenn man sagt, er versteht diese Kunst, weiß ich immer noch nicht, was das bedeutet. Er kann dieses Zimmer mit solchen Kunstgegenständen füllen. [...] Auch ein gebildeter Neger hat vielleicht Negerkunstwerke in seinem Zimmer. Das Verständnis des Negers ist etwas ganz anderes als das Verständnis Frank Dobsens. Es wird von ihnen ein ganz unterschiedlicher Gebrauch gemacht. Angenommen, Neger kleiden sich in ihrer eigenen Tracht, und ich betrachte eine gute Negertunika mit Kunstverstand: heißt das, daß ich mir eine machen lassen würde, oder daß ich sagen würde (wie beim Schneider) ‚Nein, da ist es zu lang‘, oder heißt es, daß ich sage ‚Wie bezaubernd! ‘? 20 Für W ittgenstein haben diese Fragen mit Maßstäben zu tun, die man anzulegen weiß, und verschiedene Stile bilden verschiedene Maßstäbe der Beurteilung oder Auffassung von „Richtigkeit“. Wann passt ein Anzug? Was bedeutet „zu lang“ oder „zu kurz“ oder: „Jetzt ist es richtig! “? Wie zeige ich, dass der Anzug mir gefällt? Indem ich ihn oft trage und dabei ein zufriedenes Gesicht mache. 5 Zur Dogmatik des Stils Ausdruck und Darstellung verweisen darauf, dass Stile etwas Konkretes sind. Wenn W ittgenstein davon spricht, dass er für seinen philosophischen Stil „Propaganda“ mache, dann sagt er etwas Ähnliches wie r othacker , der konkrete Stile als dogmatisch einstuft. Der „Propaganda“ geht es darum, für ein bestimmtes Bekenntnis zu werben. Es wird einer „festen“ Überzeugung, die als wahre auftritt und mitunter wissenschaftliche Gründe für sich sucht, Ausdruck verliehen. 21 Sobald mindestens zwei ungleiche Bekenntnisse sich gegenüber stehen, müssen sie sich gegeneinander unnachgiebig verhalten. Statt dogmatisch können wir auch einseitig oder perspektivisch sagen. Im Akademiebeitrag „Die dogmatische Denkform“ entwickelt r othacker die These, alles konkrete Denken und Schaffen als „stilgemäß“ zu verstehen. Stile, die sich in Kulturzweigen etabliert haben, sind nicht gegeneinander überführbar. Sie schließen sich gegenseitig aus. Der eine Stil kann den anderen nur ersetzen. Jede Neu-Schöpfung und Erst-Entdeckung von Sinn drückt sich stilgemäß aus. Und die Gegner einer neuen Richtung des Denkens und Forschens werden diese als „dogmatisch“ angreifen und bekämpfen. Was hier „guter Geschmack“ ist, ist dort nicht „schlechter“, sondern gar kein Geschmack. Auf beiden Seiten haben wir es dann mit dogmatischen Haltungen zu tun. 9 Frank Dobson ( 886- 96 ), englischer Bildhauer, Zeichner und Maler 0 Wittgenstein 968, 9 Vgl. Rothacker 95 , 5 Architekturtheorie_Huter.indd 253 23.01.2008 15: 28: 31 Uhr <?page no="253"?> 11. Vorlesung 254 Dass alles „Moderne“ zunächst als dogmatischer Stil auftritt, heißt, es will als die „Wahrheit schlechthin“ gelten. „Modern“ hat immer auch etwas mit „Krise“ zu tun, insofern das Bewährte („Klassische“) an Autorität einbüßt 22 . Ist das Moderne selbst „klassisch“ geworden, so erscheint es als eine besondere Haltung und Richtung, eine bestimmte Blickweise, an der man aus „historischer“ Distanz ihre Eigenarten konstatiert. Dieser Abstand, der es erst möglich macht, zwischen modern und klassisch zu unterscheiden, kommt einem Einstellungswechsel gleich. Daran sehen wir, dass, sobald ein alternativer Standpunkt eingenommen werden kann, von diesem aus der frühere als orthodox erscheinen muss. Denn etwas als einen eigenen Stil zu erkennen, setzt voraus, dies von einem anderen Stil aus zu tun. Dogma und Stil gehören zusammen. Das Neue will das Alte überbieten und schließlich ersetzen, ob in der Kunst oder in der Philosophie oder in den Wissenschaften. Da Stile sich untereinander ausschließen, müssen sie einseitig erlebt und verstanden werden. Eine gesellschaftliche Wirklichkeit, die als pluralistisch eingestuft wird, besteht aus inhaltlich unterschiedlichen „Überzeugungen“, die, jede für sich, den Anspruch auf die allgemeine Wahrheit erheben. Wir haben es in unserer Gegenwart mit konkurrierenden konkreten „gelebten“ Stilen zu tun, die je für sich absolute Gültigkeit beanspruchen. Sie entstehen im „schöpferischen Leben selber“ 23 . Die systematischen Darstellungen von Stilen, wie sie sich Historiker (Systematiker) der Künste, der Wissenschaften usw. vornehmen, sind immer nachträglich zur konkreten Schöpfung, auf die sie sich mit gehörigem Abstand beziehen. Dabei haben wir indes zu vergegenwärtigen, dass solche Systematiken (oder Dogmatiken), falls sie produktive und konkrete Schöpfungen sind, sich selbst stilgemäß darstellen werden. Diejenigen, die produktiv und konkret schaffen, so r othacker , „befinden sich damit in der Lage, den konkreten Logos ihres Werkes in einer Form zu explizieren, welche von allen ihren Gegnern als dogmatisch angesprochen werden wird.“ 2 Die architektonische Literatur des 20. Jahrhunderts ist voll von dogmatischen Werken: Von l e c orBusier s Vers une Architecture bis zu Robert v enturi s Complexity and Contradiction in Architecture und den Traktaten des 21. Jahrhunderts sind all dies Versuche, ein radikal neues „Sehen“ unter Architekten und Architekturkritikern durchzusetzen. 25 Dabei muss jedem konkurrierenden Vorschlag entgegengehalten werden, dieser sei nicht mehr „stilgemäß“. Wir wissen nun, dass dieser Vorwurf aber nicht mit „Stillosigkeit“ verwechselt werden darf. Vgl. Picht 986, 5 f. Rothacker 95 , 65 A.a.O., 7 5 Vgl. auch das Kapitel „Vom Stilus zum Branding“, in Moravánszky 00 , 7- Architekturtheorie_Huter.indd 254 23.01.2008 15: 28: 31 Uhr <?page no="254"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 255 6 Stil und Architekturkritik Ein Bauwerk als Ganzes, sozusagen als einmaliger Wurf in die Welt gesetzt, erfassen wir zunächst mit den Augen. Das Sichtbare erscheint uns als etwas Gegen-ständliches, uns Entgegen-stehendes, somit Objektives. Wir nehmen es als von uns und unserem Standort räumlich getrennt wahr. Wir zweifeln keine Sekunde an der realen Distanz, die zwischen uns und dem gesehenen Bauwerk besteht. Wenn wir auf diese oder ähnliche Weise über Wahrnehmung und Sehen sprechen, dann scheint die Wirklichkeit des Gebäudes, das was es „eigentlich“ ist und „immer schon“ bedeutet, allein in ihm selbst zu liegen. Das Bauwerk ist „Träger“ von bestimmten Eigenschaften, Qualitäten, vielleicht auch von versteckten Bedeutungen, die der Architekt mitteilen will und die es zu verstehen gilt. Seine Eigengesetzlichkeit und Eigentümlichkeit, sein inneres Wesen und Geheimnis stellt es in der Objektivität seiner materiellen, gleichsam greifbaren Tatsächlichkeit dar. Dem Kenner und Kritiker erscheint das Bauwerk freilich als ein aufgeschlagenes Buch, aus dem er das Wesentliche herauslesen und geschulten Hörern in einer Fachsprache weitergeben kann. Nach diesem Modell spricht der Architekt durch sein Werk. Architektonische Mitteilung (Bedeutung) funktioniert demnach so, dass ein Bauwerk beim Betrachter die Vorstellungen hervorruft, die der Architekt selbst mit ihm verbindet. Kurz gesagt: Jedes Bauwerk „sendet“ im Auftrag des Architekten dem eingeweihten und empfangsbereiten Betrachter seine Botschaft, und der Betrachter decodiert und übersetzt die baulichen Zeichen und Nachrichten in die sprachlichen Zeichen der Architekturkritik. Architektur ist so eher Medium der Vermittlung von Ideen und Bedeutungen als Schöpferin von Stimmungen und Gefühlen. Die „Bedeutung“ des Bauwerks liegt also „materiell“ schon vor, nun muss der Kritiker nur noch die entsprechenden Worte und Fachbegriffe finden. Vor-sprachliche Bedeutung und sprachliche Mittel, diese auszudrücken, sind zwei getrennte Dinge. Die „Bedeutung“ eines Bauwerks existiert unabhängig von den Worten, in denen diese ausgedrückt wird, als etwas Eigenständiges. Ich werde dieses Verständnis kritisieren. Vorstellung und Besprechung von Architektur in Fachzeitschriften und in Werkmonographien einzelner Architekten basieren im Kern auf der Gleichzeitigkeit von Wahrnehmen und Auslegen. Wahrgenommen wird vom Kritiker immer nur das, was bei ihm auf Interesse stößt. Was mit diesem Interesse verbunden ist, das hat sich ihm als gewohnheitsmäßige Aufmerksamkeitsbereitschaft schon vor dem Wahrnehmungsgeschehen gebildet. Der Architekturinterpret versucht, die Bedeutung von Form oder Stil eines architektonischen Werks freizulegen. Man meint, man habe es dabei mit leicht identifizierbaren Gebäudetypologien zu tun, in Wirklichkeit geht es Architekturtheorie_Huter.indd 255 23.01.2008 15: 28: 31 Uhr <?page no="255"?> 11. Vorlesung 256 aber um mehr, wenn nicht um etwas völlig anderes. Erst vor dem Hintergrund des mitgebrachten und im Sehen aktualisierten Sinnzusammenhangs oder Ausdruckssystems können einer Form oder einem Stil überhaupt eine bestimmte Bedeutung oder Auslegung zugewiesen werden. In der Architekturkritik gehören Ausdruckssystem und Interpretation zusammen. Eine Säule „bedeutet“ im Ausdruckssystem Klassizismus etwas anderes als in dem der Postmoderne. Ob ein Kritiker an einem Haus eine Ornamentik „erkennt“ (erfindet) oder ein anderer diese „vermisst“ (übersieht), lässt auf je unterschiedliche Wahrnehmungsbereitschaften des Betrachters schließen. Der Architekturtheoretiker Juan Pablo B onta (1933-1996) macht in seinem Buch Über Inter pretation von Architektur deutlich, dass es keine „Formen an sich“ gibt. Formen sprechen auch nicht für sich selbst. „Formen sprechen nur durch ihre Position in einem bestimmten System - mit anderen Worten, durch den Gegensatz zu oder durch ihre Ähnlichkeit mit anderen Formen.“ 26 Sie sind also dogmatisch an (nicht sichtbare) Zusammenhänge gebunden, aus denen sie erst ihre Bedeutung gewinnen, die im Sehen der Form jedoch „automatisch“ mitauftauchen. Außerhalb eines architektonischen Zusammenhangs und seiner typischen Bilder wird die Säule zu etwas ganz anderem: ein Verkehrshindernis oder ein Flugkörper - was auch immer. So haben wir es in der Geschichte der Architektur oder in der Geschichte der Architekturinterpretation, was bezogen auf die professionelle Auslegung von Architektur dasselbe ist, mit der Geschichte der Vorstellungen und Bedeutungszusammenhänge von architektonischen Formen zu tun. „Das System der Formen ist nicht auf den Wahrnehmungszusammenhang beschränkt, in dem eine Form wirklich erscheint, sondern es schließt auch alle anderen Formen mit ein, die der Kritiker assoziiert, ganz gleich, ob sie am gleichen Gebäude vorkommen oder nicht.“ 27 In Ergänzung unserer bisherigen Überlegungen zur Wahrnehmung können wir nun feststellen, dass mit dem Sehen einer einzelnen architektonischen Form eine ganze Welt dem Kritiker vertrauter Ausdruckszusammenhänge mit auftaucht, in der erst die einzelne Form Sinn und Bedeutung bekommt. „Widersprüchliche Interpretationen in der Architekturkritik“, sagt B onta , „erklären sich oft durch die Einordnung eines Werkes in verschiedene Ausdruckssysteme“. 2 In der Architekturkritik des Warenhauses Carson, Pirie, Scott & Co., gebaut von Louis s ullivan um 1900, spielte zum Beispiel die Frage eine Rolle, ob in der Konzeption der Fassade Horizontalität oder Vertikalität vorherrscht. Sigfried g ieDion betont bei seiner Kritik des Bauwerks in seinem Buch „Space, Time, Architecture“ (19 1) die horizontal gelagerten „Chicago 6 Bonta 98 , 90 7 Bonta a.a.O., 08 8 0 Architekturtheorie_Huter.indd 256 23.01.2008 15: 28: 31 Uhr <?page no="256"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 257 Fenster“. Dem gegenüber stellt Bruno z evi in seinem Buch „Geschichte der modernen Architektur“ (1950) ein „vollkommenes Gleichgewicht zwischen horizontalen und vertikalen Elementen“ fest. Auch die abgerundete Ecke am s ullivan -Warenhaus wird von g ieDeon gewürdigt. Er hebt darin ein Motiv hervor, das dem Gesamtcharakter des Bauwerks widerspreche. Andere Kritiker vertreten dagegen völlig andere Standpunkte. So erklärt Luigi P ellegrin , dass der Eckturm der Schlüssel zur formalen Aussage der Gesamtkomposition sei. Stellt man nun die einzelnen Aussagen eines Kritikers in eine Reihe, so lässt sich problemlos ein durchgehendes Muster herausarbeiten. Schwieriger ist es indes, versucht man die Kritiken aller Autoren eines Gebäudes nebeneinander zu stellen. Einer, der dies unternommen hat, ist B onta : „Vergleicht man die Interpretationen der verschiedenen Autoren, eine nach der anderen, so ergibt sich ein ziemlich verwirrendes Bild. Verbindet man aber die Aussagen eines einzelnen Autors zu den verschiedenen Problemen miteinander, so kommt ein Muster zum Vorschein, das rundum verständlich ist“. 29 Dies deutet darauf hin, dass jeder Autor seiner Kritik ein bestimmtes, von ihm fraglos verfolgtes Schema unterlegt, an dem er sich, das Bauwerk sehend und beschreibend, orientiert. Dieser Bezug auf etwas nicht Wahrgenommenes ist der Rückgriff auf ein „Wissen“, das schon bestand, bevor das betreffende Gebäude erstmals erblickt wurde. Vielmehr ist die gegenüber einem konkret Dargestellten aktivierte Aufmerksamkeitsbereitschaft der Schlüssel, im Betrachten und Interpretieren des Hauses erfolgreich zu sein. Das selbstverständlich gehandhabte Muster bleibt freilich in der jeweiligen Architekturkritik ungenannt und verborgen. Nur unter der Hand drückt es sich in den stilgemäß benutzten Auffassungen und Begriffen aus: in den Sätzen und Beschreibungen des Architekturkritikers. Dabei haben wir es mit einer gewohnheitsmäßigen oder habituellen Wahrnehmungsdisposition zu tun, was auf ein fraglos ins Spiel gebrachtes Interpretationssystem von architektonischen Formen schließen lässt. Erst vor dem Hintergrund eines solchen Auslegungsschemas kann einleuchtend werden, warum die einzelne Form als horizontal bzw. als vertikal „gesehen“ wird. B onta gelingt es mit seiner Studie, sowohl für g ieDion als auch für z evi deren jeweilige Auslegungsmuster herauszuarbeiten. Interessant für ein generelles Einordnen von Architekturkritik ist, dass die an den Wahrnehmungsgegenstand, hier: eine bestimmte Architektur, herangeführten Seherwartungen offensichtlich nicht davon zu trennen sind, welche festen und tiefen Überzeugungen g ieDion bzw. z evi von der Bedeutung s ullivan s als Baukünstler hatten. Bei g ieDion ebenso wie bei z evi konzentrierte sich deren „Sehen“ auf ihre je unterschiedliche Haltung zur „Chicagoer Schule“ des Bauens und auf ihren längst schon eingenommenen Standpunkt im Streit um moderne Architektur. z evi 9 5 Architekturtheorie_Huter.indd 257 23.01.2008 15: 28: 32 Uhr <?page no="257"?> 11. Vorlesung 258 war begeisterter Anhänger der Architektur in der Tradition von Frank Lloyd W right . Seine Überzeugungen resultierten aus den Auseinandersetzungen um „rationale“ und „organische“ Architektur. Ihm stand Falling Water näher als die Villa Savoye von l e c orBusier . g ieDion sah in jedem mehr oder weniger bekannten Architekten der „Chicagoer Schule“ nur einen Vorläufer der großen europäischen Architekten. Seine Überzeugungen leiteten sich aus seinen sehr engen Bindungen zu den Architekten des Internationalen Stils her, mit denen er befreundet war. Er unterstütze eine Bewegung, zu der er sich selbst zählte. Es ist also nicht verwunderlich, wenn er von diesem kollektiven Denk- und Wahrnehmungsstil nachhaltig geprägt war. Die Architekturtheorie hat hier für niemanden Partei zu ergreifen. Sie versucht, auch im Bereich der Architekturkritik für Orientierung zu sorgen. So hat B onta sicherlich Recht, wenn er feststellt: „Wir müssen […] Interpretationen hinnehmen, wie sie im gesellschaftlichen Alltag vorkommen, und dürfen uns nicht einer einzelnen kritischen Theorie verschreiben. Es geht nicht um das Maß an Bedeutung, das wir der künstlerischen Intention zugestehen, sondern um ihre tatsächliche Bedeutung in bestimmten historischen oder sozialen Zusammenhängen.