Karl Marx
Eine Einführung
0301
2008
978-3-8385-2987-5
UTB
In dieser Einführung wird Karl Marx als philosophischer, polit-ökonomischer, klassenkampf- und gesellschaftstheoretischer Denker vorgestellt.
Der Autor erläutert Marx' zentrale Begriffe und Überlegungen und bettet sie in die Diskurse seiner Zeit ein. So ermöglicht er ein nachhaltiges Verstehen des Marxschen Gedankengebäudes. Zugleich erschließt er dessen kulturwissenschaftliches Potenzial und seine Bedeutung für die heutige Soziologie. Ein biografisches Kapitel und ein Glossar runden den Band ab.
<?page no="1"?> UTB 2987 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Köln · Weimar · Wien Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft · Stuttgart Mohr Siebeck · Tübingen C. F. Müller Verlag · Heidelberg Orell Füssli Verlag · Zürich Verlag Recht und Wirtschaft · Frankfurt am Main Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich <?page no="2"?> Bernd Ternes Karl Marx Eine Einführung UVK Verlagsgesellschaft mbH <?page no="3"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8252-2987-0 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2008 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandabbildung: K ARL M ARX (1818 - 1883), © ullstein-bild Satz und Layout: Claudia Wild-Bechinger, Stuttgart Lektorat: Verena Artz, Bonn Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="4"?> Inhalt 1. Eintritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Ist Marx wieder aktuell oder das nostalgische Bedürfnis so groß? . . . . . . 9 1.2. Zum Buch und seinen Absichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1.2.1 Der Eingang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.2.2 Vom Eingang zum Durchgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.2.3 Dialektik, Paradoxie, Gegenwartsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.2.4 Zur benutzten Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.2.5 Was im Buch nicht berücksichtigt wurde, aber gleichsam wichtig ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.3. Short cut: Eine kulturistische Sichtweise des Marx’schen Theorieunternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.3.1 Die Engführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.3.2 Utopielose Gegenwart mit Kulturauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Zur Biographie von Karl Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.1 Die Zeit in Trier, Bonn und Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.2 Marx als Journalist und politischer Aktivist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.3 Die Zeit in England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Marxismus und Marxismen. Verbindungen, Spaltungen und Weiterführungen der Marx’schen Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.1 Zweimal zwei »Fronten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.1.1 Erste Front: Innere und äußere Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3.1.2 Zweite Front: social problems vs. theoretical problems . . . . . . . . . . 77 3.2 Marx als Drehscheibe der Marxismen und »linker« Politik/ Theorie . . . . 82 3.3 Vom absoluten Geist zum Proletariat: Hegel und Marx . . . . . . . . . . . . . 91 3.3.1 Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.3.2 Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5 <?page no="5"?> 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.1 Kontexte und Konturen des politökonomischen Denkens von Marx . . 101 4.1.1 Der Kern des gesamten Analyseunternehmens . . . . . . . . . . . . . . 105 4.1.2 Die Totalität des Gesamtprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.1.2.1 Die drei Kapitalienbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.1.2.2 Die Probleme und Aufgaben der Kapitalanalyse . . . . . . . . . . . . 112 4.1.3 Die drei Horizonte von Marx’ Politökonomie . . . . . . . . . . . . . . 114 4.2 Wissenschaftsgeschichtliche Herausforderung für die Marx’sche Analyse der Politökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4.3 Ökonomiegeschichtliche Herausforderung für die Marx’sche Analyse der Politökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung für die Marx’sche Analyse der Politökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.1.1 Gebrauchswert und Tauschwert der Ware . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.1.2 Die Geldform der Ware in einfacher Wertform . . . . . . . . . . . . . 148 5.1.3 Die Geldform der Ware in entfalteter Wertform . . . . . . . . . . . . 153 5.1.4 Die allgemeine Wertform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5.1.5 Die Geldform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.1.6 Der Fetischcharakter der Ware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 5.1.7 Die allgemeine Form des Kapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 5.1.8 Die Herkunft des Mehrwerts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 5.1.9 Die Ware Arbeitskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 5.1.10 Der Arbeitsprozess im Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 5.1.11 Absoluter und relativer Mehrwert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5.1.12 Formelle und reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital . . . 188 5.1.13 Konstantes und variables Kapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5.1.14 Organische Zusammensetzung des Kapitals. . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.1.15 Mehrwertrate und Profitrate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 5.1.16 Verwandlung des Profits in Durchschnittsprofit . . . . . . . . . . . . 203 5.1.17 Produktive und unproduktive Arbeit innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5.1.18 Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate und die inneren Widersprüche desselben . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Inhalt 6 <?page no="6"?> 5.2 Linien der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5.2.1 Historische Zweifel an der ursprünglichen Akkumulation. . . . . 214 5.2.2 Historische Zweifel an den Konzentrationsbewegungen von Kapital/ Arbeit und an der Chronologisierung der absoluten/ relativen Mehrwertproduktion . . . . . . . . . . . . . . 216 5.2.3 Methodische Zweifel an »der« Dialektik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5.2.4 »Logische« Zweifel an der Werttheorie (Arbeitswertlehre) . . . . . 217 5.2.5 Zweifel am Entfremdungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5.2.6 Fehlen einer Macht- und Differenzierungstheorie . . . . . . . . . . . 221 5.2.7 Fehlende Berücksichtigung ökologischer Kosten . . . . . . . . . . . . 223 5.2.8 Zweifel an den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen . . . . . 224 5.2.9 Zweifel am Marx’schen Krisentheorem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.2.10 Nochmals: Marx’ Verhältnis zur Technik und zur Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 6. Historischer Materialismus und Kultur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 6.1 Hinweise zur Einbettung des Versuchs, den Historischen Materialismus kulturell zu denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 6.2 Kurze Begriffsklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 6.2.1 Historischer Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 6.2.2 Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 6.2.3 Die Posthistoire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 6.2.4 Entdinglichung des Sozialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 6.3 Mögliche Mischungen: Industriekapitalismus als »unsere Kultur« . . . . 244 6.4 Wissenschaft und Technik als »unsere Kultur«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 6.5 Romantik und Marxismus: Werden ohne Sein in der Weltmarktgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 7. Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 8. Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 8.1 Benutzte und weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 8.2 Leseempfehlungen zur weiteren Beschäftigung mit Marx und dem Marxismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Namens- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 7. Anmerkungen 7 <?page no="8"?> 1. Eintritt »Der Glaube wurde allmählich schwach, die Religion zerbröckelte vor der steigenden Kultur, aber noch immer sah der Mensch nicht ein, daß er sein eignes Wesen als ein fremdes Wesen angebetet und vergöttert hatte. In diesem bewußtlosen und zugleich glaubenslosen Zustande kann der Mensch keinen Inhalt haben, muß er an der Wahrheit, an der Vernunft und Natur verzweifeln, und diese Hohlheit und Inhaltslosigkeit, die Verzweiflung an den ewigen Tatsachen des Universums wird solange dauern, bis die Menschheit einsieht, daß das Wesen, was sie als Gott verehrt hat, ihr eignes, ihr bisher unbekanntes Wesen war, bis - doch was soll ich Feuerbach abschreiben.« (Friedrich Engels, Die Lage Englands, MEW, Bd. 1, 543, kursiv B. T.) 1.1 Ist Marx wieder aktuell oder das nostalgische Bedürfnis so groß? »Marx ist tot, aber Jesus lebt! « - dieser berühmt-berüchtigte Ausspruch eines ehemaligen, auf seine Arbeitervergangenheit stolzen Arbeitsministers der liberal-konservativen Kohl-Regierung kurz nach der Öffnung der DDR fasste die Stimmung zu Beginn der 1990er Jahre journalistisch zusammen. Mit der welthistorischen Abdankung all der Gesellschaften, die den Marxismus als Katechismus ihrer Gesellschaftsordnung verstanden, musste in einer vielleicht verständlichen Kurzschlussreaktion nun auch dem Letzten klargeworden sein, dass Marx’ Gedanken ihre Zeit hatten - aber nun endgültig von der »neuen Zeit« auf den Müllhaufen der Geschichte gespült worden sind. Zudem schien die unter dem Etikett »Postmoderne« laufende philosophische, gesellschaftstheoretische und ästhetische Diskussion seit Ende der 1970er Jahre ganze Arbeit getan zu haben - der linguistic turn, also die Verschiebung der Aufmerksamkeit von der praktisch-sozialen Handlung auf die Sprach- und Sprechhandlung und auf die Grenzen der Sprache, wie sie maßgebend von Wittgenstein initiiert und konturiert wurde, fand gewissermaßen ihren krönenden Abschluss - nicht mehr das reale, sozioökonomische Sein bestimme nun den Horizont der Ideen und des Bewusstseins, sondern die Sprache und das System der Kommunikation das gesellschaftliche Sein. 9 <?page no="9"?> Im Verbund mit »modernen« kommunikationstheoretischen Ansätzen etwa Luhmanns und Habermas’ gehörte es schließlich zum akademischen Common Sense, nicht mehr von der die gesamte Gesellschaft durchdringende Unterscheidung ? Kapital/ Arbeit auszugehen, sondern von der neuen Unterscheidung System/ Lebenswelt, wenn man sich über Gesellschaft und den Lebensbedingungen in ihr den Kopf zerbrechen wollte. Es ging nun um Kommunikationsverhältnisse und nicht mehr um Produktionsverhältnisse; um Semiotik (d. h. die Welt der Produktion von Zeichen und der Regeln für die Zeichen) und nicht mehr um ? Dialektik (d. h. die Welt der Produktion des Lebens und der Regeln für das Leben); um immaterielle, informative Kräfte der Einbildung und der technischen Visualisierungsmöglichkeiten und nicht mehr um Produktivkräfte (Vief 1991, 124). Das wurde durch die aufkommende Bewegung der Medientheorie und -philosophie verstärkt bis hin zur These, dass es nun die »Überbauphänomene« sind, die als »Basis« Aufmerksamkeit verdienen.* Prominenter Vertreter schon in frühen Jahren (1964) ist Marshall McLuhan, der zu entfalten suchte, dass »nichts zersetzender auf die marxistische Dialektik wirken« könnte »als der Gedanke, daß sprachliche Medien die gesellschaftliche Entwicklung genauso formen wie die Produktionsmittel« (ders., Die magischen Kanäle, dt., Düsseldorf/ Wien 1968, 59). * Überbau bezeichnet nach Marx den Bereich des gesellschaftlichen Lebens, in dem rechtlich, künstlerisch, literarisch, philosophisch etc. zum Ausdruck kommt, welches Bewusstsein Menschen von der Gesellschaft, ihrer eigenen Position darin und der Position anderer haben. Dieses Bewusstsein ist jedoch nach Marx ein falsches, weil es die wirkliche Realität, die wirkliche Basis der Gesellschaft, der eigenen Position und der Position der anderen in dieser Gesellschaft, notwendig verfehlt. So bringt etwa das Recht zum Ausdruck, dass alle Menschen als Subjekte gleiche Rechte besitzen - doch diese Gleichheit im Bereich des gesellschaftlichen Überbaus schneidet sich mit der faktischen Ungleichheit bei der Verteilung der Rechte im Bereich der gesellschaftlichen Basis. Man sprach nun von Dienstleistungen, nicht mehr von ? Arbeit, von der Informationsgesellschaft, nicht mehr von der Klassengesellschaft. Die »menschliche Natur« habe nach dem Zerfall des versuchten Kommunismus-Projektes nun endlich zu sich gefunden: die gesellschaftsorganisatorische Haut dieser Menschennatur sei die kapitalistische Gesellschaftsorganisation. Francis Fukujama meinte schließlich schon 1989: Die Geschichte habe nun aufgehört; die Kämpfe um die richtige Einrichtung einer menschlichen Gesellschaft sind zuende: der Mensch sei am Ziele. Doch schon 1991 sprach Robert Kurz in seinem aufsehenerregenden Buch Der Kollaps der Modernisierung von den nun ratlosen Siegern des Westens, vom Zusammenbruch eines Kasernensozialismus des Ostens, der nur beschränkt auf 1. Eintritt 10 <?page no="10"?> Marx zurückzuführen sei: »Weder als Staatsbürgernoch als Marktsubjekt kann das moderne Individuum des warenproduzierenden Systems seine Krise mehr bewältigen, mögen seine Ideologen auch immer neue Worte kreieren, um die sie noch nie verlegen waren«, so Robert Kurz (1991, 266). Marx habe als grundlegender Kritiker der abstrakt Waren produzierenden Arbeitsgesellschaft seine Zeit noch vor sich hat - während der Marx des »Arbeiterbewegungsmarxismus« getrost abgehakt werden könne. 1998 erlebte das Kommunistische Manifest anlässlich seines 150ten Geburtstags eine Art Renaissance, wenn auch vornehmlich als neu entdeckte literarische Antiquität. Auch durch den Zusammenbruch der sogenannten New Economy bedingt erlebten gesellschaftskritische, sich wie auch immer richtig oder falsch, so doch positiv auf Marx und den Marxismus beziehende Publikationen zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine überraschende Resonanz (etwa durch die Werke Empire und Multitude von Antonio Negri/ Michael Harth). Neue Aspekte von Marx’ Kapitalismuskritik wurden entdeckt, Kapitalismuskritik, wie simpel auch immer (also ohne politökonomische Analyse), wurde wieder gesellschaftsfähig. Günter Grass durfte 2005 in der ZEIT unter dem Titel Freiheit nach Börsenmaß (Ausgabe Nr. 19) davon sprechen, dass die so erstrebenswerte Zivilgesellschaft von einer sich langsam formierenden, längst überwunden geglaubten Klassengesellschaft eingeholt zu werden droht. Am 7. März 2007 war auf der Homepage der SPD zu lesen, dass der gegenwärtige Arbeits- und Sozialminister die Einführung von Mindestlöhnen in zehn Branchen vorsehe, da die Gefahr für ca. 4, 4 Millionen Arbeitnehmer wachse, nur noch sittenwidrige Löhne zu bekommen. 1 Mit dem, was seit 1990 Globalisierung genannt wird, verband man gerade in der BRD den Abschied von der auf Konsens und Befriedigung ausgerichteten Veranstaltung namens »rheinischer Kapitalismus« - eine Art Anomalie der weltpolitischen Nachkriegszeit, die nun nicht mehr gelte. Von jetzt an habe zu gelten: »Die Brutalität des Marktes muß im Betrieb nachvollzogen werden«, so Jürgen Schrempp, ehemaliger Vorstandsvorsitzender von DaimlerChrysler Mitte der 1990er Jahre. Und nicht nur im Betrieb. Längst ist wieder von der »Klassenstruktur des Sozialstaates« die Rede, so Joachim Bischoff. Längst erreicht die Angst des Mittelstandes wieder Ausmaße, wie sie Siegfried Kracauer für die Angestellten der Weimarer Zeit eingeholt und festgestellt hatte (Kracauer 1978). Längst schwindet die Überzeugungskraft, die im Wort »soziale Marktwirtschaft« installiert wurde und die gegenwärtig vonseiten der Arbeitgeber mit der Bezeichnung »Neue Sozialen Marktwirtschaft« renoviert werden soll. Die Begriffe »Armut« und »Unterschicht« werden längst wieder als Sprechwährungen innerhalb der medialen Semantik, innerhalb der hochkontrollierten Sprache massenmedialer Diskurse als legitime, erlaubte Bezeichnungen benutzt und akzeptiert - wenn auch noch mit Unbehagen 1.1 Ist Marx wieder aktuell oder das nostalgische Bedürfnis so groß? 11 <?page no="11"?> in der »hohen« politischen Sphäre, oder aber mit einer betroffenheitsrhetorischen Schaulust in den Hunderten sogenannter Soap-Dokumentationen des Unterhaltungsfernsehens, das sich daran ergötzt, über Elend und Armut nun in der eigenen Gesellschaft und nicht mehr nur in der »Dritten Welt« zu berichten. Und weiter: Das ZDF veranstaltete 2003 einen Zuschauer-Contest zum Thema: »Die 100 besten Deutschen«; Karl Marx wurde auf Platz 10 »gewählt«. Noch im selben Jahr konnte Marx bei der Ermittlung der »ewigen Bestenliste« deutscher Persönlichkeiten hinter Konrad Adenauer und Martin Luther Platz 3 belegenDas ZDF hatte Anfang August 2003 eine Liste mit 300 Personen vorgeschlagen, welche die Zuschauer um mehr als 1300 Namen erweiterten. Aus mehr als 1600 Vorschlägen wurden dann in mehreren Durchgängen und sechs Fernsehshows die »zehn besten Deutschen« ermittelt - was immer das heißen mag. - eine Plazierung (was immer man von ihr halten mag), die vor 20 Jahren undenkbar gewesen wäre. Im Januar 2007 belegte der erste Band des Kapital Platz 5 der Bestseller-Liste des Zentralverzeichnisses antiquarischer Bücher. Für ein Exemplar ebendieses Buches aus dem Jahre 1872 verlangt ein Antiquariat in Österreich 1800 Euro. Vorläufiger (theatralischer) Höhepunkt der erwachten Aufmerksamkeit für Marx und die gegenwärtige politischen Ökonomie: Am 04.11.2006 fand am Düsseldorfer Schauspielhaus die Premiere des Stückes »Karl Marx - Das Kapital, Erster Band« statt, bearbeitet und in Szene gesetzt von Helgard Haug und Daniel Wetzel. Der Ankündigungstext fasst die Beweggründe sehr gut zusammen und sei hier stellvertretend für das allgemeine ästhetische, rhetorische, mediale Comeback von Marx in der Rezeption gerne wiedergeben: »751 Seiten liegen zwischen dem ersten und dem letzten Satz - zwischen ›Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warenansammlung‹, die einzelne Ware als seine Elementarform‹ und ›Was uns allein interessiert, ist das in der neuen Welt von der politischen Ökonomie der alten Welt entdeckte und laut proklamierte Geheimnis: kapitalistische Produktions- und [ ? ] Akkumulationsweise, also auch kapitalistisches Privateigentum, bedingen die Vernichtung des auf eigner [ ? ] Arbeit beruhenden Privateigentums, d. h. die Expropriation des Arbeiters‹. Aber was steht dazwischen? Wer hat es gelesen? Wie oft, unter welchen Umständen und warum? Die große Analyse von Karl Marx hat einen prominenten Platz im Kanon jener Bücher, die alle kennen und doch nur wenige richtig gelesen haben. Für Haug/ Wetzel ist es ein dramatischer Text, dessen sieben Siegel nur mit Hilfe von 8 Menschen geöffnet werden können, die mit, in und für dieses Werk gelebt haben. Es geht weder um einen Abgesang und noch um graue 1. Eintritt 12 <?page no="12"?> Theorie auf der Bühne. Bei diesem Buch geht es gar nicht darum, wie die Regie es liest, sondern wer es überhaupt gelesen hat, nicht so sehr darum, was darin steckt, sondern wo in der Gesellschaft es steckt, wer es benutzt und kennt, welcher politischer Couleur und wirtschaftlicher Praxis auch immer. Kein anderes Buch hat die ökonomische Theorie und politische Wirklichkeit so entscheidend beeinflußt wie Marx’ ebenso gerühmtes wie geschmähtes Hauptwerk des wissenschaftlichen Sozialismus. Kein anderes Buch analysiert so grundlegend die Marktgesetze von Arbeitsprozessen und Wertschöpfung - und damit die Ware Mensch: Während in der Volksrepublik China der Turbo-Kapitalismus seine wüsten Blüten treibt, sich Fidel Castro im Adidas- Trainingsanzug müde vor internationalen Kameras inszeniert, bilden sich in Westeuropa wieder selbst-organisierte Marx-Lesegruppen und das Geburtshaus von Karl Marx in Trier freut sich über Besucherströme und klingende Kassen durch den steigenden Absatz ihres Karl-Marx-Rotweins. ›DAS KAPI- TAL, Band eins‹ führt die Fäden eines weitschweifenden Castings zusammen, bei dem Menschen aus unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Gegenden mit ihren Biographien abweichende Perspektiven auf dieses zu dicke Buch beitragen und vertreten.« Und schließlich: Mit einer rhetorischen Frage, die allerdings »spiegel-untypisch« die Verneinung nicht schon spürbar sein lässt, betitelt »Der Spiegel« das dritte Heft des Jahres 2007 (Spiegel 2007, 84) folgendermaßen: »Funktioniert der Kommunismus doch? Rot-Chinas rasanter Aufstieg«. Unter der Artikelüberschrift »Die Rotchina AG« liest man folgende Einschätzung: »Und je hilfloser westliche Staats- und Regierungschefs […] sich abmühen, ihre traditionellen Marktwirtschaften zu reformieren, desto neidischer blickt die kapitalistische Welt auf Chinas rasendes Wachstum - und fragt sich verwundert: Funktioniert der Kommunismus doch? « - Kommunismus im 21. Jahrhundert? Sind diese wenigen Hinweise aus den Bereichen der ernsten und unterhaltenden Kultur, aus der gegenwärtigen politischen Semantik, aus der gegenwärtigen politischen und wissenschaftlichen Literatur nun Zeichen, dass Marx wieder aktuell ist? Sind sie Indikatoren eines wie immer verspäteten Erwachens aus dem Traumtaumel des »Sieges« über den »Kasernensozialismus« der UdSSR und damit erste, zaghafte Einsichten in die Unhaltbarkeit der westlich-kapitalistischen Gesellschaftsorganisation, so man an Standards einer Gesellschaft mit »menschlichem Antlitz« festhalten möchte? Zeugen sie von einem Bedürfnis, dem »Bewegungsgesetz der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation« auf die Spur zu kommen, den Verwandlungen von Ware, Geld, ? Mehrwert, ? Profit und ? Kapital, den verzwickten Verhältnissen zwischen Denkungsart und gesellschaft- 1.1 Ist Marx wieder aktuell oder das nostalgische Bedürfnis so groß? 13 <?page no="13"?> licher Position, den ? »Grenzen des Tauschwerts«, den Möglichkeiten einer strukturellen und nicht moralischen Kritik am Kapitalismus - doch diesmal ohne die Gewissheit historischen Fortschritts und historischer Zwangsläufigkeit? Will man gegenwärtig wieder vom Gesellschaftsbeschreiber, gar Gesellschaftserklärer Marx lernen, wie modifiziert und dialektisch aufgehoben auch immer? Will man mit der Hilfe von Marx nochmals im Grundlegenden der Frage nachgehen, ob sich »der« Kapitalismus* als geschlossenes System entweder nur durch den Kollaps, durch die Revolution qualitativ zu ändern vermag, oder ob er doch von innen heraus zu einer historischen Verwandlung fähig ist, in der seine Grundlagen zerstört, besser: transformiert werden? * Die Rede vom Kapitalismus - statt kapitalistische Produktion, bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsformation, kapitalistisches Produktionsregime usw. - ist erst in der Marx-Rezeption zur vollen Blüte gelangt. Marx und Engels selbst sprechen nicht oft von dem Kapitalismus. Will man Marx’ ? Ideologietheorie, ? Werttheorie, Strukturgenese-Theorie des Kapitalismus nochmals aufsuchen, um in ihnen Antworten für die gegenwärtigen weltgesellschaftlichen Probleme zu finden? Sind gar Begriffe wie gesellschaftliche Differenzierung, Sozialstruktur und Rechtssemantik der gegenwärtig noch hegemonialen soziologischen Systemtheorie wirklich, wie Gunther Teubner (1996, 246) einmal anmerkte, Begrifflichkeiten, welche die Marx’sche Begriffs-Trias (Produktionsverhältnisse, Klassenstruktur und Rechtsideologie) beerben - auch in ihrer Verschränktheit, wie sie von Marx gedacht wurde? 2 Ist Pierre Bourdieus Theorem der Kapitalien ( ? ökonomisches Kapital, symbolisches Kapital, soziales Kapital, kulturelles Kapital) eine veritable Erweiterung von Marx’ Kapitaltheorem? Sind Richard Sennetts Arbeiten über Erscheinungsweisen der gegenwärtigen kapitalistischen Gesellschaften (2000, 2005) Rekonstruktionen des Marx’schen ? Entfremdungsbegriffs? Knüpft Axel Honneth in seiner anerkennungstheoretischen Studie über ? Verdinglichung (2005) nicht bei Marx’ Entwurf des Begriffs »Verdinglichung« an - in seiner ganzen Weite und Tiefe? Ist Georg Franks viel beachtetes Buch Ökonomie der Aufmerksamkeit (1998) tatsächlich eine Fortsetzung der Kritik der politischen Ökonomie im Felde der ökonomisierten Produktion von Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit - wie es sein darauffolgendes Buch, Mentaler Kapitalismus (2005), unterstellt, nämlich eine Kritik der politischen Ökonomie des Geistes? Kurzum: Sind die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts unternommenen Anstrengungen »Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus«, so der Titel eines Buches von Jürgen Habermas (Habermas 1976, 144-199), nicht doch 1. Eintritt 14 <?page no="14"?> erfolgreich gewesen? Marx - noch nie war die Lektion seiner Werke so selbstverständlich (und) dringlich wie heute (Derrida 1995, 31)? Oder ist es nicht doch eher ein sentimentales, gar ein nostalgisches Bedürfnis, das sich in der erneuten Beschäftigung mit Marxens Werk und Person Ausdruck verschafft? ; ein Bedürfnis, im Zuge des bewussten Festhaltens an Vergangenem bei gleichzeitiger Ästhetisierung (Retro-Ästhetik) wie auch im Zuge der fehlenden Systemkonkurrenz durch die UdSSR nun auch einer bestimmten Stimmung, einer bestimmten Person, einem bestimmten Werk gefühlsmäßig näher zu kommen, das, wie verzwickt auch immer, noch von einer Gewissheit getragen wurde, nämlich: dass die Zukunft für die Menschen nur besser werden kann? Ist die erneute Kapitalismuskritik zumindest in ihren erfolgreichsten Erscheinungen eine unmarxistische, vielleicht gar anti-marxistische Kritik - Sloterdijks Buch »Im Weltinnenraum des Kapitals« kommt mit zwei Fußnoten zu Marx und Engels aus (Sloterdijk 2006)? Ist womöglich das erneute Interesse an Kapitalismuskritik selbst nur Ausdruck eines verblendeten Bewusstseins von Kritikern, die nicht wahrnehmen, dass ihre Kritik längst integrierter Bestandteil des kulturellen Ornaments der Unterhaltungsindustrie geworden ist? Stimmt demgemäß die abschließende drastische Einschätzung Michael Scharangs, die kurzen Prozess macht mit jeder Vorstellung einer wiederbelebten marxistischen Gesellschaftskritik? »Der Kapitalismus, der nicht vergessen hat, wie gefährlich ihm revolutionäre Theorie werden kann, produziert längst seine eigene Kapitalismuskritik, die einem strengen Ritual folgt. Zuerst muß er dämonisiert werden als Schreckensmaschine oder Naturkatastrophe; heute noch Turbokapitalismus, wird er morgen schon ein Tornadokapitalismus sein mit globaler Verwüstung und neoliberalen Überschwemmungen. Danach muß an ihn appelliert werden, wenigstens den Menschen gnädig zu sein, wenn schon die Welt draufgehe. Dieser Choral an Geschrei und Gewinsel wird intoniert von Intellektuellen, denen der Kapitalismus die ökonomische Grundlage entzogen hat und die, weggescheucht aus den Medien und verjagt von den Hochschulen, als Lumpenbourgeoisie gegen Entgelt den Verlust von Kultur und Menschlichkeit beklagen müssen. Sie fordern nicht Neuerungen des Bestehenden, sondern die Erneuerung des Verlorenen, und wenden sich, Fürstenknechte von heute, an Kapitalisten und deren Manager mit der Bitte, sich zugunsten des Gemeinwohls zu bescheiden. Erstaunt über so viel Dummheit, applaudiert der Kapitalist amüsiert dem Vorwurf, neoliberal zu sein, hat er doch in der Realität bereits neofeudalen Status erworben. Der Kapitalismus verhält sich zur Kapitalismuskritik wie der Hof zum Hofnarren.« (Scharang 2007, 12) 1.1 Ist Marx wieder aktuell oder das nostalgische Bedürfnis so groß? 15 <?page no="15"?> Vielleicht ist es beides. Die Einführung in Marx möchte dazu keine Antwort, aber doch zu bedenken geben, dass neben den realen wirtschaftlichen und sozialen Spannungen, also neben der erneuten Restrukturierung der kapitalistischen ? Wertverwertung, die auf den Namen »Globalisierung« hört und als Vermarktwirtschaftlichung vormals nicht marktwirtschaftlich geregelter Lebensbereiche verstanden werden kann, auch schlicht das Vorhandensein eines zyklischen Kreislaufes der Rezeption und des Diskurses für die erneute Resonanz der »Erscheinung Marx« verantwortlich gemacht werden kann; d. h.: Waren die 1960er und 1970er Jahre bestimmt durch eine westmarxistisch bestimmte Aneignung des wissenschaftlichen Sozialismus und des Historischen Materialismus, so die 1980er und 1990er Jahre durch das, was Alexander Kluge und Oskar Negt 1992 folgendermaßen zu umschreiben suchten: »Wie nie zuvor in der Geschichte dieses Jahrhunderts findet eine merkwürdige Umverteilung in der politischen Sprache statt; vieles von dem, was man in den letzten Jahrzehnten der Vergangenheit zuzuschlagen entschlossen und bereit war, erlebt plötzlich eine gewaltige Aufwertung und einen geradezu erdrückenden Realitätszuwachs: Staat, Nation, [ ? ] Kapital, Religion und Geld assoziieren sich nun in einer Weise mit Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie, als hätte es die Blutlinie dieser Begriffe im 20. Jahrhundert nie gegeben. Dem Bedeutungs- und Erklärungsgewinn dieser Worte der herrschenden Gruppen entspricht die Entleerung von Begriffen wie Solidarität, Gemeinwesen, Gemeinwirtschaft, vernünftige gesellschaftliche Organisation. Daß die Sieger in diesem gigantischen gesellschaftlichen Sprachspiel so gut mit ihrem Besetzungswillen vorankommen, ist nicht zuletzt darin begründet, daß die Linke ihre Begriffe zu wenig als Griffe zur Veränderung der Verhältnisse gebraucht hat, sie vielmehr als leblose Substanzformeln aufbewahrt.« (Negt/ Kluge 1992, 62 f.) Nun also, seit Beginn des 21. Jahrhunderts, kommen die vormals entleerten Begriffe und Denkansätze in den veröffentlichten Diskursen der Medien, der Politik und der Wissenschaft erneut zum Einsatz, wird also wieder aufgegriffen, was in den vorangegangenen Dekaden liegen blieb und verworfen wurde. Wie gut oder schlecht, wie elaboriert oder simpel dies geschieht, hängt natürlich davon ab, ob es gelingt, die Gesellschaftskritik, die Kritik der Politischen Ökonomie und die Kritik der ? Ideologie, wie sie bei Marx angelegt und aufgebaut wurden, nicht als »leblose Substanzformeln« zu gebrauchen, sondern als lebendige Unterscheidungswerkzeuge, um die gegenwärtige »Weltgesellschaft« besser erkennen (und, wer weiß, auch besser verändern) zu können. So man dies will, hat man sich für einen nicht leichten 1. Eintritt 16 <?page no="16"?> Weg entschieden: denn Marx’ Durchdringungen, Unterscheidungen, Schlussfolgerungen und Analysen haben es in sich, will sagen: sie sind alles andere als einfach, leicht verständlich und kompakt speicherbar. Sie erfordern ein ausgiebiges Abstraktions- und Reflexionsvermögen, eine umfangreiche Zeit des Begreifens, eine Enttäuschungsfestigkeit - und ein leidenschaftliches Wissenwollen. 1.2. Zum Buch und seinen Absichten Die vorliegende Einführung versteht sich - modisch gesprochen - als warm up für eine weitergehende Beschäftigung mit Marx’ Werk; ihr Autor hegt die Hoffnung, dass der geneigte Leser wirklich zu den Werken greift und es nicht beim Abschreiben der Zitate oder beim schnellen Suchen auf der CD-ROM resp. im World Wide Web belässt. Im Folgenden ist dies zu erwarten: • Dieses Kapitel wird fortgesetzt mit einigen kompakten Hinweisen zur Einführung selbst. Anschließend wird vorgestellt, wie Marx für das gegenwärtige ? »Kultur-Paradigma« in den Sozialwissenschaften wieder geöffnet, d. h. aufgeschlossen werden könnte, ohne ihn anschlussfähig zu machen. • Das 2. Kapitel bietet eine ausführliche Biographie. • Im 3. Kapitel werden Begriffe, die im Umkreis der Beschäftigung mit dem Marxismus immer wieder synonym benutzt werden, konturiert unterschieden. Abgeschlossen wird das Kapitel mit einem Vergleich Hegel/ Marx in Bezug auf die Begriffe Anthropologie und Geschichtsphilosophie - um die Differenzen und Gemeinsamkeiten beider Autoren zu markieren. • Die Darstellung der »Essenzen der politökonomischen Analyse« ist auf Kapitel 4 und 5 verteilt. Kapitel 4 widmet sich dem Verhältnis zwischen Marxens Analyse und der Analyse von Smith und Ricardo sowie der Frage, wie Marx die Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise historisch entwirft. Kapitel 5 kommt dann ausführlich auf die konkreten, theorie-internen Begriffe der Marx’schen Politökonomie zu sprechen. Abgeschlossen wird es mit der Darstellung bestimmter Kritiklinien, die sich aus seiner politischen Ökonomie und aus seiner Gesellschaftstheorie ergeben. • Das sechste Kapitel schließlich eröffnet einen Denkversuch, wie ? Historischer Materialismus und ? Kulturbegriff verbunden werden können. Nach einigen Einbettungen dieses Versuchs in die gegenwärtige Kulturtheorie-Landschaft und einigen Begriffserklärungen wird versucht, den Gehalt von Marx’ Denken, 1.2. Zum Buch und seinen Absichten 17 <?page no="17"?> vor allem den Gehalt seiner Prognosen einer kommunistischen Gesellschaft, als diagnostisches und theoretisches Werkzeug für eine Betrachtung des gegenwärtigen Kapitalismus zu nutzen, die man kulturelle Betrachtung nennen könnte. • Ein Literaturverzeichnis, ein Glossar sowie ein Sach- und Namensregister runden das Buch ab - das, so die Hoffnung des Verfassers, von einem Leser zugeklappt wird, dem folgender Satz einsichtiger geworden sein wird: »Verstehen ist praktisch immer ein Mißverstehen ohne Verstehen des Miß« (Luhmann 1996, 173). An dieser Stelle sei auch ein herzlicher Dank gesagt: Dr. Thomas Jung für seine Compassion und instruktive Resonanz, Sonja Rothländer von UVK für ihr Verstehen, und Verena Artz für die Bewältigung der Aufgabe, das Manuskript mit mir, so weit es irgend ging, zu kürzen. Einiges an Kürzung tat weh; doch dem Leser tut es vielleicht wohl. Das Buch ist allen Lesern gewidmet, die immer wieder ihrem Schon-Gewusst-Haben zu misstrauen vermögen. 1.2.1 Der Eingang Eine Einführung hat vor allem andern eine Aufgabe zu bewältigen: einen Eingang, eine Öffnung, eine Tür zu finden, durch die man in etwas eintritt, was Werk, Theorie, Gedankenwelt oder gar Ideenkosmos genannt zu werden pflegt. Das hört sich einfach an - und ist es auch zumeist. Das Problem gerade im Rahmen der Darstellung von Theorien, Ideen und wissenschaftlichen Schriften ist nun aber, dass ebendiese zumeist ohne Eingang und Türen geschrieben werden - und man also die offene Stelle, durch die man ins Werk tritt, selbst anzubringen hat. Auch das hört sich fürs Erste einfach an: Wenn man an ein Haus denkt, dem noch die Eingangstür fehlt, so spielt es keine Rolle, wo dieser Eingang sein wird. Hauptsache, man kommt ins Haus und kann alle Räume des Hauses betreten. Bei »gedanklichen Häusern«, also systematischen Theorien oder Theorie-Architekturen, zu diesen gehört Marx’ Theorie, verhält es sich jedoch anders: Der Ort des Eintretens und die Art des Eintretens bestimmen hier mit, was im Inneren zugänglich ist, was durchquert werden kann. Warum? Weil das gedankliche Gebäude schlicht zu groß ist, als dass man alle Bereiche und Räume aufsuchen könnte. Sicher ist es sinnvoll und auch üblich, mit der Darstellung von früheren Texten zu beginnen, um dann auf die späteren zu kommen. Doch der alleinigen »chronologisch-linearen« Aneinanderreihung von Darstellungen ist nichts zu entnehmen, was dazu anleitet, wie und was aneinander angeschlossen werden soll - 1. Eintritt 18 <?page no="18"?> das ist zwar beim Zeigen von Urlaubsphotos ausreichend, aber für eine Einführung in das Werk von Marx ganz bestimmt nicht. Kurzum: Eine Einführung muss einen Eingang in das Werk bauen, der möglichst keine allzu große Beliebigkeit zulässt, also keine bloße Aneinanderreihung erzeugt; und der zugleich einen Gang durch möglichst viele Stockwerke und Räume des Gedankengebäudes erlaubt, damit zumindest ein »Eindruck des Ganzen« entstehen kann - natürlich erst hinterher. Diese doppelte Anforderung an die Art und Weise einer Einführung findet man vielleicht am besten und auch radikalsten ausgedrückt in den folgenden Sätzen Ludwig Wittgensteins aus seinem Tractatus logico-philosophicus (1990, Satz 6.54): »Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nach dem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)« Eine gute Einführung ist also diejenige, die man hinter sich läßt. Nicht als »unsinnig« erkennen sollte ein Leser diese Marx-Einführung, wenn er sie gelesen hat; aber er sollte durch sie so viele aufgeworfene Fragen und eventuell neue Fragehorizonte vermittelt bekommen haben, dass er nicht umhin kann, auf die primäre Literatur, also auf die Schriften von Marx (und Engels), zurückzugreifen, um sich seine eigenen Probleme und Einsichten zu schaffen. 1.2.2 Vom Eingang zum Durchgang Trotz der mittlerweile weitverbreiteten Einsichten in konstruktivistische Erkenntnis- und Erkennenstheorien und auch in Kommunikationstheorien, die dafür plädieren, dass es objektiv nichts Gegebenes gibt, sondern maximal nur sozial und kommunikativ zu beschreibende Übereinkünfte darüber, was wir als gegeben, als vorhanden annehmen (von Foerster 1985; Luhmann 1984; Habermas 1981), scheint das Bedürfnis nach einer objektiven Beschreibung objektiver Tatsachen weiterhin ungebremst vorhanden zu sein. Man möchte berechtigterweise die Aussagen von Marx hören und vermittelt bekommen, nicht jedoch die Aussagen und Sichtweisen desjenigen, der über ihn schreibt. Das ideale Ziel wäre der »verschwindende Vermittler«, der, einem Informationskanal gleich, nur etwas Eigenrauschen produziert, ansonsten aber die Botschaft beinahe im Verhältnis 1: 1 weitergibt. Die Wichtigkeit, die Richtigkeit, die Autorität, gar die Wahrheit der Botschaft liegt demgemäß in der Botschaft selbst, im sogenannten Subjekt der Aussage, und nicht im sogenannten Subjekt des Aussagens. Diese Haltung trifft man etwa an bei Fernsehzuschauern, wenn es darum geht, Nachrichtensendungen einzuschätzen, die möglichst »objektiv« und »unverfälschend« berichten (sollen); und man trifft 1.2. Zum Buch und seinen Absichten 19 <?page no="19"?> diese Haltung vom Grundsatze her auch noch gegenüber dem an, was man Beamtentum nennt: der Beamte als »Herumgeschickter« 3 , als Diener und Bote soll und hat nur auszuführen, was Anweisungen, Gesetze, Vorgesetzte und Vorschriften vorgeben; er hat sich ganz nach diesen zu richten (daher die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Nachricht«), soll reine Repräsentation sein und nichts beimischen. Neben solch einem Bedürfnis nach »objektiver Information«, die unabhängig von ihrer Mitteilung und ihres Mitteilers (Boten) Autorität besitzt und zumindest für »wahr gehalten« wird, gibt es aber auch ein Bedürfnis nach Informationen, die abhängig vom Akt des Mitteilens und vom Mitteilenden selbst, also vom Subjekt des Aussagens, sind. Für beide grundverschiedenen Arten der Autorisierung von Information stehen in der Überlieferungsgeschichte Traditionslinien zur Verfügung, die Slavoj Zˇ izˇek an den Figuren Sokrates und Christus festmacht. Das folgende Zitat soll verdeutlichen, zu welcher »Traditionslinie« Marx gerechnet werden könnte: »Und deshalb ist es ganz gerechtfertigt, wenn sich Sokrates mit einer Hebamme vergleicht: seine Aufgabe ist nur, es dem Subjekt zu ermöglichen, die in ihm bereits gegenwärtige Erkenntnis zu gebären, und so ist die höchste Anerkennung, die man Sokrates zollen kann, daß man sagt, er sei in dem Moment vergessen worden, in dem wir uns der Wahrheit von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Bei Christus gilt genau das Gegenteil: die christliche Wahrheit, die nicht weniger ewig ist als die sokratische, trägt das unzerstörbare Mal eines historischen Ereignisses, des Augenblicks, in dem Gott Fleisch wurde. Folglich ist der Gegenstand des christlichen Glaubens nicht die Lehre, sondern der Lehrer: ein Christ glaubt an Christus als Person, nicht unmittelbar an den Inhalt seiner Aussagen; Christus ist nicht göttlich, weil Er solche tiefen Wahrheiten ausgesprochen hat, sondern Seine Worte sind wahr, weil sie von Ihm gesprochen wurden.« (Zˇ izˇek in: Seifert 1992, 18) Die Rezeptions- und vor allem Umsetzungsgeschichte des Marx’schen Werkes (also: Marxismus, wissenschaftlicher Sozialismus, Marxismus-Leninismus usw.) ist reich an beiden Autorisierungsstrategien: mal wurde Marxens Theorie als wahr und universell gültig betrachtet, weil man davon überzeugt war, dass sie ein für alle Mal die Gesetze der kapitalistischen Geschichte und der Gesellschaft erkannt habe; mal wurde sie als wahr und universell gültig betrachtet, weil sie sich in reale Praxis, in »Fleisch« verwandelt hatte und zudem durch eine überwältigende Mitteilerrolle vertreten, re-präsentiert wurde (Lenin und die kommunistische Partei). 1. Eintritt 20 <?page no="20"?> 1.2.3 Dialektik, Paradoxie, Gegenwartsbezug Dieser etwas umweghafte Aufriss der Probleme und Schlüsse von entweder analytisch wahren oder heilig wahren Texten hat folgenden Sinn: nämlich einsichtiger zu machen, dass diese Einführung weder der einen noch der anderen Traditionslinie folgt; und dass sie weder mit dem Begriff der Wahrheit noch mit dem der Autorität sich Marxens Schriften annähert. Beide Annährungsweisen sind für eine Einführung ungeeignet; zudem entsprechen sie auch nicht der gegenwärtigen Vorherrschaft wissenschaftlicher Problematisierung, für die eher die Orientierung an Falsifizierung, Widersprüchlichkeit, Rekonstruktion und Plausibilität von Aussagen wichtig ist, nicht aber die Orientierung an »der Wahrheit« und unbedenklicher Autorität. Die hier vorliegende Einführung orientiert sich demgegenüber an neueren Gedanken zu dem, was im Grundsätzlichen Wissenschaft heißt, speziell Sozialwissenschaft. Diese Gedanken einer sogenannten erkenntnistheoretischen Epistemologie, also einer Lehre von der Art, Weise und Beschaffenheit unseres Wissens von der Welt, legen nahe, sich an produktiven Paradoxien zu orientieren, d. h. an Widersprüchen in wissenschaftlichen Aussagen, die nicht einfach dadurch verschwinden, dass man sie feststellt, sondern die dazu zwingen, die erkannten Paradoxien weiter zu entfalten - zu entfalten, nicht aufzuheben! Lösungen von Problemen, die wissenschaftlich bearbeitet werden, müssen dieser Auffassung nach also erst eine erweiterte Paradoxierung durchgemacht haben, um wissenschaftlichen »Wert« oder zumindest ein wissenschaftliches Interesse zu erlangen. Da, wie später näher erläutert wird, Paradoxie durchaus als Erbe der ? Dialektik angesehen werden kann - Paradoxie beerbt die Folge These/ Antithese, ohne zur Synthese zu kommen -, und Dialektik eine zentrale wissenschaftliche Orientierung im Marx’schen Denken ist, scheint die Widerspruchsorientierung besser als die Wahrheitsorientierung geeignet zu sein, Einblick in die Grundsätzlichkeiten seines Wissenschaftsverständnisses zu gewinnen - und in die seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Mit dieser Auffassung kann jetzt schon eine Art revidierende Aufhebung einer Überzeugung Marxens formuliert werden, die in folgenden Sätzen aus dem Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie steckt und lautet: »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur ent- 1.2. Zum Buch und seinen Absichten 21 <?page no="21"?> springt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.« (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW, Bd. 13, 9)* * Direkt anschließend heißt es dann, die materiellen Existenzbedingungen betreffend: »In großen Umrissen können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Gesellschaftsformation bezeichnet werden.« (Ebenda) - Es wurde in der Marx-Kritik immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass Marx zwar eine differenzierte Unterscheidung der Produktionsverhältnisse entwickelte, aber keine Unterscheidung der Eigentumsverhältnisse resp. Besitzformen; er belasse es schlicht und einfach mit der Formdarstellung namens bürgerliches Privateigentum, so Iorio (2005, 65). Eine revidierende Aufhebung könnte also so lauten: Die Menschheit stellt sich immer nur Aufgaben, die sie in Paradoxien treibt, die prinzipiell nicht zu lösen, aber zu entfalten sind. Verbindet man diese Revision zudem noch mit einer speziellen Sicht auf die sogenannte Kybernetik zweiter Ordnung, einer Kybernetik, die sich um das Erkennen des Erkennens, um das Verstehen des Verstehens bemüht, dann fällt es nicht allzu schwer, in folgender Aussage Heinz von Foersters einen leichten Nachhall von Marx herauszuhören: »Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden« (von Foerster 1993, Buchrückseite). Und weiter (ebenda, 173): »Wenn wir nämlich unsere Glaubwürdigkeit als Wissenschaftler erhalten wollen, dann kann der erste Schritt nur darin bestehen, unser Wissen auf uns selbst anzuwenden und eine Weltgesellschaft zu bilden, die nicht so sehr für die Kybernetik da ist, sondern vielmehr kybernetisch funktioniert. So nämlich verstehe ich Dennis Gabors Aufruf […]: ›Kybernetiker dieser Welt, vereinigt euch! ‹ Ohne Kommunikation gibt es keine Regelung; ohne Regelung gibt es kein Ziel; und ohne Ziel werden Begriffe wie ›Gesellschaft‹ oder ›System‹ zu Leerformeln.« 4 Mit dieser Sicht entscheidet sich freilich diese Einführung für den Wissenschaftler Marx, der immer wieder mit seiner Auffassung über das Ziel der Gesellschaft und der Geschichte, also mit seiner Geschichtsteleologie ins Zweifeln geriet, und gegen den »Politiker« Marx, der immer wieder mit einer nie erlahmenden Kraft von der Gewissheit ausging, dass die Aufgabe der Überwindung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung eine schon in dieser Ordnung angelegte Aufgabe sei, zu ergreifen von einem historischen Subjekt namens Proletariat. 5 Oder anders: Gefolgt werden soll dem Marx, der die Kritik der politischen Ökonomie so verstand, dass sie nur dann wertvoll ist, wenn sie sich durch rücksichtslose Konsequenz aus »wissenschaftlichen Vordersätzen« auszeichnet und eben nicht durch 1. Eintritt 22 <?page no="22"?> rücksichtsvolle Anpassung wissenschaftlicher Erkenntnisse an die politökonomischen Realitäten, wie er sie bei Vulgärökonomen sah, die vordergründig interessengebunden Wissenschaft betrieben haben sollen (Marx, Theorien über den Mehrwert, MEW, Bd. 26, Teil 2, 110). Die Gefahren einer solchen Herangehensweise sind indes immens und von Derrida sehr genau auf den Punkt gebracht worden, wenn er vor einer neutralisierenden Betäubung warnt, die sich ergibt, so man sich Marx zu theoretisch und zu philosophisch annähert (Derrida 1995, 60). Es erübrigt sich damit der Hinweis, dass sich diese Einführung nicht als historisierende oder gar philologische Einführung versteht, also nicht als eine Einführung, die Marx’ Aussagen als ganz besondere und individuelle deutet, die nur zu einer bestimmten historische Epoche gehören und nur für diese Gültigkeit besitzen. Täte sie das, müssten alle Aussagen von Marx und alle Aussagen, die ihn betreffen, als vergangen aufgefasst werden; als Aussagen, deren Vergangenheit abgeschlossen ist. Es interessierte dann nur noch die vergangene Gegenwart der Theorie, im Sinne von »Es war einmal…«. Diese Sicht gilt es sicher anzuwenden bei manchen Bestandteilen von Marx’ Überlegungen, die von der »Geschichte widerlegt« wurden. Doch für den nucleus seiner Kritik an der Anatomie der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gilt, so denke ich, dass ihre Vergangenheit noch nicht vergangen ist und also noch hineinragt in die gegenwärtige und auch zukünftige Gegenwart, in der wir Heutigen leben und leben werden. Von daher gilt also zwar kein »Es ist noch nicht…«, aber doch ein »Es ist immer noch…« - wenn auch stark modifiziert. Vielleicht gilt heute für Marx das, was er selbst gegenüber Hegel und seiner dialektischen Methode im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Kapital-Bandes anzumerken meinte: »Die mystifizierende Seite der Hegelschen [ ? ] Dialektik habe ich vor beinah 30 Jahren, zu einer Zeit kritisiert, wo sie noch Tagesmode war. Aber grade als ich den ersten Band des ›Kapital‹ ausarbeitete, gefiel sich das verdrießliche, anmaßliche und mittelmäßige Epigonentum, welches jetzt im gebildeten Deutschland das große Wort führt, darin, Hegel zu behandeln, wie der brave Moses Mendelssohn zu Lessings Zeit den Spinoza behandelt hat, nämlich als ›toten Hund‹. Ich bekannte mich daher offen als Schüler jenes großen Denkers und kokettierte sogar hier und da im Kapitel über die [ ? ] Werttheorie mit der ihm eigentümlichen Ausdrucksweise. Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken.« (Marx, Das Kapital, MEW, Bd. 23, 27)* 1.2. Zum Buch und seinen Absichten 23 <?page no="23"?> * Ob dieses Unternehmen gelungen ist, das Hegelsche »Welt-dialektisch-Denken« zu ergänzen oder umzustülpen in und mit einem »Welt-als-dialektische-Denken«, macht ein zentrales Moment aus für die Akzeptanz des Marxismus in der Zukunft. Man mag es weiterhin für diskussionswürdig halten, wenn Versuche gelängen, ? »die Dialektik« selbst zu erneuern. Dies zu betonen ist wichtig, um Marx’ Werk gerecht werden zu können. Denn es entspringt nicht der Marotte von Marxkritikern, diesen immer wieder an der politischen, ökonomischen und kulturellen Gegenwart »abzugleichen« und ihn auf die Füße zu stellen; es entspringt der Anlage von Marxens »System« selbst, sich immer wieder den Prozessen der historischen Vermittlung von Gesellschaft auszusetzen, also die Theorie immer wieder der historischen Erfahrung auszusetzen und nicht die Haltung Hegels einzunehmen, der im Falle der Nichtübereinstimmung von Theorie und Wirklichkeit schlicht konstatierte: umso schlimmer für die Wirklichkeit. So auch Derrida (1995, 31): »Wer hätte jemals zur zukünftigen Transformation seiner eigenen Thesen aufgerufen? Und zwar nicht nur um einer progressiven Anreicherung der Erkenntnis willen, von der die Ordnung eines Systems unangetastet bliebe, sondern um darin den Brechungs- und Restrukturierungseffekten [bei Marx z. B. seine Ablösung von der Philosophie und seine Verwandlung des ? Entfremdungsbegriffs, B. T.] Rechnung […] zu tragen? « Wenn gilt: »[E]s ist der letzte Endzweck dieses Werks [der Kapital-Bände, B. T.], das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen« (Marx, Das Kapital, MEW, Bd. 23, 16), dann hat das, was als Gesetz enthüllt wird, dialektischen Einfluss auf die Art und Struktur, auf die Form der Enthüllung selbst. Ergibt sich Identität von Form und Materie im Prozess der Enthüllung und Bestimmung des Bewegungsgesetzes, dann strahlt ebendiese identische Bestimmung auf die Bedingungen zur Erfüllung identischer Bestimmung ab. Jede fortzusetzende Bestimmung von Form und Materie muss sich also fortentwickeln, muss ihr »Anderes« werden, um wiederum identische zu sein. (Man kann sich dieses Verhältnis von Form, Materie und identischer Bestimmung am besten vorstellen, wenn man ein Kind beim Lernen beobachtet: Passiert eine Lernsensation, etwa wenn es nun endlich gelernt hat, welche Zahl nach der Nennung der Reihe 2, 4, 6, 8 folgen muss, dann hat es nicht nur materiell etwas gelernt, sondern auch formal; denn es wird nun sein Lernen selbst ändern. Es hat also gleichzeitig auch das Lernen gelernt, und wird es dann etwa bei der Zahlenreihe 2, 6, 14, 30 usw. ausprobieren können.) Dieses dialektische Form/ Inhalt-Prinzip gilt auch dann, wenn man davon überzeugt ist, dass Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie (Arbeitswertlehre, Geldtheorie, ? Akkumulations- und Kapitaltheorie) und seine Gesellschaftstheorie 1. Eintritt 24 <?page no="24"?> eher idealtypisch-systematischen, sprich: eher logischen denn historisch-empirischen Charakters sind (Flechtheim/ Lohmann 1991). Kurzum: So wie man anderen Autoren der Vergangenheit dadurch gerecht werden kann, indem man sie philologisch und historisierend zu erörtern sucht, so wird man dem Autor Marx dadurch gerecht, indem man die offene Anlage des Werkes weiterhin mit den historisch-vermittelnden Strömen der Gegenwartsgesellschaft, z. B. mit dem Aufbrechen der Beziehung von Arbeitsmarkt und Wirtschaftssystem, zu verbinden sucht. Sollte sich - nun einmal den unwahrscheinlichen Extremfall denkend - herausstellen, dass Arnold Gehlens These zuträfe, nämlich: dass die Gegenwartsgesellschaften seit Ende des 19. Jahrhunderts sich schon längst im Zustande der kulturellen Kristallisation, also der Posthistoire befinden und also eine vollständige Trennung zwischen menschlicher Gesellschaftszeit und historischer Zeit stattgefunden hat, eine Trennung zwischen Geschichtszeit und Verkehrszeit (Wolfgang Kaempfer), dann müsste man das Marx’sche Werk als Erkenntniswerkzeug für die Gegenwart in Gänze abschreiben und vergessen. - Doch dieses Ende der Geschichte (der gesellschaftlichen Vermittlungsbewegung) scheint noch nicht in Sicht zu sein, ebensowenig wie das Ende der »Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft« (MEW, Bd. 13, 9) in Sicht ist; ein Ende, das Marx mit der Überwindung der bürgerlichen Gesellschaftsformation verband. 1.2.4 Zur benutzten Literatur Was für viele Aussagen Marxens gilt - dass sie als nicht abgeschlossen, als wissenschaftlich offen zu betrachten sind -, gilt gleichsam für die Publikationsgeschichte des Nachlasses von Marx und Engels: auch sie ist noch nicht vergangen, also noch gegenwärtig.* Die derzeit annäherungsweise vollständigste Ausgabe nennt sich im Kürzel MEW (Marx-Engels-Werke). Sie umfasste in ihrer ersten russischen Ausgabe in den 1920er und 1930er Jahren 28 Bände und wurde herausgegeben vom Marx-Engels-Institut in Moskau (Zentrales Parteiarchiv des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPdSU). Diese »Werke«-Ausgabe wurde ab 1953 vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED in Ost-Berlin übernommen und in deutscher Sprache veröffentlicht. Aus den anfänglich 28 Bänden sind mittlerweile 47 Bände geworden, davon acht Ergänzungsbände. Ergänzend kommen noch vier nicht gereihte Bände hinzu, die chronologische Vergleichsregister der Schriften, Artikel, Postkarten, Telegramme beinhalten (zwei Bände) sowie ein Sachregister der MEW-Bände 1 bis 39 (ebenfalls zwei Bände). 1.2. Zum Buch und seinen Absichten 25 <?page no="25"?> * Die sehr verwickelte Geschichte des Nachlasses, die Vielzahl der für die Manuskripte verantwortlichen Personen, die Häufigkeit der Ortwechsel ähnelt sehr Marxens Unterwegs- und Auf-der-Flucht-Sein bis zu dem Zeitpunkt, da er schließlich im Sommer 1849 aus Frankreich nach London flüchtete und dort - von kurzen Reisen abgesehen - bis zu seinem Tode am 14. März 1883 blieb. Zum Nachlass vom Marx und Engels siehe auch Hautmann (2001, 6 ff.). Eine zweite Ausgabe der gesamten Schriften von Marx und Engels wurde unter dem Kürzel MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) 1927 begonnen, ebenfalls im Auftrag des Marx-Engels-Instituts Moskau. Sie sollte historisch-kritisch angelegt sein und fehlende Schriften integrieren. Geplant waren 42 Bände, doch die Realisierung der Publikation stockte. 1975 wurde - nun von beiden Instituten in Moskau und Berlin gemeinsam - geplant, einen zweiten Anlauf zu unternehmen, um eine neue MEGA-Ausgabe mit weit über 100 Bänden zu veröffentlichen. Auch dieses Vorhaben ist nicht beendet worden - aus nachvollziehbaren Gründen (1989: Zusammenbruch der DDR; 1991: Ende der UdSSR). Ein dritter und womöglich letzter Versuch der Umsetzung einer historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe wird seit 1990 unter der Herausgeberschaft der Internationalen Marx-Engels-Stiftung im Amsterdam unternommen, mit einer hohen, wenngleich begrenzten Bandanzahl (Ziel: 121 Bände; Stand: Januar 2007). Der ungewöhnliche Ort Amsterdam rührt daher, dass 1935 der Prager Parteivorstand der SPD, der zur damaligen Zeit den Nachlass von Marx und Engels besaß, diese an das »Internationale Institut für Sozialgeschichte« in Amsterdam verkaufte, das wiederum die Dokumente noch rechtzeitig 1939 nach London überführte. Der Nachlass wird bis heute in Amsterdam verwahrt. Die Bände dieser Amsterdamer Ausgabe erscheinen im Akademie Verlag Berlin; assoziiert mitwirkend ist die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Und auch für den dritten Anlauf gilt: wie immer mit offenem Ende. Für die vorliegende Einführung wurde die MEW-Ausgabe als Hauptquelle benutzt. Neben der Verbreitung und relativen Vollständigkeit dieser Ausgabe (die es, in ausgewählten Werken und Dokumenten, auch auf CD-Rom gibt) ist diese Entscheidung auch dadurch getragen, dass man die Bände eher als die der anderen Ausgaben in Antiquariaten findet; und dies meist preiswert. Andere Quellen werden immer ausführlich angemerkt, ebenso die Sekundärliteratur. Auch wenn derzeit auf dem deutschsprachigen Markt mehr als ein Dutzend Kompilationen ausgewählter Werke und Schriften von Marx und Engels kursieren - zumeist ausgewählt nach dem Kriterium der Wichtigkeit und mit einem besonderen Erkenntnisinteresse, etwa bei Robert Kurz oder Iring Fetscher -, lege ich dem Leser dennoch nahe, sich der MEWresp. der MEGA-Ausgabe zu bedie- 1. Eintritt 26 <?page no="26"?> nen. Nur so besteht die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, was wichtig, was unwichtig ist. Ein vorletzter Hinweis: Wer für die Beschäftigung mit der dezidiert nicht kritisch-historischen MEW-Edition eine Art Korrektiv sucht, dem sei das historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus empfohlen. Unter Mitwirkung von mehr als 800 Wissenschaftlern und unter Federführung von Wolfgang Fritz Haug, Frigga Haug sowie Peter Jehle ist eine Edition mit 15 Bänden geplant, von denen seit 1994 leider noch nicht einmal die Hälfte erschienen ist (Stand: Ende 2006). Die Edition erscheint als Veröffentlichung des Berliner Instituts für kritische Theorie (InkriT) in Kooperation mit der Freien Universität Berlin und der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik. Letzter Hinweis: Sollte der Impuls bestehen, sich intensiver mit dem Werk von Marx zu beschäftigen, dann empfiehlt sich weiterhin das Aufsuchen oder gar Gründen eines Marx-Lektürekurses - dies sei nicht aus Sentimentalität ob der langen Tradition von zumeist autonom organisierten »Kapitalkursen« an soziologischen und anderen Instituten gesagt, sondern aus der einfachen Erfahrung heraus, dass der artikulierte Widerspruch im Deutungsdisput immer noch als eine der reichhaltigsten Quellen für Erkenntnis und Verstehen (im Sinne Luhmanns) anzusehen ist. Eine letzte Bemerkung sei erlaubt: Auch wenn dem computersozialisierten Leser mittlerweile eine Haltung eigen ist, Dinge, die älter als fünf Jahre sind (etwa Betriebssysteme), als veraltet einzuordnen, bitte ich dennoch, diese Haltung zu deaktivieren oder ihr zumindest mit Vorsicht zu folgen, wenn es um zitierte Bücher geht, die älteren Datums sind. 1.2.5 Was im Buch nicht berücksichtigt wurde, aber gleichsam wichtig ist In aufzählender Erwähnung sollen abschließend einige Begrifflichkeiten und Themen genannt sein, die in dieser Einführung keinen Platz gefunden haben. Die auch nur sporadische Aufzählung kann zumindest einen Eindruck vermitteln, wie umfangreich die Rezeptions- und Forschungsgeschichte betreffs Marx und Marxismus ist. Für die folgende Punkte und Bereiche wäre eine weitere Beschäftigung sinnreich und wünschenswert: a) Das von Feuerbach ausgehende Menschenbild Marxens sowie seine grundlegenden Ausführungen zur Anthropologie, die in Ansätzen schon historisch-anthropologisch waren; b) die weitläufigen Verzahnungen der Marxschen Theorie mit dem sogenannten Deutschen Idealismus und einer philosophischen Romantik; c) eine umfassende Problematisierung des Theorems der ? ursprünglichen Akkumulation entlang der Frage, ob es sich dabei um ein historisches oder ein 1.2. Zum Buch und seinen Absichten 27 <?page no="27"?> strukturelles Moment des Kapitalismus handelt; d) die Thematisierung des Verhältnisses zwischen den sogenannte Frühschriften und dem Spätwerk von Marx; damit einhergehend e) eine kritische Analyse der Bedeutungsgehalte des ? Entfremdungs- und des Verdinglichungsbegriffs bei Marx; f ) Marxens Naturverständnis und darauf aufbauend sein Verständnis der Naturwissenschaften innerhalb der Herausbildung des Wissenschaftssystems sowie g) eine ausführliche Rekonstruktion der Beziehung zwischen Geschichte und Natur im Marxschen Werk resp. im Historischen Materialismus. Weiterhin sind anzuführen h) das Verhältnis zwischen marxistischer Heils- und Erlösungsphilosophie und christlicher Eschatologie (also die Lehre von den letzten Dingen und der Erlösung); i) die genaue Rekonstruktion der erkenntnistheoretischen Prämissen des wissenschaftlichen Sozialismus sowie eine ausführliche Darstellung der »Methode« ? Dialektik; j) eine wissenschaftstheoretische Kritik des Verhältnisses zwischen logischer und historischer Argumentationsstrategie innerhalb Marxscher und marxistischer Darstellungen; damit verbunden k) eine genaue Untersuchung der entscheidenden Unterschiede zwischen den Auswirkungen einer »nur« industriell verstandenen und einer industriekapitalistisch verstandenen Ummodelung der europäischen Gesellschaften; l) die Problematisierung des marxistischen Glaubens an Fortschritt (historisch, technisch, sozial); m) die bürgerlich-rationalistischen Momente und Elemente in der Marxschen Gesellschaftstheorie; n) eine kritische Problematisierung der Beziehungen zwischen den Begriffen ? Klasse, Proletariat und Volk; o) eine historische Rekonstruktion des Arbeiterbewegungs-Marxismus sowie eine wissenssoziologische Analyse des Verhältnisses zwischen dem Politiker und dem Theoretiker Marx und p) Marxens zeitgeschichtliche und zeitdiagnostische Aufsätze und Artikel zu den USA, zu Indien und zu Russland; Fortzusetzen ist mit q) das Verhältnis des Marxismus zum Körperresp. Leibbegriff, wie er im 20. Jahrhundert entwickelt wurde; r) das Verhältnis zwischen der marxistischen Erkenntnis objektiv-wirksamer Gesetze und den Bedingungen einer normativen Ethik; s) das Verhältnis zwischen Liberalismus und Sozialismus; sowie t) das Verhältnis zwischen Marxismus und Psychoanalyse unter besonderer Berücksichtigung der kritischen Theorie; ebenso u) das sehr weitläufige Verhältnis zwischen Marxismus und der philosophischen Kritik der Postmoderne (etwa zentral die Kritik Lyotards); v) eine kritische Rekonstruktion der pragmatischen und positivistischen Anteile innerhalb der Marxschen und marxistischen Theoriearchitektur; w) die Beziehung marxistischer Gesellschaftstheorie zum Feminismus resp. die Stellung des Marxismus zum Begriff des Patriarchats und zur geschlechtlichen Arbeitsteilung; x) die Rekonstruktion einer marxistischen Staatstheorie res. politischen Theorie; y) das Verhältnis der Marxschen und marxisti- 1. Eintritt 28 <?page no="28"?> schen Theorie zum Recht, zur Rechtsstaatlichkeit und zur institutionellen Demokratie; sowie abschließend z) das Verhältnis zwischen Marx, Marxismus und Marxismus-Leninismus. Die Liste ist ohne Probleme erweiterbar. Entscheidend für die weitere Beschäftigung mit dem Marxschen Werk und dem Marxismus, besser: den Marxismen wird sein, sich darüber Klarheit zu verschaffen, ob man dem Werk historisch-philologisch begegnen möchte, also aus der Haltung heraus, Marxens Aussagen innerhalb einer abgeschlossenen historischen Epoche zu verorten, oder ob man dem Interesse an der Aktualisierung bzw. Aktualisierbarkeit der Marxschen Aussagen folgen möchte. Letzteres ist das anspruchsvollere, das spannendere Erkenntnisinteresse - aber zugleich auch das (im besten Sinne des Wortes) enttäuschendere; und damit vielleicht hilfreich für das, was man früher einmal »Selbsterkenntnis« resp. »Selbstverständigung« zu nennen pflegte. 1.3. Short cut: Eine kulturistische Sichtweise des Marx’schen Theorieunternehmens 1.3.1 Die Engführung Bevor es mit Kapitel zwei und drei, also mit der Biographie und der Begriffserklärung und Begriffsabgrenzung, weitergeht, sei in Gestalt eines short cut angedeutet, wie man Marx’ Theorieunternehmen aufschließbar (nicht: anschließbar! ) machen könnte für die gegenwärtig vorherrschende Paradigmatik akademischer Sozialwissenschaft, die, nicht ganz unumstritten, zumindest im Begriff der Kultur* (aber noch nicht in den kulturellen Realitäten) ihr »ureigenstes« Feld der wissenschaftlichen Analyse gefunden zu haben glaubt. * Der Begriff »Kultur« steht seit dem Auslaufen der postmodernen Philosophie Ende der 1980er Jahre für ein Abziehen der Aufmerksamkeit von gesellschaftlichen Prozessen, die sich durch Rationalität, durch sozialtechnologische und kommunikativ-demokratische Interventionsfähigkeit sowie Transparenz auszeichnen, und für eine Hinwendung der Aufmerksamkeit zu gesellschaftlichen Prozessen, die nicht mehr in genuin sozialen Begriffen, nicht mehr mit klaren und kurzen Zeitspannen, nicht mehr allein im Radius rationaler Prozessanalytik wissenschaftlich eingefangen werden können. »Kultur« als Begriff hat gegenwärtig Platzhalterfunktion im Sinne einer möglichen Erklärungskraft für Phänomene, die mit anderen, bis- 1.3. Short cut: Eine kulturistische Sichtweise des Marx’schen Theorieunternehmens 29 <?page no="29"?> her dafür benutzen Begriffen (etwa: Vernunft und Rationalität) nicht mehr so ohne Weiteres erklärt werden können; der Kulturbegriff steht zudem für die Einsicht einer nicht mehr kontrollierbaren Komplexität endmoderner Gesellschaften ein. Es gibt gegenwärtig nur wenige Versuche, Kultur mit dem gleichen Ernst zu entwerfen, wie es in der Moderne mit dem Begriff »Gesellschaft« passierte (siehe jedoch Weber 2006; vgl. Kap. 6.). Die gängigste Weise, einen Eingang für die Einführung in ein Werk zu bauen, ist die, dass ein bestimmtes theoretisches Interesse verfolgt wird. Dieses »Erkenntnisinteresse«, besser gesagt: »Darstellungsinteresse« versorgt die Darstellung mit einer mehr oder weniger zusammenhängenden, in sich stimmigen Interpretation bzw. Gewichtung der Bestandteile des Werkes. Das Interesse fungiert als Sonde oder als Lichtstrahl, der bestimmte Ideen, Theoreme und Aussagen mehr als andere ins Licht der Aufmerksamkeit stellt. Das zentrale, im letzten Kapitel zu entwerfende Darstellungsinteresse dieser Einführung ist, nun übertrieben gesagt, Marx und sein Werk als Kulturtheoretiker und Kulturtheorie avant la lettre zu interpretieren, als zu früh gestartete theoretische Konzeption des Tatbestandes, dass mit der zu Marxens Zeit schon beinahe 150 Jahre andauernden Industrialisierung (maßgebend Englands) sich zuerst die europäische Gesellschaft, die US-amerikanische und heute schließlich die säkularisierte Weltgesellschaft ihre eigene ? Kultur - Industriekultur und Kulturindustrie - geschaffen hat, ohne es recht zu wissen. 6 Denn entweder wurde in der angelsächsischen resp. in der US-amerikanischen Philosophie alles Fortschreiten der Gesellschaft, der Technik und der Kultur unter dem Aspekt der Zivilisation/ Zivilisierung eingeordnet (also eine Vernachlässigung von Kultur), oder man bemühte in der kontinentaleuropäischen Philosophie die strikte Trennung von Zivilisation und Kultur, wobei Kultur dann zumeist als künstlerische, als hohe Kultur, zumindest als geistige, innere, immaterielle, ideale Ebene menschlichen Daseins verstanden wurde (also eine Vernachlässigung ökonomisch-technischer Zivilisation). Fortgesetzt und zementiert hat sich diese zweigeteilte Tradition der Selbstbeschreibung dann im 19. Jahrhundert in der Unterscheidungseinheit Materialismus/ Idealismus, die fortan alle philosophischen und auch politischen Auseinandersetzungen darüber, was Mensch und Gesellschaft ist und soll, bestimmte. Das führte schließlich zu Auffassungen, die entweder das Menschliche, das Soziale und Gesellschaftliche strikt den damals vorherrschenden Denkanleitungsbegriffen namens Mechanik und Prozess unterordneten, oder die das Menschliche, das Soziale und Gesellschaftliche in einen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Arbeit und Handel strikt getrennten Bereich der Kulturproduktion verlegten. Hier tat sich besonders die Politische Romantik im politisch und wirtschaftlich rück- 1. Eintritt 30 <?page no="30"?> ständigen Deutschland hervor 7 - mit den schrecklichsten Konsequenzen im 20. Jahrhundert. Marx hatte nun, so die These, die Einsicht, dass sich sowohl die Vereinseitigung (Menschwerdung = Zivilisation) wie die Auftrennung des Menschen (Menschsein = hohe ? Kultur als Kompensation für die unmenschliche Arbeits-, Tausch- und Warengesellschaft) auflösen lassen in einem »gemeinsamen Dritten«, das man im Plural als historisch-gesellschaftliche Strukturprinzipien bezeichnen kann. Marx sah in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation eine Entwicklungsphase der Menschheit sich Bahn brechen, in der sowohl die Vereinseitigungen ( ? »Verdinglichung«, der Mensch als Anhängsel der Maschine) wie auch die Auftrennungen (»notwendig falsches Bewusstsein«, der Mensch als Opfer ideologischer Einbildungen) so forciert wie noch nie in der Menschheitsgeschichte sich Ausdruck und Wirklichkeit verschafften - aber zugleich sah er auch, dass damit kontrapunktierende, ja oppositionelle und widerstrebende Kräfte und Wirklichkeiten in den sozialen Wirklichkeitsraum der Menschen mit hineingespült wurden, um dort zum ersten Mal in der Geschichte die umfassenden Lebensverhältnisse vor Augen zu führen und ihnen eine Adresse bzw. soziale Position zu geben, die es bis dahin nicht gegeben hatte, nämlich die Adresse des vierten Standes, also der Mehrzahl der Menschen in der Gesellschaft. Sie waren es, die plötzlich nicht mehr nur Objekt und Opfer der Lebensumstände verkörperten, sondern nun Subjekt und Akteur der zukünftigen Lebensumstände werden konnten. Eine der berühmten Stellen aus dem kommunistischen Manifest macht dies deutlich: »Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.« (Marx, Manifest der kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, 465) Das war etwas, was bisher von religiös-ideologischen Kräften und Mächten immer verhindert worden war und zugleich, so Marx, nicht möglich war, weil sich aus den Millionen von Menschen des vierten Standes keine soziale ? Klasse herausgebildet hatte. Marxens Engagement für Letzteres ist daher der Grund, warum auch noch in der jüngsten Gegenwart Bewertungen von Marx und Engels wie die folgende möglich sind: 1.3. Short cut: Eine kulturistische Sichtweise des Marx’schen Theorieunternehmens 31 <?page no="31"?> »Das von Marx und Engels entwickelte Denken war eine geistige Revolution in der Philosophie, Politökonomie, Gesellschafts- und Geschichtstheorie. Da es die Einheit von Theorie und Praxis verfocht, auf Eingreifen in die Praxis abzielte und sich an jene soziale Bewegung wandte, die der industrielle Kapitalismus selbst hervorgebracht hatte, an die Arbeiterbewegung, nahm die Wirkung des Marxismus in dem Maße zu, in dem die [ ? ] Arbeiterklasse quantitativ wuchs und zum Bewußtsein ihrer eigenen Lage gelangte. Der Marxismus wurde zu einer Weltbewegung, die die Geschichte des späten 19. Jahrhunderts und das ganze 20. Jahrhundert tiefgehend, allumfassend prägte.« (Hautmann 2001, 3) Marx ging dreistufig vor: 1. Er entwickelte den Gedanken, dass der kapitalistische Durchsetzungsprozess mit naturgeschichtlicher Dynamik und Gewalt sich aller vergangenen Formen und Organisationen menschlichen Lebens und Produzierens bemächtigt und diese, wo er sie sich nicht einverleibt, so doch »verdampfen« lässt. Was sich in dieser Dynamik abspielt, ist ein Spiel der Naturgeschichte als Geschichte der Natur, also noch keine Geschichte des Sozialen! , ist ein Spiel, dem der Mensch nur anpassend, sich beugend beiwohnen kann. - Alles, was gesellschaftlich ? Wert, ? Gebrauchswert hat, hat diesen nur noch abhängig von der Fähigkeit, ? Tauschwert zu sein. 2. Marx legte zugleich größten Wert darauf, dass alle Vergegenständlichung, alle Warenwerdung sozialer Beziehungen undurchschaute, ja sogar notwendig undurchschaubare Widerspiegelungen der wirklichen Verhältnisse der Menschen sind. Sie stellen nichts anderes dar als uneigenständige Verkörperungen, als vergegenständlichte Einbildungen, also Materialisierungen ( ? »Verdinglichungen«) oder ? Fetischisierungen (»falsches Bewusstsein«/ ? Ideologie; vgl. Kap. 5) dessen, was in den Köpfen der Menschen wie in den wirklichen sozialen Beziehungen ( ? Klassenverhältnissen) vorhanden ist. Diese Materialisierungen, etwa das Konstrukt des Rechtssubjekts oder die ? Ideologie von der Herkunft des ? Mehrwerts, haben gemeinsam, dass sie zwar Wirklichkeit besitzen und wirklich wirken, aber nach Marx keine Wirklichkeit sind. Die mögliche Einsicht in die Anatomie der kapitalistischen Gesellschaft spaltet sich in eine verdinglichende und in eine idealisierende Projektion: Sachverhältnisse werden zu sozialen, Sozialverhältnisse werden zu sachlichen.* - Der ? Tauschwert ist zum letzten, abstraktesten ? Gebrauchswert geworden (vgl. Kap. 4). 1. Eintritt 32 <?page no="32"?> *Dies ist einer der komplexesten Thesen von Marx - und wird im Laufe der Arbeit schrittweise Erläuterung erfahren. Hier sei nur so viel zu dieser Verwechslung von Sozial- und Sachverhältnissen erwähnt: dass ebendiese Verwechslung psychisch wohl jeder schon erfahren konnte durch das evidente Gefühl, dass man lebt, um zu arbeiten, und nicht arbeitet, um zu leben; oder durch das evidente Gefühl, getäuscht und funktional missbraucht worden zu sein, weil es um eine bestimmte Leistung, nicht aber um Freundschaft oder gar Liebe ging. Nach Marx stellt die Verwechslung von Sozial- und Sachverhältnissen im Kapitalismus diesen funktionalen Missbrauch auf Dauer: die Verwechslung wird zur Struktur. 3. Drittens schließlich entwarf Marx einen Standpunkt, der die Ohnmacht des Menschen gegenüber dem System, die »theologischen Mucken« 8 der Waren und die ? Fetischisierung der gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen in einer aufhebbaren Ebene, gemeinhin: in einer aufhebenden Revolution, verortete. Diese Ebene ist die Schnittmenge, in der sich Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte antagonistisch zueinander verhalten und permanent reiben (»Krise«), ist die Schnittmenge, in der Psychostruktur, Gesellschaftsstruktur und Organisationsstruktur sich von ihren versteinernden Formen befreien können und damit das Individuum in die Lage versetzen, als Gattungswesen in wirklicher Freiheit soziale Beziehungen einzugehen. - Der ? Tauschwert als Negation des ? Gebrauchswerts wird also selbst negiert und entlässt eine menschliche Gesellschaft, die endlich anfangen kann, geschichtlich zu werden. Die Geschichtlichkeit menschlicher Gesellschaft, von Menschheit beginnt, wenn die soziale Organisation der Menschen dazu führt, dass Handlungen, Taten, Entscheidungen der Menschen nicht mehr durch Unterdrückung, durch unnötiges Leid, durch Herrschaft erklärt werden können, sondern durch die Freiheit zur Entfaltung, durch die wirkliche Arbeit der Mensch-Werdung des Menschen, der erst am Anfang seines Mensch-Seins steht. Marx’ Werk stand, so die hier verfolgte Interpretation, genau auf der historischen Achse, an der die Erfindungen, Handlungen, Unternehmungen und Ideen des 17. und 18. Jahrhunderts in die Phase der Einlösung, der Umsetzung, der Realisierung und Mobilisierung des 19. und 20. Jahrhunderts mündeten. Erst die Geschichte der Industrie als Epoche der Menschheit gibt nach Marx die Schlüssel an die Hand, um das Gesellschaftswesen namens Menschheit aufzuschließen. »Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagne Buch der menschlichen Wesenskräfte, die sinnlich vorliegende menschliche Psychologie ist, die bisher nicht in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, sondern immer nur in 1.3. Short cut: Eine kulturistische Sichtweise des Marx’schen Theorieunternehmens 33 <?page no="33"?> einer äußern Nützlichkeitsbeziehung gefaßt wurde, weil man - innerhalb der [ ? ] Entfremdung sich bewegend - nur das allgemeine Dasein des Menschen, die Religion, oder die Geschichte in ihrem abstrakt-allgemeinen Wesen, als Politik, Kunst, Literatur etc., als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte und als menschliche Gattungsakte zu fassen wusste.« (Marx, Ökonomischphilosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW, Bd. 40, 542) Die Vorstellung, dass diese extrem komplexe Veranstaltung namens kapitalistische Industrialisierung, Modernisierung, Vergesellschaftung 9 nach einer bestimmten Reife- und Widerspruchsperiode abgeschlossen werden könne, und zwar kontrolliert durch das Proletariat (plus politischer Avantgarde), sieht Günter Schulte als das Zentrum einer »proletarischen Vernunft« an, die scheitern musste ob ihres »Kontrollierbarkeitswahns« (Schulte 1992), wie er in der folgenden Aussage ex negativo zum Ausdruck kommt: »Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung […]«. (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 33) Angesichts der absoluten Vergeblichkeit des Glaubens, man könne, historisch abgesegnet, mit einem Plan die vernünftige Organisation von und Kontrollierbarkeit der Gesellschaft vorantreiben, sehen andere, wie Wolfgang Kaempfer, gar Marx’ Anstrengungen und die des Klassenkampfmarxismus schon in ihren Anfängen als nur therapeutische Aktivitäten an, also als säkularisierte Tröstungen angesichts der Vergeblichkeit von Glück auf Erden (Kaempfer 2005). Folgte man Letzterem, dann müsste man folgende Beschreibung als Beschreibung einer grundlegenden Illusion, eines Traumes verstehen: »Einigen Arbeitergenerationen war Marx Symbol ihrer Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben, wie wir heute sagen: ein Leben ohne Not und Angst. […] Marx’ Lehren festigten ihr Klassenbewußtsein, inspirierten sie in ihrem Streben nach politischen und wirtschaftlichen Rechten und richteten ihre Gedanken auf hohe Menschheitsziele. Für die [ ? ] Arbeiterklasse der ganzen zivilisierten Welt verkörperte die auf seinen Lehren ruhende Bewegung das größte Kulturgut; in ihr erkämpften sie ihren Platz in der Gesellschaft« (Blumenberg 1962, 155, kursiv B. T.). Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass ein durch die Industrialisierung herausgebildeter und zu sich findender vierter Stand sich anschickte, gleichsam wie die anderen Stände und später dann Schichten zur gesellschaftlichen Kultur gehören zu wollen (Claessens/ Claessens 1979)? Weiter oben wurde argumentiert, dass die Erfindungen, Handlungen, Unternehmungen und Ideen des 17. und 18. Jahrhunderts in die Phase der Einlösung, 1. Eintritt 34 <?page no="34"?> der Realisierung und Mobilisierung des 19. und 20. Jahrhunderts mündeten. Doch bei diesen Realisierungen als Effekte einer bürgerlichen »Erfolgsgeschichte«, nämlich die Ablösung des Adels als bestimmende ? »Klasse« der gesamten Bevölkerung, wiederholten sich in komplizierter und auch ausgreifender Weise gesellschaftliche Ausgrenzung und Abgrenzung, also dasjenige, was das Bürgertum selbst zuerst erfahren hatte; jetzt waren es die proletarischen Massen, war es das Proletariat, das sich in einer Situation der Ungerechtigkeit, der Benachteiligung, der Verhinderung und der Rechtlosigkeit wiederfand wie vormals die »bürgerlichen Eigentümer« (bourgois, Fabrikanten, Großhändler) und die Eigentum besitzenden Bürger (citoyen, Aktienbesitzer, hohe Beamte, Advokaten) zur Zeit des historisch überfällig werdenden Feudalismus. Nicht umsonst übernimmt Marx den Begriff der Klasse von den bürgerlichen französischen Historikern der Restaurationszeit nach 1815, die mit ebendiesem Begriff die Auseinandersetzungen zwischen dem Feudalsystem und der heraufziehenden Bourgeoisie zentral zu bestimmen suchten. Marx übernimmt den Klassenbegriff also für die Auseinandersetzung zwischen Bourgeoisie-Klasse und Arbeiter-Klasse (Hautmann 2001, 33); doch nun war die »ideologische« Ausgangslage eine völlig andere, denn das Bürgertum kämpfte gegen den feudalen Adel mit der grundlegenden Auffassung, dass alle Menschen gleich sind. Dieser Anspruch, dass prinzipiell Gleichheit zwischen den Menschen herrscht und also niemand ein Privileg qua Geburt, Herkunft, Geschlecht für sich reklamieren kann, sondern allenfalls durch Leistung - dieser Anspruch also galt dann natürlich auch für all die nichtadligen Nichtbesitzenden, also für den vierten Stand. Die besitzenden Nichtadligen (Bürger) sprachen in ihrem Kampf gegen den Adel prinzipiell-philosophisch auch für die besitzlosen Lohnarbeiter, Bauern, für das Gesinde, die Dienstboten etc., auch wenn sie es nicht so meinten und wollten. Sie befanden sich schließlich in einer ideologischen Zwickmühle. Gelöst wurde diese Situation, in der de jure für alle Freiheit und Gleichheit proklamiert wurde, aber de facto wieder einige freier und gleicher zu sein hatten, durch den liberalen Besitzindividualismus (Locke 1977; Macpherson 1973). Dieser verquickte die Freiheit einer Person mit der unbeschränkten Verfügung über sich selbst als sein eigener Eigentümer und zudem mit der Unabhängigkeit einer Person vom Willen anderer Personen. Bei dieser hier nur anzureißenden komplizierten Operation wurden all diejenigen aus dem Anspruchsbereich auf Freiheit eskamotiert, d. h. »weggezaubert«, die ihre Verfügung über die eigene Person als Eigentum durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft anderen überlassen mussten. Claessens und Claessens (1979, 82 f.) fassen diesen »Gründungsakt« der liberalen Sozialtheorie, der bereits im 17. Jahrhundert stattfand, so zusammen: 1.3. Short cut: Eine kulturistische Sichtweise des Marx’schen Theorieunternehmens 35 <?page no="35"?> »Jeder ist ›von Natur aus‹ Eigentümer seiner eigenen Person. So, wie er sich nicht selbst schädigen darf, so muß er auch Angriffe auf seine eigene Person abwehren. Als Eigentümer seiner eigenen Person ist der Mensch grundsätzlich auch Eigentümer seiner Fähigkeiten. Diese können nur durch Tätigsein verwirklicht werden. Selbstverständlich ist das Anrecht auf eigene Fähigkeiten nur dann zu verwirklichen, wenn jemand auch über seine eigene Arbeitskraft verfügen kann. Hat er diese Verfügung durch Unterwerfung oder durch Eingehen eines Vertrages (Lohnarbeitsvertrag) verloren, so hat er sozusagen eine freiwillig eingeschränkte Freiheit: das zu tun, was er durch den Vertrag auf sich genommen hat. Er scheidet aus den weiteren Überlegungen aus. Z. B. haben sich Bedienstete der Verfügung und Bestimmung über ihre Arbeitskraft durch das Eingehen eines Dienstvertrages entäußert. Für sie gelten weitere Freiheitsüberlegungen nicht mehr. Diese Bestimmung von ›Freiheit‹ verlegt das Gewicht ganz und gar in den Begriff der Unabhängigkeit.« Die liberale Argumentation, die, wie gesagt, viel verzwickter sich entfaltet denn hier kurz angerissen, führt also zu Beginn einen Freiheitsbegriff ein, der die Entfaltung der Freiheit des einzelnen Individuums mit der Notwendigkeit einer materiellen Grundlage für ebendiese Entfaltung verbindet. Diese Grundlage ist Eigentum. Freiheit der Person schließt damit das Eigentum an Sachen und weiteren Welttatbeständen mit ein - zuerst noch hinreichend, dann, im 18. Jahrhundert, hinreichend und notwendig. »Eigentumslose können wegen mangelnder materieller Basis ihre Fähigkeiten nicht entfalten; Freiheit ist für sie nutzlos: Sie müssen ihre Arbeitskraft doch an andere verkaufen, sie müssen ›sich verdingen‹. Verkaufte Arbeitskraft […] wird aber zum Eigentum des Käufers, der nun berechtigt ist, sich das Produkt dieser Arbeit anzueignen! « (Claessens/ Claessens 1979, 83) Der praktizierte Kapitalismus war also mit der ideologischen Legitimation einer inneren Auftrennung des prinzipiell universellen Freiheitsbegriffs in eine Freiheit erster und zweiter Klasse ausgestattet. Zudem befand er sich gesellschaftsstrukturell in einer historischen Phase, in der die »Logiken« kapitalistischer Produktion, kapitalistischer Zirkulation und naturwissenschaftlicher Verfahrensweisen und Techniken sich richtiggehend verzahnten und »explodierten« (Ullrich 1979, 49-150). So konnte er starten und in einer bis heute anhaltenden Mobilisierung immer dynamischer werden. Was nicht dynamisiert wurde, das war die Position der Arbeitskraftverkäufer in dieser neuen Gesellschaftsformation, die den »Markt« als Ort gesellschaftlichen Synthesis 10 auserkor sowie das Geld als dasjenige Medium, das von nun an das »soziale Band« zu stiften hatte. Dazu abschließend nochmals Claessens und Claessens (1979, 88): 1. Eintritt 36 <?page no="36"?> »Die neu gewonnene Freiheit zum ›Handeln‹ (in beiderlei Sinn! ) verdeckte dabei zunächst, daß der zum neuen Organisationsprinzip der Gesellschaft erhobene Marktmechanismus, d. h. der Markt des Angebots und der Nachfrage nach ›Waren‹, auch der ›Ware‹ ›menschliche Arbeitskraft‹, die Gesellschaft zwar aus ihrer Standesverfassung herausriß (Adel und ›Bürger‹ als Stände gesehen), aber gleichzeitig das Tor für die Besitzlosen zuschlug. Denn diesem Marktmechanismus entsprach jenes Eigentum an Produktionsmitteln, das die an diesen Produktionsmitteln Arbeitenden von der Verfügung über das Erarbeitete ausschloß. Daher das marxsche Wort von der gesellschaftlichen Produktion bei privater Aneignung. […] Von einer Kultur mit zwei Kulturen in sich (der feudal-adeligen und der stadtbürgerlichen) schwenkte die Bewegung zu einer zweiten Art von Kultur mit zwei Kulturen in sich um: der bürgerlich-kapitalistischen und der ›proletarischen‹.« Marx war nun davon überzeugt, dass diese proletarische Kultur, dass das Proletariat in der bürgerlich-kapitalistisch werdenden Gesamtstruktur der europäischen Gesellschaften keine angemessene Position wird finden können - es sei denn, man vertrat die Ansicht, dass der Kapitalismus nicht an einer prinzipiellen Krisenhaftigkeit leidet und nicht daran zugrunde gehen wird und also reformerische Verbesserungen in den vertraglich geregelten Ausbeutungsverhältnissen das Maximum an Forderung sein sollte, wenn man sich der Lage der ? »arbeitenden Klasse« zuwendet (Sozialdemokratie, vor allem in der Fassung des Revisionismus von Eduard Bernstein). Kurzum: Marx sah deutlich den selbstgemachten Widerspruch der bürgerlich-kapitalistischen Revolution (Englands und dann vor allem Frankreichs): Die Bürger kämpften gegen den Adel, gegen ihre Ausschließung und Bevormundung mit den Parolen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit; doch als sie die Macht endlich errungen hatten, benahmen sie sich gegenüber dem Proletariat so, wie sich der Adel gegenüber den Bürgern, Kaufleuten und städtischen Handwerkern benommen hatte. Doch das ist nur die eine Seite des bürgerlichen Mangels/ Makels, die formal-gesellschaftliche Seite, die die immer größer werdende Bevölkerungsgruppe in einer Gesellschaft zu spüren bekam. Die andere Seite, die material-kulturelle, betraf nun »die« Gesellschaft in Gänze - und betrifft sie noch heute. Denn: »Die Stärke des kapitalistischen Systems lag in seiner Fähigkeit, Altes niederzureißen«, schreiben Dieter und Karin Claessens. Doch seine »Schwäche bestand darin, neben dem Aufbau eines riesenhaften maschinentechnischen ›Verwertungssystems‹ keine eigenen neuen ›Institutionen‹ aufbauen zu können« (Claessens/ Claessens 1979, 140). Marx war überzeugt, dass das Abschütteln des Feudalismus durch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung nur die halbe Wegstrecke war hin zu 1.3. Short cut: Eine kulturistische Sichtweise des Marx’schen Theorieunternehmens 37 <?page no="37"?> dem, was er die Emanzipation des Menschengeschlechts nannte. Abgeschlossen werden konnte dieser anhaltende historische Prozess der Mündigkeit und Gerechtigkeit des Menschen nur durch die Fortsetzung der bürgerlichen Anfänge von Revolution - abgeschlossen werden konnte dieser Prozess der historischen Mobilisierung also nur durch eine erneute Revolution durch das Proletariat. Erst dann - nach dem notwendigen »Niederreißen« alter Ordnungen, Mentalitäten und Herrschaftsweisen und nach dem Installieren eines »Marktes« als denjenigen gesellschaftlichen Ort, wo Menschen sich in unpersönlichen, anonymen, aber »freien« Beziehungen begegnen -, wäre die Gesellschaft soweit, eigene Institutionen aufzubauen, ? Kultur, Gesellschaftskultur zu bilden, die wirklich menschlich (und das hieß für Marx: proletarisch) genannt werden könnte 11 - eine Gesellschaftskultur, in der jegliche Form der Herrschaft von Menschen über Menschen nicht mehr konstitutiv, nicht mehr Basis für die Bildung von Gesellschaft wäre. Marx sieht also in der Fähigkeit und Notwendigkeit des Kapitalismus, alles an alter, ständischer Gesellschaft niederzureißen, Traditionen zu zertrümmern und generell Vergangenheit zu tilgen - dies sei die historische Mission des Kapitalismus, so Marx -, den dialektischen Ausgangspunkt für das Schaffen einer neuen, einer sozialen, einer dann wirklich freien, gleichen und gerechten Gesellschaft, die er sich final als kommunistische und für die Übergangszeit als sozialistische Gesellschaft dachte - dachte, aber nicht entwarf. 