“ 30 Das Wahrnehmen und Interpretieren von Architektur ist ein vielschichtiger Prozess, in dem Vorurteile, Erfahrungen, Gewohnheiten und Kreativität eine große Rolle spielen. Mit dem Erlernen eines bestimmten Berufs werden wir zugleich in eine Denk-Gemeinschaft integriert, die gewisse Verständniszusammenhänge teilt. In unserer Wahrnehmung werden wir so geschult, dass wir bestimmten Phänomenen unsere Aufmerksamkeit widmen sollen, andere werden systematisch vernachlässigt und schlicht übersehen. Wir „lesen“ Bauten vor dem Hintergrund unserer vertrauten Welt, in der wir tagtäglich leben und arbeiten. Lesen setzt den „Besitz“ einer öffentlichen Sprache voraus. Ob wir „richtig“ gelesen haben, können nur die beurteilen, die auch „unsere Sprache“ sprechen. Worte und Begriffe, die eine Bedeutung ausdrücken, können dies doch nur in einem „ganzen Satz“, einer „ganzen Geschichte“ - oder in einem „Ausdruckssystem“, wie B onta sagt. Architektonische Zeichen haben keine Bedeutung jenseits der praktizierten Sprache, in der wir auch unsere gehandhabten Ausdruckssysteme vortragen bzw. schon sprachbegabt und sprachvertraut Gebäude „lesen“. Dieses habituelle Wahrnehmen, Sehen und Deuten wird man weder überlisten noch gar ausschalten können. Wahrnehmen gelingt eben nur von einem Standpunkt aus, der durch sicheres Kennen ausgezeichnet ist. Dass wir also nur das wahrnehmen und deuten können, was wir schon auf gewisse Weise kennen, darin liegt vor allem das Problem des Vor-Urteils. Wie können wir noch in Architektur dargestellte Erfahrungen anderer Kulturen und Lebensformen verstehen, wenn 0 88 f. Architekturtheorie_Huter.indd 258 23.01.2008 15: 28: 32 Uhr <?page no="258"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 259 wir sie immer nur vor dem Deutungshorizont der eigenen Kultur und ihres Zeitbewusstseins zu lesen imstande sind? Wir müssen die konkurrierenden Sichtnahmen an uns heranlassen und fähig werden, Bedeutungswandel zu akzeptieren. Vor allem die absolute Trennung von formalen Systemen und Gebrauchserfahrungen, einschließlich des Zusammenspiels von Common sense und „guter Geschmack“, müsste überwunden werden. Dies setzt allerdings eine Öffnung der formalen Systeme voraus. Eine Hermeneutik der Architektur hätte hier darauf abzuzielen, den Prozess des Deutens und Verstehens und die ihm innewohnende Zirkelhaftigkeit bewusst zu machen und methodisch zu kontrollieren. 7 Zur Normativität des Stils Der Drang des Architekten, sich als Universalkünstler aufzubauen, hatte zur Folge, dass er sich nicht nur für das Haus verantwortlich sah, sondern zugleich das Haus als bewohnbar ausgestaltete. Das Wohnen stellte sich ihm als „richtige“ Nutzung der Wohnungseinrichtung dar. Die Rigorosität, mit der Georg s immel 190 sich gegen das Ausrufen des Kunstgewerbestücks als Kunst zur Wehr setzt, ähnelt auffallend derjenigen Feindschaft, die Adolf l oos dem Ornament entgegen bringt. „Auf einem Kunstwerk zu sitzen, mit einem Kunstwerk zu hantieren, ein Kunstwerk für die Bedürfnisse der Praxis zu gebrauchen - das ist Menschenfresserei, die Entwürdigung des Herrn zum Sklaven.“ 31 s immel ordnet die Gebrauchsdinge statt der Kunst dem Stil unter. Stil ist das Allgemeine, das der einzelne Gegenstand mit unzähligen anderen Gegenständen teilt. 32 Kunst hat den Charakter des Individuellen, Praxisdinge den Charakter der „breiten Allgemeinheit“. Das Kunstwerk „schreit förmlich nach einem Rahmen“, der es von der Alltagswelt des Menschen distanziert. 33 Deshalb erlauben wir uns im privaten Raum der Wohnung nur Möbelstücke, die auf den Ausdruck unmittelbaren Künstlertums verzichten. s immel spricht vor allem das „Gefühl von Sicherheit und Aufgestörtheit“ an, dass wir z.B. mit dem Wohnen verbinden. Die „stilisierten Gebilde“ appellieren an die „befriedeten Schichten“ unseres zurückgezogenen Lebens, jenseits der Öffentlichkeit des Überindividuellen und ihren Erregungspunkten. Individualität und Allgemeinheit sind die beiden Extreme, zwischen denen sich der moderne Mensch weiß und einzurichten hat. s immel sieht in der Stilisierung „als Hintergrund und Basis des täglichen Lebens“ den Ausgleich zur „absoluten Selbstverantwortlichkeit“ 3 , die die moderne Gesellschaft Simmel 99 b, 79 Simmel 995b, 05 A.a.O. Simmel 99 b, 80 Architekturtheorie_Huter.indd 259 23.01.2008 15: 28: 32 Uhr <?page no="259"?> 11. Vorlesung 260 dem einzelnen Menschen abverlangt. Er gibt einen tiefen Einblick in den Sinn des Wohnlichen, wie es dem Menschen in einem beruhigten Zuhause angemessen ist: „In seinen Zimmern ist der Mensch die Hauptsache, sozusagen die Pointe, die, damit ein organisches und harmonisches Gesamtgefühl entstehe, auf breiteren, weniger individuellen, sich unterordnende Schichten ruhen und sich von ihnen abheben muß. […] Das Prinzip der Ruhe, das die häusliche Umgebung des Menschen tragen muß, hat mit wunderbarer instinktiver Zweckmäßigkeit zu der Stilisierung dieser Umgebung geführt: von allen Gegenständen unseres Gebrauchs sind es wohl die Möbel, die am durchgehendsten das Cachet irgend eines ‚Stiles‘ tragen.“ 35 Der Stilbegriff, den s immel vorträgt, ähnelt verblüffend dem l oos ’ und auch dem Josef f rank s, für den „das Wohnzimmer […] das Endziel der Architektur“ ist. 36 Wie anders jedoch erscheint die s immel sche Beschreibung des modernen Menschen vor dem Hintergrund des „Sachlichkeits“-Kriteriums, wie es Adolf B ehne in „Neues Wohnen - Neues Bauen“ vorträgt. 37 s immel nennt an erster Stelle das „Prinzip der Ruhe“, das das wohnliche Haus auszeichnet. Ausspannung und Herabstieg der Erregungen begünstigen die mit anderen Menschen geteilte häusliche Bequemlichkeit. Das einzelne Gebrauchsstück ist zu unterscheiden hinsichtlich seiner Stilisiertheit von der Wohnung bzw. der Umgebung des Wohnens als Ganzes, in der es sich das Individuum behaglich macht: „Die Wohnung, wie sie der einzelne nach seinem Geschmack und seinen Bedürfnissen einrichtet, kann durchaus jene persönliche, unverwechselbare, aus der Besonderheit dieses Individuums quellende Färbung haben, wenn jeder konkrete Gegenstand in ihr dieselbe Individualität verriete.“ 3 In der Auflösung dieses Paradoxes macht s immel deutlich, worin das Wohnliche für den Menschen besteht: „Angenommen, es gälte, so würde es zunächst erklären, weshalb Zimmer, die ganz streng in einem bestimmten historischen Stil gehalten sind, zum Bewohnen für uns etwas Unbehagliches, Fremdes, Kaltes haben - während solche, die aus einzelnen Stücken verschiedener, aber nicht weniger strenger Stile nach einem individuellen Geschmack, der freilich ein ganz fester und einheitlicher sein muß, komponiert sind, im höchsten Maße wohnlich und warm wirken können.“ 39 Stilistisch einheitlich eingerichtete Räume schließen zwangsläufig „das darin wohnende Individuum sozusagen von sich (aus)“. Es ist aber der Wohnende, dem es durch das Glück des Stils gelingt, aus einzelnen Möbelstücken eine Gesamtform zu schaffen, die zum bewohnbaren Gegenüber dieser „besonders gestimmten Persönlichkeit“ wird. Die Wohn-Dinge offenbaren ein ihnen „anfühlbares 5 A.a.O., 80 f. 6 Frank 995a 7 Behne 9 7 8 Simmel 99 b, 8 9 A.a.O., kursiv durch mich Architekturtheorie_Huter.indd 260 23.01.2008 15: 28: 32 Uhr <?page no="260"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 261 Erlebtsein“ 0 Mit der Wohnung tut sich der Mensch (das „Ich“) „ein stilisiertes Gewand um“. 1 s immel nennt Stil mit einem glücklichen Ausdruck auch: „Fraglosigkeit der allgemeinen Lebensgrundlage.“ 2 Die moderne Zeit besitzt eine „große Anzahl von Stilen“, „so daß die individuelle Leistung, Verhalten, Geschmack sozusagen in einem lockeren Wahlverhältnis zu dem weiteren Fundament, zu dem allgemeinen Gesetz steht, dessen sie doch bedarf“. 3 Auch in dem Aufsatz Psychologie des Schmuckes nimmt s immel das Thema Stil und Stilisierung auf. Insofern die Dinge unserer Umgebung „individuell künstlerische Produkte“ sind, lassen sie sich einem Individuum, der sie in Gebrauch nehmen will, nicht mehr zuordnen. Sie erweisen sich „nicht zum wirklichen Gebrauch geeignet“ . Worauf es doch (auch beim Wohnen) ankommt, ist die Bildung einer Einheit von Ding und Gebrauch. Der „Einzigkeitscharakter“ der Schmuck-Dinge ist „das direkte Gegenteil der Stilisiertheit“ 5 . Alle individuell künstlerischen Produkte taugen nicht dazu, die Persönlichkeit des Menschen zu unterstützen. Diese entwickelt der Einzelne nur auf dem Boden jener Fraglosigkeit lebensweltlicher Verbindlichkeiten, die jedes Kunstwerk ja gerade in Frage stellt. Die Wohnung deutet s immel als den privat-häuslichen Bereich, in den sich das moderne Individuum, um zur Ruhe zu kommen, immer wieder zurückzieht. Was s immel Wohnung, Schmuck und Stil sind, sind l oos Architektur, Ornament und Lebensform. Sie gehören einem Bereich an, dessen Bestimmung nicht Kunst ist, sondern Lebensstil und Gebrauch. 8 Stil und „guter Geschmack“ s immel s Zeitgenosse l oos hat bekanntlich in mehreren Einlassungen pointiert Stellung zu Architektur und Ornamentik genommen und dabei einen Standpunkt vertreten, der nur auf den ersten Blick eine allein ästhetischkünstlerische Position beschreibt. l oos ’ Weigerung, Architektur als Kunst zu sehen, muss zugleich als Anerkennung aufgefasst werden, ihr Erscheinen im lebensweltlich-alltäglichen Milieu zu verstehen und dort zu suchen. Um dies deutlich zu machen, ist eine Lektüre von l oos ’ berühmten Vortrag „Ornament und Verbrechen“ von 190 unerlässlich, da sie zeigen wird, dass l oos eine ethische Position vertritt und keine künstlerisch-ästhetische. Darin gibt es eine interessante Konvergenz von Stil und gutem Geschmack. 0 8 8 8 8 90 5 90 Architekturtheorie_Huter.indd 261 23.01.2008 15: 28: 32 Uhr <?page no="261"?> 11. Vorlesung 262 Um was geht es inhaltlich in diesem Vortrag? l oos erzählt von Kindern und Eingeborenen, für deren Handlungen man andere Kriterien anführen müsse, als für den heutigen erwachsenen Kultur-Menschen. Was moralisch und was unmoralisch sei, kann nicht über einen Kamm geschoren werden. Wenn der Papua sein Ruder, sein Boot, seine Haut tätowiere, so sei dies in Ordnung. Selbst wenn er seine Gegner abschlachtet und verzehrt, so sei er kein Verbrecher. Wenn dies jedoch der moderne Mensch tue, sei dies ein Verbrechen. „Der Mensch unserer Zeit“ - „der moderne Mensch“ - was diesem geziemt und was nicht, das ist l oos ’ Thema. l oos polemisiert gegen seine Zeitgenossen, die Ornament mit Stil verwechseln. Dass die modernen Gegenstände ganz ohne Ornament auskommen, deuten sie als Verlust von Stil überhaupt. l oos zeigt dann aber, dass auch die Gebrauchsgegenstände früherer Zeiten kein Ornament aufgewiesen haben, nur habe man es nie für notwendig erachtet, diese Gegenstände wahrzunehmen oder auch zu sammeln. Es sei aber unmoralisch, sich auf etwas zu beziehen, dessen Grundlage ein für allemal entzogen ist. Weiterhin auf die Herstellung von Ornamenten zu bestehen, sei darüber hinaus ein Verbrechen an der menschlichen Arbeit. l oos stellt für Österreich die Gleichzeitigkeit von ungleichzeitigen Entwicklungen hin zur Moderne fest: Das Tempo der kulturellen Entwicklung leidet unter den Nachzüglern. Ich lebe vielleicht im Jahre 190 , mein Nachbar aber lebt um 1900 und der dort im Jahre 1 0. Es ist ein Unglück für einen Staat, wenn sich die Kultur seiner Einwohner auf einen so großen Zeitraum verteilt. Der Kalser Bauer lebt im zwölften Jahrhundert. Und im Jubiläumsfestzuge gingen Völkerschaften mit, die selbst während der Völkerwanderung als rückständig empfunden worden wären. Glücklich das Land, das solche Nachzügler und Marodeure nicht hat. Glückliches Amerika! Bei uns gibt es selbst in den Städten unmoderne Menschen, Nachzügler aus dem achtzehnten Jahrhundert, die sich über ein Bild mit violetten Schatten entsetzen, weil sie das Violett noch nicht sehen können. Ihnen schmeckt der Fasan besser, an dem der Koch tagelang arbeitet, und die Zigarettendose mit Renaissance-Ornamenten gefällt ihnen besser als die glatte. Und wie stehts auf dem Lande? Kleider und Hausrat gehören durchaus früheren Jahrhunderten an. Der Bauer ist kein Christ, er ist noch ein Heide. 6 Die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit ist später zu einer zentralen theoretischen Leitfigur geworden, über Fortschritt und Wandel nachzudenken. 7 Auch der Hinweis auf Amerika lässt aufhorchen: Das ökonomische Prinzip ist ein Prinzip der Sparsamkeit und Bescheidenheit, der Mann des 20. Jahrhunderts kann sich am Ende mehr leisten, da er dort verzichten will, wo es 6 Loos 000 7 Z.B. bei Ernst Bloch: Differenzierungen im Begriff Fortschritt, s. Bloch 977 Architekturtheorie_Huter.indd 262 23.01.2008 15: 28: 33 Uhr <?page no="262"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 263 die Befriedigung eines Bedürfnisses nicht tangiert. Das Gemüse in Wasser zu kochen und mit wenig Butter zu verzehren, ist die Art, wie der moderne Mensch isst. Ihm schmeckt es gerade so. Und ihm schmeckt es auf einem weißen Teller besser als auf einem reich ornamentierten. l oos redet also nicht der Askese das Wort, sondern definiert die moderne Lebensform, die er in Amerika kennen gelernt hat. Für diese hat das Ornament überhaupt keinen Platz mehr. So stehen sich Überzeugungen (Lebensstile) gegenüber und nicht künstlerische Geschmacksfragen. In die Welt der Moderne und ebenso in ihre Moral und Ökonomie spielen andere Werte hinein als in die vormoderne Welt. In der Kultur der Moderne muss das Ornament genauso unnatürlich wirken wie der Eingeborene in der Großstadt. Die Kultur der Moderne, davon ist l oos überzeugt, drückt sich nicht mehr im Ornament aus. Er fällt damit aber kein künstlerisches Urteil, sondern ein ethisches! l oos sagt, das Ornament, das „heute geschaffen“ wird, hat keinen Zusammenhang mehr mit den „heutigen“ Menschen, es existiert außerhalb der menschlichen Weltordnung. Das moderne Ornament ist völlig haltlos, gewissermaßen aus der Zeit gefallen, weder in der Vergangenheit noch der Gegenwart oder Zukunft zu Hause. Für die Gebrauchsgegenstände habe eine Entwicklung eingesetzt, die das Ornament überflüssig mache. Diesen Prozess habe man anzuerkennen. Ihn dagegen rückgängig zu machen, indem man für die verschwundenen Ornamente nun künstliche erfinde, ist geschmacklos. Es sei weder den Konsumenten zuzumuten, solche Gebrauchgegenstände zu benutzen, noch dem Arbeiter, sie herzustellen. Für die Volkswirtschaft ist das Anbringen von Ornamenten an Gegenständen, die dank der Entwicklung ihr Ornament verloren haben, eine Verschwendung von Kapital und Arbeitskraft. Worauf es bei den Gebrauchsgütern allein ankomme, sei ihre Tüchtigkeit für den Gebrauch: Für einen Gegenstand, bei dem ich sicher bin, daß ich ihn voll ausnützen und aufbrauchen kann, zahle ich gerne viermal so viel wie für einen in Form oder Material minderwertigen. Ich zahle für meine Stiefel gerne vierzig Kronen, obwohl ich in einem anderen Geschäft Stiefel um zehn Kronen bekommen würde. Aber in jenen Gewerben, die unter der Tyrannei der Ornamentiker schmachten, wird gute oder schlechte Arbeit nicht gewertet. Die Arbeit leidet, weil niemand gewillt ist, ihren wahren Wert zu bezahlen. l oos spricht sich nicht gegen das Ornament generell aus. Er weiß sehr wohl, das Ornament vergangener Epochen und Kunsterzeugnisse zu schätzen. Aber damals waren die Ornamente Ausdruck eines bestimmten Lebensgefühls und einer entsprechenden Weltordnung. Das Ornament war „natürlich“, der Gegenstand erst „fertig“ und „ganz“ mit seiner Ornamentierung. 8 Loos a.a.O. Architekturtheorie_Huter.indd 263 23.01.2008 15: 28: 33 Uhr <?page no="263"?