12 Und damit sah er, dass die moderne, sich im historisch letzten Klassenkampf befindende Gesellschaft* vor der Notwendigkeit stand, neben der neuen Produktionsweise von Gütern, neben der völlig neuen Produktion von Produktionstechniken, neben der völlig neuen Zirkulationsweise der Güter und Gebrauchswaren, neben der völlig neuen Produktion sozialer Ordnung(en) nun auch eine neue Produktion von ? Kultur, von eigener Kultur zu entwickeln. * Nach Marx ist die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen. Im Wortlaut: »[D]aß in jeder geschichtlichen Epoche die vorherrschende wirtschaftliche Produktions- und Austauschweise und die aus ihr mit Notwendigkeit folgende gesellschaftliche Gliederung die Grundlage bildet, auf der die politische und die intellektuelle Geschichte dieser Epoche sich aufbaut und aus der allein sie erklärt werden kann; daß demgemäß die ganze Geschichte der Menschheit (seit Aufhebung der primitiven Gentilordnung mit ihrem Gemeinbesitz an Grund und Boden) eine Geschichte von Klassenkämpfen gewesen ist. Kämpfen zwischen ausbeutenden und ausgebeuteten, herrschenden und unterdrückten [ ? ] Klassen; daß die Geschichte dieser Klassenkämpfe eine Entwicklungsreihe darstellt, in der gegenwärtig eine Stufe erreicht ist, wo die ausgebeutete und unterdrückte Klasse - das Proletariat - ihre Befreiung vom Joch der ausbeutenden und herrschenden Klasse - der Bourgeoisie - nicht erreichen kann, ohne zugleich die ganze Gesellschaft ein für allemal von aller Ausbeutung 1. Eintritt 38 <?page no="38"?> und Unterdrückung, von allen Klassenunterschieden und Klassenkämpfen zu befreien.« (Marx, Manifest der kommunistischen Partei. Vorrede zur englischen Ausgabe 1888, MEW, Bd. 21, 357) Auch mit dieser Sicht vertritt Marx im Grunde nichts absolut Neues. Er ist damit vielmehr in das einzubetten, was Philosophien der Neuzeit und der Aufklärung immer wieder betonten, nämlich: dass eine Orientierung durch Vergangenheit und an Vergangenheit sowie an fremden Autoritäten dem aufgeklärten Menschen nicht mehr zukommt. Hans Blumenberg hat in seinem Buch Die Legitimität der Neuzeit (erneuerte Ausg. 1996) darauf hingewiesen, dass Philosophen der Aufklärung ein zentrales Moment beim Hinausgehen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit (Kant) darin sahen, die Aufklärung als sich selbst legitimierend zu beschreiben, also als neue Welt-, Menschen-, Natur- und Sozialauffassung, die sich aus sich selbst heraus geltend machen könne und nicht erst durch Autoritäten wie Gott und Natur der Ermächtigung und Erlaubnis bedürfe - dies die Grundlage der Subjektphilosophie. So wie die Aufklärungsphilosophie geistesgeschichtlich in der menschlichen Vernunft und im transzendentalen Subjekt 13 die Quelle der Legitimation des eigenen neuen Tuns, Denkens und Moralisierens sah, so sah Marx sozialgeschichtlich in der möglichen Heraufkunft einer befreiten, kommunistischen Organisation von Gesellschaft und in der Subjektwerdung des Proletariats die Quelle der Legitimation, um in Gänze mit der »Vorgeschichte der Menschheit« (das ist also der Feudalismus und der Kapitalismus) zu brechen und eine neue Kultur der Organisation von Gesellschaft zu behaupten. 1.3.2 Utopielose Gegenwart mit Kulturauftrag Mittlerweile wissen wir Heutigen (oder meinen zu wissen), dass der dialektische (und nicht nur katastrophische) Umschlagpunkt (vulgo: Revolution), ab dem eine kommunistische Gesellschaftsorganisation diejenigen Früchte pflanzen und ernten könnte, die der Kapitalismus als historische Umwälzungskraft überhaupt erst ermöglichte, in weite Ferne gerückt bzw. verloren gegangen ist - unabhängig von der Art und Weise, wie man den real existierenden Sozialismus resp. Kommunismus einordnet und bewertet. Unabhängig deswegen, weil die Vorstellung, man könne über eine planende Vernunft in direkter Steuerung quasi am grünen Tisch eine ganze Gesellschaft einrichten, aufbauen, planen - und das ist ja, als Vorhaben, tatsächlich 1917 in Russland passiert (Klein 1992) -, eine Vorstellung ist, die der 1.3. Short cut: Eine kulturistische Sichtweise des Marx’schen Theorieunternehmens 39 <?page no="39"?> gegenwärtigen Einsicht in die Kompliziertheit von Gesellschaft nicht gerecht zu werden vermag.* * Das war auch schon Marx klar, bezogen auf seine Zeit. Im Buch Deutsche Ideologie schreibt er: »Was übrigens die Systeme selbst angeht, so sind diese fast alle im Anfange der kommunistischen Bewegung aufgekommen und dienten damals der Propaganda als Volksromane, die dem noch unentwickelten Bewußtsein der sich eben in Bewegung setzenden Proletarier vollkommen entsprachen.[…] Diese Systeme verlieren bei der Entwicklung der Partei alle Bedeutung und werden höchstens nominell als Stichwörter beibehalten. […] Der eigentliche Inhalt aller epochemachenden Systeme sind die Bedürfnisse der Zeit, in der sie entstanden. Jedem derselben liegt die ganze vorhergegangne Entwicklung einer Nation, die geschichtliche Gestaltung der Klassenverhältnisse mit ihren politischen, moralischen, philosophischen und andern Konsequenzen zugrunde.« (Marx, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 448 f.) Leider verlor der »Systemgedanke« bei der Entwicklung der Kommunistischen Parteien nicht »alle Bedeutung«; im Gegenteil. - Zudem ist die Frage Legende, was Marx zur russischen Revolution gesagt hätte; zumindest ist sicher, dass er sie politökonomisch keinesfalls gutgeheißen hätte. Seit dem Abdanken der UdSSR, also spätestens seit dem Scheitern eines Unionsvertrages im August 1991, mit dem Gorbatschow die UdSSR als Einheit retten wollte, vergrößert sich aber zugleich auch die Einsicht in die zunehmende Haltlosigkeit und Unfähigkeit der sogenannten indirekten Steuerung (invisible hand; Adam Smith), die die kapitalistischen Produktionsregimes des Westens auszeichnet (siehe Hardt/ Negri 2002, 2004; Kaempfer 2005; Ziegler 2005, Kurz 1991). Die historische Erfahrung, dass der Versuch gescheitert ist, politisch-ideologisch den ? »Wert« in der Gesellschaft zu bestimmen und zudem die Ökonomie als Befehlsempfänger der politisch-sozialen ? Klasse zu positionieren - diese historische Erfahrung wird gegenwärtig ergänzt durch anklagende und warnende Beschreibungen des kapitalistischen Westens. Dieser sei gleichsam gescheitert bzw. werde bald scheitern mit seinem Versuch, den »Wert« von Sachen, Handlungen, Gütern, Leistungen und schließlich Menschen rein marktökonomisch bestimmen zu wollen, und sein Bestreben, die soziale Gesellschaft inklusive der politisch-sozialen Klasse als Befehlsempfänger der Marktgesellschaften (»Globalisierung«) zu positionieren, werde ebenfalls fehlschlagen. Was also bleibt von Marx, wenn seiner Revolutionstheorie inklusive der »Diktatur des Proletariats« nicht gefolgt werden kann? ; wenn seine objektive Wertlehre (Arbeitswertlehre) zur Bestimmung der Quelle des ? Mehrwerts auch nach über 100 Jahren mehr als umstritten ist? ; wenn seine Vorstellung, dass das verelendete Proletariat zu einem Bewusstsein als ? »Klasse für sich« kommen werde, aufs Schändlichste widerlegt wurde? ; wenn seine Vorstellung über die relative Neutralität der Produktivkräfte (vor allem Technologie und Wissenschaft), die, endlich 1. Eintritt 40 <?page no="40"?> von kapitalistischen Fesseln befreit, noch mehr wachsen und dann »alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen« lassen (Marx, MEW, Bd. 19, 21) - wenn also diese Vorstellung sich heute als sozialökologisch naiv herausstellt? ; wenn sein zentrales ? Fetisch-Konzept zur Erfassung von Ware und Warenproduktion einer weitgehenden Kritik ausgesetzt ist (Böhme 2006, 307 ff.)? ; wenn schließlich die Erkenntnisse der Psychoanalyse (nicht nur) Freuds sowie eine von Marx nicht bedachte Soziologie des Leibes, des Körpers und auch der Imagination, wie sie im 20. Jahrhundert zur Blüte kamen, mehr als nur revidierende Größen für sein Werk darstellen? Es bleibt sein sozialkonstruktivistischer Ansatz, seine theoretisch weiterhin grundlegende Historisierung und Soziologisierung all dessen, was sich im Geltungsbereich von Gesellschaft abspielt. Diese Leistung, die als ein wesentliches Fundament der sich entwickelnden Sozialwissenschaften auszumachen ist, wird auch von dezidiert unmarxistischen Soziologen, wie etwa Luhmann, weithin anerkannt. 14 Sich Marxens Grundlegung der Einsicht, dass es soziale, politische und ökonomische Dimensionen sind, in denen Menschen ihre Welt machen, in Erinnerung zu rufen, ist umso wichtiger, als sich in den politischen und wissenschaftlichen Diskursen der letzten 15 Jahre folgende zwei Tendenzen immer stärker bemerkbar gemacht haben: 1. Die Auseinandersetzung über politische und soziale Systeme ist der Debatte um Ökologie, Religion, Nationalismus sowie um individuelle und kulturelle Identität (Touraine 1990) gewichen. 2. Das kulturelle Modell, d. h. das Bild, das sich die Gesellschaft von ihrer Fähigkeit macht, auf sich selbst einzuwirken, wird immer weniger in genuin sozialen Termini angefertigt (dafür immer mehr in ethnischen, naturalisierenden, soziobiologisierenden, rassischen Begriffen). Marxens Theoreme können demgegenüber für die Einsicht in Anschlag gebracht werden, dass es unausweichlich ist, dass das kulturelle Modell im wirklichen Tun, Denken und in den wirklichen sozialen Beziehungen der Menschen entsteht - und also prinzipiell offen ist. Man kann für die Beschäftigung mit Marx folgende wesentliche These festhalten: Mit seiner Gesellschaftstheorie und seinem Verständnis dessen, was soziale Beziehungen genannt wird, ist ein elementarer Baustein zuhanden, um das, was sich in einer historischen Gegenwart ergibt, nicht vorschnell mit substanzialistischer, »wesenhafter« Bedeutung und Gewichtung zu verquicken. Mit Marx kann der Gedanke gedacht werden, dass es Menschen auch unter »unmenschlichen« Bedingungen gegeben ist, sich so zu organisieren, dass strukturell ihre offene Konstitution politisch und soziologisch angesprochen werden kann. 15 Das heißt: Mit 1.3. Short cut: Eine kulturistische Sichtweise des Marx’schen Theorieunternehmens 41 <?page no="41"?> Marx besteht die Möglichkeit, weiterhin darauf zu bestehen, dass Offenheit, dass Kontingenz, dass Freiheit nicht als »Werte« zu betrachten sind, die den Menschen überfordern, ihn überwältigen, ihn leiden lassen - eine Perspektive, die vornehmlich in kulturpessimistischen konservativen Philosophien ausgearbeitet wurde -, sondern dass sie als Werte anzusehen sind, denen die Menschen sich als aktive Subjekte, als Akteure zu stellen haben. Es geht, mit einem Wort, um die Aufrechterhaltung der Notwendigkeit, offene soziale Beziehungen der Menschen zu organisieren, um dem Menschen entgegenzukommen 16 (also: nicht zu entsprechen! ). Mit Marx ist es möglich, von der prinzipiellen Organisierbarkeit offener sozialer Beziehungen auszugehen - und zugleich am Projekt festzuhalten, dass es bloß Hindernisse sind, die dies vereiteln. Doch damit wären wir wieder dort, wo Marx nicht mehr hinwollte: bei der Philosophie. Das Beschreibungsmodell, das in den Sozialwissenschaften gegenwärtig verstärkt herangezogen wird, um zu erklären, wie soziale Beziehungen organisiert werden, ist das der ? Kultur. Diesem Modell gesellt sich ein weiteres hinzu, das der Technik, besonders der Kommunikationstechnik. Man beginnt vorsichtig, die technische Wirklichkeit der Menschen und ihre kulturellen Aktivitäten als dasjenige anzusehen, was Menschen - wenn nicht grundlegend bildet, so doch zumindest formt. Was einer Subjektphilosophie oder einer Bewusstseinsphilosophie nur randständig zur Bestimmung des Menschen, des Individuums galt, wird damit stärker gewichtet. Zugleich wird eine hegemoniale Gleichung innerhalb der Sozialwissenschaften langsam schwächer, nach der die Differenzierung der Technik kausal zu einer Entdifferenzierung der ? Kultur führt (Weingart in Joerges 1988), nach der also kulturelle Vermögen des Empfindens, des Erzählens, des Interpretierens, des »Gesellschaft-Leistens« in dem Maße abnehmen, wie der Einsatz von Technik zunimmt (etwa im Sinne von: Je mehr Fernsehen, desto weniger Phantasie). Es ist dies die eigentliche Stelle, an der Max’ Vorstellungen wieder aufschließbar sind für eine Gesellschaft, die immer mit einem Bein in der Zukunft steht und also schon in der Gegenwart auf die Zukunft gerichtet ist. Und das gilt in den westlichen Gesellschaften besonders für die mit enormen Tempo sich ausweitenden Kommunikations- und Informationstechnologien: Sie sind gegenwärtig, also seit knapp 20 Jahren, die »heißen« Medien, in denen Gesellschaft als solche konzentriert das »Experiment Gesellschaft« ausprobiert - vergleichbar dem einst »heißen« Medium Buch, dass vor vielen Jahrhunderten die Entwicklung von Gesellschaft »unter Strom« setzte. In der heutigen forcierten Vergesellschaftung von (Kommunikations-)Technik - vergleichbar der vormaligen Vergesellschaftung der Maschinentechnik, der Elektrizität, des Automobils usw. - und in den forcierten kulturellen Beschreibungen, die nicht mehr auf Klassenzugehörigkeit abheben, sondern auf Kulturzugehörigkeit, wird die Gesellschaft wieder unter Strom gesetzt, auf die 1. Eintritt 42 <?page no="42"?> Reise geschickt, in ein Experiment gestürzt: und zwar ein Experiment, das »den Strom« nun durch sogenannte technische Kommunikationsverhältnisse leitet - während es zu Beginn der Aufklärungszeit metaphysische Denkverhältnisse und in der Zeit des Industrialismus Produktionsverhältnisse waren, in denen sich die entscheidenden Wandlungen, Verwandlungen und Formungen abspielten. Um diese neuen technischen Kommunikationsverhältnisse materialistisch begreifen und analysieren zu können, bedarf es - so man dies überhaupt als sinnvoll ansieht - einer erweiternden Umsetzung der Marx’schen Theorie. Denn diese neuen Kommunikationsverhältnisse sind nicht mehr ausschließlich sozioökonomisch, sondern vermehrt soziokommunikativ zu bestimmen, sind nicht mehr »nur« Überbau, sondern werden zu einer neuen, noch unbekannten Form von »Basis« der Gesellschaft - und doch stellen sie ein neues, zusätzliches Terrain für die Entwicklung von Widersprüchen und Antinomien, für die Entwicklung eines »Reifegrades« der gesellschaftlichen Entwicklung dar. Im »Kommunisten Manifest« heißt es: »Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl. Das Proletariat, die unterste Schichte der jetzigen Gesellschaft, kann sich nicht erheben, nicht aufrichten, ohne daß der ganze Überbau der Schichten, die die offizielle Gesellschaft bilden, in die Luft gesprengt wird.« (Marx/ Engels, MEW, Bd. 4, 472 f.) Der ganze Überbau der offiziellen Gesellschaft ist zwar nicht in die Luft gesprengt worden; aber es ist nicht zu leugnen, dass mit der neuen, telematischen (also televisionären und informatischen) Infrastruktur in den hochkapitalisierten Gesellschaften eine noch nicht abgeschlossene Transformation des Überbaus möglich ist - eine Transformation, die bestehende Formen der Ungerechtigkeit, des Ausschlusses, der Diskriminierung, der Identitätspolitiken betrifft und Möglichkeiten an die Hand gibt, neue Formen der sozialen Anerkennung und des sozialen Respekts zu realisieren, mit allen Problemen, die daraus wiederum erwachsen. Der Kapitalismus als Kultur begann, so Claessens und Claessens mit Bezug auf Macpherson (1979, 89), als der Liberalismus im 17. Jahrhundert für das freie und vernünftige Individuum als Index einer guten Gesellschaft eintrat, nur um dann im Verlaufe der Industrialisierung den meisten Menschen der Gesellschaft die Individualität zu versagen. Die Arbeit an der Kultur hat auch heute noch nichts von ihrer Dringlichkeit verloren, im Gegenteil. Dass das humanistische Bildungsideal, das sich im Kapitalismus ausbildete, scheiterte, dass es, so Adorno, »der Kultur nicht gelang, ihre eigene Menschheit zu kultivieren, ist nicht nur Schuld der Menschen, sondern auch der Kultur, die, losgetrennt vom Gedanken der verwirklichten Menschheit, ein Moment der Unwahrheit und des Scheins hat, dem nun 1.3. Short cut: Eine kulturistische Sichtweise des Marx’schen Theorieunternehmens 43 <?page no="43"?> heimgezahlt wird, indem die Menschen die Kultur von sich abwerfen« (Adorno 1997, Bd. 20.1, 316). Dieses Abwerfen von ? Kultur, heute zumeist in Gestalt einer konsumistischen Aneignung von Bildern, Dingen, Geschichten, Empfindungen sich ausdrückend, könnte mit den neuen technischen Kommunikationsverhältnissen zumindest gebremst, manchmal auch umgekehrt werden, etwa durch die interaktionsintensive Pflege von elektronischen Identitäten, durch die Bildung neuer virtueller Communities, die schon fast soziale Gemeinschaften sind. Indes: Die Arbeit an der Kultur, also die Arbeit an der Bildung von Unterscheidungsvermögen, sozialer Phantasie, Differenzempfinden, Einfühlungsvermögen und Xenophilie, ist nichts Abgehobenes, im luftleeren Raum Befindliches, sondern gehört weiterhin der Kultur der Arbeit an. Sie braucht also weiterhin Produktion, Konstruktion und Dekonstruktion und ist nicht einfach durch Kontemplation, Kompensation und Konsumtion zu erreichen. Nochmals Adorno: »Nicht, daß [..] Kultur etwas Höheres und Feineres als die Technik wäre. Dafür gilt sie nur dort, wo sie bereits verloren ist. Aber die Technik ist nicht das primäre gesellschaftliche Wesen, nicht die Sache selbst, nicht die Menschheit, sondern nur etwas Abgeleitetes, die Organisationsform der menschlichen [ ? ] Arbeit.« (Ebenda, 316 f.) »In einer ihrer selbst mächtigen und wirklich rationalen Gesellschaft könnte die Technik ihres gesellschaftlichen Wesens inne werden und die Gesellschaft der Verflochtenheit ihrer sogenannten [ ? ] Kultur mit den technischen Errungenschaften.« (Ebenda, 313) In diesem Fokus also, der im letzten Kapitel ausführlich zur Darstellung kommt, wären die Methodik und die Analytik, die Marx maßgebend an den politökonomischen und den ideologisch-semantischen Erscheinungsweisen der kapitalistischen Gesellschaft ansetzte, erneut einzusetzen - gerade in einer Zeit, in der der »Marxismus als kulturelle Bewegung bzw. als eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Bewegungen […] seine Möglichkeiten erschöpft zu haben« scheint (Fehér/ Heller 1986, 313), und in der der Bedarf nach einer komplexen Theorie kultureller und kommunikativer Synthesis (in Anlehnung an die Marx’sche Theorie der gesellschaftlichen Synthesis) niemals größer war. 1. Eintritt 44 <?page no="44"?> 2. Zur Biographie von Karl Marx »Ihre Lieblingstugend: Einfachheit […] Ihre Auffassung vom Glück: zu kämpfen Ihre Auffassung vom Unglück: Unterwerfung […] Ihre Lieblingsbeschäftigung: wühlen in Büchern […] Ihre Lieblingsmaxime: Nihil humani a me alienum puto [Nichts Menschliches ist mir fremd] Ihr Lieblingsmotto: De omnibus dubitandum [An allem ist zu zweifeln]« (Einige Antworten von Marx auf Fragen des heute sogenannten Proust-Fragebogens, der ihm Mitte der 1860er Jahre von seinen drei Töchtern vorgelegt wurde; zitiert nach Francis Wheen 2002, 459 f.) Als Karl Marx am 14. März 1883 im Alter von 64 Jahren an einem Lungengeschwür in London starb, ging einer der bewegtesten Biographien während einer der bewegtesten historischen Epochen der europäischen Geschichte zuende. Waren es auch nur elf Trauergäste, die sich zu seinem Begräbnis am 17. März auf dem Londoner Friedhof Highgate einfanden, so sprach Friedrich Engels doch die (für manche peinlich übertreibenden) Worte, die Marx’ zukünftiger Bedeutung schon abgelauscht schienen: »Am 14. März, nachmittags ein Viertel vor drei, hat der größte lebende Denker aufgehört zu denken. Kaum zwei Minuten allein gelassen, fanden wir ihn beim Eintreten in seinem Sessel ruhig entschlummert - aber für immer. Was das streitbare europäische und amerikanische Proletariat, was die historische Wissenschaft an diesem Mann verloren haben, das ist gar nicht zu ermessen. Bald genug wird sich die Lücke fühlbar machen, die der Tod dieses Gewaltigen gerissen hat. Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte […]. Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Mit der Entdeckung des [ ? ] Mehrwerts war hier plötzlich Licht geschaffen, während alle früheren Untersuchungen, sowohl der bürgerlichen Ökonomen wie der sozialistischen Kritiker, im Dunkel sich verirrt hatten. Zwei solche Entdeckungen sollten für ein Leben genügen. 45 <?page no="45"?> Glücklich schon der, dem es vergönnt ist, nur eine solche zu machen. Aber auf jedem einzelnen Gebiet, das Marx der Untersuchung unterwarf, und dieser Gebiete waren sehr viele und keines hat er bloß flüchtig berührt - auf jedem, selbst auf dem der Mathematik, hat er selbständige Entdeckungen gemacht.« (Engels, Das Begräbnis von Karl Marx, MEW, Bd. 19, 335 f.) 2.1 Die Zeit in Trier, Bonn und Berlin Geboren wurde Carl Heinrich Marx am 5. Mai 1818 als ältester Sohn des Rechtsanwalts und späteren Justizrates Heinrich Marx (ursprünglich Marx Levi resp. Herschel Marx) und seiner Frau Henriette Marx, geborene Preßburg, in Trier - einer der ältesten, wenn nicht die älteste Stadt Deutschlands. Trier wurde auf dem Wiener Kongreß 1815 zu Preußen geschlagen. Vor allem die rheinischen Juden erhofften sich davon eine Erleichterung ihrer Situation, die durch die sogenannten napoleonischen Dekrete aus dem Jahre 1808 (décret infâme) geprägt war, die die Handels- und Gewerbefreiheit für sie erheblich einschränkten. Doch Preußen schloss an die Ausnahmebestimmungen Napoleons an - und verschärfte sie sogar. Geburtshaus in Trier; ullstein bild 2. Zur Biographie von Karl Marx 46 <?page no="46"?> Mit der Herrschaftsübernahme von Friedrich Wilhelm III 1797 hatten alle rheinischen Juden, die unter Napoleon in den Staatsdienst getreten waren, diesen zu verlassen. Davon war auch Karl Marx’ Vater, Herschel Marx, betroffen. Er wählte den Glaubensstatt den Berufswechsel, ließ sich 1816 oder 1817 taufen, wechselte 1824 zum Protestantismus und nahm den Namen Heinrich an. Er blieb im Staatsdienst (am Landgericht Trier) 17 . Karl Marx besuchte ab 1830 das Gymnasium in Trier, das von Johann Hugo Wyttenbach, einem durchaus liberalen Geist und Kantianer, geleitet wurde. Wyttenbachs Vorstellungen von einer hohen Bildungsanstalt deckten sich nicht mit dem Geist, der an königlich preußischen Gymnasien üblich zu sein schien - einer der Gründe, warum sich in der Zeit zwischen 1833 und 1835 dieses Gymnasium behördlicher Observation durch die Trierer Behörden und das Koblenzer Schulkollegium ausgesetzt sah. Die Konsequenz war die Installation einer Ko-Direktion; besetzt wurde sie von dem eher preußisch-konservativen Vitus Löhrs, damals Lateinlehrer an der Schule. Es wird berichtet, dass Marx und ein weiterer Mitschü- Zeugnis der Reife des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums in Trier - 1835; ullstein bild 2.1 Die Zeit in Trier, Bonn und Berlin 47 <?page no="47"?> ler die Einzigen waren, die beim Wechsel vom Gymnasium zur Universität im Rahmen der obligatorischen Abschiedsbesuche bei den Lehrern einen Bogen um Löhrs machten. Im Oktober 1835 zog Karl Marx nach Bonn zum Studieren - ihm war es vergönnt, vom Vater mit nicht geringen Summen unterstützt zu werden. Dies hatte folgerichtig auch die Wahl der Fakultät bestimmt: Marx schrieb sich an der juristischen ein, eingedenk der Vorstellung seines Vaters, dass Juristen im Trierer Raum gute Aussichten auf wohl besoldete Stellen haben werden. Indes: Marx’ Interesse ging weit über die Jurisprudenz hinaus. Literaturgeschichte, Philosophie, aber auch naturwissenschaftliche Fächer wie Physik, Chemie sowie Mathematik fanden seine Aufmerksamkeit - wenngleich er ob des geringen Angebotes in diesen Fächern in Bonn beschloss, diese erst gründlich in Berlin in Angriff zu nehmen. In Büchern zu wühlen, so seine Antwort auf die Frage nach seiner Lieblingsbeschäftigung, brach sich hier Bahn. Die politisch-freiheitliche Situation in der damals fast 40 000 Einwohner zählenden Stadt Bonn mit seinen beinahe 700 Studenten hat sich kurz vor Marxens Umzug erheblich geändert - und nicht nur dort. Um 1830 manifestierte sich zum ersten Mal überbordend ein Widerspruch, der seit 1813, also mit der Niederwer- Karl Marx als Student im Jahr 1836; ullstein bild 2. Zur Biographie von Karl Marx 48 <?page no="48"?> fung Napoleons, bzw. seit 1815, also der Reorganisation der feudal-konservativen Kräfte Russlands, Preußens und Österreichs (»Heilige Allianz«) auf dem Wiener Kongreß, seinen Anfang nahm. In dieser beginnenden Phase der Restauration widersprachen sich die Erscheinungen einer immer gewaltiger und auch gewalttätiger werdenden industriellen Revolution und die Erscheinungen einer ebenfalls gewaltsamen Niederdrückung bürgerlich-politischer Emanzipation auf das Schärfste. Dieser emanzipative Widerstand zeigte sich in einer Kette diverser Protestaktionen und revolutionärer Kämpfe, die »nach einem ersten gemeineuropäischen Ausbruch in den Revolutionen des Jahres 1830 ihren Höhepunkt in den Revolutionen des Jahres 1848/ 49 fanden, ohne daß jedoch die zentrale Forderung nach Herstellung der nationalen Einheit auf demokratischer Grundlage für Deutschland verwirklicht werden konnte.« 18 Die bürgerliche Verfassungsbewegung wie auch die maßgeblich an den Universitäten vertretene nationale Einigungsbewegung wurde kriminalisiert und verboten und teilweise in den Untergrund gedrängt (»Demagogenverfolgung«). Nach 1830 wurden liberale und bürgerlich-demokratische »Eruptionen« noch stärker verfolgt und drangsaliert - Polen- und Vaterlandsvereine, Hambacher Fest 1832, Frankfurter Wachensturm 1833, Handwerkervereine und Geheimbünde wie der »Bund der Gerechten« etc. Nach 1840 eskalierte schließlich der »Kampf« zwischen feudalem Polizeistaat und verspätet aufbegehrender deutscher Bevölkerung durch den Druck des wachsenden sozialen Elends der unteren ? Klassen (Weberaufstand 1844, Hungerrevolten 1847), sodass die (gleichsam gescheiterte) Revolution von 1848 nicht allzu überraschend hereinbrach, ineins mit dem im selben Jahr veröffentlichten Kommunistischen Manifest. Das alte Europa, so ein Ausspruch, der von Metternich überliefert wird, sei am Anfang seines Endes - ein doppeldeutiger Satz, der für die einen Hoffnung, für die anderen Pessimismus bedeutete. Doch dieses Ende sollte noch lange auf sich warten lassen. Marx studierte in Bonn - verglichen mit der Anzahl der Kollegien, die er in Berlin besuchen sollte - recht intensiv: Er hörte sechs Vorlesungen im ersten, vier im zweiten Semester (während der neun Semester in Berlin besuchte Marx insgesamt nur 14 Kollegien). Zugleich engagierte er sich in zwei Vereinigungen: dem »Kneipenverein« sowie dem »Poetenbund«. Während die Mitgliedschaft im Kneipenverein wohl erklärt, warum Marx trotz ausgiebiger finanzieller Unterstützung durch seinen Vater immer wieder Schulden machte, hatte seine Mitgliedschaft im Poetenbund eine eher politisch-sozialisierende Funktion, wenn auch vorerst im Medium der lyrischen Ästhetik. Doch Bonn erwies sich als - durchaus so eingeplantes - Zwischenspiel. Nach dem zweiten Semester wechselte er 1836 nach Berlin - und die Entwicklung seiner intellektuellen Arbeit begann, ebenso wie die lebenslange Bin- 2.1 Die Zeit in Trier, Bonn und Berlin 49 <?page no="49"?> dung mit der vier Jahre älteren Jenny von Westphalen: Sie verlobten sich heimlich in Trier, konnten aber erst Ende 1837 ihre Verlobung offiziell machen, schließlich erst im Juni 1843 in Bad Kreuznach heiraten. Am 22. Oktober 1836 wurde Marx an der juristischen Fakultät immatrikuliert. Er hörte im ersten Semester Anthropologie beim Philosophen Hendric Steffens, doch wichtiger waren seine Besuche bei Eduard Gans (Strafrecht) und Friedrich Karl von Savigny (Privat-/ Zivilrecht). Gans stand für eine linkshegelianische, Savigny für eine rückwärts gerichtete historische Rechtschule ein. Beide waren Kontrahenten an der Fakultät. Hegel hatte Gans an die Fakultät berufen, der, nach Hegels Tod im Jahre 1831, neben Recht vor allem Geschichte und Philosophie las - geleitet von der Auffassung, dass von der französischen Revolution in der Zukunft noch vieles zu übernehmen und zu realisieren sei. Marx begann einzusehen, dass er sich verstärkt der Philosophie widmen musste: »Am Schlusse des materiellen Privatrechtes sah ich die Falschheit des Ganzen, das im Grundschema an das Kantische grenzt, in der Ausführung gänzlich davon abweicht, und wiederum war es mir klargeworden, ohne Philosophie sei nicht durchzudringen. So durfte ich mit gutem Gewissen mich abermals in ihre Arme werfen und schrieb ein neues metaphysisches Grundsystem, an dessen Schluß ich abermals seine und meiner ganzen früheren Bestrebungen Verkehrtheit einzusehn gezwungen wurde.« (Marx, Brief an den Vater, MEW, Bd. 40, 7) Die Philosophie war die Hegels. Vor allem durch die Bekanntschaft mit Adolph Rutenberg, Bruno Bauer, Karl Friedrich Köppen vom sogenannten Doktorklub, einem sich formierenden linkshegelianischen Lager, das sich der revolutionären Elemente der Hegelschen Methode annahm, wurde Marx gegen seinen Willen Hegelianer: »Während meines Unwohlseins hatte ich Hegel von Anfang bis Ende, samt den meisten seiner Schüler, kennengelernt. Durch mehre Zusammenkünfte mit Freunden in Stralow [Stralau, B. T.] geriet ich in einen Doktorklub, worunter einige Privatdozenten und mein intimster der Berliner Freunde, Dr. Rutenberg. Hier im Streite offenbarte sich manche widerstrebende Ansicht, und immer fester kettete ich mich selbst an die jetzige Weltphilosophie, der ich zu entrinnen gedacht, aber alles Klangreiche war verstummt, eine wahre Ironiewut befiel mich, wie es wohl leicht nach so viel Negiertem geschehn konnte.« (Marx, Brief an den Vater, MEW, Bd. 40, 10) 2. Zur Biographie von Karl Marx 50 <?page no="50"?> Das akademische Studieren trat nun in den Hintergrund für ein Studieren aus Leidenschaft. Marx exzerpierte Aristoteles, Spinoza, Leibniz und weitere Klassiker der Philosophie; er nahm rege an der Debattierkultur des Klubs teil, in dem er zu den Jüngeren gehörte, und wurde dort schnell zu einer wichtigen, radikal vorwärtstreibenden Figur. Dies gilt besonders für die von Bruno Bauer maßgeblich vertretene Religionskritik, die Marx als Voraussetzung aller Kritik zu verstehen lernte*; und zwar so sehr, dass Bauer viele Gedanken von Marx übernommen haben soll, etwa in seinem Aufsatz Der christliche Staat und unsere Zeit. * Kompakt findet sich Marx’ Einstellung zur Religionskritik in folgenden Sätzen: »Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.« (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW, Bd. 1, 378) Der rein auf Kritik und Negation, auf philosophische Abstraktion ausgerichtete Kreis ging damals von der Überzeugung aus, dass die einzig wirkungsvolle emanzipatorische Aktivität nur darin bestehen kann, zur Revolutionierung des Bewusstseins beizutragen, und das heißt: durch Kritik der bestehenden weltanschaulichen, religiösen und politischen Verhältnisse. Doch schon im Winter 1840/ 41, nach einer Phase, in der der Klub auf eine »Erneuerung von oben« (animiert durch den »Philosophenkönig« Friedrich II., der 1840 preußischer König wird), also auf einen aufgeklärten Monarchismus setzte, wurde die Luft rauher. Der Doktorklub nannte sich nun »Die Freunde des Volkes«, wurde linksradikaler und verstand sich schließlich als Avantgarde eines linken revolutionären Republikanimus. Marx hatte mittlerweile seine Doktorarbeit Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie (MEW, Bd. 40) in Jena eingereicht; in Berlin zu promovieren schien ihm nach dem Tode von Eduard Gans unmöglich, da dessen Nachfolger Julius Stahl ein Vertreter des preußischen Absolutismus war. Bruno Bauer, mit dem zusammen er vorhatte, ein »Archiv des Atheismus« zu publizieren, und der in Berlin nicht mehr dozieren konnte und nun an der Bonner Universität als Privatdozent lehrte, trieb ihn zudem an, schnell sein Examen zu machen, da er ihn gerne in Bonn an der Universität unterbringen wollte - ein Vorhaben, das scheiterte. Im April 1841 war Marx offiziell mit dem Studium fertig - sein Doktordiplom ist auf den 14. April datiert. Indes: Im Mai 1842 musste Bauer die Bonner Universität verlassen. Damit waren auch Marxens Zukunftsvorstellungen - 2.1 Die Zeit in Trier, Bonn und Berlin 51 <?page no="51"?> Dozentur oder gar Professur an der Universität - nichtig geworden, solange die politische Lage so blieb, wie sie war: nämlich bestimmt durch ein pietistisch-reaktionäres Preußen, das jede politische Emanzipation des Bürgers in den Ansätzen zu ersticken suchte. 2.2 Marx als Journalist und politischer Aktivist Marx verließ Berlin dennoch. Er lebte nun wechselnd in Trier, Bonn und Köln. Es begann für ihn die Existenz als journalistischer politischer Schriftsteller, eine Existenz, die zu führen er fast sein ganzes Leben lang gezwungen war. Exemplarisch für Marx’ Schreiben kann der erste große Aufsatz gelten, den er 1842 für Ruges Deutsche Jahrbücher anfertigte, der aber erst ein Jahr später in der Schweiz publiziert wurde. In diesem Aufsatz mit dem Titel »Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion« tritt man einem Marx gegenüber, der sich in Gänze den realpolitischen, den konkreten Zu- und Umständen seiner Zeit zuwendet; jeglicher philosophische Elfenbeinturm, wie etwa noch zu Beginn des Berliner »Doktorklubs« mit seinen theoretischen Kritiken, war verschwunden. Seine Bemerkungen waren für die damalige Zensurlage außergewöhnlich scharf: »Der Schriftsteller ist also dem furchtbarsten Terrorismus, der Jurisdiktion des Verdachts anheimgefallen. Tendenzgesetze, Gesetze, die keine objektiven Normen geben, sind Gesetze des Terrorismus, wie sie die Not des Staats unter Robespierre und die Verdorbenheit des Staats unter den römischen Kaisern erfunden hat. Gesetze, die nicht die Handlung als solche, sondern die Gesinnung des Handelnden zu ihren Hauptkriterien machen, sind nichts als positive Sanktionen der Gesetzlosigkeit. Lieber wie jener Zar von Rußland jedem den Bart durch offizielle Kosaken abscheren lassen, als die Meinung, in der ich den Bart trage, zum Kriterium des Scherens machen. Nur insofern ich mich äußere, in die Sphäre des Wirklichen trete, trete ich in die Sphäre des Gesetzgebers. Für das Gesetz bin ich gar nicht vorhanden, gar kein Objekt desselben, außer in meiner Tat. Sie ist das einzige, woran mich das Gesetz zu halten hat; denn sie ist das einzige, wofür ich ein Recht der Existenz verlange, ein Recht der Wirklichkeit, wodurch ich also auch dem wirklichen Recht anheimfalle. Allein das Tendenzgesetz bestraft nicht allein das, was ich tue, sondern das, was ich außer der Tat meine. Es ist also ein Insult auf die Ehre des Staatsbürgers, ein Vexiergesetz gegen meine Existenz. Ich kann mich drehen und wenden, wie ich will, es kommt auf den Tat- 2. Zur Biographie von Karl Marx 52 <?page no="52"?> bestand nicht an. Meine Existenz ist verdächtig, mein innerstes Wesen, meine Individualität wird als eine schlechte betrachtet, und für diese Meinung werde ich bestraft. Das Gesetz straft mich nicht für das Unrecht, was ich tue, sondern für das Unrecht, was ich nicht tue.« (Marx, Bemerkungen über die neue preußische Zensurinstruktion, MEW, Bd. 1, 14) Marx begann nun verzögert - er hatte noch Hoffnung auf eine Dozenturstelle in Bonn - für die am 1. Januar 1842 von Liberalen in Köln gegründete Rheinische Zeitung zu schreiben. Im Mai konnte er eine ganze Artikelserie unterbringen - die »Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags« betreffend. Im dritten Artikel dieser Serie - Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz - argumentiert Marx in einer Weise materialistisch wie nie zuvor. »Wir spielen jetzt auf ebener Erde«, betont Marx zu Beginn seines Textes (Marx, Die Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags, MEW, Bd. 1, 109). Engels hebt hervor, dass die Beschäftigung mit den konkreten sozialen und ökonomischen Fragen, die sich dem »Journalisten« Marx stellten (Holzdiebstahlsgesetz, die Lage der verarmten Moselbauern), entscheidend dazu führten, dass Marx von der bloßen Politik und der bloßen (Hegelschen) Philosophie weg- und zu den sozialen und ökonomischen Fragen hingetrieben wurde. So auch Marx selbst: »Im Jahr 1842/ 43, als Redakteur der ›Rheinischen Zeitung‹, kam ich zuerst in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen. Die Verhandlungen des Rheinischen Landtags über Holzdiebstahl und Parzellierung des Grundeigentums, die amtliche Polemik, die Herr von Schaper, damals Oberpräsident der Rheinprovinz, mit der ›Rheinischen Zeitung‹ über die Zustände der Moselbauern eröffnete, Debatten endlich über Freihandel und Schutzzoll, gaben die ersten Anlässe zu meiner Beschäftigung mit ökonomischen Fragen.« (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, 7 f.) Marx erzeugte durch seine singuläre »Schreibe« - er verband tiefsten philosophischen Ernst mit schärfstem Witz - im Kreis und im Umkreis der Rheinischen Zeitung eine nachhaltige Wirkung: Am 15. Oktober 1842 wurde er »eigentlicher Redakteur« der Zeitung, d. h. Chefredakteur, wenn auch nur für fünf Monate, denn schon im Januar 1843 beschloss der preußische Ministerrat, neben anderen auch der Rheinischen Zeitung in Köln die Lizenz zu entziehen, einer Zeitung mithin, die wie keine andere die wirtschaftliche Liberalisierung in Deutschland mit einer notwendigen und grundlegenden Neuordnung des Staates verbunden sah. 2.2 Marx als Journalist und politischer Aktivist 53 <?page no="53"?> Marxens allmähliche Hinwendung zur sozialen Frage, zur Frage, wie die wirklichen Dinge sind (anstatt zur Frage, wie die Dinge wirklich sind, die als Frage nur im kritischen »Geist« eine Antwort findet), löste ihn ebenso allmählich von seinen linkshegelianischen Freunden in Berlin, die weiterhin an einer absoluten Kritik ohne Rücksicht auf die konkreten Umstände politisch-sozialer Natur festhielten. Marx nahm Abstand von dieser Art »Pseudoradikalismus« und »Nihilismus«. Es kam zu einem Bruch mit den Berliner »Ultralinken«. Marx wurde praktischer, ließ sich mehr aufs politische Alltagsgeschäft ein, das taktisch nur kleine Schritte zulässt - und wissenschaftlich-strategisch nur noch große Entwürfe. In dieser Hinsicht ist seine Kritik am damaligen Kommunismus und Sozialismus zu verstehen, wie sie etwa von den französischen Haupttheoretikern Pierre-Joseph Proudhon und Théodore Dezamy vertreten wurden.* In ihnen sah Marx Theoretiker, die den zweiten Schritt vor dem ersten propagierten. Gleichwohl war ihm die Option namens Revolution unverzichtbar, um die Verhältnisse entscheidend zu ändern; doch er sah den Hauptweg der Veränderung noch über ein zu veränderndes Bewusstsein bestimmt, nicht über die reale und konkrete Veränderung der politökonomischen Strukturen, in denen sich der Kapitalismus nach seiner Frühphase nun auszubreiten begann. * Im Winter 1846/ 47 schrieb Marx schließlich eine Art Abrechnung mit Proudhon: Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons »Philosophie des Elends« (MEW, Bd. 4), indem er den kleinbürgerlich-ökonomischen Charakter der Proudhonschen Entwürfe und Schlüsse für eine »befreite Gesellschaft« herausstellte. Das Traktat endet mit den folgenden berühmten Sätzen: »Die Organisation der revolutionären Elemente als [ ? ] Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktivkräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten. Heißt dies, daß es nach dem Sturz der alten Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft geben wird, die in einer neuen politischen Gewalt gipfelt? Nein. Die Bedingung der Befreiung der arbeitenden Klasse ist die Abschaffung jeder Klasse, wie die Bedingung der Befreiung des dritten Standes, der bürgerlichen Ordnung, die Abschaffung aller Stände war. Die arbeitende Klasse wird im Laufe der Entwicklung an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen, welche die Klassen und ihren Gegensatz ausschließt, und es wird keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil gerade die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist. Inzwischen ist der Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie ein Kampf von Klasse gegen Klasse, ein Kampf, der, auf seinen höchsten Ausdruck gebracht, eine totale Revolution bedeutet. Braucht man sich übrigens zu wundern, daß eine auf den Klassengegensatz begründete Gesellschaft auf den brutalen Widerspruch hinausläuft, auf den Zusammenstoß Mann gegen Mann als letzte Lösung? Man sage nicht, daß die gesellschaftliche Bewegung die politische ausschließt. Es gibt keine politische Bewegung, die nicht gleichzeitig auch eine gesellschaftliche wäre. Nur bei einer Ordnung der Dinge, wo es keine Klassen und keinen Klassengegen- 2. Zur Biographie von Karl Marx 54 <?page no="54"?> satz gibt, werden die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein. Bis dahin wird am Vorabend jeder allgemeinen Neugestaltung der Gesellschaft das letzte Wort der sozialen Wissenschaft stets lauten: ›Kampf oder Tod; blutiger Krieg oder das Nichts. So ist die Frage unerbittlich gestellt‹. George Sand«. (Marx, Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, 181 f.) - Die deutsche Ausgabe dieser auf Französisch geschriebenen Schrift erschien erst 1884 in Stuttgart. Marx, der die Rheinische Zeitung im wahrsten Sinne des Wortes führte (»demokratischer Diktator«), hatte maßgebend Anteil am Erfolg der Verbreiterung der Leserschaft. 1843 besaß die Zeitung schon 3000 Abonnenten, 2000 mehr als ein Jahr zuvor. Indes wurde die Zensur zunehmend schärfer. Am 31. März 1843 erschien schließlich die letzte Nummer. Auslöser für die Schließung war ein kritischer Artikel gegen Russland, das damals der wichtigste außenpolitische Partner Preußens war und deshalb über enormen Einfluss verfügte. Es wird berichtet, dass Zar Nikolaus I. generelle Empörung über eine allzu liberale und russlandfeindliche Presse in Deutschland die Vorlage für die preußischen Zensurminister lieferte, die am 21. Januar 1843 dann »kurzen Prozess« machten: Sie entzogen der Rheinischen die Lizenz, wie vorher schon der Leipziger Allgemeinen Zeitung; auch die Deutschen Jahrbücher Arnold Ruges wurden eingestellt. - Das einzige Feld, auf dem politisch aktiv an der Veränderung der Verhältnisse in Deutschland gearbeitet werden konnte, das Feld der Publizistik, wurde immer kleiner; und schließlich unmöglich. Zwei Wege standen nun offen: die innere Emigration und die äußere. Marx sah für sich keine Möglichkeit mehr, in diesem Deutschland etwas Neues zu beginnen. Nach seiner Heirat im Juni 1843 zog er im November nach Paris. Arnold Ruge bot ihm an, die Deutschen Jahrbücher in Paris fortzusetzen, nun unter dem Titel Deutsch-französische Jahrbücher. Marx stimmte freudig zu, sah er doch in dieser Verbindung die Möglichkeit, das notwendige Zusammenkommen der deutschen Philosophie mit der französischen Historie zu verwirklichen: Die Deutschen, für Marx nur philosophische Zeitgenossen der Gegenwart, brauchten die Franzosen, die wirklichen historischen Zeitgenossen der Gegenwart, und umgekehrt. Entwickeltste Theorie und entwickeltste Praxis könnten nun Hand in Hand gehen, zumindest publizierend. Es fehlte jetzt nur noch England als »Quellort« der ökonomischen Theorie - die Marx recht bald rezipieren und neu entwerfen wird -, damit Lenin 1914 dies in seiner Marxismus-Einführung schreiben konnte (Lenin 1945, 7): »Marx war der Fortführer und geniale Vollender der drei geistigen Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts in den drei fortgeschrittensten Ländern der Menschheit: der klassischen deutschen Philosophie, der klassischen englischen politischen Ökonomie und des französischen Sozialismus in Verbindung mit den französischen Lehren überhaupt.« 19 2.2 Marx als Journalist und politischer Aktivist 55 <?page no="55"?> Marx war für die erste und leider einzige Ausgabe der Jahrbücher, ein Doppelheft, an dem kein einziger französischer Autor mitwirkte, allein verantwortlich. Er veröffentlichte darin Zur Judenfrage (MEW, Bd. 1), eine Auseinandersetzung mit zwei Texten Bruno Bauers, sowie Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (ebenda), eine Revision des Hegelschen Staats- und Gesellschaftsverständnisses, die nach den Erfahrungen, die Marx in seinem publizistischen Kampf gegen staatliche Behörden gemacht hatte, notwendig wurde. 1859, in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, resümiert Marx seinen geistigen Standort damals in Paris in den folgenden bekannten Sätzen so: »Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ›bürgerliche Gesellschaft‹ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei. Die Erforschung der letztern, die ich in Paris begann, setzte ich fort zu Brüssel, wohin ich infolge eines Ausweisungsbefehls des Herrn Guizot übergewandert war. Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.« (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, 8 f.) Mit diesem Leitfaden, der seinen Ausgang nahm von Ludwig Feuerbachs 1843 veröffentlichten »Vorläufige[n] Thesen zur Reform der Philosophie«, aber diese weit hinter sich ließ, war klar und unwiderruflich, dass Philosophie sich zur Kritik der wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse, also zur Kritik der Ökonomie verwandeln musste. In dem Fragment gebliebenen Skript Ökonomisch-philosophische 2. Zur Biographie von Karl Marx 56 <?page no="56"?> Manuskripte aus dem Jahre 1844 (MEW, Bd. 40) findet sich die Arbeit an dieser Verwandlung der Kritik wieder. Doch wieder zurück ins Paris des Jahres 1844. Die Jahrbücher wurden schnell verboten, viele Exemplare an der Grenze konfisziert; die preußischen Behörden wurden angewiesen, die Autoren sofort zu verhaften, so sie preußischen Boden betreten. Ruge zog sich vom Projekt des deutsch-französischen Jahrbuches zurück - und Marx fand sich kurzfristig in einer finanziell desaströsen Lage wieder, die durch Geldspenden ehemaliger Aktionäre der Rheinischen Zeitung fürs Erste beseitigt wurde. Nun gab es nur noch einen einzigen Ort, an dem Marx weitgehend ohne Freiheitseinschränkung veröffentlichen konnte, und das war das Wochenblatt Vorwärts, gegründet von dem Geschäftsmann Heinrich Börnstein, ab Mitte des Jahres redigiert von L. F. C. Bernays, ehemals Mitarbeiter der Jahrbücher. Die Linie des Blattes wurde durch die Autoren Marx, Heine, Herwegh, Engels, Bakuin klarer und radikaler: vor allem der antipreußische Ton und dann auch Inhalt führte zu einem wiederholten Intervenieren der preußischen Regierung beim damaligen französischen Ministerpräsidenten Guizot. Zu Beginn des Jahres 1845 erließ das französische Innenministerium schließlich eine Ausweisungsverfügung. Aber nur Marx verließ Paris und damit Frankreich; die anderen Betroffenen beteuerten ihre Unschuld resp. bekundeten, dass sie ihre Kritik einstellen würden. Anfang Februar 1845 landete Marx in Brüssel, ohne Ehefrau und die nun fast einjährige Tochter Jenny, die allerdings bald folgten. Er erhielt die Aufenthaltsgenehmigung erst, nachdem er den belgischen Behörden schriftlich erklärt hatte, nicht politisch, sondern nur philosophisch zu arbeiten. Vor seiner Flucht nach Brüssel geschah in Paris jedoch noch etwas, das bis Marxens Lebensende anhielt, ja sein Leben in eine neue, andere Qualität verwandelte: Er schloss Freundschaft mit Friedrich Engels, der im September 1844 in Paris eingetroffen war (beide waren sich bereits 1842 in Köln begegnet, allerdings ohne gegenseitige Resonanz), aber schon Anfang April 1845 gleichfalls nach Brüssel übersiedelte (1846 dann wieder nach Paris). Engels, der zwei Jahre in Manchester und damit im Mittelpunkt der englischen Baumwollindustrie gelebt hatte, hatte wie kaum ein anderer Einsicht in das Elend, das durch den losgelassenen Kapitalismus geschaffen wurde. Sein Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England (MEW, Bd. 2), im Winter 1844/ 45 im Alter von 24 Jahren geschrieben, gehört weiterhin zum Eindringlichsten, was je zum und gegen den Frühkapitalismus angefertigt wurde. Im September 1844 schließen Marx und Engels ihre erste gemeinsame größere Arbeit ab: eine polemische Auseinandersetzung mit Marx’ damaligen Weggenossen, Bruno Bauer (sowie seinen Brüdern Edgar und Egbert). In der Vorrede von 2.2 Marx als Journalist und politischer Aktivist 57 <?page no="57"?> Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer & Consorten heißt es: »Der reale Humanismus hat in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus oder den spekulativen Idealismus, der an die Stelle des wirklichen individuellen Menschen das ›Selbstbewußtsein‹ oder den ›Geist‹ setzt und mit dem Evangelisten lehrt: ›Der Geist ist es, der da lebendig macht, das Fleisch ist kein Nütze.‹ Es versteht sich, daß dieser fleischlose Geist nur in seiner Einbildung Geist hat. Was wir in der Bauerschen Kritik bekämpfen, ist eben die als Karikatur sich reproduzierende Spekulation. Sie gilt uns als der vollendetste Ausdruck des christlich-germanischen Prinzips, das seinen letzten Versuch macht, indem es ›die Kritik‹ selbst in eine transzendente Macht verwandelt.« (Marx/ Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW, Bd. 2, 7) Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass Marx sich nun letztgültig vom Hegelschen Idealismus gelöst hatte (nicht jedoch von der Hegelschen ? Dialektik und »Methodik«! ), so war dieser Beweis nun vollbracht. Man könnte auch sagen: Die Ehefrau von Karl Marx, Jenny von Westfalen (1814-1881) mit ihrer Tochter Jenny; ullstein bild 2. Zur Biographie von Karl Marx 58 <?page no="58"?> Zeit war reif. Um 1844, mit einer Streikwelle in Westfalen, Hamburg und Sachsen, mit der Gründung von Vereinen »für das Wohl der arbeitenden Klasse«, mit den Bildungsvereinen, der ersten richtiggehenden sozialistischen Presselandschaft (Westfälisches Dampfboot, Gesellschaftsspiegel, Sprecher), kurz: mit dem Offensichtlichwerden des Elends von Millionen Menschen konnte nicht mehr übersehen werden, dass es ein Proletariat gab. »Man entdeckte das Proletariat« (Nicolaevsky/ Maenchen-Helfen 1982, 98). In Brüssel hegte Marx den Plan, ein zweibändiges Werk zu schreiben, Titel: Kritik der Politik und Nationalökonomie. Engels trieb ihn zur Eile, da er die Menschen der damaligen Zeit für bereit hielt, sich mit den wirklichen politökonomischen Verhältnissen tiefgründig zu beschäftigen. Engels wird Marx zeit seines Lebens drängen, schneller zu veröffentlichen - und er wird damit zeit seines Lebens nicht viel Glück haben. Das Werk, das 1845 erscheinen sollte, kam in Gestalt eines ersten Heftes erst 1859 ans Licht der Öffentlichkeit, jetzt unter dem Titel Zur Kritik der politischen Ökonomie. 20 Was hingegen 1845 begann, war die Arbeit am Manuskript Die deutschen Ideologie, in dem wie sonst kaum wieder in weiter Ausholung der Historische Materialismus* Konturen erhält - dort sind auch die berühmten Thesen über Feuerbach zu finden (MEW, Bd. 3, 5 ff.) -; und die Tochter Laura wurde geboren. * Zur Illustration der historisch-materialistischen Auffassung, nach der die materiellen Beziehungen die Grundlage für alle anderen Beziehungen der Menschen bilden, ein längeres Zitat, das auch schon anzeigt, wie stark in Marx’ und Engels’ Denken das angelegt war, was man heute Globalisierung nennt: »Die Geschichte ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitiert, daher also einerseits unter ganz veränderten Umständen die überkommene Tätigkeit fortsetzt und andrerseits mit einer ganz veränderten Tätigkeit die alten Umstände modifiziert, was sich nun spekulativ so verdrehen läßt, daß die spätere Geschichte zum Zweck der früheren gemacht wird, z. B., daß der Entdeckung Amerikas der Zweck zugrunde gelegt wird, der französischen Revolution zum Durchbruch zu verhelfen, wodurch dann die Geschichte ihre aparten Zwecke erhält und eine ›Person neben anderen Personen‹ (als da sind: ›Selbstbewußtsein, Kritik, Einziger‹ etc.) wird, während das, was man mit den Worten ›Bestimmung‹, ›Zweck‹, ›Keim‹, ›Idee‹ der früheren Geschichte bezeichnet, weiter nichts ist als eine Abstraktion von der späteren Geschichte, eine Abstraktion von dem aktiven Einfluß, den die frühere Geschichte auf die spätere ausübt. Je weiter sich im Laufe dieser Entwicklung nun die einzelnen Kreise, die aufeinander einwirken, ausdehnen, je mehr die ursprüngliche Abgeschlossenheit der einzelnen Nationalitäten durch die ausgebildete Produktionsweise, Verkehr und dadurch naturwüchsig hervorgebrachte Teilung der [ ? ] Arbeit zwischen verschiednen Nationen vernichtet wird, desto mehr wird die Geschichte zur Weltgeschichte, so daß z. B., wenn in England eine Maschine 2.2 Marx als Journalist und politischer Aktivist 59 <?page no="59"?> erfunden wird, die in Indien und China zahllose Arbeiter außer Brot setzt und die ganze Existenzform dieser Reiche umwälzt, diese Erfindung zu einem weltgeschichtlichen Faktum wird; oder daß der Zucker und Kaffee ihre weltgeschichtliche Bedeutung im neunzehnten Jahrhundert dadurch bewiesen, daß der durch das napoleonische Kontinentalsystem erzeugte Mangel an diesen Produkten die Deutschen zum Aufstande gegen Napoleon brachte und so die reale Basis der glorreichen Befreiungskriege von 1813 wurde.« (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 45 f.) Marxens zum Teil unverhältnismäßig ausholende Kritik an theoretischen, philosophischen Vertretern eines Sozialismus resp. einer linken, gerechtigkeitsorientierten Gesellschaftstheorie (etwa Bauer, Stirner, Proudhon, später Bakunin) wiederholte sich ab Mitte der 1840er Jahre: Nun traf seine oft ätzende Kritik allerdings führende Vertreter der Arbeiterbewegung, deren Gedanken und Vorstellungen vom praktischen Kampf, von der Strategie der Revolution oder der Revolte bestimmt waren, von Vorstellungen, wie das Proletariat zu organisieren sei und mit wem es Allianzen einzugehen habe und mit wem nicht. Marx erkannte in den Gedanken der Führer der bestehenden Arbeiterbewegung (vor allem die »Chartisten« in England) und der sich langsam etablierenden kommunistischen Organisationen (Bund der Gerechten, ab 1847 Bund der Kommunisten genannt; Londoner Arbeiterverein, Handwerkerkommunistenbünde) noch zu viele Anteile eines »primitiven Kommunismus«, noch zu viel »Gefühlskommunismus«, den es zu überwinden galt. Die Arbeiterbewegung sollte auf das Niveau eines wissenschaftlichen Sozialismus gehoben werden, so wie er ihn im Auge hatte. Vor allem schien ihm der politökonomisch und soziologisch mögliche Stand der Einsicht in die Lage des Proletariats einerseits und der Stand der Einsicht in die Lage des Bürgertums andererseits zu wenig verbreitet und damit mitverantwortlich für »falsche Strategien« der Befreiung des Proletariats - bei aller Unterschiedlichkeit des historischen Standes der Durchsetzung des Kapitalismus in England, Frankreich und Deutschland. Für Marx galt es also nun, nach seiner Kritik an der Praxis der Theorie die Kritik an den Theorien der Praxis voranzutreiben - und dies praktisch. Im Kommunistischen Manifest von 1848 - »[v]on keinem politischen Pamphlet ist jemals eine stärkere politische Wirkung ausgegangen« (Euchner 1983, 28) - wird es dann schon fast wieder diplomatisch lauten: »Derjenige Teil der [ ? ] Arbeiterklasse, der sich von der Unzulänglichkeit bloßer politischer Umwälzungen überzeugt hatte und die Notwendigkeit einer totalen Umgestaltung der Gesellschaft forderte, dieser Teil nannte sich damals kommunistisch. Es war eine noch rohe, unbehauene, rein instinktive 2. Zur Biographie von Karl Marx 60 <?page no="60"?> Art Kommunismus; aber er traf den Kardinalpunkt und war in der Arbeiterklasse mächtig genug, um den utopischen Kommunismus zu erzeugen, in Frankreich den von Cabet, in Deutschland den von Weitling.« (Marx/ Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW, Bd. 21, 357) Indes: Der utopische und der rohe Kommunismus, der kleinbürgerliche und der ökonomie-naive Kommunismus mussten, so Marx, ersetzt werden. An Vorbereitungen für die Verwirklichung des Kommunismus war solange nicht zu denken, wie sich die bürgerliche Revolution nicht totalisierend durchgesetzt habe, so sein Credo - er dachte dabei vorwiegend an Deutschland. Das war vielen Mitstreitern nicht einsichtig. 1846 begann Marx mit der Institutionalisierung des »Kommunistischen Korrespondenzkomitees«, Sitz in Brüssel. Die europaweit agierenden Zirkel, Gruppen, Vereine und Bünde der Arbeiterbewegung sollten sich über Ziele, Taktiken, Titelseite »Manifest der Kommunistischen Partei« (Februar 1848); ullstein bild 2.2 Marx als Journalist und politischer Aktivist 61 <?page no="61"?> Formen der Propaganda in den jeweiligen Ländern verständigen können - und sich natürlich allmählich verbinden; sie sollten zu einem einheitlichen Programm finden, mit dem die Arbeiterbewegungen als eine Bewegung, als eine geschlossene politische und revolutionäre Kraft und Macht aufzutreten hätten und als solche Macht betrachtet (und gefürchtet) werden würden. Marx und Engels waren nun, 1846/ 47, nach etlichen internen Hindernissen, in der Lage, an der Neuausrichtung und am Umbau des »Bundes der Gerechten« in führender Position zu arbeiten. Im Juni 1847 fand der erste Kongress des »Bundes der Kommunisten«, wie er jetzt hieß, in London statt. Marx blieb in Brüssel, Engels hingegen kam. Von ihm stammt auch die neue Parole, die zum ersten Mal 1847 in der neu gegründeten Kommunistische Zeitschrift stand; eine Parole, die bis heute - ob in ernsthafter oder in parodistischer Manier - nichts an Bekanntheit eingebüßt hat: »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! « Es blieb im übrigen bei diesem einen Heft. In Brüssel arbeitete Marx für die 1847 gegründete Deutsche Brüsseler Zeitung. Marx sah sie als beinahe letzten Ort in Europa, wo er seine Gedanken in extenso zu Papier bringen konnte. Zugleich engagierte er sich in der »Association démocratique, ayant pour but l’union et la fraternité de tous les peuples«, hielt viele Vorträge, bestritt viele Sitzungen, korrespondierte enorm, erhielt unentwegt Besuch - es war die Hochzeit des »Politikers« und »Organisatoren« Marx, des »Arbeiterbewegungs- Marx«; zugleich aber auch die Kernzeit des Theoretikers und Wissenschaftlers Marx, der zwischen 1843 und 1848 seine ? Mehrwerttheorie in den Grundzügen zur erarbeitet hatte. 21 So nahm er nun auch am zweiten Kongress des Kommunistenbundes in London teil, bekam zusammen mit Engel den Auftrag, ein Programm der kommunistischen Partei zu entwerfen, und schrieb schließlich gemeinsam mit Engels zwischen Dezember 1847 und Januar 1848 das Kommunistische Manifest, nur wenige Wochen vor Ausbruch der sogenannten »europäischen Revolution«. 22 Das viel zitierte »Gespenst des Kommunismus« zeigte sich umgehend in zahllosen Aktivitäten, Versammlungen, Streiks, Kämpfen, Zusammenkünften in fast allen europäischen Staaten, wobei die Februarrevolution 1848 Paris zum eigentlichen Kopf dieses Gespenstes machte, quasi zum Rom des 19. Jahrhunderts, wohin alle Wege zu führen hatten. Die Situation war angespannt. Selbst Marx - so zumindest die Angaben von Polizeiagenten in Brüssel - packte der revolutionäre Kampf: Er soll 5000 Francs für den Kauf von Waffen für die Brüsseler Arbeiter bereitgestellt haben. Dies war willkommener Anlass, die politisch sich betätigenden Emigranten nun endlich auszuweisen. Marx und seine Frau wurden gar für einige Stunden festgenommen, ihr Domizil wurde durchsucht; sie bekamen den Befehl, binnen 24 Stunden das Land zu verlassen. Marx ging nach Paris. Dort wurde er sehr bald Mitglied der »Société des droits de l’homme et du citoyen«, gründete den »Klub der deutschen Arbeiter« und 2. Zur Biographie von Karl Marx 62 <?page no="62"?> bewerkstelligte, dass der Sitz der Zentralbehörde des Bundes der Kommunisten nach Paris verlegt wurde. Nicht nur die Kommunisten waren überzeugt, dass eine friedliche Koexistenz von demokratisch regierten Ländern auf der einen und despotisch regierten Ländern auf der anderen Seite nicht möglich ist; man wartete täglich auf den Funken der Revolution, der auf Österreich, Deutschland und Polen überspringen würde. Marx nahm, als viele Revolutionäre aktiv in Deutschland einmarschieren und kämpfen wollten, eine reservierte Haltung ein, die sich bereits historisch-materialistisch aus einer strukturellen Sicht der geschichtlichen Ereignisse speiste und nicht mehr aus einer situationalistischen Sicht, die nur an den momentanen Gelegenheiten und Möglichkeiten orientiert blieb. Er machte sich viele Feinde, weil er den eigentlichen strategischen Kampfplatz der europäischen Revolution in Paris verortete, also den offenen Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie propagierte, und nicht den taktischen Export der revolutionären Energien, die nach Marx dann auf »Nebenkriegsschauplätzen« bloß verpuffen würden. Indes: Die aufflammenden revolutionären Aktivitäten in Deutschland animierten die deutschen Kommunisten in Paris, nach Deutschland zurückzukehren. Auch Marx verließ Paris und kam am 10. April 1848 in Köln an, wo die Wellen der französischen Revolution am stärksten Resonanz zeitigten. Mit der im Juni 1848 neu gegründeten Neue Rheinische Zeitung versuchten Marx und Engels publizistisch den Gedanken der Demokratie und weniger den Gedanken des proletarischen Sozialismus zu verbreiten, da sie der Meinung waren, dass sich in Deutschland erst die Bourgeoisie entfalten müsse (»Einsicht in den Gang der Entwicklung«, so Marx), damit die dann folgende Entfaltung des Proletariats eine realhistorische Umwälzung des Kapitalismus in Angriff nehmen konnte. Mitte April gründeten beide - auch gegen den »Arbeiterverein« Andreas Gottschalks gerichtet - den »Demokratischen Verein«, um die kommunistische Bewegung nicht in die Isolation zu treiben. Sie sahen eine neue Öffentlichkeit sich etablieren, in der sich die Kommunisten zu zeigen hätten. Marx beschloss die Auflösung des »Bund der Kommunisten«, da er nicht mehr von seiner Existenzberechtigung überzeugt war - jetzt, wo es darum ging, fürs Erste die deutsche Demokratie als politische Struktur eines sich machtpolitisch zu emanzipierenden Bürgertums durchzusetzen. Zielausrichtung war der Republikanismus, nicht der Kommunismus. Der Feind war noch der Absolutismus, nicht die Bourgeoisie. Es ging letztlich um eine Doppelstrategie, wie sie im Kommunistischen Manifest formuliert wurde: »In Deutschland kämpft die Kommunistische Partei, sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, gemeinsam mit der Bourgeoisie gegen die absolute 2.2 Marx als Journalist und politischer Aktivist 63 <?page no="63"?> Monarchie, das feudale Grundeigentum und die Kleinbürgerei. Sie unterläßt aber keinen Augenblick, bei den Arbeitern ein möglichst klares Bewußtsein über den feindlichen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat herauszuarbeiten, damit die deutschen Arbeiter sogleich die gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, welche die Bourgeoisie mit ihrer Herrschaft herbeiführen muß, als ebenso viele Waffen gegen die Bourgeoisie kehren können, damit, nach dem Sturz der reaktionären ? Klassen in Deutschland, sofort der Kampf gegen die Bourgeoisie selbst beginnt« (MEW, Bd. 4, 492 f.). Die Neue Rheinische Zeitung mit dem »demokratischen Diktator« (so Engels) Marx an der Spitze hatte materielle Schwierigkeiten. Aktionäre sprangen ab. Es musste Geld besorgt werden. Zugleich überschlugen sich die politisch-militärischen Ereignisse; eine Militärkommandantur übernahm die Macht in Köln, die Zeitung wurde verboten, doch nach dem Ende des Belagerungszustandes am 3. Oktober 1848 erschien sie wieder. Indes gingen die Angriffe der Zivilbehörden gegen diese »Schandzeitung« (so der Kölner Staatsanwalt Hecker), vor allem aber gegen Marx selbst weiter. Zweimal musste Marx vor Gericht. Zugleich sah er sich, da die von ihm angestrebte große Allianz aus proletarischen und bürgerlichen Kräften gegen die reaktionären Kräfte nicht zustande kam, genötigt, ebendiese Allianz aufzukündigen und offensiv zwischen proletarischer und bürgerlicher Demokratie zu unterscheiden. Mit der Auflösung der preußischen Nationalversammlung durch König Friedrich Wilhelm IV. am 5. Dezember 1848 und der von ihm durchgesetzten neuen Verfassung schien nun auch die letzte Hoffnung auf revolutionäre Bewegung in Deutschland verloren. Im Mai 1849 kam es zu letzten revolutionären Eruptionen in Dresden, in der bayerischen Pfalz, in Baden, in Rheinpreußen; doch die Aufstände brachen unter der Übermacht des Militärs schnell zusammen. Marx bekam am 16. Mai den Ausweisungsbefehl; zwei Tage später erschien die letzte Ausgabe der Neuen Rheinischen, in Gänze rot gedruckt. Die Redaktion der Zeitung verabschiedete sich unter anderem mit den Worten: »Ihr letztes Wort wird überall und immer sein: ›Emanzipation der arbeitenden [ ? ] Klasse! ‹« Marx verließ Köln und flüchtete - nach kurzen Aufenthalten in Karlsruhe und Kaiserslautern - nach Paris. Seine Familie, die zuerst nach Trier zurückging, kam bald nach. Im Juli 1949 waren alle wieder in Paris, wo sie in extremer finanzieller Not lebten; Jenny Marx erwartete ihr viertes Kind. Die Situation war auch psychisch extrem: In Deutschland gab es für Marx nichts mehr zu tun, in Paris wie in Kontinentaleuropa herrschte die Reaktion, der Kommunistenbund war aufgelöst. Marx schwankte zwischen einer eher polit-aktivistischen und einer eher polit-wis- 2. Zur Biographie von Karl Marx 64 <?page no="64"?> senschaftlichen Selbstverortung; er schwankte zudem bei der Einschätzung der Lage zwischen Pessimismus und illusorischem Optimismus. 2.3 Die Zeit in England England wurde nun plötzlich Fokus seiner Aufmerksamkeit, von dort sollte nun der neue Tanz losgehen, so Marx. Doch zunächst einmal war es die Flucht nach England, die losgehen sollte. Bereits am 19. Juli 1849 wurde die Ausweisung aus Paris angefertigt: Marx wurde (fast könnte man sagen: wie immer) aufgefordert, binnen 24 Stunden seinen Lebensort zu verlassen. Man wollte ihn in die Bretagne abschieben (Département Morbihan). Marx nahm dieses Angebot eines »verkleideten Mordversuchs«, das ihn erst einige Wochen später erreichte, da die Pariser Polizei seine Wohnadresse ermitteln musste, nicht an. Er erwirkte zwar für seine Frau einen terminlichen Aufschub der Ausweisung, doch es war klar, dass er wie- Karl Marx mit seinen Töchtern Jenny, Eleanor, Laura und Friedrich Engels (l.) - Repro einer Daguerrotypie von 1860; ullstein bild 2.3 Die Zeit in England 65 <?page no="65"?> der flüchten musste. Am 24. August fuhr Marx über den Kanal nach London; seine Familie kam drei Wochen später nach. Von kurzen Reisen abgesehen - die später vor allem seiner körperlichen Gesundheit resp. Krankheit galten - blieb Marx nun in England. Die räumlichpolitische Odyssee fand ihr Ende (abgesehen von einer Ausweisungsandrohung der englischen Behörden im Mai 1850) - und wurde doch nur abgelöst durch Odysseen der Erkrankungen und des finanziellen Überlebens, abgelöst durch eine »Misere des Lebens« (Marx), die, was die finanzielle Seite betrifft, erst ab 1869 ihre Elendsspitzen verlor, als Engels für Marx eine jährliche Rente in Höhe von siebentausend Mark aussetzte. Engels, der der Familie Marx bereits seit Januar 1857 einen monatlichen Zuschuss zahlte, wurde Teilhaber der väterlichen Fabrik in Manchester, ließ sich seinen Anteil auszahlen und konnte so als vermögender Bürger in London leben - und Marx nun endlich in Gänze subventionieren. Marx nahm Kontakt zur Londoner Zentralbehörde des internationalen kommunistischen Kampfbundes auf. Im ersten Rundschreiben, von Marx und Engels verfasst, erschienen nun auch selbstkritische Aussagen zu den auch von Marx verfolgten Strategien der 1848er Jahre in Deutschland: Wohnhaus (2. v. l.) der Familie in London, 9 Grafton Terrace; ullstein bild 2. Zur Biographie von Karl Marx 66 <?page no="66"?> »Während also die demokratische Partei, die Partei der Kleinbürgerschaft, sich in Deutschland immer mehr organisierte, verlor die Arbeiterpartei ihren einzigen festen Halt, blieb höchstens in einzelnen Lokalitäten zu lokalen Zwecken organisiert und geriet dadurch in der allgemeinen Bewegung vollständig unter die Herrschaft und Leitung der kleinbürgerlichen Demokraten.« (Marx/ Engels, Ansprache der Zentralbehörde an den Bund vom März 1850, MEW, Bd. 7, 244) Marx sah die Revolution in Deutschland verloren, doch hegte er weitgehende Hoffnungen, dass nun von England ausgehend die »revolutionäre Epoche« weitergetrieben werden könnte. Sprach er in Köln noch von Jahrzehnten des Wartenmüssens auf den endgültigen Durchbruch einer proletarischen Machtübernahme, so hielt er nun, in England, ebendiese in allerkürzester Zeit für möglich - eine krasse Fehleinschätzung, die Marx - im Verbund mit einer generellen Abkehr von der tagespolitischen Orientierung - alsbald korrigieren sollte. Doch noch war es nicht soweit. Im April 1850 gründete Marx mit fünf weiteren Aktivisten die »Société universelle des communistes révolutionnaires«, deren Aufgabe unter anderem in der Vorbereitung der Entrechtung aller privilegierten ? Klassen bestand - und in der Unterstellung dieser Klassen unter die Diktatur des Proletariats. Diese »Diktatur des Proletariats« 23 taucht in Marx’ Schriften immer wieder auf, in Reinform etwa in seiner späteren Kritik des Gothaer Programms der Sozialdemokratie: »Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. Das Programm nun hat es weder mit letzterer zu tun, noch mit dem zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft. Seine politischen Forderungen enthalten nichts, außer der aller Welt bekannten demokratischen Litanei: allgemeines Wahlrecht, direkte Gesetzgebung, Volksrecht, Volkswehr etc. Sie sind bloßes Echo der bürgerlichen Volkspartei, des Friedens- und Freiheitsbundes. Es sind lauter Forderungen, die, soweit nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben, bereits realisiert sind.« (Marx, MEW, Bd. 19, 28 f.) Die Zahl der Mitglieder des internationalen kommunistischen Kampfbundes wuchs stetig an. Im Sommer umfasste er bereits knapp 30 Gemeinden. Doch die »Hoffnungen« auf eine revolutionsauslösende Krise stellten sich als falsch heraus. Engels fand später in seinem Text Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten folgende zusammenfassenden Worte: 2.3 Die Zeit in England 67 <?page no="67"?> »Wozu diese Organisation aber dienen sollte, das hing sehr wesentlich davon ab, ob die Aussichten auf einen erneuten Aufschwung der Revolution sich verwirklichten. Und dies wurde im Lauf des Jahres 1850 immer unwahrscheinlicher, ja unmöglicher. Die industrielle Krisis von 1847, die die Revolution von 1848 vorbereitet hatte, war überwunden; eine neue, bisher unerhörte Periode der industriellen Prosperität war angebrochen; wer Augen hatte zu sehn, und sie gebrauchte, für den mußte es klar sein, daß der Revolutionssturm von 1848 sich allmählich erschöpfte.« (Engels, MEW, Bd. 21, 221) Schon mit der Übersiedlung nach London hatte Marx den Plan, die Neue Rheinische Zeitung als »politisch-ökonomische Revue« fortzuführen. Sie sollte mindestens einmal pro Monat erscheinen - herausgegeben von Marx in London, gedruckt in Hamburg. Es kam nur zu fünf Lieferungen; im November 1850 war das Aus dieser Zeitschrift besiegelt, die gewichtige Studien und Essays von Marx und Engels versammelte, etwa Marx’ Studie Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848-1850, in der er schon auf eine tiefer greifende politökonomische Krisis als Voraussetzung einer neuen Revolution verweist, und Engels’ Die deutsche Reichsverfassungskampagne. Marx fing nun an, die Bibliothek des British Museum aufzusuchen und sein Studium der Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftsempirie und Wirtschaftstheorie, das 1844 mit den »ökonomisch-philosophischen Manuskripten« anhob, dann aber unterbrochen wurde, konzentriert wie auch exzessiv auszuweiten - manchmal bis zur körperlichen Erschöpfung. Marx stürzte sich also in das erneute Studium - aber er unterbrach doch immer wieder seine bis ins kleinste gehenden Recherchen, etwa durch das Traktat Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (am 2. Dezember 1851 gelang Louis Napoleon der Staatsstreich in Frankreich), durch das mit Engels verfasste Pamphlet Die großen Männer des Exils 1852, eine Auftragsarbeit, für die er 25 Pfund erhalten haben soll, oder schließlich durch sein fast einjähriges Recherche-Engagement betreffs des Kommunistenprozesses zu Köln 1852. 1851 begann zudem eine gut zehn Jahre dauernde Existenz als Journalist: Marx schrieb vorwiegend für die US-amerikanische New York Daily Tribune - anfänglich, so die Marxforschung, hat Friedrich Engels ob seiner besseren Englischkenntnisse Artikel geschrieben, die Marx dann unter seinem Namen verschickte -, aber auch für die Londoner People’s Paper, für die Breslauer Neue Oder-Zeitung, auch für das Wiener Organ Die Presse. Viele Arbeiten, die er schon angefangen hatte, blieben weiterhin unter- und wurden dann schließlich abgebrochen (etwa: Kritik der Politik und Nationalökonomie, Lohnarbeit und Kapital). 1862 stellte Marx den ersten Kapital-Band fertig; er sollte 1863 erscheinen. Wie immer drängte Engels. Doch veröffentlicht wurde er im September 1867, 2. Zur Biographie von Karl Marx 68 <?page no="68"?> nach immer wieder neuen Umstellungen, Ergänzungen, Berichtigungen. Er sollte der Einzige der Kapital-Bände sein, den Marx selbst veröffentlichte. Nach Volker Elis Pilgrim (1990, 243) ist es gar das letzte Werk, das Marx zustande bringt: »Karl Marx arbeitet die gesamte Schrift [Bd. 1 des »Kapitals«, B. T.] um. Aber Umarbeiten ist nicht Kreieren. An einer schon bestehenden Schöpfung wird herumgebastelt - noch so komplizierte Einschübe, Veränderungen, Erweiterungen mögen das sein, diese Arbeit ist ausführende Produktivität und nicht innovative Kreativität. Die war für ›Das Kapital‹ bis Ende 1862 weitgehend geleistet worden. Nach 1867 erscheint kein Werk mehr von Karl. Was in den Biographien und Chroniken ab 1864 als ›Werk‹ geführt wird, sind Mitteilungen, Zusammenfassungen, Umarbeitungen, Rundschreiben, Statements, Berichte, sogenannte Adressen - politische Willenserklärungen, Lageberichte zu politischen Ereignissen -, Entwürfe von Statuten.« (Pilgrim 1990, 245 f.) Das Material für den zweiten und dritten Kapital-Band war überwiegend vor 1867 schon skizziert und entworfen. Jedoch: Die geplanten Bände waren, weniger der erste, doch in Gänze der zweite, weit von ihrer Publizierbarkeit entfernt. Engels brauchte für das Einrichten der Bände II und III zwei bzw. zehn Jahre. In der Forschung zu Marx gibt es zwei Erklärungsansätze, die das Ausbleiben weiterer Schriften und Werke - besonderes ab 1870, da den 52-jährigen Marx dank der Hilfe Engels’ keine finanzielle Not mehr drückte - zu verstehen suchen. Der eine Ansatz geht von einem radikalen Einbruch der Kreativität bei Marx aus, der andere von den immer stärker werdenden Krankheitsanfällen, denen Marx ausgesetzt war und die ihn an einer mehr oder weniger kontinuierlichen Veröffentlichung hinderten - letztere Sichtweise vertrat Engels, der alles versuchte, um diese Sicht als die einzig richtige Interpretation durchzusetzen. 24 Versiegte zwar seine Energie fürs Schaffen eigener neuer Werke, so fand Marx jedoch die Kraft für einen erneuten Anlauf, um sich mit außerordentlichem Engagement der wiedererwachten Arbeiterbewegung zu widmen. Nach der Verurteilung der Mitglieder des Kommunistenbundes in Köln und der Auflösung des Bundes hatte sich Marx, so Engels, von der politischen Agitation zurückgezogen; er »widmete sich […] während zehn Jahren der Durchforschung der reichen Schätze, welche die Bibliothek des Britischen Museums auf dem Gebiete der politischen Ökonomie darbot […]. Als erste Frucht seiner langjährigen ökonomischen Studien erschien 1859: ›Zur Kritik der Politischen Oekonomie‹, erstes Heft« (Engels, MEW, Bd. 19, 100). Doch das dezidiert politische Interesse, das sich zwischenzeitlich gar in ein Interesse an absoluter Distanz zur Arbeiterbewegung verwandelt hatte 25 , erwachte wieder: Engels weiter: 2.3 Die Zeit in England 69 <?page no="69"?> »Inzwischen war in verschiedenen Ländern Europas die Arbeiterbewegung wieder soweit erstarkt, daß Marx daran denken konnte, einen langgehegten Wunsch zur Ausführung zu bringen: die Gründung einer die fortgeschrittensten Länder Europas und Amerikas umfassenden Arbeiter-Assoziation, die den internationalen Charakter der sozialistischen Bewegung sowohl den Arbeitern selbst, wie den Bourgeois und den Regierungen sozusagen leiblich vorführen sollte - dem Proletariat zur Ermutigung und Stärkung, seinen Feinden zum Schrecken. Eine Volksversammlung zugunsten des eben von Rußland wieder erdrückten Polens am 28. September 1864 in St. Martin’s Hall in London gab den Anlass, die Sache vorzubringen, die mit Begeisterung aufgenommen wurde. Die Internationale Arbeiter-Assoziation war gestiftet; ein provisorischer Generalrat mit dem Sitz in London wurde auf der Versammlung gewählt, und die Seele dieses sowie aller folgenden Generalräte bis zum Haager Kongreß war Marx. Von ihm sind fast sämtliche vom Generalrat der Internationale erlassenen Schriftstücke redigiert, von der Inauguraladresse 1864 bis zur Adresse über den Bürgerkrieg in Frankreich 1871. Marx’ Tätigkeit in der Internationale schildern, hieße die Geschichte dieser Assoziation selbst schreiben, die übrigens noch im Gedächtnis der europäischen Arbeiter lebt.« (Engels, MEW, Bd. 19, 100 f.) Am 28. September 1864 wurde also die erste »Internationale« gegründet. In den provisorischen Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation, abgekürzt IAA, (MEW, Bd. 16), gleichsam von Marx angefertigt, war nun keinerlei »Volksfrontgedanke«, keinerlei Gedanke an mögliche Allianz- und Koalitionspartner des Proletariats mehr zu finden: die Emanzipation der ? Arbeiterklasse sei alleinige Angelegenheit der Arbeiterklasse; sie müsse durch sie selbst erobert werden (MEW, Bd. 16, 14). Die Internationale wuchs und entwickelte sich zu einer internationalen Plattform für die Wünsche, Hoffnungen und auch Aktivitäten der Arbeiter(bewegungsfunktionäre). Als nach dem Deutsch-Französischen Krieg (1870/ 71) in Paris der Aufstand der Pariser Kommune losbrach (mit zweimonatiger Lebensdauer, vom 18. März bis zum 18. Mai 1871), wurde die IAA als Verursacher identifiziert. Das ist zwar falsch, doch nach der extrem blutigen Niederschlagung der Kommune (mindestens 20 000 Kommunarden sollen getötet worden sein) durch die Regierungstruppen bekannte sich der Generalrat der IAA zur Kommune. Der Aufsatz Der Bürgerkrieg in Frankreich - von Marx ursprünglich als Manifest und als Adresse an das Volk von Paris gedacht - wurde bereits zwei Tage nach dem blutigen Ende der Kommune dem Generalrat der IAA vorgestellt. Er gilt heute noch als eine der umstrittensten Quellen seiner politischen Moral 26 , geschrieben 2. Zur Biographie von Karl Marx 70 <?page no="70"?> mit einer extremen Emphase und einem weit ausholenden Enthusiasmus (wenn auch sehr wahrscheinlich taktisch eingesetzt) für die revolutionäre Gewalt, wie sie sonst nirgends mehr auftauchen sollten. Denn er verteidigt, ja rechtfertigt den Terror der Kommunarden als einzig angemessene Reaktion auf den vorangegangenen Terror der Pariser Sicherheitskräfte. Noch 20 Jahre nach der Pariser Kommune, 1891, schrieb Engels in seiner Einleitung zu Marxens Der Bürgerkrieg in Frankreich dies: »Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.« (Engels, Einleitung zu: Der Bürgerkrieg in Frankreich [für die Ausgabe 1891], MEW, Bd. 17, 625) Die IAA war eine Art Sammelbecken unterschiedlichster Auffassungen darüber, wie die Emanzipation des Proletariats zu bewerkstelligen sei, sowie darüber, wie eine befreite und gerechte Gesellschaft in der Zukunft organisiert zu sein habe. Sie hatte daher intern zwangsläufig Kontroversen über »den richtigen Weg« auszuhalten, Kontroversen, die zum Teil so heftig und intrigenreich waren, dass man auch von »Grabenkämpfen« sprechen kann. Marx’ Auffassung von »linker« Gesellschaftstheorie und Politik war nicht unumstritten, auch wenn er als der intellektuelle Kopf der Internationale galt. Neben den ideologischen Kontroversen, die Marx mit dem italienischen National-Freiheitskämpfer Mazzini und mit dem französischen Sozialisten Proudhon 27 führte, prägte jedoch vor allem sein ideologischer »Kampf« mit dem russischen Anarchisten Michael Bakunin das innere Gefüge des Generalrats der IAA. Bakunin (und seine Anhänger) lehnten Marxens wissenschaftlich-sozialistische Auffassung ab, der gemäß die proletarische Revolution mit dem Stand der Entfaltung der Produktivkräfte, also mit dem Stand der historischen und sozioökonomischen Reife der ? Arbeiterklasse, kausal verknüpft werden müsse. Erst wenn eine »systemische Entsprechung« zwischen dem geschichtlichem Ereignis namens »Revolution« und der sozioökonomischen Struktur namens »Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen« erreicht sei, könne die Revolution erfolgreich, d. h. historisch wirksam sein. Bakunin verfolgte dagegen eine - wenn man es so sagen darf - situationalistische, eine sozialdynamische und aktionistische Auffassung von Revolution. Er lehnte jede strategische Institutionalisierung ab, also auch Marx’ Vorschlag, dass sich die Arbeiter in jedem Land parteilich und damit zentral organisieren sollen; er fürchtete, dass Marx’ Vorstellungen, sollten sie befolgt werden, zu einem autoritären Kommunismus führen würden. 1872 kam es auf dem IAA-Kongress im Haag zu einer ersten, weittragenden Auseinandersetzung zwischen »Bakuninisten« und »Marxisten«. Sie hatte zur Folge, dass Bakunin ausgeschlossen und der Sitz des Generalrats von London nach 2.3 Die Zeit in England 71 <?page no="71"?> New York verlegt wurde - gewissermaßen eine Art Evakuierung. Doch dies sollte nicht lange halten; die Internationale hatte sich überlebt: »Die Stunde der unabhängigen Arbeiterparteien in den einzelnen Staaten war gekommen« (Euchner 1983, 46). »Ihre Geschichte [die der IAA, B. T.] in Amerika ist ein allmähliches Sterben, ein Dahinsiechen, ab und zu unterbrochen von Krisen im kleinsten Kreis, ein Sichspalten und wieder Spalten, so daß sogar nicht einmal genau festzustellen ist, wann sie erlosch.« (Nicolaevsky/ Maenchen-Helfen 1982, 380) Noch einmal trat Marx in der sich anbahnenden Konsolidierung und »Entrevolutionierung« der Arbeiterbewegung auf den Plan: Anlässlich der 1875 erfolgten Vereinigung der beiden Arbeiterparteien, die sich in den 1860er Jahren in Deutschland gegründet hatten - Ferdinand Lasalles Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein sowie Karl Liebknechts und August Bebels Sozialdemokratische Arbeiterpartei -, schrieb Marx die Kritik des Gothaer Programms (MEW, Bd. 19), eine Art Abrechnung mit der nun »Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands« genannten Spitze der Arbeiterbewegung, die zum Teil vernichtend war. Marx setzte nach seinem Zusammenbruch 1873 immer wieder an, den geplanten zweiten Band des Kapitals fertigzustellen. Er lernte Russisch - er wollte nun Russland als Referenz benutzen bei der Behandlung der Grundrente -, er vergrub sich in Büchern, er litt an seinen immer häufiger ausbrechenden Erkrankungen. Von einem längeren Aufenthalt in Paris 1881 wieder nach London zurückgekehrt, überschlugen sich nun die Ereignisse. Am 2. Dezember starb Jenny Marx nach einer langen Leidenszeit an Leberkrebs. Marx konnte dem Begräbnis nicht beiwohnen - er lag wegen einer starken Rippenfellentzündung auf dem Krankenbett. 1882 versuchte er durch mehrmalige Kuren seiner Atembeschwerden Herr zu werden - doch vergeblich. Am 11. Januar starb überraschend seine 38 jährige Tochter Jenny. Marx, zermürbt, depressiv, neben den bestehenden Krankheiten nun auch einer Kehlkopfentzündung ausgesetzt, starb am 14. März 1883 - nach den Worten Engels ruhig und schmerzlos. Was dann kam, die Geschichte der Entwicklung der Marx’schen Lehren, Marxismus genannt, ist, so Werner Blumenberg. »nicht mehr Marx’ Geschichte. Seine Ideen trennten sich in ihrer geschichtlichen Auswirkung von ihrem Schöpfer und führten, entstellt und wuchernd, ein Eigenleben« (Blumenberg 1962, 158). Darum wird es im nächsten Kapitel zu tun sein. 2. Zur Biographie von Karl Marx 72 <?page no="72"?> 3. Marxismus und Marxismen. Verbindungen, Spaltungen und Weiterführungen der Marx’schen Theorie »Ce qu’il y a de certain c’est que moi, je ne suis pas Marxiste« (Marx über sich, überliefert von Friedrich Engels in einem Brief an Eduard Bernstein [1882], MEW, Bd. 35, 388) »Der Koran tritt an die Stelle von Marx, Lenin und Mao, und statt auf Gramsci beruft man sich auf Sayed Qutb« (Hans Magnus Enzensberger, Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer, FFM 2006, 26) Fragt man nach Quellen, Texten, Autoren, Denkrichtungen und historischen Ereignissen, die als Bezugspunkte für Marx’ Werk von Bedeutung sind, so ist, bei aller Vielfalt im Einzelnen, diese Frage doch recht leicht zu beantworten: • philosophisch wurde Marx maßgebend von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) beeinflusst (vgl. Kap. 3.3), • ökonomietheoretisch maßgebend von Adam Smith (1723-1790) und David Ricardo (1772-1823; vgl. Kap. 4), • sozial(ismus)-utopisch maßgebend von Claude-Henri de Saint-Simon (1760-1825), Charles Fourier (1772-1837) und Robert Owen (1771-1858), • klassenkampf-historisch maßgebend von den »bürgerlichen« Historikern der französischen Restaurationszeit nach 1815, namentlich u. a. von Louis-Adolphe Thiers (1797-1877), François-Pierre-Guillaume Guizot (1787-1874), François Auguste Marie Mignet (1796-1884), • arbeiterbewegungspraktisch maßgebend von den Arbeiteraufständen 1831 bis 1834 in Lyon 28 sowie von der ersten politischen Massenbewegung der Arbeiter Ende der 1830er Jahre in England, also von den Chartisten (Hautmann 2001, 25 ff.). Dies sind also einige wesentliche Vorläufer und Bezugspunkte von Marx’ Denken. Doch wie sah und sieht es mit den »Nachläufern« aus? Dieses Kapitel möchte Einblick geben in die Vielfalt und Divergenz all der Bewegungen intellektueller, politischer und philosophischer Art, die sich in ihrem 73 <?page no="73"?> Selbstverständnis auf die Marx’schen Schriften bezogen haben und beziehen resp. sich gegen Marx und den Marxismus aussprachen bzw. aussprechen, ohne dabei den Anspruch aufzugeben, sich als »links« zu verstehen. Seit Marx und Engels hat die Verwirrung darüber, was marxistisch, was links, was revolutionär, was konterrevolutionär, was progressiv und was antikapitalistisch ist, nicht nachgelassen. Ist man automatisch links, wenn man Sozialist ist? Muss man Sozialist sein, wenn man sich der »Linken« zugehörig wähnt? Welche Unterschiede bestehen zwischen vormarxistischen, marxistischen, neomarxistischen, nachmarxistischen und nichtmarxistischen Vorstellungen einer Gesellschaftskritik und einer sozialistischen/ kommunistischen Gesellschaft? Diese Fragen, die selbst für Insider immer wieder Quell des Missverständnisses waren und sind, wurden und werden von außenstehenden Beobachtern meist nicht mehr nachvollzogen. Die Vereinfachung und damit Trivialisierung, die sich historisch durchgesetzt hat, bestand darin, Marxismus nicht mehr als ein pars pro toto zu verstehen, sondern in Gänze gleichzusetzen mit einer »linken« Gesellschaftssicht. 29 Differenzierte Rekonstruktionen der Marx/ Engels-Rezeption und der Entwicklung des Marxismus sprechen dagegen von Strömungen des Marxismus, Hauptströmungen und Nebenströmungen (Kolakowsky 1976-78), wie auch von einer ersten Welle des Marxismus (vor dem Ersten Weltkrieg) und einer zweiten Welle (nach dem Ersten Weltkrieg). Ob die Wellen marxistischer Bewegungen ab der Mitte der 1960er Jahre bis heute auch noch als Strömungen zu bezeichnen sind, also weiterhin als Ausflüsse, als sogenannte Emanationen gelten sollen und damit genealogisch, herkunftsorientiert zu beschreiben sind, oder ob sie mit dem Begriff der Emergenz 30 besser zu fassen sind, sie also Bewegungen sind, die unerwartet neue Eigenschaften besitzen, die nicht aus ihrer Herkunft stammen, bleibt hier offen. Offen ist hingegen nicht, ob Marx indirekt für die reichhaltige, verwirrende und auch gewaltsame Rezeption seines Werkes mitverantwortlich gemacht werden kann. Zumindest ist plausibel, dass Marxens doppelter »Zweifrontenkampf« sowohl die Orthodoxie, also »die Reinheit« und buchstabengetreue Auslegung, wie auch die Devianz, also die Abweichung und damit neue Auslegung nachfolgender marxistischer Bewegungen begünstigte: Marx »kämpfte« • gegen abweichende Vorstellungen bezüglich des Sozialismus und der Analyse des Kapitalismus innerhalb der Reihen seiner Mitstreiter, • gegen die »bürgerlichen« Vorstellungen bezüglich der Kapitalismusanalyse; Er kämpfte zudem: • innerhalb seines eigenen Werkes an der Front der Geschichtsphilosophie, die sich nicht in Gänze in Wissenschaft übersetzen ließ, 3. Marxismus und Marxismen 74 <?page no="74"?