> 11. Vorlesung 264 Neben dem Bild von kulturellen Entwicklungsstufen haben wir bei l oos ebenso das Bild von der Entwicklung des Menschen selbst. Von der primitiven Stufe, die wir heute noch beim Kind wahrnehmen können, finden wir die höchste Stufe beim modernen Menschen erreicht. l oos nennt diesen auch den Aristokraten, der auf seine Art „weise“ über den Dingen steht und Verständnis für die Menschen aufbringt, im Gegensatz zum Revolutionär, der die Würde schlichter Verrichtungen nicht kennt. Typisch für seine Haltung scheint mir folgende Aussage: Ich predige den Aristokraten, ich meine die Menschen, die an der Spitze der Menschheit stehen und doch das tiefste Verständnis für das Drängen und die Not der Untenstehenden haben. Den Kaffer, der Ornamente nach einem bestimmten Rhythmus in die Gewebe einwirkt, die nur zum Vorschein kommen, wenn man sie auftrennt, den Perser, der seinen Teppich knüpft, die slowakische Bäuerin, die ihre Spitze stickt, die alte Dame, die wunderbare Dinge in Glasperlen und Seide häkelt, die versteht er sehr wohl. Der Aristokrat läßt sie gewähren, er weiß, daß es ihre heiligen Stunden sind, in denen sie arbeiten. Der Revolutionär würde hingehen und sagen: ‚Es ist alles Unsinn.‘ Wie er auch das alte Weiblein vom Bildstock reißen würde und sagen würde: ‚Es gibt keinen Gott.‘ Der Atheist unter den Aristokraten aber lüftet seinen Hut, wenn er bei einer Kirche vorbeigeht. 9 l oos wehrt sich gegen die Kulturschöpfer, die das Ornament als Zutat und Aufsatz auf die Dinge des Lebens preisen. Ornamente sind weiterhin möglich, wenn sie sich aus dem Schaffensprozess selbst ergeben und darin ihre ureigenste Notwendigkeit haben. Aber keine handwerklich hergestellten Gegenstände, die anschließend vom Künstler verziert werden, finden seine Zustimmung. l oos besteht auf der Unterscheidung, wer das Ornament aus welchen Gründen anbringt. Er verlangt, innerhalb der Gesellschaft, zwischen den Herstellern von Gebrauchsgütern und dem Künstler zu unterscheiden. Der moderne Künstler erkennt an den Gebrauchsgegenständen keine Notwendigkeit mehr, sie zu verzieren. Die Ablehnung des Ornaments geschieht ganz offensichtlich nicht aus ästhetischen Gründen, sondern aus Einsichten in unterschiedliche Lebensstile. Der Aristokrat, also derjenige, der die Bedingungen und Erfordernisse der neuen Zeit erspürt, verachtet das Predigen und Anbringen von Ornamenten, egal wo sie auftauchen. Denn die Haltung, die diesem Tun entspricht, passt nicht zu seinem Lebensstil. Der Künstler, der das Ornament predigt, ist unredlich und moralisch zu verdammen. Denn der moderne Mensch ist anders: „wir sind feiner, subtiler geworden“, sagt l oos am Ende seines Vortrags. Die 9 Loos a.a.O. Architekturtheorie_Huter.indd 264 23.01.2008 15: 28: 33 Uhr <?page no="264"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 265 Individualität des moderne Menschen ist so stark, dass er keiner Unterscheidungszeichen mehr bedarf: „Er braucht kein Kleid als Maske“. 50 l oos ’ Position war alles andere als doktrinär. Freilich musste sie dogmatisch auftreten hinsichtlich der Verfolgung eines bestimmten Lebensstils. Auf ihren „primär sozialen und damit ethischen Hintergrund“ weisen auch J anik (*1941)/ t oulmin (*1922) hin. Offensichtlich gibt es eine „funktionale“ Beziehung von (Lebens-)Stil und Gebrauchsgegenstand, die indes recht verstanden werden muss. Ich will der Deutung von J anik / t oulmin ein wenig folgen, da es ihnen gelingt, l oos ’ Verständnis von „funktional“ überzeugend herauszuarbeiten. l oos war Pragmatiker in dem Sinne, dass er meinte, die Dinge bedeuten das, wie sie von den Menschen gebraucht werden: „Willst Du die Bedeutung, sagen wir, des Wasserleitungssystems in einem Haus verstehen, dann sieh Dir an, wie das System verwendet wird. In der Verwendung liegt seine Bedeutung.“ 51 Die Ähnlichkeit oder Stilverwandtschaft dieser „Logik“ mit der Sprachkritik W ittgenstein s ist augenscheinlich. Nach m alcolm hatte W ittgenstein den Architekten 191 kennengelernt und bewunderte dessen Schaffen. 52 Wie es W ittgenstein um eine Reinigung der Sprache ging, so l oos um die Konzentration auf das pragmatisch Notwendige. „Stilistisch prägten Loos’ Prinzipien seinen Entwürfen den Charakter einer radikalen Vereinfachung auf, die alles Überflüssige vermied. In seiner Praxis wie in seiner Theorie blieb der Stil des Architekten stets im Dienst des intendierten Gebrauchs“. 53 Für l oos lag der Reiz der Architektur gerade darin, dass sie, anders als die Kunst, sich mit dem Gebrauch auseinanderzusetzen habe. Was l oos unter einer „funktionalen Vereinfachung“ verstand, beanspruchte nie, einen eigenen Architektur-Stil auszubilden. Es hätte l oos ’ Überzeugung ganz widersprochen, wenn der Architekt die Stimmungen der Bewohner seiner Häuser nicht mehr verstünde. Nach J anik / t oulmin hat die jüngere Generation der Bauhaus-Architekten l oos ’ „funktionale“ Sensibilität für die Gebrauchsintentionen stilisiert zu einer „generalisierten Vielzweckstruktur, die für beliebig viele und wechselnde Funktionen brauchbar war“ 5 . Was l oos unter einem „Raumplan“ verstand, übrigens ebenfalls kein baukünstlerisches, sondern vielmehr ein moralisches Entwurfsprinzip, hat nichts mehr zu tun mit dem nachfolgend funktionalistisch konzipierten „‚baulogischen Raum‘, bestehend aus einer Reihe architektonischer Möglichkeiten“, der eher „der Verkörperung eines rein geometrischen, cartesischen Koordinatensystems nahe (kommt)“ 55 . Dieser „formal-logische“, funktionalistische Umgang 50 Loos a.a.O. 5 Loos zitiert in Janik/ Toulmin 998, 88 5 Malcom 987, . Ein Schüler von Loos, der Architekt Paul Engelmann, sollte später das Engagement Wittgensteins als Architekt begleiten. 5 Janik/ Toulmin a.a.O., 88 5 A.a.O., 89 55 89 Architekturtheorie_Huter.indd 265 23.01.2008 15: 28: 33 Uhr <?page no="265"?> 11. Vorlesung 266 mit den Gebrauchsaspekten verzichtet völlig auf das Kriterium der Angemessenheit: „Der Architekt bestimmt gewissermaßen nur den strukturellen Bezugsrahmen, innerhalb dessen dem späteren Verwender eine praktisch unbegrenzte Skala verschiedener Gebrauchsmöglichkeiten zur Verfügung steht. In der Perspektive eines richtig verstandenen Funktionalismus waren diese Bauwerke [J anik / t oulmin beziehen sich hier auf „typische Bauhaus- Gebäude“] so anonym, wie es charakterlose Bauten eh und je gewesen sind: Statt die Gebrauchsbestimmung der Gebäude in ihrer Gestaltung unmittelbar zum Ausdruck kommen zu lassen, hat sie der ‚cartesische‘ Stil vielmehr verschleiert.“ 56 Die Kritik an der formalistischen Standardisierung ist auch eine Kritik am Vergessen lebensweltlicher Gepflogenheiten. Wenn Fragen des Architektur-Stils höher bewertet werden als Fragen des Gebrauchs, dann bedeutet dies ein Ignorieren des „Werkzeugcharakters“ des Hauses. Dabei hätte eine schlichte Beobachtung des Bewohnens darüber Aufschluss gegeben, dass gewissen Zeichen unserer Häuser, deren Ausdruck manchen Architekten so wichtig war, im Wohnen selbst keine Bedeutung gegeben wurde. l oos und W ittgenstein waren sich in gewissem Sinne einig darin, die Grenzen der Sprache bzw. des Ausdrucks zu achten. J anik / t oulmin verstehen diese Respektierung der Grenze als „Wunsch nach Abwehr von nutzlosen geistigen Krämpfen, Hindernissen für klare Gedanken und authentisches Fühlen in den Bereichen, in denen es gerade auf diese ankommt, nämlich in der Sphäre des wahrhaften Ausdrucks menschlicher Emotionen und der freien Entfaltung schöpferischer Phantasie.“ 57 Bei der Frage nach dem Zusammenhang von Weltbild/ Lebensform und Stil fällt eine weitere Übereinstimmung auf, die ebenfalls auf persönlichen Bekanntschaften, wie die zwischen l oos und W ittgenstein , nun zwischen Vertretern des Logischen Positivismus und des architektonischen Modernismus zum Tragen kommt. Der amerikanische Wissenschaftshistoriker Peter g alison (*1955) zeigt überzeugend die Wesensverwandtschaft der theoretisch-philosophischen und kulturellen Modernisten auf, von Vertretern des „Wiener Kreises“ (Verein Ernst Mach) und Architekten des Dessauer Bauhauses. 5 Im Mittelpunkt dieser Denkgemeinschaft steht der Wiener Mathematiker und Philosoph Otto n eurath , der schon früh Kontakte zu g roPius und später zu Hannes m eyer unterhielt. Er vermittelt auch einen Vortrag von Rudolf c arnaP im Jahre 1929, dem einflussreichsten Vertreter des Logischen Empirismus, am Bauhaus. Für den Wiener Kreis wie für das Bauhaus ging es nach den Worten von g alison um eine „Reformierung des Lebens auf Grundlage moderner wissenschaftlicher Prinzipien“ 59 . Er zitiert g roPius ’ 56 89 57 89 58 Galison 995 59 A.a.O., 659 Architekturtheorie_Huter.indd 266 23.01.2008 15: 28: 33 Uhr <?page no="266"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 267 Behauptung von 1923, „die neue moderne Architektur würde gegenwärtig ‚eine vollständige geistige Revolution im Individuum‘ und einen ‚neuen Lebensstil‘ kreieren.“ 60 m eyer veranlasste führende Vertreter und Repräsentanten der „neuen wissenschaftlichen Weltauffassung“, wie der Wiener Kreis seine Position betitelte, Vorlesungen am Bauhaus zu halten. Man sah sich gemeinsam auf dem Weg, wissenschaftliches, logisch-mathematisches und empirisches Denken zum gesellschaftlichen Durchbruch zu verhelfen. „Die logischen Positivisten befanden sich in vollem Einklang mit den Bauhäuslern bei dem Versuch, eine neue Lebensform zu schaffen“ 61 , urteilt g alison . Vielleicht am prägnantesten kommt der Zusammenhang von Lebensform und Denkstil im Vorwort des Hauptwerkes von Rudolf c arnaP , Der logische Aufbau der Welt, zum Ausdruck. So heißt es in auffälliger Anspielung auf die Architektur des Bauhauses: „Wir spüren eine innere Verwandtschaft der Haltung, die unserer philosophischen Arbeit zugrunde liegt, mit der geistigen Haltung, die sich gegenwärtig auf ganz anderen Lebengebieten auswirkt; wir spüren diese Haltungen in Strömungen der Kunst, besonders der Architektur, und in den Bewegungen, die sich um eine sinnvolle Gestaltung des menschlichen Lebens bemühen: des persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens, der Erziehung, der äußeren Ordnungen im Großen. Hier überall spüren wir dieselbe Grundhaltung, denselben Stil des Denkens und Schaffens. […] Der Glaube, daß dieser Gesinnung die Zukunft gehört, trägt unsere Arbeit.“ 62 Das gemeinsame Ziel von c arnaP und den Architekten g roPius und m eyer bestand in ihrer Mitwirkung an der Schaffung einer modernen „Gestaltung des menschlichen Lebens“, die sich ganz dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt anzupassen hätte. „Meyer wollte die Architektur in das neutrale und universale Idiom der Technik übertragen; Carnap verfolgte das entsprechende Ziel für die Philosophie.“ 63 n eurath war unterdessen damit beschäftigt, mit der Konstruktion neutraler Protokollsätze eine universale antimetaphysische Basis einer physikalistischen Einheitswissenschaft aufzubauen. Deren standardisierter „Universalslang“ lässt sich auf beobachtbare Ding-Eigenschaften und -Beziehungen zurückführen. Gemeinsam dachten Philosophie und Architektur daran, durch eine radikale technische Analyse die Probleme des Denkens wie des Bauens zu lösen, die alle geschichtlichen und metaphysischen Bindungen kappt, unbeeinflusst von Wert- und Weltanschauungsfragen. Man erkannte jedoch nicht, dass gerade in diesem Denkstil ihre gemeinsame Weltanschauung wurzelte und in schriftstellerischen wie architektonischen Werken ihren sichtbaren Ausdruck fand. Es gibt keine Haltung ohne Weltanschauung. 60 659 6 66 6 Rudolf Carnap, 9 8, zitiert nach Galison 995, 670 (kursiv durch mich) 6 A.a.O., 675 Architekturtheorie_Huter.indd 267 23.01.2008 15: 28: 34 Uhr <?page no="267"?> 11. Vorlesung 268 9 Stil als Symbol einer Weltanschauung Haltung und Stil des Denkens sind hermeneutische Konzepte, die nicht in erster Linie Inhalte erforschen, sondern „Stil“ als einen Sinnzusammenhang oder eine Lebenswelt kennen lernen und verstehen wollen. Diese Art von Stil oder Weltbild kann man nicht wie die Kleidung wechseln in der Manier des bloß geschickten Architekten, der heute „à la Renaissance“ und morgen im „gotischen Stil“ baut. Stil ist uns vielmehr die Antwort auf die Frage, wie Welt und Denkraum dieses Architekten „aussehen“, dass sich sein allenfalls vordergründig stilloses Verhalten damit verträgt. „Einen Stil zu haben“ ist den nach-postmodernen Architektenjahrgängen freilich verpönt, man spricht statt dessen von „Branding“: das Resultat ist aber dasselbe. Es geht nämlich darum, etwa die Postmoderne als dogmatisch einzustufen, um den eigenen Stil davon abheben zu können: „Die junge Generation der heutigen Architekten, die bestrebt ist, den Architektenberuf neu zu definieren, will von Stilfragen ebenfalls nichts hören. […] Die Tatsache, dass die verschiedenen Produkte des Büros […] selbst direkt auf das Stilgefühl des Klienten oder des Architekturkonsumenten abzielen, zeigt, dass Branding als Markierung einer Form oder eines Produkts als Firmeneigentum untrennbar von Stil und Stilisierung ist.“ 6 Stil ist für eine bestimmte Zeit, eine bestimmte Kultur, eine bestimmte Generation bezeichnend. Das kann aber nicht heißen, dass damit schon das notwendige Unterscheidungs- oder Abgrenzungskennzeichen geschaffen wäre. Nur in der Unterscheidung, in der Differenz können Stile überhaupt identifiziert werden. Der Architekt Josef f rank (1 5-1967) hatte wohl Recht, als er 1927 feststellte: „Was ist Stil? Das Symbol einer Weltanschauung.“ Im Stil drückt sich eine Haltung zur Welt, zur Natur, zur Architektur aus. Behauptet ein Architekt, heute gäbe es keine Stile (mehr), bzw. er würde in keinem Stil bauen, dann bestätigt sich in dieser Haltung gerade die Stilmäßigkeit seines Meinens, Denkens, Entwerfens. Stillosigkeit ist ein Unding, da alles menschliche Tun in Erscheinung tritt und sichtbare Spuren hinterlässt, das heißt konkrete Form annimmt, sich in der Welt darstellt. Ein Unterschied zwischen den Architekten Walter g roPius und Rudolf s chWarz wäre nicht allein in ihrem Umgang mit Grundriss, Werkstoff und Fassade festzustellen, sondern beider Verständnis von der „Welt des Bauens“ erschlösse sich uns erst in einer Rekonstruktion ihrer Denkstile und Weltanschauungen. 65 Die Architektur, ihr „Stil“, wäre dann allerdings zu begreifen als konkreter Ausdruck eines je bestimmten Lebensstils und seiner immanenten Haltung. Stilerkenntnis ist ästhetische, d.h. sinnliche Erkenntnis. Sie verfolgt eher ein analogisches, denn ein logisches Denken. 66 6 Moravánszky a.a.O., 7 f. 65 Vgl. dazu Hilbig 006 66 Vgl. ausführlich Gabriel 997 Architekturtheorie_Huter.indd 268 23.01.2008 15: 28: 34 Uhr <?page no="268"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 269 Die leidige Frage: „In welchem Style sollen wir bauen? “ (1 2 ) und Heinrich h üBsch s seitenlange Antwort können unter den vorgenannten Überlegungen dahingehend verstanden werden, dass in ihnen vorausgesetzt wird, dem Architekten stünden verschiedene Stil-Systeme bzw. Baulehren zur Verfügung, an denen er sich „frei“ und ungehindert orientieren kann. Wir könnten in diesem Fall einen „Stil“ auswählen, an welchem wir unseren Entwurf dann ausrichten wollen. Mit dieser Auslegung ist man heute nicht mehr zufrieden. Von Robert k err , einem der Gründer der Londoner Architectural Association School of Architecture, wird folgende Anekdote zitiert: „‚Welchen Architekturstil soll ihr Haus haben? ‘ So lautet die Frage, die der Architekt seinem Auftraggeber zumeist zu Beginn ihrer Beziehung stellt, und wenn der Auftraggeber auf diesem Gebiet nicht beschlagen ist, mag er bei der Entdeckung, was ihm da zugemutet wird, etwas erstaunt sein. Instinkt oder Laune sollen ihn dazu bewegen, zwischen einem halben Dutzend sogenannter Hauptstile zu wählen, die sich alle mehr oder weniger feindlich gegenüberstehen. […] Sie müssen den Stil Ihres Herzens wählen, so wie Ihre Hutform.“ 67 Diese Reaktion hätte l oos sicherlich erfreut. Er hatte darauf seine eigene Antwort, bei der er eine Polemik nicht unterdrücken wollte: „Der Baumeister konnte nur Häuser bauen, und das nannte man im Stile seiner Zeit. Aber der, der in jedem vergangenen Stile bauen konnte, der, der aus dem Kontakt mit seiner Zeit gekommen war, der Entwurzelte und Verbogene, er wurde der herrschende Mann, er, der Architekt.