> • und an der Front der Wissenschaft, die sich nicht in Gänze den geschichtsphilosophischen Überzeugungen unterordnen ließ. Dies bedeutet: Die Spannungsgeladenheit, Lebendigkeit, Brutalität der Rezeption von Marx’ Theorie verdanken sich nicht allein den Erben resp. sind nicht ihnen alleine anzulasten; sie stecken schon in der Anlage des Marx’schen Werkes selbst. Mitverantwortlich dafür sind also zwei Doppelfronten: die eine ist eher eine politische und theorie-politische Front gegen innere und äußere Gegner seiner Philosophie, die andere eher eine epistemologische, d. h. die grundlegenden Bestimmungen von Wissenschaftlichkeit betreffende Front gegen die eigene Anlage seines Werkes, das den Versuchungen sowohl einer unwissenschaftlichen Geschichtsphilosophie wie auch den Versuchungen eines ahistorischen (teleologischen) Wissenschaftspositivismus ausgesetzt war - also den Versuchungen, sowohl eine bloß spekulative Vorstellung vom Sinn der Geschichte zu entwickeln, wie auch eine Vorstellung, die das Ziel der Entwicklung von Geschichte als schon ausgemachte Sache annimmt und deswegen davon ausgeht, dass Geschichte nur noch faktisch bestätigt, was ihre eigentliche Bestimmung ist. 3.1 Zweimal zwei »Fronten« 3.1.1 Erste Front: Innere und äußere Gegner Dass sich nach dem Erfolg einer bestimmten Theorie, Philosophie, Lehre oder Weltanschauung unterschiedlichste Sichtweisen, Interpretationen oder »Schulen« bilden, gehört zu den trivialen Tatbeständen einer jeden historischen Rekonstruktion von Denksystemen, deren Rezeption selbst historische Wirksamkeit und Nachhaltigkeit erlangte. Doch bei keinem anderen Gesellschaftstheoretiker hat sich die Rezeption in so viele unterschiedliche Strömungen, Richtungen und Lager ausgeweitet wie bei Karl Marx - und bei keiner anderen Theorie sind die Auslegungs- und Lagerkämpfe so hart, schonungslos und dogmatisch, aber auch so selbstkritisch und undogmatisch verlaufen. Marx selbst ist für die Schärfe der Auseinandersetzung zu einem guten Teil mitverantwortlich: Seine Abrechnungen mit, seine Kritik der und Polemiken gegen Autoren, die sich auch der Sache der Emanzipation der ? Arbeiterklasse und der Aufhebung von Unterdrückung und Ausbeutung verpflichtet sahen, machen einen zumindest quantitativ gewichtigen Teil seines Gesamtwerkes aus. Seine Schriften etwa gegen den Berliner Linkshegelianismus in Gestalt Bruno Bauers, gegen die 3.1 Zweimal zwei »Fronten« 75 <?page no="75"?> »kleinbürgerliche« Sozialismustheorie Pierre-Joseph Proudhons, gegen die »anarchistische« Theorie Michael Bakunins, gegen die sich gründende deutsche Sozialdemokratie und generell gegen die »deutsche Ideologie« (MEW, Bd. 3), ganz zu schweigen von seinen Auseinandersetzungen mit Vertretern innerhalb der politischen Arbeiterbewegung des Kommunistenbundes und der Internationalen Arbeiterassoziation, zeigen vor allem eins deutlich: der politische, theoretische und philosophisch-wissenschaftliche Disput mit »Freunden«, Mitstreitern, Anhängern eines Sozialismus war Marx mindestens so wichtig wie der Disput und die Auseinandersetzung mit den »äußeren Gegnern«, den »bürgerlichen« Theorien, den herrschaftslegitimierenden Philosophien. Ja, mehr noch: Für Marx schien es schlimmer, eine richtige Vorstellung von den Notwendigkeiten der Gesellschaftsveränderung falsch zu denken, als eine richtig falsche Vorstellung von Gesellschaft (wie er sie etwa dem englischen Ökonomietheoretiker David Ricardo nachzuweisen suchte) zu verfolgen. Das wirkungsgeschichtlich Problematische an dieser Kritiktradition in den eigenen Reihen war indes, dass die Unterscheidungseinheit links/ rechts, die eine klare, etablierte Seitentrennung bezeichnet, als Unterscheidung nicht mitübernommen wurde, also nicht das passierte, was man unterscheidungstheoretisch ein re-entry nennt, d. h.: die Wiedereinführung einer Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene. Daher ist es auch nie zu einer umfassenden Etablierung der links/ rechts-Unterscheidung innerhalb der marxistischen und linken Strömungen gekommen, sondern zu oft zu strikten Ausschließungen und Denunziationen (siehe als Beispiel Reichel 1972). Da es keinen Platz für einen rechten Marxismus auf der linken Seite gab, wurde diese linke Seite zu schnell orthodox und dogmatisch gefasst, wurden Sichtweisen des Marxismus, die der orthodoxen Sichtweise nicht entsprachen, als Abweichung, als Verrat, als konterrevolutionär, als Revisionismus (s.w.u.) markiert - anstatt, wie gesagt, als rechte Varianten. Das ist ein Grund für die bis in die jüngste Vergangenheit anhaltende Polyphonie, Zerrissenheit und Grabenkampfmentalität linker Strömungen, der Grund für die von vielen Beobachtern nicht nachvollziehbare Tendenz, den politischen und gesellschaftstheoretischen »Gegner« zuvörderst in den eigenen Reihen auszumachen statt auf der bürgerlich-liberalen oder reaktionären Seite. Das von Engels überlieferte und oft zitierte Bekenntnis Marxens, er sei sicherlich kein Marxist (»Ce qu’il y a de certain c’est que moi, je ne suis pas Marxiste«; MEW, Bd. 35, 388 - von Marx ausgesprochen betreffs der in seinen Augen falschen französischen Rezeption seiner Schriften; zur bibliographischen Rekonstruktion dieses Ausspruchs und verwandter Aussagen Iring Fetscher 1984, 41 f.), ist ein beredtes Zeichen für eine generelle Haltung, die sich eher an der Abgrenzung, an dem Singular der Wahrheit denn am Kompromiss orientierte und orientiert. 3. Marxismus und Marxismen 76 <?page no="76"?> Vielleicht ist es nicht ganz falsch, diese Praxis der Theorie zum ersten Mal in der französischen Revolution wirkmächtig zu sehen; und zwar im Jakobinismus Robespierres. In Georg Büchners Dantons Tod (Stuttgart 1989, 24) gibt es folgenden Wortwechsel zwischen dem orthodoxen Robespierre und dem undogmatischen Danton: Robespierre: »Ich sage dir, wer mir in den Arm fällt, wenn ich das Schwert ziehe, ist mein Feind - seine Absicht tut nichts zur Sache; wer mich verhindert, mich zu verteidigen, tötet mich so gut, als wenn er mich angriffe.« Danton: »Wo die Notwehr aufhört, fängt der Mord an; ich sehe keinen Grund, der uns länger zum Töten zwänge.« Robespierre: »Die soziale Revolution ist noch nicht fertig; wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt sich selbst sein Grab. Die gute Gesellschaft ist noch nicht tot, die gesunde Volkskraft muß sich an die Stelle dieser [..][ ? ] Klasse setzen. Das Laster muß bestraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrschen.« - Dieser Rigorismus Robespierres hat sich vor allem im sowjetischen Marxismus-Leninismus wiederholt. 3.1.2 Zweite Front: social problems vs. theoretical problems Doch dieser theoriepraktische und dann maßgebend parteipolitische »Zweifrontenkrieg« innerhalb bestimmter marxistischer Strömungen ist nur die eine Seite einer Doppelauseinandersetzung, die mit Marx und seiner Theorie anhob. Die andere Seite, also die andere Front, ist eher wissenschaftstheoretischer Art. Es geht dabei um den Status und die Zuordnung der Aussagen, die man trifft, wie auch um den Status der Erkenntnisgegenstände, die man verhandelt. Es geht also um die Frage, ob man Aussagen trifft, die dem Wissen oder dem Glauben entspringen, und um die Frage, ob man es mit Tatsachen oder mit Werten zutun hat. Kurz gesagt also: Produziert man Bekenntnisse oder Erkenntnisse (wobei man weiterfragen kann im Sinne von: Ist diese Unterscheidung eine erkenntnishafte oder eine bekenntnishafte Unterscheidung)? Marx’ Entwicklung seines Werkes ging eindeutig in Richtung Erkenntnis, ging also grob gesagt von der Überzeugung aus, dass sich die Unhaltbarkeit kapitalistischer Produktionsweise, dass sich die systemeigene Sprengkraft der Widersprüche zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften, dass sich das Proletariat als historisches Subjekt der Befreiung auch wissenschaftlich nachweisen lassen und nicht einfach Ergebnisse moralischer Wünsche und bewertender Vorstellungen sind. Die Ergebnisse und Erkenntnisse von Marx’ Analysen sollten sich als objektiv, als wissenschaftlich fundiert erweisen - freilich erst, nachdem das, was bisher »bürgerlich« als Objektivität, Wissenschaftlichkeit und Wahrheit galt, ersetzt sein würde durch den Historischen Materialismus, den wissenschaftlichen Sozialismus 3.1 Zweimal zwei »Fronten« 77 <?page no="77"?> und den Dialektischen Materialismus*. In dieser Hinsicht war Marx ganz Denker seiner Zeit, in der überwiegend die Rationalität der Wissenschaft als Leitorientierung anerkannt war. * Das Kompositum »Dialektischer Materialismus« als Bezeichnung einer qualitativen Methodologie des Marxismus stammt nicht von Marx und Engels, sondern aus den Rezeptionsbewegungen (siehe auch weiterführend Etienne Balibar, La Philosophie de Marx, Paris 1993). In der Weise, wie die Naturwissenschaften als die menschenmögliche Verkörperung des wahren Wissens über die Natur akzeptiert wurden, sollte der historische Materialismus als menschenmögliche Verkörperung des wahren Wissens über die Geschichte des Menschen und der Gesellschaft anerkannt werden. Das »notwendig falsche Bewusstsein«, das Marx mit komplexer Akribie in nichtmarxistischen linken wie bürgerlichen Beschreibungen der Wirklichkeit und Gesellschaft zu entschlüsseln meinte, betraf nicht das eigene Bewusstsein und die eigene Art und Weise des Gebrauchs von Rationalität 31 (zur Kritik siehe Schulte 1992) - eine epistemologische Zwickmühle namens performativer Selbstwiderspruch setzte damit ein, die im 20. Jahrhundert vor allem den neomarxistischen Vertretern der kritischen Theorie vorgeworfen wurde, insbesondere Adorno. Der Marx’sche Denkkorpus enthält also zwei Stränge (Glauben und Wissen, Positivitäten und Werte), die Marx als zusammengehörig zu denken suchte: • einerseits folgte er der christlich-humanistischen Ethik, nämlich der Frage nach dem Elend des Nächsten, also einem moralischen Gestus; • andererseits folgte er der Logik der Erkenntnisfrage: Wie ist die Analyse der objektiven Strukturbedingungen des Seins (der Gesellschaft, der Ungerechtigkeit, des Reichtums usw.) objektiv konstruierbar? Beide Stränge stehen nebeneinander und sind nur in der geschichtsphilosophischen Hoffnung erfolgreicher proletarischer Revolution verschränkt, die die ? Entfremdung und ? Verdinglichung des Menschen aufheben soll. Der Konflikt und damit das Scheitern von Marx’ Revolutionsphilosophie und Krisentheorie liegt darin, dass der ethische Impuls seiner Theorie und sein Anspruch, wahres Wissen über die Strukturgesetze von Geschichte und Gesellschaft zu produzieren, substanziell verschieden sind. Oder, wenn man so will: in der Verquickung von Ethik und Wissen bzw. der Frage nach dem Guten und der Frage nach dem Wahren. Mit Marx hat sich eine epistemologische Auffassung von Sozialwissenschaft etabliert und durchgesetzt, die die sogenannten social problems als Vorgaben für Problemstellungen der wissenschaftlichen Arbeit rundum akzeptiert, ja zur Bedingung sinnvoller Wissenschaft macht: Wissenschaft habe sich nicht vordringlich mit logischen, sprachlichen oder technischen Problemen auseinanderzusetzen, 3. Marxismus und Marxismen 78 <?page no="78"?> sondern stehe in der Pflicht, vom vermeidbaren Leid, von der vermeidbaren Unterdrückung, von der vermeidbaren Ungerechtigkeit der Menschen auszugehen und in Bezug darauf die Probleme zu formulieren, um sie wissenschaftlich zu lösen. Mit dieser Auffassung nahmen im übrigen die bis heute nicht geklärten Fragen nach der »Werturteilsfreiheit« wissenschaftlicher Aussagen, nach dem Status von teilnehmender Beobachtung und beobachtender Teilnahme bei der Konstruktion wissenschaftlichen Datenmaterials eine entscheidende Wendung - und wirkten hinein bis in die Frage nach dem Status von Erkennen und Verstehen (siehe umfassend: Sandkühler 1991), eine Frage, deren kontroverse Diskussion bis heute das Selbstverständnis der Sozialwissenschaften mitkonstituiert. Marx versuchte also, ohne explizit eine richtige Methodologie und Epistemologie zu formulieren, im Historischen Materialismus resp. im wissenschaftlichen Sozialismus beide Stränge, beide Orientierungen - einmal in Richtung der Vorgabe social problems, das andere Mal in Richtung der Vorgabe theoretical/ analytical problems - zu vereinen. Zumindest aus der akademischen Perspektive heraus ist dieser Versuch gescheitert. Dazu nochmals Derrida (1995, 61): »Schließlich nennt Blanchot die notwendige Sondierung (disjonction) der Sprachen von Marx, ihre Ungleichzeitigkeit mit sich selbst. Daß diese sich sondern, ›aus den Fugen gehen‹ (se disjoignent), und zwar schon bei Marx selbst, darf man weder verleugnen noch einschränken, ja noch nicht einmal beklagen. Worauf man immer wieder zurückkommen muß, […] das ist eine irreduzible Heterogenität, in gewisser Weise eine innere Unübersetzbarkeit.« Es hat sich vielmehr und nicht nur innerhalb der nichtmarxistischen Wissenschaftsauffassungen eine Sicht durchgesetzt, aus der heraus recht selbstverständlich der Verdacht geäußert wird, dass das Festhalten an der von Marx vorgenommenen Verquickung von Werten und Tatsachen dazu führt, dass »Realität« zugunsten philosophischer Visionen und dogmatischer Überzeugungen geopfert wird. Man optiert daher für eine strikte Trennung von social und theoretical problems innerhalb der Wissenschaft; und innerhalb dieser Trennung, die Richard Rorty einmal als die Unterscheidungen Demokratie versus Philosophie sowie Solidarität versus Objektivität operationalisierte (Rorty 1988), optiert man dann für Demokratie und gegen den Anspruch auf Objektivität (Wahrheit). Vonseiten eines wissenschaftlichen Sozialismus wird dagegen betont, dass eine solche Trennung der Gut- und Wahr-Ansprüche von (Sozial-)Wissenschaft selbst zutiefst ideologisch sei. Sie sei zudem einer bürgerlichen Weltauffassung verhaftet, die jeglichen Gedanken an Emanzipation, Befreiung und Gesellschaftsveränderung ausschließt, weil sie in der bürgerlich-kapitalistischen Verfassung der Gesellschaft Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit als juristisch und formal erfüllt ansieht. 3.1 Zweimal zwei »Fronten« 79 <?page no="79"?> Die Quintessenz dieser beiden wissenschaftstheoretischen und wissenschaftspolitischen Richtungen mündete, pointiert formuliert, in gegenseitige Zuschreibungen vorwerfender Art: entweder wurde behauptet, die »bürgerliche Richtung« betreibe eine methodisch menschenverachtende Theorie*; oder es wurde behauptet, die »wissenschaftlich-sozialistische Richtung« betreibe inhaltlich menschenverachtende Diakonie (der behauptete Hilfsdienst für »die Armen« verkehre sich in eine weitere Form der Unterdrückung und auch Vernichtung); die eine verkenne die Größenordnungen des Einflusses der wirklichen, materialistischen Formen, d. h. der wirklichen Lebensumstände der Menschen, für die Bildung und den Zusammenhalt von Gesellschaft, indem sie das Leiden der Menschen als wissenschaftlichen Rahmengeber ausschalte und sich nur auf die Logik beschränke; die andere sei qua Benutzung von vorsoziologischen Begriffen wie ? Entfremdung, Fetischisierung, ? Verdinglichung, Verelendung, Legitimation, Alltagserfahrung und Solidarität dazu verdammt, wissenschaftlich niemals an die Differenziertheit moderner Gesellschaft heranzureichen und mit ihren Aussagen im 19. Jahrhundert steckenzubleiben. * Marx hat zunehmend und dann in seiner Arbeit an Das Kapitel ohne Skrupel diesen methodischen Antihumanismus geschätzt - als Kontrast zu »falschen Humanismen« bei sozialistischen und liberalen Schriftstellern. In den Frühschriften hingegen wird noch eine humanistische Empörung laut. Etwa: »Ricardo in seinem Buch (Rent of Land): Die Nationen sind nur Ateliers der Produktion, der Mensch ist eine Maschine zum Konsumieren und Produziern; das menschliche Leben ein [ ? ] Kapital; die ökonomische Gesetze regieren blind die Welt. Für Ricardo sind die Menschen nichts, das Produkt alles.« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW, Bd. 40, 494) Was also an dieser Front bis in die jüngste Vergangenheit hinein von Marx ausgehend seinen Weg nahm, ist die Frage danach, wie und ob eine Theorie mit wissenschaftlichem Anspruch normative Aussagen zu treffen vermag, und inwieweit eine Theorie letztlich nur deskriptive Aussagen zu formulieren hat, so sie sich als wissenschaftliche Theorie versteht. Innerhalb der Sozialwissenschaften hat sich dieser grundlegende Unterschied in zwei Erkenntnisfragen operationalisiert: Man fragt entweder »Was steckt dahinter? « oder »Was ist der Fall? « Neuerdings und maßgebend von der soziologischen Systemtheorie angeregt erfährt dieser sozialwissenschaftliche Disput eine weitere Operationalisierung in Gestalt der Unterscheidung: »Was-Fragen« vs. »Wie-Fragen«. Bei den Was-Fragen erfolgt der Blick auf gesellschaftliche Tatsachen weiterhin unter der Vorgabe, dass Gesellschaft so, wie sie ist, nicht sein soll; bei den Wie-Fragen dagegen geht es darum, zu untersuchen, wie Gesellschaft ist und konstruiert wird, ohne Kritik. 3. Marxismus und Marxismen 80 <?page no="80"?> Luhmann bringt diese Perspektive abschließend so auf den Punkt: »Die Beobachtung zweiter Ordnung sieht von Kritik ab. […] Sie stellt sich resolut von einer Was-Perspektive auf eine Wie-Perspektive um. […] Wenn man so verfährt, retten die Kritiker, mit denen man wohl noch lange zu rechnen hat, sich in die Frage: wozu das, wenn gar nicht mehr angegeben wird, was denn damit erreicht werden soll? « (Luhmann 1995, 163). Für den heutigen Zustand innerhalb der Soziologie und generell der Sozialwissenschaften ist festzustellen, dass der wissenschaftliche Sozialismus als »Methodologie« der Verschränkung normativer und deskriptiver Aussagen fast das gleich Schicksal teilt wie der Marxismus als einstmalige kulturelle Bewegung: Die Eigenständigkeit und Identifizierbarkeit trat spätestens mit Beginn der 1980er Jahre in die Phase der Auflösung ein. Dabei war die Akademisierung des Marxismus vornehmlich in den 1970er Jahren schon eine Reaktion auf die Erschöpfung des Marxismus als kulturelle Bewegung. Die Erschöpfung oder Auflösung des wissenschaftlichen Marxismus in einem der letzten verbliebenen gesellschaftlichen Bereiche, also dem Bildungsbereich (neben dem Gewerkschaftsbereich), ist allerdings ambivalent zu betrachten, wie es Ferenc Fehér und Agnes Heller (1986, 313) prägnant zum Ausdruck bringen: »Es ist […] durchaus nicht unerklärlich, daß gerade diese augenscheinliche Erschöpfung des Bewegungs-Potentials den Marxismus ins akademische Sanktuarium befördert hat, wo er nun zu einem wesentlichen Bestandteil des Lehrplans geworden ist. Wenn man sich ein klassisches Beispiel einer akademischen Streitfrage, wie die hundertjährige Debatte über die Französische Revolution, ansieht, in die um die Jahrhundertwende fast heimlich marxistische Kategorien eingeschmuggelt worden sind, dann macht man die interessante Entdeckung, daß leidenschaftlich linke wie leidenschaftlich rechte Interpreten gleichermaßen zwanglos marxistische Kategorien zu ihrer Beweisführung heranziehen. Sie verwenden sie ganz selbstverständlich, und zugleich deuten sie sie um und lösen sie auf. Diese Eroberung der akademischen Festung […] ist weder ein Zeichen des Sieges noch eines der Niederlage. Es ist ein Zeichen der sich wandelnden Geschichte, deren ›Macher‹ - und kein Geringerer als Karl Marx hat uns an diese entscheidende Tatsache erinnert - wir sind, die gesellschaftlichen und geschichtlichen Akteure.« Gegenwärtig ist in den Sozialwissenschaften die Tendenz erkennbar, den Marx’schen wissenschaftlichen Sozialismus und nicht den marxistischen wissenschaftlichen Sozialismus erneut zu rekonstruieren. Dabei wird vor allem die analytische und methodische Seite von Marx’ Theorie in den Blick genommen (siehe 3.1 Zweimal zwei »Fronten« 81 <?page no="81"?> etwa Iorio 2003; Niechoj 2003), um zwei wesentliche Elemente von Marx’ Denken für die Gegenwart und Zukunft wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion anschlussfähig zu machen: • zum einen die strukturelle Kritik der Gesellschaft ohne ontologische und transzendentale Voraussetzungen (Aprioris), also ohne »Seinsvorgaben« wie etwa der, das Proletariat stehe für die Menschheit, und ohne »übermenschliche« Vorgaben wie etwa der, dass der Geschichte das »Endziel« einer kommunistischen Gesellschaft schon innerlich sei; • zum anderen die Selbstreflexion der theoretischen Praxis, also die Fähigkeit, die eigene Theoriebildung in der Theorie selbst nachvollziehbar verorten zu können (Selbstreferenzialität). 3.2 Marx als Drehscheibe der Marxismen und »linker« Politik/ Theorie Es gibt Elemente des Werkes von Marx und Engels 32 , die in ihrer Bedeutung, Rezeption und Grundlegung eine relative Eindeutigkeit besitzen, zumindest in der sozialwissenschaftlichen Rekonstruktion. So gilt Engels’ Zur Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen (MEW, Bd. 2) als ein Grundstein der umfassenden, empirisch ausgelegten qualitativen Sozialforschung; oder Die deutsche Ideologie (MEW, Bd. 3) von Marx und Engels als Inbegriff einer wissenssoziologischen Studie gesellschaftlicher Semantik und der Begriffspragmatik. Auch dass mit Marx und Engels die sich langsam Kontur verschaffende Soziologie, verstanden als »neue« Denkungsweise, ein zentrales Fundament erhielt, ist bis in die jüngste Gegenwart hinein relativ ausgreifend akzeptiert worden. 33 Doch die meisten Elemente, ja Theoriemodule von Marx’ Werk teilen das Schicksal einer Erbmasse, für die es kein Testament gibt: Es beginnt ein Streit der Erben darüber, was wem gehört, was wie viel wert ist und bedeutet, was schließlich vom Vererbenden wie gemeint war - und was auf keinen Fall zu seiner Hinterlassenschaft gehört. Dabei geht es, wie Derrida in seinem Buch Spectres de Marx (dt.: Derrida 1995) aufzeigt, mindestens vieldeutig, undeutlich, gar gespenstisch zu. Von diesem gleichermaßen wissenschaftlichen wie politischen Streit sind die Arbeits- und generell die ? Wertlehre, die Revolutionstheorie, die historisch-logische Analyse der Klassen- und Kapitalbildung sowie die geschichtsphilosophische Einbettung des »neuen« Subjekts namens Proletariat resp. ? Arbeiterklasse betroffen. 3. Marxismus und Marxismen 82 <?page no="82"?> Als ganz besonders vieldeutig und unklar stellte sich indes die sozialkulturelle Bedeutung von Marx’ Schriften in der Rezeptionsgeschichte und Verwirklichungsgeschichte heraus. Die enorme Uneinheitlichkeit des Marxismus als soziokulturelle Bewegung führte schließlich zu einer ebenso enormen Vereinfachung. Verkürzt pointiert: Alles, was sich mit der Gesellschaft und den Verhältnissen in ihr kritisch beschäftigte, erwarb das Adjektiv »marxistisch«. Marxistisch sein und gesellschaftspolitisch links sein, kritisch sein, Veränderungen wollend - das wurde, zumindest von externen Beobachtern, synonym gesetzt. Und noch immer scheint es gegenwärtig so zu sein, dass wie auf Knopfdruck Marx und der Marxismus genannt wird, so man danach fragt, was im weitesten Sinne linke, gesellschaftskritische, emanzipatorische, revolutionäre Politik, Wissenschaft und Gesellschaftstheorie ist. Die unvergleichliche Rezeption von Marx’ Schriften in den über 120 Jahren nach seinem Tod, die überbordend vielen und verschiedenen politischen und philosophischen Richtungen, die sich gebildet und auf ihn berufen haben, machten aus Marx und dem Marxismus eine Art Magnet, der alle anderen, nichtmarxistischen Anziehungspunkte der Gesellschaftskritik, Emanzipationstheorie und des Antikapitalismus in die zweite und dritte Reihe versetzte. Bei diesen zum Teil notgedrungenen, zum Teil absichtvoll herbeigeführten Vereinfachungen, Übertreibungen und Gleichsetzungen sind viele Tabus, viele Denkblockierungen, kurz: Anordnungen (Dispositive) der Macht innerhalb derjenigen Diskurse entstanden, die sich der Kritiktradition verpflichtet fühlten. Der Bogen dieser Diskurse hat eine enorme Spannweite; er reicht von Vorstellungen, dass die Legitimation aller totalitären Staaten in Marx’ Schriften zu finden ist (Schwarzschild 1947), bis zu Vorstellungen, die Marx in weiten Teilen vom Marxismus, ja selbst von seinen eigenen Schriften abkoppeln, um ihn historisch erleichtert neu zu interpretieren (Kurz 2001; Vorwort). Das Verhältnis zwischen Marx und Marx(ismus)-Rezeption, zwischen Marxismus und anderen antikapitalistischen Strömungen ist und bleibt also schwierig, wenn nicht gespannt. Bei aller Heterodoxität der marxistischen und linken Bewegungen des Westens vor dem Ersten Weltkrieg, also bei aller Lehrabweichung und »Andersgläubigkeit« bezüglich der Marx’schen Schriften, gab es dennoch eine Art Credo, eine Doktrin, ein gewisses Bündel an orthodoxen, also strenggläubigen Auffassungen, die als Ziele mehr oder weniger von allen marxistischen und sonstigen linken Strömungen geteilt wurden (wenn auch die Vorstellungen über den einzuschlagenden Weg dorthin diverser nicht sein konnten), etwa dem Fabianismus, den Trade-Unionisten, den Chartisten, den Syndikalisten, den Proudhonisten, den Bakuinisten, den Anhängern Bernsteins, Luxemburgs, Lassalles, dem Bolschewismus, auch bis hin zum Neomarxismus nach dem Ersten Weltkrieg. Zu diesem Bündel gehören (siehe dazu Fehér/ Heller 1986, 303): 3.2 Marx als Drehscheibe der Marxismen und »linker« Politik/ Theorie 83 <?page no="83"?> • die grundsätzliche Kritik der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, • das klare Ziel, die kapitalistische Wirtschaftsweise zu beseitigen resp. zu überwinden, • die entschiedene Verteidigung einer säkularen Gesellschaftsordnung und des Atheismus resp. die entschiedene Ablehnung traditioneller Religionen, • das klare Bekenntnis zu den Errungenschaften westlicher Industrialisierung/ Zivilisierung und zum Rationalismus von Wissenschaft und Technik/ Technologie, • das Bekenntnis zum Proletariat als das historisch-soziale Subjekt der Erneuerung westlicher ? Kultur und Zivilisation, • die grundsätzliche Überzeugung von der Notwendigkeit politischer und sozialer Revolution, • die wissenschaftliche und geschichtshistorische Überzeugung von der Notwendigkeit sozialistisch und dann kommunistisch organisierter Gesellschaft in naher Zukunft und (später) auf der ganzen Welt, 34 • die grundsätzliche Überzeugung von der Klassenlosigkeit eines zukünftigen Kommunismus, in dem die Marktwirtschaft abgeschafft sein wird. Diese kleinsten gemeinsamen Nenner der unterschiedlichsten marxistischen und nichtmarxistischen linken Strömungen konnten indes ob ihrer Abstraktheit und Großformatigkeit die internen Differenzen in der Auslegung der Marx’schen Schriften nicht beseitigen. Die Geschichte der Rezeption von Marx’ Theorie ist daher prinzipiell spannungsgeladen, gar chaotisch; beendet wurde dies im Osten mit der Etablierung des Marxismus-Leninismus durch Lenin und dann Stalin, während im Westen eine neue marxistische Rezeptionskultur sich entwickelte, die nach dem Ersten Weltkrieg endgültig zur Pluralisierung marxistischen Denkens führte und eine zweite Phase des Marxismus, besser: der Marxismen, als kulturelle Bewegung einläutete. Deren letztes Echo war dann in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren zu vernehmen - und ist heute immer noch präsent, wie vermittelt auch immer. Die Pluralisierung von Rezeption und Weiterentwicklung der Marx’schen Ansätze - vornehmlich im Westen, auch als Reaktion auf den Marxismus-Leninismus der UdSSR - markierte einen Bruch innerhalb des Marxismus selbst; sie verkomplizierte und dogmatisierte das »Sich-auf-Marx-Beziehen«, doch ebenso entdogmatisierte sie marxistische Überzeugungen und führte zu einer neuen Gewichtung von Marxens politökonomischen, ? ideologiekritischen und gesellschaftshistorischen Theoremen. Im Kontrast zu den maßgebenden dogmatisch-totalitären Bewegungen in Gestalt des Leninismus (Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin) und des Stalinismus (Josef Stalin) entwickelten sich als politische, kulturelle und wissenschaftlich-philosophische Bewegungen unter anderem der Trotz- 3. Marxismus und Marxismen 84 <?page no="84"?> kismus (Leo Trotzki), der Titoismus (Josip Broz Tito), der Maoismus (Mao Zedong), der Neomarxismus (Georg Lukács, Karl Korsch, Ernst Bloch, Antonio Gramsci), die Frankfurter Schule (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Alfred Sohn-Rethel), der Freudomarxismus (Wilhelm Reich), der Austromarxismus (Victor Adler, Otto Bauer), die Sozialdemokratie resp. der Demokratische Sozialismus (August Bebel, Ferdinand Lasalle, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Eduard Bernstein; sowie Salvador Allende), die Neue Linke resp. die Euromarxisten (Alexander Dubcˇek, Enrico Berlinguer, Rudi Dutschke, Oskar Negt, Pierre Bourdieu), der Operaismus (Michael Hardt, Antonio Negri), die Situationalistische Internationale (Guy Ernest Debord), die Kritische Psychologie (Klaus Holzkamp) sowie mehr oder weniger insulare Persönlichkeiten wie Fidel Castro, Iwanowitsch Bucharin, Ernesto Che Guevara oder Jean-Paul Sartre. Ersichtlich stehen hier dezidiert praxispolitische, praxistheoretische und praxiskulturelle Bewegungen, die sich intern stark voneinander unterscheiden, in einer Reihe. Der Bruch innerhalb der marxistischen Rezeption von Marx’ Werk durch die zweite Welle der marxistischen Strömungen nach dem Ersten Weltkrieg lässt sich am besten an den theoretischen und kulturellen Bewegungen aufzeigen. Ferenc Fehér und Agnes Heller (1986, 307 f.) fassen diesen Bruch, diese Transformation der marxistischen Marx-Referenz treffend so zusammen: »Während die marxistischen Kultur-Bewegungen des ›goldenen Zeitalters‹ [gemeint ist die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, B. T.] den Kapitalismus wegen seines ausbeuterischen Charakters, wegen seiner angeblichen Unfähigkeit, die ›Produktivkräfte‹ zu entfalten, wegen seiner strukturellen Wirtschaftskrisen, wegen Arbeitslosigkeit und Armut und wegen seiner ›Behinderung des Marsches zum Fortschritt‹ ablehnten, verwarfen die modernen marxistischen Kultur-Bewegungen den Kapitalismus wegen seines pragmatischen Rationalismus, wegen seiner entfremdenden, fetischisierenden, nüchternen, unheroischen, bürokratischen und ›leblosen‹ Eigenschaften. Kapitalismuskritik wurde so mehr und mehr zu einer allgemeinen Kritik der Modernität; subjektive Auflehnung und subjektivec Handeln waren unmittelbar mit der Vorstellung endgültiger Erlösung verknüpft. […] Die marxistischen Kultur-Bewegungen konzentrierten sich immer weniger auf ›wissenschaftliche‹ Aufklärung und wurden statt dessen in höchstem Maße kulturell kreativ. Unabhängig davon, ob wir uns nun die schönen Künste, das Theater, die Soziologie oder die Philosophie anschauen, überall erwartet uns derselbe Anblick: linksradikale marxistische Kultur-Bewegungen gaben sich als ›Avantgarde‹. Zwischen 1917 und 1933 haben fast alle westeuropäischen Intellektuellen eine mehr oder minder ausgeprägte Phase radikaler ›Ansteckung‹ durch- 3.2 Marx als Drehscheibe der Marxismen und »linker« Politik/ Theorie 85 <?page no="85"?> laufen. […] Diese Anziehungskraft des frühen Kommunismus läßt sich relativ einfach erklären: Der Kommunismus als kulturelle Bewegung hat die Sprache der subjektiven Revolte, des Messianismus [der Glaube, durch einen Messias, also hier: durch das siegreiche Proletariat, politisch erlöst zu werden, B. T.] und Avantgardismus in die Sprache der Politik übersetzt.« Die schon zu Marx’ Lebzeiten vorherrschende Diversität an Vorstellungen, wie eine richtige Befreiung und Analyse der Gesellschaft auszusehen hat, erfährt nun also eine Erweiterung, eine Ausweitung der Verschiedenheit an Vorstellungen darüber, was überhaupt der Kritik- und Erkenntnisgegenstand einer gesellschaftskritischen Theorie sein sollte - und dies im Grundsätzlichen! Vor allem die Vertreter des Neomarxismus und der kritischen Theorie der sogenannten Frankfurter Schule waren Vorreiter darin, die Einsichten der ? Dialektik und des ? Historischen Materialismus auf sich selbst, also auf das marxistische Denken als solches, anzuwenden. Sie setzten ihre Theorien damit einer Offenheit und Öffnung aus, wie es für marxistisches Denken in Gestalt des Marxismus-Leninismus/ Stalinismus undenkbar war. Indes: Diese kulturorientierte, modernitätskritische Bewegung marxistischen Denkens, die ihre Kritik über die Grenzen der Bewegungsgesetze der bürgerlichen Ökonomie (vgl. Kap. 4) hinweg auf nicht primär ökonomische Sachverhalte wie etwa den Alltag, die Musik, die Psychologie ausweitete, bot den neuen sozialen und kulturellen (Theorie)-Bewegungen der 1960er und 1970er Jahren die größten Anschlussmöglichkeiten. Drei Eigenschaften begünstigten, dass sie von den jungen kulturellen Bewegungen, die im Kapitalismus groß wurden, ohne allzu große historische Ressentiments aufgenommen wurde: • ihre skeptische Revision des Zusammenhangs zwischen den von Marx entdeckten ökonomischen Gesetzen und dem Aufkommen sozialistischer Bewegungen, • ihre illusionslose Sicht darauf, dass der Sozialismus nicht eintreten wird, und • ihre Entschlossenheit, sich damit nicht abzufinden, sondern zu begreifen, was sein Eintreten verhindert, um ihm wenigstens geistig die Tür offenzuhalten. Auch für die marxistische Arbeiterbewegung kann für den Verlauf der Rezeption und Weiterentwicklung im groben Umriss die nun schon bekannte Diagnose gestellt werden: die Gruppen diversifizierten sich, die marxistischen Strategien und »Politiken« pluralisierten sich, die sich auf Marx berufenden theoretisch-praktischen Erben vertraten eine Exklusionspolitik und verhärteten sich, und zumindest die einfachen Beurteilungskriterien für die Identifizierung marxistischer Bewegungen erschöpften sich in ihrer Aussagekraft. • Schon 1895 vertritt Engels in seiner »Einleitung zu Karl Marx’ Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850« (MEW, Bd. 22, 509 ff.) die Auffassung, dass die 3. Marxismus und Marxismen 86 <?page no="86"?> Beteiligung der Arbeiter an bürgerlichen Wahlen und Parlamenten der sozialistischen Sache zum Vorteil gereicht - eine Auffassung, die von beiden auch noch nach den 1848er Jahren eindeutig abgelehnt worden war. • Die weitgehend von Hegel übernommene Geschichtsphilosophie, der gemäß die Vernunft und die Emanzipation der Geschichte und der Realität innewohnen und sich also unvermeidlich Bahn brechen, wurde durch den Gang der Geschichte zunehmend problematisch. Es entstand das theoretische Bedürfnis nach einer bis dato nicht notwendigen moralisierenden Historisierung resp. nach einer ethischen Fundierung der sozialistischen Ziele. Die sogenannten neukantianischen Marxisten wie Eduard Bernstein, Konrad Schmidt oder Ludwig Woltmann veränderten durch das Entwerfen einer marxistischen Ethik die von Marx entworfenen Fassungen einer materialistischen Geschichts- und Erkenntnistheorie, die weitgehend ohne ethische Maximen auskam, weil ja, vereinfacht gesagt, der Gang der Geschichte alles revolutionäre Handeln schon legitimierte. • War die erste »Internationale Arbeiter-Assoziation«, also die sogenannte Erste Internationale, noch als einheitliche, transnationalstaatlich orientierte Organisation gedacht worden, so schaffte es die »Zweite Internationale« erst ab 1900, sich ständige Organe zu geben, die für das Austarieren der jeweiligen selbstständigen Organisationen innerhalb der Internationale einen Großteil ihrer Arbeit verwenden mussten. Zudem verschob sich die Aufmerksamkeit sozialistischer Politiker immer mehr in Richtung staatlich-administrativer und politisch-militärischer Themenfelder (Arbeitsschutz, Arbeitszeit, Kriegspolitik) und damit weg von einer genuin revolutionären Politik der Arbeiterbewegung - dies nicht nur eine Konsequenz der konkreten historischen Zeitumstände, sondern auch eine Konsequenz der Tatsache, dass viele nichtmarxistische sozialistische Strömungen der Internationalen angehörten (etwa die Trade-Unionisten, die Independent Labour Party, die Blanquisten, die Syndikalisten). • Eine recht starke Übersetzung, d. h.: Popularisierung der Marx’schen Schriften - nach Marxens Überzeugung eine verfälschende - fand in der deutschen Sozialdemokratie (Erfurter Programm 1991) statt, auch in der österreichischen (Hainfelder Programm 1888). Die zunehmende Abkehr von der revolutionären Perspektive wurde hier parteiinoffiziell manifest; die relativ friedliche Entwicklung des Kapitalismus und die beginnende »Verbürgerlichung« des Proletariats führte dazu, dass Eduard Bernstein für eine grundlegende Änderung der Funktion und Bedeutung der Arbeiterbewegung warb - der sogenannte Revisionismus plädierte dafür, das Proletariat in die bürgerlich-rechtlich-politischen Strukturen der Gesellschaft zu integrieren, um die bürgerliche Gesellschaft so zu durchdringen. Auf der anti-revisionistischen, sich radikal-marxistisch verstehenden Seite, vertreten durch Karl Kautsky und Rosa Luxemburg, entstand 3.2 Marx als Drehscheibe der Marxismen und »linker« Politik/ Theorie 87 <?page no="87"?> gleichsam Streit darüber, ob die Arbeiterbewegung »spontan« revolutionär zu werden habe (Generalstreik), so Luxemburg, oder ob die gegenwärtige historische Lage keine revolutionäre Aktion zulasse, so Kautsky. Die marxistische Richtung, die beide Auffassungen zu vereinen suchte, bezeichnete sich als Zentrismus. • 1903 spaltete Lenin mit den Bolschewiki und der Organisationsform des demokratischen Zentralismus die sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands und setzte sich schließlich gegen die Gruppierung der Menschewiki mit der Vorstellung einer avantgardistischer Parteipolitik durch, die davon ausging, dass das Proletariat zu schulen und zu erziehen sei, da es von sich aus maximal ein gewerkschaftliches (Klassen-)Bewusstsein erlangen könne (Lenin 1972, 8). Seine Revolutions- und Imperialismustheorie 35 kehrte die übliche Annahme über die Bedingungen einer proletarischen Revolution um (aus dem Klassenkampf von »unten« nach Erreichen eines Klassenbewußtseins »für sich« macht Lenin den Klassenkampf von »oben«, um dann erst ein Klassenbewußtsein zu erzeugen). Damit sollte es nun ersichtlich sein, warum in Russland das Proletariat siegreich sein könne. Mit der russischen Revolution und der Regierungsübernahme der bolschewistischen Partei, die sich 1918 in »Kommunistische Partei Russlands« umbenannte, begann die endgültige Auflösung der internationalen Arbeiterbewegung bzw. zumindest die Ablösung der Arbeiterbewegung von Marx’ Theorie der proletarischern Revolution - stellte doch das Proletariat in Russland nicht die Mehrheit, sondern die Minderheit gesellschaftlicher Gruppen. Von der Dreispaltung des sogenannten parteigebundenen Marxismus im 20. Jahrhundert - Sowjetkommunismus, Maoismus, »Reformkommunismus« - ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts in marxistischer Hinsicht nichts übrig geblieben (in liberaler Hinsicht jedoch noch zu viel). • Mit der kurzzeitig sehr weitreichenden strategischen Neuorientierung der Arbeiterbewegung in Gestalt des sogenannten Eurokommunismus in den 1970er Jahren, mit der durch Gorbatschow in den 1980er Jahren eingeleiteten Beendigung der global geführten politischen Auseinandersetzung zwischen ? Kapital und ? Arbeit, vor allem aber durch die tief greifenden Veränderungen innerhalb der kapitalistischen Produktion - weg vom sogenannten Fordismus (industrieller Kapitalismus), hin zum Postfordismus (Dienstleistungskapitalismus) - verwandelte sich das Gewicht, die Bedeutung und die gesellschaftliche Macht »der« ? Arbeiterklasse enorm, sodass sich der Diskurs auch innerhalb marxistischer Strömungen auf ein »Ende der Arbeiterbewegung« hin orientierte. Das einstmals vom Marx als revolutionäres Subjekt in die Geschichte der Menschenwelt eingeführte Proletariat - »[w]enn das Proletariat die Auflösung der 3. Marxismus und Marxismen 88 <?page no="88"?> bisherigen Weltordnung verkündet, so spricht es nur das Geheimnis seines eignen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflösung dieser Weltordnung« (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW, Bd. 1, 391) - dieses Proletariat also habe sich zersplittert und sich vom Bewusstsein einer »Arbeiterklasse für sich« verabschiedet (Gorz 1980); es verweile nun maximal, wie zu Beginn der industriellen Revolution, im Bewusstsein einer ? »Arbeiterklasse an sich«. Damit sei schließlich die praktisch-politische Rezeption von Marx’ Theorie endgültig nur noch mit enormen Schwierigkeiten als Fortsetzung und Erweiterung seiner Vorstellungen des Proletariats zu verstehen. Im Feld der wissenschaftlichen und philosophischen Rezeption der 1920er und 1930er Jahre, die maßgebend die Verflachung marxistischer Topoi stoppte und damit, rückblickend gesehen, die kulturelle Anschlussfähigkeit der Marx’schen Theorie in den 1960er und 1970er Jahren garantierte, waren gleichsam vielfältige Bemühungen im Gange, durch eine gleichzeitige Historisierung (Rekonstruktion des Vergangenen in »seiner« Zeit) und Aktualisierung (Rekonstruktion von noch Gegenwärtigem des Vergangenen für »unsere« Zeit) den Marxismus des 19. Jahrhunderts für das 20. Jahrhundert zu erneuern, zu pluralisieren und marxistisch zu kritisieren. Um auf diese vielfältigen Bemühungen einzugehen, fehlt hier leider der Platz. Zumindest genannt werden sollen diese Personen und Gruppen: • Georg Lukás (1885-1971; Lukás 1970b) • Ernst Bloch (1885-1977; Bloch 1974, 1978) • »Kritische Theorie« (1923 beginnend; vor allem Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse) • Karl Korsch (1886-1961; Korsch in: Fetscher 1984) • Jean-Paul Sartre (1905-1980; Sartre 1960) • Louis Althusser (1918-1990; Althusser 1965) • Antonio Gramsci (1891-1937; Gramsci 1987) • »Angelsächsischer Marxismus« (Maurice H. Dobb, Paul Sweezy, Roman Rosdolsky, Eric J. Hobsbawm) *** »Der Koran tritt an die Stelle von Marx, Lenin und Mao, und statt auf Gramsci beruft man sich auf Sayed Qutb.« 36 Dieser Satz aus der Streitschrift Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer von Hans Magnus Enzensberger (2006, 26), als Zitat diesem Kapitel vorangestellt, soll zum Ausdruck bringen, dass trotz vereinzelter Reaktivierungen und Aufschließungen der Marx’schen Theorien für die Gegenwart (Kurz 2001) eine marxistische Hegemonie der Gesellschaftskritik der Vergangenheit anzugehören scheint - und nun abgelöst wird von 3.2 Marx als Drehscheibe der Marxismen und »linker« Politik/ Theorie 89 <?page no="89"?> einer völlig anderen Kritikplattform, die selbst nicht mehr »im Herzen des Kapitalismus« ihre eigene Geschichte hat, die kulturell völlig anders eingebettet ist und die nicht mehr rational-wissenschaftlich, sondern religiös-subversiv funktioniert. D. h.: Nicht nur der Kapitalismus resp. die verschiedenen kapitalistischen Produktionsregime habe sich im Laufe der Geschichte stark verändert, sondern auch die Art und Weise, wie sich Kritik am Kapitalismus äußert, von wo aus sie geäußert wird, wer sie äußert, und worin diese Kritik ihre Quellen sieht. Die Sätze Enzensbergers suggerieren also, dass der Marxismus als Quelle radikaler Gesellschaftskritik und Gesellschaftsveränderung einer vergangenen historischen Epoche angehöre - und neben einem »internen« Gescheitersein auch darin gescheitert sei, dass nun gerade eine religiös konfigurierte Kritik an ihre Stelle trete (war doch, und nicht nur für Marx, die Religionskritik der notwendige Beginn von Kritik überhaupt). Nimmt man die Sicht Enzensbergers ein und damit die Position, dass ein grundlegender Wechsel der Formation von Gesellschaftskritik selbst stattgefunden habe, dann erscheinen alle Zersplitterungen, Diversifizierungen, Abweichungen, Vereinseitigungen und Fortentwicklungen der Marx’schen Gesellschaftstheorie in den letzten 130 Jahren (abzüglich des Leninismus und Stalinismus) als doch zusammengehörige Strömungen - als Bewegungen, die ein rationales Weltverständnis, eine säkularisierte Gesellschaftsvorstellung, eine intellektuell-politische Diskursebene und vor allem eine wie auch immer zu spezifizierende Verankerung in europäischer Geschichte als ihre Basis teilten - kurz: sich als Bewegungen der Moderne verstanden. Diese Moderne, besser: dieses moderne Verständnis moderner Gesellschaft, wie es in Europa herausgebildet wurde (»okzidentaler Rationalismus«; Max Weber), hatte im Fall von Marx und für Marx natürlich ein zentrales Vorbild in Gestalt eines Autors, der mit seiner Philosophie des Geistes gleichsam eine Art Drehscheibe bildete für all die Versuche, diese spezifisch europäische Explosion der Geschichte, die den unscheinbaren Namen Industrialismus trägt, historisch, sozial, anthropologisch, kurz: denkerisch einzuordnen. Und das war Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). Der letzte Abschnitt wird in aller Kürze das Verhältnis zwischen Hegel und Marx skizzieren, und zwar so, dass verständlich wird, wie Marx versuchte, mit der Geist- und Bewusstseinsphilosophie Hegels zu brechen, um sich der politischen Ökonomie zu widmen - und das mit Hilfe der Hegelschen (resp. Aristotelischen) »Methodologie«, die den Namen ? Dialektik trägt. 3. Marxismus und Marxismen 90 <?page no="90"?> 3.3 Vom absoluten Geist zum Proletariat: Hegel und Marx Auf das komplizierte Verhältnis zwischen Marx und Hegel, das in der Forschung keineswegs eine abschließende Interpretation gefunden hat, soll hier nicht eingegangen werden. 37 Es genügt der Hinweis, dass Marx’ Frühschriften erst zu Beginn der 1930er Jahre veröffentlicht wurden, was in der Rezeption dann dazu führte, Marx stärker als vorher gedacht durch die Hegelsche Philosophie beeinflußt zu sehen (Hegelianisierung des Marx’schen Werkes). Denn in diesen Frühschriften war die »dialektische« Nähe zu Hegel besonders greifbar, etwa im Begriff der ? Entfremdung (der beim späten Marx durch den Begriff der ? Verdinglichung ersetzt wurde). Es ist für die Erhellung des Verhältnisses der Einheit und Unterschiedlichkeit des Denkens von Hegel und Marx sinnreich, beide in ihrem Verständnis des Menschen und der Geschichte zu skizzieren; also das Augenmerk auf die jeweilige Anthropologie und die jeweilige Geschichtsphilosophie zu legen. 3.3.1 Anthropologie Im Menschbild Hegels ist der homo sapiens sapiens dadurch ausgezeichnet, dass er Geist besitzt und Geist ist, also durch seine Geistigkeit. Mit dieser seiner subjektiven Geistigkeit ist er der Natur wie auch den Gesetzen der Natur enthoben - und damit potenziell überlegen, d. h.: potenziell unabhängig. Indes muss diese Emanzipation immer wieder verwirklicht werden, also sich in Tat, Handlung, in ? Arbeit vergegenständlichen, verwirklichen, um die Emanzipation selbst als dauerhafte Wirklichkeit zu etablieren. Diese Dauerhaftigkeit der Emanzipation (als menschlicher Gegenpart zur biologischen Evolution) findet der Mensch in der Bearbeitung und Unterwerfung der Natur. In ihr wird die Geisthaftigkeit, die Unabhängigkeit des Menschen zugleich ausgedrückt und Struktur. Der Mensch setzt seine eigene Form und Formvorstellung von Natur an die Stelle der Naturformen und bildet diese damit um. Er wird zum Subjekt, während die Natur Objekt wird; das Objektwerden der Natur bedeutet zugleich das Subjektwerden des Menschen. Im Resultat seiner Arbeit, seiner Formierung, seiner Informierung verwandelt sich das Natürliche, das »Andere«, das Fremde, das Gegenüberstehende zu einem Teil von ihm selbst; es erscheint zwar immer noch als naturhaftes, fremdes Objekt, aber im Wesen ist es nun eine Erscheinungsform des menschlichen Intellekts, der es zu beherrschen weiß. Durch die Produktion eines Objekts und durch die Refle- 3.3 Vom absoluten Geist zum Proletariat: Hegel und Marx 91 <?page no="91"?> xion auf die Produktion wird sich der Mensch seiner selbst bewusst, er vergegenständlicht sich, um damit die Erscheinungsbasis, »den Träger« für die Herausbildung eines Bewusstseins von sich selbst, zu sichern. Dieser Prozess der Selbstbewusstwerdung des Menschen gibt für Hegel die Folie ab für das Werden von Welt und Wirklichkeit überhaupt. Im Begriff eines Gottes, der noch kein Selbstbewusstsein seiner selbst und seiner Schöpfung ausgebildet hat, findet Hegel die Matrix, um den Menschen als Resultat der Selbsteinsetzung Gottes in die Natur selbst zu denken - denn auch er muss sich vergegenständlichen, verwirklichen, sich zu seinem Selbstbewusstsein emporarbeiten, wenn auch nur geistig. Der Mensch ist die höchste Form der göttlichen Dynamik, die Gott in die Natur gesetzt hat; mit seiner Geistigkeit und seiner Fähigkeit, sogar das Universum zu vergeistigen, stellt er das Subjekt-Objekt dar, in dessen Geist sich Gott, also der absolute Geist, nun reflektieren kann. Der Fokus des gesamten schöpferischen Prozesses und der gesamten Zeitdauer (Geschichte) ist daher die vollkommene Selbstbewusstwerdung Gottes sowohl im Menschen wie durch den Menschen. Ausgestattet mit dieser Matrix oder mit diesem Schema kommt Hegel zur Hauptbestimmung des Menschen: Indem er die Wirklichkeit vernünftig begreift, vernünftig macht, vernünftig durchgeistigt, vernünftig bestimmt, bestimmt er auch sich als Wesen Mensch: er wird die Inkarnation der Vernunft. Diese Vernunft arbeitet mit Begriffen, um vernünftig zu begreifen. Und: Mit dem Begreifen von Welt und Wirklichkeit findet diese Welt und Wirklichkeit auch endlich zu sich selbst! Hegel sieht mit der begrifflichen Bestimmung der Welt keine Okkupation am Werke, sondern vielmehr eine substanzielle Hilfe. Denn indem der Mensch begrifflich, geistig und begreifend die äußere Wirklichkeit verändert - Wirklichkeit verändert sich alleine schon durch ihr Gedacht- und Begriffenwerden -, emanzipiert er ebendiese Wirklichkeit von den Schlacken ihrer bloßen Erscheinung und birgt ihr Wesen. Gleichzeitig macht sich der geistige Mensch dadurch selbst frei; er ist frei von allen Welttatbeständen, die fremd, unerkannt, unbegriffen, gefährlich, kurz: die anders sind als der Mensch. Wenn nämlich alle Wirklichkeit im Kern erst durch die menschliche Vergeistigung zu sich findet, erst durch diese mehr wird als bloß kalte, sinnlose Materie, dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen uns und der Welt. Das meint der Satz Hegels, dass es eine Identität von Differenz und Identität gebe: Dasjenige, das noch eine Differenz zu uns bildet, ist als ein noch nicht mit uns Identisches zu verstehen; es ist eine Frage der Zeit (Geschichte) und eine Frage der Arbeit des Geistes, bis alles eins ist, gebunden im absoluten Geist, und beschrieben durch seine, Hegels, Philosophie. Zwischen subjektivem Geist (Mensch) und absolutem Geist (Gott, Vernunft) gibt es für Hegel Werdensformen, die er als Produkte des objektiven Geistes fasst, 3. Marxismus und Marxismen 92 <?page no="92"?> weil sie überindividuellen Charakters sind. Dazu zählt er den Staat mit seinen Institutionen, seinen Gesetzen, Pflichten und Rechten. Der auf einen vernünftigen und substanziellen Willen zurückführbare Staat realisiert in der Sphäre des politischen Lebens die Freiwerdung und das Zu-sich-Kommen, also die verwirklichte Bestimmung, die Realisierung der Anlagen des Menschen in seiner Eigenschaft als vergeistigter Staatsbürger. Wer als Mensch auf gutem Wege ist, sich selbst bewusst zu werden, der komme nicht umhin, so Hegel, den Staatswillen mit all seinen Staatsorganen gutzuheißen - der werde also sittlicher Citoyen. Im Gegensatz dazu folgt der Bourgeois noch seinen egoistischen Interessen und sieht in der Sittlichkeit und in der Allgemeinheit des Staates eine ihn behindernde, einengende, freiheitsbeschränkende Staatsmacht. Der Bourgeois, also der Kapitalist, folgt nach Hegel nur einer willkürlichen Freiheit; sein Wille ist eine isolierte, eine niedere Erscheinungsweise des substanziellen Willens zum Absolutwerden des menschlichen Geistes. Der Staat muss dieser Willkür gleichsam Platz und Raum geben, da er nicht erreichen kann, dass der Bourgeois vollständig zu einem Citoyen wird. Doch solange die reale Staatsverfasstheit als objektiver Geist tätig ist, sich also auf dem Weg befindet, der vom absoluten Geist abgeleitet ist, solange ist sichergestellt, dass die partikularen und besonderen Interessen in der Sittlichkeit des Allgemeinen aufgehoben werden - für Hegel ist dies im preußischen Staatswesen realisiert. In Marxens Menschenbild ist der Mensch gleichsam ein sich vergegenständlichendes Wesen, das sich in der gegenständlich gemachten Wirklichkeit selbst schafft und damit seine Bestimmung verwirklicht. Er ist ein arbeitendes Wesen, das, indem es produziert, sein eigenes Leben mitproduziert. Bei Marx ist dieser produzierende Mensch ein reeller, ein lebendiger, ein konkret-sinnlicher Mensch, der für sich steht und nicht für ein Werden des Geistes (Gottes) hinter ihm. Daher findet der Marx’sche Mensch nicht, wie bei Hegel, die Wiederaneignung seines sich Entäußerns, also die Selbstverwirklichung durch Entfaltung, alleine durch die Vergeistigung, sondern darüber hinaus durch alle ihm gegebenen Öffnungen, durch die er im Austauschprozess mit der Welt steht: »Der Mensch eignet sich sein allseitiges Wesen auf eine allseitige Art an, also als ein totaler Mensch. Jedes seiner menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehn, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, kurz, alle Organe seiner Individualität, wie die Organe, welche unmittelbar in ihrer Form als gemeinschaftliche Organe sind, sind in ihrem gegenständlichen Verhalten oder in ihrem Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben. Die Aneignung der menschlichen Wirklichkeit, ihr Verhalten zum Gegenstand ist die Betätigung der mensch- 3.3 Vom absoluten Geist zum Proletariat: Hegel und Marx 93 <?page no="93"?> lichen Wirklichkeit.« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW, Bd. 40, 539 f.; im Original mit Kursivsetzungen) Während nun bei Hegel der Prozess des Begreifens der Welt durch den Geist zwar durch vielerlei Zerrissenheit, ? Entfremdung, durch antithetische (widersprüchliche) Spannungen hindurch muss, die Aneignung des menschlichen Wesens aber doch garantiert ist und damit auch die Selbstbewusstwerdung des Geistes, sieht dies bei Marx völlig anders aus. Weil er nicht einen metaphorischen, sondern einen reellen Akt vor Augen hat, wenn er an Aneignung denkt, und die Aneignung darin besteht, dass die vergegenständlichte Wirklichkeit, die der Mensch produziert, auch wieder zu ihm zurückfließt, zu ihm und damit zu sich kommen soll (Selbstbestimmung und das Vergegenständlichte/ Entfaltete verschmelzen, z. B. wenn man sagt: Ich bin, was ich tue), wird nun durch den Kapitalismus genau dort eine Schranke eingefügt. Durch das Privateigentum an Produktionsmitteln nämlich wird der Kreislauf Entfremdung - Vergegenständlichung - Wiederaneignung unterbrochen. »Der Arbeiter wird um so ärmer, je mehr Reichtum er produziert, je mehr seine Produktion an Macht und Umfang zunimmt. Der Arbeiter wird eine um so wohlfeilere Ware, je mehr Waren er schafft. Mit der Verwertung der Sachenwelt nimmt die Entwertung der Menschenwelt in direktem Verhältnis zu. Die [ ? ] Arbeit produziert nicht nur Waren; sie produziert sich selbst und den Arbeiter als eine Ware, und zwar in dem Verhältnis, in welchem sie überhaupt Waren produziert. Dies Faktum drückt weiter nichts aus als dies: Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als ein fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit. Die Verwirklichung der Arbeit ist ihre Vergegenständlichung. Diese Verwirklichung der Arbeit erscheint in dem nationalökonomischen Zustand als Entwirklichung des Arbeiters, die Vergegenständlichung als Verlust und Knechtschaft des Gegenstandes, die Aneignung als [ ? ] Entfremdung, als Entäußerung.« (Ebenda, 511 f.) Was also bei Hegel im Begriff der Arbeit als die eigentlich menschliche Existenzweise angelegt wurde und zur bewussten Selbstwerdung des Menschen führen soll, ist für Marx in einer völligen Umkehrung gestrandet, die in mindestens vier Formen der Entfremdung zum Ausdruck kommt und damit das Wesen des Menschen, der ? Arbeit, der Gattung und der menschlichen Beziehungen umfassend verrät. Diese vier Entfremdungsformen sind 3. Marxismus und Marxismen 94 <?page no="94"?> • Entfremdung des Arbeiters vom Produkt seiner ? Arbeit, • Entfremdung des Arbeiters von seiner Arbeit, • Selbstentfremdung des Menschen in der Lohnarbeit, • Entfremdung der Menschen im Verhältnis zueinander und zur »Gattung«. »Die Aneignung des Gegenstandes erscheint so sehr als Entfremdung, daß, je mehr Gegenstände der Arbeiter produziert, er um so weniger besitzen kann und um so mehr unter die Herrschaft seines Produkts, des Kapitals, gerät« (ebenda, 512): Dies hat zur Folge, dass für Marx im Kapitalismus prinzipiell die Entfaltung des Gattungswesens Mensch, also seine Menschwerdung, nicht möglich ist (diese noch eher philosophisch behauptete Unmöglichkeit versucht Marx dann im Kapital als sich evident wissenschaftlich erweisende Unmöglichkeit zu beschreiben). Doch gleich Hegel hält Marx am Gedanken der allseitigen Befreiung des Menschen fest. Diese Befreiung wird allerdings nicht mehr dadurch gewährleistet, dass der Bourgeois sich durch eine staatlich beaufsichtigte Vergeistigung zu einem Citoyen wandelt. Marx sieht vielmehr im Staat selbst eine gewichtige Ableitungsform der Herrschaftsverhältnisse, die sich dadurch auszeichnen, dass eine herrschende ? Klasse alle anderen Schichten, die letztlich zur Klasse der Arbeiter werden, unterdrückt. 38 Die Befreiung und die Menschwerdung des Menschen sieht Marx daher erst in einer klassenlosen, keiner Herrschaftsinstrumente mehr bedürfenden (Welt-)Gesellschaft ermöglicht - die allerdings erst noch zu schaffen ist, im Gegensatz zu Hegels Vorstellung, in der diese Befreiung in Gestalt des (preußischen) sittlichen Staates schon Gegenwart ist. Indes besitzt Marx nicht nur einen emphatischen Freiheitsbegriff (Freiheit zu, Freiheit für), sondern auch einen sogenannten liberalen Freiheitsgedanken (frei von), den er für das Großprojekt der Menschenbefreiung durchaus wertschätzt, aber gleichsam nur als vorübergehend ansetzt. In dieser Freiheitsform, die heutzutage Freizeit genannt wird, soll es nach Marx auch schon möglich sein, dass sich der Mensch in seiner lebendigen, sinnlichen, konkreten, bedürfnisorientierten Gestalt »gestaltet«. Er schreibt dazu folgende Sätze, die, von heute aus betrachtet, seine Gewissheit ob der Arbeit an der Befreiung des Menschen besonders klar, aber auch besonders ferngerückt zum Ausdruck bringen: »Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich 3.3 Vom absoluten Geist zum Proletariat: Hegel und Marx 95 <?page no="95"?> der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.« (Marx, Das Kapital III, MEW, Bd. 25, 828) Während also Hegel in seiner Freiheitsphilosophie der willkürlichen Freiheit des Bourgeois durchaus Raum gibt, in der Überzeugung, dass diese willkürliche Freiheit sich in eine wahre Freiheit wandeln wird, so geht Marx strukturell gleich vor in Bezug auf eine Freiheit des Menschen, die schon erste Anzeichen einer möglichen und vollständigen Entwicklung des Menschen zeigt, aber noch auf dem Reich der Notwendigkeit beruht - und also in der befreiten Gesellschaft dann auch ihren Charakter als Freizeit verlieren wird. 3.3.2 Geschichtsphilosophie Nach Hegel ist die Welt in ihrem Sein und ihrem Werden vernünftig - mehr noch: Die Vernünftigkeit und Wahrheit als das Wirkliche kann gleichsam auch vernünftig erkannt werden, und zwar in Stufen. Diese Stufen sind im Grad des Fortschritts einer Bewusstwerdung der Freiheit des Menschen identifizierbar. Wenn sich Welt, Geschichte, Umwelt, Sein vollständig dem Bewusstsein geöffnet haben und also vergeistigt worden sind, hat der Mensch die höchste Freiheit erreicht: Er hat sich vollständig autonomisiert und betritt damit dasjenige Reich, in dem es keiner historisch-dialektischen Vermittlung, keiner anstrengenden »Arbeit des Begriffs« (Hegel), der Entzweiung und Wiederaneignung mehr bedarf, um zu werden. Er, der Mensch, ist geworden, nämlich sich seiner selbst bewusst. Für Hegel bilden auf der Ebene des objektiven Geistes die moderne konstitutionelle Monarchie einerseits sowie seine eigene Philosophie und Logik andererseits den Abschluss des Fortschreitens; sie stellen die Verwirklichung des Sinns der Geschichte des Menschen dar - wobei es natürlich die Geistphilosophie ist, die die eigentliche Erkenntnis dieser Verwirklichung erzeugt. 3. Marxismus und Marxismen 96 <?page no="96"?> Für diesen Verwirklichungsprozess stehen nach Hegel zwei Subjekte zur Verfügung: die Makrosubjekte und die individuellen Subjekte; das eine sind die welthistorischen Völker, die Staatenbildung betrieben und zudem in dieser Bildung ein immer höheres Geistprinzip durchgesetzt haben; das andere sind sogenannte welthistorische Individuen, die, auch wenn sie es nicht wissen, deshalb groß und führend sind, weil der »Weltgeist« in sie gefahren ist, weil sie von der »List der Vernunft« heimgesucht werden. Der absolute Geist bemächtigt sich also bestimmter Staaten und bestimmter Staatsführer, um in ihnen den Prozess der Selbstbewusstwerdung geschichtlich voranzutreiben. Dies, so Hegel, ist aber erst mit seiner Geschichtsphilosophie möglich geworden; denn vorher war Geschichte, waren die Prozesse der Staatenbildung, waren die politischen Handlungen der Staatsführer blind und nur einer Beobachtung erster Ordnung zugänglich. Nun, mit ihm, Hegel, sei die Beobachtung zweiter Ordnung möglich: die Geschichte in Raum und Zeit wird transparent, wird durchschaubar, hat ihr Ziel erreicht - und hört auf. 39 Die ? Dialektik des Werdens hat ihren Dienst getan und sich nun gleichsam mitaufgehoben - ein Gedanke, der 1989 nochmals von Francis Fukujama aufgegriffen wurde, um nach dem Ende des kalten Ost-West-Krieges erneut das Ende der Geschichte zu entwerfen. Nach Marx ist der Sinn der Geschichte gleichsam vernünftig - jedoch nicht, wie bei Hegel, schon in der Vernunft angekommen, sondern in einem vernünftigen Weg zu ihr hin angelegt. Der Fortschritt in der Geschichte ist für ihn nicht mehr nur im Bewusstsein der Freiheit sichtbar, also nicht mehr nur in der Erweiterung der denkerisch-begrifflichen Einsicht in die Notwendigkeit von Freiheit, sondern am Grad der weiter gefassten Vermenschlichung der Natur resp. der Naturalisierung des Menschen abzulesen. Und dieser Prozess der Emanzipation von und durch Natur kommt nun keinesfalls mehr alleine durch absolutes Wissen, sondern nur durch historische Tat zustande. Diese historische Tat hat nicht mehr zum Ziel, dass der Geistmensch nur noch sich selbst begegnet (weil alles »Nicht-Selbe«, alles Andere ja durch geistige Vermittlung aufgehoben wurde und also nicht mehr besteht). Ihr Ziel ist vielmehr eine klassenlose Gesellschaft, die den Menschen erst in die Lage versetzt, wirklich historisch zu werden im Prozess der dann wirklichen Aneignung der menschlichen Wesenskräfte. 40 Da, wo Hegel die Geschichte des Menschen enden lässt, hört für Marx die Vorgeschichte auf und fängt die menschliche Geschichte erst an. Es ist hier evident, dass Marx und Hegel zwar unterschiedliche Einsatzpunkte und Einsatzgrößen für ihre Geschichtsphilosophie verwenden, dass aber die untergelegte Struktur die gleiche ist. Das zeigt sich auch in der Wahl der Verwirklichungsagenten der Geschichte. Sind es bei Hegel bestimmte Völker und 3.3 Vom absoluten Geist zum Proletariat: Hegel und Marx 97 <?page no="97"?> bestimmte Verkörperungen des Weltgeistes, so bei Marx bestimmte Gesellschaftsklassen und eine bestimmte fortgeschrittene Produktionsweise: also die ? Arbeiterklasse und die kapitalistische Produktionsweise (im Unterschied zur asiatischen, zur antiken usw. Produktionsweise). Sieht Hegel den Weltgeist als zentrales Bewegungszentrum des Geschichtlichseins vor, so Marx das gesellschaftliche Produzieren als solches - also als Produktionsdimension, in der der Mensch sein Leben, sein Bewusstsein, seine Bedürfnisse selbst schafft und aneignet. Diese gesellschaftliche Produktion des Menschen und der Gesellschaft ist allerdings noch, so Marx, in einer historischen Phase, in der die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse in einer permanent antagonistischen Beziehung zueinander stehen. Auf dem Höhepunkt der Spannungen, die als Klassenkampf zu verstehen sind, wird die ? Arbeiterklasse im revolutionären Akt zum Vertreter der Interessen der Gesamtgesellschaft (genau so, wie die bürgerliche ? Klasse im Kampf gegen den Feudalismus das Interesse aller Menschen zumindest theoretisch-rhetorisch vertreten hat). Mit der Machtergreifung des Proletariats ist dann auch die Geschichte der Klassenkämpfe wie auch die der Klassenherrschaft beendet. Die ? Dialektik der Aufhebung und der Negation der Negation verliert ihren »historischen Treibstoff« und hebt sich selbst auf. Die vormals gleichsam wie bei Hegel schicksalhaft erlittene Geschichte der Menschheit hört auf - und es beginnt ein neues Zeitalter, ja: eine neue Zeit, zu der sich Marx allerdings kaum geäußert hat. Die diesbezügliche berühmte und umstrittene Stelle aus der Deutschen Ideologie lautet so: »[D]aß, solange die Menschen sich in der naturwüchsigen Gesellschaft befinden, solange also die Spaltung zwischen dem besondern und gemeinsamen Interesse existiert, solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht. Sowie nämlich die [ ? ] Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will - während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.« (Marx/ Engels, MEW, Bd. 3, 33) 3. Marxismus und Marxismen 98 <?page no="98"?> Dieser Marx’sche Gedanke, etwas zu tun, ohne das zu sein, was man tut, also etwas machen zu können, ohne gezwungen zu sein, das zu sein, was man tut - der Gedanke also, dass in der kommunistischen Gesellschaft die sozialen Beziehungen der Menschen zu den nötigen Reproduktionen so geregelt sind, dass der Mensch prinzipiell in der Dimension eines permanenten Werdens Aufenthalt findet und sich nicht von seiner eigenen Vergangenheit abhängig machen, sich nicht mit seinem »Gewordensein« identifizieren muss, ist von der Anlage her vergleichbar mit der Hegelschen Vorstellung eines absoluten Geistes, der auch aufgehört hat, sich ein Anderes anverwandeln zu müssen, um sich selbst zu sein. Doch während man Hegels »Erlösungsfigur« eine gewisse Geschlossenheit, gar eine Abgeschlossenheit nicht absprechen kann, suggeriert die Marx’sche Erlösungsfigur eine gewisse Offenheit, so als sei die Vergesellschaftung der Offenheit diejenige gesellschaftshistorische Erscheinungsweise, die dem offenen Wesen namens Mensch am besten entspricht. Wir kommen im 6. Kapitel darauf zurück. Von diesen eher philosophischen Ebenen geht es nun in den beiden nächsten Kapiteln hinab in die Ebene der Mühe, sprich: in die politökonomischen Details der Umstülpung, Aufhebung und Wendung des Hegelschen Denksystems. 3.3 Vom absoluten Geist zum Proletariat: Hegel und Marx 99 <?page no="100"?> 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 »Der beim Verkauf der Ware realisierte Wertüberschuß oder Mehrwert erscheint dem Kapitalisten daher als Überschuß ihres Verkaufspreises über ihren Wert, statt als Überschuß ihres Werts über ihren Kostpreis, so daß der in der Ware steckende Mehrwert sich nicht durch ihren Verkauf realisiert, sondern aus dem Verkauf selbst entspringt.« (Karl Marx, Das Kapital III, MEW, Bd. 25, 48, kursiv B. T.) 4.1 Kontexte und Konturen des politökonomischen Denkens von Marx Es gibt bei aller Unterschiedlichkeit der Marx-Rezeption doch so etwas wie einen gemeinsamen Kern, eine hauptsächliche Sicht auf die Marx’sche Theorie, die hegemonial ist. Diese hegemoniale Sichtweise sei in den folgenden, willkürlich ausgewählten Sätzen pars pro toto wiedergegeben. Das Zitat findet sich auf der Internetseite der Gesellschaft für Allgemeine und Integrative Psychotherapie - Deutschland, Abteilung »Geschichte, Wirtschaft und Soziales«. Dort liest man Folgendes: »Karl Marx ist im 20. Jahrhundert der wohl weltweit einflussreichste und auch umstrittenste Ökonom durch seine enge Vermischung von ökonomischer Wissenschaft, moralisch-politischer Weltanschauung und revolutionären Handlungsanweisungen: ›Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern‹. Diese Vermischung war der größte und verwirrendste wissenschaftliche Fehler, der die Wissenschaft letztlich auf ein Propaganda-Instrument politischer Interessen zuspitzte. Dennoch ist sein Werk sehr wichtig für die Kultur-, Politik- und Sozialgeschichte, das immer noch eine Auseinandersetzung erfordert und verdient.« 41 101 <?page no="101"?> Dieser Vorentscheidung, dass sich Marx des größten wissenschaftlichen Fehlers schuldig gemacht habe, wird auf den nächsten Seiten nicht gefolgt - bei aller Kritik an seiner politischen Ökonomie, die nach dem Durchgang anzubringen ist. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, dass der Leser nach Durchgang des Kapitels in der Lage ist, Sätze wie die des ersten vorangestellten Zitates ohne allzu große Denkanstrengung zu verstehen - Sätze, die wie unter Brennglas Aussagen enthalten, die wesentliche Analyse-Erkenntnisse Marxens voraussetzen und also als »Lackmuspapier« fürs Verstehen gelten können. Versteht man also das Eingangszitat - oder diesen Satz: »Unsere Analyse bewies, daß die Wertform oder der Wertausdruck der Ware aus der Natur des Warenwerts entspringt, nicht umgekehrt ? Wert und Wertgröße aus ihrer Ausdrucksweise als Tauschwert« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 75) -, dann hat man im Wesentlichen die Kapitalanalyse verstanden (was nicht heißen muss: akzeptiert) - und nicht nur die Terminologie. Vermittelt werden sollen in den folgenden Skizzen die basalen Koordinaten der Marx’schen Analyse des »Bewegungsgesetzes der kapitalistisch-bürgerlichen Produktionsweise«, denn nach Marx ist die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen, und nicht etwa in den Erscheinungsweisen des Geistes, des Staates, des Rechts oder der Künste: »Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln, deren Gesamtheit Hegel, nach dem Vorgang der Engländer und Franzosen des 18. Jahrhunderts, unter dem Namen ›bürgerliche Gesellschaft‹ zusammenfaßt, daß aber die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft in der politischen Ökonomie zu suchen sei.« (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, 8) Mehr noch: Marxens Anthropologie betrachtet den Menschen als solchen nicht maßgebend entlang seiner genuin rationalen, seiner kognitiven, seiner geistigen, seiner sprachlichen Eigenschaften, sondern entlang der Eigenschaft, dass er als Wesen seine Lebensmittel und damit sein Leben produziert: »Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.« (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 21) 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 102 <?page no="102"?> Die Analyse und Kritik der politischen Ökonomie* kann zudem relativ unumstritten als Marx’ zentrales Anliegen angesehen werden - und sie gilt auch heute noch vielen Interpreten weitgehend als das Synonym für die Bezeichnung »Marxismus« 42 (zur dezidiert gegenteiligen Ansicht kommt z. B. Fleischer 1993, 24). Indes: Das, was Marx politökonomie-theoretisch untersucht, nämlich die kapitalistische Produktionsweise als diejenige Produktionsform, in der sich die »industrielle Revolution« ausbildet und Gestalt annimmt, ist mehr als nur ein System der Gesellschaft unter anderen Systemen, etwa des Rechts, der Politik oder der Bildung. Sie ist zugleich die kulturelle Grundlage derjenigen Gesellschaften, die sich als hoch industrialisiert bezeichnen. * Der Begriff »politische Ökonomie«, der bereits im 17. Jahrhundert geprägt wurde, bezeichnet im Marxismus die Entscheidung für eine bestimmte theoretische Sichtweise, nämlich die, das »System« des Wirtschaftens, das »System« der politischen Herrschaft und die jeweiligen historischen Umstände einer bestimmten Zeit in einen einheitlichen wissenschaftlichen Erklärungszusammenhang zu stellen. Ökonomie, Politik und Geschichte bilden also die immer gleichzeitig zu berücksichtigenden Komponenten für die Analyse von Gesetzmäßigkeiten. Der Begriff setzt sich damit ab von der sogenannten klassischen Wirtschaftstheorie, die von einer vom Staat und von politischen Herrschaftsformen abgekoppelten freien und »reinen« Marktwirtschaft ausging und nur im »System« der Ökonomie den Rahmen für wissenschaftliche Untersuchungen akzeptierte. Marxens Begehr, die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft freizulegen, beschränkt sich also nicht darauf, kritisch die Mechanismen zu benennen, die in der ökonomischen Industrie, in der Bewusstseinsindustrie, in der Kulturindustrie herrschen. Denn zusätzlich geht es ihm darum, diese industrielle Revolution, diese Explosion der europäischen Gesellschaften als ? Kultur, als Industriekultur auszuweisen - die als Industrie in das Stadium der Kultivierung allerdings erst einzutreten vermag, wenn sich der Industrialismus von seiner Gestaltform, der kapitalistischen Produktionsweise, emanzipiert hat. Sie führt also erst dann zu einer Kultivierung, wenn z. B. die wirklich vorhandene Reichtumsproduktion so geändert wird, dass Menschen nicht mehr leben, um zu arbeiten, sondern arbeiten, um zu leben (Sozialismus), und schließlich nicht mehr im Erwerbsarbeitssinne arbeiten müssen, um zu leben (Kommunismus). Oder marxistisch formuliert: Die kapitalistische Industriekultur drückt erst dann wirkliche menschliche Kultur aus, wenn die Produktivkräfte, die den gesellschaftlichen Reichtum produzieren, von der sie unterdrückenden kapitalistischen Organisation befreit werden, um die Reichtumsproduktion schließlich sozial zu organisieren. Damit wäre dann, so Marx, eine proletarische Kultur freigesetzt, die stellvertretend die Entwicklung der menschlichen Kultur, ja der Menschengattung schlecht- 4.1 Kontexte und Konturen des politökonomischen Denkens von Marx 103 <?page no="103"?> hin, historisch auf den Weg brächte. Eine frühe, mehr politische denn politökonomische Aussage Marxens dazu: »Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine ›forces propres‹ als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.« (Marx, Zur Judenfrage, MEW, Bd. 1, 370; siehe auch: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW, Bd. 40, etwa 517, 574) In der zehnten Feuerbach-These heißt es lapidar: »Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft, der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit.« (Marx, Thesen über Feuerbach, MEW, Bd. 3, 7) Und diese gesellschaftliche Menschheit, die heute negativ als Globalisierung adressiert wird, wäre die Voraussetzung für eine tatsächliche Kulturarbeit, die nicht mehr auf Naturwüchsigkeiten aufbauen müsste. (Eine solche Naturwüchsigkeit wäre z. B. die Annahme, es liege in der Natur des Menschen, dass es Herr und Knecht gibt; dass Arbeit immer mühevoll ist; dass Leben Kampf sei.). Dazu abschließend Marx: »Die große Industrie universalisierte […] die Konkurrenz (sie ist die praktische Handelsfreiheit, der Schutzzoll ist in ihr nur ein Palliativ, eine Gegenwehr in der Handelsfreiheit), stellte die Kommunikationsmittel und den modernen Weltmarkt her, unterwarf sich den Handel, verwandelte alles [ ? ] Kapital in industrielles Kapital und erzeugte damit die rasche Zirkulation (die Ausbildung des Geldwesens) und Zentralisation der Kapitalien. Sie zwang durch die universelle Konkurrenz alle Individuen zur äußersten Anspannung ihrer Energie. Sie vernichtete möglichst die [ ? ] Ideologie, Religion, Moral etc., und wo sie dies nicht konnte, machte sie sie zur handgreiflichen Lüge. Sie erzeugte insoweit erst die Weltgeschichte, als sie jede zivilisierte Nation und jedes Individuum darin in der Befriedigung seiner Bedürfnisse von der ganzen Welt abhängig machte und die bisherige naturwüchsige Ausschließlichkeit einzelner Nationen vernichtete. Sie subsumierte die Naturwissenschaft unter das Kapital und nahm der Teilung der Arbeit den letzten Schein der Naturwüchsigkeit. Sie vernichtete überhaupt die Naturwüchsigkeit, soweit dies innerhalb der Arbeit möglich ist, und löste alle 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 104 <?page no="104"?> naturwüchsigen Verhältnisse in Geldverhältnisse auf. Sie schuf an der Stelle der naturwüchsigen Städte die modernen, großen Industriestädte, die über Nacht entstanden sind.« (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 60) Die Darstellung von Marx’ Suche nach der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft geschieht hier entlang einiger wesentlicher Unterscheidungen und Begrifflichkeiten, ohne dem Genüge zu tun, was Marx als Totalität der kapitalistischen Produktionsweise zu bestimmen suchte - jedoch mit dem Ziel, die grundlegenden Unterscheidungsmittel näher zu bringen. 43 Die kapitalistische Produktionsweise wird nach Marx nur begriffen, wenn sie als ein System, als Totalität, als in sich mit sich in Beziehung stehender Zusammenhang des Ganzen begriffen wird. In der »Einleitung« [zur Kritik der politischen Ökonomie] heißt es diesbezüglich: »Das Resultat, wozu wir gelangen, ist nicht, daß Produktion, Distribution, Austausch, Konsumtion identisch sind, sondern daß sie alle Glieder einer Totalität bilden, Unterschiede innerhalb einer Einheit. Die Produktion greift über, sowohl über sich in der gegensätzlichen Bestimmung der Produktion als über die andren Momente. Von ihr beginnt der Prozeß immer wieder von neuem. Daß Austausch und Konsumtion nicht das Übergreifende sein können, ist von selbst klar. Ebenso von der Distribution als Distribution der Produkte. Als Distribution der Produktionsagenten aber ist sie selbst ein Moment der Produktion. Eine bestimmte Produktion bestimmt also bestimmte Konsumtion, Distribution, Austausch, die bestimmten Verhältnisse dieser verschiednen Momente zueinander.« (Marx, MEW, Bd. 13, 630 f.) 4.1.1 Der Kern des gesamten Analyseunternehmens Bevor nun die einzelnen Konkretionen und die Bedingungen dieser »bestimmten Verhältnisse« und »verschiedenen Momente« im Folgenden genauer dargestellt werden, ist es sinnreich, so etwas wie einen Kern des Marx’schen Analyseunternehmens zu benennen - auch wenn die meisten Begriffe noch unerklärt verwendet werden und erst anschließend Erläuterung erfahren. In abstrakter Verkürzung gesagt besteht Marx’ Absicht darin, • hermeneutisch-dialektisch, also aus einer Innensicht heraus und dann über diese Innensicht hinausgehend, das Bewegungsgesetz kapitalistischer Produktion herauszuarbeiten - und nicht zu verurteilen (Kößler 2001, 31); 4.1 Kontexte und Konturen des politökonomischen Denkens von Marx 105 <?page no="105"?> • dieses Gesetz der »Selbstverwertung des Wertes« in seinen Erscheinungsweisen zu verfolgen und zu erweisen, dass • die einzige Wertschöpfungsquelle in diesen Bewegungsprozessen die Arbeitskraft ist. Die Konsequenzen sehen für Marx so aus, dass • die kapitalistische Produktion den Widerspruch in sich trägt, ebendiese Wertschöpfungsquelle tendenziell zu minimieren; • die Profitrate in ihrem Durchschnitt tendenziell sinkt; diese Sinkbewegung kann nur verlangsamt, aber innerhalb des Kapitalismus nicht aufgehoben werden. Im Verbund mit den im Kapitalismus gleichsam strukturell gegebenen Verwertungskrisen und mit einer Verschärfung der ebenfalls strukturell angelegten Widersprüchlichkeit von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften, also mit der Tatsache, dass die Produktivkraftorganisation auf hohem Niveau vergesellschaftet ist, während die Produktionsverhältnisse in Form der Eigentumsverhältnisse weiterhin privatistisch organisiert sind und die Klassenstruktur der Gesellschaft verschärfen, • entsteht eine Situation, in der die gesamte Gesellschaftsformation aufhebbar wird - durch die proletarische Revolution und, für den Übergang, durch die Diktatur* des Proletariats. • Die Gesellschaft mündet schließlich in eine klassenlose und damit in eine neue, nicht mehr durch permanenten Klassenkampf bestimmte Epoche der Menschheit, in der »die gesellschaftlichen Evolutionen aufhören, politische Revolutionen zu sein«. (Marx, Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, 182) * Marxens Diktaturbegriff ist, es sei nochmals darauf hingewiesen, in Abgrenzung zu »kleinbürgerlichen« Versuchen der Kapitalismusüberwindung zu verstehen, also zu Versuchen, den Kapitalismus nur in der Dimension der Verteilung des Reichtums, nicht in der Dimension der Reichtumsproduktion zu überwinden. Er entstand zudem im Rückblick auf die sogenannte Diktatur der Bourgeoisie (die Herrschaft des Besitzbürgertums, das meinte, durch rechtliche, politische und polizeiliche Macht Zweidrittel der Bevölkerung »bestimmen« zu können). Diktatur wurde von Marx ausschließlich als intermediäre gedacht: »Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.« (Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW, Bd. 19, 28) Im Kapital geht Marx nun im ersten Band dem Produktionsprozess, im zweiten Band dem Zirkulationsprozess und im dritten Band dem Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion nach. Das perpetuum mobile, also das unaufhörlich sich 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 106 <?page no="106"?> Bewegende, macht Marx im sich selbst immer wieder verwertenden Wert aus: die ? Wertverwertung bringt das Kapital auf den Begriff und drückt sein Wesen aus. Der selbstverwertende Wert ist die in den Produktionsmitteln vergegenständlichte tote Arbeit ( ? konstantes Kapital; Maschinenproduktionskraft), deren Eigenschaft es ist, die von ihr getrennte lebendige Arbeit ( ? variables Kapital; Menschenproduktionskraft), also die Arbeitskraft der Lohnarbeiter, unentwegt einzuverleiben und anzuwenden. In der Mehrwertrate drückt sich dann der Grad der Ausbeutung der Arbeitskraft durch das aus einem konstanten und aus einem variabeln Teil sich zusammensetzende Kapital (vgl. Kap. 5.1.13) aus. Die Aneignung und die Produktion von ? Mehrwert ist daher das zentrale Motiv aller kapitalistischen Unternehmungen und zugleich hauptverantwortlich für die Dynamik, die historisch gesehen in keiner anderen Produktionsweise so hoch ist wie in der kapitalistischen. Der Verwertungsprozess des industriellen Kapitals ist die Einheit von Produktions- und Zirkulationsprozess, der sich in den Kreisläufen des Geldkapitals, des produktiven Kapitals und des Warenkapitals sowohl erzeugt als auch realisiert. Die Reproduktion (Werterzeugung) und die Zirkulation (Wertrealisierung) des Gesamtkapitals als ? Profit sind nun an bestimmte notwendige Bedingungen geknüpft, die die Eigenschaft haben, die Wertbildung und Wertverwertung zu untergraben. Es kommt zu Krisen, deren Ursache im Grundwiderspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und den Verwertungsbedingungen der Produktionsverhältnisse liegt. Die Beschränkung der kapitalistischen Produktion, die als Produktion keine Grenzen kennt, liegt schließlich im ? Kapital, also in der Unendlichkeit der Bewegung selbst. Dieser Beschränkungsprozess führt historisch-notwendig zu einem Aufhebungsprozess. Lässt man nun diese radikal verkürzte Darstellung hinter sich und nähert sich schon etwas konkreter einer umfangreicheren Kernschicht von Marx’ Analyse, dann kommt man auf die drei Kapitalien-Bereiche, die den logischen Umfang seiner Analyse ausmachen. 4.1.2 Die Totalität des Gesamtprozesses 4.1.2.1 Die drei Kapitalien-Bereiche Im Zentrum der Analyse dieser Bereiche steht die Totalität des in verschiedene Kreisläufe zu unterscheidenden Gesamtprozesses der Produktion, der Zirkulation, der Konsumtion, in der die Begriffe Geld, Ware, Arbeitskraft, Produktionsmittel, ? Mehrwert und Kapital zentrale Achsen der unterschiedlichen Stadien innerhalb 4.1 Kontexte und Konturen des politökonomischen Denkens von Marx 107 <?page no="107"?> des Prozesses markieren. Marxens Interesse gilt der kapitalistischen Produktionsweise, der Warenproduktion, und damit einem Prozess, der nicht mehr davon geprägt ist, dass man eine Ware (W) verkauft und zu Geld macht (G), um mit diesem Geld weitere Waren (W’) zu kaufen. Diese einfache Warenproduktion ist darstellbar als: W - G - W. Das Geld hat hier nur konsumtive, keine produktive Funktion; die Ware, die gekauft wird, unterscheidet sich in ihrem Wert nicht von der Ware, die verkauft wurde. Die kapitalistische Warenproduktion hingegen beginnt nicht mit einer zu verkaufenden Ware (W), sondern mit Geld (G), das zum Kauf einer Ware (W) eingesetzt wird, um mit dieser Ware durch Verkauf mehr Geld (G’) zu realisieren.* Diese Form der Warenproduktion ist zugespitzt darstellbar als: G - W - G’. * »Kaufen, um zu verkaufen, oder vollständiger, kaufen, um teurer zu verkaufen, G - W - G’, scheint zwar nur einer Art des Kapitals, dem Kaufmannskapital, eigentümliche Form. Aber auch das industrielle Kapital ist Geld, das sich in Ware verwandelt und durch den Verkauf der Ware in mehr Geld rückverwandelt. Akte, die etwa zwischen dem Kauf und dem Verkaufe, außerhalb der Zirkulationssphäre, vorgehn, ändern nichts an dieser Form der Bewegung. In dem zinstragenden Kapital endlich stellt sich die Zirkulation G - W - G’ abgekürzt dar, in ihrem Resultat ohne die Vermittlung, sozusagen im Lapidarstil, als G - G’, Geld, das gleich mehr Geld, Wert, der größer als er selbst ist. In der Tat also ist G - W - G’ die allgemeine Formel des Kapitals, wie es unmittelbar in der Zirkulationssphäre erscheint.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 170) Das Geld hat hier nur produktive, keine konsumtive Funktion, oder besser: es hat die Funktion der produktiven Konsumtion (Aufzehrung, Ausbeutung, Verausgabung). Warum? Weil die Ware, für die Geld ausgegeben wird, die Ware Arbeitskraft (A) ist plus Produktionsmittel (Pm). Diese in A und Pm sich aufteilende Ware (W) wird nur gekauft, um einen Zweck zu erfüllen: Mehrwert zu produzieren. Mit dieser Ware W (A, Pm) werden Waren produziert, die nun nicht mehr nur Waren sind, sondern sich verwandelt haben in ein mit ? »Mehrwert geschwängertes Kapital« (Das Kapital II, MEW, Bd. 24, 92). Um die Formel G - W - G’ genauer zu machen, müsste man daher schreiben: G - W (A, Pm) - W’ - G’. 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 108 <?page no="108"?> Im Verhältnis W (A, Pm) - W’ findet die eigentliche Produktion von Mehrwert statt, also ein richtiger Wertwechsel, der sich als Mehrwert allerdings noch als G’, also als und in Kapital realisieren muss, um dann erneut den Prozess G - W - G’ von vorne zu beginnen. Wenn der Prozesskreislauf wieder beginnt, dann existiert »G’ nicht mehr als verwertetes oder mit Mehrwert geschwängertes Kapital, als Kapitalverhältnis. Es soll sich ja erst im Prozeß verwerten« (Das Kapital II, MEW, Bd. 24, ebenda). Damit ist eine Endlosigkeit resp. Unendlichkeit des Prozesses G - W - G’ angezeigt, die sich darin ausdrückt, dass der im Prozess erzeugte Mehrwert sich selbst verwerten muss, um wieder an die Erzeugung von Mehrwert zu »gehen«. Marx fasst dies im ersten Kapital-Band so zusammen: »Denn die Bewegung, worin er [der Wert, B. T.] Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. […] Als das übergreifende Subjekt eines solchen Prozesses, worin er Geldform und Warenform bald annimmt, bald abstreift, sich aber in diesem Wechsel erhält und ausreckt, bedarf der [ ? ] Wert vor allem einer selbständigen Form, wodurch seine Identität mit sich selbst konstatiert wird. Und diese Form besitzt er nur im Gelde. Dies bildet daher Ausgangspunkt und Schlußpunkt jedes Verwertungsprozesses.