“ 6 Für Josef f rank ist die Frage nach dem „historischen Stil“, den h üBsch in anderer geschichtlicher Gegenwart meint, eine Frage des „Materialismus“, „dem jede Form recht ist“ und der für „unsere Zeit“ (1927) typisch ist: „denn wir sind imstande, gotische Kirchen im antiken Stil und moderne Fabriken im ägyptischen Stil zu bauen“ 69 . Es sei eben nicht die „neue“ Konstruktion, die zu „neuen“ Formen führe. Stilformen, so f rank , sind keine technische Angelegenheit einer bloß konstruktiven Leistung. Formen sollten Ausdruck von „Wille“, „Freude“ und „Glauben“ sein. f rank selbst kritisierte an der zeitgenössischen Architektur, dass sie auch die Wohnungseinrichtung den formalen Vorgaben des Gebäudes unterwirft. Er verwahrte sich gegen das Drängen auf formale Einheitlichkeit von Bau, Mobiliar, Gerät, das lediglich das alte historische Stildenken wiederhole. 1929 differenzierte er in einem schwedischen Interview den Begriff des Funktionalismus: „Ich baue Häuser nach den Menschen. Für mich […] bedeutet das, was man hier in Schweden als Funktionalismus bezeichnet, die natürlichste, einfachste, praktischste Lösung in jedem speziellen Fall. Als Zwischenbemerkung: Wenn wir von Funktionalismus sprechen, meinen wir eher die 67 Zitiert in: Ricken 990, 5 . Der Ausspruch Kerrs soll 86 gefallen sein. 68 Loos 995, 78 69 Frank 995, Architekturtheorie_Huter.indd 269 23.01.2008 15: 28: 34 Uhr <?page no="269"?> 11. Vorlesung 270 Extremrichtung, die repräsentiert wird von den Deutschen Hannes Meyer, Gropius und anderen.“ 70 f rank entwickelte eine deutliche Haltung gegen Stildenken, Garniturzwang, Einheitlichkeit um jeden Preis. Das Ziel von Entwurf und Architektur soll nicht Reichtum oder Einfachheit sein, sondern die Einrichtung des Wohnhauses „möglichst angenehm zu machen“. Typisch auch seine Auflehnung gegen jegliche Stil- und Formdiskussionen. Seine Texte appellieren an das Selbstverständnis des Architekten, d.h. werben für eine Gesinnung oder kritisieren das Fehlen einer Gesinnung. f rank fragt, an was man denken, was sich vorstellen soll, wenn man sich einen Begriff vom Wohnhaus machen will? Während die funktionalistische Moderne bei Null anfängt, sich also das Haus als etwas völlig Neuartiges vorstellt, denkt f rank zunächst einmal an Kontinuität, Geschichte, Erfahrung. „Das moderne Wohnhaus entstammt dem Bohèmeatelier im Mansardedach“, so beginnt der Essay Das Haus als Weg und Platz. Das „als unbewohnbar und unhygienisch verpönte Dachgeschoss […] enthält das, was wir in den darunterliegenden, planvoll und rationell eingerichteten Wohnungen vergeblich suchen: Leben.“ 71 Es lassen sich begriffliche Unterscheidungen herausarbeiten, um f rank s eigene Position klarer zu sehen. Warum will der moderne Architekt vom Dachgeschoss nichts wissen? Weil es eine Geschichte hat, und weil es vor allem eins nicht aufweist: Rationalität. Dem bewohnten Dachgeschoss liegt auch keine Planung zugrunde. Das Leben selbst hat sich dort eingerichtet. Fragen wir weiter, was sich das Leben dort geschaffen hat, so bekommen wir eine architektonische Antwort: „Große Räume, große Fenster, viele Ecken, krumme Wände, Stufen und Niveauunterschiede, Säulen und Balken, - kurz all die Vielfältigkeit, die wir im neuen Haus suchen, um der trostlosen Öde des rechteckigen Zimmers zu entgehen.“ 72 Hier entdeckt der Architekt eine Vielfältigkeit an räumlichen Eigenschaften, die der rationale Grundriss niemals vorweisen wird. f rank macht den Architekten für etwas sensibel, was das Wohnen im Haus selbst kennzeichnet: das Geführtsein durchs Haus. Diese Führung architektonisch zu bewerkstelligen, verlangt einen „empfindlichen Verstand“. Die Handschrift des Architekten zeigt sich in der guten Durch-Führung der räumlichen Anlage. Wege und Plätze sind dabei wesentliche räumliche Verbindungsglieder, an denen sich der Bewohner orientiert. Leitbild des Entwerfens ist das gute Wohnhaus, und das Können des Architekten ist darin begründet, das Beste aus den architektonischen Elementen herauszuholen. Der Architekt hat schon verloren, wenn er dieses Leitbild architekturfremden Kriterien unterordnet: „Die Statistik der Größe 70 Frank zitiert bei Kapfinger/ Welzig 995, 6 7 Frank 995c, 0 7 A.a.O., 0 Architekturtheorie_Huter.indd 270 23.01.2008 15: 28: 34 Uhr <?page no="270"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 271 von ‚Wohnflächen‘ eines Hauses tötet die Architektur, denn im guten Wohnhaus gibt es keine Stelle, die nicht Wohnfläche ist.“ 73 Das Entwerfen muss auf die Wirkung von Räumen hin ausgelegt werden. Auch das Ungeplante, das zunächst keine konkrete Bedeutung zu haben scheint, sondern wie zufällig daherkommt, ist ein wichtiges Kennzeichen des guten Entwurfs. „In den Dachateliers half der Zufall mit, der fast immer angenehm und unpersönlich wirkt“. 7 Dies scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass alles Persönliche durch den Bewohner kommt, ihm allein zusteht. Was das Praktische am Wohnen angeht, so hat hier immer der Wohnende das letzte Wort. Der Architekt hat allein dafür zu sorgen, dass die jeweilige Form, die er anbietet, eine Nutzung ermöglicht. „Praktische Notwendigkeiten dürfen niemals der Anlaß sein, eine planvolle Anlage formal zu zerstören, da der Betrachter ihren Sinn nicht verstehen kann, und es ist ja eben die Kunst des Architekten, Form und Inhalt in harmonisches Gleichgewicht zu bringen.“ 75 f rank kritisiert das Verständnis moderner Architekten, die ihr Entwurfsfach missverstehen, indem sie sich dazu verleiten lassen, bei rechteckig gefassten Räumen die Möbel gleich mit zu entwerfen. Das Charakteristische der Räume kann nicht durch zusätzliche Implantate entstehen, sondern allein durch den passenden Entwurf des Grundrisses. Die Diskussion um moderne Möbel und Farbigkeit der Räume hält f rank für nicht essentiell. Die Einrichtung hat allein etwas mit Wohnerfahrung und Geschmack zu tun, beides besitzt nicht nur der Baumeister. Es ist nicht der Architekt, der sich in der Wohnung herausstellen soll, vielmehr hat er alles zu unternehmen, dass der Bewohner sich in seiner Persönlichkeit entfalten kann. Der Architekt liefert den guten Grundriss mit optimaler Raumaufteilung, darin sich der Bewohner mit seinem privaten Leben entwerfen kann: „Die Persönlichkeit des Bewohners kann sich frei entfalten. Der Raum wird die Stellen betonen, wo jeder Platz und Weg anzuordnen ist.“ 76 Es kann nicht die Aufgabe des Kunstgewerbes sein, eine fehlerhafte Arbeit des Architekten auszubügeln. Vielmehr ist die Fertigkeit des Architekten darin zu sehen, dass er die optimale Nutzung wie selbstverständlich einleitet und durch Wege und Plätze entsprechende Verhaltensweisen nahe legt. Freilich, auch f rank sieht, dass sich das Wohnen gegenüber früheren Zeiten gewandelt hat, er würde aber nicht vom „Neuen Wohnen“ in einem absoluten Sinne, wie es andere tun, sprechen wollen. f rank denkt von der Aufenthaltsqualität einer Wohnung her. Welche Wirkung, welche Stimmung erwarten den Bewohner? Dies ist f rank s zentrale Frage. Er dringt in seinem Entwurf auf eine Entsprechung von Wohnwunsch und Raumcharakter. Dabei müs- 7 5 7 5 75 5 76 6 f. Architekturtheorie_Huter.indd 271 23.01.2008 15: 28: 35 Uhr <?page no="271"?> 11. Vorlesung 272 sen immer wieder auch Kleinigkeiten, wie ein Türanschlag, berücksichtigt werden, deren Nichtbeachtung die ganz Stimmung eines Raumes zerstören kann. Die große Geste, aber ebenso das kleine Detail erzielen eine Wirkung, die beachtet werden muss. f rank äußert keine formale Kritik, ihm liegt der Gebrauch von Zimmer und Wohnung am Herzen. Er denkt vom Gebrauch der Architekturelemente her. In den Schlussüberlegungen seines Essays kommt f rank schließlich auf die Ausbildung des Architekten zu sprechen. Er regt an, dass mehr an der Haltung des Architekten hinsichtlich seiner Verantwortung gegenüber dem Wohnhaus zu arbeiten wäre, nämlich an dem, was er eine „gute Grundlage“ nennt: „Es wird meist zu viel Wert auf Fassaden, Konstruktion und Ökonomie gelegt und selten bedacht, dass eine Schule nicht dazu da ist, Brauchbares zu produzieren, sondern um den Schülern eine gute Grundlage zu geben, auf der sie selbständig weiter denken können; sie werden aber zu oft mit den Vorurteilen der Lehrer über Leben und Form vollgepfropft und bekommen zu oft schon alle Probleme als gelöst vorgesetzt, die sich, wie eben Konstruktion und Sparsamkeit ihrer eigenen Beurteilung entziehen, da keine Erfahrung vorhanden ist.“ 77 Es gibt ein zeitloses Verständnis von der Bauaufgabe, die sich auf die vielen Erfahrungen von Generationen stützt. Dadurch ist es möglich, sich ein ideales Bild von der Lösung der Bauaufgabe zu machen. Es ist dies die Vorstellung von dem, was sich über Generationen hinweg bewährt hat. Davon, was über die Zeiten hinweg ein „gutes Wohnhaus“ bedeutet, muss sich jeder Architekt zunächst einmal selbst überzeugen, um unter Berücksichtigung dieser gemeinhin anerkannten Haltung den konkreten Entwurf auszuarbeiten. So bindet sich der Entwurf an Common sense und „guten Geschmack“ seiner Zeit. Dies ist möglich, weil f rank das Wohnhaus als einen Gebrauchsgegenstand sieht, der aus „Kompromisse(n) zwischen Zweck, Material, Form, Qualität, Preis und anderen“ 7 entsteht. Aber die „idealen“ Regeln für das gute Haus ändern sich nicht, sie müssen nur in jeder Zeit mit deren eigenen Augen betrachtet und ausgelegt werden. Moderne Architektur - das ist im Grunde eine zeitgemäße Antwort auf immer gleiche Fragen: „Wie tritt man in den Garten ein? Wie sieht ein Weg zum Haustor aus? Wie öffnet man ein Haustor? Welche Form hat ein Vorraum? Wie kommt man vom Vorraum an der Garderobe vorbei ins Wohnzimmer? Wie liegt der Sitzplatz zu Tür und Fenster? “ Nicht im Was, sondern im Wie zeigen sich Stil und Denkstil des Architekten. 79 77 78 79 Vgl. zur Fragestellung von Architektur und Denkstil die Arbeiten von Hilbig 006 und 007 Architekturtheorie_Huter.indd 272 23.01.2008 15: 28: 35 Uhr <?page no="272"?> Architektonische Stile und Denk-Stile der Architekten 273 10 Im Denkraum des „guten Geschmacks“ Dem Stil ähnlich wie dem Geschmack hängen etwas Normatives an. Stilgefühl und guter Geschmack taugen nicht allein für die Erfahrung von Kunst, was auch gar nicht ihr Anspruch ist. Sie sind aber unerlässlich, wenn es darum geht, Fragen der ästhetischen Angemessenheit zu klären. Wenn das architektonische Entwerfen aus einem bestimmten Stil des (kommunikativen) Handelns besteht, dann machen ein solches Tun und sein Träger sich selbst für andere sichtbar. Angemessen sind dann die sichtbaren Phänomene des Bauens, nicht da sie für sich wie freie Kunstwerke sein sollen, sondern insofern ihre Gestalt in die Einheit eines Lebenszusammenhangs eingeformt ist. In dieser Bindung an Lebensweisen und an die inneren Möglichkeiten der Dinge liegt das normative Moment von Stil. g aDamer hat am Stil sowohl das Individuelle als auch das Verpflichtende herausgestellt: „In keinem Falle ist Stil schon ein bloßer individueller Ausdruck - immer ist ein Festes, Objektives damit gemeint, das die individuelle Ausdrucksgestaltung bindet.“ 0 Es kann in diesem besonderen Sinne auch keine Stillehre oder Kunstlehre von Stilen geben. Erst nachträglich, insofern eine konkurrierende Auffassung (zu einer von ihren Betreibern fraglos verfolgten) von Ausdruck und Darstellung auftritt, kann die Dogmatik eines Tuns und Denkens erkannt werden. s immel , l oos und f rank erkannten diese Dogmatik in der Forderung, Kunst- und Alltagsdinge nicht mehr voneinander unterscheiden zu wollen bzw. eine stilistische Vereinheitlichung in Dingen des Wohnens durchzusetzen. Aber dass Dinge in Gebrauch genommen werden sollen, ja für den Gebrauch bestimmt sind, dies ist den Dingen anzusehen. Sie verweisen auf einen Lebenszusammenhang und eine eingespielte Ordnung, deren Fraglosigkeit unserem Alltag eine gewisse Beständigkeit und Ruhe geben. Der Hersteller dieser Gebrauchsdinge, einschließlich des Architekten, weiß sich selbst als Teil dieser Lebensform. Dem gegenüber hat sich der Künstler keiner Gebrauchsanforderung und keinem Geschmacksurteil zu stellen. Die künstlerische Lebensform ist dem Common sense nicht verpflichtet. Auch das künstlerische Schaffen weist indes einen Stil auf, nicht aber im Sinne einer bewussten und gewollten Einordnung in eine soziale Lebensform. Seinen Stil „weiß“ der Künstler eher intuitiv, er hat ihn im Griff, man beherrscht in seinem Können die Feder oder den Pinsel „wie im Schlaf“. Was wir auf diese Weise Stil nennen, ist für seinen Inhaber selbstverständlich. Er lebt ihn. Zwar mag man sich an „Regeln“ orientieren, aber diese sind ungeschrieben, man verfügt über sie „unter der Hand“. s emPer s empirische Kunstbzw. Stillehre unterscheidet sich deshalb grundlegend von dem hier erörterten Verständnis von Stil. s emPer wollte eine künstlerische Methode 80 Gadamer 986b, 76 Architekturtheorie_Huter.indd 273 23.01.2008 15: 28: 35 Uhr <?page no="273"?> 11. Vorlesung 274 des Hervorbringens von Architektur etablieren, deshalb musste er Stil als ein System auffassen bzw. konstruieren. Stil wird ihm zur Anwendungsproblematik, insofern man über die nachprüfbaren Bedingungen (Regeln) eines Stils Bescheid weiß oder nicht. S emper denkt Stil vom Resultat her, nicht prozesshaft vom konkreten Schaffen. So aber ist keine Einheit von Haltung und Stil möglich. Im Stil stellt sich eine Haltung konkret dar, wie immer auch diese Haltung methodisch durchkonstruiert erscheinen mag. Wir greifen zu einer Methode; schon in diesem Greifen, in seinen Motiven gewissermaßen, drückt sich eine Haltung aus. Wir haben mit unserer Diskussion einen weit reichenden Stilbegriff kennen gelernt. Er reicht über das kunstästhetische und architekturgeschichtliche Verständnis von Stil hinaus. Der Stil des Denkens, so habe ich argumentiert, ist mehr als die Methode bzw. Technik der Überlegung im Vorfeld eines Tuns. Ich habe versucht, deutlich zu machen, dass Stil den menschlichen Bereich umfasst, in dem zum Ausdruck kommt bzw. nur konkret Form annimmt, wie wir unsere Welt wahrnehmen und erleben. Das, was wir daraufhin Stil nennen, prägt in gewissem Maß ebenso dasjenige, was als möglicher Gegenstand des Denkens überhaupt für uns in Frage kommen kann wie auch Art und Stil der Beschreibung und Untersuchung. Wenn es einen Denkraum gibt, in den unsere Bilder, Gedanken und unser Sprechen sinnvoll hineingehören, dann ist es der Stil des Denkens und Sprechens selbst, der diesen Denkraum auf eine einmalige Weise so ausfüllt, dass er unweigerlich für andere, konkurrierende Denkweisen verschlossen bleibt. Architekturtheorie_Huter.indd 274 31.01.2008 11: 36: 24 Uhr <?page no="274"?> 12. Vorlesung Architektur und Landschaft Welche Aufmerksamkeitshaltung benötigt „Landschaft“? - Es ist erstaunlich, dass so zu fragen, nur gegenüber der Landschaft tunlich ist. Architektur wird niemals so befragt. Auch deshalb scheint es überaus attraktiv, auch einmal der Architektur als Landschaft zu begegnen. Um dies zu können, müssen wir jedoch unsere Aufmerksamkeitsbereitschaft neu justieren. Mit einem Mal scheint uns nämlich die Architektur nicht mehr in seiner Ding- und Sachhaltigkeit etwas anzugehen. Stattdessen wird sie merkwürdig konturlos und geht in einem größeren Ganzen auf. Dies gilt es zu verfolgen gerade vor dem Hintergrund der gängig gewordenen Rede von „urbaner Landschaft“. Auf der einen Seite sind Architektur und Landschaft gar nicht voneinander zu isolieren, auf der anderen Seite führt der Ausdruck „Landschaft“ ein Versprechen mit sich, das ich für die Architekturtheorie bergen, konkretisieren und einlösen möchte. 1 Die Wirklichkeit der Landschaft Um dorthin zu gelangen, soll zunächst auf Georg s immel s Arbeit Philosophie der Landschaft von 1913 hingewiesen und an seinen Wink erinnert werden, dass es die Stimmung ist, die die Qualität der Landschaft ausmache. Stimmung nennt s immel etwas Objektives, echt Erlebtes. Um zu verstehen, was er mit dem Ausdruck Stimmung meint, werfen wir einen kurzen Blick auf seinen sehr bekannt gewordenen Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben. Für s immel ist die großstädtische Gesellschaft „völlig durchdrungen“ von der Geldwirtschaft. Das Geld „höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus“ 1 . Auf Seiten des Subjekts, hier des Großstädters, nimmt er die „seelische Erscheinung“ der Blasiertheit wahr. „Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, daß sie nicht wahrgenommen würden, wie von dem Stumpfsinnigen, sondern so, daß die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit die Dinge selbst als Simmel 98 a, 96 Architekturtheorie_Huter.indd 275 23.01.2008 15: 28: 35 Uhr <?page no="275"?> 12. Vorlesung 276 nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen vorgezogen zu werden.“ 2 Damit ist eindrucksvoll die Blasiertheit als leiblich-seelische Befindlichkeit benannt, die ihren Gefühlsraum im gesellschaftlichen Bereich der Großstadt findet. „Diese Seelenstimmung ist der getreue subjektive Reflex der völlig durchgedrungenen Geldwirtschaft“. Gegenüber der Landschaft hebt s immel keinen besonderen Stimmungswert hervor. Aber er gibt den entscheidenden Hinweis, dass Landschaft durch die Teilung, genauer durch die Verselbständigung von Teilen eines Ganzen („Natur“) zu einem eigenständigen Ganzen sich vollzieht. Landschaft ist nicht Natur, denn Natur ist für s immel der „endlose Zusammenhang der Dinge“ 3 , das ewige Kommen und Gehen von Formen. Diesen Aspekt brauchen wir nicht weiter zu verfolgen. s immel bezeichnet also die Stimmung als Qualität der Landschaft, nämlich dass ihre Anschauung ein Gefühlsvorgang sei. Von daher, nämlich von Seiten der „Qualität“, kann es nicht passen, wenn wir annähmen, eine Landschaft bestünde aus einer Addition von Einzelheiten wie Bäumen, Hügeln, Gewässern und Steinen. Landschaft ist ein geistiges Gebilde, nämlich ein Anschauungsbild, somit ein Geschöpf unserer Einbildungskraft - nicht der Vernunft. Wir haben ein wirkliches Erlebnis von der Landschaft als „Bild“, können sie aber nicht „im bloß Äußeren“ betasten und betreten. Für s immel besteht kein Zweifel: die Landschaft ist ein objektives Gebilde, denn die Gefühle ebenso wie die Stimmung sind „echt“, nämlich wirksam „erlebt“. Die Einbildungskraft ist ein produktives Vermögen des Menschen, etwas unmittelbar, nämlich als Bild zu sehen. Dieses Anschauen unter Rückgriff auf die Imagination versagt sich jeder empirischen Feststellung von dem, was in der Welt der Fall ist. Es ist also mit der Anschauung der Landschaft keine empirische Tatsachenfeststellung verbunden, sondern das spontane Erfassen oder ein unmittelbares Vernehmen. Nach s immel hat Ludwig k lages das Schauen von Bildern, wie dieser sagt, als ein vorbewusstes Wirklichkeitskennen beschrieben. 5 k lages hat auch vom „inneren Bild“ gesprochen. In dem 1922 erschienenen Buch Vom kosmogonischen Eros unternimmt k lages den Versuch, den Leib- und Seelenzustand der Ekstase als eine geistunabhängige Haltung zur Welt zu fassen: als eine Befreiung der Seele vom Geist. Die Situation des erotischen Rausches ermöglicht das Schauen von Bildern, das gattungsgeschichtlich vor dem Wahrnehmen von Gegenständen anzusiedeln sei. Darauf gehen all jene Ereignisse zurück, die wir als „Aufleuchten innerer Bilder“ bezeichnen. Für k lages unterscheidet sich die Schauung unsagbarer A.a.O., 96 Simmel 98 b, 0 A.a.O., 8 5 Von Klages stammt auch der Ausdruck von der „Wirklichkeit der Bilder“, der aktuell wieder in den Publikationen von Gernot Böhme (z.B. Böhme 00 ) auftaucht. Architekturtheorie_Huter.indd 276 23.01.2008 15: 28: 36 Uhr <?page no="276"?> Architektur und Landschaft 277 Bilder grundlegend vom willkürlichen Wahrnehmungsakt. 6 Denn Wahrnehmung bedeutet ihm Dingwahrnehmung. Er macht diese Unterscheidung am Beispiel Landschaft fest: „Ich kann eine schöne Landschaft nicht mit mir nehmen; aber ich kann mir von ihr eine ‚Vorstellung‘ machen, soweit mir von ihr ein inneres Bild geblieben. Während die gegenständliche Landschaft als selbige Sache bleibt, wo sie ist, wandert ihr Bild mit den tausenden von erlebenden Eigenwesen, die ihres Anblicks teilhaftig wurden, und zwar sowohl in jedem schon an und für sich ein andres als auch hinwieder ein andres nach den Beleuchtungsfarben, Geräuschen, Bewegungen des jeweils zugrunde liegenden Vorbildes.“ 7 Das Bild geht auf ein Erleben zurück und bleibt an den Erlebenden gebunden, es kann nämlich von ihm erinnert werden. Freilich verwandelt es sich im Laufe der Zeit, wie sich auch der Träger des Bildes wandelt. k lages will die Wahrheit und Wirklichkeit des Bildes einer Landschaft gegen die Wahrnehmung der Landschaft als Ding verteidigen. Oder anders ausgedrückt: er will das Erleben und Empfinden, das Eindrucksbild einer Landschaft, als ein qualitatives Erspüren von Welt gegenüber dem neuzeitlich sachlichen Erkennen und Analysieren in sein eigenes Recht setzen. Das „innere Bild“ hält aber trotz seiner Wandlungsenergie etwas fest vom ursprünglichen Ereignis der Schauung. 2 Befindlichkeit und gestimmter Raum Bindet k lages das Schauen von Bildern an die Erlebniswirklichkeit des Menschen zurück, so spricht h eiDegger vom „In-der-Welt-sein“. Auch hier ist ein „ursprüngliches“ oder besser: primäres Verhalten des Menschen zur Welt gemeint: nämlich, wie h eiDegger sagt, der Aufenthalt bei den vertrauten Dingen. Auch h eiDegger geht es darum, eine leibliche, bewusstseinsunabhängige Grundsituation beim Menschen zu beschreiben, die normalerweise nicht oder nur wenig beachtet wird, wenn wir uns ein Verständnis vom Menschen machen. Er nennt diesen Zustand die Stimmung, das Gestimmtsein. Stimmung ist als Phänomen ein Existenzial, d.h. es beschreibt unser faktisches Menschsein und ist theoretisch nicht zu hintergehen. „Der ungestörte Gleichmut ebenso wie der gehemmte Missmut des alltäglichen Besorgens, das Übergleiten von jenem in diesen und umgekehrt, das Ausgleiten in Verstimmungen“ sind echte Phänomene, auch wenn wir sie niemals in unserem Alltag bewusst zur Kenntnis nehmen. Diese Gestimmtheiten des Menschen bedürfen aber der sorgfältigen Betrachtung, weil sie zeigen, dass das Dasein immer schon stimmungsmäßig erschlossen ist. Den Menschen 6 Klages 9 0, 06 f. 7 A.a.O., 07 8 Heidegger 98 , Architekturtheorie_Huter.indd 277 23.01.2008 15: 28: 36 Uhr <?page no="277"?> 12. Vorlesung 278 eignet im Leben eine Grundgestimmtheit, die jedes bewusstere Verstehen und Begreifen von Welt stimmungsmäßig unterlegt. Diese Grundsituation nennt H eidegger auch Befindlichkeit. Das In-der-Welt-sein bei den uns vertrauten Dingen, ebenso unser praktisch-pragmatisches Verstehen dieser Welt ist geprägt, ob wir wollen oder nicht, durch Befindlichkeit. Stimmung und Gestimmtheit lassen sich nicht manipulieren. „Die Stimmung überfällt. Sie kommt weder von ‚Außen‘ noch von ‚Innen‘, sondern steigt als Weise des In-der-Welt-seins aus diesem selbst auf.“ Dieser Hinweis, dass Stimmung weder im Subjekt noch im Objekt zu verorten ist, wollen wir weiter verfolgen. H eidegger s Beispiele berühren vor allem das selbstverständliche und beiläufige Erfassen unserer alltäglichen Welt, die er von der wissenschaftlichen Sicht auf die Dinge scharf trennt. Wie hängen Stimmung und Alltagswahrnehmung zusammen? Während das analytische Betrachten der alltäglichen Vorkommnisse diese in ihrer bloßen Vorhandenheit, nämlich losgelöst von deren lebensweltlich-primären Bedeutung, einförmig zu erklären unternimmt, zeichnet das alltägliche Auffassen folgende Weise aus: „Gerade im unsteten, stimmungsmäßig flackernden Sehen der ‚Welt‘ zeigt sich das Zuhandene in seiner spezifischen Weltlichkeit, die an keinem Tag dieselbe ist.“ 10 Stimmung steht der Welt nicht gegenüber, vielmehr wird die Welt immer schon stimmungsmäßig erlebt und erfahren. So gilt auch für das Gestimmtsein, dass es sich nicht zunächst auf Seelisches bezieht, selbst kein innerer Zustand ist, der dann auf mysteriöse Weise nach außen gelangt und auf Menschen und Dinge abfärbt. Diese zuletzt beschriebenen Aspekte hat B ollnow in seinem Buch Das Wesen der Stimmungen aufgenommen und es spezifischer auf Räumliches bezogen. Denn dies klang ja ebenso bei S immel und K lageS wie auch bei H eidegger an: die Rede von Großstadt, Landschaft oder von der Alltagswelt spricht ja implizit die Räumlichkeit des Menschen an. Das von S immel zur Landschaft konkret Vorgegebene, nämlich dass diese und die Stimmung derselben einerlei seien, hat B ollnow weiter ausgearbeitet. Er vertritt die These von der „umgreifenden Einheit von Leben und Welt“. 11 Es gibt eine Stimmung, in der jeder Mensch sich befindet. Diese Beschaffenheit einer Gemütsverfassung bedeutet die Übereinstimmung zwischen Innen- und Außenwelt. Sie liegt gleichsam noch vor der Trennung von innen und außen, von Ich und Welt. Innerhalb dieses Stimmungsuntergrunds wird die Welt eben noch nicht gegenständlich oder dinglich gefasst, sondern vor-bewusst und ohne Erkenntnisabsicht. „Die Stimmungen leben noch ganz in der ungeschiedenen Einheit von Selbst und Welt, beides in ei- A.a.O.,136 10 A.a.O., 138 11 Bollnow 1 74, 38 Architekturtheorie_Huter.indd 278 31.01.2008 12: 26: 29 Uhr <?page no="278"?> Architektur und Landschaft 279 ner gemeinsamen Stimmungsfärbung durchwaltend“. 12 Stimmung ist also ein erlebensmäßiger Grundton der Selbst- und Weltwahrnehmung. Sie ist nichts zunächst Subjektives, das wir anschließend auf etwas Äußerliches übertragen. Das heißt aber auch: Unsere Wahrnehmungen sind grundsätzlich „gestimmt“. Deshalb ist die Zuschreibung einer bestimmten Stimmung zu einer Landschaft auch eine ursprünglich treffende Kennzeichnung. „Man spricht damit nicht etwa der Landschaft eine Seele zu, sondern meint das gemeinsame, Mensch und Welt zusammen umgreifende Durchzogensein von einem bestimmten Stimmungsgehalt. Die Stimmung kommt also nicht einem isolierten ‚Innenleben‘ des Menschen zu, sondern der Mensch ist einbezogen in das Ganze der Landschaft, welches wiederum nichts losgelöst Bestehendes ist, sondern in eigentümlicher Weise auf den Menschen rückbezogen ist“. 13 Erst Ludwig B insWanger (1 1-1966) hat dann den glücklichen Ausdruck „gestimmter Raum“ gefunden. Er führt aus, dass „die ‚Welt‘ der Stimmung und Gestimmtheit […] ihre eigenen Raum- und Bewegungscharaktere, ihre eigenen räumlichen Ausdrucksgestalten“ hat. 1 Dann zählt er auf: die Räume von Kirchen, Fabriken, Arbeits- oder Wohnzimmer und die landschaftlichen Räume „wie der ‚unendlichen Ebene‘ und dem ‚unendlichen Meere‘ oder einem engen, tiefen Gebirgstal, über dem die Berge zusammenzuschlagen drohen, und das den Menschen der Ebene so beengt, während es ihm in seiner Heimat ‚weit ums Herz wird‘.“ 15 B insWanger setzt die Einheit von Erlebnisform und Raumgestalt voraus. Bevor wir nach dem Zugang zu Raumatmosphären fragen, zuerst ein paar Beispiele für „gestimmte Räume“ 16 . Zunächst müssen wir festhalten, dass der Ausdruck „gestimmter Raum“ nicht an das gebunden ist, was wir klassischerweise unter („schöner“) Landschaft verstehen. s immel sprach vom „Gefühlsraum“, den sowohl den Großstädter umgibt als auch denjenigen, der eine Landschaft in ihrem ganzheitlichen Charakter wahrnimmt. Als gestimmter Raum erleben wir den Raum nicht in einzelnen, spezifizierbaren Eigenschaften (von Formen, Farben, Größenverhältnissen usw.), sondern in seinem Ausdrucksgehalt, seinen Anmutungsqualitäten, seiner Atmosphäre. Jeder kennt solche Gefühle für einen Raum, die uns mitunter überwältigen: der feierliche Kirchraum, die licht- und geräuschdurchflutete, von vielen Menschen belebte Straßenkreuzung am Piccadilly Circus, die heiter-luftige Landschaft der Toskana. Für den Wohnraum bieten sich Qualitäten des Wohnlichen an: Gemütlichkeit, Freundlichkeit, Großzügigkeit. Wir sprechen auch von einer intimen Atmosphäre, ein Haus oder eine Wohnung können aber auch ungastlich wirken. Eine Landschaft mutet heiter, hell und offen A.a.O., 9 A.a.O., 9 f. Binswanger 955, 99 5 A.a.O., 99 6 Kruse 97 , 60 f. Architekturtheorie_Huter.indd 279 23.01.2008 15: 28: 36 Uhr <?page no="279"?> 12. Vorlesung 280 an, eine Gebirgsschlucht düster, beengend und bedrohlich. Aber auch ein Wohnquartier mutet den Bewohner hier und dort weit oder eng an. Wir haben es insgesamt mit Eindrucksqualitäten zu tun, die sich nicht quantifizieren lassen. Es ist ebenfalls nicht möglich, sie einer objektiven Beschreibung ihrer vermeintlichen Eigenschaften zu unterziehen. Es werden keine Einzelheiten so oder so erlebt, sondern die Ganzheit eines Charakters mutet an. Erst in der kritischen Besinnung auf diesen Charakter lässt sich nachträglich zum Bildeindruck der Bezug auf einen konkreten Raum herstellen. Im Gegensatz zum auf Aktion und Erkenntnis gerichteten Raumverfügen befindet sich das Subjekt im gestimmten Raum im Zustand eher pathisch-leidenschaftlichen Gewahrens oder qualitativen Innenseins. Der gestimmte Raum ist unzentriert und richtungslos. Als gestimmter Leib ist das Subjekt zwar „im“ gestimmten Raum, aber nicht an einer bestimmten fixierbaren Stelle. Wie beim Herumbummeln oder Umherstreifen kann man mal hier, mal dort sein, ohne dass der Raum sich in seinem Charakter ändert. So wenig wie sich im gestimmten Raum Richtungen nachweisen lassen, ist es möglich, Abstände zwischen den Dingen zu messen und zu quantifizieren. Abstände und Richtungen werden vielmehr hinsichtlich des Bedeutsamkeitsgefühls, welches man ihnen entgegenbringt, wahrgenommen: als vertraute Eigenarten des Vernommenen, dem wir augenblickhaft nah sind. 3 Die Alltagslandschaft als Wohnort Von solchen Qualitäten des gestimmten Raumes, die man heute auch als Atmosphären anspricht, sind nun Eigenschaften eine kartographisch fixierbaren „Landschaft“ zu unterscheiden: nämlich deren Einzelteile wie Haus, Straße, Weg, Garten, Bäume, Fluss usw., dann, darauf bezogen, deren ökologischer Nutzen, deren landschaftliches bzw. städtisches „Erscheinungsbild“ sowie allen sonstigen quantitativen Maßbestimmungen, mit denen sich die Planung in ihrer so genannten Bestandsaufnahme auseinandersetzt. Qualitäten sind, so meine These, Phänomene des Erlebens und des Erfahrens von Ganzheiten. Und es gibt keinen Grund, solche Qualitäten allein bezogen auf solche Räume anzunehmen, die wir gewohnt sind, als „schöne Landschaft“ zu fassen. Es kommt allein darauf an, dass der Mensch sich einbezogen in das Ganze eines Raums erlebt. Eigenschaften indes sind zum Zwecke der Analyse und möglicherweise durch Experiment gewonnene Daten über isoliert untersuchte Dinge: Das Wuchsverhalten einer bestimmten Pflanze, die Art der Straßenbeleuchtung, das Alter der Bebauung usw. Im Umgang mit diesen Eigenschaften synthetisiert Planung dann gewisse sachliche Feststellungen zu einem Landschaftsentwurf in der Absicht, Qualitäten erzeugen zu können. Architekturtheorie_Huter.indd 280 23.01.2008 15: 28: 36 Uhr <?page no="280"?> Architektur und Landschaft 281 Wir fragten anfangs: Welche Aufmerksamkeitshaltung benötigt eine „Landschaft“? Welches Wahrnehmungsorgan entspricht der Anschauung von Landschaft? Was bedeutet es, etwas landschaftlich zu sehen? - In der Regel werden diese Antworten gegeben hinsichtlich dessen, was man eine „schöne Landschaft“ zu nennen pflegt. Dies sind die Postkarten- und Urlaubslandschaften, also die Landschaften, die wir in der Regel nicht bewohnen, sondern die wir bewusst aufsuchen in der Hoffnung, an ihrer Wirklichkeit für kurze Zeit teilnehmen zu können. Ich will aber anders fragen: Lässt sich unsere Alltagslandschaft oder unsere Wohnlandschaft, wie wir auch sagen dürfen, stimmungsmäßig erschließen? Damit weiten wir den gängigen Begriff von Landschaft bewusst aus. Wenn wir nämlich so fragen, dann wollen wir darauf eine Antwort bekommen, worin denn das Besondere des Ausdrucks Alltagslandschaft zu bestimmen ist. Zunächst fällt uns auf, dass Menschen heute den „landschaftlichen Blick“ auf ihre Wohnumwelt selbstbewusst vollziehen. Der Bewohner weiß heute ebenso wie er am schnellsten in die Stadt als auch in die Landschaft kommt. Menschen wünschen, landschaftsnah zu wohnen. Wo aber traditionell gesprochen die Grenze zwischen Stadt und Landschaft verläuft, ist nicht exakt auf einem Plan zu zeigen. Vielmehr wohnen die Menschen in ihrem Selbstverständnis heute „am Rand“, nämlich zwischen dem Städtischen und dem Landschaftlichen. 