« (Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 169) Möchte man nun den Gesamtprozess des einzelnen Verwertungsprozesses Geld, Ware, Geld’ in einer vollständigen Formel darstellen, dann lautete diese: G - W (A, Pm) - W’ - G’ - W (A, Pm) - W’’ - G’’ - ……………. Diese Formel kann als Darstellung des Gesamtkreislaufs der Stadien des Kapitals angesehen werden, in dem der Kapitalist mit Geld auf dem Markt Arbeitskraft und Produktionsmittel kauft (1), mit diesen Waren produziert, in denen durch Arbeitskraft- und Produktionsmittelzusatz Mehrwert geschaffen wird (2), und diese Waren auf dem Markt wieder verkauft (3), um mit einer größeren Geldsumme den Prozess neu zu beginnen. Aus einer ursprünglichen Summe Geld ist eine größere Summe Geld geworden - das Warum wird im Laufe der nächsten Seiten erklärt -, der Verwertungsprozess kann erneut beginnen. Marx differenziert nun diesen Gesamtprozess in drei eigene, analytisch selbstständige Regelkreise, die jeweils spezifische Funktionen im Rahmen der Kapitalbewegung einnehmen, nämlich in die bereits genannten Bereiche • Geldkapital, • produktives Kapital und • Warenkapital. 4.1 Kontexte und Konturen des politökonomischen Denkens von Marx 109 <?page no="109"?> Diese Kapitalien können in der nun bereits bekannten Bewegungs-Formel G - W (A, Pm) - W’ - G’ - W (A, Pm) - W’’ - G’’ usw. genau eingeordnet und begrenzt werden. Dem Geldkapitalkreislauf entspricht der folgende fettmarkierte Kreis: G - W (A, Pm) - W’ - G’ - W (A, Pm) - W’’ - G’’ - ……………. Dem produktiven Kapitalkreislauf entspricht dieser fettmarkierte Kreis: G - W (A, Pm) - W’ - G’ - W (A, Pm) - W’’ - G’’ - ……………. Dem Warenkapitalkreislauf schließlich entspricht dieser fettmarkierte Kreis: G - W (A, Pm) - W’ - G’ - W (A, Pm) - W’’ - G’’ - ……………. Der Gesamtprozess der Kapitalbewegung unterteilt sich nun nicht nur in diese drei unterschiedlichen Funktionskreisläufe, sondern, auf einer grundlegenderen Ebene, auch noch in die Differenz namens Produktion und Zirkulation: • Nur in der Produktionssphäre erzeugt Arbeitskraft Wert und ist daher ? produktive Arbeit; • in der Zirkulationssphäre hingegen schafft die Arbeitskraft, die dort natürlich auch als unbezahlte Arbeit tätig ist, keinen Wert, sondern minimiert maximal die Zirkulationskosten: sie gilt als ? unproduktive Arbeit. Obwohl sich beide Sphären permanent durchdringen und zu verfälschenden Unterscheidungsmerkmalen führen, verfährt Marx wie schon im ersten Band des Kapitals analytisch-logisch und isoliert systematisch resp. systemisch aus der Gesamtbewegung die jeweiligen Systeme der Produktion und Zirkulation.* * Eine grundlegende Anleitung seiner gesamten Kapital-Analyse kann man in folgenden Sätzen finden, die an die wissenschaftliche Form des ceteris paribus erinnern, also an eine Anordnung für wissenschaftliche Experimente, die Bedingungen des Experiments gleich zu halten und von Abweichungen abzusehen: »Um die Formen rein aufzufassen, ist zunächst von allen Momenten zu abstrahieren, die mit dem Formwechsel und der Formbildung als solchen nichts zu tun haben. Daher wird hier angenommen, nicht nur, daß die Waren zu ihren Werten verkauft werden, sondern auch, daß dies unter gleichbleibenden Umständen geschieht. Es wird also auch abgesehn von den Wertveränderungen, die während des Kreislaufsprozesses eintreten können.« (Marx, Das Kapital II, MEW, Bd. 24, 32) Marx weist nun einzig das produktive Kapital der Produktionssphäre zu; das Warenkapital und das Geldkapital hingegen gehören zur Zirkulationssphäre. Sein dreibändiges Kapital-Werk, von dem, wie bereits erwähnt, nur der erste Band von 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 110 <?page no="110"?> ihm selbst herausgegeben wurde, folgte dieser Reihenfolge: Band I betrifft die Produktionssphäre des kapitalistischen Gesamtprozesses (MEW, Bd. 23), Band II die Zirkulationssphäre (MEW, Bd. 24), Band III schließlich soll in einer Synthese beide Sphären im Gesamtzusammenhang zur Darstellung bringen (MEW, Bd. 25; Bd. 26 der MEW-Ausgabe enthält in drei Teilen den von Marx geplanten vierten Band des »Kapitals«, die »Theorien über den Mehrwert«.) Was sind nun die Funktionen der verschiedenen Kapitalien? • Das Geldkapital [G - W (A, Pm) - W’ - G’] wirkt als solches nur dadurch, dass es investiert wird, nicht jedoch dadurch, dass es für den Kauf einer Ware ausgegeben wird; denn die Ware setzt sich aus Arbeitskraft und Produktionsmittel zusammen und findet ihre Bestimmung darin, Mehrwert zu produzieren. Die Eckpunkte des Geldkapitalkreislaufes, G - G’, verführen zur Ansicht, dass der Mehrwert nicht aus der Produktion und aus der Ausbeutung der Arbeitskraft stammt, sondern aus der Zirkulation selbst entspringt. Dies meint Marx, wenn er in dem Zitat, das an den Beginn dieses Kapitels gestellt ist, schreibt, dass selbst dem Kapitalisten die Zirkulationssphäre als die tatsächliche Quelle des Wertzuwachses gilt und er damit den Erscheinungsort der Kapitalrealisierung mit dem Produktionsort der Kapitalerzeugung, nämlich den der Arbeitskraftausnutzung, verwechselt. Auch heute noch gilt dem Alltagsbewusstsein die Kapitalbildung dadurch bedingt, dass der Verkaufspreis einer Ware über ihren Wert liegt und also durch den Verkauf der Ware ein Geldüberschuss erzielt wird, der dann das erzielte Kapital sei. Marx hingegen versucht zu verdeutlichen, dass in der Zirkulations- und also Tauschsphäre der ? Mehrwert einer Ware nur realisiert, aber nicht erzeugt wird 44 , denn erzeugt wird er in der Produktionssphäre, und zwar dadurch, dass der Wert einer produzierten Ware größer ist als der Kostpreis der Ware, dass er also größer ist als der Wert der tatsächlich für die Ware verausgabten Geldsumme. Marx schreibt dazu knapp und deutlich im dritten Kapital-Band: »Zunächst ist der Mehrwert also ein Überschuß des Werts der Ware über ihren Kostpreis. Da aber der Kostpreis gleich dem Wert des verausgabten Kapitals, in dessen stoffliche Elemente er auch beständig rückverwandelt wird, so ist dieser Wertüberschuß ein Wertzuwachs des in der Produktion der Ware verausgabten und aus ihrer Zirkulation zurückkehrenden Kapitals.« (MEW, Bd. 25, 44) • Das produktive Kapital [W (A, Pm) - W’ - G’ - W (A, Pm)] hat die Funktion, die ununterbrochene und immer wieder zu erneuernde Verwertung des Kapitals zu Mehrkapital zu gewährleisten. Die Eckpunkte seines Kreislaufs, W - W’ resp. W (A, Pm) - W (A, Pm), verführen dazu, diese Kapitalbewegung mit der Warenzirkulation gleichzusetzen. Aber sie dient nicht wie die Warenzirkulation der individuellen Konsumtion (W - G - W), sondern der produktiven Kon- 4.1 Kontexte und Konturen des politökonomischen Denkens von Marx 111 <?page no="111"?> sumtion. Da es hier zentral um die Ware Arbeitskraft geht und damit um den Arbeiter, kann Marx schreiben: »Die Konsumtion des Arbeiters ist doppelter Art. In der Produktion selbst konsumiert er durch seine Arbeit Produktionsmittel und verwandelt sie in Produkte von höherem Wert als dem des vorgeschoßnen Kapitals. Dies ist seine produktive Konsumtion. Sie ist gleichzeitig Konsumtion seiner Arbeitskraft durch den Kapitalisten, der sie gekauft hat.« (Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 596) • Das Warenkapital schließlich [W’ - G’ - W (A, Pm) - W’’] besitzt die Funktion, sowohl das vorgeschossene Kapital als auch den Mehrwert zu realisieren, d. h.: Das Geldkapital muss in Warenkapital verwandelt werden. »In einer Warenform muß das Kapital Warenfunktion verrichten. Die Artikel, woraus es besteht, von Haus aus für den Markt produziert, müssen verkauft, in Geld verwandelt werden, also die Bewegung W - G durchlaufen«, so Marx (Das Kapital II, MEW, Bd. 24, 43). Die notwendige Verwandlung des Geldkapitals in Warenkapital zeigt zudem, dass die Kapitalbewegung auch von der Produktion von Gebrauchswerten abhängt, d. h.: es müssen Lebensmittel und geeignete Produktionsmittel hergestellt werden, damit überhaupt Mehrwert realisiert werden kann. 4.1.2.2 Die Probleme und Aufgaben der Kapitalanalyse Diese Bereiche, diese Kapitalien, diese jeweiligen Prozesse und Regelkreise bilden also den Radius der Marx’schen Analyse des Kapitals. Marx geht es nun um den Nachweis, dass an der Oberfläche des Gesamtprozesses des Kapitals, also dort, wo die verschiedenen Bewegungen der unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Kapitalien aufzuspüren sind, das sogenannte Wertgesetz wirkt und wirksam ist. Dieses ist aus drei Gründen schwierig darzustellen: 1. An der Oberfläche des kapitalistischen Gesellschaft erscheinen nicht Werte, sondern Preise, die nicht notwendigerweise mit den tatsächlichen Werten übereinstimmen müssen, ja zumeist tatsächlich nicht übereinstimmen. 2. An der Oberfläche erscheint nicht der ? Mehrwert, sondern der ? Profit (wie erinnerlich muss der Mehrwert in der Zirkulationssphäre »realisiert« werden, und zwar als Profit) - ein Profit, der wiederum drei eigenständige Erscheinungsformen hat: Unternehmergewinn, Zins und Grundrente. Marx nennt diese Erscheinungsformen des Kapitals die ökonomische Trinität. 45 3. An der Oberfläche des Kapitalgesamtprozesses erscheint keine einheitliche Mehrwertrate, sondern es existieren je nach Branche sehr verschiedene Profitraten, welche die Tendenz haben, sich einander anzugleichen. 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 112 <?page no="112"?> Kurzum: Es gibt keine isolierten und sich isoliert reproduzierenden Einzelkapitalien; vielmehr sind alle Kapitalien permanent in der Konkurrenz aufeinander bezogen, was einer der Hauptgründe dafür ist, dass der Verlauf von Produktion und Zirkulation ständig durch Verwertungskrisen gefährdet und erschüttert wird. Marx fasst im dritten Kapital-Band also die Oberflächenphänomene des Kapitalprozesses so auf, wie sie erscheinen, nicht, um es dabei zu belassen und also zur »Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise« beizutragen, sondern um das »Wesen« ebendieser zu offenbaren. Er will also darstellend nachvollziehen, wie die »Versachlichung der Produktionsverhältnisse« (aus sozialen Herrschaftsverhältnissen werden Sachzwänge) und ihre »Verselbständigung gegenüber den Produktionsagenten« (die Sachzwänge bekommen normative Kraft) tatsächlich geschieht (Marx, Das Kapital III, MEW, Bd. 25, 839). Nochmals Marx, der den Sinn des dritten Kapital-Bandes so umschreibt: »Worum es sich in diesem dritten Buch handelt, kann nicht sein, allgemeine Reflexionen über diese Einheit anzustellen. Es gilt vielmehr, die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen, welche aus dem Bewegungsprozeß des Kapitals, als Ganzes betrachtet, hervorwachsen. In ihrer wirklichen Bewegung treten sich die Kapitale in solchen konkreten Formen gegenüber, für die die Gestalt des Kapitals im unmittelbaren Produktionsprozeß, wie seine Gestalt im Zirkulationsprozeß, nur als besondere Momente erscheinen. Die Gestaltungen des Kapitals, wie wir sie in diesem Buch entwickeln, nähern sich also schrittweis der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft, in der Aktion der verschiedenen Kapitale aufeinander, der Konkurrenz, und im gewöhnlichen Bewußtsein der Produktionsagenten selbst auftreten.« (Marx, Das Kapital III, MEW, Bd. 25, 33). Im Kontrast zu diesen Erscheinungen auf der Oberfläche wirken indes Mechanismen und Gesetze, die unterhalb der Oberfläche als beinahe ökonomie-genetische und sozial-genetische Codes bestimmen, was auf der ökonomie-phänomenischen und sozial-phänomenischen Ebene, also auf der Ebene der Sichtbarkeit und des Ausdrucks etwa des Arbeitsvertrages, der Entlohnung, der Preisbildung usw., passiert - und wie dies geschieht. Marx macht hier unter anderem das - auf den folgenden Seiten zu erläuternde - Wertgesetz aus. Das Wertgesetz bewirkt, dass »die Privatarbeiten fortwährend auf ihr gesellschaftlich proportionelles Maß reduziert werden [sich also früher oder später immer einem gesellschaftlichen Maßstab der Bewertung fügen müssen, B. T.], weil sich in den zufälligen und stets schwankenden Austauschverhältnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, 4.1 Kontexte und Konturen des politökonomischen Denkens von Marx 113 <?page no="113"?> wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus über dem Kopf zusammenpurzelt« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 89). Anders gesagt und abschließend zusammengefasst geht Marx also davon aus, • dass sich jede Gesellschaft durch ? Arbeit konstituiert, wobei • die Verteilung der Arbeitsprodukte in der warenproduzierenden Gesellschaft durch den sogenannten Äquivalententausch erfolgt. • Dieser Äquivalententausch schlägt im Laufe der Entwicklung einer geldvermittelten Warenproduktion in sein Gegenteil schlägt (man kauft und verkauft Waren nicht um der Waren willen, sondern um des Geldes willen; vgl. Kap. 5). • Der Austausch von Äquivalenten wird so zu einer bloßen Form und • inhaltlich entsteht eine größtmögliche Ungleichheit zwischen Lohnarbeit und ? Kapital, • wovon die Produzenten kein Bewusstsein haben müssen, mehr noch: • wovon sie sich ein falsches Bewusstsein machen (müssen) ob der zugrunde liegenden wirklichen Vorgänge (vgl. Kap. 5). 4.1.3 Die drei Horizonte von Marx’ Politökonomie Marx stand nun erstens wissenschaftsgeschichtlich vor der Aufgabe (vgl. Kap. 4.2), einsichtig zu machen, was seine Kritik der politischen Ökonomie von anderen, »bürgerlichen« Kritiken der Ökonomie fundamental unterschied, die ebenfalls dem Entstehen und dem Wirken der bürgerlichen Gesellschaft gewidmet waren (siehe zum Verhältnis von Marx zu den klassischen Werken der Ökonomiekritik auch Friedrich Engels’ Vorwort zum zweiten Kapital-Band, MEW, Bd. 24, 7-26). Von diesen ökonomiekritischen Werken gab es nicht nur viele; sie waren zudem in eine über 100-jährige Tradition eingebettet. Zu Recht schreiben daher Flechtheim/ Lohmann (1991, 66): »In gewisser Weise steht Marx mit seinem ökonomie-kritischen Werk nicht am Anfang, sondern am Ende einer Entwicklung. Wenn es auch stimmt, daß der moderne Kapitalismus, wie wir ihn heute kennen, erst im vorigen Jahrhundert [gemeint ist das 19. Jahrhundert, B. T.] gleichsam idealtypisch sichtbar wurde und sich als alles beherrschende ökonomische Formation durchsetzte, so stimmt doch auch, daß er sich embryonal im 16., 17. und 18. Jahrhundert vorbereitete. […] Ohne die großen Werke von Smith, Ferguson, Malthus und Ricardo, von Quesnay, Turgot und Sismondi - bis auf Ricardo und Sismondi Männer des 18. Jahrhunderts - ist die Marx’sche Ökonomiekritik gar nicht vorstellbar. Daß Marx auf den Schultern von Rie- 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 114 <?page no="114"?> sen stand, hat er selber sehr wohl gewußt und in seiner von Respekt und Anerkennung geprägten Auseinandersetzung mit deren wissenschaftlichen Leistungen auch zum Ausdruck gebracht. Marx’ ökonomisches Werk vollendet - etwa auf dem Feld der Arbeitswerttheorie -, was hundert Jahre zuvor begonnen wurde.« Marx stand also vor der Aufgabe, in der bürgerlichen Ökonomietheorie eklatante Fehler ausfindig zu machen und als solche zu beschreiben. Einen Fehler sah Marx darin, dass diese das Bedingungsverhältnis zwischen dem Arbeitsaufwand zur Produktion von Waren und dem dabei entstehenden Tauschwert nicht richtig erfasst habe, da der Arbeitszeit und der Arbeitskraft eine »falsche« Wertigkeit zugesprochen worden sei. - Wir werden gleich darauf zurückkommen. Marx stand zweitens ökonomiegeschichtlich vor der Aufgabe (vgl. Kap. 4.3), zu erklären, wie es überhaupt zu einer kapitalistischen Formation, zu einer kapitalistischen Produktionsweise gekommen ist. 46 Wenn auch seine Analyse des Kapitals, wie schon erwähnt, maßgebend als logische, systematische, analytische, systemische, kurz: idealtypische Analyse und Kritik des Kapitals zu verstehen ist, so sah sich Marx dennoch gezwungen, eine historische Beschreibung der Entstehung dieser historisch völlig neuen kapitalistischen Produktionsweise zu liefern. Im 24. Kapitel des ersten Kapital-Bandes (MEW, Bd. 23, 741 ff.) behandelt Marx unter der Überschrift Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation die Bedingungen, die es ermöglichten, dass größere »Massen von Kapital und Arbeitskraft« (ebenda, 741) in die Hände von Warenproduzenten gelangten. Marx suchte also nach einer Beschreibung von ? Akkumulation, »welche nicht das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt.« (Ebenda, 741) Diese historische Rekonstruktion bildet gewissermaßen eine Ausnahme innerhalb der Marx’schen Methodologie; denn Marx verband mit seiner Darstellung der Genese und Metamorphose von Ware, Geld und Kapital keinen Anspruch auf historiographische Rekonstruktion, sondern vielmehr, nochmals gesagt, einen Anspruch auf systematische Rekonstruktion des Bewegungsgesetzes der kapitalistischen Ökonomie. Diese in ihrer Anlage nichthistorische, doch keinesfalls ahistorische Rekonstruktion ist - nur scheinbar paradox - auf Marxens Geschichtsphilosophie zurückzuführen: Gemäß dieser bedarf der Kapitalismus keiner ausgreifenden historischen Verortung und Genealogie, weil die kapitalistische Formation in Marxens Augen nur den Status einer vorübergehenden Formation besitzt, deren Analyse zudem die Aufgabe hat, die Zeit des Vorübergehens dieser Produktionsweise auch noch zu verkürzen. »Nur soweit der Kapitalist personifiziertes Kapital ist, hat er einen historischen Wert und jenes historische Existenzrecht, das, wie der geistreiche Lichnowski sagt, 4.1 Kontexte und Konturen des politökonomischen Denkens von Marx 115 <?page no="115"?> keinen Datum nicht hat. Nur soweit steckt seine eigne transitorische Notwendigkeit in der transitorischen Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise«, so Marx. (Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 618) Rohbeck schreibt daher folgerichtig, dass die ökonomische Analyse Marxens von einem geschichtstheoretischen Interesse geleitet sei: »[D]ie Kritik der politischen Ökonomie ist in die Philosophie der Geschichte eingebettet. Daher ist es plausibel, innerhalb dieses theoretischen Rahmens die Geschichte erst einmal auszublenden.« (Rohbeck 2006, 92) Das dritte, umfangsreichste und im nächsten Kapitel darzustellende Bündel an Aufgaben, vor denen Marx stand, kann im Großen und Ganzen als ökonomietheorie-interne Aufgabenstellung zusammengefasst werden (vgl. Kap. 5.1), also als Aufgaben, die sich aus der Kritik der politischen Ökonomie zwangsläufig ergeben und dabei ein Problem mitführen, das es vor Marx in dieser Weise nicht gegeben hat, denn Marx betrachtete die Bestimmungen und Interpretationen der wesentlichen Begriffe der Ökonomie - Ware, Geld, ? Mehrwert, ? Profit - aus der schon erwähnten Perspektive einer Totalität. Zugleich nahm er die Bestimmungen und Interpretationen aus der Doppel-Perspektive der Oberfläche (»falsches Bewusstsein«, ? »Fetisch«) und der eigentlichen Gesetzmäßigkeit unterhalb der Erscheinungsebene in den Blick. Das ökonomietheorie-interne Problem, das Marx lösen wollte, sah also folgendermaßen aus: • Jede konkrete Analyse (etwa der Ware) musste in einer Theorie der Totalität des Gesamtprozesses eingebunden sein. • Die Rekonstruktion des falschen Bewusstseins der Akteure im kapitalistischen Gesamtprozess musste zeigen, dass die Annahme richtig war, dass ein falsches Bewusstsein zwingende Folge dieser Produktionsweise ist.* • Die Rekonstruktion der eigentlichen Bewegungs- und Verwertungsgesetze des kapitalistischen Gesamtprozesses musste erweisen, dass ebendieser Prozess in sich widersprüchlich und nicht überlebensfähig ist. * Dazu die berühmte Sentenz: »Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten […] nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.« (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 26 f.) So war etwa, um kurz vorzugreifen, ein Resultat dieses Problembündels die schwierige Frage, wie gezeigt werden konnte, dass das Wertgesetz seine Gültigkeit behält, obwohl die Verkaufspreise der Waren nur noch zufällig mit ihren Werten überein- 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 116 <?page no="116"?> stimmen; oder anders formuliert: wie gezeigt werden konnte, dass die Preise von Waren in letzter Instanz nicht von Angebot und Nachfrage bestimmt werden, sondern von der durchschnittlichen gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit zur Produktion eines bestimmten Quantums Ware. Marx ging es nun darum - in zum Teil sehr kompliziert dargestellter Weise -, die Form, die Funktion und die Genese unter anderem folgender Elemente und Bereiche des kapitalistischen Gesamtprozesses zu erläutern: • die Ware in der Gestalt Gebrauchswert und Tauschwert; • die Geldform der Ware in einfacher Wertform; • die Geldform der Ware in entfalteter Wertform; • die allgemeine Wertform; • die Geldform; • den Fetischcharakter der Ware; • die allgemeine Form des Kapitals; • die Herkunft des Mehrwerts; • die Ware Arbeitskraft; • der Arbeitsprozess im Kapitalismus; • absoluter und relativer Mehrwert; • formelle und reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital; • konstantes und variables Kapital; • organische Zusammensetzung des Kapitals; • Mehrwertrate und Profitrate; • Verwandlung des Profits in Durchschnittsprofit; • produktive und unproduktive Arbeit innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise; • das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate und die inneren Widersprüche desselben. Der Darstellung der drei beschriebenen Aufgabenfelder in diesem und dem folgenden Kapitel sei eine Bemerkung zu Marx’ Sprachgebrauch vorangeschickt, die etwaige Verwirrungen zwar nicht beseitigt, aber dazu beitragen kann, dass man im Falle mangelnden Verstehens nicht als Erstes sich an den Kopf fasst, sondern die Unverständlichkeit des Textes dafür verantwortlich macht. Reinhart Kößler schreibt (Kößler 2001, 30): »Zwar dürfte es keinen anderen sozialwissenschaftlichen Theoriekomplex geben, der sorgfältiger nach einzelnen Formulierungen durchkämmt worden ist, […] als gerade das Marx’sche Werk. Zugleich stellt sich aber bei der tatsächlichen Lektüre Marx’scher Schriften heraus, daß er selbst sich jeglicher Sprachregelung in Wirklichkeit souverän widersetzt. Zentrale, in den Varia- 4.1 Kontexte und Konturen des politökonomischen Denkens von Marx 117 <?page no="117"?> nten des Marxismus […] benutzte Begriffe wie ›Produktionsweise‹, ›Gesellschaftsformation‹ oder auch ›Produktivkräfte‹, ja selbst ›Arbeit‹ und ›Arbeitskraft‹ variieren oft erheblich in ihrer sprachlichen Form, aber auch in ihrer Bedeutung. Das heißt nicht, daß Marx nicht jeweils gewußt hätte, wovon er sprach oder schrieb. Er dürfte dies freilich schwerlich mit dem Blick auf eine spätere Kanonisierung seiner Texte getan haben. Eher ging es ihm um Selbstverständigung und Vermittlung seiner Einsichten.« 4.2 Wissenschaftsgeschichtliche Herausforderung für die Marx’sche Analyse der Politökonomie Auf der bereits zu Anfang des Kapitels zitierten Internetseite der »Gesellschaft für Allgemeine und Integrative Psychotherapie - Deutschland« 47 ist in kompakter Form eine Sichtweise zum Ausdruck gebracht, die sich der Marx’schen Politökonomie einzig aus einer verteilungstheoretischen Perspektive nähert und damit die Unterschiede zwischen Marx, Adam Smith und David Ricardo zugunsten einer Bestimmung einschmelzt, die diese Autoren zu Klassikern werden lässt, deren Werke einzig historisches Interesse ernten können. Dort heißt es, aus der Sicht der Gegenwart formuliert: »Marxens Wert-Analyse von Waren beruht auf den Klassikern der (englischen) Nationalökonomie von Adam Smith und David Ricardo. Der Fehler der Klassiker (Smith, Ricardo, Marx) besteht hauptsächlich in der falschen Annahme, der Wert einer Sache (Wirtschaftsgutes) ließe sich objektiv bestimmen. Diese ökonomische Lehre wurde durch die sog. Grenznutzentheorie [48] , die die Subjektivität und Wandelbarkeit der ökonomischen Werte m. E. zu Recht annimmt, überwunden. Die Arbeiten der Klassiker und insbesondere von Karl Marx sind - neben vielen anderen Leistungen - aber schon deshalb nach wie vor sehr wichtig und wahrscheinlich zeitlos aktuell, weil die Kern- und Gretchenfrage, um die es in der Politischen - im Gegensatz zur rein wissenschaftlichen - Ökonomie geht durch die Schöpfung des Mehrwert-Begriffs einfach auf den Punkt zu bringen ist: Wer soll wie viel vom Mehrwert haben? Diese Frage ist aber keine rein ökonomische und nur bedingt wissenschaftliche, nämlich dann, wenn es z. B. darum geht, zu untersuchen, welche Mehrwertverteilung zu stabilen politischen Systemen (Aristo- 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 118 <?page no="118"?> teles’ Staatslehre) führt. Anders formuliert: Mit Hilfe der Arbeit entsteht Gewinn und damit stellt sich die politische und ethische Frage nach seiner gerechten Verteilung.« Im Gegensatz dazu hielt Marx daran fest, dass es keine Frage der Art und Weise der Verteilung des Gewinns, sondern zentral eine Frage der Produktion des Gewinns ist, wenn man sich politökonomisch analysierend der herrschenden Form der Reichtumsproduktion in der Gesellschaft annähert. In diesem Abschnitt sollen Smith, Ricardo* und Marx nicht in einen Topf geworfen werden, sondern es soll der Unterschied zwischen den drei genannten Autoren sichtbar gemacht werden, und zwar aus Marx’ Sicht. Gemeinsam ist allen drei Autoren, dass sie von einer objektiven ? Wertlehre ausgehen, also davon, dass der Wert einer Ware sich danach bemisst, wie viel ? Arbeit in der Produktion einer Ware gespeichert ist: dieser objektiv feststellbare Wert einer Ware sei vom Marktpreis der Ware zu unterscheiden. Der Unterschied zwischen ihnen wurde von Marx bestimmt als der zwischen einer bürgerlichen Ökonomielehre und eben einer wissenschaftlich-sozialistischen, einer historisch-materialistischen Ökonomielehre. * Adam Smith (1723-1790) gilt als bedeutendster englischer Ökonom vor David Ricardo. Er verallgemeinerte die Erfahrungen der kapitalistischen Manufakturperiode und des beginnenden Fabriksystems zu einer allgemeinen Ökonomietheorie - und wurde so Vorbild für die sogenannte klassische bürgerliche politische Ökonomie (siehe: Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, 911). David Ricardo (1772-1823), auf den sich Marx vordringlich bezieht, gilt als »Vollender« der klassischen bürgerlichen politischen Ökonomie. Marx sieht Smiths Bedeutung in der Tatsache, dass dieser für die damalige politische Ökonomie die Kategorie der Arbeit als die zentrale Instanz der Bildung von Wert einführte, wenngleich er die dadurch entstandenen Probleme keineswegs zu lösen vermochte. Doch er emanzipierte das Nachdenken über die Bedingungen der Entstehung von ? Wert und ? Kapital von den Vorstellungen der sogenannten Physiokraten 49 , die weitgehend noch im Übergangsdenken zwischen feudaler, merkantiler und industrieller Produktion eine zu begrenzte Sichtweise aufrechterhielten. In den ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 merkt Marx dies an: »Die physiokratische Lehre von Dr. Quesnay bildet den Übergang aus dem Merkantilsystem zu Adam Smith. Die Physiokratie ist unmittelbar die nationalökonomische Auflösung des Feudaleigentums, aber darum ebenso unmittelbar die nationalökonomische Umwandlung, Wiederherstellung desselben, 4.2 Wissenschaftsgeschichtliche Herausforderung für die Marx’sche Analyse 119 <?page no="119"?> nur daß seine Sprache nun nicht mehr feudal, sondern ökonomisch wird. Aller Reichtum wird aufgelöst in die Erde und den Landbau (Agrikultur). Die Erde ist noch nicht Kapital, sie ist noch eine besondre Daseinsweise desselben, die in ihrer und um ihrer natürlichen Besonderheit willen gelten soll; aber die Erde ist doch ein allgemeines, natürliches Element, während das Merkantilsystem nur das edle Metall als Existenz des Reichtums kennt. Der Gegenstand des Reichtums, seine Materie, hat also sogleich die höchste Allgemeinheit innerhalb der Naturgrenze - insofern er noch als Natur unmittelbar gegenständlicher Reichtum ist - erhalten. Und die Erde ist nur durch die Arbeit, die Agrikultur für den Menschen. Also wird schon das subjektive Wesen des Reichtums in die Arbeit versetzt. Aber zugleich ist die Agrikultur die einzig [ ? ] produktive Arbeit. Also ist die Arbeit noch nicht in ihrer Allgemeinheit und Abstraktion gefaßt, sie ist noch an ein besondres Naturelement als ihre Materie gebunden, sie ist daher auch nur noch in einer besonderen naturbestimmten Daseinsweise erkannt.« (Marx, MEW, Bd. 40, 531 f.) Bei Smith hingegen ist die Wertbestimmung des Kapitals schon entkonkretisiert, d. h., sie ist nicht mehr verkoppelt mit einem besonderen Faktor (Land), sondern schon quantifizierender Art und in Richtung derjenigen Abstraktion gedacht, die sich historisch als abstrakte Arbeit (s. w. u.) durchzusetzen beginnt. »Was ist das Kapital? «, fragt Marx in den Manuskripten, und lässt Smith durch ein Zitat antworten: »›Une certaine quantité de travail amassé et mis en réserve.‹ Smith, t. II, p. 312«; und er setzt übersetzend nach: »Kapital ist aufgespeicherte Arbeit« (Marx, MEW, Bd. 40, 484). Doch damit nicht genug. Smith sei auch der Erste gewesen, der die Grundlage des Sozialverhältnisses der heraufziehenden Ökonomie, nämlich die Verfügung über unbezahlte Arbeit, richtig erfasste: »Das Kapital ist also nicht nur Kommando über Arbeit, wie A. Smith sagt. Es ist wesentlich Kommando über unbezahlte Arbeit. Aller Mehrwert, in welcher besondern Gestalt von Profit, Zins, Rente usw. er sich später kristallisiere, ist seiner Substanz nach Materiatur unbezahlter Arbeitszeit. Das Geheimnis von der Selbstverwertung des Kapitals löst sich auf in seine Verfügung über ein bestimmtes Quantum unbezahlter fremder Arbeit.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 556) Mit Smith wurde nun einsichtig, dass alle Formen, in denen ? Mehrwert sich Gestalt zu geben vermag - Profit, Grundrente, Zins -, keinen eigentlichen Unterschied machen, da ihre gemeinsame Quelle doch der Teil der ? Arbeit ist, den sich die Eigentümer der sachlichen Produktionsbedingungen und der mensch- 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 120 <?page no="120"?> lichen Waren (Arbeitskraft) ohne Bezahlung schlicht aneignen. Smith erkannte also, dass »der Mehrwert ein Produkt der Mehrarbeit des Arbeiters ist« (Hautmann 2001, 28). Kurzum: »Es war ein ungeheurer Fortschritt von Adam Smith, jede Bestimmtheit der Reichtum zeugenden Tätigkeit fortzuwerfen - Arbeit schlechthin, weder Manufaktur, noch kommerzielle, noch Agrikulturarbeit, aber sowohl die eine wie die andre«, so Marx in der Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie (MEW, Bd. 13, 635). Doch Smith verwechselte nicht nur gelegentlich die Bestimmung des Mehrwerts und die des Profits (siehe z. B. die Hinweise in: MEW, Bd. 23, S. 615), sondern mehr noch: »Adam Smith nimmt zum Maßstab des Wertes bald die zur Herstellung einer Ware notwendige Arbeitszeit, bald den ? Wert der Arbeit. Ricardo hat diesen Irrtum aufgedeckt, indem er die Verschiedenheit dieser beiden Messungsarten klar nachwies«, so Marx (Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, 87).* * Nochmals Marx zu Smith: »Er verwechselt beständig die Bestimmung des Werts der Waren durch die in ihnen enthaltene Arbeitszeit mit der Bestimmung ihrer Werte durch den Wert der Arbeit, schwankt überall in der Detaildurchführung und versieht die objektive Gleichung, die der Gesellschaftsprozeß gewaltsam zwischen den ungleichen Arbeiten vollzieht, für die subjektive Gleichberechtigung der individuellen Arbeiten. Den Übergang aus der wirklichen Arbeit in die [ ? ] Tauschwert setzende Arbeit, d. h. die bürgerliche Arbeit in ihrer Grundform, sucht er durch die Teilung der Arbeit zu bewerkstelligen.« (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, 45.) Ricardo nun, auf den sich Marx ebenfalls in ausführlicher, kritischer Haltung bezieht, übernahm von Smith die zentrale Teilung der Warendimension in ? Gebrauchswert und ? Tauschwert - und forcierte diese Teilung dahingehend, dass die Nützlichkeit einer Ware, also ihr Gebrauchswert, nur eine hinreichende Größe für die Bestimmung des Wertes der Ware darstellt, aber auf keinen Fall als Maßstab des Wertes gelten kann. In Marxens Sicht machte Ricardo Smith den Vorwurf: »1. Daß er ›für den Wert einen anderen Maßstab als die Arbeit aufstellte, bald den Wert des Getreides, bald die Arbeitsmenge, welche eine Sache zu kaufen vermag etc.‹ (Bd. I, S. 9 u. 10.) | 2. Daß er ›das Prinzip ohne Vorbehalt einräume und doch seine Anwendung auf den ursprünglichen rohen Zustand der Gesellschaft beschränke, der der Anhäufung der Kapitalien und dem Privateigentum an Grund und Boden vorhergeht‹. (Bd. I. S. 21.).« (MEW, Bd. 4, 79) Marx, der in Ricardos Theorem einen enormen Fortschritt in der Entfaltung der Theorie zur Erfassung der reell abstrakten Wertbestimmung sah, resümiert: 4.2 Wissenschaftsgeschichtliche Herausforderung für die Marx’sche Analyse 121 <?page no="121"?> »Ricardo sucht den Nachweis zu liefern, daß das Grundeigentum, d. h. die (Boden-) Rente, den Wert der Lebensmittel nicht beeinflussen kann und daß die [ ? ] Akkumulation der Kapitalien nur einen zeitweiligen und oszillierenden Einfluß auf das Verhältnis der Werte ausübt, die bestimmt werden durch das Verhältnis der zu ihrer Herstellung aufgewendeten Arbeitsmenge. Um diesen Satz zu beweisen, entwickelt er seine berühmte Grundrententheorie, analysiert er das Kapital und gelangt in letzter Instanz dahin, in demselben nur aufgehäufte Arbeit zu finden. Alsdann entwickelt er eine ganze Theorie über das Verhältnis von Arbeitslohn und Profit und beweist, daß Lohn und Profit im umgekehrten Verhältnis zueinander steigen und fallen, ohne den Wert des Produktes zu beeinflussen. Er übersieht dabei nicht den Einfluß, den die Anhäufung der Kapitalien und ihre verschiedene Natur (fixes und flüssiges Kapital) sowie die Lohnhöhe auf den verhältnismäßigen Wert der Produkte ausüben können. Es sind das sogar die hauptsächlichsten Probleme, die Ricardo beschäftigen.« (Marx, Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, 79 f.) Ricardo, der für Marx im Bereich der politischen Ökonomie den Platz einnahm, den Hegel im Bereich der Philosophie und der dialektischen Methode innehatte, rückte in seiner Wertanalyse sehr nahe an das heran, was Marx später selbst vertrat - man kann auch sagen: Marx vertrat sehr viel von dem, was Ricardo ausarbeitete. Das gilt besonders für Ricardos Bestimmung der Quelle des Wertes als die Arbeit, die bei der Produktion der Ware verausgabt wird, plus derjenigen Arbeit, die schon in den Produktionsmitteln und in den Rohstoffen »enthalten« ist und auf das Produkt, auf die Ware übertragen wird. Marx führt aus: »Im Gegensatz zu Adam Smith arbeitete David Ricardo die Bestimmung des Werts der Ware durch die Arbeitszeit rein heraus und zeigt, daß dies Gesetz auch die ihm scheinbar widersprechendsten bürgerlichen Produktionsverhältnisse beherrscht. Ricardos Untersuchungen beschränken sich ausschließlich auf die Wertgröße, und mit Bezug auf diese ahnt er wenigstens, daß die Verwirklichung des Gesetzes von bestimmten historischen Voraussetzungen abhängt. Er sagt nämlich, daß die Bestimmung der Wertgröße durch die Arbeitszeit nur für die Waren gelte, ›die durch die Industrie beliebig vermehrt werden können und deren Produktion durch uneingeschränkte Konkurrenz beherrscht wird‹. Es heißt dies in der Tat nur, da das Gesetz des Wertes zu seiner völligen Entwicklung die Gesellschaft der großen industriellen Produktion und der freien Konkurrenz, d. h. die moderne bürgerliche Gesellschaft voraussetze. Im übrigen betrachtet Ricardo die bürgerliche Form der Arbeit 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 122 <?page no="122"?> als die ewige Naturform der gesellschaftlichen Arbeit.« (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW, Bd. 13, 45 f.) Marx konnte also einerseits auf Ricardos Analysen aufbauen, da es dessen, so Marx, großer Verdienst war, »daß er in seinem 1817 veröffentlichten Werk ›On the Principles of Political Economy‹ den alten landläufigen und abgedroschnen Trugschluß, wonach ›der Arbeitslohn die Preise bestimmt‹, von Grund aus zunichte machte, einen Trugschluß, den Adam Smith und seine französischen Vorgänger in den wirklich wissenschaftlichen Partien ihrer Untersuchungen aufgegeben hatten, den sie aber in den mehr exoterischen und verflachenden Kapiteln dennoch wieder aufnahmen.« (Marx, Lohn, Preis, Profit, MEW, Bd. 16, 121) Er musste indes andererseits über Ricardos Analysen hinausgehen, da diese die bürgerliche Produktionsweise als die einzig »richtige« voraussetzten, also zur »ewige Naturform der gesellschaftlichen Arbeit« erklärten. Nach Marx konnte es gar nicht ausbleiben, dass sich Smith und Ricardo in analytische und politische Widersprüche verwickelten, weil sich, so Eucher (1983, 82), »ihre Untersuchungen auf die ökonomischen Phänomene beschränkten, die auf der ›Oberfläche‹ der bürgerlichen Gesellschaft sichtbar werden.« Und was sie dort auf der Oberfläche, die nach Marx die wirklichen und unsichtbaren Strukturen der »eigentlichen« Gesellschaftsereignisse verschleiert, sahen, waren Sachverhalte der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft wie • den geldvermittelten Warentausch zwischen gleichberechtigten Vertragspartnern (inklusive den gleichberechtigten Arbeitsvertrag zwischen Unternehmer und Arbeiter), • die Bildung der Warenpreise durch die Konkurrenz sowie • die Bildung der Einkommensarten Unternehmergewinn, Grundrente und Arbeitslohn aus den Produktionsfaktoren ? Kapital, Boden und ? Arbeit (Eucher 1983, 82). Smith und vor allem Ricardo kamen in ihren Analysen näher als andere Ökonomietheoretiker an die Überzeugung Marxens heran, dass die zur Produktion einer Ware durchschnittlich notwendige Arbeitszeit die Wertgröße ihres Tauschwertes sowohl misst wie auch bestimmt; indes verblieben sie, so Marx, doch noch im Denkrahmen von Oberflächenerscheinungen der gerade vorherrschenden Produktionsweise gefangen - und mussten so zwangsläufig verkennen, dass z. B. die vertragsrechtliche Gleichheit von Unternehmer und Arbeiter »eigentlich« eine eklatante Ungerechtigkeit darstellt, so man die Perspektive des bürgerlichen Rechts verlässt. In einer Fußnote im Kapital weist Marx beide, Smith und Ricardo, als Stellvertreter einer politischen Ökonomietheorie aus, die an ihre Grenzen der Erklärung und des Verstehens der Wertgenese kommt: Dort heißt es: 4.2 Wissenschaftsgeschichtliche Herausforderung für die Marx’sche Analyse 123 <?page no="123"?> »Es ist einer der Grundmängel der klassischen politischen Ökonomie, daß es ihr nie gelang, aus der Analyse der Ware und spezieller des Warenwerts die Form des Werts, die ihn eben zum Tauschwert macht, herauszufinden. Grade in ihren besten Repräsentanten, wie A. Smith und Ricardo, behandelt sie die Wertform als etwas ganz Gleichgültiges oder der Natur der Ware selbst Äußerliches. Der Grund ist nicht allein, daß die Analyse der Wertgröße ihre Aufmerksamkeit ganz absorbiert. Er liegt tiefer. Die Wertform des Arbeitsprodukts ist die abstrakteste, aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktionsweise, die hierdurch als eine besondere Art gesellschaftlicher Produktion und damit zugleich historisch charakterisiert wird. Versieht man sie daher für die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion, so übersieht man notwendig auch das Spezifische der Wertform, also der Warenform, weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform usw. Man findet daher bei Ökonomen, welche über das Maß der Wertgröße durch Arbeitszeit durchaus übereinstimmen, die kunterbuntesten und widersprechendsten Vorstellungen von Geld, d. h. der fertigen Gestalt des allgemeinen Äquivalents.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 95; Fußnote). Pointiert gesagt sieht Marx in Smith und Ricardo Ökonomietheoretiker, die durch die Entfaltung von Begriffen wie ? Profit, Lohnarbeit, ? Wert/ Tauschwert, ? Wertgesetz schon erheblich zur Aufklärung der sich entfaltenden kapitalistischen Produktionsweise beigetragen haben; sie konnten jedoch nicht sehen, dass die Wertform des Arbeitsprodukts wie auch die Warenform der Arbeit selbst historisch zu bestimmen sind, also als wandelbare und als letztlich - nach Marx - die gesamte Produktionsweise aufhebende Größen zu verstehen sind. Ein Beispiel für die Probleme, die aus der Sicht von Marx entstehen, wenn man auf die Komplexität, auf die Unsichtbarkeit und auf die nicht mehr direkte Begreifbarkeit der Wertgenese mit einer »unterkomplexen«, nicht ausreichend abstrakten Theorie zu antworten sucht, gibt Engels, wenn er in einem beinahe ironischen Tone auf die Ungereimtheiten falscher Begriffsbestimmung hinweist: »Die Engländer - MacCulloch und Ricardo besonders - behaupten also, der abstrakte Wert einer Sache werde durch die Produktionskosten bestimmt. Wohlverstanden, der abstrakte Wert, nicht der Tauschwert, der exchangeable value, der Wert im Handel - das sei etwas ganz andres. Weshalb sind die Produktionskosten das Maß des Wertes? Weil - hört, hört! - weil niemand eine Sache, unter gewöhnlichen Umständen und das Verhältnis der Konkurrenz aus dem Spiele gelassen, für weniger verkaufen würde als ihm ihre Produktion kostet - verkaufen würde? Was haben wir hier, wo es sich nicht um den 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 124 <?page no="124"?> Handelswert handelt, mit ›Verkaufen‹ zu tun? « (Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, MEW, Bd. 1, 505 f.) Marxens Aufgabe bestand nun also darin, jeglichen Gedanken an eine »ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion« für die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise zu verwerfen und an die frei gewordene Stelle die Analyse der Spezifika der Wertform, der Warenform, der Geldform, der Kapitalform zu setzen, eine Analyse mithin, die gleichzeitig auch die spezifischen Eigenschaften der »allgemeinen« menschlichen Arbeit, d. h.: der abstrakten Arbeit* zu erschließen hatte. * Abstrakte Arbeit meint, dass eine Arbeitskraft eine Leistung erbringt durch die produktive Verausgabung von »menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 58), wobei diese in Leistung übersetzte Verausgabung quantitativ bestimmt wird - also ohne Bezug darauf, was und wie die Leistung/ der Nutzen ist. Abstrakte Arbeit ist also dem Geld vergleichbar: Es gibt nichts, was etwa einen 20 Euro-Schein darin beschränken könnte, sich in irgendeine Ware zu verwandeln - außer die Quantität, also der Preis der Waren. In Das Elend der Philosophie gibt Marx schließlich eine prägnante und umfassende Abgrenzung der klassischen Ökonomie von seiner Kritik der politischen Ökonomie wieder, die nun nicht ökonomietheoretisch, sondern gesellschaftstheoretisch ausgerichtet ist: »Die Klassiker, wie Adam Smith und Ricardo, vertreten eine Bourgeoisie, die, noch im Kampf mit den Resten der feudalen Gesellschaft, nur daran arbeitet, die ökonomischen Verhältnisse von den feudalen Flecken zu reinigen, die Produktivkräfte zu vermehren und der Industrie und dem Handel neue Triebkraft zu geben. Das an diesem Kampfe teilnehmende Proletariat kennt, von dieser fieberhaften Arbeit absorbiert, nur vorübergehende, zufällige Leiden, betrachtet sie selbst als solche. Die Ökonomen, wie Adam Smith und Ricardo, welche die Historiker dieser Epoche sind, haben lediglich die Mission, nachzuweisen, wie der Reichtum unter den Verhältnissen der bürgerlichen Produktion erworben wird [50] , diese Verhältnisse in Kategorien, in Gesetze zu formulieren und nachzuweisen, um wieviel diese Gesetze, diese Kategorien für die Produktion der Reichtümer überlegen sind den Gesetzen und Kategorien der feudalen Gesellschaft. Das Elend ist in ihren Augen nur der Schmerz, der jede Geburt begleitet, in der Natur wie in der Industrie.« (Marx, MEW, Bd. 4, 142) 4.2 Wissenschaftsgeschichtliche Herausforderung für die Marx’sche Analyse 125 <?page no="125"?> Auch nach dieser »Geburt« einer neuen Gesellschaft, der kapitalistischen, wäre, so Marx, mit Smith und Ricardo eine gesellschaftliche Realität legitimiert, in der die Arbeiter ganz selbstverständlich unmenschlich, ja viehisch zu leben hätten, ohne einen Grund zur Klage zu haben. Abschließend Marx zu Smith: »Die niedrigste und die einzig notwendige Taxe für den Arbeitslohn ist die Subsistenz des Arbeiters während der Arbeit und so viel mehr, daß er eine Familie ernähren kann und die Arbeiterrace nicht ausstirbt. Der gewöhnliche Arbeitslohn ist nach Smith der niedrigste, der mit der simple humanité, nämlich einer viehischen Existenz, verträglich ist.« (Marx, Manuskripte, MEW, Bd. 40, 471) 4.3 Ökonomiegeschichtliche Herausforderung für die Marx’sche Analyse der Politökonomie Der wiederholte Hinweis darauf, dass Marxens Warenanalyse, Kapitalanalyse, dass Marxens Suche nach dem Bewegungsgesetz der bürgerlichen Ökonomie systemisch-logisch angelegt ist und nicht maßgebend historisch-rekonstruierend, nicht geschichtsphilosophisch, da Marx - wenn man es so sagen darf - eine Art Theorie-Arbeitsteilung zwischen der Kritik der politischen Ökonomie einerseits und einer Geschichtsphilosophie für die befreite Gesellschaft andererseits besaß, - dieser Hinweis trifft innerhalb seines ökonomischen Werkes nur an einer Stelle nicht zu, wird aber auch wieder bestätigt: nämlich im bereits angeführten 24. Kapitel des ersten Kapital-Bandes (Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation; MEW, Bd. 23, 741 ff.). Unterbrochen wird Marxens Theorie-Arbeitsteilung dadurch, dass er hier darum bemüht ist, die real-historischen Gründe und Bewegungen zu skizzieren, die als Bedingung zur Ermöglichung kapitalistischer Produktionsweise gelten können. Bestätigt wird die Arbeitsteilung indes dadurch, dass dieses historisch rekonstruierende Kapitel das vorletzte im ersten Kapital-Bandes ist, geringen Umfang besitzt und den Verdacht nicht auszuräumen vermag, dass es von Marx aus einer notgedrungenen Haltung heraus geschrieben wurde. Viele der Gründe, die Marx anführt, um zu beweisen, dass die Entwicklung des Kapitalismus mit einer erheblichen Verelendung der Landbevölkerung (Englands) verbunden war, gelten der heutigen agrarhistorischen Forschung im Übrigen als nicht mehr stichhaltig. Etwa 540 Seiten vor dem 24. Kapitel, im Kapitel Verwandlung von Geld in Kapital, schreibt Marx Sätze - betreffs des Sachverhalts, dass sich so etwas wie Arbeitskraftbesitzer überhaupt herausgebildet haben -, die beinahe als Stellung- 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 126 <?page no="126"?> nahme für das Verhältnis zwischen systemtheoretischer und historischer Beschreibung gelten können. Dort heißt es: »Zur Verwandlung von Geld in Kapital muß der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen. Die Frage, warum dieser freie Arbeiter ihm in der Zirkulationssphäre gegenübertritt, interessiert den Geldbesitzer nicht, der den Arbeitsmarkt als eine besondre Abteilung des Warenmarkts vorfindet. Und einstweilen interessiert sie uns ebensowenig. Wir halten theoretisch an der Tatsache fest, wie der Geldbesitzer praktisch. Eins jedoch ist klar. Die Natur produziert nicht auf der einen Seite Geld- oder Warenbesitzer und auf der andren bloße Besitzer der eignen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist kein naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsperioden gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischen Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion. Auch die ökonomischen Kategorien, die wir früher betrachtet tragen ihre geschichtliche Spur. Im Dasein des Produkts als Ware sind bestimmte historische Bedingungen eingehüllt. Um Ware zu werden, darf das Produkt nicht als unmittelbares Subsistenzmittel für den Produzenten selbst produziert werden. Hätten wir weiter geforscht: Unter welchen Umständen nehmen alle oder nimmt auch nur die Mehrzahl der Produkte die Form der Ware an, so hätte sich gefunden, daß dies nur auf Grundlage einer ganz spezifischen, der kapitalistischen Produktionsweise, geschieht. Eine solche Untersuchung lag jedoch der Analyse der Ware fern.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 183 f., kursiv B. T.) Im 4. Kapitel des ersten Kapital-Bandes behandelt Marx die logischen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktion (der doppelt freie Lohnarbeiter und die Entstehung der Produktionsmittelbesitzer-Klasse); in den Kapiteln 21 und 22 dann die dauernde Reproduktion der Klassenspaltung, die als Voraussetzung des kapitalistischen Produktionsprozesses angesehen werden muss. Nun, im 24. Kapitel, geht es ihm um die historisch-empirischen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise, und zwar einmal begrifflich-kategorial (die ? ursprüngliche Akkumulation als Prozess der sozialen Scheidung, in dessen Verlauf Lohnarbeit und ? Kapital entstehen), zum anderen historisch-empirisch (die ursprüngliche Akkumulation wird in ihren gesellschaftsspezifischen Eigenheiten betrachtet). 4.3 Ökonomiegeschichtliche Herausforderung 127 <?page no="127"?> Marx lässt die Genese des Kapitalismus mit einer massiven Verarmung der Landbevölkerung zusammenfallen (siehe zur Kritik: Elsenhans 1982, 115 ff.). Er musste dies tun, um historisch einen Zeitpunkt resp. eine Periode ausfindig machen zu können, in der es überhaupt dazu kam, dass eine Masse an mittellosen, landlosen Menschen für den Einsatz als Arbeiter in den Manufakturen und Betrieben der Städte zur Verfügung stand - ein Einsatz, der an Gewalt und Brutalität kaum zu überbieten gewesen sein muss. Er stützte sich dabei auf drei Beobachtungen: • eine massive Zunahme der Vertreibung der Landbevölkerung (Englands) und der Klagen darob im Verlaufe des 16. Jahrhunderts; • eine sich ausbreitende Verarmung der englischen Bevölkerung während der Napoleonischen Kriege; der Lebensunterhalt konnte lokal noch notdürftig erwirtschaftet werden; • eine sich ausbreitende Verelendung der Landbevölkerung wegen der Vertreibung von ihrem Land; der Lebensunterhalt konnte lokal nicht mehr erwirtschaftet werden. Nach einer verhältnismäßig kurz geratenen Abgrenzung von den bürgerlichen Ökonomen, deren Erklärungen des ? Akkumulationsprozesses des Kapitals auf dem Niveau einer »Kinderfibel« anzusetzen seien, da sie systematisch »Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt« als entscheidende Merkmale dieses Prozesses übersähen (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 742), gibt Marx eine Art Zusammenfassung seiner Sicht der Dinge, die er dann in den einzelnen Abschnitten des Kapitels entfaltet. Er schreibt: »Die ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft ist hervorgegangen aus der ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft. Die Auflösung dieser hat die Elemente jener freigesetzt. Der unmittelbare Produzent, der Arbeiter, konnte erst dann über seine Person verfügen, nachdem er aufgehört hatte, an die Scholle gefesselt und einer andern Person leibeigen oder hörig zu sein. Um freier Verkäufer von Arbeitskraft zu werden, der seine Ware überall hinträgt, wo sie einen Markt findet, mußte er ferner der Herrschaft der Zünfte, ihren Lehrlings- und Gesellenordnungen und hemmenden Arbeitsvorschriften entronnen sein. Somit erscheint die geschichtliche Bewegung, die die Produzenten in Lohnarbeiter verwandelt, einerseits als ihre Befreiung von Dienstbarkeit und Zunftzwang; und diese Seite allein existiert für unsre bürgerlichen Geschichtsschreiber. Andrerseits aber werden diese Neubefreiten erst Verkäufer ihrer selbst, nachdem ihnen alle ihre Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen Einrichtungen gebotnen Garantien ihrer Existenz geraubt sind. Und die Geschichte dieser ihrer Expropriation ist in die Annalen der Menschheit ein- 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 128 <?page no="128"?> geschrieben mit Zügen von Blut und Feuer. Die industriellen Kapitalisten, diese neuen Potentaten, mußten ihrerseits nicht nur die zünftigen Handwerksmeister verdrängen, sondern auch die im Besitz der Reichtumsquellen befindlichen Feudalherren. Von dieser Seite stellt sich ihr Emporkommen dar als Frucht eines siegreichen Kampfes gegen die Feudalmacht und ihre empörenden Vorrechte sowie gegen die Zünfte und die Fesseln, die diese der freien Entwicklung der Produktion und der freien Ausbeutung des Menschen durch den Menschen angelegt. Die Ritter von der Industrie brachten es jedoch nur fertig, die Ritter vom Degen zu verdrängen, dadurch, daß sie Ereignisse ausbeuteten, an denen sie ganz unschuldig waren. Sie haben sich emporgeschwungen durch Mittel, ebenso gemein wie die, wodurch der römische Freigelassene sich einst zum Herrn seines patronus gemacht hat. Der Ausgangspunkt der Entwicklung, die sowohl den Lohnarbeiter wie den Kapitalisten erzeugt, war die Knechtschaft des Arbeiters. Der Fortgang bestand in einem Formwechsel dieser Knechtung, in der Verwandlung der feudalen in kapitalistische Exploitation. Um ihren Gang zu verstehn, brauchen wir gar nicht so weit zurückzugreifen. Obgleich die ersten Anfänge kapitalistischer Produktion uns schon im 14. und 15. Jahrhundert in einigen Städten am Mittelmeer sporadisch entgegentreten, datiert die kapitalistische Ära erst vom 16. Jahrhundert. Dort, wo sie auftritt, ist die Aufhebung der Leibeigenschaft längst vollbracht und der Glanzpunkt des Mittelalters, der Bestand souveräner Städte, seit geraumer Zeit im Erbleichen.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 743) Marx verankert damit seine historische Rekonstruktion in einer Beschreibung »paradoxer« Realität: Einerseits wälzt die neue, kapitalistische Form des Wirtschaftens alles um, was noch im Rahmen feudaler Strukturen funktioniert; andererseits ist der Ausgangspunkt ebendieser Umwälzung die Beibehaltung der Knechtschaft, die nur ihre Form wechselt, nicht aber ihre Funktion. Die »wirkliche Geschichte« der Bildung von Reichtum, die, wie erwähnt, durch Gewalt geprägt ist, mündet damit in ihre letzte Phase: sie begann mit • der Aneignung des Produkts (in Gestalt von Raub, Überfall, Eroberung usw.); ging dann über in • die Aneignung des Produzenten (Sklavenwirtschaft, Knechtschaft, Leibeigene); um schließlich in • der Aneignung der Produktion (kapitalistische Produktionsweise) ihre letzte gewaltsame Form zu finden - im nun gesamtgesellschaftlichen Umfang. 51 Oder anders formuliert: Die »kapitalistische Kultur« bildete - auch im strengen systemtheoretischen Sinne - ein eigenes Machtsystem aus; doch gleichzeitig »kann 4.3 Ökonomiegeschichtliche Herausforderung 129 <?page no="129"?> ›Macht‹ nur den überschüssigen Teil der Arbeitskraft [das ist der unbezahlte Teil der Arbeitskraft, der Mehrwert, B. T.] oder den überschüssigen Teil ihrer Ergebnisse [das ist der Profit, der in der Zirkulationssphäre realisiert wird, B. T.] betreffen, d. h. sich aus ihnen ableiten und ›ernähren‹. Das bedeutet selbstverständlich auch, daß ›Macht‹ überhaupt nur dort möglich ist, wo die Verhältnisse insgesamt eine derartige ›Abschöpfung‹ von Arbeitskraft oder von deren Ergebnissen erlauben«, so Claessens und Claessens (1979, 38 f.). Dieser letzten Aneignungsform, also die der Produktion, gilt nun Marxens Interesse. Ausgangspunkt des gesamten Aneignungsprozesses bildet die massenhafte »Expropriation [Enteignung, B. T.] des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 744). Diese stellt sich in verschiedenen Ländern unterschiedlich dar (Marx nennt als Kontrast zu England Italien), sodass Marx für seine »Illustration« der ? ursprünglichen Akkumulation auf England zurückgreift; denn nur dort besitze die Geschichte der Expropriation »klassische Form« (ebenda). Diese Form beinhaltete nicht nur die Vertreibung, Verarmung und Verelendung der Landbevölkerung und Bauern - »[d]ie ungeheure Mehrzahl der Bevölkerung bestand damals und noch mehr im 15. Jahrhundert aus freien, selbstwirtschaftenden Bauern, durch welch feudales Aushängeschild ihr Eigentum immer versteckt sein mochte« (ebenda, 744 f.) -, sondern beinhaltete zugleich auch die meist gewalttätige Verwandlung von sogenanntem Clan-Eigentum und feudalem Eigentum an Boden in Einheiten großen Grundeigentums; also die sogenannte Usurpation des Gemeindelandes. Mehr noch: Durch den Raub der Kirchengüter 52 , durch den Diebstahl von Staatsdomänen, durch die Umwandlung des Ackerlandes in Schafsweide, schließlich durch die Wegnahme von Land, das zu den Cottages der Arbeiter gehörte (Marx: »Die Wohnungen der Bauern und die Cottages der Arbeiter wurden gewaltsam niedergerissen oder dem Verfall geweiht«; ebenda, 746), entstand eine Situation, in der eine »vogelfreie« Masse an Arbeitskräften, die sich in der Form von Lohnarbeitern verdingen mussten, förmlich bereitstand. Zugleich gab es eine Masse von Kapitalisten, die nun beginnen konnten, ihr Eigentum nicht mehr nur in Gestalt von Grund und Boden produktiv zu vermehren, sondern in Gestalt der Verfügung über, d. h. Ausbeutung der Arbeitskraft. Indes gab es noch nicht genügend »Arbeitsplätze« in den Städten und in den langsam entstehenden Manufakturen, um das vogelfreie Proletariat einzusetzen. Marx spiegelt diesen Zeitraum in einer beinahe dokumentarischen Auflistung der damaligen »Blutgesetzgebung gegen die Expropriierten seit Ende des 15. Jahrhunderts« (ebenda, 761 ff.) wider. Die Expropriierten, jetzt in Bettler, Vagabundierende, Räuber, Lumpensammler, Tagelöhner verwandelt, wurden mit dieser Gesetzgebung wiederum verwandelt - nun zu fast vollständig rechtslosen Subjekten. Ein Beispiel: 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 130 <?page no="130"?> »Findet sich, daß ein Herumstreicher drei Tage gelungert hat, so soll er nach seinem Geburtsort gebracht, mit rotglühendem Eisen auf die Brust mit dem Zeichen V gebrandmarkt, und dort in Ketten auf der Straße oder zu sonstigen Diensten verwandt werden. Gibt der Vagabund einen falschen Geburtsort an, so soll er zur Strafe der lebenslängliche Sklave dieses Orts, der Einwohner oder Korporation sein und mit S gebrandmarkt werden. Alle Personen haben das Recht, den Vagabunden ihre Kinder wegzunehmen und als Lehrlinge, Jungen bis zum 24. Jahr, Mädchen bis zum 20. Jahr, zu halten. Laufen sie weg, so sollen sie bis zu diesem Alter die Sklaven der Lehrmeister sein, die sie in Ketten legen, geißeln etc. können, wie sie wollen.« (Ebenda, 763) Marx resümiert: »So wurde das von Grund und Boden gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk durch grotesk-terroristische Gesetze in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert« (ebenda, 765). - Die ? ursprüngliche Akkumulation, und das heißt: die »Destillation« eines Industrieproletariats aus einer Landbevölkerung, die in ihren Umgangsformen (soziales Rollenverständnis), Erwartungen (soziales Anerkennungsverständnis) und Tätigkeiten (soziales Arbeitsverständnis) noch vorwiegend feudal geprägt war, stellt sich nach Marx also als ein blutiger, ein grausamer Selektionsprozess dar, mehr noch: als ein unmenschlicher Züchtungs- und Züchtigungsprozess. 53 Wie entsteht nun der Kapitalist? Für die Beantwortung dieser Frage muss die Stellung der Pächter besondere Beachtung finden (zumindest in England). Diese konnten durch Usurpation von Gemeindeland ihren Viehbestand fast ohne zusätzliche Kosten vermehren und gleichzeitig von einem historischen Prozess profitieren, der im 16. Jahrhundert seinen Anfang nimmt: von der säkularen Inflation. Pachtkontrakte dauerten oft 99 Jahre lang, waren also außerordentlich langfristig angelegt. Infolge der Preissteigerung belastete die reale Pacht den Pächter immer weniger, während die Produkte, die er verkaufte, immer mehr auf dem Markt einbrachten. Der so erzielte hohe ? Profit konnte für »verbesserte Methoden der Kultur, größere Kooperation, größere Konzentration der Produktionsmittel usw.« (ebenda, 773) eingesetzt und für die Konzentration des ländlichen Kapitals verwandt werden, sodass auf diese Weise immer mehr Menschen vom Land in die proletarisierten Schichten, und daher zumeist in die Städte geworfen wurden. Damit aber erhöhte sich der Bedarf (und folglich die Marktnachfrage) nach den Produkten des Landes. Ein Beispiel: »Man unterstelle z. B. einen Teil der westfälischen Bauern, die zu Friedrich II. Zeit alle Flachs, wenn auch keine Seide spannen, gewaltsam expropriiert 4.3 Ökonomiegeschichtliche Herausforderung 131 <?page no="131"?> und von Grund und Boden verjagt, den andren zurückbleibenden Teil aber in Taglöhner großer Pächter verwandelt. Gleichzeitig erheben sich große Flachsspinnereien und Webereien, worin die ›Freigesetzten‹ nun lohnarbeiten. Der Flachs sieht grad aus wie vorher. Keine Fiber an ihm ist verändert, aber eine neue soziale Seele ist ihm in den Leib gefahren. Er bildet jetzt einen Teil des konstanten Kapitals der Manufakturherrn. Früher verteilt unter eine Unmasse kleiner Produzenten, die ihn selbst bauten und in kleinen Portionen mit ihren Familien verspannen, ist er jetzt konzentriert in der Hand eines Kapitalisten, der andere für sich spinnen und weben läßt. Die in der Flachsspinnerei verausgabte Extraarbeit realisierte sich früher in Extraeinkommen zahlloser Bauernfamilien […]. Sie realisiert sich jetzt im Profit weniger Kapitalisten.« (Ebenda, 774) Die Produkte, die also früher in Subsistenzwirtschaft für den Haushalt (und in kleinem Umfang für den Markt) erzeugt worden sind, sind nun nur noch über den Markt erhältlich. Denn »der Großpächter verkauft sie. In den Manufakturen findet er seinen Markt. Garn, Leinwand, grobe Wollenzeuge, Dinge, deren Rohstoffe sich im Bereich jeder Bauernfamilie vorfanden und von ihr zum Selbstgebrauch versponnen und verwebt wurden - verwandeln sich jetzt in Manufakturartikel, deren Absatzmarkt gerade die Landdistrikte bilden.« (Ebenda, 775) Jedoch, so fügt Marx hinzu, bringt es »die eigentliche Manufakturperiode zu keiner radikalen Umgestaltung […]. Erst die große Industrie liefert mit den Maschinen die konstante Grundlage der kapitalistischen Agrikultur, expropriiert radikal die ungeheure Mehrzahl des Landvolks und vollendet die Scheidung zwischen Ackerbau und häuslich-ländlichem Gewerbe, dessen Wurzeln sie ausreißt - Spinnerei und Weberei. Sie erobert daher auch erst im industriellen Kapital den ganzen inneren Markt.« (Ebenda, 776 f.) Die ? ursprüngliche Akkumulation lässt sich also, abstrakt gesagt, in vier Bereiche beschreibend aufteilen: 1. die Proletarisierung der Massen, 2. die Entfeudalisierung der auf Grund und Boden beruhenden Machtverhältnisse, 3. die Herausbildung der Pächter und der »ursprünglichen« Kapitalisten, 4. die Bedingungen zur Ermöglichung eines »inneren Marktes« kapitalistischer Reproduktion. 54 In dieser Anfangszeit des Kapitalismus ist also schon der Keim gelegt für eine Art der materiellen Reproduktion, die heute vielen Menschen als selbstverständlich erscheint: Die Versorgung mit Konsumgütern der Haushalte erfolgt fast ausschließlich marktvermittelt durch industriell erzeugte Produkte; die Versorgung mit (Geld-)Mitteln zum Erwerb ebendieser Konsumgüter erfolgt fast ausschließ- 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 132 <?page no="132"?> lich marktvermittelt durch den Verkauf der eigenen Arbeitskraft als Ware auf dem Arbeitsmarkt. Im sechsten Abschnitt des Akkumulations-Kapitels, überschrieben mit »Genesis des industriellen Kapitalisten« (ebenda, 777 ff.), fasst Marx seine am Beispiel England zusammengetragenen Erkenntnisse in abstrakterer Form zusammen. Es heißt dort: »Die verschiednen Momente der ursprünglichen Akkumulation verteilen sich nun, mehr oder minder in zeitlicher Reihenfolge, namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England. In England werden sie Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefaßt im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhn zum Teil auf brutalster Gewalt, z. B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Obergänge abzukürzen. Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht. Sie selbst ist eine ökonomische Potenz.« (ebenda, 779) Diese Gewalt als ökonomische Potenz, die die Bahnen bereitet für einen Kapitalismus, der später dann mit dem Adjektiv zivilisiert resp. zivilisierend beschrieben wird, unterteilt Marx nun wiederum in verschiedene »Systeme« - Systeme, die alle auf die Entstehung und Festigung des industriellen Kapitalisten hinauslaufen: • das System der Kolonialisierung: Ausplünderung ostasiatischer Kolonien, Versklavung ganzer Völker in Ostindien und Afrika, Abschlachtung von Völkern in Nord- und Südamerika; • das System der Staatsschulden: Erweiterung der Basis der Interessenpolitik; Teilhabe am ? Profit wird möglich, ohne über produktives Kapital zu verfügen. Es reicht, Staatspapiere zu halten und sich die Zinszahlungen aus den öffentlichen Haushalten anzueignen. »Die Staatsgläubiger geben in Wirklichkeit nichts, denn die geliehene Summe wird in öffentliche, leicht übertragbare Schuldscheine verwandelt, die in ihren Händen fortfungieren, ganz als wären sie ebensoviel Bargeld.« (ebenda, 782 f.) Die Staatsschulden haben die Ausbildung eines internationales Kreditsystems zur Folge, in das alle großen kapitalistischen Mächte verwickelt sind; • das System der Fiskalpolitik: Staatsschulden erfordern pünktliche Bedienung, und damit dieses möglich ist, wird der moderne Steuerstaat geboren, die »moderne Fiskalität, deren Drehungsachse Steuern auf die notwendigsten Lebens- 4.3 Ökonomiegeschichtliche Herausforderung 133 <?page no="133"?> mittel (also deren Verteuerung) bilden« (ebenda, 784). Die Staatsverschuldung wird zum Bestandteil der institutionellen Modernisierung; • das System der militärischen Protektion, das für Handelskriege zwischen den führenden kapitalistischen Mächten verantwortlich wird. Um dem vielschichtigen Prozess der sogenannten ursprünglichen Akkumulation des Kapitals auch nur halbwegs nahe zu kommen, bedarf es sicherlich einer umfangreichen Erörterungen vieler Sachverhalte, die bis jetzt nicht genannt wurden. Vor allem auf konsolidierende Strukturen und Veränderungen in der Übergangszeit vom Feudalismus zum Kapitalismus hätte man einzugehen, um diesen für die »Gesellschaftsevolution« so entscheidenden Zäsurprozess einzufangen. Deshalb sollen abschließend weitere wichtige Felder erwähnt werden, die nach Marx den Kapitalisierungsprozess des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens unterstützten und im Herausbildungszeitraum flankierten. Für die Herausbildung einer kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft aus einer feudal organisierten Gesellschaft war mitentscheidend, dass es eine sogenannte strukturelle Affinität, also eine innere gegenseitige Anziehung und dadurch Beförderung gab zwischen • der Art und Weise, wer wie über Arbeitskraft verfügte und organisierte; • der Art und Weise, wer wie über Rechtsvorteile im System der Regelung von Handlungen, Pflichten und Rechten verfügte und diese zu seinen Gunsten organisierte; • der Art und Weise, wer wie sein Handeln, seine Verfügungs- und Rechtsvorteile durch metaphysische, göttliche oder sonstige jenseitige Kräfte und Quellen (»Natur«) zu legitimieren und also als selbstverständlich zu kommunizieren wusste. Diese wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Machtmodule, die zuvörderst die neue Organisationsform namens Markt mitermöglichten, waren indes nicht die einzigen Felder, durch die sich die Kapitalisierung der menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen auf eine gewisse »machtkulturelle« Tradition berufen konnte. Es kamen in der Folge weitere Mechanismen, Institutionen, Organisationen und auch ? Ideologien hinzu, deren Aufgabe es auch war, die im Entstehen begriffene Gesellschaft nicht nur ökonomisch, sondern auch sozial und psychisch, also in den Köpfen, den Verhaltensweisen und Erwartungen der Menschen als Marktgesellschaft durchzusetzen - und das heißt: als Gesellschaft, in der sich maßgebend das eigene Interesse durchzusetzen hat. Diese flankierenden Mechanismen und Felder waren, zusammengefasst: • das Parlament (es ergänzt und korrigiert den Markt gemäß dem jeweiligen Stand des Verhältnisses von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen; Claessens/ Claessens 1979, 128; dies gilt auch für die Verwaltung und für die Jurisprudenz); 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 134 <?page no="134"?> • die Börse (sie erweiterte die reale Interessenverfolgung, indem sie die Ware namens »Beteiligung« ermöglicht: Man konnte durch Anteilkauf an erfolgsversprechenden Unternehmen profitieren); • das Militär (»[d]ie Armeen oder Heere waren Produktionsinstrumente, Machtfabriken, in die Soldaten als Arbeiter eingeschleust wurden, um aus ihnen Boden und Bodenschätze plus Bevölkerung herauszuholen«; Claessens/ Claessens 1979, 132); • das Pressewesen (die unablässige Marktkonkurrenz erfordert ein Höchstmaß an Markt-Informationen und informationellen Kontakten - das aufstrebende Zeitungswesen erfüllt dieses mit dem Marktsystem neu entstehende Bedürfnis). Hinzu kamen Felder, die das kulturelle Organisationsdefizit des Kapitalismus, also das Defizit an »sozialen Gebrauchswerten«, zumindest ideologisch zu kompensieren hatten. Zu nennen ist etwa • die Moralisierung der sozialen Anerkennung durch und mit Geld (Umstellung der Sittlichkeitsvorstellung honestas auf die Nützlichkeitsvorstellung utilitas) 55 ; • die Höherbewertung der Familie als Ort der Regeneration (im Unterschied zum Konzept der Familie als wirtschaftliche Gemeinschaft); • die Höherbewertung der Freundschaft als diejenige soziale Beziehung, die genuin auf Uneigennützigkeit aufzubauen hat; • die Einsetzung der Wissenschaft als Quelle der Legitimation der Handlungen des Kapitalisten, und zwar genau an der Stelle innerhalb der politischen und gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen, die früher von den Legitimationsquellen Tradition, Gott und Natur besetzt wurden; • die Aufwertung von Kunst, Literatur, Musik (Persönlichkeitsbegriff, Bildungsbegriff, Kulturbegriff ) als dezidiert »ungesellschaftliche« Bereiche des Markt- Lebens, ausgewiesen als Orte der Kontemplation, der erzieherischen Unterhaltung, der Kompensation. Marx beendet das 24. Kapitel mit einer Art hoffnungsgewisser Aussicht auf das Kommende. Er setzt die Umwandlung des zersplitterten Privateigentums in kapitalistisches Privateigentum - dieser Umwandlung galt das Kapitel 24 - in Beziehung zur Umwandlung des kapitalistischen Eigentums in gesellschaftliches Eigentum (Sozialismus) - einer Umwandlung, von der Marx sicher ist, dass sie kommt: denn er verzicht hier auf den Konjunktiv. Die letzten Sätze des siebenten Abschnitts »Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation« sollen, auch weil sie eine gewisse Berühmtheit besitzen, nun zum Abschluss zitiert werden. »Das selbsterarbeitete, sozusagen auf Verwachsung des einzelnen, unabhängigen Arbeitsindividuums mit seinen Arbeitsbedingungen beruhende Privat- 4.3 Ökonomiegeschichtliche Herausforderung 135 <?page no="135"?> eigentum wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, welches auf Exploitation fremder, aber formell freier Arbeit beruht. Sobald dieser Umwandlungsprozeß nach Tiefe und Umfang die alte Gesellschaft hinreichend zersetzt hat, sobald die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in [ ? ] Kapital verwandelt sind, sobald die kapitalistische Produktionsweise auf eignen Füßen steht, gewinnt die weitere Vergesellschaftung der [ ? ] Arbeit und weitere Verwandlung der Erde und andrer Produktionsmittel in gesellschaftlich ausgebeutete, also gemeinschaftliche Produktionsmittel, daher die weitere Expropriation der Privateigentümer, eine neue Form. Was jetzt zu expropriieren, ist nicht länger der selbstwirtschaftende Arbeiter, sondern der viele Arbeiter exploitierende Kapitalist. Diese Expropriation vollzieht sich durch das Spiel der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion selbst, durch die Zentralisation der Kapitale. Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser Zentralisation oder der Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßige Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel, die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als Produktionsmittel kombinierter, gesellschaftlicher Arbeit, die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten [ ? ] Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert. Die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des Individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigne Negation. Es ist Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigen- 4. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 1 136 <?page no="136"?> tum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel. Die Verwandlung des auf eigner Arbeit der Individuen beruhenden, zersplitterten Privateigentums in kapitalistisches ist natürlich ein Prozeß, ungleich mehr langwierig, hart und schwierig als die Verwandlung des tatsächlich bereits auf gesellschaftlichem Produktionsbetrieb beruhenden kapitalistischen Eigentums in gesellschaftliches. Dort handelte es sich um die Expropriation der Volksmasse durch wenige Usurpatoren, hier handelt es sich um die Expropriation weniger Usurpatoren durch die Volksmasse.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 790 f.) 4.3 Ökonomiegeschichtliche Herausforderung 137 <?page no="138"?> 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung für die Marx’sche Analyse der Politökonomie Die konkrete, ökonomietheorie-interne Analyse des Bewegungsgesetzes der kapitalistischen Produktionsweise gehört zu den Bereichen von Marx’ Denkens, die in der Folgezeit die größte Spannweite der Rezeption erlebten - von der völligen Ablehnung bis zur völligen Zustimmung reicht die überaus gewaltige, beinahe gewalttätige Beziehung zu Marxens genuin politischer Ökonomie. Auf die Kritik derselben, die, historisch gesehen, die Überhand gewann, kommen wir zum Schluss dieses Kapitels zu sprechen. Vorerst geht es darum, die Begrifflichkeiten, Interpretationen und Schlussfolgerungen zu verfolgen und nachzuvollziehen, die zur Essenz von Marx’ Ökonomieanalyse zu zählen sind. Und es geht auch darum, nicht zu vergessen, dass seine Kritik der Ökonomie nicht als Selbstzweck, also nicht szientifisch angelegt ist, sondern dass er diese als eine Art »Hebel« verstand, ein Hebel, mit dessen Hilfe die Gesellschaft als Ganze und als in Gänze umwandelbar in den Blick kommen sollte. Wie erinnerlich sind es folgende, bei Weitem nicht das Gesamt der Marx’schen Analyse umfassende issues: • Gebrauchswert und Tauschwert der Ware, • die Geldform der Ware in einfacher Wertform, • die Geldform der Ware in entfalteter Wertform, • die allgemeine Wertform, • die Geldform, • der Fetischcharakter der Ware, • die allgemeine Form des Kapitals, • die Herkunft des Mehrwerts, • die Ware Arbeitskraft, • der Arbeitsprozess im Kapitalismus, • absoluter und relativer Mehrwert, • formelle und reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, • konstantes und variables Kapital, • organische Zusammensetzung des Kapitals, • Mehrwertrate und Profitrate, • Verwandlung des Profits in Durchschnittsprofit, 139 <?page no="139"?> • produktive und unproduktive Arbeit innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise, • das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate und die inneren Widersprüche desselben. Diesen issues gelten nun die folgenden Seiten. Vorangestellt sei dem eine Art Abstract der drei Bände von Das Kapital, um einen Hauch von Zusammenhang zu vermitteln (siehe auch Fetscher 1984, 306 ff.). Marx besitzt ein Repertoire an Begriffen und Kategorien, die er einsetzt, um ein Modell des kapitalistischen Wirtschaftens zu rekonstruieren - ein Modell, das die Aufgabe hat, logisch-systematisch die Bewegungsgesetze dieses Wirtschaftens zu beschreiben und zu erklären. Der erste Band von Das Kapital führt denn auch in den ersten Unterabschnitten wichtige Begriffe ein, wie etwa: • Ware und Wertform, • das Wesen des Kapitals als ein spezifisches Verhältnis von Personen, • Mehrwert und seine Herkunft. Diese Begriffe werden dann in der Folge entfaltet. Marx geht es in einem ersten Schritt darum, das Problem der Herkunft des ? Mehrwerts, der ja als Basis für ? Profit und Zins gelten kann, so präzise wie möglich zu fassen. Diese Präzision führt ihn zu der paradoxen Antwort, dass Mehrwert zugleich im Zirkulationsprozess und nicht in ihm entspringen könne: Er kann sich nur dort realisieren, aber er kann sich dort nur realisieren, d. h., der Mehrwert, der bereits in der Ware »steckt«, die durch Arbeitskraft erzeugt wurde, wird erst Profit durch den »Umtausch« der Ware in Geld durch Kauf (wie erinnerlich ist die wichtige Unterscheidung realisieren/ erzeugen eine Folgeunterscheidung der Hegelschen Wesen/ Erscheinung-Differenz). An diese erste wesentliche Bestimmung schließt Marx weitere, wichtige Feindifferenzierungen an - etwa: • konstantes und variables Kapital, • absoluter und relativer Mehrwert, • Mehrwertrate und Profitrate. Mit Hilfe dieser Begriffe soll die Dynamik der kapitalistischen Warenproduktion nachvollziehbar gemacht werden; etwa die Dynamik der Verkürzung der sogenannten notwendigen Arbeitszeit durch die Verbesserung und Erweiterung der Technik, weil der Ausdehnung der absoluten Arbeitszeit definitive und später dann auch rechtliche Grenzen gesetzt sind. Für das weitere Verständnis sind noch die beiden folgenden Begriffspaare wichtig: • formelle und reelle Subsumtion (Unterordnung) der ? Arbeit unter das ? Kapital; dabei geht es um die Frage, wie systematisch und durchdringend die Art 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 140 <?page no="140"?> des Arbeitens, die Materialien des Arbeitens, die Organisation des Arbeitens vom Unternehmer bestimmt werden: Formell dem Kapital unter- oder eingeordnet ist etwa die Arbeit von Bauern, die z. B. traditionell Reis anbauen und dann die Reisernte einer Handelsgesellschaft verkaufen (müssen); von einer reellen Unter- oder Einordnung der Arbeit kann erst dann gesprochen werden, wenn das Kapital, also eine Handelsgesellschaft, ein Unternehmen oder der Markt selbst die Organisation der Produktion übernommen hat oder bestimmt, wie und mit was zu produzieren ist; ein Beispiel hier wären Reisbauern, die von den Reisabnehmern gezwungen werden, ganz bestimmte Reissorten anzubauen und dabei ganz bestimmte Methoden und Mittel einzusetzen. Sinnbild für die reelle Subsumtion ist der Fabrikarbeiter am Fließband, der keinerlei Eigenständigkeit seines Arbeitens mehr besitzt. • produktive und unproduktive Arbeit: Produktive Arbeit bedeutet ausschließlich diejenige Lohnarbeit, die zur erweiterten Reproduktion des Kapitals beiträgt, also in den Prozess der Selbstverwertung des Kapitals einzugehen vermag. Dienstleistungen von Lohnarbeitern, die direkt vom Kapitalisten konsumiert werden, deren »Produkte« also nicht wieder investierbar sind, werden vom Standpunkt des Kapitals aus als unproduktive Arbeiten behandelt. Mit der Einführung der Begriffe »einfache« und »erweiterte Reproduktion des Kapitals« - die erweiterte Reproduktion schließt die Verwandlung von Mehrwert in Kapital ein - schließt sich ein Darstellungskreis: Kapital ist nun nicht mehr eine vorgegebene, aus einer vorkapitalistischen ? ursprünglichen Akkumulation herrührende Größe, sondern ein sich selbst ständig produzierendes und reproduzierendes »gesellschaftliches« Verhältnis geworden - also eine Art und Weise des Wirtschaftens, Produzierens und des Organisierens von Arbeit, die nicht mehr einfach hier und da zur Anwendung kommt oder für die man sich frei entscheiden kann, sondern die nun gesellschaftlich zwingend geworden ist - vergleichbar dem Computereinsatz in Betrieben: War vor 35 Jahren die Umstellung des Betriebes auf elektronische Datenverarbeitung fast noch eine private Entscheidung, so ist es heute für jeden Betrieb ein gesellschaftliches Muß, EDV anzuwenden. Würde ein Betrieb heute ohne EDV arbeiten wollen, dann nähme er nicht mehr ausreichend an Gesellschaft teil. Das Kapital, das nun ein gesellschaftliches Verhältnis geworden ist, zeichnet sich nicht nur nach Marx dadurch aus, daß es auf Instabilität als Fundament seiner Stabilität/ Funktionsfähigkeit beruht; d.h, dass es nur funktioniert, wenn es dauernd Veränderungen, Krisen, Mobilisierungen bewirkt und nicht zur Ruhe kommt - ausgelöst wird dies durch dauernde technische Innovationen, durch dauernden Konkurrenzdruck, durch den Zwang zum Wachstum, durch »Eroberung« neuer Märkte und durch die Schwierigkeiten der Anpassung von Menschen und 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 141 <?page no="141"?> sozialen Systemen (Familie, Schule, Recht, staatliche Eingriffe) an immer neue Situationen. Nach der Darstellung des Produktionsprozesses im ersten Band folgt im zweiten Band die Rekonstruktion des Zirkulationsprozesses. Wurde im ersten Band von den materiellen Bestandteilen des Kapitals völlig abgesehen - also von der Konsumgüterproduktion und der Produktionsmittelproduktion -, sind sie jetzt das zentrale Thema. Marx entwirft Schemata für die Gesamtzirkulation des Kapitals und rekonstruiert die Metamorphosen und Relationen der zwei verschiedenen Produktionsabteilungen (Konsumgüter auf der einen und Produktionsmittel, besser: Investitionsgüter auf der anderen Seite), wobei die unterschiedlichen Kapitalien (Waren-, Geld- und produktives Kapital) in ihrer Verschränkung nachvollzogen werden. Der dritte Kapital-Band schließlich ist geprägt von Marxens Absicht, seine Rekonstruktion des Gesamtprozesses, den er in den Bewegungsgesetzen des Wirtschaftens, in der Anatomie der Gesellschaft, schließlich in abstrakten Mechanismen entschlüsselt, nun auch auf die alltägliche Praxis kapitalistischen Wirtschaftens anzuwenden. Er will so testen, ob sich seine abstrakten Einsichten in den Oberflächenerscheinungen der kapitalistischen Warenwirtschaft wiederfinden und bestätigen lassen. Denn nur in diesen Erscheinungen (z. B. der tatsächlichen Marktpreisbildung, der tatsächlichen Konkurrenz zwischen den Unternehmern) kann sich zeigen, ob die Gesetze und Gesetzmäßigkeiten, die er abstrakt in den ersten beiden Bänden zu entwerfen sucht, auch tatsächlich Wirklichkeit wiedergeben und nicht nur Theorie sind. So ergibt es sich etwa, dass die im ersten Band aufgestellten Gesetzmäßigkeiten, denen zufolge die höchsten Profite in den arbeitsintensivsten Branchen erzielt werden (also dort, wo der relativ höchste Anteil des Gesamtkapitals auf Löhne verwendet wird), der alltäglichen Erfahrung widersprechen. Der Widerspruch zwischen Erfahrung und Gesetz wird nun durch die Theorie von der Verwandlung des Profits in Durchschnittsprofit aufgehoben. Diese Theorie besagt, dass sich, freie Konkurrenz vorausgesetzt, die Profitraten der verschiedenartig zusammengesetzten Produktionsbereiche/ Branchen notwendigerweise ausgleichen, weil jeder Investor für das von ihm vorgelegte Gesamtkapital einen proportional gleichen Anteil am gesellschaftlichen Gesamtprofit verlangt. Zwar bleiben unterschiedliche Profitraten unterschiedlicher Branchen bestehen (die nicht sehr arbeitsintensive Buchproduktion wird z. B. niemals die Profitrate erreichen, wie sie in der arbeitsintensiven Automobilbranche durchschnittlich möglich ist). Aber dennoch kommt es zu einer graduellen Angleichung - vergleichbar mit der Angleichung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit für eine bestimmte Warenproduktion -, weil sich der Profit nur noch marktvermittelt, also in Beziehung zu anderen 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 142 <?page no="142"?> Profiteuren, einstellt, und nicht mehr isoliert im direkten Verhältnis zwischen Verkäufer und Käufer. Da nun mit zunehmender Technisierung der Produktion das Verhältnis zwischen ? konstantem (Maschinenpark, Anlagen usw.) und ? variablem Kapital (Löhne, Lohnnebenkosten) sich auch für die Gesamtwirtschaft immer weiter zugunsten des konstanten, sich in Maschinenparks, in Gebäuden, in Forschungs- und Entwicklungslabors manifestierenden Kapitals verschiebt, Profit aber nur aus dem variablen Kapitalteil stammt, kommt es - so Marx’ Annahme - zu einem tendenziellen Fall der Profitrate; dieser kann nur verzögert und gehemmt, aber nicht verhindert werden (Globalisierung als die vorerst letzte Maßnahme der Verzögerung). Dies führt nun wiederum dazu, dass die anfänglich revolutionären Motivationen der Produktivitätssteigerung, die ursprünglich für den Kapitalismus kennzeichnend waren, mehr und mehr an Kraft verlieren; es kommt, so Marx, zur Stagnation der Kapitalisierung und damit zu einer Erschlaffung der Dynamik des Kapitalismus (weniger Innovation, weniger Wachstum, weniger Marktexpansion). In dieser Situation schließlich sind nach Marx die »objektiven« Bedingungen gegeben für eine revolutionäre Bewegung der ? Arbeiterklasse, der dann die Aufgabe zufällt, die gesellschaftlich grundlegenden Funktionen der materiellen und der symbolischen Reproduktion auf eine neue, d. h. kommunistische Basis zu stellen. 5.1.1 Gebrauchswert und Tauschwert der Ware Marx’ Ziel ist es, die Erscheinungsweisen des Kapitals (es erscheint als Gewinn/ Profit, als Zins, als Lohn und als Geld) in ihrer Gesamtheit als täuschende Erscheinungsebene zu analysieren, als Ebene, in der das Kapitalverhältnis als Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnis notwendigerweise verhüllt und verdeckt wird. (Das Kapitalverhältnis ist dasjenige soziale Verhältnis, in dem ein Kapitalbesitzer sich die ? Arbeit eines Arbeitskraftbesitzers und damit ein Mehrprodukt, d. h. Mehrwert aneignet, ohne dafür bezahlt zu haben.) Dazu muss er schon im Elementaren der Kapitalproduktion nachweisen, dass es ebendieser Produktion strukturell nicht mehr um die Befriedigung der Bedürfnisse, also um ? Gebrauchswerte geht, sondern dass dieses »System der Bedürfnisse« (Marx, Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, 76) nur noch Anhängsel der Produktion ist (so wie der Arbeiter nur noch Anhängsel der Maschine ist): Die Gebrauchswerte der Waren spielen als Grund der Produktion von Gütern nicht mehr die entscheidende Rolle, weil einzig der ? Tauschwert und der durch ihn zu realisierende Profit Ziel der gesamten Veranstaltung ist. Man stellt nun keine Waren mehr her, um damit Bedürfnisse zu befriedigen (was natürlich nicht ausbleibt), sondern man stellt Waren nur 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 143 <?page no="143"?> her, damit sie verkauft werden. Natürlich muss man dabei auf Bedürfnisse achten; doch der entscheidende Punkt ist, dass der Verkauf einer Ware und damit seine Umwandlung in Geld die gesamte Produktion motiviert und ausrichtet. Die Bedürfnisbefriedigung ist nun nur noch ein taktisches Moment, aber nicht mehr der Sinn der Produktion. Marx beginnt deshalb seine Analyse mit der Ware - denn als Oberflächenerscheinungsform drücke sich der Reichtum einer Gesellschaft zuvörderst in einer ungeheuren Warensammlung aus (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 49; die folgenden Zitate auf den nächsten Seiten sind, so nicht anders ausgewiesen, aus dem ersten Kapital-Band). Betrachtet man eine Ware für sich, als singuläre, also beinahe individualistische Ware, dann scheint ihre hervorragende Eigenschaften die zu sein, dass sie für die Befriedigung eines Bedürfnisses nützlich ist, sei es ein materielles, ein ästhetisches, ein sonstwie geartetes Bedürfnis. Die Ware wird oder ist Gebrauchswert durch die Nützlichkeit. Diese Nützlichkeit findet ihre Realisierung in der Konsumtion, also im »Verbrauch« der Ware. »Der Gebrauchswert verwirklicht sich nur im Gebrauch oder der Konsumtion. Gebrauchswerte bilden den stofflichen Inhalt des Reichtums, welches immer seine gesellschaftliche Form sei« (ebenda, 50). Da das »System der Bedürfnisse« des Menschen (Bedürfnisse der Ernährung, des Wohnens, der Sicherheit, der Kommunikation, der Unterhaltung, der Bildung usw.) prinzipiell offen und historisch wandelbar ist, können Waren einen Gebrauchswert besitzen, der sich gesellschaftlich noch durchsetzen muss, oder sie können einen Gebrauchswert vortäuschen, der nicht vorhanden ist. 56 Der Dimension des Gebrauchswerts einer Ware gilt nun nicht das Erkenntnisinteresse von Marx: Dafür gibt es eine eigene Disziplin, die Warenkunde (ebenda). Marx interessiert sich für den Gebrauchswert einer Ware nur insofern, als er stofflicher Träger eines anderen Wertes ist - des Tauschwerts. Der Tauschwert einer Ware kommt dann in den Blick, wenn man die Ware nicht mehr als singuläre, sondern als vergleichbare, als tauschbare Ware betrachtet. »Der Tauschwert erscheint zunächst als das quantitative Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt. Der Tauschwert scheint daher etwas Zufälliges und rein Relatives, ein der Ware innerlicher, immanenter Tauschwert (valeur intrinsèque) also eine contradictio in adjecto« (ebenda, 50 f.). 