17 Begriffliche Zuschreibungen, die der Planer gegenwärtig hinsichtlich seiner Wahrnehmung vornimmt, wie Zwischenstadt, urbane Landschaft, Zwischenlandschaft oder verlandschaftete Stadt, stehen sinnbildlich dafür, wie Landschaften für ihn „städtebaulich“ zu deuten sein sollen. Spätestens an dieser Stelle unserer Überlegungen macht die Trennung von Architektur und Landschaft keinen Sinn mehr. In der Wahrnehmung unserer Alltagslandschaft haben wir das Ganze unseres Wohnfeldes, eine Umgebungstotalität, im Sinn. Natürlich ist dies nichts Neues - neu und bemerkenswert ist, dass wir darüber sprechen. Oder anders: dass wir das Wohnquartier als Landschaft ansprechen und damit die Qualitäten meinen, von denen oben ausführlich die Rede war. Warum aber waren wir früher nicht dazu in der Lage, unsere Aufmerksamkeit der Alltagslandschaft zuzuwenden? Weil wir für Gefühle und Stimmungen in unseren städtebaulichen Bestandsaufnahmen keinen Platz hatten, nicht wussten, wie mit Gefühlen umzugehen, sie nicht datenfähig sind. Alltagslandschaft ist aber auch ein merkwürdiger Ausdruck. Insofern wir das Gegenüberhaben einer Landschaft mit einem besonderen Erlebnis verknüpfen, das als solches uns ja gerade aus dem Alltag heraushebt, muss es verwunderlich erscheinen, dass sich dies unmittelbar lebensweltlich ereignen 7 Vgl. dazu Hahn 00 Architekturtheorie_Huter.indd 281 23.01.2008 15: 28: 37 Uhr <?page no="281"?> 12. Vorlesung 282 können soll. Was ist also eine Alltagslandschaft? Kann es sie überhaupt geben? Ja, wir müssen sie aber - als Landschaft - von ihrer Erlebnisqualität her bestimmen, nämlich als gestimmter Raum. Dies soll in drei Schritten geschehen: - Mit s immel , B ollnoW , B insWanger können wir sagen, es gibt das Phänomen Alltagslandschaft, insofern unsere Nahumwelt, der vertraute Raum unserer alltäglichen Angelegenheiten und Besorgungen, eine Stimmung aufkommen lässt. Dazu müssen wir aber zunächst den Antagonismus von Stadt und Landschaft wo Stadt ist, kann Landschaft nicht sein aufgeben. Die Untersuchungen zur Zwischenstadt, zur urbanen Landschaft haben gezeigt, dass unsere überkommenen Begriffe von Stadt, Land, Landschaft, ländlicher Raum radikal überprüft werden müssen. 1 (a) - Darüber hinaus ist zu begreifen, dass die Bewohner unserer Stadtlandschaften schon längst - schon immer - Stimmungen in ihrem Nah- oder Heimatraum generieren, nur hatte die Architektur- und Landschaftstheorie nie wirklich Zugang zu solchen Raumgefühlen. Was meint denn in diesem Zusammenhang das Wort Alltagslandschaft? Soll es alltägliche Landschaft bedeuten? Ferner gilt es, das Thema Erlebniswirklichkeit anders als gewohnt zu betrachten. (b) - Damit werden wir aber auch das, was wir „schön“ nennen, zurechtzurücken haben. Sind wir nämlich gewohnt, „Schönheit“ als ein kunstrichterliches Kriterium aufzufassen, sie auch im Urteil zu objektivieren, so bedeutet „schön“ alltags- und lebensweltlich wohl etwas anderes. Darauf werde ich am Ende ausführlich zu sprechen kommen. (c) 3.1 „Urbane Landschaft“ (a) Der Philosoph Bernhard W alDenfels (*193 ) hat einmal davon gesprochen, dass weder der Landschaftsvermesser noch der Landschaftsbetrachter in der Welt leben, die sie vermessen bzw. auf die sie sich kontemplativ einlassen. Es sei aber, so W alDenfels , wissenschaftlich die Ebene zu gewinnen, auf der der „leibhafte Weltbewohner“ in seiner zentrierten Umwelt vorgefunden wird. 19 Hochbauarchitekten, Städtebauer und Landschaftsarchitekten beziehen sich professionell in der Regel auf Welten und Räume, die sie nicht selbst bewohnen. Sie wirken auf diese mit ihrem Können und Handeln ein und sind sich mitunter nicht wirklich bewusst, welche Folgen ihr Bewirken auslöst und hinterlässt. Schon die Wahrnehmung und Deutung einer Landschaft als „Planungsaufgabe“ bzw. als „Wohnheimat“ haben keine oder nur wenige Berührungspunkte. 8 Vgl. dazu Hahn 006; Hahn/ Steinbusch 006 9 Waldenfels 985, 8 f. Architekturtheorie_Huter.indd 282 23.01.2008 15: 28: 37 Uhr <?page no="282"?> Architektur und Landschaft 283 Das sprachliche Konstrukt, ob „Zwischenstadt“ oder „urbane Landschaft“, dient dem Denken als Werkzeug, Phänomene in der Welt „neu“ zu sehen. Auch der Ausdruck „Rand“ ist ein sprachliches Bild. Sprachliche Bilder geben keine Hinweise darauf, dass sich das mit dem Ausdruck Getroffene tatsächlich draußen in der Welt abbilde und wiederhole. Es geht auch nicht darum, unser Sehen durch ein weiteres Hilfsmittel zu verbessern. Wirklichkeit und (sprachliches) Bild verhalten sich nicht zueinander wie Original und Kopie. Die „Bilder“, die wir verwenden, haben also eher die Aufgabe, unser Suchen zu führen. Sie sind vorläufige Beschreibungen des Entdeckten, zugleich sollen sie uns dabei unterstützen, das Entdeckte zu verstehen. Der Begriff „urbane Landschaft“ mutet paradox an. „Landschaft“ als das weltlich gefüllte Gegenüber von architektonischem und planerischem Entwurf ist in einem begrifflichen Zusammenhang, der das Wort „Stadt“ nicht vorsieht, zumindest für die Architekten eine ganz neue Herausforderung. Deshalb ein kurzer Blick auf die „Stadt“. Der Soziologe Rainer m ackensen (*1927) hat hier unmissverständlich Stellung bezogen: „die Zukunft der Stadt (ist) nicht die Wiederbelebung ihrer Geschichte, nicht einmal in ihrer Baugestalt. ‚Die Geschichte der Städte‘ [...] ist längst vorbei“. 20 Bedeutet dies, dass die Zukunft der Stadt die Landschaft sei? Wohl nicht, aber dennoch: Was einmal Konsens war hinsichtlich der inhaltlichen und begrifflichen Beschreibung von Stadt (Ferdinand t önnies , Max W eBer , Werner s omBart , Hans Paul B ahrDt u.a.) stimmt nicht mehr damit überein, wie heute stadträumliche Veränderungen, Brüche, Überformungen, Rückbauten, schließlich Verwilderungen usw. gedeutet werden. Begriff und Wahrnehmung passen nicht länger zusammen. Alain t ouraine (*1925) hat überdies festgestellt, dass die Stadt als politische Einheit der Gesellschaft aufgehört hat zu existieren: „Wir leben nicht in unseren Städten. Wir leben in den Städten, die vor sehr langer Zeit, vor vielen Jahrhunderten, entstanden sind und die im Begriff sind zu zerfallen.“. 21 Aber sowohl m ackensen als auch t ouraine deuten an, dass wir mit dem Verlust der „alten Stadt“ zwar ordnungspolitische und gesellschaftsstabilisierende Leitbilder eingebüßt haben, aber nicht Ordnung per se. So denkt t ouraine an „neue Gemeinschaften“, die nicht mehr wie die „alten“ sozialen Gruppen die Identität stiftende emanzipatorische Geschichte der Stadt im Rücken haben, sondern die sich gleichsam „spontan“ und möglicherweise „auf Zeit“ allein hinsichtlich ähnlicher Alltagserfahrungen bilden. Nicht das Chaos ist die Folge einer Stadt, die keine Einheit mehr ist, sondern das Auftauchen neuer Ordnungen und neuer Identitäten, deren besonderer und einmaliger Bezug zu Geschichte, Gegenwart und Zukunft wissenschaftlich noch gar nicht nachvollzogen ist. Jedoch dürfen wir nicht glauben, dass nur das soziologisch bereits Erklärte unsere soziale Wirklichkeit ausmache. 0 Mackensen 00 , Touraine 996, 8 Architekturtheorie_Huter.indd 283 23.01.2008 15: 28: 37 Uhr <?page no="283"?> 12. Vorlesung 284 „Die Siedlungsmuster“, so m ackensen angesichts der Gegenwart der Agglomerationsränder, „bleiben aber nicht derart unstrukturiert, wie sie auf den ersten Blick erscheinen; sie entwickeln aus dem Bedürfnis der Bewohner ‚zentralörtliche Strukturen‘“. 22 Und an anderer Stelle fordert m ackensen eine neue Aufmerksamkeitshaltung des Beobachters ein, damit es überhaupt gelingen kann, in den Randgebieten unvermutete soziale Formierungen zu entdecken: „Individuen werden in solchen Gemeinwesen wahrgenommen; nicht ‚noch‘, sondern erst jetzt bewusst: als Handelnde aus dem Erfahrungshorizont bekannter Lebensumstände. Damit werden Bedeutungen gesetzt, die Sinn machen - persönlich nachvollziehbaren Sinn von Leben“. 23 Was „urbane Landschaft“ oder andere Ausdrücke bedeuten in dem Sinne, dass damit eine neue und andere Erfahrung von Stadt, Landschaft, Raum, aber auch vom eigenen Leben und Wohnen vorläufig beschrieben ist, lässt sich doch nur im Nachvollzug gerade solcher Erfahrungen erkunden und klären. 3.2 Erlebnisse und Erfahrungen (b) Unter (urbaner) Alltagslandschaft will ich nicht eine „alltägliche“ Landschaft verstehen, also die banale, graue und unansehnliche, eben durchschnittliche Landschaft. Denn dann würden wir Landschaft allein ästhetisch im kunstrichterlichen Sinne beurteilen. Hier ist g aDamer sicher im Recht, wenn er das ästhetische Urteil „über die Schönheit einer Landschaft in Abhängigkeit von dem Kunstgeschmack einer Zeit“ 2 einschätzt, was uns hier nicht zu interessieren hat. Alltagslandschaft, so wollen wir stattdessen argumentieren, ist die Landschaft, in der wir wohnen und uns lebensweltlich aufhalten. Sie ist die uns vertraute Landschaft, in der wir zuhause sind und mit der wir uns vielfältig verbunden fühlen. 25 Sie ist die Landschaft, in deren Gegenwart wir unser Leben emotional führen. Diese Alltagslandschaft ist kein Raumbehälter, in dem Menschen, Häuser, Straßen und Bäume sich befinden oder zählbar vorkommen. Zu dieser Landschaft einschließlich ihrer Architekturen, d.h. zu ihren Qualitäten, kommen wir nicht durch wissenschaftliche Betrachtung, sondern indem wir uns einen Zugang eröffnen zu den im Wohnen gemachten Erlebnis-Erfahrungen. Die Aufgabe der Architekturtheorie, die sich in ein Verständnis von Landschaft über deren „Qualitäten“ begibt, besteht also darin, die Selbstverständlichkeiten, in der das Leben und Wohnen im gestimmten Raum der Alltagslandschaft verwirklicht werden und für welche die „natürliche“ Einstellung maßgebend ist, zu erkunden. Mackensen a.a.O., A.a.O., Gadamer 986a, 6 5 Es ist nicht auszuschließen, dass Menschen in mehreren Landschaften „zuhause“ sein können. Architekturtheorie_Huter.indd 284 23.01.2008 15: 28: 37 Uhr <?page no="284"?> Architektur und Landschaft 285 Unter dem gewonnenen Gesichtspunkt „Alltagslandschaft als gestimmter Raum“ kommen wir zwangsläufig auf das Landschaftserleben zurück. Im lebendigen Leben stehen wir mitten in der Landschaft. Wir sind dabei stets von einem Horizont umgeben, der uns zugehörig ist als unsere Perspektive auf die Welt, dass wir unser Leben so führen wollen, dass es gelingt. Pragmatisch leben wir unser Leben gerichtet auf unser Wohnhaus, die Nachbarschaft, die unscharfen Grenzen unseres vertrauten Quartiers. In dieser Alltagslandschaft gelangen wir stets nur von einem Ort zum anderen: von der Wohnung vor die Haustür und auf die Straße, von dort zur Bushaltestelle oder zum Bäcker. Jeder dieser Orte ist mir gefühlsmäßig erschlossen durch sein mir vertrautes Verhältnis zu den benachbarten Orten, soweit ich den mir bekannten Zusammenhang der Orte überblicken kann. Die Orte der Alltagslandschaft haben ihre spezifische Bedeutung, je was ich an ihnen erlebt habe. Bei Erwin s traus (1 91-1975) heißt es zur nicht-urbanen Landschaft: „Um in die Landschaft zu gelangen, müssen wir nach Möglichkeit alle zeitliche, räumliche, gegenständliche Bestimmtheit fahren lassen; aber die Auflösung ergreift nicht nur das Gegenständliche, sie ergreift in gleichem Maße uns selbst. In der Landschaft hören wir auf, geschichtliche, d.h. uns selbst objektivierbare Wesen zu sein. Wir träumen am hellen Tag und mit offenen Augen. Wir sind der gegenständlichen Welt, aber auch uns selbst entrückt. So das Empfinden.“ 26 Während s traus in seiner Bestimmung von „landschaftlicher Raum“ davon spricht, dass wir zunächst „in“ diesen „gelangen“ müssen, sind wir in der Alltagslandschaft bei den vertrauten Dingen „immer schon“. Hier ist dann eher darauf zu achten, wann und wie wir diesen gestimmten Raum der Alltagslandschaft verlassen bzw. den Eintritt in ihn stimmungsmäßig auf besondere Weise vollziehen und bemerken. Der Jurist und Schriftsteller Bernhard s chlink (*19 ) beschreibt diesen Eintritt und diese Wiederbegegnung als ein starkes und tiefes Angerührtsein: „Im Ort, in der Landschaft steckt Heimat. Je älter ich werde, desto stärker empfinde ich, dass diese Landschaft meine Heimat ist: Wenn der Zug auf dem Weg nach Heidelberg aus dem Rheintal in die Ebene kommt und dann von Mannheim auf die Berge mit den roten Sandsteinbrüchen zufährt, rührt es mich stark und tief an“ (DER TAGESSPIEGEL vom 5. 1. 2000). Aber dieses Empfinden des heimatlich Vertrauten ist keineswegs nur Dichtern und Schriftstellern vergönnt. Auch Frau Pogge, die eine Filiale eines Kaffeeausschanks im Dresdner Zentrum leitet, verspürt eindringlich den Eintritt in den gestimmten Raum ihrer Alltagslandschaft. Sie erzählt von ihrem allabendlichen Heimkommen von der Arbeit: Wenn man über den Postplatz nach Hause geht, erwartet sie schon ein Wahrzeichen: „Ach die Kirche, Gott sei Dank, sind wir gleich daheeme“. 6 Straus 956, 0; vgl. auch die Anmerkungen zu Straus in: Rothacker 98 , 6 Architekturtheorie_Huter.indd 285 23.01.2008 15: 28: 37 Uhr <?page no="285"?> 12. Vorlesung 286 Die Annenkirche stehe „so fantastisch“: „Wenn du vorne auf dem Postplatz stehst und in die Straße reinschaust, schaust du voll drauf“. Um den Unterschied zur „Landschaft“ als traditionellem Gegenstück zur „Stadt“ zu verdeutlichen, hilft uns vielleicht der Begriff Landschaftsorientierung weiter. Während wir Landschaftserlebnisse bewusst ansteuern können, indem wir uns erlebnisorientiert verhalten und eine Reise in die Toskana oder die Sächsische Schweiz buchen, können wir die Welt, in der wir tagtäglich agieren, nicht entsprechend aufsuchen. Alltagslandschaft ist das Hier und Jetzt unseres Lebens und Erlebens im Umraum unserer Nahwelt. Als Architekten und Planer müssen wir freilich das Empfinden immer wieder distanzieren, um zur empirischen Wahrnehmung durchzustoßen. s traus versteht diese Distanz allerdings als einen „Aufstieg zu einer höheren Ebene“ 27 . Für ihn bedeutet das empirische Wahrnehmen von Landschaft, wie es beispielsweise für einen Geographen typisch ist, einen Erkenntnisfortschritt gegenüber dem „primitiven“ Empfinden. Dabei müssen wir jedoch wissen, dass das Empfinden der Alltagslandschaft (und nicht ihre empirische Wahrnehmung) uns gerade zu ihren Raumqualitäten führt. Denn allein im Empfinden artikuliert sich das stimmungsmäßige Verhältnis zur Welt. Zwar sprechen wir davon, dass wir eine Empfindung „haben“, zugleich ist jedoch gewiss, dass sie uns ebenfalls hat, uns ergreift und überwältigt. 2 Wollen wir also Architektur als Landschaft verstehen lernen, dann dürfen wir diese Ebene der „inneren Bilder“ und erinnerten Erlebnisse nicht überspringen, sondern müssen gerade versuchen, sie zu erreichen. Auch wenn wir die physiologische Quelle von Empfindungen nicht unmittelbar einsichtig machen und also das Erleben nicht wissenschaftlich beobachten können, so haben wir doch die Chance zu erfahren, welche Ablagerungen die Erlebniswirklichkeit der Alltagslandschaft beim Menschen hinterlassen hat. Solche Sedimente nenne ich Erfahrungen. Wir müssen also nach den Wohnerfahrungen fragen, um in einer entsprechenden Mitteilung dem Stimmungsmäßigen - wenn auch niemals unmittelbar - zu begegnen. Dafür gilt weiterhin das, was wir in der . Vorlesung zum Entwerfen schon diesbezüglich ausgeführt haben. Allein dieser vermeintliche Umweg, der uns zu der Erfahrung des Erlebten führt, verspricht einen kommunikativen Zugang zu den Qualitäten der umräumlichen Alltagslandschaft. Wie die wortgeschichtliche Untersuchung zeigt 29 , wird das „Erlebte“ in dem Sinne sprachlich verwendet, dass es den Ertrag oder das Ergebnis, den bleibenden Inhalt also, benennt. Während das Verb „erleben“ heißt, „noch am Leben zu sein, wenn etwas geschieht“, fasst das Erlebte am Vorübergehenden dessen Dauer, Gewicht und Bedeutsamkeit. Bei g aDamer heißt es: 7 Straus 956, 6 8 Vgl. dazu das Kapitel Der Eindruck, in: Lipps 977a 9 Vgl. Cramer 97 Architekturtheorie_Huter.indd 286 23.01.2008 15: 28: 38 Uhr <?page no="286"?> Architektur und Landschaft 287 „Was Erlebnis genannt werden kann, konstituiert sich in der Erinnerung. Wir meinen damit den Bedeutungsgehalt, den eine Erfahrung für den, der das Erlebnis hatte, als einen bleibenden besitzt.“ 30 Um diesen in Erzählungen und Beschreibungen formulierten Nachdruck von Erlebtem, um diese bleibende Bedeutung des sprachlich zum Ausdruck gebrachten Erinnerungswertes soll es uns nachfolgend gehen. Und es ist gerade die Aufgabe des Architekturtheoretikers auf diese primären Gegebenheiten, die keine Ergebnisse des Experiments oder der Messung sind, hinzuweisen und Möglichkeiten vorzuschlagen, wie diese erfasst werden können. 3.3 Erlebnisgeschichten (c) Wir fragen also zuletzt: „Schöne Alltagslandschaft“, gibt es die? Schöne Alltagslandschaft, so möchte ich behaupten, ist das Erlebnis, dass die Welt einem gewogen ist. In Erlebnissen vernehme ich „Schönes“, weil die begegnenden Dinge in die Perspektive einer mir günstigen Welt passen. Oder wie Immanuel k ant es in seinem Opus postumum formulierte: „Die schönen Dinge zeigen an, daß der Mensch in diese Welt passe.“ 31 Ich möchte an dieser Stelle davon berichten, wie in lebensgeschichtlichen Beschreibungen, in denen wir Erfahrungen des Erlebten entdecken können, sich ein Verständnis von den Qualitäten bewohnter Alltagslandschaften bilden kann. 32 Die Alltagslandschaft, von der nun die Rede ist, ist ein innenstädtisches Dresdner Wohngebiet, das in den späten 1950er und in den 1960er Jahren in Zeilenbauweise errichtet und bezogen wurde und seit den 1990er Jahren unter Druck geraten ist, da es für einige Städtebauer eine zu geringe Wohndichte aufweist. Zum Horizont dieser Wohnlandschaft gehört für ihre Bewohner ganz selbstverständlich der Bereich des Dresdner Zwingers ebenso wie die Elbe und ihre berühmten Auen. Die folgende interpretierende Beschreibung versucht auf die Qualitäten dieser gelebten Alltagslandschaft aufmerksam zu machen. Die Lage der Seevorstadt-West ist für die Bewohner unvergleichlich. Man wohnt mitten in der Stadt. Die Mitte oder das Zentrum - damit ist das Gebiet der Stadt gemeint, wo die Stadt sich am stärksten bewegt, wo das Geschehen ist. Dafür stehen für die Bewohner die Einkaufsangebote der Prager Straße und der Altmarktgalerie. Dort pulsiert das Leben. Hinsichtlich des Wohnens bedeutet dieses „mitten in der Stadt“, dass man es „nicht weit“ hat, dass es für einen „günstig“ und „rings um alles da“ ist. „Ich bin superschnell bei der Straßenbahn, beim Bus oder zu Fuß irgendwo, wo was los ist“, sagt Frau Pogge. Überhaupt wird sehr oft der Fußweg in den 0 Gadamer 986a, 7 Vgl. Kaulbach 98 , 6 Vgl. dazu Hahn 007 Architekturtheorie_Huter.indd 287 23.01.2008 15: 28: 38 Uhr <?page no="287"?> 12. Vorlesung 288 Mittelpunkt gerückt, ja, man könnte meinen, er sei in der Seevorstadt-West wieder entdeckt worden: „Und wenn man dort eben in dem Gebiet wohnt, dann ist alles schnell zu Fuß erreichbar“, sagt Frau Mittenzwey. Nicht nur die eher unspektakulären zentralen Orte der Stadt werden ins Wohnen gezogen, sondern auch die vielen Kultur- und Bildungsstätten, Oper, Theater und Bücherei, werden erwähnt und deren gute Erreichbarkeit qualifiziert das Alltagsleben ungemein. Im wahrsten Sinne des Wortes ergreifen (erlaufen und ergehen) und begreifen die Bewohner die Lagegunst der Seevorstadt-West. Der Sonntagnachmittag-Spaziergang beginnt gleich vor dem Haus und führt die Menschen am „ganzen Zwingerbereich“ vorbei, über die Brühlsche Terrasse bis an die Elbe. Auch der breite Fluss liegt also in der Reichweite dieses Wohnens, das Großstädtisches, Kleinstädtisches und Landschaftliches so überaus reizvoll miteinander verbindet. Die andere, die grüne Richtung des Wohnens überrascht vor allem durch den Umstand, dass sie als Teil der Stadtmitte erlebt wird. Bäume, Wiesen, Natur, Vogelgezwitscher - diese ländlich anmutenden Ausdrücke stehen für diese Richtung des Wohnens, aber auch Weite, Ruhe, Blick, Horizont. Die Mieter wissen das gut auf den Punkt zu bringen: „Es ist grün, es ist ruhig und die Innenstadt ist gleich um die Ecke“ (Frau Mittenzwey); „Ja die große Wiese, wenn die grün wird, man hat nicht den Eindruck, dass wir hier mitten in der Stadt wohnen. In dem Häusergeviert dort hinten ist ne verhältnismäßige Ruhe, außer der Müllabfuhr, die mal ab und zu die Kübel dort leert, hört man kaum was“ (Herr Kreuzkamm). Auch Frau Gölsehir sieht die Weite als Offen- und Freigelassenes und wendet diese Wahrnehmung gleich ins Praktische: „Zwischen den ganzen Häusern ist auch so viel Platz, dass man das kindgerecht gestalten kann“. Gerade die Großzügigkeit, die in dem Erleben des Frei- und Spielraums genossen wird, wird als eine Besonderheit dieses Quartiers verstanden. Enge, so wissen es wohl noch die älteren Menschen, hat mit dichter Bebauung zu tun, die nur wenig Sonnenlicht zu den Wohnenden durchlässt. Daran erinnert Frau Kreuzkamm: „Ich weiß nicht, ob alle so sind, aber wir sind da immer bissel, dass wir bissel Sonnenschein mit rein haben wollen. Also das gefällt uns besser. Weiß nicht, wie andere darüber denken, aber uns würde das nicht gefallen, wenn alles so eng ist und so zusammengebaut.“ Auch Frau Mittenzwey, die gegenwärtig nicht im Gebiet wohnt, aber hier aufgewachsen ist, erkennt dies. Sollte es im Gebiet „enger“, sollte es dichter bebaut werden, ginge wohl das Besondere verloren. Man würde sich dann nicht mehr wohl fühlen. „Ja, auch die Bäume sind groß geworden, und dann ist der Abstand zwischen den Häusern ja doch irgendwie ganz annehmbar. Man guckt sich nicht unbedingt ins Fenster oder sitzt sich halb auf dem Schoß. Also es ist einfach genug Raum dazwischen“. Dass in der Seevorstadt-West tatsächlich „genug Raum“ besteht, lässt sich Architekturtheorie_Huter.indd 288 23.01.2008 15: 28: 38 Uhr <?page no="288"?> Architektur und Landschaft 289 nicht nachmessen. Dieses Maß ist gefühlt und spricht ebenso von andernorts gemachten Erfahrungen, wo es „zu wenig Raum“ zwischen dem einzelnen Wohnen gibt. Ähnlich drückt sich auch Herr Krause aus, der es hier „nicht dichter“ und „enger“ haben möchte. Vielmehr seien die „großen Flächen“ in die Acht zu nehmen und zu erhalten. Frau Goebel, die inzwischen „studentisch“, d.h. in Dresden-Neustadt, wohnt, erinnert sich noch sehr intensiv an den „direkten Blick auf eine große Wiese, auf Bäume, das nächste Haus war weit genug entfernt“. Dieses Maß: „weit genug“, wurde „direkt“ einer Wohnsituation entnommen, denn, und darauf kam es für die richtige Entfernung an, „man konnte dort nicht irgendwo reingucken, und man konnte selbst auch nicht beobachtet werden“. Ein offensichtlich perfektes Gleichgewicht zwischen Intimität und Distanz. „Also heute kann ich eigentlich auch nur sagen, dass es gut ist, da zu wohnen“, so die Erkenntnis der Studentin Frau Goebel. „Gut“ heißt, man kann „alles fußläufig erreichen“. Obwohl sie eher kritisch einem eigenen Wohnen in der Seevorstadt-West gegenüber steht, begreift auch sie die Abwechslung von Gebäuden und Grün als etwas Positives. Auch für sie, wie für viele andere Bewohner, erfährt man das Besondere des Wohngebiets als etwas Stimmungsmäßiges. Es ist der gefühlte Raum Seevorstadt-West, von dem immer wieder die Rede ist: „Also man hat nicht das Gefühl, dass man da sofort in der Innenstadt wohnt, obwohl man das eigentlich tut“. In der Mitte zu wohnen, und doch nicht großstädtisch-laut, darin drückt sich die Identität des Bewohnens der Seevorstadt-West aus. Man kann dies natürlich auch umgekehrt ausdrücken: Im Grünen zu wohnen, aber nicht weit vor den Toren der Stadt, auch dies bringt das Selbstverständnis dieses Bewohnens auf den Punkt. Das Wohnen „am Rand“ kann also in diese beiden Richtungen geführt werden: zur Stadt und zum grünen Quartier hin, wobei z.B. das Wort „Ruhe“ etwas Atmosphärisches meint, das vor allem im Kontrast zum „Geschehen“ auf der Prager Straße oder dem Verkehrsknoten Postplatz erlebt wird. „Das ist schon bissel abrupt, wenn man da raus kommt und dann ist man am Postplatz. Dann bricht der Verkehr gleich auf einen hinein“, schildert Frau Mittenzwey den sicher immer wieder erlebten Gegensatz von der Seevorstadt-West, der „Wohninsel“ (Frau Gölsehir), und der Welt draußen. Die Divergenz der Befindlichkeit hinsichtlich eines Innerhalb bzw. Außerhalb wird von Frau Mittenzwey mit dem „Charakter, was rundrum ist, ist einfach völlig anders als das Gebiet“, erklärt. Deshalb ist für die Bewohner auch der Übergang vom Zentrum und von der Altmarkt-Galerie (Einkaufszentrum) her ins Gebiet etwas Besonderes. Das Gebiet erfährt an dieser nur gefühlten Grenze seinen Reiz für den Heimkommenden durch diesen empfundenen Kontrast zur Umgebung. „Wenn du dann so vorne durch den Durchgang durch bist, Architekturtheorie_Huter.indd 289 23.01.2008 15: 28: 38 Uhr <?page no="289"?> 12. Vorlesung 290 dann [Frau Pog ge schnalzt mit der Zunge] macht das irgendwie wie so einen Strich und dann kommt Ruhe“. Auch Frau Mittenzwey fühlt deutlich einen Gegensatz zwischen ihrem momentanen Wohnen auf der St.-Petersburger- Straße und dem gewünschten in der Seevorstadt-West: „Und man hört wirklich Vögel zwitschern, also das kommt mir auch immer sehr im Kontrast wird mir das bewusst, wenn ich bei meinem Vater bin“. Immer wieder wird die Weite des Wohngebiets gespürt und angesprochen. Weite bedeutet für die Menschen, dass ihr Wohnen „Platz hat“, sich über die Wohnung hinaus ins Gebiet zu entfalten. Man kann sogar den Blick streifen lassen, so dass ein Nah- und ein Fernraum entstehen. So werden Intimität und Distanz als Besonderheiten auch des in den Außenraum Hinein-Wohnens bewusst. „Es ist ein schöner Blick aus dem Küchenfenster raus, wenn dann die Kirche beleuchtet ist“. Aber die „Ruhe“ mag sich für manchen Bewohner auch zur bewegungslosen „Stille“ steigern, die dann als Mangel an Gelegenheiten (und auch an Menschen im gleichen Alter) ausgelegt wird. Aber auch diese „Stille“ wird dann kontrastreich gegen die „Bewegung“ von Menschenmassen auf der Prager Straße gestellt, so jedenfalls von Frau Gölsehir. Die Seevorstadt- West ist mit den Worten von Frau Gölsehir eine „Wohninsel“, abgeschirmt vom Getöse des innenstädtischen Geschehens. Der Weite des Blickes steht die Enge von Gebäuden und Straßen gegenüber. Damit werden in der Regel die beengten Wohnverhältnisse erinnert, die man verlassen hat, um in der Seevorstadt-West zu wohnen. Dass eine gewisse Aus-Sicht möglich ist, ist eine Besonderheit, die man nicht missen möchte. Weite und Sicht sind eine städtebauliche Qualität, die man hier zu schätzen gelernt hat. „Noch Häuser dazwischen, das würde uns nicht gefallen, das würde zu eng“, gibt Herr Kreuzkamm zu bedenken. Der gegenwärtige Städtebau ermöglicht den Raum, den die Menschen mit ihren Blicken in die Ferne verwirklichen. Nur ein anderer Städtebau könnte diese Qualität zunichte machen, auch darüber sind sich die Bewohner einig. Wir erinnern uns der Frage: „Schöne“ Alltagslandschaft, gibt es die? Was bedeutet Frau Krummbiegel, im Grünen zu wohnen? „Ja, die Vögel zwitschern früh“, das veranschaulicht ihr die Anwesenheit von Natur. Sie erzählt vom Blick von ihrem Küchentisch aus: „Da guck ich auch raus und da beobachte ich die Vögel. Das ist wunderschön. Und hier dann abends, wenn’s finster ist und da [im Haus gegenüber] brennt Licht, das ist schön.“ „Ich erfreue mich am Grün“, beteuert sie. „Ich bin auch dankbar, dass ich im dritten Stock wohne und nicht im Parterre. Ich sehe die Baumkronen [...] das ist wunderschön“. Pogges hatten sich sehr schnell für die Wohnung hier entschieden. Frau Pogge erzählt vom ersten Besuch beim Ortstermin mit einer Beraterin von der Wohnungsgenossenschaft: „Wir sind hier durchgerannt und dann war das ein Supertag, die Sonne schien hier so rein, und dann sind Architekturtheorie_Huter.indd 290 23.01.2008 15: 28: 38 Uhr <?page no="290"?> Architektur und Landschaft 291 wir rausgegangen auf den Balkon und ich sag so: ‚Und - was machen wir? ‘ Und der Kleene: ,Ja, sofort! ‘ Und er [ihr Mann] sagte auch: ‚Ja! ‘“ Und nach dem ersten Winter ist sich Frau Pogge gewiss: „Ich will hier nie wieder weg! “ „Schön“, ich wiederhole mich, ist das Empfinden einer mir günstigen Welt. 4 Der Zusammenhang von Wohnen, Entwerfen und Bauen; zugleich ein Plädoyer für das Landschaftliche des Städtischen Für den Architekten, Landschaftsarchitekten und Städtebauer besteht die Aufgabe, Stimmungen und den Charakter eines Wohnquartiers zu erfassen, um sich in die Verantwortung zu bringen, Qualifizierungen einzuleiten. Denn das Wesentliche eines Quartiers oder einer bewohnten Landschaft, was es nämlich den Wohnenden bedeutet, ist nicht sein äußeres Erscheinungsbild, überhaupt keine Abbildung von einem Äußeren, sondern sein Charakter. Allein dieser lässt die Menschen sich hier „wohl“ oder „unwohl“ fühlen. Was unter „Charakter“ verstanden wird, hat nichts damit zu tun, dass Landschaften dem Planer als „hässlich“ oder „ästhetisch belanglos“ auffallen. Letzteres wird bekanntlich den bewohnten Landschaften der so genannten Zwischenstadt vorgehalten. Oft ist davon die Rede, dass der Planer eine Landschaft nicht „versteht“, dass er aufgrund ihrer Unscheinbarkeit oder Unlesbarkeit keinen Zugang bekommt. 33 Eine bewohnte Landschaft kann aber nur in dem Sinne „verschlüsselt“ sein, insofern der außenstehende Betrachter nicht Anteil hat an der „informellen Logik des tatsächlichen Lebens“, wie es einmal der Kulturanthropologe Clifford g eertz ausgedrückt hat. Die Selbstverständlichkeit, die in der Erwartung der „Lesbarkeit von Landschaft“ steckt, hat zu ihrer Voraussetzung u.a., dass einem die Mittel zur Verfügung stehen, eine Landschaft „lesen“ zu können. Solche Mittel können aber nur die sein, die uns zum „gefühlten“ Bedeutungsgehalt einer Alltagslandschaft leiten. Die Perspektive der Erlebniserfahrung rückt die Raumqualitäten von Alltagslandschaften ins Visier der Architekturtheorie. Eine solche Perspektive sucht die Gestalten in den Geschichten, die von Wohnerfahrungen in einem weiten lebensweltlichem Sinne handeln, die jenseits der bekannten raumwissenschaftlichen Unterscheidungen (Stadt - Land, bebaut - unbebaut) liegen. Zum Wirken des Architekten gehört es, „Bedeutungen zu setzen“. Deuten ist schöpferisches Tun. Der Mensch will und kann sich nicht damit abfinden, in einer Welt zu leben, der nichts Sinnhaftes abzugewinnen ist. Er will die Welt „zum Sprechen bringen“, damit sie „seine“ werden kann. Gerade die nachtraditionalen Lebensformen drängen darauf, Bilder und Beschrei- Vgl. etwa Sieverts 998 Architekturtheorie_Huter.indd 291 23.01.2008 15: 28: 39 Uhr <?page no="291"?> 12. Vorlesung 292 bungen, die einem „überwundenem“ Lebensgefühl und einer „veralteten“ Anteilnahme zu entstammen scheinen, bedeutsam zu korrigieren. So ist es zu verstehen, dass in regionalwissenschaftlichen Publikationen Bilder, Beschreibungen und Begriffe von urbaner Landschaft, Stadtlandschaft, Stadtland, Stadtregion zwischen noch erkennbarer und vertrauter städtischer Struktur und schon offen-diffusem Landschaftsbezug derzeit Konjunktur haben. 