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 144 <?page no="144"?> Wenn Waren getauscht werden sollen - und eine Warengesellschaft ist eine Tauschgesellschaft -, dann braucht es einen gemeinsamen Nenner für die unterschiedlichen Waren, um sie vergleichen und damit quantifizieren zu können. Denn in der kapitalistischen Gesellschaft, die Marx untersucht, werden Waren nur dann hergestellt, wenn derjenige, der eine Ware tauscht, dafür einen Gegenwert, ein Äquivalent bekommt, das dem ? Wert der eingetauschten Ware entspricht. Es muss also gewährleistet sein, dass unterschiedliche Tauschwerte ein und derselben Ware ein Gleiches, einen bestimmten Wert ausdrücken (also: eine Einheit, z. B. Kilo, Weizen = x Einheit Seide oder = y Einheit Gold oder = z Einheit Fleisch). Das heißt aber, so Marx: »Der Tauschwert kann überhaupt nur die Ausdrucksweise, die ›Erscheinungsform‹ eines von ihm unterscheidbaren Gehalts sein« (ebenda, 51). Resümierend heißt dies, dass das Gemeinsame unterschiedlichster Waren, die miteinander tauschbar sein sollen, »nicht eine geometrische, physikalische, chemische oder sonstige natürliche Eigenschaft der Waren sein [kann]. Ihre körperlichen Eigenschaften kommen überhaupt nur in Betracht, soweit selbe sie nutzbar machen, also zu Gebrauchswerten. Andererseits aber ist es grade die Abstraktion von ihren Gebrauchswerten, was das Austauschverhältnis der Waren augenscheinlich charakterisiert. Innerhalb desselben gilt ein Gebrauchswert grade so viel wie jeder andre, wenn er nur in gehöriger Proportion vorhanden ist. […] Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität, als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein, enthalten also kein Atom Gebrauchswert« (ebenda, 51 f.). Die einzige Eigenschaft, die den unterschiedlichsten Waren ihre Kompatibilität, ihre Vergleichbarkeit, ihre Äquivalenz garantiert, ist die, dass alle Waren Produkte von geleisteter ? Arbeit sind. In allen Waren steckt Arbeitskraft, Arbeitszeit, Arbeitsmittel - und dies je spezifisch je nach dem, ob es sich um die Ware Tisch, die Ware Garn, die Ware Computer handelt. Damit sich nun nicht in der Bestimmung der Arbeit, die in jeder Ware steckt, das wiederholt, was am Gebrauchswert unterschiedlichster Waren festgestellt wurde - nämlich, dass dieser Wert nur qualitativ bestimmbar ist -, entwirft Marx den Begriff der abstrakten Arbeit als dasjenige Moment, das den Tauschwert von Waren bestimmt und garantiert: »Sieht man nun vom Gebrauchswert der Warenkörper ab, so bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten. Jedoch ist uns auch das Arbeitsprodukt bereits in der Hand verwandelt. Abstrahieren wir von seinem Gebrauchswert, so abstrahieren wir auch von den körperlichen Bestandteilen 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 145 <?page no="145"?> und Formen, die es zum Gebrauchswert machen. Es ist nicht länger Tisch oder Haus oder Garn oder sonst ein nützlich Ding. Alle seine sinnlichen Beschaffenheiten sind ausgelöscht. Es ist auch nicht länger das Produkt der Tischlerarbeit oder der Bauarbeit oder der Spinnarbeit oder sonst einer bestimmten produktiven Arbeit. Mit dem nützlichen Charakter der Arbeitsprodukte verschwindet der nützliche Charakter der in ihnen dargestellten Arbeiten, es verschwinden also auch die verschiedenen konkreten Formen dieser Arbeiten, sie unterscheiden sich nicht länger, sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit, abstrakt menschliche Arbeit« (ebenda, 52). An den beiden konkreten Arbeitsbereichen Schneiderei und Weberei macht Marx nochmals deutlich, dass die Bestimmung der abstrakt menschlichen Arbeit, die in den Waren steckt und ihren Tauschwert ausmacht, so etwas darstellt wie eine indifferente Codierung, vergleichbar der »Funktionsweise« des Gehirns, in dem alle analogen Impulse der jeweiligen Sinne des Menschen umgewandelt werden in schlichte elektrische Impulse, die sich nur noch in der Quantitätsform »Intensität« unterscheiden. Marx schreibt: »Sieht man ab von der Bestimmtheit der produktiven Tätigkeit und daher vom nützlichen Charakter der Arbeit, so bleibt das an ihr, daß sie eine Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ist. Schneiderei und Weberei, obgleich qualitativ verschiedne produktive Tätigkeiten, sind beide produktive Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw., und in diesem Sinn beide menschliche Arbeit. Es sind nur zwei verschiedne Formen, menschliche Arbeitskraft zu verausgaben. Allerdings muß die menschliche Arbeitskraft selbst mehr oder minder entwickelt sein, um in dieser oder jener Form verausgabt zu werden. Der Wert der Ware aber stellt menschliche Arbeit schlechthin dar, Verausgabung menschlicher Arbeit überhaupt« (ebenda, 58 f.). 57 Die Bestimmung des Aufwands an abstrakter Arbeit als dasjenige Moment, das den Tauschwert einer Ware garantiert und realisiert, ist jedoch noch nicht vollständig. Käme zu dieser Bestimmung nicht ein weiteres Moment hinzu, dann würde ja der Fall eintreten, dass eine Ware, z. B. ein Tisch, der sehr umständlich hergestellt wurde (etwa vom Lehrling) und für dessen Erstellung daher sehr viel Arbeitzeit investiert wurde, mehr Wert besäße als ein Tisch, der vom Meister in viel kürzerer Zeit getischlert wurde. Das bedeutet: Die abstrakte Arbeit, die Wert bildet, braucht ihrerseits wieder eine Art Maß, einen gemeinsamen Nenner. Und das ist für Marx der gesellschaftliche Durchschnittsgrad der Arbeit bzw. die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit für die Produktion eines bestimmten Warenquantums. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 146 <?page no="146"?> »Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen [ ? ] Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist. Wie nun die Größe seines Werts messen? Durch das Quantum der ›wertbildenden Substanz‹, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit selbst mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw. Es könnte scheinen, daß, wenn der Wert einer Ware durch das während ihrer Produktion verausgabte Arbeitsquantum bestimmt ist, je fauler oder ungeschickter ein Mann, desto wertvoller seine Ware, weil er desto mehr Zeit zu ihrer Verfertigung braucht. Die Arbeit jedoch, welche die Substanz der Werte bildet, ist gleiche menschliche Arbeit, Verausgabung derselben menschlichen Arbeitskraft. Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft, die sich in den Werten der Warenwelt darstellt, gilt hier als eine und dieselbe menschliche Arbeitskraft, obgleich sie aus zahllosen individuellen Arbeitskräften besteht. Jede dieser individuellen Arbeitskräfte ist dieselbe menschliche Arbeitskraft wie die andere, soweit sie den Charakter einer gesellschaftlichen Durchschnitts-Arbeitskraft besitzt und als solche gesellschaftliche Durchschnitts-Arbeitskraft wirkt, also in der Produktion einer Ware auch nur die im Durchschnitt notwendige oder gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit braucht« (ebenda, 53). Marx legt nochmals Wert darauf, dass die Warenproduktion, die er untersucht, voraussetzt, dass der Austausch der Waren zwischen Warenbesitzern gegeben ist; dass also ein bestimmtes gesellschaftliches Niveau vorhanden ist, in dem Dinge überhaupt in der Hülle namens Ware in Erscheinung treten: »Wer durch sein Produkt sein eigenes Bedürfnis befriedigt, schafft zwar Gebrauchswert, aber nicht Ware. Um Ware zu produzieren, muß er nicht nur Gebrauchswert produzieren, sondern Gebrauchswert für andre, gesellschaftlichen Gebrauchswert. (Und nicht nur für andre schlechthin. Der mittelalterliche Bauer produzierte das Zinskorn für den Feudalherrn, das Zehntkorn für den Pfaffen. Aber weder Zinskorn noch Zehntkorn wurden dadurch Ware, daß sie für andre produziert waren. Um Ware zu werden, muß das Produkt dem andern, dem es als Gebrauchswert dient, durch den Austausch übertragen werden.) Endlich kann kein Ding Wert sein, ohne Gebrauchsgegenstand zu sein. Ist es nutzlos, so ist auch die in ihm enthaltene Arbeit nutzlos, zählt nicht als Arbeit und bildet daher keinen Wert« (ebenda, 55, kursiv B. T.). Kurzum: Jede Ware hat einerseits einen Gebrauchswert, insofern sie bestimmten Bedürfnissen und Zwecken des Menschen dient, also mit seiner unmittelbaren 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 147 <?page no="147"?> Lebenserhaltung zusammenhängt; andererseits hat sie einen bestimmten Tauschwert, durch den ein Produkt erst zur Ware im eigentlichen Sinne wird; d. h., der Tauschwert ist dem Warencharakter eines Produktes eingeschrieben. Der Tauschwert einer Ware verhält sich gleichgültig gegenüber den unmittelbaren Lebensbedürfnissen, er steht ihnen - im Unterschied zum Gebrauchswert - abstrakt gegenüber. Der Begriff der Tauschabstraktion beruht also auf diesem Abstraktionsvermögen gegenüber dem Gebrauchswert eines hergestellten Produkts. Dass sich die Sozialverhältnisse, also die gesellschaftlichen Verkehrsformen, nach dieser Tauschabstraktion insgesamt ausgerichtet und umgeformt haben, dass also Verschiedenheiten, Eigenheiten, Andersheiten von Lebenskonzepten und Lebensformen in der Gesellschaft zunehmend dem Zwang zur Vergleichbarkeit, zur Anschlußfähigkeit, zur gleichen Gültigkeit ausgesetzt wurden und dass schließlich die Art und Weise, wie und wodurch in der Gesellschaft etwas »Sinn macht«, sich immer mehr der Art und Weise annäherte, wie und wodurch in der Gesellschaft etwas »Geld macht« - dies ist die soziologische Einsicht, wenn man sich Marx’ Gesellschaftskritik anschließt. Marx erweitert nun seine Warentauschwertanalyse durch die Analyse des Warenwerttausches; er will der Frage nachgehen, wie der Tauschwert durch die Praxis des tatsächlichen Austauschs sich seine eigene, genau dafür passende Ware geschaffen hat, nämlich das Geld: Geld als diejenige Ware, deren ? Gebrauchswert darin besteht, reiner ? Tauschwert zu sein. Es geht ihm also um den Nachvollzug der Genesis der Geldform der Ware. 5.1.2 Die Geldform der Ware in einfacher Wertform Marx besteht darauf, mit seiner Analyse nachweisen zu können, dass entgegen dem alltäglichen, auch heute noch weitverbreiteten Bewusstsein Geld kein Symbol ist, keine Konvention, kein Zeichen, kein Mittel, dass dazu da ist, den ökonomischen Tauschprozess zu bewerkstelligen. Geld ist vielmehr ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis, das einer bestimmten Form der Reichtumsproduktion notwendigerweise entspringt. Es ist also nichts Natur- oder Menschgegebenes, sondern eine historisch zufällige Erscheinung, die im geschichtlichen Entwicklungsprozess des wirtschaftlichen Tauschens zunehmend an innerer Logik gewonnen hat (Flechtheim/ Lohmann 1991, 76). Was passiert also nun, wenn in einem Tauschakt eine Ware verkauft und zugleich von einem Käufer gekauft wird? Wie ist das Verhältnis zwischen dem Wert einer Ware und dem Preis einer Ware zu verstehen? Bezahlt man mit Geld den Wert einer Ware, oder doch nur ihren Preis? Woher kommt das Geld, und wieso kann es diese Funktion einnehmen? 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 148 <?page no="148"?> In die ? »Wertgegenständlichkeit« der Ware geht, so Marx, »kein Atom Naturstoff« ein. Marx will damit sagen, dass der Wert einer Ware nichts mit der Gegenständlichkeit, der Körperlichkeit, der Dinghaftigkeit, dem Material der Ware zu tun hat und auch nicht durch physikalische Hinzufügungen gebildet wird. Die gegenständliche Ware oder, von Marx synonym gemeint, das »Wertding« kann Wert nur ausdrücken, also Wert nur haben, aber nicht Wert sein, denn der Wert wird, um es mechanisch auszudrücken, in die Ware hineingesteckt einzig durch die abstrakte, gesellschaftlich durchschnittliche menschliche Arbeit, die für die Ware aufgebracht wurde. Und diese Arbeit ist in ihrem Wert nicht mehr konkret und dinglich, sondern nur noch abstrakt und gesellschaftlich zu begreifen - aber sie läßt sich nur in konkreten, gegenständlichen Formen, in den Waren also, fassen. »Man mag daher eine einzelne Ware drehen und wenden, wie man will, sie bleibt unfaßbar als Wertding. Erinnern wir uns jedoch, daß die Waren nur Wertgegenständlichkeit besitzen, sofern sie Ausdrücke derselben gesellschaftlichen Einheit, menschlicher Arbeit, sind, daß ihre Wertgegenständlichkeit also rein gesellschaftlich ist, so versteht sich auch von selbst, daß sie nur im gesellschaftlichen Verhältnis von Ware zu Ware erscheinen kann. Wir gingen in der Tat vom Tauschwert oder Austauschverhältnis der Waren aus, um ihrem darin versteckten Wert auf die Spur zu kommen.« (Ebenda, 62) Deswegen geht Marx der Erscheinungsform dieses versteckten Wertes nach, um »zu leisten, was von der bürgerlichen Ökonomie nicht einmal versucht ward, nämlich die Genesis dieser Geldform nachzuweisen, also die Entwicklung des im Wertverhältnis der Waren enthaltenen Wertausdrucks von seiner einfachsten unscheinbarsten Gestalt bis zur blendenden Geldform zu verfolgen. Damit verschwindet zugleich das Geldrätsel. Das einfachste Wertverhältnis ist offenbar das Wertverhältnis einer Ware zu einer einzigen verschiedenartigen Ware, gleichgültig welcher. Das Wertverhältnis zweier Waren liefert daher den einfachsten Wertausdruck für eine Ware.« (Ebenda) Da wir jetzt schon wissen, dass der Wert einer Ware nur ausgedrückt werden bzw. nur erscheinen kann, wenn sich die Ware auf eine andere Ware bezieht, die gleichen, also äquivalenten Wert besitzt (wobei, wie erinnerlich, der Wert sich in der notwendigen abstrakten, gesellschaftlichen und durchschnittlichen Arbeitszeit zentriert, die gebraucht wird, um die Ware zu erzeugen), ist der formelhafte Ausdruck, den Marx für die einfache Wertform findet, nachvollziehbar: x Ware A = y Ware B oder x Ware A ist y Ware B wert. (20 Ellen Leinwand = 1 Rock oder: 20 Ellen Leinwand sind 1 Rock wert.) 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 149 <?page no="149"?> Was sich in dieser harmlosen Gleichung ausdrückt, so Marx, ist gleichsam der Kern dessen, was man die Einheit der Differenz einer Ware nennen kann: Denn jede Ware hat zugleich einen Gebrauchswert und einen Tauschwert, ist also einmal qualitativ unvergleichbar und einmal quantitativ vergleichbar. Die Ware besteht also als einheitliche Ware immer schon aus zwei verschiedenen, sich widersprechenden und doch aufeinander angewiesenen Eigenschaften. In der oben stehenden Gleichung wird die Ware A in ihrer Eigenschaft als Gebrauchswert betrachtet. Ziel ist es, ihre Tauschwert-Eigenschaft zu benennen. Doch dafür muss eine weitere Ware als und zum Vergleich herangezogen werden. An ihr interessiert jetzt nur ihre Tauschwert-Eigenschaft (obwohl sie ja auch gleichzeitig Gebrauchswert- Eigenschaft besitzt). In der quantitativen Bestimmung des Tauschwerts dieser Vergleichsware drückt sich nun nach Marx der Tauschwert der Ware A aus. Der Tauschwert einer Ware kann also nur relativ durch eine andere Ware ausgedrückt werden. »Die erste Ware spielt eine aktive, die zweite eine passive Rolle. Der Wert der ersten Ware ist als relativer Wert dargestellt, oder sie befindet sich in relativer Wertform. Die zweite Ware funktioniert als Äquivalent oder befindet sich in Äquivalentform. […] [D]iese andre Ware, die als Äquivalent figuriert, kann sich nicht gleichzeitig in relativer Wertform befinden. Nicht sie drückt ihren Wert aus. Sie liefert nur dem Wertausdruck andrer Ware das Material.« (Ebenda) Diese höchst analytischen und vielleicht verwirrenden Sätze von Marx wollen im Kern eine Unterschiedlichkeit von zwei sich in Relation befindlichen Waren kennzeichnen, eine Unterschiedlichkeit der Positionen innerhalb eines Bewertungs- und Zuschreibungskreislaufes. Dieser entsteht, wenn man den Wert einer Ware durch eine andere Ware ausdrücken möchte oder muß, weil die Ware Geld dafür noch nicht zur Verfügung steht. Relative Wertform der Ware bedeutet also, dass der Wert der Ware A nicht an der Ware A selbst, sondern nur durch die Hinzuziehung einer anderen Ware bestimmt werden kann. Diese andere Ware, und das ist das Verwirrende, drückt den Wert durch ihr »Warensein« aus, nicht aber durch ihren Wert, denn der wäre wiederum nur so zu bestimmten wie der Wert der Ware A. Man möchte ja nicht den Wert der zweiten Ware, sondern den Wert der Ware A bestimmen. Hat man z. B. ein Pfund Kaffee als Ware A vor Augen, das man gegen Kartoffeln oder Eier eintauschen möchte, dann geht es analytisch nur um die Frage: Wie viel ist der Kaffee wert? Es geht dabei nicht um die Wertbestimmung von Kartoffeln und Eiern, obgleich sie den Wert des Kaffees ausdrücken sollen - aber eben den Wert des Kaffees und nicht ihren »eigenen«. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 150 <?page no="150"?> Marx macht nun drei Eigentümlichkeiten dieser Wertformrelation von Waren fest, um dann zur nächsten Wertform, der sogenannten entfalteten Wertform, überzuleiten. Er nimmt dafür wieder das Rock-Leinwand-Beispiel: »Z. B.: 40 Ellen Leinwand sind ›wert‹ - was? 2 Röcke. Weil die Warenart Rock hier die Rolle des Äquivalents spielt, der Gebrauchswert Rock der Leinwand gegenüber als Wertkörper gilt, genügt auch ein bestimmtes Quantum Röcke, um ein bestimmtes Wertquantum Leinwand auszudrücken. Zwei Röcke können daher die Wertgröße von 40 Ellen Leinwand, aber sie können nie ihre eigne Wertgröße, die Wertgröße von Röcken, ausdrücken. Die oberflächliche Auffassung dieser Tatsache, daß das Äquivalent in der Wertgleichung stets nur die Form eines einfachen Quantums einer Sache, eines Gebrauchswertes, besitzt, hat […] viele […] verleitet, im Wertausdruck ein nur quantitatives Verhältnis zu sehn. Die Äquivalentform einer Ware enthält vielmehr keine quantitative Wertbestimmung. Die erste Eigentümlichkeit, die bei Betrachtung der Äquivalentform auffällt, ist diese: Gebrauchswert wird zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts [Marx meint hier den Tauschwert, also dass das qualitativ einzigartige Merkmal der Ware Hose, ihr spezifischer Gebrauch, plötzlich als Ausdruck eines quantitativen Merkmals betrachtet wird, nämlich desjenigen Merkmals, das ausdrückt, wie wertvoll die Ware Hose für den Tausch ist; die Bestimmung der Hose ist es nun nicht mehr, angezogen zu werden, sondern getauscht werden zu können, B. T.]. Die Naturalform der Ware wird zur Wertform. Aber, notabene, dies Quidproquo ereignet sich für eine Ware B (Rock oder Weizen oder Eisen usw.) nur innerhalb des Wertverhältnisses, worin eine beliebige andre Ware A (Leinwand etc.) zu ihr tritt, nur innerhalb dieser Beziehung. Da keine Ware sich auf sich selbst als Äquivalent beziehn, also auch nicht ihre eigne Naturalhaut zum Ausdruck ihres eignen Werts machen kann, muß sie sich auf andre Ware als Äquivalent beziehn oder die Naturalhaut einer andren Ware zu ihrer eignen Wertform machen. Indem die relative Wertform einer Ware, z. B. der Leinwand, ihr Wertsein als etwas von ihrem Körper und seinen Eigenschaften durchaus Unterschiedenes ausdrückt, z. B. als Rockgleiches, deutet dieser Ausdruck selbst an, daß er ein gesellschaftliches Verhältnis verbirgt. Umgekehrt mit der Äquivalentform. Sie besteht ja gerade darin, daß ein Warenkörper, wie der Rock, dies Ding wie es geht und steht, Wert ausdrückt, also von Natur Wertform besitzt [also den Eindruck erweckt, als sei der ausgedrückte Wert eine physikalische, konkrete, materielle Eigenschaft der Ware selbst, des Warenkörpers, und nicht die unphysikalische, abs- 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 151 <?page no="151"?> trakt geleistete Durchschnittsarbeitskraft, die in der Ware »steckt«, B. T.]. Zwar gilt dies nur innerhalb des Wertverhältnisses, worin die Leinwandware auf die Rockware als Äquivalent bezogen ist. Da aber Eigenschaften eines Dings nicht aus seinem Verhältnis zu andern Dingen entspringen, sich vielmehr in solchem Verhältnis nur betätigen, scheint auch der Rock seine Äquivalentform, seine Eigenschaft unmittelbarer Austauschbarkeit, ebenso sehr von Natur zu besitzen wie seine Eigenschaft, schwer zu sein oder warm zu halten. Daher das Rätselhafte der Äquivalentform, das den bürgerlich rohen Blick des politischen Ökonomen erst schlägt, sobald diese Form ihm fertig gegenübertritt im Geld. Dann sucht er den mystischen Charakter von Gold und Silber wegzuklären, indem er ihnen minder blendende Waren unterschiebt und mit stets erneutem Vergnügen den Katalog all des Warenpöbels ableiert, der seinerzeit die Rolle des Warenäquivalents gespielt hat. […] In der Form der Schneiderei wie in der Form der Weberei wird menschliche Arbeitskraft verausgabt. Beide besitzen daher die allgemeine Eigenschaft menschlicher Arbeit und mögen daher in bestimmten Fällen, z. B. bei der Wertproduktion, nur unter diesem Gesichtspunkt in Betracht kommen. All das ist nicht mysteriös. Aber im Wertausdruck der Ware wird die Sache verdreht. Um z. B. auszudrücken, daß das Weben nicht in seiner konkreten Form als Weben, sondern in seiner allgemeinen Eigenschaft als menschliche Arbeit den Leinwandwert bildet, wird ihm die Schneiderei, die konkrete Arbeit, die das Leinwand-Äquivalent produziert, gegenübergestellt als die handgreifliche Verwirklichungsform abstrakt menschlicher Arbeit. Es ist also eine zweite Eigentümlichkeit der Äquivalentform, daß konkrete Arbeit zur Erscheinungsform ihres Gegenteils, abstrakt menschlicher Arbeit wird. Indem aber diese konkrete Arbeit, die Schneiderei, als bloßer Ausdruck unterschiedsloser menschlicher Arbeit gilt, besitzt sie die Form der Gleichheit mit andrer Arbeit, der in der Leinwand steckenden Arbeit, und ist daher, obgleich Privatarbeit, wie alle andre, Waren produzierende Arbeit, dennoch Arbeit in unmittelbar gesellschaftlicher Form. Ebendeshalb stellt sie sich dar in einem Produkt, das unmittelbar austauschbar mit andrer Ware ist. Es ist also eine dritte Eigentümlichkeit der Äquivalentform, daß Privatarbeit zur Form ihres Gegenteils wird, zu Arbeit in unmittelbar gesellschaftlicher Form.« (Ebenda, 70 ff., kursiv B. T.) Doch mehr noch als diese Eigentümlichkeiten der einfachen Wertform der Ware wird jetzt schon deutlich, dass Marx hier einen Vorgang beschreibt, der aus sich heraus zu seiner Verwandlung strebt. Denn es ist einzusehen, dass der Tauschwert einer Ware auf Dauer, also mit Zunahme der Warenproduktion und Warenzirku- 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 152 <?page no="152"?> lation, nicht mehr ausreichend durch den Bezug auf den Gebrauchswert einer anderen Ware ausgedrückt werden kann. Der Wertausdruck des Tauschwertes braucht eine eigene Gestalt, eine eigene Bezeichnungsart, einen eigenen Signifikanten, eine Art abstrakte Materialität, die die permanente doppelte Doppelung einer Ware (einmal in Gebrauchs- und Tauschwert, einmal in die relative Wertform und in die Äquivalentform) hinter sich lässt, transformiert, kurz: abstrahiert. 5.1.3 Die Geldform der Ware in entfalteter Wertform Die Darstellung der erweiterten, nach Marx als entfaltet zu verstehenden Wertform fußt auf den Einsichten in die einfache Wertform und kann daher etwas kompakter geraten. Auch hier benutzt er zur Veranschaulichung wieder eine Gleichung. Sie hat diese Gestalt: z Ware A = u Ware B oder = v Ware C oder = w Ware D oder = x Ware E oder = etc. (20 Ellen Leinwand = 1 Rock oder = 10 Pfd. Tee oder = 40 Pfd. Kaffee oder = 1 Quarter Weizen oder = 2 Unzen Gold oder = 1/ 2 Tonne Eisen oder = etc.) Strukturell hat sich in diesen Verhältnisausdrücken im Vergleich zur ersten Gleichung nichts geändert. Die Anzahl der Äquivalent-Körper ist größer geworden, die Warenkörper sind diverser; es scheint sich darin eine höhere Vergesellschaftung des Warentauschs schlechthin auszudrücken, also eine Zunahme der Verschiedenheit produzierter Waren und eine Zunahme der Tauschakte unter dem Aspekt der gegenseitigen Abhängigkeit (Interdependenz): Die Zufälligkeit des Relationierens hat abgenommen, gleichzeitig hat die Vergleichbarkeit der Waren zugenommen. Marx drückt das in der berühmten Sentenz so aus: »Durch ihre Wertform steht die Leinwand daher jetzt auch in gesellschaftlichem Verhältnis nicht mehr zu nur einer einzelnen andren Warenart, sondern zur Warenwelt. Als Ware ist sie Bürger dieser Welt. Zugleich liegt in der endlosen Reihe seiner Ausdrücke, daß der Warenwert gleichgültig ist gegen die besondre Form des Gebrauchswerts, worin er erscheint.« (Ebenda) Die Bestimmung des Werts der Leinwand ist nun durch eine »endlose Reihe« von Wertausdrücken möglich und damit in eine Ebene der verstärkten Gleichgültigkeit der Waren untereinander gerückt, also im Wortsinne abstrakter geworden: Es ist nun möglich, von der konkreten, spezifischen Form und Funktion der jeweiligen Waren »abzusehen«, um das ihnen allen gemeinsame Merkmal hervorzuhe- 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 153 <?page no="153"?> ben, nämlich: ob sie wert sind, getauscht zu werden. Es sei daher »offenbar, daß nicht der Austausch die Wertgröße der Ware, sondern umgekehrt die Wertgröße der Ware ihre Austauschverhältnisse reguliert« (ebenda, 78). Gleichsam hat diese entfaltete Wertform der Ware erhebliche Mängel, wovon ein wesentlicher der ist, dass weiterhin eine einheitliche Erscheinungsform für den Wert und also für die abstrakte Wertbestimmung fehlt. Immer noch sind die Warentauschenden darauf angewiesen, eine jeweils geeignete Ware zu finden, die als Wertausdruck fungiert; dass es in der entfalteten Wertform der Ware nun unendlich viele Waren sein können, die dies leisten, macht den Warentausch sicherlich nicht einfacher. »Die entfaltete relative Wertform besteht jedoch nur aus einer Summe einfacher relativer Wertausdrücke oder Gleichungen der ersten Form, wie: 20 Ellen Leinwand = 1 Rock | 20 Ellen Leinwand = 10 Pfd. Tee usw. Jede dieser Gleichungen enthält aber rückbezüglich auch die identische Gleichung: 1 Rock = 20 Ellen Leinwand | 10 Pfd. Tee = 20 Ellen Leinwand usw. In der Tat: Wenn ein Mann seine Leinwand mit vielen andren Waren austauscht und daher ihren Wert in einer Reihe von andren Waren ausdrückt, so müssen notwendig auch die vielen andren Warenbesitzer ihre Waren mit Leinwand austauschen und daher die Werte ihrer verschiednen Waren in derselben dritten Ware ausdrücken, in Leinwand.« (Ebenda, 79) 5.1.4 Die allgemeine Wertform Bezeichnete die entfaltete Wertform der Ware nach Marx eine Entwicklungsphase der Warenwirtschaft, in der sich die Tauschverhältnisse schon zu einer »Warenwelt« ausgebildet haben, ohne dass gleichzeitig eine ebenso umfassende, generelle und abstrakte Wertbestimmungsform mitausgebildet wurde, so sieht er in der nächsten Phase der Entwicklung, in der allgemeinen Wertform, genau dies eingelöst. Vergleichbar der Herausbildung eines Gewaltmonopols des Staates bildet sich nun eine Ware heraus, der alleine das Monopol zufällt, Wert auszudrücken: Geld. Marx bereitet für die Nachvollziehbarkeit dieses Gedankens zuerst eine logische Voraussetzung auf: »- Kehren wir also die Reihe: 20 Ellen Leinwand = 1 Rock oder = 10 Pfd. Tee oder = usw. um, d. h., drücken wir die der Sache nach schon in der Reihe enthaltene Rückbeziehung aus, so erhalten wir: 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 154 <?page no="154"?> 1 Rock = 10 Pfd. Tee = 40 Pfd. Kaffee = 1 Qrtr. Weizen = 20 Ellen Leinwand 2 Unzen Gold = 1/ 2 Tonne Eisen = x Ware A = usw. Ware = […] Die Waren stellen ihre Werte jetzt 1. einfach dar, weil in einer einzigen Ware und 2. einheitlich, weil in derselben Ware. Ihre Wertform ist einfach und gemeinschaftlich, daher allgemein. Die Formen I und II [gemeint sind die beiden o. g. Gleichungen, B. T.] kamen beide nur dazu, den Wert einer Ware als etwas von ihrem eignen Gebrauchswert oder ihrem Warenkörper Unterschiedenes auszudrücken. […] Die neugewonnene Form drückt die Werte der Warenwelt in einer und derselben von ihr abgesonderten Warenart aus, z. B. in Leinwand, und stellt so die Werte aller Waren dar durch ihre Gleichheit mit Leinwand. Als Leinwandgleiches ist der Wert jeder Ware jetzt nicht nur von ihrem eignen Gebrauchswert unterschieden, sondern von allem Gebrauchswert […]« (ebenda, 79 f.). Marx beschreibt also eine Art Zentralisierung und damit auch Vereinfachung der - genau gesagt - Wertausdrucksbestimmung: Konnte bisher jede Ware diese Funktion übernehmen, wird in der Gleichung davon ausgegangen, dass es jetzt eine, und zwar eine ganz bestimmte Ware ist, der diese Funktion zufällt - eine Ware, die für die gesamte Warenwelt den Wertausdruck monopolisiert. 5.1.5 Die Geldform Von der allgemeinen Wertform zur Geldform ist es nun nach Marx gedanklich nur ein kleiner Sprung. Die schlichte Umdrehung hat dazu geführt, dass Leinwand aus dem Kreis der Waren ausgeschlossen wurde, deren Wert in anderen Waren ausgedrückt werden kann. Oder anders und klarer: Weil und sofern sie »durch alle andren Waren als Äquivalent ausgeschlossen wird« (ebenda, 83), kann sie nun die allgemeine Äquivalentform darstellen. Diese Funktion, eine allgemeine Äquivalentform darzustellen, kann theoretisch jede Ware annehmen oder übernehmen. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass dies praktisch nur von einer bestimmten Ware wirklich geleistet wurde. Nur eine Ware konnte ob ihrer spezifischen Art genau die abstrakte Funktion allgemeiner Äquivalenzierung so erfüllen, dass ihre Besonderheit mit ihrer Allgemeinheit ineins fiel: nämlich das Geld. 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 155 <?page no="155"?> »Die spezifische Warenart nun, mit deren Naturalform die Äquivalentform gesellschaftlich verwächst, wird zur Geldware oder funktioniert als Geld. Es wird ihre spezifisch gesellschaftliche Funktion, und daher ihr gesellschaftliches Monopol, innerhalb der Warenwelt die Rolle des allgemeinen Äquivalents zu spielen. Diesen bevorzugten Platz hat unter den Waren, welche in Form II [also der entfalteten Wertform, B. T.] als besondre Äquivalente der Leinwand figurieren und in Form III [also der allgemeinen Wertform, B. T.] ihren relativen Wert gemeinsam in Leinwand ausdrücken eine bestimmte Ware historisch erobert, das Gold.« (Ebenda, 83)« Wenn man in Form III, also der für die allgemeine Wertform weiter oben angegebenen Gleichung, die Ware Gold an die Stelle der Ware Leinwand setzt, erhält man: 20 Ellen Leinwand = 1 Rock = 10 Pfd. Tee = 40 Pfd. Kaffee = 2 Unzen Gold 1 Qrtr. Weizen = 1/ 2 Tonne Eisen = x Ware A = Was ist also Geld resp. ihre historisch erste Erscheinungsgestalt namens Gold? Geld ist »selbständige handgreifliche Existenzform des Werts, der Wert des Produkts in seiner selbständigen Wertform, worin alle Spur des Gebrauchswerts der Waren ausgelöscht ist.« (Marx, Das Kapital II, MEW, Bd. 24, 63) Mit Geld braucht die Bestimmung des Werts der Ware nun, vereinfacht gesagt, nicht mehr den Umweg über den Gebrauchswert einer anderen Ware zu machen, der sich ja immer anders darstellt als der Tauschwert. Mit Geld hat also die Warenwelt ihr Medium gefunden, ihr allgemeines, verallgemeinerndes, ihr generalisiertes Medium. Denn Geld ist nun diejenige Ware, deren Gebrauchswert alleine darin besteht, reiner Tauschwert zu sein, d. h., Geld ist nur zu gebrauchen, wenn damit alle Waren der Warenwelt nicht nur in ihrem Wert ausgedrückt, sondern auch getauscht werden können - und dies formal gesehen recht einfach, nämlich durch den Ausdruck des Preises. Um nun alle Stufen oder Formen der Wertform, die untersucht wurden, in einen in sich stimmigen Zusammenhang zu stellen, schließt Marx die Analyseeinheit mit folgenden Worten ab: 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 156 <?page no="156"?> »Die Schwierigkeit im Begriff der Geldform beschränkt sich auf das Begreifen der allgemeinen Äquivalentform, also der allgemeinen Wertform überhaupt, der Form III. Form III löst sich rückbezüglich auf in Form II, die entfaltete Wertform, und ihr konstituierendes Element ist Form I: 20 Ellen Leinwand = 1 Rock oder x Ware A = y Ware B. Die einfache Warenform ist daher der Keim der Geldform.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 85) Damit optiert er für eine genealogische Beschreibung der Wertformgenese, also für eine Sicht, die noch die entwickeltste Wertform, Geld, zurückführt und herleitet aus der ursprünglichsten, nämlich der einfachen Warenform; zwischen den verschiedenen Wertformen besteht daher ein Ableitungsverhältnis. Nach diesem Analyseunterabschnitt setzt Marx seine Untersuchungen im ersten Kapital-Band mit einem Unterabschnitt fort, der nicht nur die wohl meistzitierten Sätze seiner gesamten Schriften enthält, sondern der auch einen Bruch in der Abfolge der Analyse darstellt. Denn dort behandelt er den sogenannten Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis - und dies auf eine viel philosophischere Weise als zuvor. Ihm geht es hier um eine grundlegende Betrachtung der Ware mit Hilfe des Begriffs ? »Fetisch«, also eines Begriffs, der für dezidiert nichtrationale, nichtlogische Phänomene einsteht. Marx möchte zeigen, dass die Analyse der Ware unausweichlich auf irrationale, »mystische« Vorgänge stößt. 5.1.6 Der Fetischcharakter der Ware Marxens Meditationen über den Fetischcharakter der Ware sind sehr »eigen«, sehr anspruchsvoll und können als kompakte, orientierende Aussagen Auskunft über seine Gesellschaftstheorie geben. Denn was er hier, im vierten Abschnitt des ersten Kapitels von Das Kapital, zu entfalten sucht, ist tatsächlich nichts weniger als eine gesellschaftstheoretische Einbettung seiner gesamten politökonomischen Analysen, eine Einbettung mithin, die davon ausgeht, den Kern dessen, was ? Verdinglichung heißt, erkannt zu haben. Deswegen sieht sich Marx in der Lage, nur eine Seite nach dem Abschnittsbeginn das Geheimnisvolle der Warenform ganz einfach aufzulösen. Beginnt der Abschnitt mit der Beschreibung des Zaubers der Ware - »Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken« (ebenda) -, so findet alsbald schon ihre Entzauberung statt, in folgenden, viel zitierten Worten: 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 157 <?page no="157"?> »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. So stellt sich der Lichteindruck eines Dings auf den Sehnerv nicht als subjektiver Reiz des Sehnervs selbst, sondern als gegenständliche Form eines Dings außerhalb des Auges dar. Aber beim Sehen wird wirklich Licht von einem Ding, dem äußeren Gegenstand, auf ein andres Ding, das Auge, geworfen. Es ist ein physisches Verhältnis zwischen physischen Dingen. Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den [ ? ] Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist. Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt, wie die vorhergehende Analyse bereits gezeigt hat, aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert.« (Ebenda, S. 86 f.) Fetischismus, so lässt sich vereinfachen, liegt also immer dann vor, wenn gemachte Dinge, wenn durch Menschen hergestellte Gegenstände, wenn gesellschaftlich bedingte Sachverhalte ihr Gemachtsein, ihr Hergestelltsein, ihre Gesellschaftsbedingtheit verlieren und als eigenständige, gegebene, wie von Außen kommende Gestalten aufgefasst werden - an der Maschine namens »Computer« ist das z. B. sehr schön zu sehen. Sätze wie »Mein Computer spinnt« oder »Der Computer hat errechnet, dass…« drücken ein Verhältnis zu dieser Maschine aus, das ihr fast den Status einer eigenständigen Person verleiht, obwohl dies so absurd und fetischisierend ist, als würde man sagen: »Der Hammer in meiner Hand hat den Nagel eingeschlagen«. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 158 <?page no="158"?> Wie kann man das Problem des Geheimnisvollen, das Marx im Blick hat, tief gehender und etwas komplizierter verdeutlichen? Ziehen wir zuerst die Sprachwissenschaft heran und betrachten nochmals den folgenden Satz aus dem Zitat, dass die »Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen« haben. Marx behauptet hier also eine vollständige Unterbrechung der Korrespondenz, ja der Kausalität zwischen dem auszudrückenden Sachverhalt (Warenform, Wertverhältnis) und dem ausdrückenden Sachverhalt/ der ausdrückenden Materialität (dingliche Beziehung/ Arbeitsprodukte). Anders formuliert, und zwar semiologisch, heißt das: Signifikat (signatum: das Bezeichnete) und Signifikant (signant: das Bezeichnende) stehen in einem Verhältnis, in dem sie zueinander »absolut nichts zu schaffen« haben. Genau das hat Ferdinand de Saussure 1916 in seinem Werk Cours de linguistique générale« 58 als Haupterkenntnis seiner Untersuchung der Sprache als Zeichensystem (langue) formuliert. Denn nach Saussure rührt der Bezeichnungseffekt nicht mehr daher, dass Sprache etwas, das Signifikat, repräsentiert. Vielmehr ist es so, dass die Differenz zwischen den einzelnen sprachlichen Zeichen als Ursache für ihre Identität und ihre Bezeichnungsfähigkeit anzusehen ist. Die Differenz der einzelnen Zeichen innerhalb des Systems, also ihr Verhältnis zueinander, das durch das System Sprache bestimmt wird, erzeugt damit erst das Bezeichnende und das Bezeichnete. Sprachliche Zeichen bringen also nicht ihre jeweiligen Bedeutungen per se mit ins Spiel des sprachlichen Gebrauchs, sondern erst durch den Gebrauch, das Verbinden und das In-Beziehung-Setzen der Zeichen entsteht ihr Bezeichnungs- und Bedeutungsfunktion. Ein Laut eines Zeichens z. B. wäre signifikant, also bezeichnend erst durch sein Anderssein im Vergleich zu anderen Lautzeichen, aber nicht durch den jeweiligen »Inhalt«, den es bezeichnet. Signifikate und Signifikanten werden deshalb nicht positiv durch ihren Inhalt, sondern negativ, durch das, was sie nicht sind, also durch ihre Beziehungen bestimmt, die sie mit den anderen Elementen des Zeichensystems Sprache eingehen. Saussure bestimmt daher die Negativität des in sich bedeutungslosen Zeichens als valeur, als systemischen Wert des Zeichens. Überträgt man nun dieses Modell der Sprache als autonomes System auf die Marx’schen Elemente, dann stünden die Arbeitsprodukte mit ihrer physischen Natur genau für das in sich und an sich bedeutungslose Zeichen bei Saussure. Der Wert der Materialität einer Ware, der Wert der Körperlichkeit und Physikalität einer Ware besteht also darin, leer zu sein, nichts zu sein, um als Träger für die Realisierung und Dynamisierung des Wertverhältnisses in der Erscheinungsebene zu dienen - denn nach Marx geht es in der kapitalistischen Warenproduktion ja nicht mehr darum, dass spezifische Waren produziert werden, um auf 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 159 <?page no="159"?> spezifische Bedürfnisse zu antworten, sondern nur noch darum, dass mehr Geld, ? Profit erreicht wird. (Wir werden gleich behandeln, was passiert, wenn Waren und Geld sich zunehmend nicht mehr verkörpern, nicht mehr materialisieren müssen und daher nicht mehr notwendigerweise die Erscheinungsebene erreichen, auf der es noch notwenig ist, dass, sprachwissenschaftlich umgedeutet, Bedeutungen und, politökonomisch gesehen, bedürfnisbefriedigende Waren kursieren.) An dieser Stelle ist auch die Genese eines falsches Bewusstseins zu markieren; eines Bewusstseins, das die sozialen Beziehungen hinter den Verhältnissen der Dinge nicht sieht und folglich die dinglichen Verhältnisse (also die Verhältnisse, in denen es nicht mehr um menschliche Bedürfnisse und deren Befriedigung geht, sondern nur noch um die Befriedigung des Warenbesitzers, der ? Mehrwert realisieren will) für soziale Verhältnisse hält, für gegebene, schließlich für zwingende Verhältnisse. Hier ist Marxens Wendung »hinter seinem Rücken« bzw. »hinter ihrem Rücken« einzusetzen: Als Beschreibung eines Bewusstseins, das nicht erkennt, wie die wirklichen Verhältnisse sind, sondern sich an das klammert, wie die Verhältnisse scheinen. Etwa: »Die verschiednen Proportionen, worin verschiedne Arbeitsarten auf einfache Arbeit als ihre Maßeinheit reduziert sind, werden durch einen gesellschaftlichen Prozeß hinter dem Rücken der Produzenten festgesetzt und scheinen ihnen daher durch das Herkommen gegeben.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 59) Eine zweite Verdeutlichung zur Erklärung des ? Fetischcharakters der Ware kann mit der soziologischen Systemtheorie versucht werden. Die Luhmannsche Systemtheorie geht von der Prämisse aus, dass das »Material« der Gesellschaft, die Elemente der Gesellschaft zwar die Interaktionssysteme sind - vergleichbar dem Satz, dass ein Haus aus Steinen besteht -, dass aber die Bedeutung, Wirkung, Geltung, die Regeln und der Sinn dieses Materials für die Gesellschaft einzig auf der Ebene des Gesellschaftssystems kreiert und geschaffen werden und nicht in den Interaktionen selbst; die ist vergleichbar dem Satz, dass die Anzahl und Art der Räume eines Hauses sich nicht aus den Steinen ableiten lassen. Die Gesellschaft besteht zwar aus Interaktionen von Menschen und aus Menschen (das Wertverhältnis der Waren besteht zwar materialiter aus Arbeitsprodukten und den dinglichen Verhältnissen), aber das, was diese Interaktionen bedeuten und was in diesen Interaktionen wie bedeutet wird, kurz: die Strukturierung entstammt eben nicht der Interaktionssphäre, sondern dem autonomen sozialen System namens »Gesellschaft« (die dinglichen Verhältnisse, die die Waren eingehen, sind vollständig 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 160 <?page no="160"?> bestimmt und zurückzuführen auf »das gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst« im Rahmen der kapitalistischen Warenproduktion). Nimmt man den folgenden bekannten Satz heran: »Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile«, dann stehen Interaktionen für die Teile; aber nur die Interaktionen zu betrachten, würde maximal zu einem Begriff der Summe führen; das Ganze könnte aus dieser Summe nicht erklärt werden; es ist mehr. Dieses »Mehr« ergibt sich aus der Bildung eines eigenen Systems, eben des Gesellschaftssystems. Für Marx sind dingliche Verhältnisse solche, die sich so darstellen, als ob ihre »Summe« schon das Ganze sind; die also das »Mehr« des Ganzen scheinbar in den Interaktionen aufgelöst haben. Und Interaktionen im Kapitalismus sind nach Marx Aktionen des Warentauschs, also der Wertrealisierung. Kurzum: Für Luhmann sind Interaktionssysteme nicht maßgeblich für die Beschreibung der (modernen) Gesellschaft bzw. für die Kontinuität der (modernen) Gesellschaft selbst: Interaktionssysteme sind für ihn (zumeist) einfache Sozialsysteme, die von der Notwendigkeit entbunden sind, Komplexität interner Differenzierung zu steigern: »Es gibt durchaus undifferenzierte Sozialsysteme, etwa Interaktionssysteme des Kontaktes unter Anwesenden, die keine weitere interne Systembildung vorsehen. […] Und sehr typisch für Interaktionssysteme ist: daß sie intern nur mit Mühe dauerhafte Teilsysteme konsolidieren können. […] Mit dem Übergang zu funktionaler Differenzierung wird die Differenzierungsschematik autonom gewählt, sie richtet sich nur noch nach den Funktionsproblemen des Gesellschaftssystems selbst ohne irgendeine Entsprechung in der Umwelt; und deshalb wird jetzt die Orientierung am Menschen eine Ideologie, die nur noch für die Werte von Bedeutung ist, nach denen die gesellschaftlichen Prozesse sich richten sollen« (Luhmann 1984, 263 f.). Die Conclusio ist, dass »man den Menschen als Teil der Umwelt der Gesellschaft« anzusehen habe* (ebenda, 288), vergleichbar der Sicht Marxens, nach der die Warenform die gesellschaftlichen Charaktere der Arbeitsprodukte der Menschen und damit das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen zurückspiegelt - also so zurückspiegelt, als ob die gesellschaftlichen Verhältnisse des Tauschens von Waren, des Kaufens und Verkaufens in den Waren und im Kauf-Tauschvorgang selbst verankert sind und nicht mehr aus dem »Mehr« des Ganzen der Gesellschaft sich herleiten. Erscheint es schließlich so, als lägen die gesellschaftlichen Verhältnisse von Gegenständen außerhalb des Einflussbereiches gesellschaftlicher Verhältnisse von Menschen, dann, so Marx, ist der Punkt erreicht, ab dem man von Sachzwang spricht, von ökonomischer Notwendigkeit, kurz: von Verhältnissen, die nicht zu ändern sind, weil sie sich scheinbar dem Eingriff der Menschen entziehen. 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 161 <?page no="161"?> * Jedoch: Was bei Marx mit den Begriffen ? »Entfremdung«, ? »Verdinglichung«, »notwendig falsches Bewusstsein« eingefangen wird, das drückt Luhmann mit diesen Worten aus: »Dem Menschen werden so höhere Freiheiten im Verhältnis zu seiner Umwelt konzediert, insbesondere Freiheiten zu unvernünftigem und unmoralischem Verhalten. Er ist nicht mehr Maß der Gesellschaft. Diese Idee des Humanismus kann nicht kontinuieren. Denn wer wollte ernsthaft und durchdacht behaupten, daß die Gesellschaft nach dem Bilde des Menschen, Kopf oben usw., geformt werden könnte.« (ebenda, 289) Doch worin besteht nun grundsätzlich das umfassende gesellschaftliche Verhältnis, das nach Marx in ein sachliches (das Verhältnis, in dem die Summe der Teile eines Ganzen betrachtet wird) und in ein gesellschaftliches (das Verhältnis, in dem das »Mehr« des Ganzen im Vergleich zur Summe seiner Teile betrachtet wird) zerfällt? »Gebrauchsgegenstände werden überhaupt nur Waren, weil sie Produkte voneinander unabhängig betriebner Privatarbeiten sind. Der Komplex dieser Privatarbeiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte, erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches. Oder die Privatarbeiten betätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittelst derselben die Produzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d. h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 87, kursiv B. T.). Marx geht es mit diesen Sätzen darum, einen komplizierten Vorgang plausibel zu machen, nämlich - vereinfacht gesagt - darum, dass eine Wirtschaft, die Waren nicht mit dem Ziel produziert und tauscht, um damit Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um mit ihnen mehr Geld (in Gestalt von Profit) zu erwirtschaften, dazu führt, dass die Produzenten den gesellschaftlichen Charakter ihrer Arbeit, ihrer Arbeitsprodukte und des Wertes der Waren nicht mehr als von ihnen erzeugten gesellschaftlichen Charakter wahrnehmen. Sie gewinnen vielmehr den Eindruck, dass erst der Tausch der Waren in der Zirkulationssphäre, dass erst die Wertvergleichbarkeit der Waren im Austausch diese Gesellschaftlichkeit erzeugt - quasi ein »Naturschauspiel« des Warentauschs, dem die Menschen scheinbar nur von außen beiwohnen können. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 162 <?page no="162"?> Nochmals Marx: »Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher ? Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es« (ebenda, 88). Der gesellschaftliche Charakter der Arbeit wird also nach Marx durch den gegenständlichen Schein der Waren und der Warenzirkulation verdeckt - man sieht z. B. einem fabrikneuen Auto die soziale Organisation der Arbeit, die Arbeitskraft, die unbezahlte Mehrarbeit, die in ihm stecken, nicht mehr an; man sieht nur noch ein quasi für sich stehendes Produkt, dessen einzige Bestimmung es ist, in der Gesellschaft des Marktes die Wertform Geld als Profit anzunehmen. Der Warenfetisch steht also genau dafür: das Resultat eines bestimmten Konstitutionsprozesses mit der Konstitution selbst zu verwechseln. Oder anders gesagt, vom Standpunkt einer säkularisierten Aufklärung: mit »Fetisch wird ein Ding bezeichnet, an das Individuen oder Kollektive Bedeutungen und Kräfte knüpfen, die diesem Ding nicht als primäre Eigenschaft […] zukommen« (Böhme 2006, 17). 59 Marx’ Fetisch-Kapitel hat, es ist schon erwähnt worden, eine enorme Rezeptionsgeschichte im Rücken. Vor allem die Kritische Theorie hat die Warenanalyse sowie die des Fetischcharakters aufgenommen und auch auf Bereiche der Produktion ausgedehnt, die auf den ersten Blick nicht zur warenproduzierenden Wirtschaft gehören (etwa die Produktion von Gesetzen, Bildungsrichtlinien, Filmen, Literatur), also auf Bereiche, in denen nach Marx hauptsächlich noch die ? Ideologie für ein verkehrtes Bewusstsein und ein verkehrtes Verhältnis zuständig ist - wo also noch herrschende Meinungen (nach Marx die Meinungen der »Herrschenden«) die Aufgabe hatten, »die Menschen« davon zu überzeugen, dass nicht sie es sind, die die Geschichte, die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Lebensverhältnisse herstellen, sondern dass dies dem Schicksal, Gottes Wille oder der politischen Klasse aufgegeben ist. Nach Adorno ist jedoch für den Bereich der Industrie, die Kultur produziert, also für die Kulturindustrie, keinerlei Ideologie mehr nötig: die »Überbauphänomene« gehorchten jetzt in ihrem Innersten genauso den Regeln und Bedingungen der »Basis« wie jede triviale Ware auch: »Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sondern sie sind es durch und durch« (Adorno 1985, 477). Nun war Marx davon überzeugt, dass der Fetischismus mit dem Verschwinden der kapitalistischen Produktionsweise gleichsam Geschichte sein wird. Er stellte fest: »Aller Mystizismus der Warenwelt, all der Zauber und Spuk, welcher Arbeitsprodukte auf Grundlage der Warenproduktion umnebelt, verschwindet daher 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 163 <?page no="163"?> sofort, sobald wir zu andren Produktionsformen flüchten.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 90) Dass solch andere Produktionsformen jedoch nicht entstanden sind - auch im Modell des real existiert habenden Sozialismus/ Kommunismus marxistisch-leninistischer Prägung blieb die Gesellschaft eine warenproduzierende Gesellschaft - hat nun Kritiker des Fetischismus in Bereiche jenseits der politischen Ökonomie flüchten lassen, in denen ihrer Meinung nach ebenfalls Fetischismus herrscht oder eine starke Bedrohung darstellt: Wenn schon der Warenfetisch und also die kapitalistische Produktionsweise nicht verschwindet, so soll zumindest der Fetisch und die Warenform keine Zuflucht im Bereich der ? Kultur finden. Adornos zitierter Satz drückt ja negativ aus, dass dieses »Einreiseverbot«, ausgesprochen von der Kultur »geistiger Gebilde«, nicht gelungen ist; er kann dies nur kritisieren, weil er für den Bereich der Kultur eine andere, also eine nicht-warenästhetische und nicht-warenfetischistische Geltung unterstellt. Böhme plädiert nun für die Gegenwart dafür, nicht zwischen Kultur und ? Kapital zu unterscheiden, sondern zwischen Warenfetischismus und kulturellem Fetischismus. Er schreibt dazu: »Wollte man heute den Fetischismus bekämpfen, um ihn zu beseitigen, müßte man die Kultur, in der und von der man lebt, gleich mit liquidieren. […] Im Schatten von Marx wurde Fetischismus einseitig der kapitalistischen Ökonomie zugeschlagen, sodass er sich als Faktor der Mehrwertproduktion und der [ ? ] Entfremdung sowohl von Produzenten wie Konsumenten erschöpfte. Kultur wurde der Ökonomie entgegengesetzt, der Fetischismus von Ökonomie okkupiert, sodass authentische kulturelle Produkte alles sein durften, nur nicht fetischistisch und verwertbar: Sie mussten die unerreichbare Transzendenz der Ökonomie sein. Dies aber ist eine unfruchtbare Entgegensetzung. […] In der Ware zirkulieren nicht nur Geldwerte, sondern immer auch Bedeutungen, Symbole, Attitüden, Identifikationsmuster und vor allem Lüste, Gefühle und Phantasien.« (Böhme 2006, 344 f.) 60 Diese Sicht Böhmes auf das Syndrom Fetisch gehört eindeutig zu einer Kritiklinie, die Möglichkeiten einer nichtrepressiven, einer nichtabstrakten, kurz: einer nichtverdinglichten Lebenspraxis innerhalb des Kapitalismus ausfindig machen möchte, also etwas, was nach Marx nur jenseits des Kapitalismus möglich sein konnte. Da davon auszugehen ist, dass folgender Wenn-dann-Satz Marxens noch lange seiner Verwirklichung harren wird - »Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, d. h. des materiellen Produktionsprozesses, streift nur ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter planmäßiger Kontrolle steht« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 94) -, scheint Böhmes Umgang mit dem Fetisch zumindest bedenkenswert. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 164 <?page no="164"?> Marxens Aussagen zum Fetischbegriff bezogen sich bisher auf die Ware, auf Waren, die getauscht, ausgetauscht werden; im Anschluss an seine Fetisch-Analyse folgt das zweite Kapitel mit der Überschrift »Der Austauschprozeß«. Im Zuge der Elektronisierung und Informatisierung nicht nur der Warenproduktion, sondern auch der Waren selbst (elektronische Steuerprogramme, Anwendungssoftware) und gar des Geldes, ist des Öfteren die Frage vernehmbar gewesen, was mit der Waren- und Fetischanalyse von Marx passiert, wenn es denn stimmt, dass Waren und Geld sich zunehmend nicht mehr materialisieren müssen (also Ware wie auch Geld virtuell bleiben, bloße Informationsdaten bzw. reine Zeichen, die nur auf Zeichen reagieren wie etwa beim computerbasierten Börsenhandel) und daher nicht mehr notwendigerweise diejenige Erscheinungsebene erreichen, in der die Verwechslung von dinglichem und gesellschaftlichem Verhältnis manifest wird. Bernhard Vief hat den Versuch unternommen, Marx’ Kritik der politischen Ökonomie unter semiotischem Blickwinkel zu betrachten, nämlich als eine Ökonomie der Zeichen - also Geld (verstanden als die Ware schlechthin) und Kapital auf die Eigenschaft der reinen Information zu reduzieren (Vief 1991, 125). Schon für den Austauschprozess W - G - W machte Marx selbst folgende »semiologische« Aussage geltend: »Daher genügt auch die bloß symbolische Existenz des Geldes in einem Prozeß, der es beständig aus einer Hand in die andre entfernt. Sein funktionelles Dasein absorbiert sozusagen sein materielles. Verschwindend objektivierter Reflex der Warenpreise [61] , funktioniert es nur noch als Zeichen seiner selbst und kann daher auch durch Zeichen ersetzt werden.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 143) Wenn also Geld in seiner Funktion des Wertmaßes »als nur vorgestelltes oder ideelles Geld« dient (ebenda, 111) - erleben wir dann nicht heutzutage ein Zusichkommen des reinen Geldes im maschinenlesbaren elektronischen Zeichen, eine handfeste Realisierung des nur vorgestellten Geldes im digitalen Code? Oder passiert doch das Gegenteil, eine Aufhebung der Waren- und Geldform und damit des Fetischcharakters, weil nun jede Form der Konkretion, jede Form einer Gegenstandsreferenz der Ware und des Geldes für den kapitalistischen Austauschprozess nicht mehr nötig ist? Die Frage ist also: Steht die digitale Codierung von Information für die höchste Erscheinungsform des Geldes als Wertform? Oder ist es eher so, dass die Unkörperlichkeit, die Ungegenständlichkeit, die Immaterialität, die Unsichtbarkeit des digitalen Zeichens als Geldform dazu führt, dass die kapitalistische Warenproduktion anfängt, sich aufzuheben - etwa in Gestalt des 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 165 <?page no="165"?> sogenannten Casino-Kapitalismus, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass die umgesetzten Geldwerte kaum noch durch Warenwerte gedeckt sind? Rekapitulieren wir kurz Marxens Sicht des Geldtauschs als Verdoppelung der Ware in Ware und Geld. Produkte werden im Geldtausch zu Waren »verwandelt«; Ware und Warenbesitzer zieht es zum Geld; die Ware verliert ihren Charakter als Naturalie, es entsteht über dem Produkte-Tausch ein Warenverhältnis unmittelbar gesellschaftlichen Charakters; in diesem Verhältnis regulieren sich die sozialen Beziehungen zwischen Personen und Sachen über das Geld. Vief schließt nun daran an und kommt zu folgender Einschätzung der gegenwärtigen Erscheinungsweise des Geldtausches unter Berücksichtigung von Information: »Der Austausch von Bits verwandelt nicht mehr Produkte in Waren, sondern die Realität in Zeichen. Er zentriert Zeichen und Zeichenbenutzer um den Binärcode. Um dieses neue Zentrum gruppieren sich Sachen und Personen, so wie früher um das Geld. Der Binärcode ist also ein ›gesellschaftliches Verhältnis‹. Er stellt innerhalb der Gesellschaft einen immateriellen Kontext her, vermittels einer gemeinsamen ›Sprache‹, der Maschinensprache. Dies tut er nur unter der Maßgabe, daß sich die Elemente, zwischen denen er vermittelt, d. h. alles Materielle, Körper und Dinge, in diese gemeinsame Sprache verwandeln - in 0 und 1. Die Bits sind also Geld, und sie sind zugleich mehr als Geld, denn ihre Tauschbarkeit oder, in anderen Worten, ihr Bedeutungsfeld sprengt die Grenzen der Ökonomie. Über diese stülpt sich eine Ökonomie zweiter Ordnung, die die alte Warenhaut abstreift und der Gesellschaft anstelle von Preisschildern (und zusätzlich zu diesen) Informationswerte anheftet. Statt vom Ende der Ökonomie zu sprechen, ist das Bild einer Schichtung treffender: Die Warenwelt wird von einem Informationsfluß überschwemmt. Sie vermischt sich mit diesem oder wird als Sediment abgelagert.« (Vief 1991, 134 f.) Diese »Ökonomie zweiter Ordnung« hat ihren Kern im sogenannten binären Code. Vief möchte plausibel machen, dass dieser Code, der alles in 0 und 1 übersetzen kann, in der Zeichenwelt genau die Funktion erfüllt, die in der Warenwelt das Geld innehat (alles Gegebene kann in Geld übersetzt, zumindest ausgedrückt werden, z. B. auch saubere Luft). Der Code, also die Bits, sind reine Differenz und verkörpern die Abwesenheit jeglichen Wertmaßstabes - der zentrale Unterschied zwischen den digitalen Bits und dem bisherigen analogen Geld. Vief: »Solange im Maßstab der Werte noch eine Analogie haust, die Bindung der Wertgröße an ein Metallgewicht oder an die Arbeitszeit, beruht das Geld auf einem individuellen Zahlbegriff. Beim Übergang des Geldes vom Individualzeichen zum Universalzei- 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 166 <?page no="166"?> chen, vom Wertmaßstab zum Binärcode, muß diese Analogie fallen.« (Ebenda, 139) Kurzum und ausreichend paradox formuliert: »Das digitale Geld ist kein Wertäquivalent und dennoch Geld. Es ist ›reine Information, ohne jeden Inhalt, der sein Verwandlungsvermögen schmälern könnte‹. Was das Geld für andere Waren ist, sind die Bits für beliebige Zeichen: Universalcode.’ (Ebenda, 140) Während Geld also als Wertausdruck noch abhängig ist von einem tatsächlich vorhandenen Wert, der materiell und energetisch durch die eingesetzte Arbeitskraft in der Ware »stecken« muss, hat demgegenüber der Wertausdruck durch digitale Zeichen keinerlei Korrespondenz mehr zu etwas außerhalb der Zeichenwelt. Es soll hier offen bleiben, ob Viefs marxistisch-semiologische Überlegungen tatsächlich die Konturen einer Transformation der kapitalistischen Ökonomie benennen. Die Reinheit der Information, die völlige Inhaltslosigkeit von Nullen und Einsen, die er als Fortsetzung einer schon mit dem Geld begonnenen Abstraktion von den jeweiligen ? Gebrauchswerten ansieht, kann man indes schon in dem sehen, was Marx für den Austauschprozess G - G’ feststellte: dass ebendieser Prozess die Inkarnation des sich selbst verwertenden Wertes sans phrase zum Ausdruck bringt - dass er also zum Ausdruck bringt, dass die gesamte Veranstaltung namens kapitalistische Warenproduktion sich von jeglichen »Inhalten«, d. h. vom System der Bedürfnisse, abgekoppelt hat, und ihren Sinn, ihre Dynamik, ihr Ziel nur darin hat, einen erzielten Wert ( ? Mehrwert/ Profit) durch erneute Einspeisung in die Verwertungsprozesse in einen größeren Wert zu verwandeln. Etwas grob veranschaulichend könnte man an einen Autofahrer denken, der nicht mehr fährt, um von A nach B und von B nach C zu kommen, sondern der nur um des immer schnelleren Fahrens willen fährt; A, B und C sind keine Ziele mehr, sondern nur noch Positionen, die, einmal erreicht, auch schon sofort wieder verlassen werden. Zum Abschluss dieses nicht ganz leichten Abschnittes soll Marx also diesbezüglich das Wort haben: »G - G’: […] Es ist die ursprüngliche und allgemeine Formel des Kapitals, auf ein sinnloses Resumé zusammengezogen. Es ist das fertige Kapital, Einheit von Produktionsprozeß und Zirkulationsprozeß, und daher in bestimmter Zeitperiode bestimmten Mehrwert abwerfend. In der Form des zinstragenden Kapitals erscheint dies unmittelbar, unvermittelt durch Produktionsprozeß und Zirkulationsprozeß. Das Kapital erscheint als mysteriöse und selbstschöpferische Quelle des Zinses, seiner eignen Vermehrung. Das Ding (Geld, Ware, Wert) ist nun als bloßes Ding schon Kapital, und das Kapital erscheint als bloßes Ding; das Resultat des gesamten Reproduktionsprozesses erscheint als eine, einem Ding von selbst zukommende Eigenschaft; es hängt ab von 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 167 <?page no="167"?> dem Besitzer des Geldes, d. h. der Ware in ihrer stets austauschbaren Form, ob er es als Geld verausgaben oder als Kapital vermieten will. Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst [ ? ] verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr. Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst. Statt der wirklichen Verwandlung von Geld in Kapital zeigt sich hier nur ihre inhaltlose Form.« (Marx, Das Kapital III, MEW, Bd. 25, 404 f.) Zusammengefasst lässt sich also der Fetischcharakter der Ware darauf beziehen, dass beim Tausch von Waren der Wert einer Ware nicht an dieser selbst abgelesen werden kann, sondern anhand der »natürlichen«, materiellen Form einer anderen Ware zum Ausdruck gebracht und an dieser abgelesen werden muss. Die gesellschaftliche Arbeit, die in den Waren steckt, also der Wert, kann nicht unmittelbar erscheinen, sondern muss in einer anderen Ware, in einem anderen »Ding«, sichtbar gemacht werden. Und das heißt: Die gesellschaftliche Arbeit als Ausdruck für ein soziales, personales Verhältnis zeigt sich nicht unmittelbar als ein Verhältnis zwischen Menschen, sondern erscheint mittelbar in einer dinglichen Form, in einem sachlichen Verhältnis, dem dann nicht mehr angesehen wird, dass es »wesentlich« ein soziales Verhältnis ist. Diese Verkehrung, also die Dingbeziehung als Deckadresse für eine Sozialbeziehung, bestimmt nach Marx fundamental das Bewusstsein aller Beteiligten an der Warenproduktion und am Warentausch: das Verschwinden der Gesellschaftlichkeit aus der wahrnehmbaren Ware, d. h. die Abstraktion des Sozialverhältnisses aus der Sphäre des unmittelbaren und auch unmittelbar wahrnehmbaren Warentauschs, bewirkt den Fetischcharakter der Ware (ganz so wie in dem ironisch gemeinten Satz »Bei uns kommt der Strom aus der Steckdose«). Was sich dementsprechend am einfachen Warentausch schon prinzipiell zeigt, wird dann noch sichtbarer und konturierter in der Erscheinungsform Geld. Wenn gegen Geld nicht nur andere Waren, sondern Arbeitskraft getauscht wird, dann interessiert den Geldbesitzer nur, ob er für das investierte Geld eine adäquate Gegenleistung erhält, nicht aber das persönliche Befinden der Arbeitskraft (und noch viel weniger interessiert ihn der spezielle Gebrauchswert der Waren, die er herstellen lässt). Die Waren, die produziert und getauscht werden, sind jetzt auf den Warentauschakt als solchen ausgerichtet; der Gebrauchswert der Waren ist jetzt nicht mehr das Ziel von Produktion und Zirkulation, sondern Anhängsel geworden, wenn auch ein notwendiges Anhängsel. Ziel von Produktion und Tausch der Waren ist nicht mehr die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern die stete Erweiterung des kapitalistischen Bedürfnisses, ? Tauschwert zu produzieren. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 168 <?page no="168"?> Wenn Geld schließlich zu Kapital wird, dann verfestigt sich vollends die Versachlichung der grundlegenden gesellschaftlichen Beziehung, die stattfindet, wenn Waren in einer Gesellschaft produziert werden. - Dem gilt nun der nächste Abschnitt, in dem es um die Verwandlung von Geld in Kapital geht und der die allgemeine Form des Kapitals thematisiert. 5.1.7 Die allgemeine Form des Kapitals Wie die Verwandlung von Geld in Kapital vonstatten geht, wurde schon weiter oben beschrieben, bei der Skizzierung des Unterschieds zwischen dem »Regelkreis« W - G - W und dem »Regelkreis« G - W - G’. Im Letzteren wird Geld zu Kapital. Gehen wir kurz zurück. Neben der Funktion, Maßstab für den Wert der Waren darzustellen - »Geld als Wertmaß ist notwendige Erscheinungsform des immanenten Wertmaßes der Waren, der Arbeitszeit« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 109) 62 -, dient Geld im Regelkreis W - G - W als Zirkulationsmittel für den Warenaustausch. Der gesamte Prozess, in dem Geld eingesetzt wird, bleibt nach Marx im Rahmen der einfachen Zirkulation befangen; es geht hier noch um die Waren als Waren, noch nicht um die Waren als notwendige Träger für die Realisierung von Profit. Deswegen fasst Marx den Gesamtprozess im Begriff der Warenzirkulation zusammen. Nachdem er den Regelkreis analytisch aufteilt in W - G und G - W, beschreibt er die Gesamtmetamorphose einer Ware im Regelkreis W - G - W wie folgt: »Erst tritt der Ware das Geld als ihre Wert-Gestalt gegenüber, die jenseits, in fremder Tasche, sachlich harte Realität besitzt. So tritt dem Warenbesitzer ein Geldbesitzer gegenüber. Sobald die Ware nun in Geld verwandelt, wird letztres zu ihrer verschwindenden Äquivalentform, deren Gebrauchswert oder Inhalt diesseits in andren Warenkörpern existiert. Als Endpunkt der ersten Warenwandlung ist das Geld zugleich Ausgangspunkt der zweiten. So wird der Verkäufer des ersten Akts Käufer im zweiten, wo ihm ein dritter Warenbesitzer als Verkäufer gegenübertritt. Die beiden umgekehrten Bewegungsphasen der Warenmetamorphose bilden einen Kreislauf: Warenform, Abstreifung der Warenform, Rückkehr zur Warenform. Allerdings ist die Ware selbst hier gegensätzlich bestimmt. Am Ausgangspunkt ist sie Nicht- Gebrauchswert, am Endpunkt Gebrauchswert für ihren Besitzer. So erscheint das Geld erst als der feste Wertkristall, worin sich die Ware verwandelt, um hinterher als ihre bloße Äquivalentform zu zerrinnen. Die zwei Metamorphosen, die den Kreislauf einer Ware, bilden zugleich die umgekehrten Teil- 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 169 <?page no="169"?> metamorphosen zweier andren Waren. Dieselbe Ware (Leinwand) eröffnet die Reihe ihrer eignen Metamorphosen und schließt die Gesamtmetamorphose einer andren Ware (des Weizens). Während ihrer ersten Wandlung, dem Verkauf, spielt sie diese zwei Rollen in eigner Person. […] Der Kreislauf, den die Metamorphosenreihe jeder Ware beschreibt, verschlingt sich also unentwirrbar mit den Kreisläufen andrer Waren. Der Gesamtprozeß stellt sich dar als Warenzirkulation.« (Ebenda, 125 f.). Während Geld in diesem Regelkreis also als eine Art verschwindende Vermittlung 63 tätig ist, beginnt es erst im Regelkreis G - W - G’ sich zur Kapitalbildung anzubieten, also ab dem Moment, in dem es sich als weltweit gültiges und eingesetztes Geld (Weltgeld), als Schatz und als Zirkulationsmittel verselbstständigt und zu einer »autonomen Daseinsform« findet (Flechtheim/ Lohmann 1991, 91). Marx geht es hier, bei der Bestimmung von Geld als Kapital, weniger um eine historische Beschreibung - eine solche wird er im 24. Kapitel des ersten Kapital-Bandes entfalten -, sondern wiederum um eine idealtypische Beschreibung, welche die innere Logik dieser Ökonomieform freilegen will. Im zweiten Abschnitt des dritten Kapitels im Kapital-Band sagt er deswegen auch relativ früh: »Sehn wir ab vom stofflichen Inhalt der Warenzirkulation, vom Austausch der verschiednen Gebrauchswerte, und betrachten wir nur die ökonomischen Formen, die dieser Prozeß erzeugt, so finden wir als sein letztes Produkt das Geld. Dies letzte Produkt der Warenzirkulation ist die erste Erscheinungsform des Kapitals.« (Ebenda, 161) Marx entfaltet nun die allgemeine Formel (Formel, nicht mehr nur Form) des Kapitals recht konzise, sodass es sinnvoll ist, ihn selbst zu Wort kommen zu lassen. Ausgangspunkt für die Kapitalwerdung des Geldes ist für Marx, dass Geld vollständig gleichgültig eingesetzt werden kann gegenüber den Gebrauchswerten von Waren - es besitzt, personifiziert man es, keinerlei Gedächtnis, keinerlei Sinne; alle mögliche Waren sind gleich weit entfernt oder gleich nah; nie hinterlässt eine Ware eine Spur am Geld, durch das sie gekauft wurde. Die Gleichgültigkeit und Unbeschränktheit des Geldeinsatzes gegenüber den jeweils spezifischen und verschiedenen Waren ist notwendig, damit Geld in der Zirkulation sich ausschließlich seiner einzigen Bestimmung fügen kann, der Realisierung des Tauschwertes. »Sehn wir uns die Zirkulation G - W - G näher an. Sie durchläuft, gleich der einfachen Warenzirkulation, zwei entgegengesetzte Phasen. In der ersten Phase, G - W, Kauf, wird das Geld in Ware verwandelt. In der zweiten Phase, W - G, Verkauf, wird die Ware in Geld rückverwandelt. Die Einheit beider Phasen aber ist die Gesamtbewegung, welche Geld gegen Ware und dieselbe Ware wieder gegen Geld austauscht, Ware kauft, um sie zu verkaufen, oder 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 170 <?page no="170"?> wenn man die formellen Unterschiede von Kauf und Verkauf vernachlässigt, mit dem Geld Ware und mit der Ware Geld kauft. Das Resultat, worin der ganze Prozeß erlischt, ist Austausch von Geld gegen Geld, G - G. […] Was jedoch die beiden Kreisläufe W - G - W und G - W - G von vornherein scheidet, ist die umgekehrte Reihenfolge derselben entgegengesetzten Zirkulationsphasen. Die einfache Warenzirkulation beginnt mit dem Verkauf und endet mit dem Kauf, die Zirkulation des Geldes als Kapital beginnt mit dem Kauf und endet mit dem Verkauf. Dort bildet die Ware, hier das Geld den Ausgangspunkt und Schlußpunkt der Bewegung. In der ersten Form vermittelt das Geld, in der andren umgekehrt die Ware den Gesamtverlauf. In der Zirkulation W - G - W wird das Geld schließlich in Ware verwandelt, die als Gebrauchswert dient. Das Geld ist also definitiv ausgegeben. In der umgekehrten Form G - W - G gibt der Käufer dagegen Geld aus, um als Verkäufer Geld einzunehmen. Er wirft beim Kauf der Ware Geld in die Zirkulation, um es ihr wieder zu entziehn durch den Verkauf derselben Ware. Er entläßt das Geld nur mit der hinterlistigen Absicht, seiner wieder habhaft zu werden. Es wird daher nur vorgeschossen. In der Form W - G - W wechselt dasselbe Geldstück zweimal die Stelle. Der Verkäufer erhält es vom Käufer und zahlt es weg an einen andren Verkäufer. Der Gesamtprozeß, der mit der Einnahme von Geld für Ware beginnt, schließt ab mit der Weggabe von Geld für Ware. Umgekehrt in der Form G - W - G. Nicht dasselbe Geldstück wechselt hier zweimal die Stelle, sondern dieselbe Ware. Der Käufer erhält sie aus der Hand des Verkäufers und gibt sie weg in die Hand eines andren Käufers. Wie in der einfachen Warenzirkulation der zweimalige Stellenwechsel desselben Geldstücks sein definitives Übergehn aus einer Hand in die andre bewirkt, so hier der zweimalige Stellenwechsel derselben Ware den Rückfluß des Geldes zu seinem ersten Ausgangspunkt.« (Ebenda, 162 f.) Wir kommen mit diesen Sätzen schon in die Nähe der Frage, was es mit dem Mehrwert auf sich hat. Denn wenn der Tauschprozess G - W - G darin besteht, eine Geldsumme in eine andere Geldsumme zu überführen (und nicht darin, mit Geld den spezifischen Gebrauchswert einer Ware zu erwerben, um ihn zu konsumieren), dann muss sich die zweite Geldsumme von der ersten unterscheiden - und das kann sie nur quantitativ. Marx: »Eine Geldsumme kann sich von der andren Geldsumme überhaupt nur durch ihre Größe unterscheiden. Der Prozeß G - W - G schuldet seinen Inhalt daher keinem qualitativen Unterschied seiner Extreme, denn sie sind beide Geld, sondern nur ihrer quantitativen Verschiedenheit. Schließlich wird der Zirkulation mehr Geld entzogen, als anfangs hinein- 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 171 <?page no="171"?> geworfen ward.« (Ebenda, 165) Wie dieses »mehr Geld« möglich ist und als Prozess sich vollzieht, wird uns auf den nächsten Seiten zentral beschäftigen. Doch vorher bringt Marx nochmals den Unterschied beider Zirkulationsformen auf den Punkt, um dann auf den Mehrwert zu kommen: Er schreibt: »Der Kreislauf W - G - W ist vollständig zurückgelegt, sobald der Verkauf einer Ware Geld bringt, welches der Kauf andrer Ware wieder entzieht. Erfolgt dennoch Rückfluß des Geldes zu seinem Ausgangspunkt, so nur durch die Erneuerung oder Wiederholung des ganzen Kursus. Wenn ich ein Quarter Korn verkaufe für 3 Pfd. St. und mit diesen 3 Pfd. St. Kleider kaufe, sind die 3 Pfd. St. für mich definitiv verausgabt. Ich habe nichts mehr mit ihnen zu schaffen. Sie sind des Kleiderhändlers. Verkaufe ich nun ein zweites Quarter Korn, so fließt Geld zu mir zurück, aber nicht infolge der ersten Transaktion, sondern nur infolge ihrer Wiederholung. Es entfernt sich wieder von mir, sobald ich die zweite Transaktion zu Ende führe und von neuem kaufe. In der Zirkulation W - G - W hat also die Verausgabung des Geldes nichts mit seinem Rückfluß zu schaffen. In G - W - G dagegen ist der Rückfluß des Geldes durch die Art seiner Verausgabung selbst bedingt. Ohne diesen Rückfluß ist die Operation mißglückt oder der Prozeß unterbrochen und noch nicht fertig, weil seine zweite Phase, der den Kauf ergänzende und abschließende Verkauf, fehlt. Der Kreislauf W - G - W geht aus von dem Extrem einer Ware und schließt ab mit dem Extrem einer andren Ware, die aus der Zirkulation heraus und der Konsumtion anheimfällt. Konsumtion, Befriedigung von Bedürfnissen, mit einem Wort, Gebrauchswert ist daher sein Endzweck. Der Kreislauf G - W - G geht dagegen aus von dem Extrem des Geldes und kehrt schließlich zurück zu demselben Extrem. Sein treibendes Motiv und bestimmender Zweck ist daher der Tauschwert selbst.« (Ebenda, 164) Ziel, Zweck, Grund des letztgenannten Kreislaufes ist also der Tauschwert selbst, genauer: die Realisierung des Tauschwerts als Mehrwert. Marx benennt nun diesen Prozess, ohne ihn schon zu erklären. Er kann ihn auch nicht erklären, solange er den Zirkulationsprozess der Waren im Auge hat. Denn er geht davon aus - und das ist ein Kernstück der Marx’schen Theorie, besonders der ? Werttheorie -, dass der Warentausch niemals Quelle des Mehrwerts sein kann, der Mehrwert also einer anderen Quelle entstammen muss: und das ist für ihn die Ware Arbeitsvermögen resp. Arbeitskraft in der Warenhülle namens Arbeiter. Doch wir greifen hier vor. Was also ist nun Mehrwert? 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 172 <?page no="172"?> »Die zu 100 Pfd. St. gekaufte Baumwolle wird z. B. wieder verkauft zu 100 + 10 Pfd. St. oder 110 Pfd. St. Die vollständige Form dieses Prozesses ist daher G - W - G’, wo G’ = G + D G, d. h. gleich der ursprünglich vorgeschossenen Geldsumme plus einem Inkrement. Dieses Inkrement oder den Überschuß über den ursprünglichen Wert nenne ich - Mehrwert (surplus value). Der ursprünglich vorgeschoßne Wert erhält sich daher nicht nur in der Zirkulation, sondern in ihr verändert er seine Wertgröße, setzt einen Mehrwert zu oder verwertet sich. Und diese Bewegung verwandelt ihn in Kapital.« (Ebenda, 165) Wir werden gleich noch sehen, was Mehrwert von Profit, Mehrwert von Mehrwertrate, Profit von Profitrate unterscheidet. Doch kann man nach Marx hier schon, also bei der Bestimmung des Mehrwerts, zwei zentrale Eigenschaften des gesamten Prozesses der kapitalistischen Warenproduktion und ? Wertverwertung festhalten, nämlich die Eigenschaft einer unendlichen Bewegung und die Eigenschaft einer maßlosen Verwertung, die prinzipiell keine Grenzen mehr kennt, bis auf den »tendenziellen Fall der Profitrate« - doch auch dazu später mehr. In bester systemtheoretischer Manier formuliert Marx daher: »Die einfache Warenzirkulation - der Verkauf für den Kauf - dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten, die Befriedigung von Bedürfnissen. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.« (Ebenda, 167, kursiv B. T.) 5.1.8 Die Herkunft des Mehrwerts Bevor Marx die konkrete Genese des ? Mehrwerts beschreibt, beschäftigt er sich noch mit Widersprüchen und falschen Theorien der Mehrwertgenese. Dabei hat er vor allem eine Auffassung im Visier, die wohl auch heute noch weit verbreitet ist, nämlich die, dass Mehrwert dadurch erzeugt wird, dass ein Warenverkäufer seine Ware über Wert an einen Käufer verkauft. Nehmen wir an, jemand verkauft seine Waren mit einem Preisaufschlag von 10 %. Was wäre die Folge? Marx stellt nun in seiner Antwort auf die selbstgestellte Frage seine Abstraktion um und nimmt nicht mehr einen Einzelverkauf bzw. Einzelverkäufer an, sondern das Gesamt der Warenverkäufer. Er kommt daher zum Schluss: 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 173 <?page no="173"?> »Das Ganze kommt in der Tat darauf hinaus, daß alle Warenbesitzer ihre Waren einander 10 % über dem Wert verkaufen, was durchaus dasselbe ist, als ob sie die Waren zu ihren Werten verkauften. Ein solcher allgemeiner nomineller Preisaufschlag [also schlicht die Vergrößerung der Preiszahl, also des Preises, B. T.] der Waren bringt dieselbe Wirkung hervor, als ob die Warenwerte z. B. in Silber statt in Gold geschätzt würden. Die Geldnamen, d. h. die Preise der Waren würden anschwellen, aber ihre Wertverhältnisse unverändert bleiben.« (Ebenda, 175) Es trotzdem so zu sehen, also zu denken, der Mehrwert ergebe sich dadurch, dass die Verkäufer einfach etwas auf den Preis der Ware »aufschlagen«, ist nach Marx eine erste falsche Theorie der Mehrwerterklärung. Eine weitere falsche Theorie verhält sich fast spiegelbildlich zur ersten; sie hat den Käufer im Blick. Das gleiche Resultat ergibt sich nämlich, wenn nicht der über Wert verkaufende Warenbesitzer, sondern der unter Wert Kaufende betrachtet wird: »Unterstellen wir umgekehrt, es sei das Privilegium des Käufers, die Waren unter ihrem Wert zu kaufen. Hier ist es nicht einmal nötig zu erinnern, daß der Käufer wieder Verkäufer wird. Er war Verkäufer, bevor er Käufer ward. Er hat bereits 10 % als Verkäufer verloren, bevor er 10 % als Käufer gewinnt. Alles bleibt wieder beim alten.« (Ebenda) Marx zieht daraus eine Konsequenz, die bis heute umstritten ist, vor allem bei Vertretern von Theorien der Dienstleitung, des Angebots und der Nachfrage, die den Mehrwert nicht wie Marx nur in der Arbeit selbst (Arbeitswertlehre) verorten: »Die Bildung von Mehrwert und daher die Verwandlung von Geld in Kapital, kann also weder dadurch erklärt werden, daß die Verkäufer die Waren über ihrem Werte verkaufen, noch dadurch, daß die Käufer sie unter ihrem Werte kaufen.« (Ebenda) »Es bringt uns keinen Schritt weiter, daß der Warenbesitzer unter dem Namen Produzent die Ware über ihrem Werte verkauft und unter dem Namen Konsument sie zu teuer zahlt.« (Ebenda, 176) Marx macht als häufigsten Grund für die in seinen Augen falsche Annahme, die Zirkulation resp. der Warentausch schaffe Wert, eine Verwechslung aus; und zwar die Verwechselung von Gebrauchswert und Tauschwert (ebenda, 173). Nachdem er diese Verwechslung nochmals als solche deutlich gemacht hat, kommt er auf eine erste tragfähige Problematisierung der Mehrwertgenese, die mit einer auf den ersten Blick paradoxen Formulierung endet, der wir schon öfters begegnet sind. Er schreibt also: 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 174 <?page no="174"?> »Es hat sich gezeigt, daß der Mehrwert nicht aus der Zirkulation entspringen kann, bei seiner Bildung also etwas hinter ihrem Rücken vorgehn muß, das in ihr selbst unsichtbar ist. Kann aber der Mehrwert anderswoher entspringen als aus der Zirkulation? Die Zirkulation ist die Summe aller Wechselbeziehungen der Warenbesitzer. Außerhalb derselben steht der Warenbesitzer nur noch in Beziehung zu seiner eignen Ware. Was ihren Wert angeht, beschränkt sich das Verhältnis darauf, daß sie ein nach bestimmten gesellschaftlichen Gesetzen gemessenes Quantum seiner eignen Arbeit enthält. Dies Quantum Arbeit drückt sich aus in der Wertgröße seiner Ware, und, da sich Wertgröße in Rechengeld darstellt, in einem Preise von z. B. 10 Pfd. St. Aber seine Arbeit stellt sich nicht dar im Werte der Ware und einem Überschuß über ihrem eignen Wert, nicht in einem Preise von 10, der zugleich ein Preis von 11, nicht in einem Wert, der größer als er selbst ist. Der Warenbesitzer kann durch seine Arbeit Werte bilden, aber keine sich verwertenden Werte. Er kann den Wert einer Ware erhöhn, indem er vorhandnem Wert neuen Wert durch neue Arbeit zusetzt, z. B. aus Leder Stiefel macht. Derselbe Stoff hat jetzt mehr Wert, weil er ein größeres Arbeitsquantum enthält. Der Stiefel hat daher mehr Wert als das Leder, aber der Wert des Leders ist geblieben, was er war. Er hat sich nicht verwertet, nicht während der Stiefelfabrikation einen Mehrwert angesetzt. Es ist also unmöglich, daß der Warenproduzent außerhalb der Zirkulationssphäre, ohne mit andren Warenbesitzern in Berührung zu treten, Wert verwerte und daher Geld oder Ware in Kapital verwandle. Kapital kann also nicht aus der Zirkulation entspringen, und es kann ebensowenig aus der Zirkulation nicht entspringen. Es muß zugleich in ihr und nicht in ihr entspringen.« (Ebenda, 179 f.) Es ist für das Verständnis dieser und der weiteren Problemlösungen wichtig, eine zentrale Grundannahme im Gedächtnis zu behalten, nämlich: dass der Austausch von Äquivalenten Ausgangspunkt ist für den kapitalistischen Warentausch, also der Tausch wirklich zwischen äquivalenten Werten passiert; es ist dies eine Annahme, von der Marx sagt, dass sie objektiv gegeben ist: »Die Verwandlung des Geldes in Kapital ist auf Grundlage dem Warenaustausch immanenter Gesetze zu entwickeln, so daß der Austausch von Äquivalenten als Ausgangspunkt gilt.« (Ebenda, 180, kursiv B. T.) Diese wichtige Grundannahme versucht Marx dann eigenartigerweise in einer Fußnote zu paraphrasieren. In dieser Fußnote ist eine leichte Unsicherheit der Argumentation zu vernehmen, so als sei ihm klar, dass hier noch enormer Klärungsbedarf besteht, Klärungsbedarf bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen (Durchschnitts-)Wertgröße einer Ware und (Durchschnitts-)Preis 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 175 <?page no="175"?> einer Ware, und das heißt: Klärungsbedarf bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Werterzeugung (Produktion) und Wertrealisierung (Zirkulation). Es heißt dort also: »Nach der gegebenen Auseinandersetzung versteht der Leser, daß dies nur heißt: Die Kapitalbildung muß möglich sein, auch wenn der Warenpreis gleich dem Warenwert. Sie kann nicht aus der Abweichung der Warenpreise von den Warenwerten erklärt werden. Weichen die Preise von den Werten wirklich ab, so muß man sie erst auf die letzteren reduzieren, d. h. von diesem Umstande als einem zufälligen absehn, um das Phänomen der Kapitalbildung auf Grundlage des Warenaustauschs rein vor sich zu haben und in seiner Beobachtung nicht durch störende und dem eigentlichen Verlauf fremde Nebenumstände verwirrt zu werden. Man weiß übrigens, daß diese Reduktion keineswegs eine bloß wissenschaftliche Prozedur ist. Die beständigen Oszillationen der Marktpreise, ihr Steigen und Sinken, kompensieren sich, heben sich wechselseitig auf und reduzieren sich selbst zum Durchschnittspreis als ihrer inneren Regel. Diese bildet den Leitstern z. B. des Kaufmanns oder des Industriellen in jeder Unternehmung, die längeren Zeitraum umfaßt. Er weiß also, daß, eine längere Periode im ganzen betrachtet, die Waren wirklich weder unter noch über, sondern zu ihrem Durchschnittspreis verkauft werden. Wäre interesseloses Denken also überhaupt sein Interesse, so müßte er sich das Problem der Kapitalbildung so stellen: Wie kann Kapital entstehn bei der Regelung der Preise durch den Durchschnittspreis, d. h. in letzter Instanz durch den Wert der Ware? Ich sage ›in letzter Instanz‹, weil die Durchschnittspreise nicht direkt mit den Wertgrößen der Waren zusammenfallen, wie A. Smith, Ricardo usw. glauben.« (Ebenda, 180 f.) Die Unsicherheit in diesem Zitat drückt sich darin aus, dass Marx zwar an seiner grundlegenden These festhält, dass sich die Waren mit ihrem wirklichen Warenwert auf dem Tauschmarkt begegnen; dass es aber fast ein Sonderfall ist, wenn der wirkliche Warenwert im Warenpreis sich ausdrückt. Marx weiß also, dass in der Praxis Warenwert und Warenpreis voneinander abweichen - doch er hält trotz Bedenken daran fest, dass »in letzter Instanz« es der Wert der Ware ist, der den Durchschnittspreis der Ware regelt. Wir sind nun an die Stelle gekommen, an der es unausweichlich wird, eine Antwort auf die Frage zu finden, wo nun die Quelle des Mehrwerts zu finden ist. Marx hat festgestellt, • dass die Wertveränderung des Geldes nicht an diesem Geld selbst vorgehen kann, etwa durch einfache Veränderung des Preises in Form eines Aufschlags; 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 176 <?page no="176"?> • dass die Wertveränderung aber auch nicht aus dem zweiten Zirkulationsakt, dem Wiederverkauf der Ware, entspringen kann, denn dieser Akt verwandelt die Ware bloß aus der Naturalform zurück in die Geldform. Was bleibt? »Die Veränderung muß sich also zutragen mit der Ware, die im ersten Akt G - W gekauft wird, aber nicht mit ihrem Wert, denn es werden Äquivalente ausgetauscht, die Ware wird zu ihrem Werte bezahlt.« (Ebenda, 181) Es muss also eine Ware kaufbar sein, deren ? Tauschwert ganz korrekt bezahlt wird, und die dennoch einen ? Gebrauchswert besitzt, der mehr wert ist als ihr Tauschwert. 5.1.9 Die Ware Arbeitskraft Für Marx gibt es nur eine Ware, »deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung. Und der Geldbesitzer findet auf dem Markt eine solche spezifische Ware vor - das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft.« (Ebenda) Marx stellt nach dieser leicht ironischen Sentenz sofort eine Definition anbei: »Unter Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen verstehen wir den Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert.« (Ebenda) Die Bestimmung der Arbeitskraft als die Quelle von Wert, die mehr Wert schafft, als sie selbst hat - das ist gewissermaßen das Basislager, von dem aus Marx dann zu den äußerst feingliedrigen, komplizierten und komplexen Schichten und Begriffe der Anatomie der kapitalistischen Bewegungsgesetze aufbricht, auf die wir gleich kommen werden. Nochmals: Der Wert der Ware Arbeitskraft (das ist der Lohn, der gezahlt werden muss, damit der Arbeitende seine Arbeitskraft materiell, psychisch, kulturell und sozial reproduzieren, also erhalten kann) 64 , den der Warenkäufer bezahlt, ist in der Regel strukturell geringer als der Wert, den die Arbeitskraft in der Herstellung/ Bearbeitung von Gebrauchswerten, also von Produkten, Dienstleistungen, Waren schafft. Mehr noch: Der Wert der Arbeitskraft und ihre Verwertung im Arbeitsprozess sind zwei verschiedene Größen. Wir werden gleich darauf zurückkommen. Festzuhalten ist: Für Marx ist der Gebrauchwert der Arbeitskraft die Quelle des Mehrwerts. Wichtig zu verstehen ist hier die Zweiteilung der Ware Arbeitskraft in die schon bekannten Teile Gebrauchswert und Tauschwert. Der Tauschwert der Arbeitskraft ist die eine Seite; der Geldbesitzer kauft eine Arbeitskraft zum Preis von - sagen wir - 2000 Euro pro Monat. Nehmen wir vereinfachend an, dass die Arbeitskraft 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 177 <?page no="177"?> zwei Wochen Arbeitszeit braucht, um Waren zu erzeugen, die genau diesem Wert entsprechen. Mit Beginn der dritten Woche beginnt, jetzt idealtypisch gesprochen, faktisch der Gebrauchswert der Arbeitskraft für den Geldbesitzer; denn all die Werte, die die Arbeitskraft in den noch kommenden zwei Wochen schafft, sind Werte, für die der Geldbesitzer nicht gezahlt hat. Er hat nur den ? Tauschwert der Arbeitskraftware, nicht ihren ? Gebrauchswert bezahlt. Die Arbeitskraft leistet also de facto unbezahlte Arbeit für den Kapitalisten, obgleich der Kapitalist die Ware Arbeitskraft zu ihrem »richtigen« ? Wert gekauft hat, d. h. den korrekten Preis für den Tauschwert der Arbeitskraftware bezahlt hat. Wie wir bereits wissen, bemisst sich der Wert einer Ware nach der gesellschaftlich notwendigen durchschnittlichen Arbeitszeit, die benötigt wird, um diese zu produzieren resp. zu reproduzieren. Da die Ware Arbeitskraft nur in der Hülle eines »lebendigen Individuums« (ebenda, 185) zu haben ist, »besteht die Produktion der Arbeitskraft in seiner eignen Reproduktion oder Erhaltung. Zu seiner Erhaltung bedarf das lebendige Individuum einer gewissen Summe von Lebensmitteln. Die zur Produktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit löst sich also auf in die zur Produktion dieser Lebensmittel notwendige Arbeitszeit, oder der Wert der Arbeitskraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel.« (Ebenda) Der Tauschwert der Arbeitskraft, also der Lohn, der dem Wert derjenigen Mittel und Lebensmittel entspricht, die ausreichen, damit sich die Arbeitskraft erhalten, reproduzieren kann, ist nach Marx in seltenen Fällen gleich groß, in der Regel aber kleiner als der Wert, den die Ware Arbeitskraft durch die Arbeitsverausgabung erzeugt, also durch ihre Eigenschaft als Ware mit Gebrauchswert. Zu Recht weisen deshalb Flechtheim und Lohmann darauf hin, dass für Marx das Geheimnis des Mehrwerts in der wechselseitigen Gleichgültigkeit von Tauschwert und Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft beschlossen liegt (1991, 97). Dieser Basisvorgang sowie die Beschreibung dieses Vorgangs fußen auf bestimmten Bedingungen, die erfüllt sein müssen - Bedingungen historischer und »marktpraktischer« Art, aber auch Bedingungen, die die Frage betreffen, wie dieser Vorgang überhaupt logisch und systematisch dargestellt werden kann. Marx setzt also voraus, • dass der Geldbesitzer die Arbeitskraft als Ware auf dem Markt vorfindet; • dass die Arbeitskraft als Ware nur auf dem Markt erscheinen kann, sofern und weil sie von ihrem eignen Besitzer, der Person, deren Arbeitskraft sie ist, als Ware feilgeboten oder verkauft wird; d. h.: • dass ihr Besitzer freier Eigentümer seines Arbeitsvermögens, seiner Person, seiner Ware sein und über sie verfügen können muss; 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 178 <?page no="178"?> • dass sich Arbeitskraftbesitzer und Geldbesitzer auf dem Markt begegnen und als ebenbürtige Warenbesitzer in Verhältnis zueinander treten, beide also juristisch gleiche Personen sind; • dass der Eigentümer der Arbeitskraft sie stets nur für bestimmte Zeit verkauft; • dass derjenige, der Waren (aber nicht seine Arbeitskraft) verkauft, im Besitz von Produktionsmitteln sein muss; • dass er über genügend Ressourcen verfügen muss, um die Zeit der Produktion und die Zeit des Warenverkaufs zu »überstehen«. Die Frage betreffend, wie diese einzelnen Elemente logisch dargestellt werden können und als ein »Ganzes« beschreibbar sind, hält Marx daran fest, • dass die Frage, warum der Arbeitskraftbesitzer dem Geldbesitzer in der Zirkulationssphäre gegenübertritt, theoretisch nicht von Interesse ist; • dass jedoch die Aufteilung von Geld- oder Warenbesitzern auf der einen und von bloßen Besitzern der eignen Arbeitskraft auf der anderen Seite kein naturgeschichtliches und ebenso kein allgemeingesellschaftliches Verhältnis ist, das allen Geschichtsperioden gemein wäre; • dass die Darstellung des Produkts als Ware eine weit entwickelte Teilung der Arbeit innerhalb der Gesellschaft bedingt (dass also eine unübersehbare Anzahl hochorganisierter Betriebe und Arbeitsprozesse für Kleidung, für Baustoffe, für Maschinen usw. besteht, die alle hochspezialisiert und gleichzeitig für die Massenproduktion ausgerichtet sind). Diese Teilung ist so weit vorangeschritten, dass die Scheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, die im unmittelbaren Tauschhandel erst beginnt, bereits als vollzogen zu betrachten ist, und dass die historischen Existenzbedingungen des Kapitals nicht automatisch durch Waren- und Geldzirkulation gegeben sind, sondern erst da entstehen, wo der Besitzer von Produktions- und Lebensmitteln den freien Arbeiter als Verkäufer seiner Arbeitskraft auf dem Markt vorfindet; diese »eine historische Bedingung umschließt eine Weltgeschichte. Das Kapital kündigt daher von vornherein eine Epoche des gesellschaftlichen Produktionsprozesses an« (ebenda, 184), dem Marx im 24. Kapitel zur sogenannten ? ursprünglichen Akkumulation nachgeht (das wir bereits kurz angerissen haben). Wie ist es also abschließend zu verstehen, dass die Ware Arbeitskraft die Quelle des Mehrwerts darstellt, eben weil sie sich als Ware in Gebrauchswert und Tauschwert aufteilt und dann unterschiedlich adressiert wird, also mal in der einen, mal in der anderen Wertform wirtschaftlich eingesetzt wird? Marx gibt dafür nochmals ein illustratives Beispiel: Er geht von einer bestimmten Warenmasse aus, die eine Arbeitskraft benötigt, um sich übers Jahr hinweg zu erhalten. Er teilt diese Masse resp. die Summe der Ausgaben für diese Masse durch 365 Tage, um als Einheit den täglichen Durchschnitt der nötigen Warenmasse zu erhalten. Er fährt dann fort: 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 179 <?page no="179"?> »Gesetzt, in dieser für den Durchschnittstag nötigen Warenmasse steckten 6 Stunden gesellschaftlicher Arbeit, so vergegenständlicht sich in der Arbeitskraft täglich ein halber Tag gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit, oder ein halber Arbeitstag ist zur täglichen Produktion der Arbeitskraft erheischt. Dies zu ihrer täglichen Produktion erheischte Arbeitsquantum bildet den Tageswert der Arbeitskraft oder den Wert der täglich reproduzierten Arbeitskraft. Wenn sich ein halber Tag gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit ebenfalls in einer Goldmasse von 3 sh. oder einem Taler darstellt, so ist ein Taler der dem Tageswert der Arbeitskraft entsprechende Preis. Bietet der Besitzer der Arbeitskraft sie feil für einen Taler täglich, so ist ihr Verkaufspreis gleich ihrem Wert und, nach unsrer Voraussetzung, zahlt der auf Verwandlung seiner Taler in Kapital erpichte Geldbesitzer diesen Wert.« (Ebenda, 186 f.) Mit Beginn der 7. Stunde beginnt also die Ware Arbeitskraft, als Gebrauchswert für den Käufer zu fungieren; und sein ? Gebrauchswert besteht darin, ? Mehrwert zu schaffen. Doch Marx macht hier darauf aufmerksam, dass es sich so nur unter der Voraussetzung einer »reinen Auffassung des Verhältnisses« verhält, sprich: abgesehen von allen faktisch abweichenden, regional unterschiedlichen Größen und störenden Einflüssen, die in der empirischen Alltagswelt ja reichlich vorhanden sind; denn in Wirklichkeit verhält es sich nach Marx so, dass der Arbeitskraftbesitzer erst bezahlt wird, nachdem er als Gebrauchswert verdinglicht, d. h. auf die Funktion einer Mehrwert produzierenden menschlichen Ware reduziert wurde. Abschließend dazu Marx: »In allen Ländern kapitalistischer Produktionsweise wird die Arbeitskraft erst gezahlt, nachdem sie bereits während des im Kaufkontrakt festgesetzten Termins funktioniert hat, z. B. am Ende jeder Woche. Überall schießt daher der Arbeiter dem Kapitalisten den Gebrauchswert der Arbeitskraft vor; er läßt sie vom Käufer konsumieren, bevor er ihren Preis bezahlt erhält, überall kreditiert daher der Arbeiter dem Kapitalisten. […] Indes ändert es an der Natur des Warenaustausches selbst nichts, ob das Geld als Kaufmittel oder als Zahlungsmittel funktioniert. Der Preis der Arbeitskraft ist kontraktlich festgesetzt, obgleich er erst hinterher realisiert wird, wie der Mietpreis eines Hauses. Die Arbeitskraft ist verkauft, obgleich sie erst hinterher bezahlt wird. Für die reine Auffassung des Verhältnisses ist es jedoch nützlich, einstweilen vorauszusetzen, daß der Besitzer der Arbeitskraft mit ihrem Verkauf jedesmal auch sogleich den kontraktlich stipulierten Preis erhält.« (Ebenda, 188) 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 180 <?page no="180"?> Durch diese Analyse des Mehrwerts und die dabei zutage kommende Position des Arbeitskraftbesitzers wie des Geldbesitzers unterscheidet sich Marx von vielen gleichsam sozialistisch inspirierten Kapitalismus-Kritikern. Denn er zeigt hier, dass die sogenannte Ausbeutung des Arbeiters nicht auf einer »inhumanen Tat« beruht, nicht einem »bösen« Willen entspringt, nichts mit Betrug und dergleichen zu tun hat, nicht in den verschiedenen Erscheinungsformen des ? Mehrwertes - Grundrente, Profit und Zins - ihren tieferen Grund hat, sondern Resultat einer inneren, normalen, unspektakulären und selbstverständlichen Logik des kapitalistischen Produzierens ist; Resultat einer Logik, die juristisch die völlige Gleichheit und Freiheit von Arbeitskraftbesitzer und Geldbesitzer durchzusetzen vermochte, weil für sie selbstverständlich war, dass Menschen (Arbeiter) marktgesellschaftlich als Waren zu adressieren sind. Das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit erscheint nunmehr als reine Prozedur eines Warenaustausches, in dem jeder, Käufer wie Verkäufer, das Recht hat, sein Eigentumsrecht zu behaupten (ebenda, 249). 5.1.10 Der Arbeitsprozess im Kapitalismus Die im Eigentumsrecht begründete völlige Freiheit, mit der gekauften Ware zu machen, was im eigenen Interesse steht, drückt sich im Fall der Ware Arbeitskraft besonders darin aus, dass ihr Käufer nicht nur die Arbeitskraft erworben hat, sondern auch die Bestimmungshoheit über die Arbeitszeit. Die einzige Grenze, die ihm hier gegeben ist, liegt in der physischen Beeinträchtigung und Zerstörung der »Ware« durch Erschöpfung und gesundheitlichen Raubbau. 65 Marx macht denn auch am Komplex Arbeitszeit eine entscheidende Kampflinie zwischen Kapitalisten und Arbeiter aus, eine Kampflinie, die bis in die heutige Zeit strukturell nichts an Widerspruchspotenzial verloren hat: »Der Kapitalist behauptet sein Recht als Käufer, wenn er den Arbeitstag so lang als möglich und womöglich aus einem Arbeitstag zwei zu machen sucht. Andrerseits schließt die spezifische Natur der verkauften Ware eine Schranke ihres Konsums durch den Käufer ein, und der Arbeiter behauptet sein Recht als Verkäufer, wenn er den Arbeitstag auf eine bestimmte Normalgröße beschränken will. Es findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt. Zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt. Und so stellt sich in der Geschichte der kapitalistischen Produktion die Normierung des Arbeitstags als Kampf um die Schranken des Arbeitstags dar - ein Kampf [66] zwischen 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 181 <?page no="181"?> dem Gesamtkapitalisten, d. h. der Klasse der Kapitalisten, und dem Gesamtarbeiter, oder der [ ? ] Arbeiterklasse.« (Ebenda, 249) Doch wir greifen vor. Marx ist nun, mit der Betrachtung des Arbeitsprozesses im Kapitalismus, darstellungslogisch in eine andere Ebene hineingekommen. Bislang galten die Analysen den Oberflächenphänomenen kapitalistischer Essenzen, also den Formen, in denen der »Grundriss« und die innere Logik des kapitalistischen Wirtschaftens sichtbar gemacht werden können - und denen er dann auch systematisch, idealtypisch, zum Zwecke der Anschauung in »reiner« Form nachgegangen ist. Jetzt tritt Marx mit seiner Analyse in das real existierende Feld kapitalistischer Normalität ein. Und hier stellt sich sofort die Frage, was das Spezifische des Arbeitsprozesses im Kapitalismus im Vergleich zu den Formen der Arbeit und des Arbeitsprozesses vorkapitalistischer Zeiten ist. Denn auch in diesen Zeiten wurden Menschen ausgebeutet, wurde Mehrarbeit, Frondienst geleistet, gab es Arbeitssklaven. Es scheint daher nicht recht einsichtig, warum die folgenden zwei »eigentümliche[n] Phänomene« des Arbeitsprozesses einen Unterschied markieren, der tatsächlich auch einen Unterschied macht, nämlich: 1. »Der Arbeiter arbeitet unter der Kontrolle des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört. Der Kapitalist paßt auf, daß die Arbeit ordentlich vonstatten geht und die Produktionsmittel zweckmäßig verwandt werden, also kein Rohmaterial vergeudet und das Arbeitsinstrument geschont, d. h. nur so weit zerstört wird, als sein Gebrauch in der Arbeit ernötigt«; und 2. »Das Produkt ist Eigentum des Kapitalisten, nicht des unmittelbaren Produzenten, des Arbeiters.« (Ebenda, 199 f.) Das kann offensichtlich nicht das Besondere der kapitalistisch organisierten Arbeit gegenüber vorkapitalistischer Arbeitsorganisation sein. Weil dem so ist, ergänzt Marx die Betrachtung des Arbeitsprozesses um die Betrachtung des Verwertungsprozesses der Arbeit- wobei er beide Prozesse nur analytisch trennt, denn sie bilden eine Einheit, so wie ? Gebrauchswert und ? Tauschwert ihre Einheit in der Ware finden. Was will nun der Kapitalist unter dem Aspekt der Verwertung mit dem Arbeitsprozess erreichen? »Erstens will er einen Gebrauchswert produzieren, der einen Tauschwert hat, einen zum Verkauf bestimmten Artikel, eine Ware. Und zweitens will er eine Ware produzieren, deren Wert höher als die Wertsumme der zu ihrer Produktion erheischten Waren, der Produktionsmittel und der Arbeitskraft, für die er sein gutes Geld auf dem Warenmarkt vorschoß. Er will nicht nur einen Gebrauchswert produzieren, sondern eine Ware, nicht nur Gebrauchswert, sondern Wert, und nicht nur Wert, sondern auch Mehrwert.« (Ebenda, 201) 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 182 <?page no="182"?> Das führt nun in abstrakter Formulierung zu folgender Beschreibung des Warenproduktionsprozesses: »Als Einheit von Arbeitsprozeß und Wertbildungsprozeß ist der Produktionsprozeß Produktionsprozeß von Waren; als Einheit von Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß ist er kapitalistischer Produktionsprozeß, kapitalistische Form der Warenproduktion.« (Ebenda, 211) Und exakt diese Vereinheitlichungstendenz, die zugleich Vermischungstendenz ist, führt dazu, dass die notwendige Arbeit nicht mehr recht von der Mehrarbeit (»surplus labour«) zu unterscheiden ist.* * Das Nicht-mehr-Unterscheiden von notweniger ? Arbeit und Mehrarbeit gilt Marx nur für die Erscheinungsebene. Genetisch bzw. analytisch macht dieser Unterschied gerade die Bestimmung der Mehrwertrate aus: »Die Rate des Mehrwerts wird, wenn alle andern Umstände gleichbleiben, abhängen von der Proportion zwischen dem zur Reproduktion des Werts der Arbeitskraft notwendigen Teil des Arbeitstags und der für den Kapitalisten verrichteten Mehrarbeitszeit oder Mehrarbeit. Sie wird daher abhängen von dem Verhältnis, worin der Arbeitstag über die Zeitspanne hinaus verlängert ist, in der der Arbeiter durch seine Arbeit nur den Wert seiner Arbeitskraft reproduzieren oder seinen Arbeitslohn ersetzen würde.« (Marx, Lohn, Preis, Profit, MEW, Bd. 16, 134) Es ist jetzt so, als ob mit dem Lohn für den Tauschwert der Ware Arbeitskraft auch deren Gebrauchswert als Schöpfer von Mehrwert mitbezahlt wird. Marx kommt nun auf das Spezifische des kapitalistischen Arbeitsprozesses im Vergleich zu anderen, früheren Formen der Arbeitsorganisation und -formation zu sprechen. Er beschreibt die Mystifizierung des Arbeitsprozesses durch die Unsichtbarwerdung der beiden Wertformen der Arbeitskraft so: »Die Form des Arbeitslohns löscht also jede Spur der Teilung des Arbeitstags in notwendige Arbeit und Mehrarbeit, in bezahlte und unbezahlte Arbeit aus. Alle Arbeit erscheint als bezahlte Arbeit. Bei der Fronarbeit unterscheiden sich räumlich und zeitlich, handgreiflich sinnlich, die Arbeit des Fröners für sich selbst und seine Zwangsarbeit für den Grundherrn. Bei der Sklavenarbeit erscheint selbst der Teil des Arbeitstags, worin der Sklave nur den Wert seiner eignen Lebensmittel ersetzt, den er in der Tat also für sich selbst arbeitet, als Arbeit für seinen Meister. Alle seine Arbeit erscheint als unbezahlte Arbeit. Bei der Lohnarbeit erscheint umgekehrt selbst die Mehrarbeit oder unbezahlte Arbeit als bezahlt. Dort verbirgt das Eigentumsverhältnis das Fürsichselbstarbeiten des Sklaven, hier das Geldverhältnis das Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters.« (Ebenda, 562) Oder anders: »Auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Lohn des Arbeiters als Preis der Arbeit, ein bestimmtes Quantum Geld, das für ein 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 183 <?page no="183"?> bestimmtes Quantum Arbeit gezahlt wird« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 557); will sagen: Es entsteht die Illusion, als ob nicht der Wert der Arbeitskraft bezahlt würde, sondern der Wert der Arbeit! Als das Spezifische des Kapitalismus im Vergleich zu anderen Produktionsweisen macht Marx also diese bestimmte Form der Ausbeutung der Arbeitskraft als Unterschied aus, der einen Unterschied macht, also die Art und Weise, wie Mehrarbeit zum Nutzen des Besitzers akquiriert wird - wobei in derjenigen Gesellschaft, in der für die meisten Menschen Lohnarbeit die einzige Art ist, ihr Leben zu fristen, dieser Prozess abstrakt und unsichtbar ist. Marx: »Nur die Form, worin diese Mehrarbeit dem unmittelbaren Produzenten, dem Arbeiter, abgepreßt wird, unterscheidet die ökonomischen Gesellschaftsformationen, z. B. die Gesellschaft der Sklaverei von der der Lohnarbeit.« (Ebenda, 231) Lakonisch heißt es schließlich: »Das Geheimnis von der Selbstverwertung des Kapitals löst sich auf in seine Verfügung über ein bestimmtes Quantum unbezahlter fremder Arbeit.« (Ebenda, 556) 5.1.11 Absoluter und relativer Mehrwert Die unbezahlte Mehrarbeit des Arbeiters ist also die Quelle des ? Mehrwerts - eines Mehrwerts, der noch realisiert werden muss, um Profit zu werden (dazu später). Der Kapitalist kann den Arbeits- und Produktionsprozess, in dem die Ware Arbeitskraft mit den Produktionsmitteln (wie Rohstoffen und Maschinen) Waren produziert, um Mehrwert zu erzeugen (besser: erzeugen zu lassen), folgendermaßen organisieren, durch • Extensivierung der Arbeit(szeit) - dies korreliert mit der formellen Subsumtion der Arbeit unters Kapital (dazu gleich mehr); und durch • Intensivierung der Arbeit(szeit) - dies korreliert mit der reellen Subsumtion der Arbeit unters Kapital (auch dazu gleich mehr). Die Extensivierung der Arbeit bedeutet nichts anders als die möglichst weitgehende Ausnutzung der Arbeitskraft über diejenige Zeitspanne hinweg, »in der der Arbeiter durch seine Arbeit nur den Wert seiner Arbeitskraft« reproduziert »oder seinen Arbeitslohn« ersetzt (nochmals Marx, Lohn, Preis, Profit, MEW Bd. 16, 134). Je mehr Stunden der Arbeiter pro Tag arbeitet, d. h., je länger der Arbeitstag, so Marx, desto mehr Mehrwert kann er produzieren - natürlich unter der Voraussetzung einer gesellschaftlich durchschnittlichen Arbeitsleistung, die noch nicht durch die Intensivierung der Arbeitsleistung (Produktivität) gekennzeichnet ist. Diese Art des Arbeitskrafteinsatzes, der zum absoluten Mehrwert führt (d. h. zum maximal möglichen Wertzuwachs des Kapitals innerhalb einer möglichen oder vertraglich festgelegten Arbeitszeit), besitzt jedoch, trotz seiner prinzipiellen 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 184 <?page no="184"?> Unbestimmtheit, drei Schanken oder Grenzen. Die eine Grenze wird nach unten hin bestimmt durch die notwendige Arbeitszeit, also durch den Teil des Tages, den der Arbeiter notwendig zu seiner Selbsterhaltung arbeiten muss. Diese Zeit kann nicht unterschritten werden und fällt als Mehrwerterzeugungszeit aus. Die beiden anderen Grenzen, die Maximumschranken, sind die physische Schranke und die moralische Schranke. Die physische Schranke wird bestimmt durch die Endlichkeit der pro Tag möglichen Verausgabung des Arbeiters, also durch die Endlichkeit der Lebenskraft, die sich als Arbeit ausdrücken muss. Für die moralische Schranke führt Marx an: »Außer dieser rein physischen Schranke stößt die Verlängrung des Arbeitstags auf moralische Schranken. Der Arbeiter braucht Zeit zur Befriedigung geistiger und sozialer Bedürfnisse, deren Umfang und Zahl durch den allgemeinen Kulturzustand bestimmt sind. Die Variation des Arbeitstags bewegt sich daher innerhalb physischer und sozialer Schranken. Beide Schranken sind aber sehr elastischer Natur und erlauben den größten Spielraum. So finden wir Arbeitstage von 8, 10, 12, 14, 16, 18 Stunden, also von der verschiedensten Länge.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 247) Marx beschreibt nun im achten Kapitel von Das Kapital (MEW, Bd. 23; siehe auch das 13. Kapitel) ausführlich die englischen Verhältnisse des Arbeitstages, die Zwangsgesetze zur Verlängerung des Arbeitstages, die zwangsgesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit sowie den Kampf um den Normalarbeitstag, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf 10 Stunden Dauer festgelegt und halbherzig staatlich überwacht wurde. Wenn als Folge staatlicher Maßnahmen, der Erfolge der Arbeiterbewegung und allgemeiner zivilgesellschaftlicher Errungenschaften (etwa: Ächtung und Verbot der Kinderarbeit, wenn auch sehr spät) der Verlängerung des Arbeitstages Grenzen gesetzt sind: Welche Möglichkeit bleibt dann dem Kapitalbesitzer noch, um seine Mehrwertproduktion zu steigern? Ganz einfach: Er muss die Aufteilung des Arbeitstages, der aus notwendiger Arbeit und Mehrarbeit besteht, verändern - und zwar zugunsten der Mehrarbeit. Er muss also den Anteil der Arbeitszeit für die notwendige Arbeit drücken, um den Anteil der Arbeitszeit für den Mehrwert zu erhöhen. Damit beginnt nun die Produktion des relativen Mehrwerts (das meint: ein trotz gleichbleibender Arbeitszeit möglicher Wertzuwachs, der nicht herrührt aus der Verlängerung der Mehrarbeit, sondern aus der Verringerung der notwendigen Arbeitszeit, in der sich der Arbeiter reproduziert); für Marx heißt dies, dass damit diejenige Form von Kapitalverwertung beginnt, die der kapitalistischen Produk- 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 185 <?page no="185"?> tionsweise wirklich entspricht, also der entfalteten industriellen Produktionsweise. Gilt die Kapitalverwertung in Gestalt des absoluten Mehrwerts maßgebend für die Zeit bis hinein in die 20er und 30er Jahre des 19. Jahrhunderts, so ist die Kapitalverwertung in Gestalt des relativen Mehrwerts spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts die hegemoniale Form* - mit der Konsequenz, dass technisch, wissenschaftlich, organisatorisch eine Dynamik der Veränderungen, der Rationalisierungen, der Erfindungen in Gang gesetzt wurde, die historisch singulär geblieben ist; und die heute weiterhin unvermindert anhält. * Es gilt hier wieder zu berücksichtigen, dass diese historische Korrelation der absoluten und relativen Mehrwertproduktion geschichtswissenschaftlich auf sehr schwachen Füßen steht. Man tut also gut daran, alle diesbezüglichen Aussagen und »Nahelegungen« Marxens immer unter der Vorgabe zu lesen, dass es ihm (außer im schon vorgestellten 24. Kapitel) zuvörderst darum zu tun ist, begrifflich-systematisch-theoretisch die Strukturen und Elemente der kapitalistischen Produktionsweise darzustellen. Diese Dynamik, getrieben vom »Heißhunger nach Mehrarbeit« (ebenda, 249), besitzt operativ zwei Faktoren, die dafür sorgen, dass sich der Prozess auf Dauer stellt, also im wahrsten Sinne des Wortes eigendynamisch wird: den extrinsischen, von außen her anregenden Faktor Konkurrenz sowie den intrinsischen, von innen her motivierenden Faktor Produktivitätssteigerungszwang. Doch zurück zum relativen Mehrwert. Besteht die absolute Mehrwertproduktion in der Vergrößerung der Mehrarbeit (etwa bis hin zu einem Arbeitstag von 18 Stunden), so besteht die relative Mehrwertproduktion in der Verringerung des Anteils der notwendigen Arbeitszeit, und das heißt: in der Verringerung des Werts der Ware Arbeitskraft. Nun könnte man sagen: Der einfachste Weg, die Arbeitskraftware zu entwerten, also zu verbilligen, ist, den Lohn zu drücken bzw. weniger Lohn zu zahlen, als die Ware Arbeitskraft tatsächlich kostet. Marx gesteht, dass dies in der kapitalistischen Normalität nichts Ungewöhnliches ist, doch ihm geht es - wieder sei es gesagt - um eine idealtypische Betrachtung; er geht also weiterhin von der »Voraussetzung« (ebenda, 333) aus, dass die Arbeitskraft zu ihrem äquivalenten Wert vom Kapitalisten gekauft wird. Wodurch wird dann aber mehr Mehrwert geschaffen, wenn Arbeitszeiterhöhung und Lohndumping als Möglichkeiten ausfallen? Marx illustriert: »Der Wert der Arbeitskraft, d. h. die zu ihrer Produktion erheischte Arbeitszeit, bestimmt die zur Reproduktion ihres Werts notwendige Arbeitszeit. Stellt sich eine Arbeitsstunde in einem Goldquantum von einem halben Shilling oder 6 d. [d. steht für Pence; 12 Pence = 1 Shilling, B. T.] dar, und 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 186 <?page no="186"?> beträgt der Tageswert der Arbeitskraft 5 sh., so muß der Arbeiter täglich 10 Stunden arbeiten, um den ihm vom Kapital gezahlten Tageswert seiner Arbeitskraft zu ersetzen oder ein Äquivalent für den Wert seiner notwendigen täglichen Lebensmittel zu produzieren. Mit dem Wert dieser Lebensmittel ist der Wert seiner Arbeitskraft, mit dem Wert seiner Arbeitskraft ist die Größe seiner notwendigen Arbeitszeit gegeben. Die Größe der Mehrarbeit aber wird erhalten durch Subtraktion der notwendigen Arbeitszeit vom Gesamtarbeitstag. Zehn Stunden subtrahiert von zwölf lassen zwei, und es ist nicht abzusehn, wie die Mehrarbeit unter den gegebnen Bedingungen über zwei Stunden hinaus verlängert werden kann. Allerdings mag der Kapitalist statt 5 sh. dem Arbeiter nur 4 sh. 6 d. oder noch weniger zahlen. Zur Reproduktion dieses Werts von 4 sh. 6 d. würden 9 Arbeitsstunden genügen, von dem zwölfstündigen Arbeitstag daher 3 statt 2 Stunden der Mehrarbeit anheimfallen und der Mehrwert selbst von 1 sh. auf 1 sh, 6 d. steigen. Dies Resultat wäre jedoch nur erzielt durch Herabdrückung des Lohns des Arbeiters unter den Wert seiner Arbeitskraft. Mit den 4 sh. 6 d., die er in 9 Stunden produziert, verfügt er über 1/ 10 weniger Lebensmittel als vorher, und so findet nur eine verkümmerte Reproduktion seiner Arbeitskraft statt. Die Mehrarbeit würde hier nur verlängert durch Überschreitung ihrer normalen Grenzen, ihre Domäne nur ausgedehnt durch usurpatorischen Abbruch von der Domäne der notwendigen Arbeitszeit. Trotz der wichtigen Rolle, welche diese Methode in der wirklichen Bewegung des Arbeitslohnes spielt, ist sie hier ausgeschlossen durch die Voraussetzung, daß die Waren, also auch die Arbeitskraft, zu ihrem vollen Wert gekauft und verkauft werden. Dies einmal unterstellt, kann die zur Produktion der Arbeitskraft oder zur Reproduktion ihres Werts notwendige Arbeitszeit nicht abnehmen, weil der Lohn des Arbeiters unter den Wert seiner Arbeitskraft, sondern nur wenn dieser Wert selbst sinkt. Bei gegebner Länge des Arbeitstags muß die Verlängrung der Mehrarbeit aus der Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit entspringen, nicht umgekehrt die Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit aus der Verlängrung der Mehrarbeit. In unsrem Beispiel muß der Wert der Arbeitskraft wirklich um 1/ 10 sinken, damit die notwendige Arbeitszeit um 1/ 10 abnehme, von 10 auf 9 Stunden, und daher die Mehrarbeit sich von 2 auf 3 Stunden verlängre. Eine solche Senkung des Werts der Arbeitskraft um 1/ 10 bedingt aber ihrerseits, daß dieselbe Masse Lebensmittel, die früher in 10, jetzt in 9 Stunden produziert wird. Dies ist jedoch unmöglich ohne eine Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit.« (Ebenda, 332 f.) 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 187 <?page no="187"?> Diese Produktivkrafterhöhung lässt sich im Kern dadurch beschreiben, dass eine Veränderung im Arbeitsprozess eingeführt wird, die dazu führt, dass die zur Produktion einer Ware gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit 67 verkürzt wird, und das bedeutet, dass ein kleineres Quantum Arbeit die Kraft erwirbt, ein größres Quantum Gebrauchswert zu produzieren (ebenda). In dieser relativ einfachen Beschreibung steckt, nochmals gesagt, die Explosionskraft der kapitalistischen Dynamik: Von hier aus beginnt die Radikalisierung der Arbeitsteilung, die Rationalisierung der Arbeitsschritte, der Arbeitsmittel, der Arbeitsorganisation, die Verwissenschaftlichung und Technologisierung der Produktion, die Ausrichtung der Produktion auf Massenproduktion, kurz: die exponentielle Kurve technischer, wissenschaftlicher und ökonomischer Veränderungen des Lebens, des Arbeitens, der sozialen Organisation von Menschen (auch verharmlosend Wachstumszwang genannt), die gemeinhin als industrielles System kapitalistischer Produktion bezeichnet werden. Aber es beginnt hier auch schon keimhaft, was Marx später (wir kommen bald darauf ) im Begriff des tendenziellen Falls der Profitrate einzufangen sucht: nämlich die diesem System innerliche Tendenz, die eigene Wertquelle - das ist die Mehrwert erzeugende Mehrarbeit der Ware Arbeitskraft - systematisch zu verringern. Die Wertminderung der Arbeitskraftware durch Erhöhung der Arbeitsproduktivität sei, so Marx, in letzter Instanz einer der zentralen »Totengräber« des kapitalistischen Systems in seiner politökonomischen Dimension, dem Sachverhalt vergleichbar, dass das »Bourgeoisregime« in der politökonomischen Dimension mit dem Proletariat »seine eignen Totengräber produziert« hat. (Marx/ Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW, Bd. 22, 366) - Wir kommen bald darauf zu sprechen. Doch vorher und der Vollständigkeit halber sei kurz erläutert, was es mit der Unterscheidung formelle versus reelle Subsumtion der Arbeit unter das ? Kapital auf sich hat - eine der wenigen von Marx’ Unterscheidungen, die auch im heutigen, nicht nur marxistisch orientierten akademischen Diskurs der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften weiterhin sehr präsent ist. 5.1.12 Formelle und reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital Weiter vorne im Text wurde bereits eine erste kurze Umschreibung dieser Unterscheidung erwähnt: Formell subsumiert ist etwa die Arbeit von Bauern unter das Handelskapital, solange die konkrete Produktionsform des Anbaus, die Bewässerungstechnik, die Arbeitsorganisation etc. sich noch nicht geändert hat; reell subsumiert ist eine Arbeit erst dann, wenn das Kapital die Organisation der Produk- 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 188 <?page no="188"?> tion selbst übernommen hat und ständig technische, organisatorische und materiale Veränderungen der Produktion bewirkt - also die konkrete Wirklichkeit des Anbaus, die Art des Samens und Säens, die zu erzielende Menge etc. bestimmt. Die Subsumtion als Begriff und auch als Wirklichkeit hat die Aufgabe, diverse Einzelheiten, besondere Formen und Gestalten, kurz: das Besondere einem Allgemeinen zu unterstellen. Das Besondere oder auch Eigenartige (das Idiosynkratische) verliert dabei in der Regel die Eigenständigkeit. So schreibt Marx beispielsweise über Hegel, dass dieser in »der ›Subsumtion‹ des Einzelnen und Besonderen unter das Allgemeine« die »einzige philosophische Bestimmung« der Regierungsgewalt sieht (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW, Bd. 1, 250). Diejenigen, die als Vertreter des Allgemeinen auftreten, versuchen in der Regel alles, um zu verhindern, dass ihr vermeintliches allgemeines Interesse als gleichsam nur besonderes Interesse entdeckt wird. Aber das ist noch zu subjektiv gedacht. Es gibt Subsumtionsprozesse, die sich historisch-gesellschaftlich durchsetzen, wobei die Vertreter nicht mehr individuelle, sondern gesellschaftliche Subjekte, historische Subjekte sind, also nicht mehr psychologisch, sondern nur noch soziologisch adressiert werden können. Das bedeutet: Diese Prozesse können nicht mehr erklärt werden durch den Willen und die Vorstellung einzelner Menschen, sondern sie verlaufen nach Regeln, die aus dem Gesamt der Geschichte, aus dem Gesamt der Sozialbeziehungen stammen. So schreibt Marx etwa: »Die vollständige Subsumtion aller existierenden Verhältnisse unter das Nützlichkeitsverhältnis, die unbedingte Erhebung dieses Nützlichkeitsverhältnisses zum einzigen Inhalt aller übrigen, finden wir erst bei Bentham, wo nach der französischen Revolution und der Entwicklung der großen Industrie die Bourgeoisie nicht mehr als eine besondre Klasse, sondern als die [ ? ] Klasse auftritt, deren Bedingungen die Bedingungen der ganzen Gesellschaft sind.« (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 397 f.). Was die formelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital betrifft, hebt Marx nun z. B. auf eine Form der Arbeit von Handwerkern vor der Subsumtion und nach der Subsumtion ab. Vor der Subsumtion war die Arbeit eine einzelne, je besondere Handwerksarbeit; nach der Subsumtion ist sie eine koordinierte, eine schon arbeitsteilig verkettete, kooperative, eine schon schwach gesellschaftlich organisierte Arbeit geworden: »Wie die durch die Kooperation entwickelte gesellschaftliche Produktivkraft der Arbeit als Produktivkraft des Kapitals erscheint, so die Kooperation selbst 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 189 <?page no="189"?> als eine spezifische Form des kapitalistischen Produktionsprozesses im Gegensatz zum Produktionsprozeß vereinzelter unabhängiger Arbeiter oder auch Kleinmeister. Es ist die erste Änderung, welche der wirkliche Arbeitsprozeß durch seine Subsumtion unter das Kapital erfährt. Diese Änderung geht naturwüchsig vor sich.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 354) Die dabei stattfindende »Zerreißung der ursprünglichen Mannigfaltigkeit seiner Beschäftigungen« des Arbeiters (ebenda, 509), also die Ökonomisierung der ganz konkreten Handlungen und Fertigkeiten des Arbeitens, bildet dann die Grundlage für eine vollständig den Kapitalverwertungsbedingungen angepasste Wiederzusammensetzung und dann Organisation der Arbeit - zusammen mit der Produktion des relativen Mehrwerts, welche die technischen Prozesse der Arbeit und die gesellschaftlichen Gruppierungen revolutioniert. Es soll zum Abschluss nicht unerwähnt bleiben, dass Marx beide Unterscheidungseinheiten, also absoluter/ relativer Mehrwert und formelle/ reelle Subsumtion, durchaus unter dem Aspekt ihres begrenzten analytischen Potenzials betrachtete. Sobald die kapitalistische Produktionsweise einmal etabliert und allgemeine Produktionsweise geworden ist, ist der Unterschied zwischen dem absoluten und dem relativen Mehrwert zwar fühlbar, so Marx, nämlich dann, wenn es darum geht, die Rate des Mehrwerts überhaupt zu steigern. Aber bis dahin gilt gleichsam auch dies: »Wenn zur Produktion des absoluten Mehrwerts die bloß formelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital genügt, z. B. daß Handwerker, die früher für sich selbst oder auch als Gesellen eines Zunftmeisters arbeiteten, nun als Lohnarbeiter unter die direkte Kontrolle des Kapitalisten treten, zeigte sich andrerseits, wie die Methoden zur Produktion des relativen Mehrwerts zugleich Methoden zur Produktion des absoluten Mehrwerts sind. Ja, die maßlose Verlängrung des Arbeitstags stellte sich als eigenstes Produkt der großen Industrie dar. Überhaupt hört die spezifisch kapitalistische Produktionsweise auf, bloßes Mittel zur Produktion des relativen Mehrwerts zu sein, sobald sie sich eines ganzen Produktionszweigs, und noch mehr, sobald sie sich aller entscheidenden Produktionszweige bemächtigt hat. Sie wird jetzt allgemeine, gesellschaftlich herrschende Form des Produktionsprozesses. Als besondre Methode zur Produktion des relativen Mehrwerts wirkt sie nur noch, erstens soweit sie dem Kapital bisher nur formell untergeordnete Industrien ergreift, also in ihrer Propaganda. Zweitens, soweit ihr bereits anheimgefallne Industrien fortwährend revolutioniert werden durch Wechsel der Produktionsmethoden. Von gewissem Gesichtspunkt scheint der 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 190 <?page no="190"?> Unterschied zwischen absolutem und relativem Mehrwert überhaupt illusorisch. Der relative Mehrwert ist absolut, denn er bedingt absolute Verlängrung des Arbeitstags über die zur Existenz des Arbeiters selbst notwendige Arbeitszeit. Der absolute Mehrwert ist relativ, denn er bedingt eine Entwicklung der Arbeitsproduktivität, welche erlaubt, die notwendige Arbeitszeit auf einen Teil des Arbeitstags zu beschränken. Faßt man aber die Bewegung des Mehrwerts ins Auge, so verschwindet dieser Schein der Einerleiheit.« (Ebenda, 533 f.) 5.1.13 Konstantes und variables Kapital Mit der Unterscheidung von ? konstantem und variablen Kapital im sechsten Kapitel des 1. Kapital-Bandes (MEW, Bd. 23, 214 ff.; wir springen also jetzt im Buch zurück) kommt nun eine weitere Ebene hinzu, die der Anatomie, dem komplexen Gebilde der kapitalistischen Produktionsweise noch mehr Kontur geben soll. Die Unterteilung konstantes und variables Kapital betrifft nun nicht mehr den Arbeitstag, die Arbeitszeit, auch nicht das Verhältnis zwischen absolutem und relativem Mehrwert - sie betrifft vielmehr das Verhältnis der verschiedenen Faktoren des Arbeitsprozesses und deren »Anteil an der Bildung des Produkten- Werts« (ebenda, 214). Dass es verschiedene Faktoren des Arbeitsprozesses gibt, ist evident: die Ware Arbeitskraft, soll sie Mehrwert produzieren, braucht selbstverständlich ein Umfeld, in dem es möglich ist, dass Waren produziert werden, in denen der Mehrwert der Mehrarbeit »steckt«. Es sind also Produktionsmittel vonnöten. Dazu zählt alles Mögliche: Werkzeuge, Maschinen, Fabrikgebäude, Rohstoffe, aber auch die strukturierte Arbeitsorganisation, die Sicherung rechtzeitiger Bereitstellung von Arbeitsmaterial usw. Marx bezeichnet diese Produktionsmittel, die das Gesamtkapital »C« (eines Kapitalisten) ausmachen, als konstantes Kapital »c« (oder auch als tote Arbeit; wir werden gleich sehen, warum); die Arbeitskraft hingegen als variables Kapital »v« (oder auch als lebendige Arbeit; wir wissen schon, warum) 68 . In einer Formel ausgedrückt besteht der Radius des Gesamtkapitaleinsatzes in: C = c + v. Wird nun eine Ware »W« in diesem Prozess hergestellt, so lässt sich diese Ware in folgender Formel ausdrücken, wobei m für Mehrwert steht: W = c + v + m. 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 191 <?page no="191"?> Eine Ware, die im kapitalistischen Produktionsprozess hergestellt wird, drückt nach dieser Formel das Gesamt des Wertes des konstanten Kapitals, des variablen Kapitals und der für sie aufgewendeten Mehrarbeit, also den Mehrwert, aus. Was ist demnach die Ausgangslage? »Der Arbeiter setzt dem Arbeitsgegenstand neuen Wert zu durch Zusatz eines bestimmten Quantums von Arbeit, abgesehn vom bestimmten Inhalt, Zweck und technischen Charakter seiner Arbeit. Andrerseits finden wir die Werte der verzehrten Produktionsmittel wieder als Bestandteile des Produkten- Werts, z. B. die Werte von Baumwolle und Spindel im Garnwert. Der Wert der Produktionsmittel wird also erhalten durch seine Übertragung auf das Produkt. Dies Übertragen geschieht während der Verwandlung der Produktionsmittel in Produkt, im Arbeitsprozeß. Es ist vermittelt durch die [ ? ] Arbeit.« (Ebenda, 214) Aber wie geschieht dies? Dadurch, dass die Arbeitskraft nicht in ihrer konkreten, spezifischen Gestalt dem Produkt Wert überträgt, sondern in ihrer abstrakten Gestalt, als gesellschaftlich bestimmte notwendige Arbeit. Betrachten wir also einen Garnspinner, der plötzlich Tischlerarbeiten tätigt, so setzt dieser Tischler dem Produkt Wert zu »durch seine Arbeit, nicht soweit sie Spinnarbeit oder Tischlerarbeit, sondern soweit sie abstrakte, gesellschaftliche Arbeit überhaupt [ist], und er setzt eine bestimmte Wertgröße zu, nicht weil seine Arbeit einen besondren nützlichen Inhalt hat, sondern weil sie eine bestimmte Zeit dauert« (ebenda, 215). Marx möchte verdeutlichen, dass nicht das spezifische Spinnen oder das spezifische Tischlern oder sonst ein Spezifikum konkreter Arbeit Wert schaffen, sondern dass dies dadurch geschieht, dass Arbeitskraft über eine bestimmte Arbeitszeit hinweg eingesetzt wird - ganz egal, ob der Spinner tischlert oder eben spinnt. Auf Letzteren bezogen resümiert Marx dann verallgemeinernd: »In ihrer abstrakten, allgemeinen Eigenschaft also, als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, setzt die Arbeit des Spinners den Werten von Baumwolle und Spindel Neuwert zu, und in ihrer konkreten, besondren, nützlichen Eigenschaft als Spinnprozeß, überträgt sie den Wert dieser Produktionsmittel auf das Produkt und erhält so ihren Wert im Produkt.« (Ebenda) Anders ist es mit den Produktionsmitteln, also vornehmlich mit der Maschinerie. Marx gibt hier sehr detaillierte Einlassungen, die immer darauf hinauslaufen, einsichtig zu machen, dass »ein Produktionsmittel nie mehr Wert an das Produkt abgibt, als es im Arbeitsprozeß durch Vernichtung seines eignen Gebrauchswerts verliert. Hätte es keinen Wert zu verlieren, d. h., wäre es nicht selbst Produkt menschlicher Arbeit, so würde es keinen Wert an das Produkt abgeben. Es diente 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 192 <?page no="192"?> als Bildner von Gebrauchswert, ohne als Bildner von Tauschwert zu dienen.« (Ebenda, 218) Deswegen spricht Marx auch von toter Arbeit, wenn er das konstante Kapital im Auge hat; denn für den Wertbildungsprozess kann es von sich aus nur scheinbar Neuwert reproduzieren. Tatsächlich Neuwert (re)produzieren kann nur das variable Kapital, also die bezahlte menschliche Arbeitskraft, die mehr Wert schafft, als sie als Ware selbst gekostet hat. Marx sieht im Verhältnis von konstantem und variablem Kapital, das auch als »organische Zusammensetzung des Kapitals« bezeichnet wird (dazu gleich mehr), ein Verhängnis der kapitalistischen Wertschöpfung angelegt. Denn im Verlauf der Entwicklung der Kapitalisierung der Warenproduktion nimmt der Anteil c proportional zu und der Anteil v proportional ab, etwa durch den verstärkten Maschineneinsatz. Es kann zwar passieren, so Marx, dass das Kapital durch neue Märkte absolut so stark wächst, dass auch die Nachfrage nach Arbeit absolut zunimmt. Doch dies sind nur konjunkturelle Veränderungen des Auf- und Abschwungs, die an der strukturell angelegten Tendenz zur relativen proportionalen Verschlechterung zwischen wertschöpfendem Kapitalteil und nur wertabgebendem Kapitalteil prinzipiell nichts ändern. 69 Marx wird daher behaupten, dass die zunehmende Disproportionalität der Kapitalteile zwangsläufig zu einem Sinken der Profitrate führen wird (auf die wir ebenfalls später zurückkommen werden). Zusammenfassend sagt Marx: »Der Teil des Kapitals also, der sich in Produktionsmittel, d. h. in Rohmaterial, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel umsetzt, verändert seine Wertgröße nicht im Produktionsprozeß. Ich nenne ihn daher konstanten Kapitalteil, oder kürzer: konstantes Kapital. Der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitals verändert dagegen seinen Wert im Produktionsprozeß. Er reproduziert sein eignes Äquivalent und einen Überschuß darüber, Mehrwert, der selbst wechseln, größer oder kleiner sein kann. Aus einer konstanten Größe verwandelt sich dieser Teil des Kapitals fortwährend in eine variable. Ich nenne ihn daher variablen Kapitalteil, oder kürzer: variables Kapital. Dieselben Kapitalbestandteile, die sich vom Standpunkt des Arbeitsprozesses als objektive und subjektive Faktoren, als Produktionsmittel und Arbeitskraft unterscheiden, unterscheiden sich vom Standpunkt des Verwertungsprozesses als konstantes Kapital und variables Kapital.« (Ebenda, 223 f.) 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 193 <?page no="193"?> 5.1.14 Organische Zusammensetzung des Kapitals Mit der Bezeichnung »Organische Zusammensetzung des Kapitals« hat Marx versucht, trotz der offensichtlichen Expansion der kapitalistischen Produktionsweise, trotz der Zunahme von Unternehmen, trotz der Erhöhung der Zahl der Beschäftigten in Betrieben, trotz der Steigerung der Umsätze, kurz: trotz eines absoluten Wachstums der kapitalistischen Produktion an einer strukturellen Sicht festzuhalten, die unter der Oberfläche Tendenzen erkennt, die all dem entgegenstehen. Er blieb hier, zumindest rhetorisch, sehr vorsichtig und sprach daher auch nur von einem tendenziellen Fall der Profitrate und damit von einer im Kapitalverwertungsprozess selbst angelegten »antikapitalistischen« Dynamik, die über kurz oder lang der ? Wertverwertung den Boden entzieht; dieser Entzug kann durch bestimmte Maßnahmen verzögert, verlangsamt, unterbrochen, aber im Kern nicht gestoppt werden (wir kommen später darauf zurück). Um seine Sicht der Kapitalzusammensetzung (das sind die verschiedenen Faktoren wie Arbeitsproduktivität, Arbeitskraftgröße, technische Innovationen, Produktionsmittelaufwand, in die sich der gesamte Kapitaleinsatz aufteilen lässt und die sich in ihrer Größe ständig verändern) zu unterfüttern, greift Marx unter anderem auf historische Empirie zurück - etwas, was von seiner immer wieder betonten Darstellungslogik abweicht und was vielleicht kenntlich macht, dass Marx hier nicht mit der gewohnten Sicherheit argumentieren konnte. So beruft er sich gleich auf eine ganze Reihe von bürgerlichen Ökonomen, wenn er Folgendes sagt: »Mit der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit wird die [ ? ] Akkumulation des Kapitals beschleunigt, selbst trotz einer relativ hohen Lohnrate. Hieraus könnte man schließen, wie A. Smith, zu dessen Zeit die moderne Industrie noch in den Kinderschuhen steckte, wirklich schloß, daß diese beschleunigte Akkumulation des Kapitals die Waagschale zugunsten des Arbeiters neigen müßte, indem sie ihm eine wachsende Nachfrage nach seiner Arbeit sichert. Von demselben Standpunkt haben viele jetzt lebende Schriftsteller sich darüber gewundert, daß, da das englische Kapital in den letzten zwanzig Jahren soviel rascher als die englische Bevölkerung gewachsen ist, der Arbeitslohn nicht bedeutender gestiegen sei. Allein gleichzeitig mit dem Fortschritt der Akkumulation findet eine fortschreitende Veränderung in der Zusammensetzung des Kapitals statt. Der Teil des Gesamtkapitals, der aus fixem Kapital - Maschinerie, Rohstoffen, Produktionsmitteln in allen erdenklichen Formen - besteht, nimmt stärker zu, verglichen mit dem andern Teil des Kapitals, der in Arbeitslohn oder im Ankauf von Arbeit ausgelegt wird. Dies Gesetz ist mehr oder weniger präzis festgestellt worden von 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 194 <?page no="194"?> Barton, Ricardo, Sismondi, Professor Richard Jones, Professor Ramsay, Cherbuliez u. a.« (Marx, Lohn, Preis, Profit, MEW, Bd. 16, 150 f.) Bei der Betrachtung des Falls, dass - wie festgestellt werden kann - das Wachstum des Kapitals Einfluss auf das ? »Geschick der Arbeiterklasse« hat, bestimmt Marx als den wichtigsten Faktor für eine Untersuchung dieses Einflusses die organische Zusammensetzung des Kapitals, also das scheinbar wie von selbst sich ergebene Verhältnis der einzelnen werthabenden und wertschaffenden Kapitalbestandteile. Dabei untersucht er diese Zusammensetzung unter zwei Aspekten: 1. die Wertzusammensetzung des Kapitals: Hier geht es darum, wie sich das Kapital »in konstantes Kapital oder Wert der Produktionsmittel und variables Kapital oder Wert der Arbeitskraft, Gesamtsumme der Arbeitslöhne« teilt; 2. die technische Zusammensetzung des Kapitals: Hier wird analysiert, wie sich das Kapital »in Produktionsmittel und lebendige Arbeitskraft« teilt; »diese Zusammensetzung bestimmt sich durch das Verhältnis zwischen der Masse der angewandten Produktionsmittel einerseits und der zu ihrer Anwendung erforderlichen Arbeitsmenge andrerseits«. Marx resümiert: »Zwischen beiden besteht enge Wechselbeziehung. Um diese auszudrücken, nenne ich die Wertzusammensetzung des Kapitals, insofern sie durch seine technische Zusammensetzung bestimmt wird und deren Änderungen widerspiegelt: die organische Zusammensetzung des Kapitals. Wo von der Zusammensetzung des Kapitals kurzweg die Rede ist, ist stets seine organische Zusammensetzung zu verstehn.« (Alle Zitate: Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 640) Dieser weitere Schritt hin zu einer komplexen Darstellung des Kapitals - ganz zu schweigen von all den Schritten, die in dieser Einführung nicht Erwähnung und Beschreibung finden - sollte den Leser nicht verführen, den untergründigen Sinn des gesamten komplizierten bis komplexen Analyse-Unternehmens aus den Augen zu verlieren. Zwar ist Marx’ großformatige und bis ins Kleinste gehende Erörterung dem Kapital, dem Bewegungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise gewidmet - nicht umsonst heißt es ja Das Kapital. Dennoch: Marx geht, wie vermittelt auch immer, von der Arbeit, der Arbeitskraft, der Mehrwertquelle, dem Arbeiter, kurz: vom sogenannten subjektiven Faktor des gesamten Prozesssyndroms aus.* * Diese Grundsicht liest sich dann bei Günther Anders, allerdings ohne politökonomischen Analyserahmen, Mitte des 20. Jahrhunderts so: »Worauf heutige Unternehmer aus sind, und das nicht nur in der kapitalistischen Welt, ist nicht die Arbeitslosigkeit des Arbeiters, sondern Arbeitslosigkeit ihrer Betriebe« (Anders 1980, Bd. 2, 27). 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 195 <?page no="195"?> Das kommt auch schon in seiner Betrachtung der Zusammensetzung des Kapitals unmissverständlich zum Ausdruck; so schreibt er im zweiten Kapital-Band z. B. dies: »Für die organische Zusammensetzung […] des Kapitals ist es ganz gleichgültig, ob dasselbe Wertquantum konstantes Kapital aus viel Arbeitsmitteln und wenig Arbeitsmaterial oder aus viel Arbeitsmaterial und wenig Arbeitsmitteln besteht, während alles abhängt vom Verhältnis des in Produktionsmitteln ausgelegten zu dem in Arbeitskraft ausgelegten Kapital.« (Marx, Das Kapital II, MEW, Bd. 24, 218) Das bedeutet: Entscheidend für den Gesamtprozess der Kapitalverwertung (auch inklusive der Zirkulationssphäre) ist immer die Position und Funktion der Arbeitskraft darin. Das zeigt sich besonders deutlich bei der folgenden Bestimmungen von Mehrwert- und Profitrate. 5.1.15 Mehrwertrate und Profitrate ? Mehrwert und ? Profit werden auch in gegenwärtigen Diskursen oft verwechselt - ganz zu schweigen von den doch recht eigenartigen Verwendungen des Begriffs Mehrwert, auf die man heutzutage treffen kann. 70 Die Verwechslung rührt sicher nicht allein daher, dass diejenigen, die diese Begriffe im Munde führen, nur oberflächlich Das Kapital gelesen haben. Sie rührt auch nicht daher, dass sich beide Begriffe innerhalb der Marx’schen Theoriearchitektur »logisch« sehr nahe stehen. Sie rührt vielmehr daher, dass beide Begriffe einer je eigenen Sicht auf den Prozess der Kapitalverwertung entsprechen - also aus unterschiedlichen Beobachterperspektiven gewonnen werden: • Beim Mehrwert geht es »nur« darum, die Bedingungen im Auge zu halten, unter denen die Mehrarbeit und also der Mehrwert erzeugt wird - also das Verhältnis des Mehrwerts zum Wert des variablen Kapitals. • Beim Profit hingegen zählt in übergeordneter Weise »nur«, wie viel Profit das eingesetzte Kapital abwirft resp. realisiert - und zwar in der Zirkulationssphäre. Für die Darstellung der Mehrwertrate gilt also das Verhältnis: Mehrwert (m) geteilt durch variables Kapital (v), also m / v . Für die Darstellung der Profitrate kommen nun einige Ergänzungen, Abstraktionen hinzu: So werden jetzt die Anteile (c) und (v), also konstantes und variables Kapitel, zu (k) zusammengezogen: (k) bedeutet Kostpreis, also das gesamte Kapital, das der Unternehmer aufbringt, um durch Warenproduktion auf dem Markt einen Profit (p) zu erzeugen. Die schon bekannte Formel für die Bestimmung des Werts einer Ware, nämlich W = c + v + m, übersetzt sich nun in die Formel W = k + p. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 196 <?page no="196"?> Man muss bei dieser Wertbestimmung allerdings berücksichtigen, dass es zwischen »k« (= c + v) und der schon bekannten Formel »C« (= c + v) einen Unterschied gibt. Denn Marx unterscheidet klar zwischen »Was die Ware dem Kapitalisten kostet« und »Was die Produktion der Ware selbst kostet«. Der erste Kostpreis der Ware sei geringer als der wirkliche Kostpreis, also geringer als der wirkliche Warenwert (Marx, Das Kapital III, MEW, Bd. 25, 34). Wir kommen gleich darauf zu sprechen. Von diesen Feinheiten jetzt abgesehen ist es wichtig festzuhalten, dass die Profitrate folgendes Verhältnis ausdrückt: Mehrwert geteilt durch das gesamte investierte Kapital, also m / c + v bzw. m / C . Die Profitrate ist also das Verhältnis der Höhe des Mehrwerts geteilt durch die Höhe des Werts des (kapitalistischen) Kostpreises.* Von Letzterem ist noch der Produktionspreis zu unterscheiden. Doch dazu gleich mehr, wenn wir die Formeln in ihrer verzahnten Bedeutung verfolgen. * Wie wichtig diese Bestimmung ist, wird weiter unten bei Marx’ Fassung des tendenziellen Falls der Profitrate deutlich, die daher rührt, dass immer mehr tote Arbeit und im Verhältnis dazu immer weniger lebendige Arbeit in die Verwertungsmaschinerie gesteckt wird. In einem anderen Zusammenhang heißt es, auf den Wert im Gesamtzusammenhang bezogen: »Die Gesamtmasse des jährlichen gesellschaftlichen Wertprodukts kann daher nur zerfällbar sein in v + m, in ein Äquivalent, wodurch die Arbeiter den in ihrem eignen Kaufpreis verausgabten Kapitalwert ersetzen, und in den zusätzlichen Wert, den sie darüber hinaus ihrem Anwender liefern müssen. Diese beiden Wertelemente der Waren aber bilden zugleich Revenuequellen für die verschiednen in der Reproduktion beteiligten Klassen: das erste den Arbeitslohn, die Revenue der Arbeiter; das zweite den Mehrwert, wovon der industrielle Kapitalist einen Teil in Form des Profits für sich behält, einen andern abtritt als Rente, die Revenue des Grundeigentümers. Wo sollte also ein weitrer Wertbestandteil herkommen, da das jährliche Wertprodukt keine andren Elemente enthält außer v + m? « (Marx, Das Kapital II, MEW, Bd. 24, 374) Gehen wir also ins Detail. Der Wert jeder kapitalistisch produzierten Ware W stellt sich dar in der Formel: W = c + v + m. Zieht man von diesem Warenwert den Mehrwert m ab, dann sind die Waren zwar weiterhin Waren und haben Warenwert; aber Marx möchte sie analytisch unter dem Gesichtpunkt betrachten, was und wie sie ohne Mehrwert sind. Er benennt sie nun anders: Es sind einfache Produkte geworden, die auch ihren Wert haben, nämlich den Produktwert. Produktwert ist also der Wert einer hergestellten Sache ohne Mehrwert. Der Wert des Produkts, so Marx, ergibt sich aus den Kosten, die der Kapitalist für c + v aufgebracht hat, also für Produktionsmittel und Arbeitskraft (Marx, Das Kapital III, 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 197 <?page no="197"?> MEW, Bd. 25, 34). Marx konkretisiert nun diesen Produktwert, der als Teil des gesamten Warenwerts fungiert, so: »Dieser Wertteil der Ware, der den Preis der verzehrten Produktionsmittel und den Preis der angewandten Arbeitskraft ersetzt, ersetzt nur, was die Ware dem Kapitalisten selbst kostet, und bildet daher für ihn den Kostpreis der Ware. Was die Ware dem Kapitalisten kostet, und was die Produktion der Ware selbst kostet, sind allerdings zwei ganz verschiedne Größen. Der aus Mehrwert bestehende Teil des Warenwerts kostet dem Kapitalisten nichts, eben weil er dem Arbeiter unbezahlte Arbeit kostet [d. h. weil dem Kapitalisten Wert dadurch zuwächst, dass der Arbeiter unbezahlt Wert herstellt, B. T.]. Da jedoch auf Grundlage der kapitalistischen Produktion der Arbeiter selbst, nach seinem Eintritt in den Produktionsprozeß, ein Ingrediens [Bestandteil, B. T.] des in Funktion begriffenen und dem Kapitalisten zugehörigen produktiven Kapitals bildet, der Kapitalist also der wirkliche Warenproduzent ist, so erscheint notwendig der Kostpreis der Ware für ihn als die wirkliche Kost der Ware selbst.« (Ebenda) Bezeichnet man nun den Kostpreis mit dem Buchstaben k, so verwandelt sich die Formel W = c + v + m in die Formel: W = k + m, oder Warenwert = Kostpreis + Mehrwert. Der spezifische Charakter der kapitalistischen Produktion trennt also die privaten Kosten (kapitalistische Kost), die wirklich gemachten Ausgaben des Kapitalisten für (c) und (v), von den gesellschaftlichen Kosten der Produktion (wirkliche Kost), von der insgesamt realisierten Arbeitszeit, die sich in (c) + (v) + (m) ausdrückt. Mit der Unterscheidung private/ gesellschaftliche Kosten will Marx jetzt schon verdeutlichen, dass der private Gewinn eines Unternehmers immer zulasten unzähliger Arbeiter geht, da er aus der Menge unbezahlter Mehrarbeit hervorgeht, deren Wertmasse den Arbeitern vorenthalten wird, weil sie schlicht Besitz des Kapitalisten ist. Das bedeutet: »Die kapitalistische Kost der Ware mißt sich an der Ausgabe in Kapital, die wirkliche Kost der Ware an der Ausgabe in Arbeit. Der kapitalistische Kostpreis der Ware ist daher quantitativ verschieden von ihrem Wert oder ihrem wirklichen Kostpreis; er ist kleiner als der Warenwert, denn da W = k + m, ist k = W - m.« (Ebenda). 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 198 <?page no="198"?> Der (kapitalistische) Kostpreis einer Ware (also c + v) ist durch das tatsächlich investierte Kapital bestimmt. Da nun aber die Ware zu ihrem Wert verkauft wird (also c + v + m), erscheint der Mehrwert nur noch als eine Art Aufschlag, als eine Art Zugabe zum investierten Kapital, als etwas, das mit der Produktion nichts zu tun hat, sondern einfach aus der Preisbildung und dem Verkauf der Waren über ihren Werten herrührt. Aus dieser Perspektive ist es nicht mehr recht einsichtig, dass die Quelle des Mehrwerts alleine das variable Kapital sein soll. Marx erweitert nun seine Analyse mit dem Ziel, einsichtig zu machen, warum es im kapitalistischen Verwandlungsprozess, in dem der Mehrwert zum Profit wird, zwangsläufig zu einem falschen Bewusstsein kommt, zu einer falschen Vorstellung davon, was der Mehrwert ist und woher er kommt. Er erläutert: »Wir haben bisher nur ein Element des Warenwerts betrachtet, den Kostpreis. Wir müssen uns jetzt auch nach dem andern Bestandteil des Warenwerts umsehn, dem Überschuß über den Kostpreis oder dem Mehrwert. Zunächst ist der Mehrwert also ein Überschuß des Werts der Ware über ihren Kostpreis. Da aber der Kostpreis gleich dem Wert des verausgabten Kapitals, in dessen stoffliche Elemente er auch beständig rückverwandelt wird, so ist dieser Wertüberschuß ein Wertzuwachs des in der Produktion der Ware verausgabten und aus ihrer Zirkulation zurückkehrenden Kapitals. Man sah bereits früher, daß, obgleich m, der Mehrwert, nur aus einer Wertveränderung von v, dem variablen Kapital entspringt und daher ursprünglich bloß ein Inkrement [Zuwachs, B. T.] des variablen Kapitals ist, er dennoch nach beendigtem Produktionsprozeß ebensosehr einen Wertzuwachs von c + v, dem verausgabten Gesamtkapital bildet. Die Formel c + (v + m), die andeutet, daß m produziert wird durch die Verwandlung des in Arbeitskraft vorgeschoßnen bestimmten Kapitalwerts v in eine fließende Größe, also einer konstanten Größe in eine variable, stellt sich ebenso dar als (c + v) + m. […] Es ist dem Kapitalisten nun klar, daß dieser Wertzuwachs aus den produktiven Vorgängen entspringt, die mit dem Kapital vorgenommen werden, daß er also aus dem Kapital selbst entspringt; denn nach dem Produktionsprozeß ist er da, und vor dem Produktionsprozeß war er nicht da. Was zunächst das in der Produktion verausgabte Kapital betrifft, so scheint der Mehrwert gleichmäßig aus dessen verschiednen, in Produktionsmitteln und Arbeit bestehenden Wertelementen zu entspringen. Denn diese Elemente gehn gleichmäßig in die Bildung des Kostpreises ein. Sie setzen gleichmäßig ihre als Kapitalvorschüsse vorhandnen Werte dem Produktenwert zu und unterscheiden sich nicht als konstante und variable Wertgrößen.« (Ebenda, 44 f.) 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 199 <?page no="199"?> Der Mehrwert entspringt so betrachtet also aus allen Teilen des eingesetzten Kapitals, wenngleich - so Marx - nur ein Teil (die ? Arbeit) wirklich den Mehrwert erzeugt. Marx definiert nun diesen so verstandenen Mehrwert als Wert des vorgeschossenen Gesamtkapitals, der jetzt die Form des Profits erhält. Eine Wertsumme (das Gesamt aller verschiedenen Werte der Arbeit, der Produktionsmittel, der Produkte usw., das von einem Unternehmen eingesetzt wird) sei deswegen als Kapital zu bezeichnen, weil mit ihr ein Profit erzielt werden soll bzw.: Profit ist überall da zu sichten, wo eine Wertsumme als Kapital zur Anwendung kommt. Nennt man den Profit p, so verwandelt sich die Formel W = c + v + m = k + m in die Formel: W = k + p oder Warenwert = Kostpreis + Profit. Wichtig ist hierbei zu verstehen, dass Marx mit dieser Formel die kapitalistische Sicht des Vorgangs beschreibt, nicht aber den wirklichen Vorgang, so wie er ihn versteht. Denn er schreibt: »Der Profit, wie wir ihn hier zunächst vor uns haben, ist also dasselbe, was der Mehrwert ist, nur in einer mystifizierten Form, die jedoch mit Notwendigkeit aus der kapitalistischen Produktionsweise herauswächst.« (Ebenda) Ebenso wichtig ist für Marx die Feststellung, dass der erzielte Profit eines Unternehmens nicht mit dem »ursprünglichen« Mehrwert übereinstimmen muss, dessen Größe den Kapitalisten in dieser Phase nicht interessiert. Denn ein Profit fällt ihm schon dann zu, wenn er die produzierte Ware zu einem Preis verkaufen kann, der über ihrem Kostpreis (c + v) liegt. »Wird die Ware daher zu ihrem Wert verkauft, so wird ein Profit realisiert, der gleich dem Überschuß ihres Werts über ihren Kostpreis ist, also gleich dem ganzen im Warenwert steckenden Mehrwert. Aber der Kapitalist kann die Ware mit Profit verkaufen, obgleich er sie unter ihrem Wert verkauft. Solange ihr Verkaufspreis über ihrem Kostpreis, wenn auch unter ihrem Wert steht, wird stets ein Teil des in ihr enthaltenen Mehrwerts realisiert, also stets ein Profit gemacht.« (Ebenda, 47) Da nun der Kapitalist in den Augen von Marx geneigt ist, den Kostpreis für den eigentlichen »inneren Wert« der Ware zu halten, weil er der zur bloßen Erhaltung seines Kapitals notwendige Preis ist; und weil zudem hinzukommt, dass der Kostpreis der Ware der Kaufpreis ist, den der Kapitalist selbst für ihre Produktion gezahlt hat, also der durch den Produktionsprozess selbst bestimmte Kaufpreis ist, kommt Marx zu der nun schon bekannten und jetzt vielleicht verständlichen allgemeinen Aussage: 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 200 <?page no="200"?> »Der beim Verkauf der Ware realisierte Wertüberschuß oder Mehrwert erscheint dem Kapitalisten daher als Überschuß ihres Verkaufspreises über ihren Wert, statt als Überschuß ihres Werts über ihren Kostpreis, so daß der in der Ware steckende Mehrwert sich nicht durch ihren Verkauf realisiert, sondern aus dem Verkauf selbst entspringt« (ebenda, 48) Und das scheint auch folgerichtig zu sein. Denn in der Vorstellung des Kapitalisten, der sein Augenmerk auf den Markt hat, fallen, so Marx, die Ausgaben für das konstante und das variable Kapital zusammen: Ihn interessiert letztlich nur G’, also das Mehr an Geld, das im Verkaufsakt realisiert wird, und nicht m, also das Mehr an Wert, das noch in den Waren steckt, die verkauft werden müssen. Denn der wirkliche Grad seines Gewinns ist bestimmt »nicht durch das Verhältnis zum variablen Kapital, sondern zum Gesamtkapital, nicht durch die Rate des Mehrwerts, sondern durch die Rate des Profits, die, wie wir sehn werden, dieselbe bleiben und doch verschiedne Raten des Mehrwerts ausdrücken kann.« (Ebenda, 52) Aber woher kommt nun der Profit jenseits der diesbezüglichen Vorstellungen des Kapitalisten, die nach Marx völlig danebenliegen? Die Antwort, die er gibt, kann für den Leser nun nicht mehr überraschend sein: »Der Profit des Kapitalisten kommt daher, daß er etwas zu verkaufen hat, das er nicht bezahlt hat. Der Mehrwert resp. Profit besteht gerade in dem Überschuß des Warenwerts über ihren Kostpreis, d. h. in dem Überschuß der in der Ware enthaltnen Gesamtsumme von Arbeit über die in ihr enthaltne bezahlte Summe Arbeit. Der Mehrwert, woher er immer entspringe, ist sonach ein Überschuß über das vorgeschoßne Gesamtkapital. Dieser Überschuß steht also in einem Verhältnis zum Gesamtkapital, das sich ausdrückt in dem Bruch m / C , wo C das Gesamtkapital bedeutet. So erhalten wir die Profitrate m / C = m / (c + v) , im Unterschiede von der Rate des Mehrwerts m / v . Die Rate des Mehrwerts gemessen am variablen Kapital heißt Rate des Mehrwerts; die Rate des Mehrwerts gemessen am Gesamtkapital heißt Profitrate. Es sind zwei verschiedne Messungen derselben Größe, die infolge der Verschiedenheit der Maßstäbe zugleich verschiedne Verhältnisse oder Beziehungen derselben Größe ausdrücken.« (Ebenda, 52 f.) Das Interesse des Kapitalisten gilt also maßgeblich der Profitrate m / C = m / (c + v) , 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 201 <?page no="201"?> weil diese den Grad der Verwertung seines gesamten investierten Kapitals zum Ausdruck bringt, also die Profitabilität des gesamten Unternehmens anzeigt - und nicht nur die Arbeitsproduktivität, die Effizienz der Arbeitskraftnutzung usw. Nun wird der Profit nicht schon mit der Produktion der Ware, sondern erst mit dem Verkauf der Ware realisiert - Marx wird nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen. So kommt es, dass dem Kapitalisten nicht mehr einsichtig ist, wie die Einnahmen durch den Verkauf mit den Ausgaben für (c) und (v) zusammenhängen. Die Ausgaben sieht er separat und möchte sie so stark wie möglich senken; die Einnahmen sieht er ebenfalls separat und möchte sie am Markt so stark wie möglich erhöhen. Es scheint ihm alsbald, so Marx, dass nur die sogenannte Lage am Markt sowie seine Bemühungen für den Verkauf (Reklame) die ausschlaggebenden Momente sind für die Höhe seines zu erzielenden Profits. Kurz: Es scheint, als ob die Quelle seines Gewinns in der Zirkulationssphäre liegt.* * Auch wenn diese Sicht nach Marx falsch ist, drückt sie doch ein Wirklichkeitsverständnis aus, welches das Kapital mittlerweile eingenommen hat; ein Verständnis, das in Gänze auf ein Selbstverhältnis des Kapitals hinausläuft, in dem der Wert, um den es geht, sich permanent nur noch auf den Wert seiner Verwertung bezieht, nicht mehr aber auf den Aspekt der Werterzeugung; der ? Profit also als eine vollkommene Angelegenheit des Kapitals erscheint und nicht, wie Marx klarzumachen sucht, eine vollkommene Angelegenheit der Arbeit ist. Übertrieben gesagt versucht das Kapital seine immer noch herrschende Abhängigkeit vom ? Gebrauchswert der Arbeitskraft, die als eine (emphatisch gesagt) Kränkung empfunden wird, zu ignorieren, indem so getan wird, als brauche es zum Profit nur den Markt und Geld als notwendige, die Produktion und die Arbeit aber als nur hinreichende Variablen. Da ich hier auf die mathematische und feinanalytische Erörterung der beiden Raten verzichte, soll das folgende prosaische Statement von Marx zum Verhältnis Mehrwert und Profit diesen Abschnitt beenden: »Obgleich daher die Profitrate von der Rate des Mehrwerts numerisch verschieden ist, während Mehrwert und Profit in der Tat dasselbe und auch numerisch gleich sind, so ist der Profit jedoch eine verwandelte Form des Mehrwerts, eine Form, worin sein Ursprung und das Geheimnis seines Daseins verschleiert und ausgelöscht ist. In der Tat ist der Profit die Erscheinungsform des Mehrwerts, welcher letztre erst durch Analyse aus der erstem herausgeschält werden muß. Im Mehrwert ist das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit bloßgelegt; im Verhältnis von Kapital und Profit, d. h. von Kapital und dem Mehrwert, wie er einerseits als im Zirkulationsprozeß realisierter Überschuß über den Kostpreis der Ware, andrerseits als ein durch sein Verhältnis zum Gesamtkapital näher bestimmter Überschuß erscheint, er- 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 202 <?page no="202"?> scheint das Kapital als Verhältnis zu sich selbst, ein Verhältnis, worin es sich als ursprüngliche Wertsumme von einem, von ihm selbst gesetzten Neuwert unterscheidet. Daß es diesen Neuwert während seiner Bewegung durch den Produktionsprozeß und den Zirkulationsprozeß erzeugt, dies ist im Bewußtsein. Aber wie dies geschieht, das ist nun mystifiziert und scheint von ihm selbst zukommenden, verborgnen Qualitäten herzustammen.« (Ebenda, 58) 5.1.16 Verwandlung des Profits in Durchschnittsprofit Bevor mit dem Fall der Profitrate der Reigen der Herausforderungen, denen sich Marx stellte, beendet wird, sei noch auf den Begriff des Durchschnittsprofits und auf die Unterscheidung ? produktive/ unproduktive Arbeit eingegangen. Oberflächlich springt ins Auge, dass der Durchschnitt des Profits strukturell dem Durchschnitt der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit zur Produktion eines bestimmten Quantums ähnlich ist. Und in der Tat erfüllt die »Durchschnittlichkeit« in beiden Fällen die gleiche Funktion - nämlich, dass sich der Einsatz von Arbeitskraft wie auch die Produktion von Waren nicht nur auf einzelne »Inseln« beschränken, sondern strukturell offen für alle möglichen Waren sind. Doch der Reihe nach. Zweck des Kapitals ist es, sich zu vermehren, zu wachsen, aus Geld mehr Geld zu machen - gleichgültig, welche Gebrauchswerte dabei produziert und anschließend als Waren getauscht werden. Nicht gleichgültig hingegen ist, dass in verschiedenen Produktionszweigen mit unterschiedlicher organischer Zusammensetzung des Kapitals Produktion betrieben wird (etwa: Mikrochip-Herstellung mit hoher organischer Zusammensetzung, also verkürzt: mit einem hohen Anteil des konstanten Kapitals in Gestalt teuerer Maschinen und Technik; Bekleidungsindustrie mit geringerer organischer Zusammensetzung). Daraus folgt - bei angenommener gleicher Mehrwertrate und Umschlagsgeschwindigkeit 71 -, dass unterschiedliche Profitraten erzielt werden. Würde diese Verschiedenheit nicht ausgeglichen, dann träte der Fall ein, dass nur noch dort produziert würde, wo die Profitrate am höchsten ist. Marx geht diesem logischen und ökonomischen Problem, wie es sein kann, dass nicht alle Unternehmen nur das produzieren, was die höchste Profitrate verspricht, sehr akribisch nach, weil es so scheint, als ob »die [ ? ] Werttheorie hier unvereinbar ist mit der wirklichen Bewegung, unvereinbar mit den tatsächlichen Erscheinungen der Produktion und daß daher überhaupt darauf verzichtet werden muß, die letztren zu begreifen« (ebenda, 162). Marx’ Schlussfolgerung wird sein, dass die verschiedenen Profitraten durch die Konkurrenz zu einer allgemeinen Pro- 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 203 <?page no="203"?> fitrate ausgeglichen werden, zu einer Rate also, die als Durchschnitt aller verschiedenen Profitraten gilt (ebenda, 167). Damit ergibt sich aber die Konsequenz, dass durch den Ausgleich der Profitrate der Wert einer Ware und ihr Preis nicht mehr zwingend übereinstimmen, mehr noch: meistens nicht mehr übereinstimmen. Die Summe der Werte hat nämlich mit der Summe der Preise (Kreditierung nun einmal ausgenommen) übereinzustimmen. Wäre dies nicht so, dann gäbe es Werte, die nicht durch Arbeit, also nicht durch unbezahlte Arbeitskraft entstanden wären - nach Marx ist dies unmöglich. Somit tragen nun der Profitratenausgleich und die Abweichung der Preise (nominelle Wertdarstellung) von den reellen Werten (Mehrwertsumme) gleichsam dazu bei, den Zusammenhang von Profit und Mehrwert, d. h. den Zusammenhang von Arbeitskraft und Gewinn, zu verdunkeln. Doch wie funktioniert nun die »Verdurchschnittlichung« der Profitrate? Marx schreibt: »Es ist klar, daß der Durchschnittsprofit nichts sein kann als die Gesamtmasse des Mehrwerts, verteilt auf die Kapitalmassen in jeder Produktionssphäre nach Verhältnis ihrer Größen. Es ist das Ganze der realisierten unbezahlten Arbeit, und diese Gesamtmasse stellt sich dar, ebensogut wie die bezahlte tote und lebendige Arbeit, in der Gesamtmasse von Waren und Geld, die den Kapitalisten zufällt. Die eigentlich schwierige Frage ist hier die: wie diese Ausgleichung der Profite zur allgemeinen Profitrate vorgeht, da sie offenbar ein Resultat ist und nicht ein Ausgangspunkt sein kann.« (Ebenda, 183) Es ist ersichtlich, dass diese allgemeine Profitrate als Durchschnitt aller Profitraten nicht auf der Ebene anzusiedeln ist, auf der ein einzelnes Unternehmen im Markt agiert oder in Beziehung zu anderen Unternehmen steht. Vielmehr muss dies eine Ebene sein, auf der nicht mehr nachvollzogen werden kann, woher genau die einzelnen Bestandteile der Mehrwertmasse kommen und durch welche Kapitalmassen sie realisiert werden. Diese Ebene, die systemischer »Natur« ist, sucht Marx nicht praktisch-empirisch, sondern wieder theoretisch zu fassen - nämlich so, als ob »die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise sich rein entwickeln« (ebenda, 184). Und das gilt auch für die Annahme einer Meta-Profitrate als allgemeine Durchschnittsrate (siehe als detaillierte Problemerörterung Marx, Das Kapital III, MEW 25, 10. Kapitel, 182-209). Eine weitere, noch schwierigere Frage ist, wie gezeigt werden kann, dass das ? Wertgesetz, also die Marx’sche Überzeugung, dass Wert nur durch Arbeit, durch Arbeitskraft innerhalb einer bestimmten Arbeitszeit erzeugt wird (Arbeitswertlehre), weiterhin Gültigkeit behält, obwohl die Verkaufspreise der Waren nur noch in zufälliger Korrespondenz mit ihren Werten stehen und nicht mehr kausal 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 204 <?page no="204"?> auf diese bezogen sind. Deswegen muss Marx zeigen können, dass es nicht in letzter Instanz das Spiel von Angebot und Nachfrage ist, das die Preise bestimmt, sondern der Wert der durchschnittlichen, gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Dass es bei allen Preisschwankungen immer noch das Wertgesetz ist, das die Bewegungen der Produktionspreise beherrscht - dies darzustellen ist sein Ziel, nicht aber die Ausarbeitung einer quantitativen, mathematischen Preistheorie. Der Ausgleich der Profitrate wie auch die Entstehung von Preisen, die sich von den Werten unterscheiden, geschehen maßgebend durch Konkurrenz. Nicht nur die Kapitalisten konkurrieren untereinander - als Käufer von Produktionsmitteln und Arbeitskräften wie als Verkäufer von Waren -, sondern auch unter den Arbeitern - als Käufern von Waren und Verkäufern ihrer eigenen Arbeitskraft - gibt es Konkurrenz. Marx beginnt nun - wie immer akribisch, streckenweise auch manisch - den Prozess der Konkurrenz zu entschlüsseln. Er nimmt dafür bestimmte abstrakte Entstehungsstadien des irgendwann endgültigen Verkaufspreises an, die er entlang der Begriffe Wert, Marktwert, Marktpreis, Marktproduktionspreis (resp. Produktionspreis) zu konturieren sucht - und auf die wir hier nicht weiter eingehen möchten. Im Verlauf stellt es sich dann so dar: Ein Unternehmen produziert »individuell« Werte, die innerhalb eines Produktionszweiges (etwa Stahlindustrie) einen bestimmten Marktwert bilden; um diesen Marktwert oszillieren nun die Marktpreise; diese Marktpreise führen dann im Ausgleich mit anderen Produktionsbranchen (etwa der Zulieferindustrie) und schließlich im Ausgleich mit allen anderen Produktionsbereichen zum Marktproduktionspreis.* * Man kann, dies sei kurz eingefügt, die sogenannte Globalisierung unter diesem Gesichtspunkt also verstehen als letzte, großangelegte Ausgleichsbewegung der verschiedenen Marktpreise einerseits, als letzte große Bewegung der umfassenden Vergleichbarkeit der Produktionsbereiche andererseits. Diese Darstellung darf allerdings nur als analytische verstanden werden; tatsächlich wirkt die Konkurrenz in allen Stadien gleichzeitig, sodass die hier suggerierte Chronologie zumindest auf der alltäglichen, realen Wirklichkeitsebene nicht gegeben ist. Generell wurde in der Rezeption Marx’ Verfahren der »Umrechnung« von Werten in Preise einer ausführlichen Kritik unterzogen, die nachzuweisen suchte, dass seine Werttheorie hier in die Irre führe. Es wäre für die hiesige Einführung nicht sinnvoll, diese zum Teil sehr komplexe und voraussetzungsvolle Kritik vorzustellen. 72 Man müsste, um das zu illustrieren, nachvollziehen können, worin das Problem besteht, dass sich nach Marx die Profitrate beim Übergang vom Wertsystem zum Preissystem nicht ändert; man müsste den Gedanken nachvollziehen können, was es heißt, wenn die in Werten ausgedrückten Kostpreise der Produk- 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 205 <?page no="205"?> tion in Produktionspreise übersetzt werden würden usw. Dies sind Probleme, denen man erst nach einer längeren Auseinandersetzung mit den Schriften von Marx begegnen sollte/ kann. Dessen eingedenk gilt für diesen Abschnitt festzuhalten: Die Transformation von Werten in Preise im Rahmen der »Verdurchschnittlichung« der Profitrate berührt generell die Verteilung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals: Die Konkurrenz verteilt das Gesamtkapital so auf die einzelnen Sektoren und Produktionsbranchen, dass - unter der Bedingung vollständiger ? Akkumulation des Mehrwerts - alle Kapitale in etwa die gleiche Chance besitzen, im gleichem Maßstab zu expandieren. Trotz einer bald 50 Jahre andauernden polit-ökologischen Kritik am Prinzip des »Wachstums« ist dieses Prinzip auch im 21. Jahrhundert das Maß schlechthin geblieben - auch wenn der Preis dieses Prinzips immer stärker ins Bewusstsein kommt (etwa in Gestalt der medialen Aufmerksamkeit für die Weltklima-Deformation). 5.1.17 Produktive und unproduktive Arbeit innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise Die Unterscheidung von ? produktiver und unproduktiver Arbeit, das sei vorweg gesagt, wird nicht selten mit einer anderen Marx’schen Unterscheidung verwechselt, die die Gesamtproduktion einer Wirtschafteinheit in die Abteilungen Produktionsmittel und Konsumtionsmittel unterteilt. Sie wird zudem nicht selten in Beziehung zu einer weiteren Unterscheidung gesetzt, die Marx vornimmt, nämlich die zwischen fixem und zirkulierendem Kapital. Auf diese beiden Unterscheidungen soll hier nicht weiter eingegangen werden, auch wenn sie im Rahmen eines vertieften Studiums von Marx’ Theorie durchaus von Wichtigkeit sind, um dessen Darstellung der Reproduktion und Zirkulation des gesellschaftlichen Gesamtkapitals nachzuvollziehen. 73 Die Unterscheidung produktive versus unproduktive Arbeit betrifft im Kern wieder die Frage nach dem Ort der Wertschöpfung und führt recht unvermittelt zu einem Problemfeld der Wirtschaftswissenschaften, das den Namen »Dienstleistung« trägt. Zugespitzt lautet die Frage, ob Dienstleistungsarbeit auch Quelle des Mehrwerts sein kann oder ob sie maximal dazu beiträgt, die notwendig anfallenden Produktionskosten zu vermindern. Doch auch hier wieder der Reihe nach. Nach Marx reicht es für den funktionierenden Zirkulationsprozess des Kapitals nicht aus, dass bloß konstantes und variables Kapital aufgebracht und investiert wird. Es fallen im Rahmen der Zirkulationssphäre weitere Kosten an, die bezahlt 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 206 <?page no="206"?> werden müssen. Marx unterscheidet dabei die reinen Zirkulationskosten von den falschen bzw. unechten Kosten: die ersten sind bedingt durch den Prozess Warenwerterzeugung - Tauschwertrealisierung, die zweiten sind eigentliche Produktionskosten, die als solche jedoch nicht erscheinen. Zu den echten oder reinen Kosten der Zirkulation gehören etwa die Ausgaben für den An- und Verkauf von Waren, Werbungskosten, Buchführungs-, Büromaterialkosten, Kreditzinsen, Steuern usw. Diese Kosten, also diese in Preise ausgedrückten Werte, schaffen selbst keinen Wert. »Das allgemeine Gesetz ist, daß alle Zirkulationskosten, die nur aus der Formverwandlung der Ware entspringen, dieser letztren keinen Wert hinzusetzen. Es sind bloß Kosten zur Realisierung des Werts oder zu seiner Übersetzung aus einer Form in die andre. Das in diesen Kosten ausgelegte Kapital (eingeschlossen die von ihm kommandierte Arbeit) gehört zu den faux frais [den falsche Kosten: notwendig, aber ohne Wertschöpfung, B. T.] der kapitalistischen Produktion.« (Marx, Das Kapital II, MEW, Bd. 24, 150) Dies bedeutet: Die im Handel oder im Büro eines Unternehmens arbeitenden Angestellten schaffen nach Marx keinen Wert, sind keine Mehrwertquelle - sie dienen nur als notwendige Bedingungen dazu, dass sich die Formverwandlung des Warenwertes ereignet und also Profit erzielt werden kann. Diejenige Arbeit, die im Zirkulationsbereich des kapitalistischen Verwertungsprozesses stattfindet, nennt Marx unproduktive Arbeit: Sie schafft keinen neuen Wert, sie hilft »nur«, dass sich Wert realisiert. Diejenige Arbeit hingegen, die tatsächlich an der Schaffung von Mehrwert unmittelbar beteiligt ist, nennt Marx produktive Arbeit. Selbstverständlich geht Marx davon aus, dass ein Angestellter, der im Zirkulationsbereich unproduktive Arbeit verrichtet, genauso unbezahlte Arbeit verrichtet, wie wir es bei der Bestimmung des Mehrwerts nach Marx kennengelernt haben - nur jetzt mit dem Unterschied, dass die unbezahlte Mehrarbeit nicht Quelle von Mehrwert, sondern Grund der Kostensenkung ist. Wenn also ein Angestellter in der Buchhaltung einen Lohn erhält, der dem Wertprodukt von sechs Stunden Arbeit entspricht, er aber acht Stunden pro Tag arbeitet, dann, so Marx, entsteht kein überschüssiges Produkt oder Wert, der angeeignet werden könnte. Dem Kapitalisten »vermindern sich durch Nichtzahlung der zwei Stunden die Zirkulationskosten seines Kapitals, die einen Abzug von seiner Einnahme bilden. Für ihn ist es ein positiver Gewinn, weil sich die negative Schranke der Verwertung seines Kapitals enger zieht.« (Ebenda, 134) Um der Vollständigkeit willen soll noch kurz Erwähnung finden, was es mit den unechten Zirkulationskosten auf sich hat - denn das eben Gesagte bezieht sich auf die reinen Zirkulationskosten. Die unechten Kosten, so Marx, »können aus Produktionsprozessen entspringen, die nur in der Zirkulation fortgesetzt wer- 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 207 <?page no="207"?> den, deren produktiver Charakter also durch die Zirkulationsform nur versteckt ist« (ebenda, 138). Hierzu zählen etwa die Kosten der Aufbewahrung, der Vorratsbildung, Lagerkosten, vor allem Transportkosten 74 . Marx geht in wieder akribisch verlaufenden Erörterungen davon aus, dass Arbeit, die im Rahmen der Lagerhaltung, des Transportes usw. stattfindet, den Produkten Wert hinzufügt - also ? produktive Arbeit ist. 5.1.18 Das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate und die inneren Widersprüche desselben Der Fall der Profitrate, so wie Marx ihn erläutert, verdeutlicht wie unter einem Brennglas seine elementare Überzeugung, dass trotz aller Ausgleichsprozesse, aller Annäherungsprozesse, aller »Verdurchschnittlichungen« die kapitalistische Produktionsweise auf einer grundlegenden Asymmetrie aufruht, nämlich auf der Asymmetrie zwischen konstantem und variablem Kapital, die zugleich der Motor der unglaublichen Dynamik des Kapitalismus (Stichwort: Zwang zur Produktivitätserhöhung) wie auch Motor der letztlich unaufhebbaren Widersprüchlichkeit des gesamten Systems selbst ist. Übertrieben gesagt konstruiert Marx mit der These vom Fall der Profitrate eine Polarität, eine negative Polarität, die in einer alles beherrschenden Spannung mit einem andern, positiven Pol steht, den man als prinzipielle Grenzenlosigkeit der kapitalistischen ? Wertverwertung bezeichnen könnte. Stellt die Wertverwertung eine Art positives Perpetuum mobile dar, so der Fall der Profitrate eine Art negatives Perpetuum mobile. Das eine - die sich selbst antreibende Dynamik grenzenloser Verwandlung von Wert in ? Profit durch permanentes Wachstum - ist ohne das andere - die ebenfalls sich selbst antreibende Dynamik, in der ebendiesem Wachstum die Grundlagen entzogen wird - nicht zu haben, so kann man Marx verstehen. Es ist eine Form der gegenstrebigen Fügung (Chiasmus) bzw. des Antagonismus (gegeneinander gerichtete Wirkungsweise) in Reinform, die Marx damit theoretisch entwirft; eine ? Dialektik im Innersten der kapitalistischen Gesetze, die sich zwar im Außerhalb der Gesetze, also in den Erscheinungsebenen des Vollzugs, abmildern, verzögern, vermindern lässt, aber eben nicht mehr aufgehoben werden kann durch die wirkliche Realität der Historie, des Tausches, des Wirtschaftens, der kapitalistischen Innovationen. Die Kernaussage der These vom Fall der Profitrate ist, • dass die kapitalistische Produktion strukturell gezwungen ist, die organische Zusammensetzung des Kapitals zugunsten des konstanten Kapitals zu verschieben (hohe organische Zusammensetzung; verstärkter Einsatz von Maschinen, Forschung); 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 208 <?page no="208"?> • dass diese Zunahme des Anteils des konstanten Kapitals und damit die relative Abnahme des variablen Kapitals als Quelle des Mehrwerts die unausweichliche Senkung der Profitrate bedingt; deren Sinkgeschwindigkeit kann zwar beeinflusst werden, nicht aber das Sinken selbst; • dass damit die kapitalistische Produktion insgesamt eine lebenswichtige Dynamik verliert und - früher oder später - in Krisenphasen gerät, in denen schließlich ihre Aufsprengung resp. ihr Zusammenbruch herbeigeführt wird. Marx’ Versuch, den Kapitalismus als prinzipiell begrenztes System zu beschreiben, eben weil der Fall der Profitrate notwendig und nicht einfach nur zufällig geschieht, mündete nicht in einer ausgearbeiteten Krisentheorie. Und Marx fasste auch den Profitratenfall nicht so auf, als ob davon ausgehend nun automatisch, notwendig und unmittelbar die Krisen und Katastrophen der Wertverwertung quasi berechnet werden könnten. Was die Profitminimierung für Marx allerdings unverrückbar zum Ausdruck bringt, ist der vorrübergehende, der transitorische, der nur historische Charakter der kapitalistischen Produktionsweise. Bezogen auf einen von mehreren Auslösern, die Marx für den Fall der Profitrate verantwortlich macht, nämlich die Überproduktion, sagt Marx: »Es wird nicht zuviel Reichtum produziert. Aber es wird periodisch zuviel Reichtum in seinen kapitalistischen, gegensätzlichen Formen produziert. Die Schranke der kapitalistischen Produktionsweise tritt hervor: 1. Darin, daß die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit im Fall der Profitrate ein Gesetz erzeugt, das ihrer eignen Entwicklung auf einen gewissen Punkt feindlichst gegenübertritt und daher beständig durch Krisen überwunden werden muß. 2. Darin, daß die Aneignung unbezahlter Arbeit, und das Verhältnis dieser unbezahlten Arbeit zur vergegenständlichten Arbeit überhaupt, oder, kapitalistisch ausgedrückt, daß der Profit und das Verhältnis dieses Profits zum angewandten Kapital, also eine gewisse Höhe der Profitrate über Ausdehnung oder Beschränkung der Produktion entscheidet, statt des Verhältnisses der Produktion zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen, zu den Bedürfnissen gesellschaftlich entwickelter Menschen.« (Marx, Das Kapital III, MEW, Bd. 25, 268 f.) Marx sieht in der sehr komplexen Gestalt des besagten Profitratenfalls sogar »das wichtigste Gesetz der modernen politischen Ökonomie und das wesentlichste, um die schwierigsten Verhältnisse zu verstehen. Es ist vom historischen Standpunkt aus das wichtigste Gesetz.« (Marx, Grundrisse, 634) Historisch deswegen, weil dieser Profitratenfall nach Marx tatsächlich aus eigenen Kräften das historische Ende des Kapitalismus zentral initiiert. Nochmals eine Stelle aus Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie: »[S]o zeigt sich […], daß die durch das Kapital 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 209 <?page no="209"?> selbst in seiner historischen Entwicklung herbeigeführte Entwicklung der Produktivkräfte, auf einem gewissen Punkt angelangt, die Selbstverwertung des Kapitals aufhebt, statt sie zu setzen« (635). Und das heißt wiederum: Diejenigen Gesetze, nach denen sich der Kapitalismus entwickelt und nach denen sich spezifische Sozialstrukturen im Wirtschafts- und auch im politischen System bilden, sind exakt auch diejenigen, die diese Entwicklung »übertreiben« und die kapitalistische Sozialstruktur negieren. Worin besteht nun das Gesetz? Ganz einfach darin: Mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise (zeitlich betrachtet) fällt die Rate des Profits (ökonomie-logisch betrachtet). Es fällt die Größe des relativen Mehrwerts, also: das Verhältnis des Mehrwerts zum vorgeschossenen Kapital verändert sich.