3 In einem Zug werden Sichtweisen sowohl dogmatisch verteidigt als auch euphorisch umgeschrieben. Wie aber können sich Entwerfer verlässlich in dieser Situation zurechtfinden? Wir mögen uns darüber klarer und sicherer werden, dass der Mensch als Kulturwesen sich gerade dadurch auszeichnet, dass er seine Wirklichkeit beschreibend deutet. Solche Anstrengungen kommen nicht zufällig daher. Sie sind motiviert und gerichtet. Sie fassen ein bestimmtes Interesse. Gerade die Phänomene, um die es uns gegenwärtig geht, zeigen unsere „räumliche“ Welt in ihrer dynamischen Veränderlichkeit als noch nicht lückenlos und vor allem überzeugend gedeutet. Sie drängen und bedrängen uns, mit ihnen auf eine kreative Weise umzugehen. Und diese schöpferische, erfindende Reaktion des Menschen ist Kulturtätigkeit, wobei die Begriffsarbeit leistenden und die entwerfenden Berufe in dieser Aufgabe ihren je besonderen Platz finden sollten. Egal wo wir wohnen, ob in der Stadt, im städtischen Umland oder im peripheren ländlichen Raum, immer geht es uns darum, unser Leben so zu führen, dass wir mit seinen Folgen zufrieden sein können. Dies gilt ebenso für das Bewohnen „urbaner Landschaften“ bzw. der „Zwischenstadt“. Beide Wortschöpfungen sind Erfindungen von Städtebauern, Landschaftsarchitekten und Planern. Unter deren Blicknahme fokussiert sich der gemeinte Raum immer deutlicher auf Gestaltungsdefizite und deren Behebung. Denn nur unter entsprechender Prämisse werden dem Planer überhaupt Aufgaben der „Qualifizierung“ von Räumen erkennbar. Damit ist ein Raum aber lediglich hinsichtlich „raumästhetischer“ Vorbehalte und Defizite beurteilt. Planerische Eingriffe, auch die innerhalb „urbaner Landschaften“, dienen in ihrem Selbstverständnis der Ordnung des scheinbar Ungeordneten. Neben dieser Perspektive auf einen gestalterisch aufzuladenden Raum mag man aber auch die Sicht anerkennen, der ein lebensweltlicher Standpunkt korrespondiert. Wenn behauptet wird, eine Gegend oder Umgebung berühre „lebensweltlich“, so ist damit der bewohnte Raum, vielleicht der Heimatraum, gemeint. Menschen halten sich in ihm auf und „entwerfen“ dort ihr Leben ziel- und richtungsorientiert. Diese Aufmerksamkeit für den Raum, insofern er soziale Lebensformen qualifiziert, entspricht der Sicht des Wohnens, des Bleiben-wollens, letztlich der Lebensführung. Vgl. Sieverts u.a 005 Architekturtheorie_Huter.indd 292 23.01.2008 15: 28: 39 Uhr <?page no="292"?> Architektur und Landschaft 293 Architektonische Um-Deutungen einer aufgefassten Welt und deren durch Bilder unterstützte Überführung in etwas zu uns Wohnenden besser Passendes sind unverzichtbare kreative Anteilnahmen am Wirklichen. Als Ausdruck von bezeugter Sympathie gehen sie ebenso zurück auf eingesammelte Erfolge eines an Entdeckungen interessierten Spürsinns, der sich dadurch auszeichnet, nicht nur das aufgelesen zu haben, wonach gesucht und was erwartet wurde. „Bilder“ einer stadtlandschaftlichen Wohnwelt, mit denen Architekten einen geist- und ideenreichen Vorgriff auf künftiges Wohn- und Raumerleben wagen, lassen er-deutete Aspekte dieser „urban-landschaftlichen“ Wirklichkeit aufleuchten und können nun auch das mit einfangen und aufnehmen, was die Menschen in ihrem eigenen Selbstverständnis „hier“ eigentlich tun, wollen und wünschen. Das Bauen, auf das der architektonische, landschaftsarchitektonische oder städtebauliche Entwurf zielt, basiert dann auf dem „örtlichen“ Können des Wohnens, auf einem erkundeten Bleiben-wollen. Wenn die „Zwischenstadt“, wie Thomas s ieverts (*193 ) behauptet, „im Wesentlichen gebaut“ ist, wenn der ehemals als „Stadt“ bzw. „Land“ aufgefasste Raum weitgehend urbanisiert ist und zugleich landschaftlich erlebt wird, von einem „Stadtgewebe“ (Henri Lefèbvre) überzogen und in eine „verlandschaftete Stadt“ verwandelt ist, dann ist nicht einzusehen, warum das Planen und Bauen weiterhin auf Wachstum und Verdichtung fokussiert bleiben sollte, statt sich intellektuell und methodisch darauf einzulassen, Qualitäten zu erkennen und zu schützen, sie zu fördern und zu ermöglichen. Es kann also bei der Präzisierung der „Zukunft des Raums“ nicht mehr darum gehen, Raum zu produzieren, vielmehr ist dafür zu sorgen, dass die Menschen bleiben können, wenn sie es wünschen. Architektur und Landschaft stehen weder in einem „funktionalen“ Zusammenhang, noch beziehen sie sich „antagonistisch“ aufeinander. Architektur als Landschaft auffassen löst das Versprechen ein, den Menschen in seinem ganzen leiblichen Vermögen und in seiner spezifischen Räumlichkeit ernst zu nehmen. Architekturtheorie_Huter.indd 293 23.01.2008 15: 28: 39 Uhr <?page no="293"?> Literaturverzeichnis Alberti 1991: Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst [De re aedificatoria]. Ins Deutsche übertragen, eingeleitet und mit Anmerkungen und Zeichnungen versehen durch Max Theuer (1912). Darmstadt 1991 Arndt 1965: Adolf Arndt, Demokratie als Bauherr. Geist der Politik. Berlin 1965 Arendt 19 1: Hannah Arendt, Vita activa. Vom tätigen Leben. München 19 1 Bachelard 19 7: Gaston Bachelard, Poetik des Raumes. Frankfurt/ Main 19 7 Bacon 1965: Francis Bacon, Über das Bauen (Of Building, 1625). Deutsch zitiert nach Akzente. Zeitschrift für Dichtung. 12. Jg. S. 295-299 Behne 1927: Adolf Behne, Neues Wohnen, neues Bauen. Leipzig 1927 Benjamin 2007: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1939). Suhrkamp Studienbibliothek 1. Kommentar von Detlev Schöttker. Frankfurt/ Main 2007 Biella 1999: Burkhard Biella, Entwerfen im Entwurf, in: Wolkenkuckucksheim . Jg. Heft 1/ 1999 Bien 19 5: Günther Bien, Einleitung. Aristoteles, Nikomachische Ethik. Hamburg 19 5 Binswanger 1955: Ludwig Binswanger, Das Raumproblem in der Psychopathologie, in: L.B., Ausgewählte Vorträge und Aufsätze. Band II: Zur Problematik der psychiatrischen Forschung und zum Problem der Psychiatrie. Bern 1955 Bleicken 197 : Jochen Bleicken, Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches. Band 1. Paderborn 197 Bloch 1959: Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/ Main 1959 Bloch 1977: Ernst Bloch, Differenzierungen im Begriff Fortschritt. GA 13: Tübinger Einleitung in die Philosophie. Frankfurt/ Main 1977 Blumenberg 19 7: Hans Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß. Frankfurt/ Main 19 7 Blumenberg 1988: Hans Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Teil 3. 4. Aufl. Frankfurt/ Main 19 Blumenberg 19 9: Hans Blumenberg, Höhlenausgänge. Frankfurt/ Main 19 9 Blumenberg 1997: Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt/ Main 3 1997 Böhme 2001: Gernot Böhme, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001 Bollnow 1962: Otto Friedrich Bollnow, Probleme des erlebten Raums, in: Wilhelmshavener Vorträge. Schriftenreihe der Nordwestdeutschen Universitätsgesellschaft Heft 3 , S. 3-2 . Bollnow 1963: Otto Friedrich Bollnow, Mensch und Raum. Stuttgart 1963 Bollnow 197 : Otto Friedrich Bollnow: Das Wesen der Stimmungen. Frankfurt/ Main 197 Bollnow 1990/ 91: Otto Friedrich Bollnow, Über den Begriff der ästhetischen Wirkung bei Josef König, in: Dilthey-Jahrbuch, Band 7, S. 13- 3 Bonta 19 2: Juan Pablo Bonta, Über Interpretation von Architektur. 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Braunschweig/ Wiesbaden 199 Sieverts u.a. 2005: Thomas Sieverts, Michael Koch, Ursula Stein, Michael Steinbusch, Zwischenstadt - Inzwischen Stadt? Entdecken, Begreifen, Verändern. (= Querschnittsband der Schriftenreihe ZWISCHENSTADT) Wuppertal 2005 Simmel 191 : Georg Simmel, Lebensanschauung, München und Leipzig 191 Simmel 19 a: Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistsleben, in: G.S., Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin 19 Simmel 19 b: Georg Simmel, Philosophie der Landschaft, in: G.S., Das Individuum und die Freiheit. Essais. Berlin 19 Simmel 1993a: Georg Simmel, Vom Wesen der Kultur (190 ), GA : Aufsätze und Abhandlungen 1901-190 Bd. II. Frankfurt/ Main 1993 Simmel 1993b: Georg Simmel, Das Problem des Stiles (190 ). GA : Aufsätze und Abhandlungen 1901-190 Bd. II. Frankfurt/ Main 1993 Simmel 1995a: Georg Simmel, Soziologie des Raumes (1903). GA 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901-190 , Band I. Frankfurt/ Main 1995 Simmel 1995b: Georg Simmel, Der Bildrahmen. Ein ästhetischer Versuch (1902). GA 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901-190 , Band I. Frankfurt/ Main 1995 Simmel 1996: Georg Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur (191 ), GA 1 : Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur. Frankfurt/ Main 1996 Architekturtheorie_Huter.indd 301 23.01.2008 15: 28: 41 Uhr <?page no="301"?> Literaturverzeichnis 302 Stekeler-Weithofer 1995: Pirmin Stekeler-Weithofer, Schema, Form und Urteilskraft. Zur Dialektik von Rationalität und Vernunft, in: Demmerling, C,/ Gabriel, G./ Rentsch,Th (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis. Philosophische Studien zu den Bedingungen einer rationalen Kultur. Für Friedrich Kambartel. Frankfurt/ Main 1995 Stenzel 1931: Julius Stenzel, Metaphysik des Altertums, in: Handbuch der Philosophie. München, Berlin 1931 Straus 1956: Erwin Straus, Vom Sinn der Sinne. Ein Beitrag zur Grundlegung der Psychologie. Berlin 1956 Ulmer 1953: Karl Ulmer, Natur, Kunst und Technik bei Aristoteles. Frankfurt 1953 Szilasi 1959: Wilhelm Szilasi, Einführung in die Phänomenologie Edmund Husserls. Tübingen 1959 Szilasi 1969: Wilhelm Szilasi, Phantasie und Erkenntnis. Bern und München 1969 Taylor 1996: Charles Taylor, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt/ Main 1996 Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament. G.J. Botterweck/ H. Ringgren (Hrsg.) Bd. III (19 2); H.-J. Fabry/ G. J. Botterweck (Hrsg.) Band 7 (1993) Stuttgart u.a. Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. G. Friedrich (Hrsg.) Bd. VII (1990), Stuttgart, Berlin, Köln Thielscher 1961: Paul Thielscher, [Artikel] Vitruv, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. 2. Reihe, 17. Band, München 1961 Tillich 1975a: Paul Tillich, Logos und Mythos der Technik (1927), in: P.T., Die religiöse Substanz der Kultur. GW IX. 2 Stuttgart 1975 Tillich 1975b: Paul Tillich, Die technische Stadt als Symbol (192 ), in: P.T., Die religiöse Substanz der Kultur. GW IX. 2 Stuttgart 1975 Tillich 1975c: Paul Tillich, Das Wohnen, der Raum und die Zeit (1933), in: P.T., Die religiöse Substanz der Kultur. GW IX. 2 Stuttgart 1975 Touraine 1996: Alain Touraine, Die Stadt ein überholter Entwurf ? , in: Demokratische Gemeinde, Sondernummer: Die Stadt - Ort der Gegensätze. Hrsg. v. Sozialdemokratische Gemeinschaft für Kommunalpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 1 -32 Vitruv 1991: Vitruv, Zehn Bücher über Architektur. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. Curt Fensterbusch (1964). 5. Aufl., Darmstadt 1991 Walch 1726: Johann Georg Walch, Philosophisches Lexicon. Leipzig 1726 Waldenfels 2000: Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst. Frankfurt/ Main 2000 Waldenfels 19 5: Bernhard Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt. Frankfurt/ Main 19 5 Wellmer 19 5: Albrecht Wellmer, Kunst und industrielle Produktion, in: A.W., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Frankfurt/ Main 19 5 Wieland 19 2: Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens. Göttingen 19 2 Wieland 1992: Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles. 3. Aufl. Göttingen 1992 Will 199 / 99: Thomas Will, Kleine Baulücken in der Äußeren Neustadt. Aufgabenstellung Hauptentwurf. Technische Universität Dresden. Manuskript. Dresden 199 / 1999 Wittgenstein 1969: Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Schriften 1. Frankfurt/ Main 1969 Wittgenstein 196 : Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion. Göttingen 196 Wölfflin 1886: Heinrich Wölfflin, Prolegomina zu einer Psychologie der Architektur. München 1 6 Architekturtheorie_Huter.indd 302 23.01.2008 15: 28: 41 Uhr <?page no="302"?> 303 Namensregister Alberti, Leon Battista 161, 233-23 , 2 2, 2 5 Arendt, Hannah Aristoteles 20-25, 36-39, 57, , 12 , 163, 167, 1 0, 23 Arndt, Adolf 13 , 167 Bachelard, Gaston 162 Bacon, Francis 162 Bahrdt, Hans Paul 2 3 Baumgarten, Alexander Gottlieb 95 Behne, Adolf 15 , 260 Benjamin, Walter 169 Binswanger, Ludwig 279, 2 2 Bloch, Ernst 9, 63, 229 Blumenberg, Hans 10, 7 Böhme, Gernot 95 Bollnow, Otto Friedrich 1 0, 212, 27 , 2 2 Bonta, Juan Pablo 256, 257f. Boudon, Philippe 216f. Brueghel der Ältere, Pieter 7 Camus, Albert 167 Carnap, Rudolf 266f. Cassirer, Ernst 71f. Cicero 21, 237 Descartes, René 105 Dewey, John 63 Dilthey, Wilhelm 15 von Ehrenfels, Christian 11 f. Fensterbusch, Curt 1 0f., 231f. Fleck, Ludwik 3 , 110f., 117, 120-123, 126-129, 1 5, 192f., 200 Frank, Josef 260, 26 -273 Freud, Sigmund 35 Frey, Dagobert 92, 9 Führ, Eduard 15-17 Gadamer, Hans-Georg 2 , 11 , 160, 2 5, 273, 2 -2 6 Galison, Peter 266f. Geertz, Clifford 291 Gehlen, Arnold 63-69, 75f., 6 Gehry, Frank 112 Giedion, Sigfried 256-25 Goethe, Johann Wolfgang 136, 197, 20 -212 Gombrich, Ernst Hans 111-113 Grimm, Jakob und Wilhelm 50 Gropius, Walter 130, 266-26 Habermas, Jürgen 26, 56, 63, 221 Harries, Karsten 1 Hegel, Georg Friedrich 51 Heidegger, Martin 3 , 50, 95, 99, 10 , 10 f., 139-1 , 165-16 , 277f. Herder, Johann Gottfried 55-57, 63, 70, 163 Hitchcock, Henry-Russell 2 7 Hölderlin, Friedrich 165-16 Horn-Oncken, Alste 232 Hübsch, Heinrich 269 Husserl, Edmund 37f., 95, 101-10 , 16 Janik, Allan 265f. Johnson, Philip Cortelyou 2 7 Jonas, Hans 25, 72, 19 Kambartel, Friedrich 171 Kamlah, Wilhelm 32, , 113, 17 Kant, Immanuel 92-95, 102, 136, 17 , 190, 195, 197, 2 3, 2 7 Katz, David 116 Kerr, Robert 269 Klages, Ludwig 72, 76, 276-27 Kluge, Friedrich 161 Kniep, Christoph Heinrich 20 Koffka, Kurt 115 Köhler, Wolfgang 115 König, Josef 210-213 Kopernikus, Nikolaus 93 Koppe, Franz 222 Kruft, Hanno-Werner 12f. Landmann, Michael 56 Le Corbusier 123, 127f., 216f., 2 , 25 , 25 Lipps, Hans 20 , 210 Loos, Adolf 159, 199f., 22 , 2 1, 2 -2 6, 259-266, 269, 273 Architekturtheorie_Huter.indd 303 23.01.2008 15: 28: 41 Uhr <?page no="303"?> Register 304 Luckner, Andreas 2 Mackensen, Rainer 2 3f. Malcolm, Norman 265 Mann, Thomas 7 Marx, Karl 57 Marx, Werner 166 Meier, Christian 17 Merian, Matthäus 11 Merleau-Ponty, Maurice 106, 10 , 1 6f. Meyer, Hannes 266f. Mitscherlich, Alexander 17 Mittelstrass, Jürgen 27, 52, 7 Moravánszky, Ákos 12 Mühlmann, Heiner 233, 235, 239 Neumeyer, Fritz 11-17 Neurath, Otto 266f. Nietzsche, Friedrich 73 Noack, Hermann 37 Oechslin, Werner 11f. Pellegrin, Luigi 257 Perez-Gomez, Alberto 30 Perpeet, Wilhelm 51 Petrarca, Francesco 119 Picht, Georg 95 Platon 20, 23f., 1 0, 1 6, 199, 22 -230 Plessner, Helmuth 59-66, 69, 75, 131 Portmann, Adolf 6 Pytheos 1 1f., 1 5 Reinach, Salomon 2 Rentsch, Thomas 13 , 16 , 2 1-2 3 Rode, August 232 Rothacker, Erich 5 , 75- , 251-25 Ryle, Gilbert 5 , 1 Schapp, Wilhelm 107, 113, 12 Scharoun, Hans 13 , 167 Scheler, Max 5 f., 63, 76 Schiller, Friedrich 136 Schlink, Bernhard 2 5 Schmarsow, August 92, 9 Schmitz, Hermann 1 -153 Schulte, Joachim 252 Schwarz, Rudolf 155, 162, 197, 26 Sedlmayr, Hans 137 Seel, Martin 95, 21 , 221, 2 Semper, Gottfried 2 9, 273f. Sieverts, Thomas 293 Simmel, Georg 0, 51f., 71, 13 , 2 0, 259-261, 273-279, 2 2 Sombart, Werner 2 3 Straus, Erwin 2 5f. Sullivan, Louis 256f. Szilasi, Wilhelm 95, 9 , 101, 107, 197 Taylor, Charles 153f. Tillich, Paul 15 , 16 Tönnies, Ferdinand 2 3 Toulmin, Stephen 265f. Touraine, Alain 2 3 von Uexküll, Johann Jakob 6 , 1 Venturi, Robert 127f., 131, 25 Vitruv 15-29, 32, 92, 135, 167, 17 -1 2, 1 5-1 , 231-233, 2 2 Walch, Johann Georg 161 Waldenfels, Bernhard 2 2 Weber, Max 2 3 Wellmer, Albrecht 2 0f. Wertheimer, Max 115f. Wieland, Wolfgang 39, 192, 19 -200 Will, Thomas 19 Wittgenstein, Ludwig 2 0, 252f., 265f. Wölfflin, Heinrich 92f. Wright, Frank Lloyd 25 Zevi, Bruno 257 Zille, Heinrich 15 Architekturtheorie_Huter.indd 304 23.01.2008 15: 28: 41 Uhr