* * Nochmals sei daran erinnert: ? Mehrwert und ? Profit sind nicht dasselbe. Wenn auch die Vermittlungen zwischen beiden immer komplizierter werden, so hält Marx jedoch daran fest, dass die Mehrarbeit und damit Mehrwert produzierende Arbeit dasjenige ist, wovon sich Profit (in der Zirkulationssphäre) letztlich ableitet. Kurz: Die Profitrate findet selbst bei Steigerung der Mehrwertrate ihre obere Schranke an der Menge der eingesetzten lebendigen Arbeit. Mag auch die absolute Masse des Mehrwerts steigen, mag der absolute Umsatz wachsen, mögen neue Märkte hinzukommen - all das ändert nach Marx nichts daran, dass die steigende Mehrwert-Masse m den Fall der Rate m / C letztlich nicht ausgleicht, weil C noch rascher steigt als m (Marx, Das Kapital III, MEW, Bd. 25, 252) - weil also der Kapitalteil, der keinen zusätzlichen Wert schafft, schneller wächst als der wertschaffende, und somit relativ weniger Profit erzielt werden kann. Es muss also erklärt werden, wie es kommt, dass selbst eine steigende Mehrwertrate den durch die spezifische Veränderung der organischen Zusammensetzung hin zu einer hohen Zusammensetzung (proportional immer mehr konstantes Kapital, immer weniger variables Kapital) bedingten Fall der Profitrate nicht stoppen, nicht aufheben kann. Und diese Erklärung beinhaltet zumindest die folgenden Voraussetzungen: • Das Gesetz vom tendenziellen Profitratenfall bezieht sich nur auf den Profitratenfall sogenannter nationaler Kapitale; es lässt also den Weltmarkt unberücksichtigt; • es bezieht sich nur auf das Fallen der Durchschnittsprofitraten, nicht aber auf die sogenannten Zweigbzw. Branchenprofitraten; • es sieht ab von möglichen Veränderungen der Rate durch das Handelskapital und durch Preisbewegungen; • es ist zu verstehen als sogenanntes soziales Gesetz, nicht als eine Art Naturgesetz; es ist daher dem Ereignisstrom der Geschichte ausgesetzt. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 210 <?page no="210"?> Wäre nun der von Marx angenommene Fall der Profitrate ungehemmt wirksam, läge die kapitalistische Produktion sicher schon längst in ihren letzten Zügen, wenn man davon ausgeht, dass sie sich seit den 1830er Jahren vollständig in ihrer Hochphase befindet. Marx kommt daher darauf zu sprechen, warum dieser Ratenfall als ein potentiell angelegter, also tendenzieller, aber nicht als ein unmittelbar aktueller, also empirisch-faktisch feststellbarer Fall des Profits zu verstehen ist. Unter der Überschrift »Entgegenwirkende Ursachen« schreibt er: »Wenn man die enorme Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit selbst nur in den letzten 30 Jahren, verglichen mit allen frühern Perioden, betrachtet, wenn man namentlich die enorme Masse von fixem Kapital betrachtet, das außer der eigentlichen Maschinerie in die Gesamtheit des gesellschaftlichen Produktionsprozesses eingeht, so tritt an die Stelle der Schwierigkeit, welche bisher die Ökonomen beschäftigt hat, nämlich den Fall der Profitrate zu erklären, die umgekehrte, nämlich zu erklären, warum dieser Fall nicht größer oder rascher ist. Es müssen gegenwirkende Einflüsse im Spiel sein, welche die Wirkung des allgemeinen Gesetzes durchkreuzen und aufheben und ihm nur den Charakter einer Tendenz geben, weshalb wir auch den Fall der allgemeinen Profitrate als einen tendenziellen Fall bezeichnet haben.« (Ebenda, 242) Marx nennt sechs Momente, die die Wirkung des Profitratenfalls »durchkreuzen« resp. temporär hemmen und aufheben (ebenda, 242 ff.): • Erhöhung des Ausbeutungsgrades der Arbeit, • Senkung des Arbeitslohnes unter Wert, • Verbilligung der Bestandteile des konstanten Kapitals, • »Erzeugung« einer relativen Überbevölkerung (disponible und freigesetzte Lohnarbeiter), • Ausweitung des »auswärtigen Handels« und dadurch Senkung des Werts des konstanten Kapitals, • Zunahme des Aktienkapitals und dadurch Vergrößerung der Kapitalmasse. Diese Momente muss man sich nun innerhalb einer zweischneidigen Bewegung des Kapitals denken, für die der Profitratenfall verantwortlich gemacht werden kann. Denn einerseits, so Marx, »beschleunigt der Fall der Profitrate […] die Konzentration des Kapitals und seine Zentralisation durch die Enteignung der kleinern Kapitalisten, durch die Expropriation des letzten Rests der unmittelbaren Produzenten, bei denen noch etwas zu expropriieren ist. Dadurch wird andrerseits die [ ? ] Ak- 5.1 Ökonomietheorie-interne Herausforderung 211 <?page no="211"?> kumulation, der Masse nach, beschleunigt, obgleich mit der Profitrate die Rate der Akkumulation fällt. Andrerseits, soweit die Rate der Verwertung des Gesamtkapitals, die Profitrate, der Stachel der kapitalistischen Produktion ist (wie die Verwertung des Kapitals ihr einziger Zweck), verlangsamt ihr Fall die Bildung neuer selbständiger Kapitale und erscheint so als bedrohlich für die Entwicklung des kapitalistischen Produktionsprozesses; er befördert Überproduktion, Spekulation, Krisen, überflüssiges Kapital neben überflüssiger Bevölkerung.« (Ebenda, 251 f., kursiv B. T.) Marxens Theorem vom tendenziellen Fall der Profitrate hat u. a. eine weitgehende mathematische Debatte zur Folge gehabt, die darzustellen hier nicht der Platz ist. Dabei wurden einige neue Unterscheidungen eingeführt, die entweder die Validität oder die Ungültigkeit des Theorems nachzuweisen suchten. Auch bei aller Umstrittenheit des Gesetzes gilt indes, dass seine Fortentwicklung ebendieses Gesetzes einen ökonomietheoretischen Stand markiert, hinter den nicht mehr ohne Weiteres zurückgegangen werden kann. Denn während etwa David Ricardo, von dem Marx sehr viel an Theorie übernommen und dann verändert hat, den Profitratenfall mit dem Ausbleiben von (technischen) Innovationen im Bereich der Landwirtschaft zu begründen suchte, geht Marx weit darüber hinaus: Er versuchte, den Fall der Profitrate aus dem grundlegenden positiven Prinzip der kapitalistischen Produktionsweise heraus zu erklären, also daraus, dass der Kapitalismus innerlich gezwungen ist, seine Produktivkräfte in Permanenz zu entwickeln. Er muss also • die Arbeitsproduktivität erhöhen, • die Arbeitswerte senken (also den Wert der Waren, die in den Konsum des Arbeiters für seine Reproduktion eingehen und damit den Wert der Arbeitskraft als Ware in Gestalt des Lohnes bestimmen), • die eingesetzten Produktionsmittel pro Beschäftigungseinheit erhöhen, • den Anteil des variablen Kapitalteils senken - und damit in letzter Instanz den erzielbaren Profit. Es kommt zu ökonomischen Krisen*, die sich, so Marx, zu gesellschaftlichen Krisen ausweiten. * Man unterscheidet in der Regel zwei Formen der Krise: In der Überakkumulationstheorie findet die Krise ihren Grund darin, dass der »Kapitalkoeffizient« (grob: zu viel Kapitaleinsatz im Verhältnis zur möglichen Wertschöpfung) steigt; in der Realisationskrisentheorie resp. in der Unterkonsumtionstheorie hingegen ist es die immer schlechtere Verteilung der Einkommen zwischen Kapitalisten und Lohnabhängigen, die zur Krise führt. - Nach Lenin fand der Kapitalismus nur noch im Imperialismus einen Ausweg aus seiner immer schärfer werdenden Krise. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 212 <?page no="212"?> Zusammengefasst und leicht pointiert kann man im Beschreibungs- und Erklärungsterminus des »tendenziellen Profitratenfalls« durchaus eine Art Kristall des Marx’schen Denkens ausmachen - ein multifunktionaler, »hybrider« Begriff, dessen Verwendbarkeit sich in mehreren Dimensionen zu bewähren hatte: • Auf der Ebene der Marx’schen Theoriearchitektur erlaubte der Begriff des Profitratenfalls es, auf eine ausgefeilte Krisentheorie des Kapitalismus zu verzichten. • auf der Ebene der Marx’schen Geschichtsphilosophie erlaubte er es, von einer ausgefeilten Ethiktheorie abzusehen, die zu begründen hätte, warum es gerechtfertigt ist, dass das Proletariat in der kapitalistischen Krise die gesellschaftliche Macht an sich reißt; • auf der Basis-Ebene der materialistischen Theorie ermöglichte die Benennung von durchkreuzenden Elementen, die der realen Geschichte ausgesetzt sind und damit nicht als nur logische oder theoretische Ideen gelten, das Ratenfalltheorem fürs Erste von jedem Verdacht der A-Historizität freizusprechen, zumindest aber den Verdacht zu erschweren; • auf der Ebene der Arbeiterbewegung erlaubte die These vom Profitratenfall es schließlich, im Duktus einer objektiven Tatsachenbeschreibung die Gewissheit zu vermitteln, dass der Lauf der Geschichte des Kapitalismus ganz auf der Seite des geschichtlichen Wollens der Arbeiterklasse steht. Gleich der von Marx nicht ausgearbeiteten Verelendungstheorie 75 machte es dieser Begriff möglich, im Zerfall und in der Krisenverschärfung der damaligen Zeit die Bedingung für den Anbruch einer nachkapitalistischen Zukunft zu sehen - besser: zu erhoffen. War der Begriff des Profitratenfalls also zugleich deterministisch (das Fallen ist beschlossene Sache) und offen (wann die Rate fällt bleibt ungewiss), so erlaubte seine ? dialektische Anlage letztlich das Überhandnehmen eines Optimismus - eines Optimismus, der dazu führte, den Zusammenbruch des Kapitalismus in allernächster Zukunft zu erwarten; eines Optimismus, der sich dann, vor allem im Sowjetkommunismus, beinahe vollständig in einer Instrumentalisierung wiederfand (»der Aufbau einer wirklichen kommunistischen Gesellschaft ist in allernächster Zukunft zu erwarten«); und eines Optimismus, der, vor allem im Westen, sich nur noch »hinter« einer radikalen Gesellschaftskritik in Stellung brachte. 5.2 Linien der Kritik Die Linien der (negativen) Kritik, die sich seit der Rezeption des Marx’schen Werkes ent- und verwickelt haben, sind so umfangreich, dass ein Überblick auf engem Raum kaum möglich ist. Nicht nur ist die innermarxistische und nichtmarxisti- 5.2 Linien der Kritik 213 <?page no="213"?> sche Kritik sehr ausgeprägt, es kommt komplizierend hinzu, dass man bei der Auseinandersetzung mit Marx kaum umhin kann, diejenigen politischen Projekte, die sein Werk explizit als Programm für ihre Verwirklichung auserkoren haben, mit in die Kritik hineinzunehmen. Zudem macht es die Verschiedenheit der Geltungsansprüche, mit denen die Kritiken einzelne Theoreme, einzelne Theorieteile oder die gesamte Theorieanlage von Marx theoretisch beleuchten, fast unmöglich, klare Negation der Marx’schen Theorie und klare Abweichung von ihr eindeutig zu identifizieren. Die dargestellten Linien der Kritik betreffen die politische Ökonomie, die Gesellschaftstheorie, die Geschichtsphilosophie und »fehlende« Theoreme. Sie werden im Folgenden in der Form einer Aufzählung wiedergegeben; dies nicht allein deshalb, weil im Rahmen eines Einführungsbuchs eine ausführliche Darlegung aus Platzgründen nicht möglich ist. Diese Form wurde vielmehr auch aus einer bestimmten Erfahrung heraus gewählt, die sich so pointieren lässt: Viele Marx-Kritiker kritisieren Marx, weil sie Marx-Kritiken gelesen haben, nicht aber sein Werk.* * Freilich trifft man diese Pointe, den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen, nicht nur im Falle des Marx’schen Werkes an. Soweit ich es überblicken kann und von meinen Erfahrungen in universitären Diskussionen und Seminaren ausgehen darf, ist es in den letzten zehn Jahren üblich geworden, dass Studierende, die z. B. Foucault, Habermas, Luhmann oder Deleuze kritisieren, ihr Wissen maßgebend aus der Sekundärliteratur bezogen haben. Das spricht nicht gegen Sekundärliteratur, sondern nur gegen ein falsches Timing, was wann und wie gewichtet zu lesen ist. 5.2.1 Historische Zweifel an der ursprünglichen Akkumulation Die von Marx gemachten Beobachtungen, die ihm als Bedingungen für die ? ursprüngliche Akkumulation des Kapitals in England gelten - also Vertreibung, Verarmung und Verelendung der Landbevölkerung mit Beginn des 16. Jahrhunderts -, bleiben umstritten. Andere Beobachter gehen davon aus, dass die beginnende Expansion der Wollproduktion im 15. und 16. Jahrhundert als Folge einer massiven Verbesserung der Lebenslage breiter Massen - und damit als Folge einer erhöhten Nachfrage zu verstehen ist. Diese Expansion hat demgemäß nicht zu einer Vertreibung unzähliger Bauern von ihrem Land geführt. Zudem sprächen gegen Marx’ Sicht Maßnahmen der englischen Krone, mit 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 214 <?page no="214"?> denen die Umwandlung von Ackerfläche in Weidefläche verhindert werden sollte (Depopulation Act). Die Ablösung des Feudalsystems durch die kapitalistische Produktionsweise führen diese Beobachter im Unterschied zu Marx vielmehr darauf zurück, dass in England eine Marktkonkurrenzsituation bestand, die ob der breiten Streuung des Bodenbesitzes das Wachstum eines Massenmarktes begünstigte. Dies wirkte zugleich Tendenzen der herrschenden ? Klassen entgegen, die auf eine Rezentralisierung ihrer Macht abzielten. Marxens Erklärung der ursprünglichen Kapitalakkumulation wird in der Kritik also regionalisiert, d. h., man attestiert ihr Gültigkeit für einzelne Akkumulationen, nicht aber für den Gesamtprozess der Akkumulation, wie er in Europa stattfand (so sind etwa in Spanien des 15. und 16. Jahrhunderts alle Bedingungen, die Marx für England beschreibt, vorhanden; dort waren sie allerdings nicht von einer beginnenden Kapitalakkumulation begleitet). Marx wird zudem vorgeworfen, keine historische, sondern nur eine theoriekompatible Erklärung des beginnenden Kapitalismus zu liefern. Die Kritik geht also - anders als Marx - davon aus, dass die Bedingungen, welche die kapitalistische Produktionsweise ermöglichen, ebendieser Produktionsweise nicht inhärent sind. Innermarxistisch findet man zudem Kritik an der Überzeugung, dass die ursprüngliche Akkumulation, so wie Marx sie verstand, als historisch abgeschlossen betrachtet werden muss. Akkumulationsprozesse - so wird argumentiert - hätten nicht nur zu Beginn der Herausbildung des Kapitalismus stattgefunden, sie seien vielmehr als permanente Prozesse zu verstehen, die sich heute über die ursprüngliche enclosure-Form (»Bauernlegen«; also die gewaltsame Veränderung der bäuerlichen Existenz zum Zwecke der Rekrutierung von Arbeitern einerseits und zur Veränderung des Anbaus andererseits) hinwegsetzen und die Enteignung von public goods der materiellen und immateriellen Art betreiben (etwa: privatwirtschaftliche Patentierung von Getreidesamen; Aushöhlung der Freizeit der Menschen durch zunehmende Mitarbeit des Kunden als Dienstleister, z. B. im Geld- und Bankverkehr). Diese permanente ursprüngliche Akkumulation (Claudia von Werlhof ) wird als substanzieller kapitalistischer Prozess gedeutet und damit also historisch und gegenstandspraktisch dynamisiert, d. h., er wird als weiterhin gegenwärtiges zentrales Element kapitalistischer Produktionsweise gesehen, um das gesellschaftliche Kräfte kämpfen. Marx dagegen deutete die Akkumulation als historisch abgeschossenes Ereignis, als historisches Sediment, das nicht mehr Gegenstand aktueller politischer Kämpfe ist. 5.2 Linien der Kritik 215 <?page no="215"?> 5.2.2 Historische Zweifel an den Konzentrationsbewegungen von Kapital/ Arbeit und an der Chronologisierung der absoluten/ relativen Mehrwertproduktion Eine weitere »historische« Kritik betrifft die von Marx prognostizierte Ausschaltung kleiner bis mittlerer kapitalistischer Betriebe im Fortgang des Kapitalismus selbst. Nach Marx ist es unvermeidlich, dass sich die Kapitalistenklasse einer zunehmenden Oligopolisierung und dann Monopolisierung ausgesetzt sieht, genauso, wie die ? Arbeiterklasse sich zur Zentralisierung gezwungen sieht und kleine Gruppierungen aufsaugen wird. Historisch hat sich indes herausgestellt, dass kleine und mittlere Unternehmen nicht von dieser nach Marx notwendigen Entwicklung erfasst wurden und nach wie vor existieren; wie auch die Herausbildung einer Arbeiterklasse sich zumindest historisch nicht bewahrheitete. Gleichsam hat die historische Forschung ergeben, dass Marxens implizit angelegte Chronologie von absoluter und relativer ? Mehrwertproduktion - der absoluten folgt die relative - nicht unstrittig ist. In vielen Branchen verliefen Zunahme und Abnahme des Arbeitstages dezidiert nicht so, wie Marx es historisch-logisch zu beschreiben suchte (so gab es schon im 18. Jahrhundert andauernde Arbeitszeitverkürzungen in bestimmten Handwerksbranchen, während in anderen Branchen noch im späten 19. Jahrhundert die Arbeitszeit zunahm). 5.2.3 Methodische Zweifel an »der« Dialektik Eine anders gelagerte Kritik betrifft die theoretisch-methodisch-begriffliche Dimension des Marx’schen Werkes. Bezogen auf die von Hegel übernommene Unterscheidungseinheit »Widerspruch/ ? Dialektik« hat die Kritik an Marx bestimmte Inkonsequenzen ausgemacht, die aus der nicht immer klaren Verwendung dieser Einheit herrühren. Seine dialektische Kette lässt sich so verkürzen: Die Waren produzierende abstrakte ? Arbeit ist als Einheit des Widerspruchs von individueller und gesellschaftlicher Arbeit zugleich Grund für das dialektische Weitertreiben dieser widersprüchlichen Einheit in Gestalt der ebenfalls widersprüchlichen Einheit von ? Gebrauchswert- und Tauschwertproduktion, diese ist dann Grund für die widersprüchliche Einheit namens Geld (beschränkte Unendlichkeit der Monetarisierung, also Beschränkung des Zu-Geld-Machens durch die nach Marx unaufhebbare Abhängigkeit des Geld-Machens von der Arbeitskraft), diese Widersprüchlichkeit des Geldes wiederum ist der Grund für die letzte Erscheinungsweise einer widersprüchlichen Einheit namens Kapital, dessen 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 216 <?page no="216"?> Widerspruch in der gleichzeitigen Steigerung der Produktivität und der Verringerung des Mehrwerts liegt. Es wird nun geltend gemacht, dass Marx bei dieser dialektischen Bewegung der Widersprüche, genauer: bei der dialektischen Bewegung vom Geld zum Kapital, das Vorhandensein der Arbeitskraft nicht dialektisch ableitet, sondern schlicht voraussetzt und dann einführt. So man nun weiterhin marxistisch argumentieren möchte, müsste man folglich die Dialektik maximal als eine Methode der Darstellung, aber nicht mehr als ein den realen Sachverhalten innerliches Transformationsprogramm verstehen. Der dialektische Nachweis, dass die kapitalistische Realität selbst im Kern dialektisch sei, könnte somit nicht mehr geliefert werden. Damit aber würden die »internen Bande« zwischen Realitätserscheinung und Realitätserkennen zerreißen und der materialistische Anspruch uneingelöst bleiben, dass sich im Erkennen der »falschen Erscheinung« von Realität die »richtige Realität« selbst zum Ausdruck bringt. Also vereinfacht gesagt: Weil Marx in der Arbeitskraft den alles durchdringenden Stachel sieht, der die widersprüchlich-dialektischen Bewegungen und Metamorphosen des Kapitals zur dialektischen Entfaltung zwingt, er aber diese Arbeitskraft selbst nicht dialektisch, sondern nur voraussetzend in die Beschreibung der kapitalistischen Produktionsweise einführt, wird der theoretische Anspruch fragwürdig, dass es sich bei der Dialektik tatsächlich um eine objektive, beobachterunabhängige Eigenschaft kapitalistischer Realität handelt, und nicht nur um eine Interpretation dieser Realität. 5.2.4 »Logische« Zweifel an der Werttheorie (Arbeitswertlehre) Ähnlich kompliziert verhält es sich mit der ? Werttheorie. Die zum Teil sehr fortgeschrittene Kritik konstatiert hier Inkonsistenzen bei der Transformation von ? Wert in Preis sowie bei der Ableitung des Werts aus der abstrakten Arbeit. Strittig bleibt in der Diskussion, ob und wie weit der in der Produktion gebildete Wert beim Eintritt in die Zirkulationssphäre, und damit in einen Bewertungsprozess der Märkte, substanziell verändert wird oder nicht. Marxens theoretische Entscheidung, den Wert als solchen genetisch, sprich ursächlich in der Produktion anzusiedeln, während er andererseits angewiesen ist auf die »phänomenische« Realisierung dieses Werts in der Zirkulation, also darauf angewiesen ist, dass sich der schon vorhandene Wert noch ausdrücken muss, und das zumeist in Preisen, hat viele Kritiken angespornt, genau darin das theoretische Wert-Preis-Transformationsproblem zu sehen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Marx in der Transformationskette Werte - Profitrate - Produktionspreise die Profitrate als Größe 5.2 Linien der Kritik 217 <?page no="217"?> konstruiert, die sich beim Übergang vom Wertsystem ins Preissystem nicht ändert. Kurzum: Diese Kritik (vornehmlich der sogenannten Grenznutzenlehre) macht geltend, dass mit Marx’ Annahme, die gesamte kapitalistische Wirtschaft habe nur eine Wertquelle, die Bedeutung der Zirkulationssphäre nicht angemessen beurteilt werden kann. Andere Kritiken fokussieren Unklarheiten der Marx’schen Werttheorie dahingehend, dass die Verbindung von Werten, die nur mit der Veränderung der eingesetzten Techniken (Erhöhung der Produktivität, Verbilligung der Lebensmittelproduktion) in ihrer Größe variieren, und Preisen, die mit den Techniken und den Reallöhnen (oder der Profitrate) in ihrer Größe variieren, zu einem Ungleichgewicht der Stabilität der Produktion führt: Werte sind demnach stabiler als Preise, d. h., sie müssten Orientierung sein für die Unternehmensplanung, die Unternehmensproduktion und die Marktbeobachtung. Wären aber die Wertgrößen stärker an die Entwicklung der Produktionstechniken denn an die auf dem Markt erzielbaren Preise gebunden, dann würde der Stellenwert der abstrakten Arbeit unklar werden: denn eigentlich müssten die Werte auf ebendiese abstrakte Arbeit zurückgeführt werden. Die Kritik macht also kurz gesagt geltend, dass Marx zu unlogischen Bestimmungen des Wertes kommt, eben weil er die Preisdimension und die Wertdimension der Produktionsmittel und der Produktivkräfte zu strikt trennt. Es ist hier zu betonen, dass die angeführte Kritik einer quantitativen Werttheorie-Interpretation zuzurechnen ist, der eine qualitative Interpretation gegenüberstand und gegenübersteht, die an Marx’ Werttheorie eher den Aspekt hervorhebt, dass es sich bei ihr um eine Geld- und Kapitaltheorie handelt, die als einzige einsehbar macht, dass es sich im Wertverhältnis um ein sozio-logisches Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Akteuren handelt und nicht einfach nur um ein logisches Verhältnis von Daten und Zahlen, das man schlicht errechnen könnte. Eine anders gelagerte Kritik am Wertgesetz (oder Werttheorie resp. Arbeitswertlehre; alle Begriffe werden in der Rezeption synonym benutzt) wird von den Vertretern der sogenannten Grenznutzentheorie formuliert (Eduard Bernstein, Eugen Böhm-Bawerk, George B. Shaw), die ihre Vorstellungen zu Beginn nicht als Widerspruch zur Marx’schen Arbeitswertlehre, sondern als Ergänzung verstanden. Die Kritik der englisch-österreichischen Grenznutzenschule setzt an bei der Marx’schen Überzeugung, dass der Tauschwert der Waren in Gänze bestimmt wird durch die Menge an Arbeit, die in den Waren verkörpert wird. Diese Bestimmung wird als objektivistisch abgelehnt, d. h. als eine Wertbestimmung, die keinerlei Rücksicht nimmt auf die Realität der Vorstellungen und Einstellungen, die Menschen haben. So soll Spielraum für eine Sichtweise gewonnen werden, die nun die Wertbildung an subjektive Modelle der jeweiligen Markteilnehmer ankoppelt: Deren Vorstellungen darüber, was für sie nützlich ist, bestimmten ihr 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 218 <?page no="218"?> ökonomisches Verhalten mit und trügen ebenfalls zur Wertbildung bei, die sich in Preisen ausdrücke (des Kaufs und des Verkaufs; man kann dies beinahe in Reinform an der »Bewertung« von Aktien an der Börse nachvollziehen: Der Preis einer Aktie bestimmt sich hier über die Erwartungen an die Aktie, nicht mehr nur über den tatsächlichen Wert). Die Wertbildung ist damit losgelöst von der »objektiven« Bestimmung des Werts durch die durchschnittlich aufgebrachte abstrakte Arbeit pro Einheit. Marxens Wertgesetz - so der Vorwurf - sei zu aristotelisch angelegt (der Tausch vollzieht sich nach Marx immer unter der logischen Vorgabe, dass gleiche Werte getauscht werden) und habe keinen empirischen Nachweis für die Tauschwertbildung hervorgebracht (sondern »nur« einen deduktiv-logischen). Zudem habe Marx die psychologische Dimension des gesamten Tauschverkehrs unterschätzt. Auch erfasse seine Werttheorie nicht diejenigen tauschbaren Güter, die nicht als Resultate eines kapitalistisch organisierten Arbeitsprozesses gelten können. Marx überschätze außerdem den Faktor »Konkurrenz« für die Preisbildung in dem Maße, wie er den Faktor »individuelles Motiv« (»Verlangen«; Eduard Bernstein), für das der ? Gebrauchswert der Ware viel wichtiger sei als der Tauschwert, vernachlässige. Die Grenznutzentheorie kritisiert also Gleichsetzung von Kosten und Werten bei Marx, um andere Gründe (also Nutzen) und Maße (also Preise) der Bildung des Wertes anzuführen - etwa die individuelle Vorstellung der Nützlichkeit des Gebrauchswerts der Tauschware oder den sogenannten Güterwert einer Ware (also die nicht mehr nur ökonomische Bestimmung des Werts einer Ware jenseits des individuellen Gebrauchs und der privaten Mehrwertschöpfung; heute z. B. die ökologische Verträglichkeit einer Ware: Referenz ist hierbei nicht mehr der private Gebrauchs- und Tauschwert, sondern der Zukunftsbzw. Nachhaltigkeitswert). Die Preisbildung wird also zum Teil von der Wertbildung entfernt, um die Bedeutung individueller Vorstellungen über die Nützlichkeit von Gütern sowie die Bedeutung sozialer Meinungsbildungsprozesse und von ? Ideologien bei der Preisbildung zu berücksichtigen. 5.2.5 Zweifel am Entfremdungsbegriff Eine weitgehende Kritik am Marx’schen Begriff der ? Entfremdung und am Folgebegriff Verdinglichung ist verzahnt mit einer Kritik des theoretischen Stellenwertes des Eigentum-Begriffs (Giddens 1984, 342 ff.). Marx sah Entfremdung strukturell verkoppelt mit der kapitalistischen Form der Arbeitsorganisation, die ihrerseits mit dem Privateigentumsstatus der Produktionsmittel strukturell verkoppelt ist. Es wird daher geltend gemacht, dass Marx seine Kritik an der Un- 5.2 Linien der Kritik 219 <?page no="219"?> menschlichkeit der Arbeit tiefer hätte ansetzen müssen - nämlich schon auf der Ebene der fortgeschrittenen, technisch dominierten Arbeitsteilung. Ist nämlich Entfremdung auf dieser tieferen Ebene anzusiedeln, so erscheint die Wahrscheinlichkeit gering, dass bei Auswechslung der Form Privateigentum durch die Form Gesellschaftseigentum (Staats- oder Volkseigentum) auch die entfremdete Arbeit verschwindet. Mehr noch: Der von Marx erwähnte kapitalismusinterne Zwang zur »Vervielseitigung« des Arbeiters 76 - will sagen: der Kapitalismus benötigt zunehmend besser ausgebildete, vielfältige Kompetenzen besitzende und verschiedenste Aufgaben bewältigende Arbeiter - und damit schon Zwang zur teilweisen Aufhebung der stupiden, eintönigen Arbeit des Arbeiters als Maschinenanhängsel ist mehr als ambivalent zu deuten: nämlich als Disponibilität (Verfügbarkeit) des Arbeiters, die nur noch ideologisch Abstand zu halten vermag zum dem, was Richard Sennett als das flexible Individuum im Kapitalismus zu beschreiben sucht. Kurzum: Im Begriff des »vervielseitigten« Arbeiters, der jederzeit und überall einsetzbar zu sein hat, ist das Entfremdungsmoment zwar weiterhin gegeben, aber auch zugleich die Möglichkeit, die Entfremdung zum Teil aufzuheben (im nächsten Kapitel mehr dazu). Was Marx also - zeitbedingt - als eine erste Form der Befreiung und Befriedigung der Arbeiter in ihrem Arbeitsprozess prognostizierte, und zwar schon innerhalb des Kapitalismus, also innerhalb der ? Verdinglichung (und nicht mehr Entfremdung), hat sich empirisch als Illusion herausgestellt. Die Kritik an Marx macht hier geltend, dass er, freilich zeitbedingt, nur im Rahmen der Disziplinargesellschaft (hierarchisch organisierte Anwendung von (Außen-)Druck mittels Sanktionen; das Verhalten der Menschen wird von außen geregelt) die Arbeitswirklichkeit der Massen beurteilte und im langsamen Schwinden der Disziplin Formen der negativen Freiheit vermutete - während sich die Form der Ein- und Beschränkung realiter doch nur fortsetzte im Rahmen einer Kontrollgesellschaft (funktional organisierte Verwendung von (Innen-Druck) mittels Gratifikationen; das Verhalten der Menschen wird von ihnen selbst geregelt, man muss es nur noch kontrollieren), in der die Disziplin in einem Maße verinnerlicht wurde, wie es Marx sich nie hätte denken können. Eine weitere Kritik betrifft in diesem Zusammenhang den theorieinternen Status des Begriffs »Entfremdung«. Trotz der weitläufigen Analyse politischer, religiöser und schließlich sozialökonomischer Entfremdung, die Marx vorgenommen hat, bleibt unklar, warum sich Entfremdung in der »unmittelbaren Erwerbsarbeit« manifestiert und dort eigentlich erst richtig verkörpert wird. Unklar deswegen, weil damit eine Ambivalenz zum Tragen kommt, in der Entfremdung entweder durch eine völlig neue Form der Arbeitsorganisation vermieden werden kann - oder aber nur durch die Abschaffung der Erwerbsarbeit schlechthin (Robert Kurz). 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 220 <?page no="220"?> Diese Kritiklinie betrifft auch weitergehend Marxens seltene utopische Einlassungen betreffs der internen Verkopplung eines total entwickelten Individuums mit einer kommunistischen Gesellschaftsordnung, in welcher der Mensch alles tun kann, ohne es sein zu müssen. Die berühmte Stelle, auf die wir noch im folgenden Kapitel zu sprechen kommen, lautet: »Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muß es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will - während in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.« (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 33) Der Vorwurf lautet, dass Marx die Voraussetzung für diese Entfaltung des Individuums zu naiv ansetzte; denn es hat sich herausgestellt, dass eine Gesellschaft, welche die allgemeine Produktion regelt, damit das Individuum sich einem ständigen Ausprobieren hingeben kann, konzeptuell als komplexe Maschine zu denken ist, deren Verdinglichungseffekte Marx nicht im Blick hatte. Für ihn war sie eher als eine Art materialistische »nährende Mutter« (Alma mater) konzipiert, während Kritiker, die durch Max Webers Rationalisierungstheorie belehrt worden sind, in dieser von Marx antizipierten Gesellschaft durchaus eine Art stählernes Gehäuse wiederzufinden meinten, das die Verdinglichung nun auf das gesamte Leben ausweitet. Zudem habe Marx in seiner »postmaterialistischen« Prognose unterschätzt, in welch starkem Maße Menschen einer Identität bedürften, die sich in einer Deckungsgleichheit des Seins und des Tuns manifestiert. (Hier wird, um kurz vorzugreifen, die positive Kritik im folgenden Kapitel einsetzen.) 5.2.6 Fehlen einer Macht- und Differenzierungstheorie Neben der Kritik am historischen und prognostischen Gehalt von Marx’ Aussagen gibt es eine weitere Kritiklinie, die auf fehlende Theoreme in seinem Werk verweist. Das betrifft vor allem seine Auffassung von Macht sowie seine »Staatstheorie«.* 5.2 Linien der Kritik 221 <?page no="221"?> * Es sei allerdings noch einmal daran erinnert, dass Marx’ Vorhaben, das System der bürgerlichen Ökonomie zu analysieren, sich in sechs Büchern dokumentieren sollte: das erste Buch dem Kapital gewidmet, die weiteren dann dem Grundeigentum, der Lohnarbeit, dem Staat, dem internationalen Handel sowie dem Weltmarkt als solchem. Die hier erwähnten Marx- Kritiker müssen daher immer im Hinterkopf behalten, dass vieles von dem, was in Marxens Werk fehlt, dort nicht aus systematischen oder analytischen Gründen fehlt, sondern einfach deswegen, weil es nicht mehr geschrieben wurde. Die Kritik macht geltend, dass Marx Macht zu monistisch, d. h. zu ausschließlich aus den politökonomisch aufzuschlüsselnden Klassenherrschaftsverhältnissen abgeleitet und eigenständige Formen, Foren oder gar Zentren von Macht nicht berücksichtigt habe. Diese nichtsystemtheoretische Darstellung der Machtgenese führe bei Marx zu einer Unterschätzung derjenigen Machtgestalten, die weiterhin Herrschaft und Druck auf Menschen ausübten, auch wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft wäre. Da für Marx der Staat mit all seinen Gewalten und Institutionen eindeutig ein abzuleitendes Moment der Klassenherrschaft war (also kein eigenständiger Gesellschaftsbereich, sondern bloß ausführendes Hilfsorgan für ? »das Kapital«), scheint es plausibel, dass seine Staats- und Machtheorie wenig ausgreifend ausgefallen ist. Angesichts einer sehr komplexen Verzahnung von Sozialstaat, bürokratischer Daseinsfürsorge und rechtsstaatlicher Normierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit der kapitalistischen Marktgesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts könne seine Macht- und Staatstheorie daher heute kaum mehr zu Erkenntnissen über demokratische, kapitalistische Gesellschaften beitragen. 77 Die marxistische Hierarchie von Haupt- und Nebenwidersprüchen (etwa: der Kampf zwischen Arbeiterklasse und Kapitalistenklasse ist der alles bestimmende Widerspruch; andere Widersprüche, etwa politische Kriege zwischen Nationen, sind auf diesen Hauptwiderspruch zurückzuführen und nicht durch nationalstaatliche Politik zu lösen) erweise sich als nicht komplex genug für die kritische Darstellung einer Gesellschaft, deren Systeme mit jeweils eigenen Codes und Medien keine Totalität, keine sie nochmals übergreifende Einheit mehr ausbilden. Zu einem ähnlich gelagerten Urteil kommt die - vor allem von Michel Foucault belehrte - Kritik an Marxens Machtanalyse: Mit einem Marx’schen Blick auf die Macht entgehe der marxistisch orientierten Machtanalyse heutiger Gesellschaften entscheidende Formen und »Dispositive« (Anlagen/ Möglichkeitsfelder) der Macht, deren filigrane Besetzung von diskursiven, bürokratischen, sozialnormativen und sogar emanzipativen Wirklichkeiten einer politökonomisch angeleiteten Analyse verschlossen bliebe. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 222 <?page no="222"?> Eine maßgebend von Habermas formulierte Kritik an Marx’ Rationalisierungsbegriff macht spiegelbildlich dazu geltend, dass Marx sich einer Verengung schuldig mache, weil bei ihm die gesellschaftliche Befreiung nur innerhalb der Produktion, durch den Arbeiter (verstanden als soziale Rolle) erfolgen könne: Er reduziere also die Möglichkeiten zur Emanzipation. Da er die kapitalistische Gesellschaft als Totalität entwerfe, verkenne er »den evolutionären Eigenwert, den mediengesteuerte Subsysteme besitzen« (Habermas 1981, Bd. 2, 499) - und damit verkenne er Potenziale etwa der Interaktion von Sprechern (und nicht Arbeitern), in der eine kommunikative Rationalität sich manifestiere, die sich als eigenwertige, der Lebenswelt der Menschen entsprungene Rationalität nicht den instrumentellen und verdinglichenden Imperativen der kapitalistischen Produktion unterordnen lasse. Die Potenziale des Sprechens nach bestimmten Regeln erlaube also eine Befriedung und gar Auflösung verzerrter Lebensverhältnisse; damit sei sie auch nicht dem Verdikt unterworfen, es handele sich bei ihr, der kommunikativen Rationalität, um Verblendung resp. ? Verdinglichung. Mit Marxens Theorie sei es also nicht möglich, zwischen einer kapitalistischen Verdinglichung von Lebensverhältnissen (etwa: Reduktion der meisten menschlichen Aktivitäten auf die Frage, ob diese Aktivitäten zu Geld zu machen sind) und einer strukturellen Ausdifferenzierung von Lebensverhältnissen (etwa: gesellschaftsnotwendige und daher eigenwertige Herausbildungen von Legitimationsstandards: geringe in der Wirtschaft, hohe in der Öffentlichkeit) zu unterscheiden - ein Manko, das nur behoben werden könne, wenn man Marxens Grundachse zur Beschreibung von Gesellschaft, nämlich die Achse Kapital - Arbeit, durch die neue Grundachse namens System - Lebenswelt aufhebe. 5.2.7 Fehlende Berücksichtigung ökologischer Kosten Eine daran anschließende Kritiklinie betont, dass Marx’ Kritik der politischen Ökonomie um eine Kritik der politischen Ökologie erweitert werden müsse. Sein Kritikprogramm sei in der Analyse der sogenannten Gratisproduktivkraft »Natur« (sowie in der Analyse der nichtentlohnten Arbeit - zumeist Hausarbeit von Frauen -, was vor allem die feministische Theorie hervorhebt) über Hinweise, Erwähnungen und Aussichten nicht hinausgekommen. Besonders Herbert Marcuse machte geltend, dass die letztlich doch instrumentelle Beziehung der Menschen zur Natur, die sich bei Marx findet, überwunden werden müsse, um überhaupt eine soziale Befreiung denken zu können (so wie der Feminismus geltend machte, dass erst die Befreiung der Frau vom Patriarchatssystem, das sich »unterhalb« des kapitalistischen Systems befände, die Befreiung des Menschen als Sozial- 5.2 Linien der Kritik 223 <?page no="223"?> wesen ermögliche). Mit dieser Sichtweise wird eine strukturelle Kritik an Marx verbunden, nämlich dass er die Destruktionen nicht im Blick gehabt habe, die durch die Produktivkräfte bewirkt würden.* * In den sogenannten Technokratie-Diskussionen der 1970er Jahre spitzte sich dieses Nichtim-Blick-Haben so zu, dass Vertreter des Sowjetkommunismus durchaus argumentierten, ein Atomkraftwerk in einem sozialistischen Land könne nicht gefährlich sein, weil es ein sozialistisches Atomkraftwerk sei. (Zum Komplex neutrale vs. politische Technik siehe Ullrich 1979). Auch wenn Marx klar sah, dass das Beenden eines gesellschaftlichen Zustandes, in dem die »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« oberste Priorität besitzt, zu einer neuen Form des Stoffwechsels der Menschen mit der Natur führen wird, also zu einem neuen Verhältnis zwischen der menschlichen Gesellschaft und den natürlichen Grundlagen, das nicht mehr als Subjekt/ Objekt-Beziehung denkbar ist: Für heutige Denkverhältnisse blieb er zu »soziologisch« in der Kenntnisnahme der Destruktivkräfte auch einer befreiten Gesellschaft, bezogen auf den Bereich, den wir »Umwelt« zu nennen gewohnt sind. Für ihn blieb die soziale Welt der größtmögliche Horizont seiner Denkanstrengungen - während heutige Denkanstrengungen berücksichtigen müssen, dass die soziale Welt des Menschen in einem Horizont zu betrachten ist, den wir Erde nennen. 5.2.8 Zweifel an den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen Eine weitere Kritik richtet sich gegen Marx’ Vorstellungen bezogen auf die erkenntnistheoretische Problematik, wie man Wirklichkeit wissenschaftlich erkennen kann und welches Verhältnis zwischen der »wirklichen Realität« und der Realität der Beschreibungen (abbildendes Verhältnis, wahres Verhältnis, annäherndes Verhältnis usw.) besteht. Es sei nicht nachvollziehbar, wieso Marx seine Theorie nicht als ? Ideologie, sondern als wissenschaftlich objektive Denkform verstand, deren materielle Grundlage (»Basis«) sowohl in den Tiefenstrukturen der bürgerlichen Gesellschaft wie auch in der zukünftigen Gegenwart menschlicher Gesellschaft verankert sei. Marx schließe die Totalität der Wahrheit seiner Analyse mit der theoretisch konstruierten Totalität der menschheitsgeschichtlichen Mission des Proletariats kurz 78 , um so das Verhältnis zwischen den wirklichen Voraussetzungen seines Denkens und seinem Denken selbst zu entproblematisieren. Extrem verkürzt: Weil Marx mit der proletarischen Revolution eine Wirklichkeit ermöglicht sah, die schlechterdings kein vernünftiger Mensch ablehnen könne (ausge- 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 224 <?page no="224"?> nommen natürlich die Kapitalisten) und die eigentlich erst die wirkliche Realität des Menschen sein werde, ist seine Analyse, ist sein Erkenntnis wahr. Marx schreibe aus der Zukunft heraus und sei deswegen von der »Unwahrheit« der Gegenwart, die eine kapitalistische ist, im Wesen nicht beeinträchtigt. Doch solch ein Kurzschließen, so die Kritik, sei erkenntnistheoretisch nicht seriös. In seinem Vorhaben, das System der bürgerlichen Ökonomie darzustellen und dieselbe durch die Darstellung zugleich zu kritisieren, bleibe er die Kriterien schuldig, die seine kritische, transzendierende Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit von einer immanenten Beobachterkonstruktion wahrheitstheoretisch abhebt - er bleibe sie schuldig, weil er selbst jeden Punkt außerhalb der Gesellschaft, also jeden archimedischen Punkt der Erkenntnis verneint und das Erkennen und Analysieren der Gesellschaft als nur innerhalb derselben für möglich halte. Marx versuche die Bedeutung des Denkens und Begreifens auf den Status einer Rekonstruktion, einer Übersetzung zu beschränken, um damit zu gewährleisten, dass sich die konkrete Wirklichkeit tatsächlich außerhalb des Denkens abspielt und nicht schon durch das Denken selbst hergestellt wird. Kurzum: Marx behaupte, dass es prinzipiell möglich sei, die Wirklichkeit mehr oder weniger direkt zu beobachten, ohne dass diese durch die Bedingungen zur Ermöglichung von Erkenntnis und Beobachtung verändert werde. Damit vertrete er einen wie immer modifizierten naiven Realismus, der beim gegenwärtigen Stand der Erkenntnistheorie kaum mehr vertretbar sei. 5.2.9 Zweifel am Marx’schen Krisentheorem Neben der Kritik an Marx’ Auffassung, dass er keinem Sonderinteresse verpflichtet sei, weil das Proletariat, für dessen Emanzipation er schreibe, das allgemeine, ja das menschlich-gesellschaftliche Interesse schlechthin verkörpere 79 , gilt eine weitere Kritik an Marx dem Sachverhalt, dass er in seinen Szenarien der Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems zwar die ? Dialektik als solche und das Widerspruchsmodell als solches in Reinform zum Ausdruck gebracht sieht, dass er aber im strengen Sinne des Wortes keine Krisentheorie geschrieben habe - also keine Theorie, die auch ohne geschichtsphilosophische Gewissheit klar zu benennen hätte, wie sich und als was sich die Krisen der kapitalistischen Produktionsweise ganz konkret und gegenwärtig (die Gegenwart des 19. Jahrhunderts) darstellen. Denn von einer ökonomischen, strukturellen Krise des Kapitalismus konnte zur Marxens Zeit im Grundlegenden nicht die Rede sein. Marx beschreibe zwar sehr analytisch den krisenhaften Sachverhalt, dass im Kapitalismus Widersprüche nur in gewaltsamen Lösungen bewältigt werden 5.2 Linien der Kritik 225 <?page no="225"?> können - Marx meint die gewaltsame Herstellung einer Einheit von Produktionssphäre und Zirkulationssphäre -; aber er sehe diese dialektische Beobachtung schon ausreichend begründet durch die Analyse des Wertgesetzes und durch den tendenziellen Fall der Profitrate. Damit aber erhalte seine Kritik der Ökonomie eine offene Stelle, an der jedes Mal neu entschieden werden muss, ob stattfindende Krisen durch Überakkumulationstheorien, durch Unterkonsumtionstheorien, durch »profit-squeeze-Theorien«, durch Disproportionalitätstheorien, durch Marktanarchietheorien oder durch einen Mix aus diesen Theorien besser zu beschreiben sind. Marxistische Interpretationen, die dem ausweichen wollen, verstehen Marx’ »Krisentheorie« als eine Rekonstruktion der krisenhaften Störungen aus den sogenannten kontradiktorischen Effekten des technischen Fortschritts (neue Maschinen, die anfänglich neue Märkte und erhöhte Absatzmöglichkeiten eröffnen, verändern die Produktion auf eine Weise, dass immer weniger ? Profit trotz steigender Produktion erzielt werden kann - weil zu viel produziert wird). In dieser Sichtweise erscheinen kapitalistische Krisen dadurch bedingt, dass neue Technologien das Verhältnis zwischen ? Gebrauchswert und Tauschwert so verschieben, dass es zu Verwertungskrisen kommen muss. Doch auch solchen Interpretationen, die marxistisch die kapitalistischen Krisen zu erklären suchen, wird vorgeworfen, dies nicht zu leisten; ihnen fehle eine ausgearbeitete Techniktheorie, die plausibel machen müsste, warum die kapitalistische Krise im vom Kapitalismus selbst forcierten technischen Fortschritt seinen Grund hat. Kurzum: Die Kritik an Marx macht geltend, dass seine Krisentheoreme zu abstrakt auf real verlaufende Krisen (jenseits der konjunkturellen Betrachtungsweise) Antwort geben bzw. dass sie keine ausgereifte Techniktheorie anbieten, um die Krisen bedingende Dynamik innerhalb dieser Produktivkraft namens Technik angemessen zu würdigen. Ein weiterer Vorwurf an Marx lautet, dass er keine zumindest prognostische Theorie betreffs eines Sozialstaates als retardierendes Moment des krisenhaften Kapitalismus entwickelt habe. Durch die weitgehende Einbeziehung der Arbeiterschaft in die politischen Gleichheits- und Freiheitsrechte, die sogenannte Institutionalisierung resp. Verrechtlichung des Klassenkonflikts, die Gratifizierungsleistungen eines sogenannten staatsbürgerlichen Privatismus 80 sowie die Differenzierung der ? Arbeiterklasse und die Segmentierung der Arbeitsmärkte sei ein Maß an Krisenabfederung erreicht, dem eine genuin marxistische Krisenentwicklungsanalyse nicht mehr adäquat entsprechen kann. Das von Marx unterstellte quasi-natürliche Bedürfnis oder Interesse der Arbeiterschaft an der Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse gebe es daher nicht bzw. könne maximal durch Partei- Avantgarden suggeriert werden. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 226 <?page no="226"?> Anstelle des revolutionären Interesses an der Umwerfung aller Verhältnisse habe sich ein Bedürfnis nach Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen eingestellt, ein Bedürfnis mithin, das Marx als eigenständigen Faktor prognostisch nicht einkalkuliert habe. Das gelte auch - wiederum rückblickend - für seine Sicht, nach der die Produktivitätsfortschritte in der Produktion für eine Entfaltung der Produktivkräfte verantwortlich zu machen seien, die dann zu einer Verbesserung der Lage der Arbeiter führen würden, denn es habe sich zumindest für das 20. Jahrhundert ökonomiehistorisch herausgestellt, dass nicht die Produktivitätsfortschritte, sondern die mit diesen Fortschritten Schritt haltende Lohnpolitik im Rahmen eines sogenannten Staatsinterventionismus (staatliche Investitionsprogramme, Lohnpolitik für öffentliche Angestellte usw.) zu einer Besserstellung führte. 5.2.10 Nochmals: Marx’ Verhältnis zur Technik und zur Wissenschaft »Das Proletariat ist entstanden durch die industrielle Revolution, welche in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in England vor sich ging und welche sich seitdem in allen zivilisierten Ländern der Welt wiederholt hat. Diese industrielle Revolution wurde herbeigeführt durch die Erfindung der Dampfmaschine, der verschiedenen Spinnmaschinen, des mechanischen Webstuhls und einer ganzen Reihe anderer mechanischer Vorrichtungen. Diese Maschinen, welche sehr teuer waren und also nur von großen Kapitalisten angeschafft werden konnten, veränderten die ganze bisherige Weise der Produktion […]«. (Engels, Grundsätze des Kommunismus, MEW, Bd. 4, 363 f.) Die im Abschnitt zuvor angesprochene Kritik, Marx verfüge keine ausgereifte Theorie der Technik, soll hier nochmals aufgegriffen und erweitert werden. Nicht nur der zitierte Satz Engels zeigt das weitgehende Verständnis für die revolutionäre Bedeutung der Technik für die Sozial- und Umwelt. Oskar Negt zitiert Engels mit folgenden Worten (Negt 1998, 60): »Dampf, Elektrizität und Spinnmaschinen waren Revolutionäre von viel gefährlicherem Charakter als die Bürger Barbès, Raspail und Blanqui«. Negt setzt die Frage hinzu: »Gefährlicher ja, aber für wen? « Die Kritik an Marx und vor allem Engels bei der Frage der Technik betont die Einseitigkeit, mit der beide die Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik eindeutig auf die Seite der positiven Produktivkraftentfaltung, ja -entfesselung, schlagen. Ihre Annahme, dass jegliche Expansion der Produktivkräfte (und der Bedürfnisse) 81 unverdächtig, ja unschuldig sei, war natürlich verbunden mit der Vorstellung, dass, wie etwa im Falle der Elektrizität, die sich ausdehnenden Produktivkräfte immer mehr der Leitung der Bourgeoisie entwachsen - ja, dass die 5.2 Linien der Kritik 227 <?page no="227"?> gewaltig gesteigerten Produktivkräfte der elektrifizierten Technik nicht mehr im Rahmen einer kapitalistischen Produktionsweise entwickelt und vollständig genutzt werden können (Iring Fetscher). Und sie war zudem verbunden mit der Überzeugung, dass eine nicht mehr in kapitalistische Verhältnisse eingezwängte Technik mehr oder weniger automatisch zu einer anderen Form der Produktion und zu anderen Produkten führen würde, dabei ? Verdinglichung und Warencharakter absprengend. Indes: Diese Annahmen haben keine theoretische Verortung und Ausarbeitung im Werk von Marx gefunden, ebenso wenig wie eine systematische Problematisierung der Destruktivpotenziale eines ausgedehnten Technik- und Wissenschaftseinsatzes in einer sozialistischen Wirtschaft - vielleicht der zumindest theoretische und nicht praktische Hauptgrund für die abenteuerlich naive Vorstellung Stalins, dass alles Zerstörerische aus der Technik verschwunden sei, wenn nur die Eigentumsverhältnisse geklärt, also aufgelöst worden sind. Kurzum: Marx, so die Kritik, fehle eine Theorie der Wissenschaft und Technik, die hätte klären können, inwieweit die Gestalt der Produktionstechnik sowohl ökonomisch (also durch die bloße Anwendung) als auch durch die systemischen Bedingungen von Technik und Naturwissenschaft als eigenständige Systeme formiert resp. deformiert ist. Marx sei also blind für die Frage, wie viel Herrschaft, wie viel Verdinglichung, wie viel Zerstörung in den eigenständigen Regeln folgenden Systemen der technischen Wissenschaft und der verwissenschaftlichten Technik schon steckt. Ihm fehle eine komplexe Theorie, die theoretisch die Affinitäten zwischen der Eigenlogik der Technik, der Eigenlogik der Wissenschaft und der Eigenlogik des kapitalistischen Tauschverkehrs (Ullrich 1979) zu beschreiben hätte. Seine Vorstellungen einer möglichen bewussten Beherrschung der Entwicklung der Produktion seien zwar angesichts der gefährdeten natürlichen und sozialen Ökologie gerade in der Gegenwart (Klimawandel) mehr als anschlussfähig (d. h.: sie stellen eine kommunizierte Mitteilung dar, die viele weitere Kommunikation in unterschiedlichsten Systemen konzentriert und aufeinander Bezug nehmen lässt). Aber sie blieben zu unterkomplex. Unterkomplex deswegen, weil die enorme ökonomisch-technologische Entwicklung über die Köpfe der Produzierenden hinweg nicht, wie Marx annahm, eine erste wesentliche Voraussetzung für die Emanzipation der Produktivkräfte von den Produktionsverhältnissen darstellte, sondern uns heute als reale Bedrohung und Zerstörung der inneren und äußeren Verhältnisse gesellschaftlichen Lebens entgegentritt. 5. Essenzen der politökonomischen Analyse - Teil 2 228 <?page no="228"?> 6. Historischer Materialismus und Kultur »[…] während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden« (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 33) 6.1 Hinweise zur Einbettung des Versuchs, den Historischen Materialismus kulturell zu denken Es wird nun etwas begrifflicher, »philosophischer«, spekulativer, sicher auch etwas schwieriger - aber das Risiko ist, denke ich, einzugehen. Wir kommen im letzten, sehr speziell zugeschnittenen thematischen Kapitel auf die zu Beginn des Buches aufgestellte These zu sprechen, dass die Gesellschaftstheorie von Marx mit »Gewinn« aufzuschließen sei für die gegenwärtig starken, da weniger als die klassischen Sozialwissenschaften auf Sinnverstehen angewiesenen Kulturwissenschaften - aufzuschließen, nicht anzuschließen. Dies zu betonen ist wichtig. Denn es geht nicht darum, durch eine besonders einseitig gewichtete Interpretation des Marx’schen Werks den Nachweis zu erbringen, dass Marx immer schon auch ein Kulturtheoretiker war, den es nun zu entdecken gilt. Nichts soll aus der Gegenwart in die Vergangenheit geschmuggelt werden, um dann zu zeigen, wie zeitgemäß Marx in Fragen der Kulturwissenschaft doch war. Marx war definitiv kein Kulturwissenschaftler, kein Kulturtheoretiker - dies ist der Grund, warum der ? Historische Materialismus mit Kultur in Beziehung gesetzt wird, und nicht Marxens Werk selbst, wenngleich die Zitate von ihm und Engels sein werden. 229 <?page no="229"?> Also: Zu behaupten, mit Marx einen Kulturtheoretiker vor sich zu haben, wäre unredlich, vergleichbar dem unredlichen Versuch, Marx als Ökologie-Theoretiker auszuweisen, bloß weil er Aussagen über die Natur, die Erde, die Umwelt machte wie etwa die folgende: »Selbst die ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen« (Marx, Das Kapital III, MEW, Bd. 25, 784). Marx war also auch kein Ökologie-Theoretiker - und deshalb verwundert es nicht, um kurz noch bei diesem analogen Beispiel zu bleiben, wenn Iring Fetscher im Falle der Ökologie sehr vorsichtig ist mit seinen Hinweisen, die Marx als Denker zeigen, der die natürlichen Grundlagen menschlicher Existenz bewahrt wissen will. Fetscher gewichtet daher das Verhältnis zwischen Ökologie und der Kritik der politischen Ökonomie bei Marx zurückhaltend als einen »oft übersehenen Aspekt der Marx’schen Theorie« (Fetscher 1999, 123) - also als eine mögliche Betrachtungsweise, nicht als theoretische Substanz des Werks. Ähnlich und doch etwas komplexer gelagert verhält es sich, wenn man das Verhältnis zwischen ? Kultur und der Kritik der politischen Ökonomie, besser: das Verhältnis zwischen Kultur und dem Historischen Materialismus in den Blick nimmt. Denn einerseits kann ein noch zu bestimmender Kulturbegriff in Marx’ Werk maximal Aspektcharakter beanspruchen, weil dort der Begriff »Kultur« schlicht »nicht vorgesehen war« (Haug 1979, 346). Andererseits jedoch hat Marx in seinen wenigen prognostischen Aussagen über eine nachkapitalistische Gesellschaft Formulierungen gefunden, die für eine kulturtheoretisch und kulturmaterialistisch grundierte Diagnose des vergesellschafteten Menschen 82 heutiger Tage in den verschiedenen kapitalistischen Produktionsregimen - um nicht mehr nur von dem Kapitalismus sprechen zu müssen, sondern von verschiedenen kapitalistischen Produktionskulturen - fruchtbar sein können. Eine kulturtheoretische Diagnose der gegenwärtigen endmodernen Gesellschaften könnte durch Marx einen Rahmen erhalten, der erlaubt, • den Begriff des dezentrierten Subjekts resp. Individuums, • den Begriff des Selbstzwecks, • den Begriff der Entdinglichung des Sozialen in die Geschichte der Herausbildung modernder Zivilisation einzubetten. Eine kulturmaterialistische Diagnose der gegenwärtigen endmodernen Gesellschaft, die im Begriff der Materialität das mit dem Begriff des ? Gebrauchswerts Bezeichnete aufzuheben, aufzufangen, zu übersetzen sucht, könnte zum Zweiten durch Marx einen Rahmen erhalten, der erlaubt, 6. Historischer Materialismus und Kultur 230 <?page no="230"?> • die Materialität der Informations- und Kommunikationstechnologien, • die Materialität des gesellschaftlichen Seins durch Kommunikation, • die Materialität einer womöglich neuen Form formeller Solidarität in eine Form der Geschichtsbeschreibung einzubetten, die bisher unglücklicherweise auf den Namen Posthistoire hört. Beide Kultur-Diagnosen beruhen auf der hier nicht vertieft darzustellenden Annahme, dass Kapitalismus sich nicht nur als Produktion, Konsumtion, Zirkulation, Technik, Naturverständnis usw. beschreiben lässt, sondern auch als Kultur (Claessens/ Claessens 1979). Zu diesem nicht ganz leichten Gedanken gleich mehr. Kurzum: Die nächsten Seiten wollen eine sogenannte Anfangsplausibilität für die Annahme schaffen, dass Marx’ gesellschafts- und geschichtstheoretische Diagnosen in einem anderen als dem sozioökonomischen Register, nämlich im Register der Kultur, Anwendung finden können. Damit wäre eine Position zu markieren, die sich sowohl vom Topos »Kampf der Kulturen« wie auch vom Topos »Posthistoire« unterscheidet - und die, wie modifiziert auch immer, an dem Axiom festhält, dass die Widersprüche und Antagonismen in modernen kapitalistischen Produktionsregimes weiterhin unumkehrbare oder gar paradoxe Entwicklungen bewirken, die allerdings im Vergleich zu früher erheblich vermittelter und durch das Begriffswerkzeug namens ? Dialektik viel weniger kontrollierbar, also nicht mehr ausreichend »auf den Begriff« zu bringen sind. Mit Marx, so also die These, lässt sich ein Emanzipations-Ethos (jedoch keine Emanzipations-Ethik! ) ermäßigt denken im Daseinsbereich moderner Kultur. 83 Auch das ist wichtig zu betonen, um nicht - angesichts der kulturindustriellen Verhältnisse heutiger Tage - zu geschwind in einen Kulturpessimismus zu geraten, der einem auf Dauer nur Mitleid, Indifferenz, Zynismus und Systemtheorie als Antidepressiva anzubieten weiß; oder aber antimodernistisch-antikapitalistischen Terror. Ein dritter und abschließender Hinweis ist noch anzubringen, um Missverständnisse zu vermeiden. Es geht bei dem Verhältnis Kultur und Historischer Materialismus darum, bestimmte Erkenntnisse des Marx’schen Werks und des Marxismus für die Analyse gesellschaftlicher Erscheinungen, bei denen der kulturelle Aspekt im Fokus der Betrachtung liegt, einzusetzen. Es geht nicht darum, den Marxismus und den Historischen Materialismus selbst als kulturelle Bewegung, quasi als Kulturgut kulturgeschichtlich zu bestimmen; also nicht darum, die Geschichte und auch noch Gegenwart marxistischer Theoretiker, Künstler, Literaten, Medientheoretiker usw. als »Kulturgüter« der Geschichte zu beschreiben, an die im 21. Jahrhundert anzuschließen sei. Rezeptionsgeschichtlich ist das sicherlich ein spannendes Feld, doch hier wäre damit nur das Thema verfehlt.* Also nochmals: Nicht der Marxismus, nicht der Historische Materialismus als kulturelle Erscheinung der europäischen Geschichte ist hier von Interesse, sondern die 6.1 Hinweise zur Einbettung des Versuchs 231 <?page no="231"?> Möglichkeit, bestimmte Aussagen und Diagnosen von Marx auf Daseinsbereiche kultureller Form zu beziehen, auf die er sie so nicht bezogen hätte. * Was damit gemeint ist, wenn man sagt, der Marxismus sei selbst als Kultur zu bestimmen, machen Ferenc Fehér und Agnes Heller (1986, 302) am Beispiel von Friedrich Engels fest, und zwar im größtmöglichen Umfange des Wortes Kultur: »Auf zwei große geistig-kulturelle Revolutionen in der europäischen Geschichte hat Friedrich Engels wiederholt Bezug genommen: auf das Christentum und auf die Renaissance. Auch wenn er das nicht ausdrücklich behauptet hat, so rechnete er doch eindeutig damit, daß der ›wissenschaftliche Sozialismus‹ in deren Nachfolge sich als dritte bedeutende geistige Revolution erweisen würde.« Die Autoren kontrastieren diese mögliche Sichtweise von Engels dann mit folgender Gegenwartsdiagnose: »Aber anstatt zum mächtigen Fanal der Moderne schlechthin zu werden, teilt der Marxismus nun die allgemeine kulturelle Krise der Moderne.« Deswegen, so die Autoren abschließend, sei es »höchst unwahrscheinlich, daß der Marxismus als eigenständige und abgrenzbare kulturelle Bewegung auf der geschichtlichen Bühne Europas nochmals in Erscheinung treten wird.« - Möchte man am Topos »kulturelle Bewegung« für den Marxismus festhalten, dann bleibt gegenwärtig (2007) nur der Blick nach Südamerika; mit viel Wohlwollen wäre es vielleicht möglich, die (regierungs-)politischen Bewegungen in Brasilien, Bolivien, Venezuela und Chile als Vorstufen einer kulturellen Bewegung »von oben« zu deuten. Soweit nun die Hinweise zur Einbettung der folgenden Versuche, den Historischen Materialismus mit dem Begriff »Kultur« so zu verbinden, dass kulturtheoretische und kulturmaterialistische Diagnosen der Gegenwart und nahen Zukunft dazu beitragen könnten, etwas mehr darüber zu erfahren, was die Traumata des 19. und 20. Jahrhunderts aus den Menschen gemacht haben. Es sind nun einige Begriffe ins Spiel gebracht worden - Historischer Materialismus, Kultur, Posthistoire, Entdinglichung des Sozialen -, deren pointierte Klärung die Voraussetzung ist, um das dann folgende Inbeziehung-Setzen von Kultur 84 und Marxismus zu verstehen. Ich bitte den Leser daher noch um etwas Geduld für diesen weiteren, scheinbaren Umweg. 6.2 Kurze Begriffsklärungen 6.2.1 Historischer Materialismus ? Historischer Materialismus (Histomat) wie auch Dialektischer Materialismus (Diamat) und wissenschaftlicher Sozialismus gelten im marxistisch-leninistischen Selbstverständnis als Bezeichnung für die historisch höchste Form und Darstel- 6. Historischer Materialismus und Kultur 232 <?page no="232"?> lung dessen, was man philosophischen Materialismus nennt. Diese höchste Form der Erkenntnisproduktion (Theorie) und des sozialen Handelns (Praxis) bezieht sich nicht mehr alleine auf das Werk von Marx, sondern umfasst die sogenannte Weiterentwicklung des Marxismus zum Marxismus-Leninismus. Der Histomat gilt damit als grundlegende Philosophie, deren Aufgabe es ist, für marxistisch-leninistisches Erkennen, für die revolutionäre Weltveränderung und für die sozialistische Wissenschaft die Begründungen, die Entwicklungen und die möglichen Anwendungen zu gewährleisten und zu beschaffen - bis hin zur Entwicklung und Schaffung eines »neuen Menschen«, sozialistischer Mensch genannt. Dabei gibt es zwischen Histomat und Diamat eine gewisse Arbeitsteilung: • Der Dialektische Materialismus bezieht sich auf das Verhältnis von Materie und Bewusstsein und sucht dabei die materielle Einheit der Welt als gesetzmäßigen Prozess zu konstruieren (dies deswegen, extrem verkürzt gesagt, um damit das Bewusstsein darauf zu verpflichten, sich diesen Gesetzen unterzuordnen, damit dem Bewusstsein zu Bewusstsein kommt, dass es nur eine bestimmte Form der Materie ist); • der Historische Materialismus versucht das Verhältnis zwischen Materie und Geschichte so in den Blick zu nehmen, dass sich die untrennbare Einheit von Materie und historischer Bewegung als gleichsam gesetzmäßiger Prozess materialistisch konstruieren lässt (dies deswegen, ebenfalls verkürzt gesagt, um damit den Kommunismus als historische Bewegung auszuweisen, in Einklang stehend mit den grundlegenden Gesetzen der Materie überhaupt). Die Grundlage sowohl der Dialektisierung von Materie wie auch der Materialisierung von Geschichte wird in der mit Marx vollzogenen Revolution in der Geschichte der Philosophie gesehen; sie besteht demgemäß darin, Hegels bewusste Dialektik aus dem idealistischen Reich der Ideen evakuiert zu haben, um sie in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte »hinüberzuretten«. Damit sei eine neue Qualität entstanden, die sich darin äußert, dass nun erst die wahren materiellen gesellschaftlichen Triebkräfte hinter den ideellen, subjektiven Triebkräften menschlichen Handelns erkannt und zugleich geformt werden können.* Mit dieser Sicht werde nicht die historische Rolle von Ideen oder einzelnen Persönlichkeiten geleugnet, aber ihr Stellenwert verändert: Galten Ideen und Persönlichkeiten bisher als erklärende Variablen für die Bestimmung von Handlungs- und Interessenmotiven (bis hin zum alles in sich vereinenden transzendentalen Subjekt Kants), so werden sie jetzt zu Variablen, die selbst erklärt, abgeleitet werden müssen, und zwar abgeleitet aus der Totalität, aus dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, also aus dem gesellschaftlichen Sein. 6.2 Kurze Begriffsklärungen 233 <?page no="233"?> * Mit dem Bestreben, die wirklichen Gründe, Ursachen, Bedingungen und Felder menschlichen Tuns und Denkens hinter den Erscheinungen ausfindig zu machen, steht der Histomat nicht alleine da. Um sehr vereinfacht einen historischen Kontext anzudeuten: Nietzsche etwa bestimmt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Willen zur Macht als das latente, implizite und zentrale Erklärungskonzept für den Gang der menschlichen Zivilisation; Hans Vaihinger bestimmt im gleichen Zeitraum den Nihilismus als die eigentliche erklärende Variable menschlichen Tuns und Lassens - er entwickelt dafür eine Fiktionstheorie, die »Philosophie des Als-Ob«; und Freud schließlich macht hinter dem Rücken der zur Kultur und zur Zivilisation gezwungenen Individuen moderner Gesellschaft das Unbewusste als neue, zentrale Variable für die Erklärung menschlichen Tuns und Verhaltens aus. Der Histomat nimmt für sich in Anspruch, erstmals in der Geschichte der Gesellschaftstheorien die historische Rolle des »Volkes«, sprich: der arbeitenden Bevölkerung in Gestalt der proletarischen ? Klasse entdeckt und erklärt zu haben - als Geschichte gestaltendes Subjekt, dem es zudem aufgetragen ist, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit eine menschliche Gesellschaft zu gestalten. Deswegen kann man auch im DDR-marxistischen philosophischen Wörterbuch (1975, Bd. 2, 760) folgende Sätze lesen: »Ausgangspunkt des historischen Materialismus sind die menschlichen Individuen, wie sie wirklich, also wie sie - ihren Bedürfnissen und Interessen gemäß - wirkend sind, in ihrem tatsächlichen, in Geschichte und Gesellschaft sich vollziehenden materiellen Lebensprozess, der immer durch einen bestimmten Entwicklungsstand ihrer Produktivkräfte und durch einen bestimmten Typ ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs, den Produktionsverhältnissen, charakterisiert ist.« Kurzum: Der ? Histomat verstand sich als dasjenige grundlegende Erklärungskonzept für das Beziehungsgeflecht aus Natur, Gesellschaft, Geschichte und Individuum, das nach der Religion und nach der (bürgerlichen) ? Kultur den Menschen nun endlich dazu bringt, Selbstbestimmung als Gattungseigenschaft durchzusetzen. Wenn Engels schreibt: »Der Glaube wurde allmählich schwach, die Religion zerbröckelte vor der steigenden Kultur, aber noch immer sah der Mensch nicht ein, daß er sein eignes Wesen als ein fremdes Wesen angebetet und vergöttert hatte« (Engels, Die Lage Englands, MEW, Bd. 1, 543) - dann kommt darin die Überzeugung zum Ausdruck, dass die Kultivierung der Menschen und die Kultur vornehmlich der europäischen Gesellschaften zwar die Kraft besaßen, die Fremdbestimmung, also die Heteronomie der kirchlichen Religion zurückzudrängen, dass sie aber nicht in der Lage waren, produktiv für die Selbstbestimmung, also für die Autonomie der Menschen zu wirken. Diese Kraft, diese Produktivkraft würde den Menschen erst durch die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft und dann durch die Entfaltung der darin angelegten Potenziale im Kommunismus zukommen. Bis dahin sei der Versuch der 6. Historischer Materialismus und Kultur 234 <?page no="234"?> erweiterten Zivilisierung der Menschen als gescheitert, zumindest als unvollendet anzusehen, da es, um Adorno zu zitieren, »der Kultur nicht gelang, ihre eigene Menschheit zu kultivieren.« (Adorno 1997, Bd. 20.1, 316)* Es müsse zuerst die Organisationsform der menschlichen Arbeit revolutioniert werden; dann erst können sich die vergesellschafteten Menschen befreien. Die für diese Menschheitsaufgabe passende Weltanschauung sei der Histomat. * Adorno, um diesen wichtigen Gedankengang noch etwas auszuweiten, bringt in den folgenden Sätzen die Kultur in ein Verhältnis zur Technik; Technik verstanden als derjenige Kandidat, mit dem die emanzipative Veränderung der menschlichen Arbeit vermittelt werden könnte (ebenda, 316 f.): »Nicht, daß […] Kultur etwas Höheres und Feineres als die Technik wäre. Dafür gilt sie nur dort, wo sie bereits verloren ist. Aber die Technik ist nicht das primäre gesellschaftliche Wesen, nicht die Sache selbst, nicht die Menschheit, sondern nur etwas Abgeleitetes, die Organisationsform der menschlichen Arbeit.« Es war für den deutschsprachigen Raum dann Jürgen Habermas, der den Historischen Materialismus zu renovieren suchte, indem er die rationalen Potenziale der Kultur in Gestalt der Kulturtechnik des »kommunikativen Handelns« für eine zumindest im Sprechhandeln mögliche Gewaltfreiheit menschlicher Beziehungen besonders hervorhob. 6.2.2 Kultur Wir sind nun schon mitten im Versuch, den Begriff »Kultur« zu klären. Er gilt gegenwärtig nicht nur innerhalb der Wissenschaft als eine Art »heißes Medium«, d. h., der Variationsrahmen für Kulturauffassungen und Kultur-Vergleiche ist immer noch so enorm und unübersichtlich wie zu Beginn der 1990er Jahre, als die bis dahin hegemoniale politische Sicht auf die Welt (Ost/ West-Konflikt) Konkurrenz bekam durch eine kulturelle Sicht auf die Weltgesellschaft. Man könnte auch sagen, der Begriff steckt noch in Arbeit. Trotzdem lassen sich, freilich subjektiv, einige Grundszüge benennen. Erstens zeichnet sich gegenwärtig die nicht nur wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem nur unklar abzugrenzenden Realitätsbereich dadurch aus, dass der eingeschränkte Erklärungs-Radius des Kulturbegriffs zumeist mitbedacht ist. Es gibt physische, psychische, soziale, biologische, technische usw. Realitäten - und eben auch kulturelle Realitäten. Es wird daher auf einen wie auch immer modifizierten Totalitätsanspruch verzichtet, wie auch die Theoriefähigkeit von Kultur (vergleichbar der Theoriefähigkeit der Geschichte) eher als schwach angesehen wird. 85 Das gilt nicht als Makel, sondern als Einsicht in die Notwendigkeit, einer zum Teil hyperkomplexen Realität mit pluralistischen, interdisziplinären Problemfor- 6.2 Kurze Begriffsklärungen 235 <?page no="235"?> mulierungen und Lösungsangeboten begegnen zu müssen, um nicht den Kontakt zu verlieren zu einer Realitätsvielfalt, der Gewalt angetan werden würde, so man sie zu abstrakt und zu reduktiv »auf einen Begriff« zu bringen versuchte. Zweitens verzichtet eine kulturtheoretische und kulturwissenschaftliche Sichtweise zumeist auf ein einfaches Identitätskonzept; idealtypisch sei Kultur nur unter der differenztheoretischen Annahme zu beschreiben und aufzuspüren, die davon ausgeht, dass die Unterschiede, die man zwischen Kulturen feststellen kann, Unterschiede sind, die nicht in einer höheren Einheit aufgelöst werden - eine Einheit, für die bisher nur die sogenannte Öffentlichkeit und das Institut der Menschenrechte als positive Kandidaten und der alle Menschen betreffende sogenannte Klimawandel als negativer Kandidat zur Verfügung stehen. Einheiten, die sich kulturell bilden, sind daher immer umzingelt und umgrenzt von anderen kulturellen Einheiten. Die Gemeinsamkeiten verschiedener kultureller Einheiten können dadurch festgestellt werden, dass man kulturell-kommunikativ die jeweiligen Unterschiede artikuliert. Man ist sich idealtypisch darin einig, dass man bestimmte Handlungen, Bewertungen und Verhaltensweisen - Nahrungszubereitung, Heirat, Bestrafung, Glücksanspruch, Gerechtigkeitsempfinden usw. - verschieden ausführt und bewältigt, ohne auf eine gesellschaftliche Synthesis zurückgreifen zu können*, die, wie es bei Hegel vorgedacht wurde, die Aufgabe hätte, alle Unterschiede und Verschiedenheiten als nur vorübergehende Unterschiede zu bestimmen, um sie schließlich in einer allumfassenden Einheit, im absoluten Geist, zu sich kommen zu lassen: als Identitäten. Kulturtheoretische Ansätze betonen daher auch die Herausforderung, die kulturistische Beschreibungen für die noch vorherrschenden Mentalitäten vieler Menschen bedeuten; denn es bedarf einer enormen Anstrengung, Kulturtechniken zu erlernen, um mit ihnen Differenzen als Differenzen, Unterschiede als Unterschiede auszuhalten und - mehr noch - zu gestalten. So haben z. B. gerade Bundesbürger diese Erfahrung machen können bei der Feststellung, dass viele ehemalige DDR-Bürger nicht sofort bestimmte Wert- und Freiheitsvorstellungen des Westens angenommen haben, sondern kulturell bedingt an anderen Vorstellungen festhielten - für viele »Westler« unverständlich, da sie davon ausgingen, dass die westlichen Vorstellungen doch die »besseren« und also sofort zu übernehmen seien. * Was sich hier etwas abstrakt anhört, besitzt gleichsam eine höchst politische Brisanz. So wurde etwa im Zuge der philosophischen Postmoderne Ende der 1970er Jahre infrage gestellt, dass das europäische Humanitäts- und Gesellschaftskonzept einer rational aufgeklärten, modernen, Individualrechte garantierenden, Gewaltenteilung praktizierenden, rechtsstaatsverfassten, offen-demokratischen Gesellschaft universell gelte. Moderne Demokratie sei eine Erscheinungsweise europäischer Kultur, nicht aber für alle Menschen und Gesellschaften 6. Historischer Materialismus und Kultur 236 <?page no="236"?> auf der Erde als Entwicklungs- und Leitziel in Anschlag zu bringen. Das für europäische Gesellschaften so zentrale Rechtssystem sei womöglich eine »europäische Anomalie, die sich in der Evolution einer Weltgesellschaft abschwächen wird« (Luhmann 1993, 586). Damit entfalle jede legitimierte Position, um von »oben herab« wertend auf noch nicht europäisierte Gesellschaftsformen zu schauen und Anweisungen zu geben, wie sich die Gesellschaften zu entwickeln haben. - Eine solche Sicht wird zumeist als Kulturrelativismus bezeichnet und heftig kritisiert, da sie keine Kriterien mehr anbietet, die zu entscheiden erlauben, ob und wie Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Unterdrückung ethisch festgestellt und Maßnahmen zu ihrer Beseitigung getroffen werden können. Drittens beinhaltet ein kulturtheoretisch wie kulturwissenschaftlich zentrierter Ansatz eine gewisse Resignation bezogen auf die Fähigkeit moderner Gesellschaften, mit Problemen der Ungerechtigkeit, der Unterdrückung, des Leids sozialtechnologisch umzugehen (also durch die quantitative Bereitstellung von Diensten und Leistungen als Index eines hohen Lebensstandards ohne Rücksicht auf subjektive Bestimmungen der Lebensqualität durch die Menschen). Die Einsicht in die Grenzen der sozialen und systemischen Integration kapitalistischer Gesellschaften 86 führt idealtypisch zu einer gewissen Abkehr von genuin sozialen Sicht- und Interpretationsweisen* - und damit zur Abkehr von der Vorstellung, dass moderne Organe und Institutionen der Gesellschaften über eine planende, rationale, soziologisch belehrte Problemlösungskapazität verfügen. Das jeweilige wirkliche Zusammenleben der Menschen wird als viel weniger planbar, als viel weniger rational angesehen als dies die Vertreter einer soziologisch-systemtheoretischen Gesellschaftsanalyse tun, für die die moderne Gesellschaft sich dadurch auszeichnet, dass Herkunft, soziokulturelle Vererbung, Geographie, Schichtzugehörigkeit, Geschlecht und Familie das Leben des Einzelnen nicht mehr weitgehend vorherbestimmen. Kulturen in der Gesellschaft bilden sich oder bilden sich nicht; aber sie lassen sich nicht programmieren oder gar implementieren, wenngleich vernichten. Sie besitzen eine stärkere Eigenzeit (also eigene Kommunikationsstrukturen, eigene Geschwindigkeiten, eigene Abfolgen von Handlungsprozessen) und eine größere Unkontrollierbarkeit als genuin soziale Bewegungen, die über zumeist politische Entscheidungen bestimmte Ziele erreichen wollen (»Interessenpolitik«). * Auch in diesen Sätzen ist die Brisanz nicht unmittelbar einsichtig. Nehmen wir das Beispiel finanzieller und damit sozialer Armut: Noch herrscht in den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften die Rhetorik und auch noch die Programmatik vor, dass Armut durch und durch sozial, ja soziologisch zu bestimmen ist. Armut ist programmatisch geächtet; es gibt offiziell keine Position, die sich positiv zu ihr äußert. Wenn Armut vorliegt, dann muss zumindest 6.2 Kurze Begriffsklärungen 237 <?page no="237"?> rhetorisch alles getan werden, um diesen gesellschaftlichen Zustand zu bekämpfen (in der Regel bleiben dabei die Ursachen der Armut im Uneindeutigen). Was würde passieren, wenn sich eine Sicht durchsetzte, die Armut kulturell zu beschreiben suchte und damit eine Anfangsaffirmation an den Tag legte - etwa im Sinne von: Es gehöre einfach zur Kultur des modernen Kapitalismus, dass Armut herrscht; es komme nicht mehr darauf an, Armut zu bekämpfen, sondern den Armen Gelegenheit zu geben, ihre gesellschaftliche Lage zu kultivieren? Ein anderes Beispiel, das vor einigen Jahren Aufmerksamkeit auf sich zog: Ein blindes Paar in den USA wünschte sich von einem spezialisierten Mediziner, er solle ihr Wunschkind gentechnisch so verändern, dass es ebenfalls blind zur Welt kommen würde. Begründet wurde dies mit einem Kulturbegriff: Einem blinden Kind würde es in einer blinden Familie, in einer Blinden-Community, in einer Blindheitskultur besser gehen als einem sehenden Kind, das an der Blindheitskultur nicht teilnehmen könnte. An diesem Beispiel wird besonders klar, dass die Überführung von sozialen und »humanen« Bestimmungen in kulturelle Bestimmungen keinerlei Hierarchie mehr zulässt. Folgte man dem Ehepaar, dann müsste man sagen: Es gibt nicht eine Natur des Menschen, die alle anzustreben haben (also hier: der Besitz aller Sinne), sondern es gibt viele Naturen des Menschen. Und diese vielen Naturen des Menschen drücken sich kulturell aus; keine kulturelle Vorstellung kann beanspruchen, die menschliche Natur alleine zum Ausdruck zu bringen (was z. B. die Aufklärung tat, indem sie die Bewusstseinskultur mit der Menschennatur gleichzusetzen suchte). Der (europäische, weiße, männliche) Mensch ist nicht mehr das Maß aller Dinge. Kurzum: Die zunehmende kulturalistische Beschreibung von gesellschaftlichen Phänomenen kann man, wie hier vorgeschlagen wird, als Reaktion auf das Erlahmen sozialer, sachlicher und zeitlicher Richtungs- und Einheitsvorgaben aus dem Fundus moderner Selbstbeschreibungen, also moderner Semantiken, lesen. Erlahmt sind also Vorstellungen, die wie selbstverständlich von der abendländischen modernen Verfassung der menschlichen Gesellschaft ausgehen und alle anderen Gesellschaften der Welt, in denen noch keine moderne, aufgeklärte Organisation herrscht, als noch nicht weit genug entwickelte Gesellschaften betrachten, die sich früher oder später modernisieren werden oder dazu gezwungen werden müssen. Die Homogenisierungen des 18. und 19. Jahrhunderts in Europa und weltweit - Durchsetzung eines bestimmten Menschenbildes, einer Produktionsweise, einer weltweiten technischen Dauerrevolution usw. - erschöpfen sich und verwandeln sich spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest in den kapitalistischen Zentren in eine ohne historisches Vorbild ablaufende gesellschaftliche Differenzierung, die unter strikter Beibehaltung von Codes - Geldcode, Rechtscode, Wertcode - auf der Programmebene die »Schleusen öffnet« für Diversifizierungen, für Freigaben kultureller Normen und Neubestimmungen soziokultureller Normalität, etwa im Bereich der Sexualität - und damit auch für neue Formen der Macht; und natürlich auch für gegenstrebige Bewegungen. 6. Historischer Materialismus und Kultur 238 <?page no="238"?> Für das Verhältnis zwischen einer Sozialwissenschaft, die noch von der theoretischen Einsehbarkeit, Verstehbarkeit und auch Erklärbarkeit gesellschaftlicher Komplexität überzeugt ist, und einer Kulturwissenschaft, die der Komplexität nicht mehr kontrollierend begegnet, sondern sie eher begleitet und darzustellen versucht, kann man wissenschaftsgeschichtlich eine Parallele ziehen: und zwar eine Parallele zum Verhältnis von Anthropologie (»Unverbesserlichkeit des Menschen«) und Geschichtsphilosophie (»Vervollkommnung des Menschen«). Immer dann, wenn Geschichtsphilosophie nicht mehr zu überzeugen wusste - Verlust des Fortschrittsgedankens, Verlust des Telos (Endzwecks) der Geschichte, katastrophale Wirkungen vermeintlich historischer Errungenschaften -, erstarkte die philosophische Anthropologie, um durch die Untersuchung des Anthropologischen die Gründe auszumachen, warum bestimmte Erwartungen an die Rationalität von Geschichte, Gesellschaft und Mensch illusorisch waren, oder um die anthropologischen Bedingungen zu präzisieren, die man mitzubedenken habe, wenn man weiterhin an der »Vervollkommnung« der Menschen arbeiten wolle. So wie also die Anthropologie auf das Jahrtausende alte Material der »Natur« des Menschen verwies, um der Geschichtsphilosophie vor Augen zu führen, wie naiv die Vorstellung war, die Menschen würden sich innerhalb weniger Generationen von den Zwängen ihrer Natur- und Kulturgeschichte emanzipieren können, so verweist gegenwärtig ein kulturistischer Beschreibungsansatz auf das in sich tausendfach differenzierte Material der Kultur und der Lebenswelten der Menschen. Damit soll den Vertretern einer modernen, bürgerlichen, von Planbarkeit und Universalismus überzeugten Gesellschaftstheorie vor Augen geführt werden, wie naiv die Vorstellung ist, dass das Repertoire der Möglichkeiten, um sich als Mensch zu entwerfen, sich in dem erschöpfen werde, was man homo oeconomicus zu nennen pflegt. Gegenwärtig befinde man sich demnach innerhalb des Spannungsbogens Vervollkommnung vs. Unverbesserlichkeit wieder verstärkt bei der Unverbesserlichkeit; wir sind damit also der Einsicht ausgesetzt, dass »der Mensch« weit unverfügbarer und weit weniger einem human engineering (d. h. einer Problemlösungsstrategie, in welcher der Mensch als technisches Problem behandelt wird) zugänglich ist, als man bis dahin annahm (Kamper/ Wulf 1994, 7-12). Wer bis jetzt geduldig folgen konnte, wird sich spätestens hier die Frage stellen, wie nach dem Gesagten überhaupt eine Verbindung zwischen Historischem Materialismus und dem Begriff »Kultur« hergestellt werden kann. Denn es scheint mehr als evident, dass sich beide »Denksysteme« beinahe antagonistisch zueinander verhalten. Aus der Sicht der Kultur stellt sich der Histomat als Paradebeispiel einer vereinheitlichten und vereinheitlichenden Totalitätsphilosophie dar, die völlig den Kontakt zu den differenzierten und pluralistischen Lebensformen gegenwärtiger Zeit verloren hat und zudem die kulturellen Neu- und Umbildungen im 6.2 Kurze Begriffsklärungen 239 <?page no="239"?> Bereich der technisch formierten Ausdrucksweisen immer nur unter ? Ideologieverdacht zu stellen vermag - also z. B. in der Veränderung der Sprache von Jugendlichen durch den Umgang mit Handy-Kommunikation, durch TV-Konsum, durch Trivialkultur nur eine weitere Form der ? Entfremdung sieht und nicht auch die Möglichkeit einer kulturellen Weiterentwicklung. Aus der Sicht des Historischen Materialismus gilt für den Kulturansatz dasjenige Diktum, dem sich schon die Bewusstseinsphilosophie ausgesetzt sah, nämlich: »Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblicke an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesem Augenblicke an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas Andres als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen - von diesem Augenblicke an ist das Bewußtsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der ›reinen‹ Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. überzugehen.« (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 31) Der Kultursicht wird also vorgeworfen, dass sie nur von der Wirklichkeit des Einbildungsprozesses ausgeht, aber nicht danach fragt, ob auch Wirkliches dabei gebildet wird, etwa wirkliche Lebensverhältnisse. Kurzum: Ein solcher Kulturbegriff sei die Fortsetzung der Funktion von Religion mit anderen Mitteln; also nun nicht mehr »das Opium des Volks« (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW, Bd. 1, 378), dafür vielmehr die (kulturindustrielle) Zerstreuung des »Volkes«. Man könnte die Gegensätzlichkeiten und Antagonismen dieser beiden Denkansätze noch weitertreiben. Aber es ist schon jetzt einzusehen, dass ein wie auch immer geartetes Zusammenkommen der beiden selbst nur dialektisch, wenn nicht gar paradox (im Sinne von: extreme Gegensätze ziehen sich an) passieren kann. Einen auf Totalität, Kontrolle und Verfügbarkeit ausgerichteten Denkhorizont verbinden zu wollen mit einem auf Anti-Totalität, auf Kontrollentzug und auf Unverfügbarkeit ausgerichteten Denkhorizont kann daher nur bedeuten, beide in einer sogenannten gegenstrebigen, in einer kreuzförmigen Fügung, also in einer chiastischen Fügung aneinander zu binden. Das ist in etwa dem Versuch von Frederic Jameson vergleichbar, die kulturelle Gegenwart, die sich dadurch auszeichnet, nicht mehr historisch zu denken, historisch zu denken; oder vergleichbar der Aufgabe, sich in jemanden hineinzuversetzen, dessen Hauptmerkmal es ist, dass er sich nicht mehr in andere hineinversetzen kann. - Wir kommen gleich zu diesem chiasmatischen Unterfangen; doch noch stehen in aller Kürze Umschreibungen der wichtigen Bezeichnungen »Posthistoire« und »Entdinglichung des Sozialen« aus. 6. Historischer Materialismus und Kultur 240 <?page no="240"?> 6.2.3 Die Posthistoire Der Begriff »Posthistoire« ist seit über 130 Jahren in der intellektuellen Debatte Europas präsent (Weber 2000, 48). Er bezeichnet allgemein eine Situation der Gesellschafts- und Zivilisationsgeschichte des Menschen, in der alle Möglichkeiten der Entwicklung, des Fortschritts, der Bildung, des grundlegenden Veränderns im Bereich der soziokulturellen Daseinsweise der Menschen bereits Realität geworden sind und nun ein Zustand eintritt, in der das, was noch in der Zukunft liegt, bereits schon einmal Gegenwart war. Die Kategorie des Neuen, der Zukunft schlechthin verschwindet - und damit auch die Kategorie der Geschichte. Die Zeit der Geschichte wandelt sich um in eine Zeit der Gegenwart, des Verkehrs, des Tauschs, des Erlebens ohne innere Bezugspunkte zu den vergangenen und zukünftigen Zeiten - also in etwas, das sehr viel Ähnlichkeit mit dem Geld besitzt, das auch keine Vergangenheit hat und Zukunft nur insoweit »registriert«, wie es sich gezielt zu vermehren weiß. Denn nochmals: »Kapital ist doch nichts anderes als angesammelte Vergangenheit, die als verfügbare Ressource behandelt werden kann, ohne daß die Lern- und Aneignungsprozesse selbst erinnert werden müßten.« (Luhmann 1997, 588) Es war maßgebend Hegels Philosophie des absoluten Geistes, in der implizit der Gedanke angelegt war, dass sich die historischen Entzweiungen, Entfremdungen und Ausfällungen auf einen Punkt hin bewegen, von dem an Welt und Idee, Gedanke und Wirklichkeit, Denken und Handeln ineins fallen und damit die historische Vermittlung (die Synthese) zwischen dem, was ist, und dem, was noch nicht ist, zwischen dem, was faktisch empirisch wirkt, und dem, was normativtranszendental west (sprich: als lebende Kraft anwesend, aber nicht direkt bestimmbar ist), also kurz: die Vermittlung zwischen Sein und Sollen, aufhört. Im 20. Jahrhundert prägte dann Arnold Gehlen, eine zentrale und sehr umstrittene Figur der philosophischen Anthropologie der 1930er Jahre, den Begriff der kulturellen Kristallisation. Hinter diesem Begriff steht der Gedanke, dass die Geschichte der menschlichen Kultur spätestens gegen Ende des 19. Jahrhunderts von der letzten treibenden Kraft innerhalb der Zivilisationsgeschichte »abgehängt« wurde, nämlich von der Technik resp. der Technologie. Nur noch im Bereich der Technik gäbe es eine Form der Entwicklung; die moderne Kultur sei dagegen an ihre Grenze gestoßen und könne nur noch kristallin werden, also sich verhärten, steinern/ gläsern, starr werden. Ist sie das geworden, dann spiele all das, was sich im Daseinsbereich der Kultur noch bewegt, keinerlei Rolle mehr für den Prozess der kulturellen Bildung des Menschengeschlechts. Es entstehe eine Art von Beweglichkeit auf stationärer Basis, ein auf Eis gelegtes Getriebensein unterschiedlichster soziokultureller Aktivitäten, ohne dass sich etwas wandeln, gar verwandeln könnte. 6.2 Kurze Begriffsklärungen 241 <?page no="241"?> Wissenschaftsgeschichtlich war es im 20. Jahrhundert die Sozialkybernetik - eine Wissenschaftsrichtung, die versuchte, die Erkenntnisse der nachrichtentechnischen Steuerungswissenschaft auf das Verhalten von Menschen in Gesellschaften zu beziehen -, die am stärksten auf eine human-kulturelle Vereisung reagierte und ein Konzept entwarf, das den soziokulturellen Menschen als nichttriviale, operational geschlossene, selbstreferenzielle autopoietische Maschine zu bestimmen suchte (Ternes 1999 a). 87 Sozialgeschichtlich war und ist es immer noch die explosionsartige Technologisierung der Lebenswelten der Menschen (und mittlerweile auch der inneren Natur des Menschen in Gestalt der Biotechnologien), die am stärksten die These der Posthistoire zu bestätigen scheint, dass es eben nur noch die Technik ist, die sich entwickelt, aber nicht mehr die menschliche Kultur. Man kann dies resümieren in folgender These, die sicherlich Verstehensprobleme erzeugt, deren Aussage jedoch im Laufe des Studiums immer wieder Thema sein wird: Kategoriale, humanzentrierte Geschichte höre auf, eine performative, informationstheoretisch basierte, programmatisch-programmierende Nachgeschichte beginne. 6.2.4 Entdinglichung des Sozialen Dieser von Bernhard Giesen Anfang der 1990er Jahre geprägte Begriff (Giesen 1991) versucht das Konzept der Posthistorie in die Sozialdimension von Gesellschaft und in die Zeitdimension der Postmoderne zu übersetzen - freilich ohne apokalyptisches Pathos und ohne einen sogenannten Kulturpessimismus. Behauptet wird, dass die Jahrhunderte andauernde Herausbildung von sozialer Plastizität (das ist der unglaubliche Formungsreichtum, wie Menschen ihre materielle, biologische und symbolische Reproduktion sozial organisieren können, etwa im Vergleich zu natürlichen Grenzen der Organisation bei Tierverbänden) und Ordnung menschlicher Beziehungen nun in eine neue Phase eintritt. In dieser Phase kommen die Strukturen des Handelns, Denkens/ Interpretierens und des Interagierens, in die sich das Gesellschaftliche über bald 500 Jahre hinweg differenziert hat, in ein Verhältnis der verstärkten Indifferenz: Das, was man tut, muss man nicht mehr sein; das, was man tut, muss nicht mehr vom Bewusstsein des Tuns gedeckt sein; das, was man denkt, muss nicht mehr durch das Handeln gedeckt sein; das, was man in konkreten Situationen der Interaktion erlebt oder agiert, muss nicht durch eine Handlung gedeckt sein, die mehr als symbolische Handlung ist. »Entdinglichung des Sozialen« meint also den fundamentalen Riss zwischen den symbolischen Codes einer Gesellschaft und dem praktischen Handeln, zwischen Gesellschaftsstruktur (»Basis«, gesellschaftliches Sein) und Semantik (»Überbau«, gesellschaftliches Bewusstsein), zwischen Wissen und Handeln. Es kommt 6. Historischer Materialismus und Kultur 242 <?page no="242"?> zu einer sogenannten »Autonomisierung symbolischer Strukturen« (Giesen 1991, 83) und damit zu einer »Entdinglichung symbolischer Codes« (ebenda, 129): Die Zeichen, die benutzt werden, um etwas zu bezeichnen, trennen sich zunehmend von dem, was sie bezeichnen; die Bezeichnung selbst, also die Signifizierung als solche, tritt an die Stelle eines vormals Bezeichneten, von dem man annahm, dass es außerhalb der Praxis des Bezeichnens eine eigene Realität besitzt. Das wurde beispielsweise besonders augenfällig in der Behandlung dessen, was in der abendländischen Philosophie als Wahrheit bezeichnet wird: Stand Wahrheit als Begriff für etwas ein, das quasi transzendental, objektiv, unabhängig von Subjekten und Beschreibungsformen galt, so wurde spätestens mit Nietzsche die Wahrheit eingezogen als etwas, das bloß noch als Eigenschaft von Sätzen Gültigkeit beanspruchen konnte - Wahrheit also als Produkt und Effekt der Sprache. Kurz: Herrschte in der Moderne die Tendenz vor, das Denken, Handeln, Interpretieren und Interagieren durch ? Verdinglichung und Ideologisierung zusammenzuhalten, so herrscht in der postmodernen Gesellschaft eine Entdinglichung vor, die nicht mehr erlaube, Denken und Handeln, Erleben und Verstehen, Beziehungen und Bindungen, Körper und Geist, Individuum und Gesellschaft als miteinander verbundene menschliche Artikulationen zu verstehen.* Wo früher die Religion, dann der Naturbegriff, dann der Vernunftbegriff, dann der Geschichtsbegriff, dann der Gesellschaftsbegriff, schließlich die Sprach/ Sprechakttheorie für dieses Verbundensein einstanden, sei heute eine leere Stelle. Damit sei nun ein Feld eröffnet, in dem nach neuen Verbindungen, nach neuen Beziehungen, nach Mischungen (»samplings«) Ausschau gehalten werden muss, und zwar auf allen Ebenen, also auf der kulturellen, der wissenschaftlichen, der ökonomischen usw. Ebene. * Die politische Brisanz ist gegenwärtig sehr leicht festzustellen. Anlässlich des sogenannten G8-Gipfels in der BRD Anfang Juni 2007 war ein Tenor der Globalisierungskritik, dass das Wissen, was zu tun ist, um die klimatischen, sozialen und Welternährungskatastrophen zu bekämpfen, schon seit über 30 Jahren vorhanden sei - die politisch Handelnden ließen sich jedoch nicht informieren und orientieren. Es existiere daher keinerlei Verantwortung des Wissens auf der weltöffentlichen Bühne; die symbolische Politik, die betrieben werde, verhandele nirgends wirkliche Gegenstände des Sozialen. 6.2 Kurze Begriffsklärungen 243 <?page no="243"?> 6.3 Mögliche Mischungen: Industriekapitalismus als »unsere Kultur« Marxens Einlassung zu dem Zeitraum, in dem eine bestehende Gesellschaftsformierung in eine(r) andere(n) aufgehoben, transformiert wird, haben wir schon kennengelernt. Sie lautet wie erinnerlich so: »Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.« (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW, Bd. 13, 9) Diese Annahme haben wir dahingehend revidiert, dass eher davon auszugehen ist, dass die Menschheit sich immer nur Aufgaben stellt, die sie in Paradoxien treibt, die prinzipiell nicht zu lösen, aber zu entfalten sind (menschliche Probleme sind, so nochmals die These, unlösbare Probleme, da sie nicht technisch auf eine Form gebracht werden können, sondern immer nur in annähernden historisch-sozialen Lösungsversuchen aufgehen und entfaltet werden). Für diese Entfaltung, so nun die These, kann nur Kultur (und zum Teil auch die Sozialwissenschaft) zur Verfügung stehen; denn nur kulturelle Codierungen können ausreichend Komplexität aufnehmen, da sie weniger als andere Codierungen etwa der Politik, der Moral, der Wirtschaft gezwungen sind, die Vielheit und Vielfalt gesellschaftlicher Wirklichkeiten auf Ja und Nein, richtig und falsch, Gewinn und Verlust, Macht oder Ohnmacht usw. zu reduzieren und einem dualistischen Prinzip zu unterwerfen. Wenn dem so sein sollte, dann bekommt der oben zitierte Satzteil, dass neue Produktionsverhältnisse nie an die Stelle der alten treten, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im »Schoß« der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind, eine Wendung. Dann nämlich könnte man sagen, Marx habe das Ausgebrütetwerden der neuen materiellen Existenzbedingungen zu einseitig gedacht, als einen relativ kurzfristigen Prozess, der nur die Produktionsverhältnisse umspannt, nicht aber all die Effekte und Einwirkungen, die mit und beim Ausbrüten auch entstehen. 6. Historischer Materialismus und Kultur 244 <?page no="244"?> Pointiert formuliert: Marx hat den Zeitraum der kulturellen Aneignung des Brütens und Werdens der neuen Existenzbedingungen nicht mitbedacht - aus seiner Sicht ist das nachvollziehbar, da er ja davon ausging, dass das Proletariat/ die Menschheit nichts sehnlicher wünschen konnte als das sofortige Erreichen einer klassenlosen Gesellschaft; der Gedanke, dass das Ausbrüten und das Werden des Neuen selbst eine enorme Herausforderung an die Menschen stellt, der Gedanke, dass Menschen die neuen Aufgaben erkennen und die Lösungen erst noch kulturtechnisch entwickeln müssen (dem Entwickeln der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen vergleichbar, oder dem Entwickeln der Kulturtechnik Fernsehen), wäre ihm suspekt vorgekommen.* *Ein Zitat Schellings, das Marx in seiner Dissertation anbringt, macht das sehr deutlich: »Wir erinnern Herrn Schelling schließlich an die Schlußworte seines […] Briefes: ›Es ist Zeit, der bessern Menschheit die Freiheit der Geister zu verkünden und nicht länger zu dulden, daß sie den Verlust ihrer Fesseln beweine.‹ S. 129. l. c.« (Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, MEW, Bd. 40, 368 ff.) Uns kommt der Gedanke hingegen nicht suspekt vor, weil wir Heutigen, wenn man es so sagen darf, durch Einsichten der Freudschen Psychoanalyse etwa darüber belehrt worden sind, wie langwierig und schwerwiegend die Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft hineinragt, und weil wir wissen, dass ein Zustand, in dem kein Mangel mehr herrscht, vielen Menschen mindestens genauso viel Angst bereit wie der Zustand, in dem sie unterdrückt, ihrer Freiheit beraubt, in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht werden. Neben den »materiellen Bedingungen« für die neue Gesellschaft, die wenigstens schon im Prozess des Werdens sein müssen, treten also nun noch die kulturellen Bedingungen hinzu, die ebenfalls schon im Prozess ihres Werdens sein müssen, damit die neuen Aufgaben, die neuen Lösungen und die neuen Gestalten, in denen die Paradoxien der Vergesellschaftung auftreten, überhaupt bemerkbar sind. Das bedeutet zugespitzt: Marxens Begriff von den materiellen Bedingungen ist für heutige Verhältnisse zu eng, weil er in diesen materiellen Bedingungen nicht die kulturellen unterbrachte und damit ignorierte, dass eine im Umbruch befindlichen Gesellschaft sich neue Herausforderungen auch kulturell aneignen 88 muss.* * So gilt etwa folgende Unterscheidung heute nur noch eingeschränkt: »Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz.« (Marx/ Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW, Bd. 2, 37) 6.3 Mögliche Mischungen: Industriekapitalismus als »unsere Kultur« 245 <?page no="245"?> Das wird z. B. an der Stelle deutlich, an der Marx und Engels auf die sogenannte Aneignung »einer Totalität von Produktionsinstrumenten« kommen, die sie mit der »Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst« gleichsetzen (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 68). Damit diese Aneignung passieren kann, muss unter anderem diese Bedingung erfüllt sein: dass nämlich »das Proletariat alles abstreift, was ihm noch aus seiner bisherigen Gesellschaftsstellung geblieben ist« (ebenda, kursiv B. T.). Denn die große Industrie habe eine Klasse geschaffen, »die wirklich die ganze alte Welt los ist und zugleich ihr gegenübersteht« (ebenda, 60). Offenbar ist hier die Vorstellung des Abstreifens zu mechanisch-revolutionär gedacht, zu strikt mit den nun schon bekannten materiellen Bedingungen wie auch mit der Herausbildung eines Klassenbewusstseins verkoppelt - indes ist sie nicht verkoppelt mit dem Gedanken, dass dieses »Abstreifen« erst gelingen kann, wenn die neue Gesellschaftsstellung des Proletariats zuvor auch kulturell übergestreift, also in eine eigenständige, selbst angeeignete Form des Gebrauchens, Bedeutens und Benutzens übersetzt worden ist, wenn also die antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses auch kulturell eingeholt worden, d. h. tradierbar ist. Und das würde theoriestrategisch bedeuten, den Kapitalismus nicht mehr nur im Rahmen der polit-ökonomischen Analyse in den Blick zu nehmen, sondern diese Analyse um eine kulturelle Analyse zu erweitern - vergleichbar Marxens Unterfangen, die bürgerlichen Horizonte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aus ihren privatistisch-idealistischen Fassungen zu evakuieren und sie erweitert zu materialisieren, historisch zu materialisieren (vgl. Kap. 3.3). Damit aber erweitert sich auch der Blick auf den Kapitalismus selbst: ihn als Kultur zu denken wäre nun die Herausforderung für das Denken - etwas, was Marx wohl nie in den Sinn gekommen wäre, da für ihn der Kapitalismus maximal zivilisatorische Kräfte zu entfalten wusste, aber keine kulturellen. 89 Kultur, besser: Kulturen würden damit Eintritt erhalten in das Ensemble von Begriffen, deren Funktion es bisher war oder ist, Widerspruchs- und Widerstandspotenziale gegen eine entfremdende, verdinglichende, ungerechte, alles Sinnliche auslöschende Warentauschgesellschaft zu repräsentieren und kenntlich zu machen, also Begriffe wie Gebrauchswert, Proletariat, Geschichtssubjekt. Claessens und Claessens (1979, 133) haben darauf aufmerksam gemacht, dass der Kapitalismus im Zuge seiner gewaltsamen Durchsetzung schwach war »im Aufbau neuer, dem Menschen in seinem Verhalten helfender Institutionen«. Viele Bräuche, Rituale, Geselligkeitsvorstellungen, »seelische« Überzeugungen wurden aus der vorkapitalistischen Zeit mit in die neue Zeit (ebenda, 147 f.) hineingenommen, weil die neue kapitalistische Wirklichkeit selbst noch keine entlastenden, orientierenden, kultivierenden Formen der sozialen Beziehung ausgebildet 6. Historischer Materialismus und Kultur 246 <?page no="246"?> hatte. Das Neue war nämlich, dass nun die Gesellschaft als Ganze in den Prozess des Markt-Werdens eingespannt wurde - und für diesen Prozess stand kulturell zumindest ab den 1850er Jahren nur eine Ressource zur Verfügung, nämlich disziplinierter Fleiß.* *»›Industrie‹ heißt ›Fleiß‹. Kapitalistische Industrialisierung heißt: unerbittliche Disziplin zur Erzielung von Mehrwert« (Claessens/ Claessens 1979, 150). Bekanntlich hat Max Weber (1984, etwa 165 ff.) diese Sicht gedreht: Nicht der Kapitalismus habe die Menschen in zum Teil grausamster Weise zu einer inneren und äußeren Disziplin erzogen; vielmehr speise sich die Fleiß- und Askesekultur des Kapitalismus aus den religiösen Kulturen des Calvinismus und des Protestantismus. Fleiß als einzige Ressource ist, wenn man es so konturiert sagen darf, bisher in den hochkapitalistischen Gesellschaften nur in einer Form kultiviert und gefördert worden: nämlich im Bereich des hochorganisierten sportlichen Wettbewerbs. In sportlichen Aktivitäten und Inszenierungen wurde und wird die kapitalistische Grunderfahrung der Konkurrenz kulturell eingeholt, kulturell übergestreift - indes: nur sportlich, also nur den körperlichen Kampf und körperliche Kräfte betonend, nicht kommunikativ. Diese beschränkte Kultivierung eines dem Kapitalismus selbst entsprungenen kulturellen Merkmals, also das weiterhin bestehende grundlegende kulturelle Organisationsdefizit lässt sich jedoch, so die These hier, für den heutigen Stand des Kapitalismus nicht mehr uneingeschränkt diagnostizieren. Dass die Gesellschaft von Verkehrs- und Kommunikationstechnologien, von neuen sogenannten Technokulturen, von einer sogenannten Populärkultur durchdrungen ist, könnte Anzeichen dafür sein, dass der Kapitalismus längst in eine Phase eingetreten ist, in der das kulturell-kommunikative Überstreifen im vollen Gange ist, und zwar mit allen negativen, katastrophalen, zerstörerischen Momenten versehen, die eine ausgewiesene Kulturkritik zu benennen weiß (Stichwort: »Kulturindustrie«; Horkheimer/ Adorno 1997, Bd. 3, 141-191), aber auch mit Momenten, die nicht mehr eindeutig unter das Diktum »Aufklärung als Massenbetrug« (ebenda) fallen, weil sie womöglich zu neuen Kulturtechniken führen können. Kurzum: Wenn die Annahme richtig ist, dass die bürgerliche Revolution nicht überall mit der Vergangenheit Tabula rasa gemacht hat und daher viele wichtige Elemente des »vorbürgerlichen ›Überbaus‹ stehen gelassen und sich einverleibt« hat (Flechtheim/ Lohmann 1991, 52 f.) - dann könnte es zumindest plausibel sein, in der Medien-, Informations- und Kommunikationstechnologie heutiger Tage die materieller Bedingung für eine kulturelle Aneignung und Verwirklichung des »bürgerlichen Überbaus« zu sichten (übertreibend und pointiert gesagt: erst die 6.3 Mögliche Mischungen: Industriekapitalismus als »unsere Kultur« 247 <?page no="247"?> Open Source-Bewegung realisiert im Bereich der Kommunikation Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit); eine kulturelle Aneignung oder Überstreifung, die erst noch vollzogen werden muss, um dann das so Erreichte wieder abzustreifen.* * In einem Brief an Arnold Ruge (September 1843; MEW, Bd. 1, 343-346) kommt Marx darauf zu sprechen, dass er Kommunismus nicht als dogmatische Abstraktion verstehe, ihn vielmehr als etwas wirklich Existierendes im Sinn habe. Dieser Kommunismus sei nicht identisch mit der Aufhebung des Privateigentums, da der Kommunismus »selbst nur eine besondre, einseitige Verwirklichung des sozialistischen Prinzips ist« (ebenda, 343). Marx fährt fort: »Und das ganze sozialistische Prinzip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns ebensowohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern […]« (ebenda). Gegen Ende des Briefes wird es dann zentral: »Unser Wahlspruch muß also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins […]. Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtseins besitzen muß, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, daß es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, daß die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewußtsein ihre alte Arbeit zustande bringt.« (Ebenda, 346) - Dieses »Bewusstsein-Besitzen« von einer Sache muss also durch ein kulturelles Aneignen einer Sache ergänzt werden; und zwar im gesellschaftlichen Maßstab, nicht im privat-individuellen. 6.4 Wissenschaft und Technik als »unsere Kultur« Gehen wir nun einen Schritt weiter und bestimmen das, was wir hier als Kultur, als Industriekultur bezeichnen, etwas genauer. Wir stoßen dabei für das 20. und sicherlich auch für das 21. Jahrhundert auf zwei zentrale »Generatoren«, die in Permanenz die Gesellschaft irritieren, perturbieren (gutartig stören) und disturbieren (verletzend stören): Wissenschaft und Technik. Es ist ein stehender Begriff geworden, von einer wissenschaftlich-technischen Welt zu sprechen, von einer verwissenschaftlichten Lebenswelt als Fortsetzung der natürlichen Welt. Wissenschaft und Technik sind die »Meta-Kulturen« der kapitalistischen Gesellschaften. 90 Marx und Engels gingen davon aus, dass beide »Raffinerien« enorme Produktivkräfte sind, die gleichsam die Produktionsverhältnisse, denen sie entstammen, mitrevolutionieren - das Beispiel Elektrizität ist schon genannt worden: 6. Historischer Materialismus und Kultur 248 <?page no="248"?> Besonders Engels sah in ihr die Ausweitung der Produktivkräfte technisch zwingend angelegt; und damit gleichsam zwingend die Abnahme kapitalistischer Kontrolle über die Art und Weise der Verwendung von Elektrizität (was sich z. B. dahingehend bewahrheitet hat, dass noch bis in die heutigen Tage hinein die Stromversorgung umgreifend durch den Staat verantwortet wird; allerdings mit abnehmender Tendenz). Doch trotz dieses Glaubens an die den Kapitalismus verneinenden Kräfte der Wissenschaft und Technik bleibt der Prozess zwiespältig, ambivalent, widersprüchlich; ein Prozess, der sich dadurch auszeichnet, dass das, was zu einer positiven Aufhebung der Verhältnisse beiträgt, innerhalb dieser Verhältnisse nur Unheil anrichtet. In der Deutschen Ideologie heißt es etwa: »In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (Maschinerie und Geld)«. (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 69) Und in den Grundrissen (o. J., 79 ff.) liest man, bezogen auf die Entwicklung der Individualität des Menschen, diese Sätze: »Die universal entwickelten Individuen […] sind kein Produkt der Natur, sondern der Geschichte. Der Grad und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese Individualität möglich wird, setzt eben die Produktion auf der Basis der Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit die [ ? ] Entfremdung des Individuums von sich und von andren, aber auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert.« Die Allgemeinheit der Entfremdung, bedingt durch die (kapitalistische) Industrialisierung, ist hier also zugleich die notwendige Bedingung für die Allgemeinheit der Ausbildung von individuellen Vermögen des Menschen (Vermögen nicht im Geldsinne, sondern im Persönlichkeitssinne verstanden). Es geht unserer These gemäß nun darum, in dieser Pendelbewegung zwischen der Totalität der Entfremdung und der Totalität eines entwickelten Individuums Momente auszumachen, kulturelle Momente, die zeigen können, dass diese Pendelbewegung, wie modifiziert auch immer, noch intakt ist. Und am Beispiel der Technik resp. Techno-Kultur ist durchaus zu zeigen, dass weiterhin gegenstrebige, sich widersprechende, prinzipiell nicht verhärtete und abgeschlossene Veränderun- 6.4 Wissenschaft und Technik als »unsere Kultur« 249 <?page no="249"?> gen der Gesellschaft vor sich gehen, die die Annahme erlauben, dass »die universal entwickelten Individuen« noch nicht historisch abgeschrieben sind. So schrieb Alexander Mitscherlich schon vor über 40 Jahren dies: »Seit langem vollzieht sich Relativierung der Moral. Zwei historische Entwicklungen erzwingen dies. Einmal hat die Technisierung Menschen bisher einander unbekannter Kulturen zusammengeführt. Sie begegnen sich mit ihrem jeweiligen System von Werten und Erwartungen. Das verlangt nach Duldung. Die Prozesse der fortschreitenden Industrialisierung […] zwingt aber […] viele der moralischen Maximen unserer eigenen […] Kultur relativ zu sehen […]. Wir halten nach neuen Ordnungsformen Ausschau.« (Mitscherlich 1966, 19) Das Beispiel will sagen: Technik (und Wissenschaft) sind im entwickelten Kapitalismus nicht mehr nur dazu da, die Produktion permanent zu verändern, gemäß des Zwangs zur immer höheren Produktivität, sondern sie sind mittlerweile auch gezielt in der Sphäre des Konsums angekommen. Das Ziel ist zwar weiterhin die Schaffung von ? Mehrwert, doch diesmal in Bereichen, die nicht mehr der einfachen Lebenserhaltung dienen, sondern die geistig-kultureller Art sind. Das wird ganz deutlich in den Erfindungen optischer und akustischer Speicherungs- und Übertragungsmedien (Photographie, Telephonie, Cinematographie, Videographie, Television, Komputation, World Wide Web). Gerade an diesen Techniken haben Medientheoretiker wie Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Hans Magnus Enzensberger oder auch Marshall McLuhan die sozial- und kulturrevolutionäre Bedeutung der Produktivkraft namens Kommunikationstechnik herauszustellen versucht; haben versucht, den neuen, widersprüchlichen Horizont zu bestimmen, in dem sowohl eine neue Dimension falschen Bewusstseins und Betrugs wie auch eine neue Dimension der Partizipation, der Verflüssigung starrer Verhältnisse, der Entwicklung von Individuen im Prinzip angelegt sein könnten. Technik, Kommunikationstechnik, wurde nun nicht mehr nur als Gegenteil oder als Entdifferenzierung von Kultur denkbar, sondern auch als Mitbildner von Kultur - auch wenn Friedrich Kittler nicht müde wird zu erklären, dass es sich bei diesen Kommunikationstechniken ursprünglich um Kriegstechnik gehandelt hat und weiterhin handelt (Kittler 2002). In diesem Prozess der wissenschaftlich-technischen Mitausbildung von Kulturen befinden wir uns heute noch - so wie wir uns auch weiterhin im Prozess der Vernichtung von Kulturen durch Technik und Wissenschaft befinden; man denke nur ganz konkret, im Wortsinne von Kultur (= Pflege des Ackerlandes), an die Boden-, Bodenfruchtbarkeits- und Landschaftszerstörung. 6. Historischer Materialismus und Kultur 250 <?page no="250"?> Kritische Theorien der gegenwärtigen historischen Entwicklungsstufe des Kapitalismus, etwa die Richard Sennetts (2005) oder Frederic Jamesons (1998), sehen die Technisierung von Kulturen und die Kultivierung von Technik durchaus als ambivalente Prozesse, legen aber Wert auf die Sichtweise, dass die zunehmende Kapitalisierung/ Technisierung des kulturellen Daseinsbereichs aus sozialpsychologischer Perspektive, also aus der Sicht des Individuums, zuvörderst unter negativen Vorzeichen steht. Sie beschreiben die Auflösung und Verflüssigung der Sinnlichkeit (etwa durch Abnahme der face-to-face-Interaktionen und Zunahme der medial vermittelten Kommunikation), der Verantwortung, der Bindungsfestigkeit sozialer Beziehungen, des Reflexionsvermögens, der Kontextempfindsamkeit (Gewahrsamkeit für die Hintergründe und Einbettungen eines Raumes, eines Menschen, einer Situation) als Folge der Anpassung des Individuums an die neuen Prozesse des kapitalistischen Wirtschaftens. Ein postfordistischer, die Arbeitskraft nicht mehr primär disziplinierender, sondern sie zum Mitdenken animierender sogenannter digitaler Kapitalismus (Pal Dragos) benötige eine sogenannte »Portfolio-Persönlichkeit«, für die es selbstverständlich geworden ist, ihren gesamten Lebensbereich für die Schaffung des Mehrwerts einzusetzen. Die Flexibilität und Volatilität (Schwankungsfreudigkeit) der Börse habe Vorbild zu sein für das psycho-soziale Design des Arbeitsmarktbzw. Unternehmer-Subjekts, das sich, dem Gelde gleich, jederzeit aus bestimmten Vergangenheiten, Situationen, Umgebungen herausziehen kann, um sofort an anderen Orten, in anderen Situationen eingesetzt zu werden. Im folgenden letzten Abschnitt wird nun die These vertreten, dass diese verkürzt erwähnten Elemente einer kulturellen Diagnose des gegenwärtigen Kapitalismus sich prognostisch in Marx’ Aussagen über eine nichtkapitalistische Gesellschaftsorganisation wiederfinden lassen; doch nicht kritisch verneinend, sondern, da vom Kommunismus sprechend, positiv bejahend. Um es zu wiederholen: die Annahme ist, dass Marx davon ausging, dass es in einer nachkapitalistischen Gesellschaftsordnung Kulturkräfte sind und nicht mehr in erster Linie Produktivkräfte, auf die sich die Gesellschaft in ihrer Praxis einzulassen beginnt 91 ; und dass diese Kulturkräfte im Ansatz schon jetzt, im Kapitalismus, zu wirken beginnen. 6.4 Wissenschaft und Technik als »unsere Kultur« 251 <?page no="251"?> 6.5 Romantik und Marxismus: Werden ohne Sein in der Weltmarktgesellschaft Kommen wir noch einmal auf die Sätze zurück, die an den Beginn dieses Kapitels gestellt sind; sie gehören zu den raren Aussagen, die Marx zu der Frage macht, wie und als was man sich den Kommunismus vorzustellen habe. In Ihnen kommt eine klare Vorstellung davon zum Tragen, was die Totalität eines entwickelten Individuums sein könnte. Marx beginnt mit einem Kontrast: In der naturwüchsigen Gesellschaft werde jedem die ? Arbeit zugeteilt, trete die eigene Tat dem Arbeiter als fremde Macht gegenüber, »[…] während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden« (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 33). Umformuliert heißt das: In der kommunistischen Gesellschaft kann sich nach Marx und Engels das Individuum in und mit einer Vielfältigkeit sondergleichen ausprobieren, ausdrücken, zu Gestalt bringen, weil die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt, sodass Individuen prinzipiell alles werden, alles tun können, ohne sein zu müssen, was sie tun. Das Bauprinzip für die soziale Adressabilität, für die soziale Rolle jedes einzelnen Individuums ist vollständig unabhängig von den zuschreibbaren, den zurechenbaren Tätigkeiten und Arbeiten - und entspricht damit erst der Totalität der Bildung des Individuums. Die kapitalistischen Festsetzungen der Individuen (also nur etwas zu sein und anerkannt zu werden, wenn man was hat, nämlich Geld, Reputation und auch schon nur Arbeit) hören damit auf; und es verschwinden auch die gesellschaftlichen Ersatzorgane (Staat), die die millionenfache Vereinzelung der einzelnen Menschen aufgrund dieser Festsetzungen durch eine illusorische Gemeinschaftlichkeit überdecken. Nochmals Marx und Engels: »Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, und eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemein- 6. Historischer Materialismus und Kultur 252 <?page no="252"?> schaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit […]« (ebenda, 33). Natürlich ist es leicht, die hier versuchte Assoziation zwischen Marxens Vorstellung eines befreiten Individuums im Kommunismus und den gegenwärtigen Erscheinungen des flexiblen Individuums im globalisierten Kapitalismus mit folgendem Gedankengang abzuweisen: Im früheren Kapitalismus musste man das tun, was die Verteilung der Arbeit (»Verteilungskampf«) einem zuwies; das, was man tat, musste man auch sein und bleiben, um nicht »die Mittel zum Leben zu verlieren« (ebenda, 33). Heute hingegen muss man, um nicht die Mittel zum Leben zu verlieren, alles sein, flexibel sein, sich für jede neue Arbeitsverteilung und Arbeitszuteilung aufgeschlossen (»aufgestellt«) zeigen. Es hat sich also nichts am Strukturprinzip des Ausgeliefertseins geändert. Dieser Kritik ist darin zuzustimmen, dass sie den Unterschied zwischen der Bedeutung von Arbeit im Kapitalismus und der Bedeutung von Arbeit im Kommunismus deutlich macht. Marx war davon überzeugt, »[…] daß in allen bisherigen Revolutionen die Art der Tätigkeit stets unangetastet blieb und es sich nur um eine andre Distribution dieser Tätigkeit, um eine neue Verteilung der Arbeit an andre Personen handelte, während die kommunistische Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit beseitigt und die Herrschaft aller [ ? ] Klassen mit den Klassen selbst aufhebt, weil sie durch die Klasse bewirkt wird, die in der Gesellschaft für keine Klasse mehr gilt […].« (ebenda, 69 f., kursiv B. T.) Zudem könne der gesellschaftliche Zustand, in dem der Mensch nicht mehr durch seine ? Arbeit, durch seinen Status als Anhängsel der Maschinerie* fixiert und unterjocht werde, nur durch Revolution zu einem Ende geführt werden, weil, so Marx, »die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden«. (Ebenda, 70) *»In Manufaktur und Handwerk bedient sich der Arbeiter des Werkzeugs, in der Fabrik dient er der Maschine. Dort geht von ihm die Bewegung des Arbeitsmittels aus, dessen Bewegung er hier zu folgen hat. In der Manufaktur bilden die Arbeiter Glieder eines lebendigen Mechanismus. In der Fabrik existiert ein toter Mechanismus unabhängig von ihnen, und sie werden ihm als lebendige Anhängsel einverleibt.« (Marx, Das Kapital I, MEW Bd. 23, 445) 6.5 Romantik und Marxismus: Werden ohne Sein in der Weltmarktgesellschaft 253 <?page no="253"?> Schließlich: Schaue man sich auch nur oberflächlich den gegenwärtigen Kapitalismus an, dann sei es zwar möglich, auch eine Beseitigung festzustellen - doch weniger eine Beseitigung der Arbeit als vielmehr eine Beseitigung (resp. »Verlagerung«) bezahlter Arbeitsplätze. Und von einer politisch-revolutionären Bewusstseinslage könne beim besten Willen gegenwärtig nicht die Rede sein, ebenso wenig wie von emanzipativen Potenzialen einer selbstbestimmten Arbeit, die das Individuum endlich zu kontrollieren verstehe, anstatt dass die Arbeit das Individuum kontrolliere. Indes: Der Gedanke, den Historischen Materialismus mit dem Begriff »Kultur« zu verbinden, hat ja den Sinn, die nicht mehr diagnosefähige Revolutionstheorie abzuschreiben, um eventuelle revolutionäre Veränderungen und selbstverneinende Tendenzen innerhalb des Kapitalismus und innerhalb der weiterhin herrschenden Arbeit zu sondieren. Dabei könnte sich herausstellen, dass die von Marx konstatierte Verflüssigung starrer Verhältnisse im Kommunismus kulturell bereits im Kapitalismus passiert, dies aber bisher meist unter weitgehend kulturpessimistischen Vorzeichen interpretiert wird, da ein geschichtlich-kulturelles Einbettungsvokabular, eine theoretische Einordnung für diese Vorgänge fehlt. Die These ist, dass sich die Verflüssigungen (Liquidationen, Auflösungen), die Marx und Engels meinen, im gegenwärtigen Kapitalismus in einer Phase befinden, in der sie erst noch kulturell entfaltet werden müssen, mit allen Ambivalenzen und allen Paradoxien, die wohl unvermeidlich sind.* * »Die Geschichte ist nichts als die Aufeinanderfolge der einzelnen Generationen, von denen jede die ihr von allen vorhergegangenen übermachten Materiale, Kapitalien, Produktionskräfte exploitiert, daher also einerseits unter ganz veränderten Umständen die überkommene Tätigkeit fortsetzt und andrerseits mit einer ganz veränderten Tätigkeit die alten Umstände modifiziert […]«. (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 45, kursiv B. T.) In einer im Manuskript gestrichenen Stelle der Deutschen Ideologie kommen beide nochmals positiv auf diesen bestimmten Zustand im Kommunismus zu sprechen, in dem der Vorgang des »Tun-Könnens« sich vom »Sein-Müssen« unabhängig gemacht habe. Dort heißt es: »Die Kommunisten, indem sie die materielle Basis angreifen, auf der die bisher notwendige Fixität der Begierden oder Gedanken beruht, sind die einzigen, durch deren geschichtliche Aktion das Flüssigmachen der fixwerdenden Begierden und Gedanken wirklich vollzogen wird und aufhört, […] ein ohnmächtiges Moralgebot zu sein. Die kommunistische Organisation wirkt in doppelter Weise auf die Begierden, welche die heutigen Verhältnisse im Individuum hervorbringen; ein Teil dieser Begierden, diejenigen nämlich, welche 6. Historischer Materialismus und Kultur 254 <?page no="254"?> unter allen Verhältnissen existieren und nur der Form und Richtung nach von verschiedenen gesellschaftlichen Verhältnissen verändert werden, wird auch unter dieser Gesellschaftsform nur verändert, indem ihnen die Mittel zur normalen Entwicklung gegeben werden; ein anderer Teil dagegen, diejenigen Begierden nämlich, die ihren Ursprung nur einer bestimm[ten] Gesellschaftsform, bestimmten Pro[duktions]- und Verkehrsbedingungen verdanken, wird ganz und gar seiner Lebensbedingungen beraubt. Welche [Begierden] nun unter der kommunisti[schen Organ]isation bloß verändert und [welche aufgelöst] werden, läßt [sich nur auf prakt]ische Weise, durch [Veränderung der wirk]lichen, praktischen [›Begierden‹, nicht durch] Verglei[chungen mit früheren g]eschichtlichen [Verhältnissen, entscheiden.]«. (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 238 f., kursiv B. T., eckige Klammern in der unteren Hälfte des Textes vom Herausgeber der MEW) Marx lässt hier also offen, wie weit der Kommunismus den Menschen in seinen Begierden und Gedanken, in seinen Wünschen und Trieben, in seiner Einbildungskraft und seinem Begehren neu formatieren wird. Er hält gleichsam die Grenze aufrecht zwischen eher anthropologisch und eher gesellschaftsgeschichtlich zu bestimmenden »Begierden«: die einen können gesellschaftlich nur neu überlagert, also »nur verändert« werden (in der Tradition Freuds wäre das z. B. »die Sexualität«); die anderen Begierden hingegen werden aufgelöst. Auch wenn Marx nicht entscheidet, welche der menschlichen Begierden nun zu welcher Seite gehören, scheint es klar zu sein, dass er z. B. Habsucht, Neid, Aggressivität, Machtwillen, Unterwürfigkeit im Kommunismus als aufgelöste Begierden bestimmt. Aber für »Begierden«, oder besser: für Bedürfnisse nach Liebe, nach Verständigung, nach Gemeinschaft, nach Mitbestimmung, nach Teilhabe, nach Annerkennung, nach Kontingenz (= das weder Notwendige noch Unmögliche), nach Anonymität, nach Selbstausdruck und Selbstgestaltung, nach Kultur scheint zu gelten, dass erst die wirkliche Praxis, das wirkliche gesellschaftliche Experiment darüber entscheidet, ob sie verändert oder aufgelöst werden - und nicht der historisch-theoretische Vergleich, nicht das Dogma, nicht die Theorie. Wie sollte es auch anders sein, wenn Marx und Engels schon für die Revolution als geschichtlichen Akt feststellen, »daß die kommunistische Revolution sich nicht nach den ›gesellschaftlichen Einrichtungen erfinderischer sozialer Talente‹ richten wird, sondern nach den Produktivkräften […]«? (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 364) Wenn es stimmen sollte, dass »das Flüssigmachen der fixwerdenden Begierden und Gedanken« jetzt schon im Kapitalismus im Gange ist, also jetzt schon dieses gesellschaftliche Experiment passiert (um nicht von der sogenannten dritten industriellen Revolution zu sprechen), dann ist es sicherlich 6.5 Romantik und Marxismus: Werden ohne Sein in der Weltmarktgesellschaft 255 <?page no="255"?> nicht sinnlos, für die dabei auftretenden Effekte und Auswirkungen des soziokulturellen »Umbaus« von einer gewissen Offenheit auszugehen; von einer Offenheit die Frage betreffend, ob hierbei die Individualität der Menschen verändert oder aufgelöst werden wird. Der maßgebende Unterschied zwischen diesen experimentellen Prozessen im Kapitalismus und den prognostizierten Prozessen im Kommunismus ist, dass im Kapitalismus die notwendige Kontrolle dieser Prozesse fehlt, zumindest nicht sozial organisiert ist - eben weil, so nochmals die These dieses Kapitels, diese Prozesse erst noch kulturell übergestreift, erst noch kultiviert, erst noch in Kulturisationsprozesse verwandelt werden müssen. Damit kommen wir zum letzten Moment: zur Weltmarktgesellschaft. Für Marx war die Befreiung des Individuums strikt mit der Auflösung regionaler, lokaler, kultureller Schranken des sozialen In-Beziehung-Tretens verkoppelt. Diese Auflösung übernehme der Kapitalismus selbst, der in letzter Instanz Weltmarkt zu werden hat. Mit der Auflösung aller partikularen Beziehungsgrenzen, so Marx und Engels, kommt das geschichtliche Individuum überhaupt erst in den Stand, sich als universelles Individuum neu zu erfinden, neu zu finden, neu zu binden - befreit von Vorgaben, die ihm als fremde Macht entgegengetreten sind. Habe sich der Universalismus und, darauf aufbauend, der Kommunismus hegemonial einmal durchgesetzt, dann sei die soziale Daseinsdimension des Menschen endlich in seiner Hand, unter seiner Kontrolle - ein Gedanke, der von Standpunkt heutigen Wissens als romantisch, wenn nicht als völlig abwegig angesehen wird, ja: werden muss. In der Deutschen Ideologie heißt es: »In der bisherigen Geschichte ist es allerdings ebensosehr eine empirische Tatsache, daß die einzelnen Individuen mit der Ausdehnung der Tätigkeit zur Weltgeschichtlichen immer mehr unter einer ihnen fremden Macht geknechtet worden sind (welchen Druck sie sich denn auch als Schikane des sogenannten Weltgeistes etc. vorstellten), einer Macht, die immer massenhafter geworden ist und sich in letzter Instanz als Weltmarkt ausweist. Aber ebenso empirisch begründet ist es, daß durch den Umsturz des bestehenden gesellschaftlichen Zustandes durch die kommunistische Revolution (wovon weiter unten) und die damit identische Aufhebung des Privateigentums diese den deutschen Theoretikern so mysteriöse Macht aufgelöst wird und alsdann die Befreiung jedes einzelnen Individuums in demselben Maße durchgesetzt wird, in dem die Geschichte sich vollständig in Weltgeschichte verwandelt. Daß der wirkliche geistige Reichtum des Individuums ganz von dem Reichtum seiner wirklichen Beziehungen abhängt, ist nach dem Obigen klar. Die einzelnen Individuen werden erst hierdurch von den verschiedenen nationalen und lokalen Schranken befreit, mit der Produktion (auch mit der geistigen) der 6. Historischer Materialismus und Kultur 256 <?page no="256"?> ganzen Welt in praktische Beziehung gesetzt und in den Stand gesetzt, sich die Genußfähigkeit für diese allseitige Produktion der ganzen Erde (Schöpfungen der Menschen) zu erwerben. Die allseitige Abhängigkeit, diese naturwüchsige Form des weltgeschichtlichen Zusammenwirkens der Individuen, wird durch diese kommunistische Revolution verwandelt in die Kontrolle und bewußte Beherrschung dieser Mächte, die, aus dem Aufeinander-Wirken der Menschen erzeugt, ihnen bisher als durchaus fremde Mächte imponiert und sie beherrscht haben.« (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 37, kursiv B. T.) Die allseitige Abhängigkeit, die naturwüchsige Form des weltgeschichtlichen Zusammenwirkens der Individuen - dafür steht der Weltmarkt gewordene Kapitalismus, also auch der heutige. Aber für ihn steht auch, wie »embryonal« auch immer 92 , dass die einzelnen Individuen die Möglichkeit haben, eine Fähigkeit zu erwerben, um die allseitige, also materielle wie auch geistige Produktion der ganzen Erde zu genießen. Erst dann nämlich, so Marx und Engels, wird das Individuum überhaupt zum Individuum: denn »es zeigt sich hier, daß die Individuen […] einander machen, physisch und geistig, aber nicht sich machen« (ebenda). Die in Rede stehende allseitige Produktion der ganzen Erde, die Fähigkeit, diese zu genießen, das Sich-Einander-Machen der Individuen (also das grundlegende Kooperieren als Bedingung des Individuums, und nicht das Konkurrieren): ist es wirklich zu spekulativ, in den weltumspannenden Verbreitungsmedien, in der Waren-Ästhetik, im sich entzentralisierenden, also im dezentrierten Subjekt, das nicht mehr in der Lage ist zu sagen: Ich bin ich, ich bin, was ich denke, ich bin, was ich tue usw., erste Anhaltspunkte zu suchen, die mit den Begriffen von Marx und Engels korrespondieren? Engels hob einmal kompakt hervor, dass die kommunistische Revolution total sei, von Europa ausgehend alle übrigen Länder der Welt mitreiße und, so könnte man sagen, keine Reste zurücklasse: »Die kommunistische Revolution wird daher keine bloß nationale, sie wird eine in allen zivilisierten Ländern, d. h. wenigstens in England, Amerika, Frankreich und Deutschland gleichzeitig vor sich gehende Revolution sein. Sie wird sich in jedem dieser Länder rascher oder langsamer entwickeln, je nachdem das eine oder das andre Land eine ausgebildetere Industrie, einen größeren Reichtum, eine bedeutendere Masse von Produktivkräften besitzt. Sie wird daher in Deutschland am langsamsten und schwierigsten, in England am raschesten und leichtesten durchzuführen sein. Sie wird auf die übrigen Länder der Welt ebenfalls eine bedeutende Rückwirkung ausüben und ihre 6.5 Romantik und Marxismus: Werden ohne Sein in der Weltmarktgesellschaft 257 <?page no="257"?> bisherige Entwicklungsweise gänzlich verändern und sehr beschleunigen. Sie ist eine universelle Revolution und wird daher auch ein universelles Terrain haben.« (Engels, Grundsätze des Kommunismus, MEW, Bd. 4, 374 f.) Gewiss ist: Was Engels hier über die kommunistische Revolution sagt, trifft für die »kapitalistische Revolution« der Industrialisierung zu. Die Veränderung/ Beschleunigung der Entwicklungsweise anderer Länder der Welt, die durch diese kommunistische Revolution bewirkt werden sollte und die Engels positiv bewertete, ist durch die kapitalistische Revolution erfolgt - und wird von Kritikern, in den meisten Fällen zu Recht, als eurozentristischer Imperialismus, als Ausbeutung, Kolonialisierung, als Vernichtung von Sprachen und Ethnokulturen negativ gewertet. Wo sollte da noch Platz sein, theoretischer, praktischer, denkerischer Platz für den Gedanken, dass die groß angelegte Mission der Befreiung »des Menschen« von Unterdrückung, sozialer Angst und Ausbeutung immer noch historisch »unter Strom« steht, unter kulturell-technischem Strom? ; wo Platz für den Gedanken, dass die weltumspannende Kulturindustrie nicht nur die Fortsetzung des Imperialismus mit anderen, subtileren Mitteln ist (Kulturimperialismus), sondern unter der Hand, also heimlich, vielleicht gar gespenstisch, einen Kulturimperativ 93 ausbildet? Vielleicht geht erst jetzt, in der jüngsten Vergangenheit, also seit den 1990er Jahren, ein Gespenst um in Europa (Marx/ Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, 461) - nur hört es nicht, wenn es überhaupt hören kann, auf den Namen Kommunismus, sondern auf etwas, das wir, die im Kapitalismus lebenden und überlebenden Individuen, erst noch werden müssen, ohne es zu sein. Marx hat uns für diese Aufgaben der Kultivierung und der Reflexion wenig explizit hinterlassen. Aber er bietet mit seiner Theorie einen Rahmen an, der stark genug ist, der neueren und neusten Geschichte der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaften ausgesetzt zu werden. Ergeben können sich dabei Konstellationen der Einsicht, dass Geschichte immer noch »gemacht wird«, immer noch kein Schicksal ist - und wie immer entweder zu schnell oder zu langsam vonstatten geht. Für solcherart Konstellationen findet Derrida weiterhin die besten Worte: »Wenn all die Themen des Endes (Ende der Geschichte, Ende des Menschen, Figur des ›letzten Menschen‹, der in einen gewissen Post-Marxismus eingetreten ist, usw.) seit Anfang der sechziger Jahre für die Philosophen meiner Generation Grundbestandteil ihrer Kultur waren, dann sind wir heute doch nicht dazu verurteilt, sie einfach nur starr zu wiederholen. Denn es ist ebenso wahr, daß es nicht möglich war, aus diesem Grundereignis jenes andere Ereignis abzuleiten [Derrida meint die Auflösung der UdSSR, B. T.] oder gar zu 6. Historischer Materialismus und Kultur 258 <?page no="258"?> datieren, jene Serie von Ereignissen, die, noch unanalysiert, gerade stattfinden und die drei Jahrzehnte später in einem Rhythmus eingetreten sind, den niemand auf der Welt vorausberechnen konnte, noch nicht einmal wenige Monate vorher. […] Diese Ereignishaftigkeit ist es, die es zu denken gilt, aber sie ist es auch, die dem, was man den Begriff wenn nicht das Denken nennt, am erfolgreichsten widersteht. Und man wird sie nicht denken können, solange man auf die einfache (ideale, mechanische oder dialektische) Opposition zwischen der realen Präsenz der realen oder lebendigen Gegenwart und ihrem gespenstigen Simulakrum [Trugbild, B. T.] vertraut, auf die Opposition zwischen Wirklichem und Nichtwirklichem, und das heißt auch: solange man auf eine allgemeine Zeitlichkeit oder auf eine historische Zeitlichkeit vertraut, die aus einer sukzessiven Verkettung mit sich selbst identischer und mit sich selbst gleichzeitiger Gegenwarten besteht.« (Derrida 1995, 117) 6.5 Romantik und Marxismus: Werden ohne Sein in der Weltmarktgesellschaft 259 <?page no="260"?> 7. Anmerkungen 1 Siehe http: / / www.spd.de/ menu/ 1706522/ (Abruf 27.03.2007). Von sittenwidrigem Lohn ist zu sprechen, wenn der Lohn 30 % unterhalb des Durchschnittslohnes einer Branche liegt. 2 Der von Marx selten benutzte Terminus »Überbau« betrifft im Kern die herrschenden juridischen und politischen ? Ideologien einer Gesellschaft. Der Terminus »gesellschaftliches Bewusstsein« umfasst dagegen alle weiteren Formen, in denen sich die Menschen der gesellschaftlichen Antagonismen (verzerrend) bewußt werden (Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, MEW, Bd. 13, S. 9). 3 Siehe Duden: Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, 2., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., Mannheim/ Wien/ Zürich 1989, S. 33. 4 Die Vorstellung einer zielgerichteten Regelung der Gesellschaft, unter der Kontrolle der Arbeiter, macht Schulte als das Herz der proletarischen Vernunft aus (Schulte 1992). 5 Die »Zweiteilung« von Marx ist nicht unüblich. Robert Kurz spricht zum Beispiel von einem »doppelten Marx«: einen exoterischen und einen esoterischen Marx (Kurz 2001, S. 7-48); Marco Iorio unterscheidet den Dialektiker Marx und den politischen Theoretiker Marx (Iorio 2005, S. 80). 6 So auch Johannes Rohbeck (2006, S. 17): »Marx selbst hat in der Entdeckung des gesellschaftlichen Charakters der menschlichen Arbeit seine originäre wissenschaftliche Leistung gesehen. An diese theoretische Grundlegung ist heute wieder anzuknüpfen. Sie bietet die Chance, den Bereich der modernen Zivilisation als eine [ ? ] Kultur zu begreifen - freilich mit positiven und negativen Seiten.« Zu weit geht meines Erachtens Marco Iorio, wenn er Marxens Theorie »ihrem ganzen Wesen nach« als bereits »auch interkulturalistisch« bedeutet (Iorio 2005, S. 10). 7 Siehe zu diesem Punkt Ethel Matala de Mazza, Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg 1999. 8 »Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken.« (Marx, Das Kapital, MEW, Bd. 23, S. 85.) 9 Kurzer Hinweis zu diesem zentralen und vieldeutigen, immer wiederkehrenden Begriff: Vergesellschaftung bezeichnet eine Umwandlung von Handlungen, Einstellungen, Überzeugungen, die vormals lokaler, kultureller, traditioneller und privat-gemeinschaftlicher Art waren, aber mit einem darüber hinausgehenden Anspruch auftraten, in Handlungen, Einstellungen und Überzeugungen, die nun gesellschaftlicher Art sind, aber nur noch lokalen, kulturellen, traditionellen usw. Anspruch erheben können. Beispiel Religion: Die Vergesellschaftung der Religion im Zuge der Modernisierung führte dazu, dass sie heute in Europa überwiegend nur als Privatangelegenheit Anspruch hat, während sie vor der Vergesellschaftung noch Anspruch auf das fast gesamte Leben eines einzelnen Menschen erhob. Es gibt gelungene und weniger gelungene Vergesellschaftungen (etwa: die Transformation der Rache in Gestalt der institutionalisierten Klage-Erlaubnis ab dem 12./ 13. Jahr- 261 <?page no="261"?> hundert; bzw. die Transformation des Rassismus in Gestalt der europäischen Wissenschaften). 10 Der Begriff »Synthesis« bildet mit den Begriffen »Praxis« und »Dynamis« ein Beschreibungstrio für alle Vorgänge, Ereignisse und Systembildungen innerhalb einer Gesellschaft. Praxis steht für den Bereich der Ereignisse in der Sachdimension (Struktur), Dynamis für den Bereich der Ereignisse in der Zeitdimension (Prozess), Synthesis für den des Entstehens und Werdens von neuen Einheiten und Beziehungen (Emergenz). 11 Es sei hier nur an Walter Benjamins Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« gedacht, in dem er 53 Jahr nach Marxens Tod in der heraufziehenden Kunst der Cinematographie, also im Kino, die erste richtige proletarische Kunst- und Kulturform bestimmte (Benjamin 1991, S. 471 ff.). Der Kapitalismus habe die gesamte Daseinsweise der menschlichen Kollektiva wie auch die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung verändert. Das Kino nun organisiert diese veränderte Sinneswahrnehmung neu - ein Prozeß, der auch heute noch nicht abgeschlossen ist. 12 Er habe, so Marx, »niemals ein sozialistisches System aufgestellt«; Marx, Randglossen zu Adolph Wagners »Lehrbuch der politischen Ökonomie«, MEW, Bd. 19, S. 357. 13 Dieser Begriff ist zu mannigfaltig, um ihn in wenigen Worten zu verdeutlichen. Hier nur so viel: Transzendentales Subjekt steht für die Vorstellung, dass es ein allem unterliegendes »Wesen« gibt, das den Radius möglicher Erfahrung überschreitet und damit zur Erkenntnis von Wirklichkeit/ Wahrheit gelangt über die Grenzen der Biologie, der Psychologie, der Phänomenologie, der Soziologie hinaus, die dem Menschen gesetzt sind. Dieses Wesen wurde in der abendländischen Philosophie zumeist mit Geist oder Bewusstsein identifiziert. 14 »Was an der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie seiner Zeit bemerkenswert bleibt, ist die Überführung eines Wissens, das sich früher naturbezogen gerechtfertigt hatte, in einen sozialen Kontext. […] Die Referenz auf Natur wird als ›Reifikation‹ dargestellt, also als Moment der sozialen Konstruktion analysiert. Der Wirtschaftstheorie wird damit der Anspruch bestritten, eine extra-soziale Objektivität zu vertreten. Sie reflektiert nur die Logik eines sozialen Konstrukts. Auch wenn man alles andere aufgibt, dies sollte man beibehalten und über Marx hinausführen«, so Luhmann (1992, S. 23). 15 Es war Helmuth Plessner (1981), der 45 Jahre nach Marxens Tod den philosophischanthropologischen Versuch unternahm, diese Offenheit in den Menschen »hineinzulegen«. 16 Grobe Beispiele zur Veranschaulichung wären etwa gegenwärtig die Offenheit der Gestaltung von Lebensbeziehungen sowie die Kontingenz durch Anonymität: Sehen konservative Sozialphilosophien im Zerbrechen der »Kernfamilie« und in der zunehmenden Anonymität des gesellschaftlichen Lebens Erscheinungen, die der Mensch als Verlust von Nähe, Wärme und Geborgenheit empfindet, so wäre mit Marx darin eher eine erhöhte Offenheit und die Möglichkeit, in dieser Offenheit Offenheit zu organisieren, zu sehen. 17 Marco Iorio (2005, S. 13) schreibt jedoch: »Marxens Vater war […] als selbständiger Anwalt tätig.« 18 Wolfgang Beutin u. a., Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 160. Siehe umfassend zur 1948er Revolution: Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848-1849, 2 Bde, Köln/ Berlin 1970. 7. Anmerkungen 262 <?page no="262"?> 19 An dieser Stelle wurde oft von einem Chauvinismus Marxens gesprochen, weil bei ihm die deutsche Philosophie der eigentliche Motor aller Revolutionen sei, alles andere hingegen nur Beiwerk. Das kommt etwa in den folgenden frühen Sätzen zum Ausdruck: »Das gründliche Deutschland kann nicht revolutionieren, ohne von Grund aus zu revolutionieren. Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.« (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW, Bd. 1, S. 391) 20 Wenn man die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von 1844 als Vorarbeiten für Marxens Analyse und Kritik des Kapitals ansieht, der erste Band des Kapital jedoch erst 1867 erschien, muss es verwundern, warum sich Marx mit der Arbeit über zwanzig Jahre Zeit ließ, sie immer wieder unterbrach, etwa zu Beginn des Schreibens durch sein und Engels’ Projekt der »Deutschen Ideologie«. Die viel gerühmte Gründlichkeit und das beinahe wütende Studieren immer neuer Literatur und Quellen können sicher nicht erklären, warum Marx so lange mit der Publikation zögerte. Hierfür allerdings - neben Berücksichtigung der Tatsache, dass der »Politiker« Marx in der sich ausweitenden Arbeiterbewegung enorm eingespannt war - eher psychoanalytische Erklärungsversuche anzusetzen, ist zwar nicht falsch, doch m. E. nicht treffend. Eher trifft eine andere Auffassung zu, nach der mit Blick auf Marx’ Lebensumstände die Erklärungslast vielmehr auf der Frage liegt, wie dieser »überhaupt so viel beenden konnte« (Blumenberg 1962, 105). 21 Siehe dazu das Vorwort in: Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf 1850-1858) und Anhang (1850-1859), FFM/ Wien (o. J.), S. VII. 22 Über zwei Jahrzehnte später liest man im Vorwort zur deutschen Ausgabe des Manifests 1872 dies: »Wie sehr sich auch die Verhältnisse in den letzten fünfundzwanzig Jahren geändert haben, die in diesem ›Manifest‹ entwickelten allgemeinen Grundsätze behalten im ganzen und großen auch heute noch ihre volle Richtigkeit. Einzelnes wäre hier und da zu bessern. Die praktische Anwendung dieser Grundsätze, erklärt das ›Manifest‹ selbst, wird überall und jederzeit von den geschichtlich vorliegenden Umständen abhängen, und wird deshalb durchaus kein besonderes Gewicht auf die am Ende von Abschnitt II vorgeschlagenen revolutionären Maßregeln gelegt. Dieser Passus würde heute in vieler Beziehung anders lauten. Gegenüber der immensen Fortentwicklung der großen Industrie in den letzten fünfundzwanzig Jahren und der mit ihr fortschreitenden Parteiorganisation der [ ? ] Arbeiterklasse, gegenüber den praktischen Erfahrungen, zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum erstenmal zwei Monate lang die politische Gewalt innehatte, ist heute dies Programm stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, dass ›die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann‹.« (Marx/ Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW, Bd. 18, S. 95 f.) 23 Dieser Topos, wenn auch in taktisch-agitatorischer Manier von Marx geäußert (gegen die Vertreter einer kleinbürgerlichen Demokratievorstellung, denen er die Vorstellung einer Revolution in Permanenz entgegenhielt; MEW, Bd. 7, S. 254), aber dennoch: von ihm 7. Anmerkungen 263 <?page no="263"?> geäußert, hat in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte das größte Unheil und die größten Verwirrungen ausgelöst, die man sich denken kann. Daraus jedoch eine direkte Blutlinie von Marx zu den Taten Stalins resp. schon Lenins zu ziehen, ist gewiss ideologisch motiviert. Es gibt im Marx’schen Gesamtwerk genügend Sätze, die alles andere als Gulagkompatibel sind, etwa: »Heißt dies, daß es nach dem Sturz der alten Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft geben wird, die in einer neuen politischen Gewalt gipfelt? Nein. Die Bedingung der Befreiung der arbeitenden [ ? ] Klasse ist die Abschaffung jeder Klasse, wie die Bedingung der Befreiung des dritten Standes, der bürgerlichen Ordnung, die Abschaffung aller Stände war. Die arbeitende Klasse wird im Laufe der Entwicklung an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen, welche die Klassen und ihren Gegensatz ausschließt, und es wird keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil gerade die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassengegensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist.« (Marx, Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, S. 181 f.) 24 Reichlich absurd wird es jedoch, wenn Marxens Krankheiten, etwa Hidradenitis Suppurativa, also Schweißdrüsenabzess, verantwortlich gemacht werden für sein Werk und seine Person - so etwa der Dermatologe Sam Shuster laut eines Artikels im Wiesbadener Kurier vom 9. November 2007. 25 Nicolaevky und Maenchen-Helfen (1982, S. 263) erweitern diese Sicht so: »Die zwölf Jahre von 1852 bis 1864, von der Auflösung des Kommunistenbundes bis zur Gründung der Internationale, waren ausgefüllt mit journalistischer Arbeit, geleitest um des nackten Lebens willen, und Not, gelitten für das Werk. Sieht man von den Beziehungen zu den Chartisten und Urquhartisten ab […], dann ist festzustellen, daß Marx […] in dieser ganzen Zeit sich von aktiver politischer Tätigkeit fernhielt.« 26 Dazu Nicolaevsky/ Maenchen-Helfen (1982, S. 342): »Eine Woche nach der Hinschlachtung tausender Communards war eine Kritik an dem Terror, der dem Terror antwortete, unmöglich.« - Es handelte sich neben der Erschießung der Generäle Thoma und Lecomte vor allem um die Hinrichtung der Geiseln durch die Kommunarden. 27 Pierre-Joseph Proudhons Gesellschaftsvorstellung nannte sich »Mutualismus«; sie war geprägt von einer gemeinschaftlichen Organisation von Kleinproduzenten, die genossenschaftlich in Verbindung stehen. Auf friedlichem Wege abgeschafft gehörten dem Mutualismus zufolge nur die Unternehmungen des Großkapitals. Es sollte auch zu keiner Kollektivierung der Produktionsmittel kommen. Das Erringen der Staatsmacht durch die ? Arbeiterklasse wurde strikt abgelehnt. 28 Von dort und aus dieser Zeit stammt die rote Fahne und prinzipiell die Farbe Rot als Kennzeichnung linker Überzeugung. 29 Wie schwer von dieser Gleichsetzung abzurücken ist, zeigt noch 1991 der Aufsatz von Richard Wagner mit dem Titel »Für eine Linke ohne Sozialismus« (Kursbuch, Heft 104, S. 55-64). Für die Bundesrepublik kann die soziale und politische Bewegung namens »Die Grünen« als Projekt verstanden werden, eine »linke« Politik und Gesellschaftsvorstellung ohne Marxismus aufzubauen - wie erfolgreich oder erfolglos dieses Projekt ist, sei dahingestellt. 30 »Emergenz, engl. emergence = ›unerwartete Erscheinung‹, Bez. für das Phänomen, dass beim Übergang von einfachen zu komplexen sozialen Systemen neue Eigenschaften des 7. Anmerkungen 264 <?page no="264"?> Systems (oder bei den Elementen des Systems) auftreten, die nicht auf Eigenschaften der Elemente des Systems auf niederer Entwicklungsstufe zurückgeführt werden können.« (Wörterbuch der Soziologie, begründet von Günter Hartfiel, neu bearbeitet von Karl- Heinz Hillmann, 3., überarb. u. erg. Aufl., Stuttgart 1982, S. 165 f.) 31 Die Struktur des Verhältnisses zwischen theoretischer Innovation ( ? Historischer Materialismus) und der Kritikenthobenheit prinzipieller wissenschaftlicher Rationalität wiederholte sich mit Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Freudschen Psychoanalyse: Freud tat zu Beginn alles, um seine Psychoanalyse, die radikal die Grenzen rationalen und vernünftigen Handelns aufzuzeigen suchte, als anerkennungswürdige wissenschaftlich-objektive Lehre zu markieren, ganz auf dem Boden einer nicht zu kritisierenden Rationalität der Wissenschaft. 32 Hinweis: Wenn im folgenden nur Marx und nicht Engels genannt wird, so meint dies: Engels ist immer mitgedacht. Indes: Marx’ Schriften folgte der Marxismus, kein »Engelsianismus«. 33 Natürlich in der Form der Kritik und der Kontroverse, wie etwa auf dem 16. Soziologentag 1968, als die Frage »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? « zur Diskussion stand - maßgebend geführt von Vertretern der kritischen Theorie und des kritischen Rationalismus. Adorno, der damals den Einleitungsvortrag hielt, beendete seine Rede mit folgenden, sich eindeutig auf das Marx’sche Erbe beziehenden Worten: »So undurchdringlich der Bann, er ist nur Bann. Soll Soziologie, anstatt bloß Agenturen und Interessen willkommene Informationen zu liefern, etwas von dem erfüllen, um dessentwillen sie einmal konzipiert ward, so ist es an ihr, mit Mitteln, die nicht selber dem universalen [ ? ] Fetischcharakter erliegen, das Ihre, sei’s noch so Bescheidene, beizutragen, daß der Bann sich löse.« (Adorno 1997, Bd. 8, S. 370) 34 Dieser Gedanke eines universellen, eines internationalen Kommunismus ist 1923 durch Stalins Kehre erheblich abgeschwächt worden. Stalin sprach damals von der Möglichkeit des »Sozialismus in einem Land« - nach dem Ausbleiben der sozialistischen Revolution im Westen. 35 Iring Fetscher weist darauf hin (Fetscher 1984, S. 303), dass die Imperialismustheorie als der einzige Versuch innerhalb des Marxismus angesehen werden kann, eine »Kritik der politischen Ökonomie« des 20. Jahrhunderts zu schreiben - mit Ergebnissen, so Fetscher, die das Niveau der Marx’schen Schriften nicht mehr erreichten. 36 Ende der 1940er Jahre schrieb der Ägypter Sayed Qutb das Buch Ma’aalim fii’l tariq, das zur »Bibel« für die islamischen Fundamentalisten wurde. Auf ihn berufen sich viele Islamisten der letzten Jahrzehnte, teilweise auch Osama Bin Laden. Qutb ist der Wegbereiter der islamischen Radikalenszene, die der westlichen Gesellschaft den Krieg erklärt hat. In Englisch liegt sein Buch Milestones (India 2006) vor. Weitere islamische Kritiker der westlichen und islamischen Welt sind Hassan al Banna und Maulana Maududi. 37 Das Nichteingehen betrifft auch das Werk Hegels. Für das Folgende siehe Hegels Phänomenologie des Geistes (Band 3), seine Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I und II (Band 8 und 9), sowie seine Grundlinien der Philosophie des Rechts (Band 7) der Theorie Werkausgabe, FFM 1970. Eine sehr gute Skizze bietet auch das schon etwas ältere Buch Von Marx zur Sowjetideologie von Iring Fetscher (FFM/ Berlin/ Bonn 11 1965, S. 12-37). 7. Anmerkungen 265 <?page no="265"?> 38 Das ist übrigens einer der Hauptgründe, warum Marx keine ausgearbeitete »Staatstheorie« angefertigt hat. Für ihn war der Staat letztlich ein Moment der Unterdrückung, das mitverschwindet, sobald die klassenlose Gesellschaft ihren Anfang nimmt. 39 Eine kurze Bemerkung: Ich bitte diese Sätze als extreme Verkürzungen und Zusammenfassungen der Hegelschen Geschichtsphilosophie zu lesen. Ginge man ausführlicher vor, so wären diese hier gemachten Aussagen in ihrem Überflug natürlich so nicht mehr zu vertreten. 40 Das ist sehr abstrakt formuliert, kann aber hier noch nicht ausreichend erläutert werden. Im Laufe des Buches wird sich dieser wie auch manch anderer Satz noch erhellen. 41 Siehe http: / / www.sgipt.org/ wirtsch/ gesch/ marx-w.htm (Abruf 17.03.2007). Verantwortlich für die Seite: Rudolf Sponsel. 42 Die diesbezüglichen Schriften Marxens sind: Die sogenannten Pariser Manuskripte (1844), Lohnarbeit und Kapital (1849), Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1857/ 58), Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), Lohn, Preis und Profit (1865), Das Kapital (1867, 1885, 1894). Zum Kapital sind folgende wichtige Hintergrundinformationen angebracht: »Seine wissenschaftliche Arbeit, die der Kritik der ökonomischen Kategorien gewidmet ist, gliederte er in sechs Bücher: 1. Vom Kapital; 2. Vom Grundeigentum; 3. Von der Lohnarbeit; 4. Vom Staat; 5. Internationaler Handel; 6. Weltmarkt. Für das erste Buch sah Marx vier Abschnitte vor: a) Das Kapital im allgemeinen; b) Die Konkurrenz oder die Aktion der vielen Kapitalien aufeinander; c) Kredit; d) Das Aktienkapital. Der erste Abschnitt sollte aus drei Kapiteln bestehen: 1. Wert, 2. Geld und 3. Kapital. Das dritte Kapitel sollte sich wiederum in drei Abteilungen aufgliedern: Produktionsprozeß des Kapitals; Zirkulationsprozeß des Kapitals; Einheit von beiden oder Kapital und Profit, Zins. Diese letzte spezielle Gliederung bildete später die Grundlage für die Einteilung des ganzen Werks in die drei Bände des ›Kapitals‹. Die Kritik und Geschichte der politischen Ökonomie und des Sozialismus sollten Gegenstand einer andren Arbeit sein.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, S. 844, Anmerkungen der Herausgeber) 43 Erwähnung finden soll, dass ich in den folgenden zwei Kapiteln an manchen Stellen aus Skripten von Johannes Berger, die unveröffentlicht sind, Hilfe bezogen habe. 44 Zu dieser hochphilosophischen Unterscheidung, die herrührt aus der Unterscheidung »Wesen«/ »Erscheinung«, ist vielleicht eine illustrierende Analogie aus der »Welt« des Computers angebracht: Klickt man etwa mit Hilfe der Maus auf das Icon für Speichern, dann realisiert man die Speicherung des Dokuments; das Erzeugen der Speicherung jedoch passiert durch die Algorithmen des Programms - unsichtbar. Damit aber das Speichern wirklich erzeugt wird, muß der Befehl realisiert werden, durch Klicken des Icons. Die Aktivierung/ Realisierung des Befehls unterscheidet sich also von der Durchführung/ Erzeugung des Befehls. 45 »Im Kapital - Profit, oder noch besser Kapital - Zins, Boden - Grundrente, [ ? ] Arbeit - Arbeitslohn, in dieser ökonomischen Trinität als dem Zusammenhang der Bestandteile des Werts und des Reichtums überhaupt mit seinen Quellen ist die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die [ ? ] Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse, das unmittelbare Zusammenwachsen der stofflichen Produktionsverhältnisse mit ihrer geschichtlich-sozialen Bestimmtheit vollendet: die verzauberte, verkehrte und auf den 7. Anmerkungen 266 <?page no="266"?> Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben.« (Marx, Das Kapital III, MEW, Bd. 25, S. 838) 46 Lesehinweis: Wer sich neben einer ökonomiehistorischen Rekonstruktion des Kapitalismus auch für eine geschichtsphilosophische Studie der Übergangszeit vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, kurz: für die »ideengeschichtliche Akkumulation«, also die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft im Bereich der Philosophien und Theorien interessiert, der sei verwiesen auf Franz Borkenau, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode (1934), Darmstadt 1976. Borkenau suchte historisch-materialistisch die »gesellschaftliche Semantik« (Überbau) aus den »gesellschaftlichen Strukturen« (Basis) herzuleiten (etwa: »Ganz grob ausgedrückt, läßt sich das Bestreben, das ganze Naturgeschehen aus mechanischen Prozessen zu erklären, als die Bemühung definieren, alles Naturgeschehen nach Analogie der Vorgänge in einer Manufaktur aufzufassen«; S. 5). 47 Siehe nochmals: http: / / www.sgipt.org/ wirtsch/ gesch/ marx-w.htm (Abruf 17.03.2007). Verantwortlich zeigt sich für die Seite Rudolf Sponsel. 48 Während Marx darum bemüht war, sogenannte objektive Gesetze der Dynamik des Wirtschaftsprozesses zu finden, versuchen Vertreter der Grenznutzentheorie die Dynamik des Wirtschaftsprozesses und des Wirtschaftens mit Hilfe von Modellen zu konstruieren, die ein idealtypisches individuelles Verhalten der Wirtschaftsteilnehmer zur Grundlage haben (Fetscher 1984, 405). 49 Physiokratische Theorien der Ökonomie standen quasi auf der Schwelle zur warenproduzierenden Tauschgesellschaft. In ihnen war das zu bearbeitende Land der entscheidende Faktor für die Bildung von Reichtum, nicht aber der Faktor ? Arbeit und der Faktor Geld - also die Faktoren, die in der entwickelten kapitalistischen Ökonomie entscheidend für Reichtumsbildung werden. 50 Wobei die Art und Weise, mit der Ricardo vorging, Marxens Bewunderung fand, vor allem sein Amoralismus. Siehe etwa: »Aber Ricardo läßt die Nationalökonomie ihre eigne Sprache sprechen. Wenn diese nicht moralisch spricht, so ist es nicht die Schuld von Ricardo.« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, MEW, Bd. 40, S. 551) 51 »Als Resultat der kommerziellen Revolution, die dem Feudalismus das Ende und für den Kapitalismus den Anfang schuf, fand sich die Produktion vor Aufgaben gestellt, die nur durch Lösungen gesellschaftlichen Ausmaßes bewältigt werden konnten«, so Alfred Sohn- Rethel (1970, S. 22). 52 »Einen neuen furchtbaren Anstoß erhielt der gewaltsame Expropriationsprozeß der Volksmasse im 16. Jahrhundert durch die Reformation und, in ihrem Gefolge, den kolossalen Diebstahl der Kirchengüter. Die katholische Kirche war zur Zeit der Reformation Feudaleigentümerin eines großen Teils des englischen Grund und Bodens. Die Unterdrückung der Klöster usw. schleuderte deren Einwohner ins Proletariat. Die Kirchengüter selbst wurden großenteils an raubsüchtige königliche Günstlinge verschenkt oder zu einem Spottpreis an spekulierende Pächter und Stadtbürger verkauft, welche die alten erblichen Unter- 7. Anmerkungen 267 <?page no="267"?> sassen massenhaft verjagten und ihre Wirtschaften zusammenwarfen.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, S. 748 f.) 53 Die mentalen, philosophischen, die semantisch-kulturellen Bedingungen zur Ermöglichung dieses Züchtigungsprozesses beschreibt knapp und instruktiv Wolfgang Reinhard in seinem Aufsatz »Die frühneuzeitliche Wende von der Vita contemplativa zur Vita activa, in: Paragrana, Heft 1/ 2007, S. 15-25. 54 Siehe dazu und auch für das weitere: Elmar Altvater, Kapital.doc. Vierundzwanzigstes Kapitel, auf: http: / / www.iff.ac.at/ socec/ backdoor/ ws03-se-usoz/ kapital/ ea24.htm (Abruf: 22.03.2007). 55 Nochmals Claessens und Claessens (1979, S.139): »Im neuen kapitalistischen System gerät die Identitätsfrage in eine fast unlösbare Situation. Der Arbeiter ›verkauft sich selbst‹, freiwillig - was kein ›vernünftiger‹ Mensch tun würde. So hätte man jedenfalls vorher geurteilt und würde naiv auch heute noch urteilen. Der ›Kapitalist‹ kaufte menschliche Arbeitskraft billig, um sie teuer (d. h. ihre Produkte) zu verkaufen. Das war nach allgemeiner Auffassung offen eine unsittliche Handlungsweise. Auf ihr beruhte aber das ganze System.« - Unter der Abschnittsüberschrift »Die absolute Freiheit und der Schrecken« bringt Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes (Bd. 3 der »Werke in 20 Bänden«, FFM 1970, S. 431) die neue Situation auf den Punkt: »Das Bewußtsein hat in der Nützlichkeit seinen Begriff gefunden.« 56 Das ist eine der Hauptaufgaben der Reklame, neben der anderen Aufgabe, eine Auswahl an Waren zu präsentieren, die keinen Unterschied macht (also das Gefühl vermittelt, dass, egal was gewählt wird, man nicht daneben greift). 57 Hier ist es angebracht, eine Aussage von Marx wiederzugeben, die diese Sichtweise relativiert, aber innerhalb seiner Theorie keine größere Entfaltung erfuhr: »Die Gebrauchswerte Rock, Leinwand usw., kurz die Warenkörper, sind Verbindungen von zwei Elementen, Naturstoff und ? Arbeit. Zieht man die Gesamtsumme aller verschiednen nützlichen Arbeiten ab, die in Rock, Leinwand usw. stecken, so bleibt stets ein materielles Substrat zurück, das ohne Zutun des Menschen von Natur vorhanden ist. Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern. Noch mehr. In dieser Arbeit der Formung selbst wird er beständig unterstützt von Naturkräften. Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten [ ? ] Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, S. 57 f.) 58 dt.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft; mit neuem Register u. Nachwort v. Peter von Polenz, 2. Aufl., Berlin 1967. 59 Nach Hartmut Böhme wird der Begriff erstmals 1760 in die Philosophie eingeführt, und zwar von Charles de Brosses, Du Culte des Dieux Fétiches ou Parallèle de l’ancienne Religion de l’Egypte avec la Religion actuelle de Nigritie, Paris; Neudruck 1988, ohne Ort. 60 Es sei in Parenthese kurz angemerkt, dass diese Trennung des ? Fetischs in Warenfetisch einerseits und kulturellen/ konsumistischen Fetisch andererseits strukturell dem Vorgehen von Jürgen Habermas gleicht, der durch seine Auftrennung der Moderne bzw. der Rationalität in instrumentelle versus kommunikative/ kulturelle Moderne/ Vernunft ein Feld zu öffnen suchte, in dem nicht mehr ausschließlich das »Negative« bestimmend sein sollte. Siehe Habermas (1981). 7. Anmerkungen 268 <?page no="268"?> 61 »Verschwindend objektivierter Reflex der Warenpreise«: Damit will Marx sagen, dass im Kreislauf Ware - Geld - Ware das Geld als Wertform nur minimalen zeitlichen Bestand hat, der Ware auch nur intermediär gegenüber tritt und sofort wieder »verschwindet« - um in Gestalt einer anderen Ware wieder zu erscheinen. 62 Zum Preis heißt es diesbezüglich (ebenda, S. 116): »Der Preis ist der Geldname der in der Ware vergegenständlichten Arbeit.« 63 »Soweit wir aber die Form W - G - W betrachten, erscheint der [ ? ] Tauschwert, sei es in seiner Form als Preis, sei es in seiner Form als Münze, sei es in der Form der Beweg[ung] des Gleichsetzens, der Bewegung des Austauschs selbst, nur als verschwindende Vermittlung«, so Marx in den Grundrissen (o. J, S. 924 f.). Geld spielt hier also die Rolle eines Bindeglieds, das zwei Waren in Beziehung setzt; es verschwindet beinahe sofort im Moment des Auftauchens, nämlich dann, wenn es für den Kauf einer anderen Ware eingesetzt wird. In der Form G - W - G’ ist es dann genau umgedreht: die Waren »sind« hier die verschwindende Vermittlung für das Geld, um dessen Zirkulation es geht. 64 Dieser Lohn resp. die Summe an Geld, die dem Arbeiter gezahlt werden muss, damit er sich reproduzieren kann, ist nach Marx historisch, moralisch und kulturell variabel: »Die Arbeitskraft verwirklicht sich jedoch nur durch ihre Äußerung, betätigt sich nur in der Arbeit. Durch ihre Betätigung, die Arbeit, wird aber ein bestimmtes Quantum von menschlichem Muskel, Nerv, Hirn usw. verausgabt, das wieder ersetzt werden muß. Diese vermehrte Ausgabe bedingt eine vermehrte Einnahme. Wenn der Eigentümer der Arbeitskraft heute gearbeitet hat, muß er denselben Prozeß morgen unter denselben Bedingungen von Kraft und Gesundheit wiederholen können. Die Summe der Lebensmittel muß also hinreichen, das arbeitende Individuum als arbeitendes Individuum in seinem normalen Lebenszustand zu erhalten. Die natürlichen Bedürfnisse selbst, wie Nahrung, Kleidung, Heizung, Wohnung usw., sind verschieden je nach den klimatischen und andren natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes. Andrerseits ist der Umfang sog. notwendiger Bedürfnisse, wie die Art ihrer Befriedigung, selbst ein historisches Produkt und hängt daher großenteils von der Kulturstufe eines Landes, unter andrem auch wesentlich davon ab, unter welchen Bedingungen, und daher mit welchen Gewohnheiten und Lebensansprüchen die Klasse der freien Arbeiter sich gebildet hat. Im Gegensatz zu den andren Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element. Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der Durchschnitts-Umkreis der notwendigen Lebensmittel gegeben.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, S. 185) 65 Diese Praxis, Menschen wortwörtlich bis zum Umfallen arbeiten zu lassen, ist in Europa kaum noch anzutreffen; dafür jedoch in ungeahnten Ausmaßen in anderen Regionen der globalisierten Wirtschaft, etwa in China, in Südostasien, in Lateinamerika. 66 Einige Seiten später spricht Marx davon, dass der Normalarbeitstag Produkt eines »mehr oder minder versteckten Bürgerkrieges« gewesen sei; Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 316. 67 Zur Erinnerung: Marx versteht unter gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit nicht eine je individuell verschieden sein könnende Zeit, die notwendig für die Produktion einer Wareneinheit aufzubringen ist, sondern er meint damit die aufzubringende Zeit, die eine gesellschaftliche Durchschnittsarbeitskraft benötigt, um eine Wareneinheit herzustellen. 7. Anmerkungen 269 <?page no="269"?> Dieser Durchschnitt ist als Maßeinheit zwingend gesellschaftlich bestimmt, da die Waren ebenfalls gesellschaftlich vermittelt werden und also in äquivalenten Tauschbeziehungen eintreten müssen. 68 Lebendige Arbeit deswegen, weil nur die Arbeitskraft neuen, zusätzlichen Wert schaffen kann. Konstantes Kapital, also etwa eine Maschine, gibt im Produktionsprozess von Waren nur so viel Wert ab, wie in ihr steckt (gemessen an dem Preis, den der Kapitalist für sie zahlen musste) - konstantes Kapital erzeugt nach Marx keinen ? Mehrwert. Aber wir greifen hier vor. 69 »Mit dem Maschinenbetrieb verwandelt sich die Zusammensetzung des Gesamtkapitals. Es zerfällt jetzt z. B. in 4 / 5 konstanten und 1 / 5 variablen Bestandteil, oder es werden nur noch 100 Pfd. St. in Arbeitskraft ausgelegt. Zwei Drittel der früher beschäftigten Arbeiter werden also entlassen. Dehnt sich dieser Fabrikbetrieb aus und wächst bei sonst gleichbleibenden Produktionsbedingungen das angewandte Gesamtkapital von 500 auf 1500, so werden jetzt 300 Arbeiter beschäftigt, so viele wie vor der industriellen Revolution. Wächst das angewandte Kapital weiter auf 2000, so werden 400 Arbeiter beschäftigt, also 1 / 3 mehr als mit der alten Betriebsweise. Absolut ist die angewandte Arbeiterzahl um 100 gestiegen, relativ, d. h. im Verhältnis zum vorgeschoßnen Gesamtkapital, ist sie um 800 gefallen, denn das Kapital von 2000 Pfd. St. hätte in der alten Betriebsweise 1200 statt 400 Arbeiter beschäftigt. Relative Abnahme der beschäftigten Arbeiterzahl verträgt sich also mit ihrer absoluten Zunahme.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, S. 473) 70 Gewiss hat Marx nicht das Copyright auf die »richtige« Verwendung des Begriffs. Indes wird man das Gefühl nicht los, dass viele gegenwärtige Verwender nicht wissen, was sie ausdrücken, wenn sie Mehrwert sagen. Siehe etwa die Buchtitel »Mehrwert. Glauben in heftigen Zeiten« von Markus Spieker (2007), »ConSozial 2006. Mehrwert des Sozialen - Gewinn für die Gesellschaft« von Joachim König, Christian Oerthel, Hans-Joachim Puch (2007), oder etwa »Führen mit Mehrwert. Emotionale und soziale Kompetenz realisieren« von Andreas von Studnitz und Nadina N. von Studnitz (2004). 71 Dieser Begriff und seine Derivate (Umschlagszeit, Umlaufzeit, Umschlag) werden hier nicht weiter erklärt. Nur so viel von Marx dazu: »Die Verschiedenheit der Umschlagszeiten ist also ein andrer Grund, warum gleich große Kapitale in verschiednen Produktionssphären nicht gleich große Profite in gleichen Zeiträumen produzieren und warum daher die Profitraten in diesen verschiednen Sphären verschieden sind.« (Marx, Das Kapital III, MEW, Bd. 25, S. 160) 72 Nur so viel sei zu der diesbezüglichen Kritik erwähnt: Nach Marx würden die Produktionspreise durch eine Art Aufschlag des Durchschnittsprofits auf die Kostpreise berechnet. Wende man nun dieses Verfahren auf das Kreislaufschema der einfachen Warenproduktion an, so ergebe sich ein Ungleichgewicht, das die Richtigkeit der Marxschen (Wert-)Theorie insgesamt widerlegen würde. 73 So viel nur dazu: »Das Gesamtprodukt, also auch die Gesamtproduktion, der Gesellschaft zerfällt in zwei große Abteilungen: I. Produktionsmittel, Waren, welche eine Form besitzen, worin sie in die produktive Konsumtion eingehn müssen oder wenigstens eingehn können. II. Konsumtionsmittel, Waren, welche eine Form besitzen, worin sie in die individuelle Konsumtion der Kapitalisten- und [ ? ] Arbeiterklasse eingehn. […] In jeder Abtei- 7. Anmerkungen 270 <?page no="270"?> lung zerfällt das Kapital in zwei Bestandteile: 1. Variables Kapital. […] 2. Konstantes Kapital, d. h. den Wert aller zur Produktion in diesem Zweig angewandten Produktionsmittel. Diese zerfallen ihrerseits wieder in fixes Kapital: Maschinen, Arbeitswerkzeuge, Baulichkeiten, Arbeitsvieh etc.; und in zirkulierendes konstantes Kapital: Produktionsmaterialien, wie Roh- und Hilfsstoffe, Halbfabrikate etc. […] Der Wertteil c, der das in der Produktion verzehrte konstante Kapital darstellt, deckt sich nicht mit dem Wert des in der Produktion angewandten konstanten Kapitals. Die Produktionsstoffe sind zwar ganz verzehrt, und ihr Wert ist daher ganz auf das Produkt übertragen. Aber nur ein Teil des angewandten fixen Kapitals ist ganz verzehrt, sein Wert daher auf das Produkt übergegangen. Ein andrer Teil des fixen Kapitals, Maschinen, Gebäude etc., existiert und fungiert fort, nach wie vor, wenn auch mit durch den Jahresverschleiß vermindertem Wert. Dieser fortfungierende Teil des fixen Kapitals existiert nicht für uns, wenn wir den Produktenwert betrachten.« (Marx, Das Kapital II, MEW, Bd. 24, S. 394 f.) 74 Hierzu Marxens Hervorhebung: »Innerhalb des Kreislaufs des Kapitals und der Warenmetamorphose, welche einen Abschnitt desselben bildet, vollzieht sich der Stoffwechsel der gesellschaftlichen Arbeit. Dieser Stoffwechsel mag den Raumwechsel der Produkte bedingen, ihre wirkliche Bewegung von einem Ort zum andren. Zirkulation von Waren kann aber stattfinden ohne ihre physische Bewegung und Produktentransport ohne Warenzirkulation, und selbst ohne unmittelbaren Produktenaustausch. Ein Haus, welches A an B verkauft, zirkuliert als Ware, aber es geht nicht spazieren. Bewegliche Warenwerte, wie Baumwolle oder Roheisen, hocken auf demselben Warenlager, zur selben Zeit, wo sie Dutzende von Zirkulationsprozessen durchlaufen, gekauft und wieder verkauft werden von den Spekulanten. Was sich hier wirklich bewegt, ist der Eigentumstitel an der Sache, nicht die Sache selbst. Andrerseits spielte z. B. im Reich der Inkas die Transportindustrie eine große Rolle, obgleich das gesellschaftliche Produkt weder als Ware zirkulierte, noch auch vermittelst des Tauschhandels verteilt ward. Wenn die Transportindustrie daher auf Grundlage der kapitalistischen Produktion als Ursache von Zirkulationskosten erscheint, so ändert diese besondre Erscheinungsform nichts an der Sache.« (Marx, Das Kapital II, MEW, Bd. 24, S. 150 f.) 75 »Das Privateigentum treibt allerdings sich selbst in seiner nationalökonomischen Bewegung zu seiner eignen Auflösung fort, aber nur durch eine von ihm unabhängige, bewußtlose, wider seinen Willen stattfindende, durch die Natur der Sache bedingte Entwicklung, nur indem es das Proletariat als Proletariat erzeugt, das seines geistigen und physischen Elends bewußte Elend, die ihrer Entmenschung bewußte und darum sich selbst aufhebende Entmenschung.« (Marx/ Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, MEW, Bd. 2, S. 37.) 76 »Wenn aber der Wechsel der Arbeit sich jetzt nur als überwältigendes Naturgesetz und mit der blind zerstörenden Wirkung eines Naturgesetzes durchsetzt, das überall auf Hindernisse stößt, macht die große Industrie durch ihre Katastrophen selbst es zur Frage von Leben oder Tod, den Wechsel der Arbeiten und daher möglichste Vielseitigkeit der Arbeiter als allgemeines gesellschaftliches Produktionsgesetz anzuerkennen und seiner normalen Verwirklichung die Verhältnisse anzupassen. Sie macht es zu einer Frage von Leben oder Tod, die Ungeheuerlichkeit einer elenden, für das wechselnde Exploitationsbedürfnis des 7. Anmerkungen 271 <?page no="271"?> Kapitals in Reserve gehaltenen, disponiblen Arbeiterbevölkerung zu ersetzen durch die absolute Disponibilität des Menschen für wechselnde Arbeitserfordernisse; das Teilindividuum, den bloßen Träger einer gesellschaftlichen Detailfunktion, durch das total entwickelte Individuum, für welches verschiedne gesellschaftliche Funktionen einander ablösende Betätigungsweisen sind.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, S. 511 f.) 77 Das ist übrigens ein Vorwurf, dem auch die kritische Theorie Adornos ausgesetzt war, maßgebend formuliert durch Jürgen Habermas: Adorno (wie auch Marx) konnten ob ihrer Theorieanlage kein Sensorium ausbilden für die Emanzipationspotenziale einer Gesellschaft mit demokratischen Institutionen und Organen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung privatwirtschaftlicher Produktionsverhältnisse. 78 Die bekannte Sentenz, bezogen auf die Emanzipation speziell in Deutschland, lautet: »Wo also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation? Antwort: in der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist, einer Sphäre, welche einen universellen Charakter durch ihre universellen Leiden besitzt und kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, welche in keinem einseitigen Gegensatz zu den Konsequenzen, sondern in einem allseitigen Gegensatz zu den Voraussetzungen des deutschen Staatswesens steht, einer Sphäre endlich, welche sich nicht emanzipieren kann, ohne sich von allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emanzipieren, welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann. Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besondrer Stand ist das Proletariat.« (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW, Bd. 1, S. 390) 79 Das ist der Grund, warum Marx seine Gesellschaftstheorie als Klassentheorie konfiguriert; und das wiederum ist der Grund, warum für Marx in den Klassenkämpfen nur das Proletariat die Chance hat, die Gerichtetheit des menschlichen Geschichtsprozesses zu erkennen, auf sich zu beziehen und dann zu realisieren - als das letzte Subjekt einer Menschwerdung, Geschichtswerdung und Gesellschaftswerdung dessen, was Menschheit heißt. Und damit, so die Kritik, ist Marx Hegelianer geblieben: Er habe Hegels Geist durch die Arbeit ersetzt, aber seine Metaphysik beibehalten, wenn auch politökonomisiert. 80 Staatsbürgerlicher Privatismus meint: Indem der Staat administrativ dem einzelnen Arbeiter durch Leistungen (Gratifikationen), auf die er Rechtsanspruch hat, einen nicht unwesentlichen Teil des Lebensrisikos abnimmt, verlangt er zugleich vom Arbeiter als Gegenleistung, dass er sich nicht mehr als Arbeiter gesellschaftspolitisch engagiert, sondern maximal als Bürger, der nicht mehr darauf zu bestehen hat, dass der grundlegende Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital politisch-kämpferisch auszutragen sei. 81 »Die Exploration der Erde nach allen Seiten […]; die Entwicklung der Naturwissenschaft […]; ebenso die Entdeckung, Schöpfung und Befriedigung neuer aus der Gesellschaft selbst hervorgehenden Bedürfnisse; die Kultur aller Eigenschaften des gesellschaftlichen Menschen und Produktion desselben als möglichst bedürfnisreichen, weil Eigenschafts- und Beziehungsreichen - seine Produktion als möglichst totales und universelles 7. Anmerkungen 272 <?page no="272"?> Gesellschaftsprodukt - (denn um nach vielen Seiten hin zu genießen, muß er genußfähig, also zu einem hohen Grad kultiviert sein) - ist ebenso eine Bedingung der auf das Kapital gegründeten Produktion. Es ist dies nicht nur Teilung der Arbeit […]; sondern das Abstoßen der bestimmten Produktion von sich selbst als Arbeit von neuem Gebrauchswert; Entwicklung von einem stets sich erweiternden und umfassenden System von Arbeitsarten, Produktionsarten, denen ein stets erweitertes und reichres System von Bedürfnissen entspricht«, so Marx in den Grundrissen (S. 312 f.). 82 Ist von einem vergesellschafteten Mensch die Rede, bedeutet das eine theoretische Perspektive, in welcher der einzelne Mensch niemals als eine Einheit, als in sich geschlossen, als ungeteiltes Individuum im Blick steht, sondern vordringlich als eine soziale Schnittmenge gesehen wird, in der sich der Grad der Zivilisierung, der Grad der Arbeitsteilung, der Grad der Sprache, der sozialen Organisation, kurz: der Grad der Erfüllung von Leistungen, Pflichten, Freiheiten, Entfaltungsmöglichkeiten und Daseinsfürsorgen durch überindividuelle Einheiten zum Ausdruck bringt. Was und wie ein Mensch fühlt, denkt, erwartet, hofft, welche Ansprüche er an sich und andere stellt, wie stark er von Sinn, Anerkennung, Liebe, von Ich-Identität usw. abhängt - all das wird ihm gesellschaftlich vermittelt. So mag zwar jeder einzelne Mensch einen ganz individuellen Sinn seines Lebens haben bzw. für sein Leben konstruieren; gemeinsam mit allen anderen ist ihm aber die Abhängigkeit von Sinn schlechthin als Medium. 83 Emanzipations-Ethos meint, Emanzipation als Haltung, als Wert zu denken, etwa im Sinne von »Werte der abendländischen Kultur«. Man kann keine Lehre, kein Regelwerk der Emanzipation mehr erstellen, was bei einer Emanzipations-Ethik der Fall wäre. Ermäßigt denken bedeutet: einem Sachverhalt, einem Begriff mit schwachem Denken zu begegnen (Gianno Vattimo), also davon auszugehen, dass das Denken der Wirklichkeit diese Wirklichkeit nicht mehr selbstverständlich in Begriffen begreifen kann. 84 Um die Literaturliste des Buches nicht zu belasten, möchte ich hier in der Fußnote einige Lesehinweise zum Themenfeld Kultur teilweise wiederholend angeben: Frederic Jameson, The Cultural Turn. Selected Writings on the Postmodern 1983-1998, London/ New York 1998; Michael Hardt/ Antonio Negri, Multitude, dt. Frankfurt a. Main/ New York 2004; Richard Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus, dt. Berlin 2005; Thomas Jung, Geschichte der modernen Kulturtheorie, Darmstadt 1999; Samuel P. Huntington, The Clash of Civilisations and the Remaking of World Order, New York 1996; Stuart Hall, Rassismus und kulturelle Identität, Bd. 2 der ausgewählten Schriften, dt. Berlin/ Hamburg 1994; Immanuel Wallerstein, The End oft the World As We Know It: Social Science for the Twenty-first Century, Minneapolis 1999; Shmuel N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, dt. Weilerswist 2000; Dirk Baecker, Wozu Kultur? , Berlin 2003; sowie, mit dem größten Radius des Begriffs Kultur ausgestattet, Hans Peter Weber, KreaturDenken. Aventüren Randonné [Magazin], Berlin 2006. 85 Schwache Theoriefähigkeit von Kultur meint nicht, dass man keine Theorien darüber anstellen könne, was Kultur bedeutet, wozu sie da ist, wohin sie sich entwickelt - das passiert mehr als genug. Es meint vielmehr den Gedanken, dass man der Kultur besser mit anderen Analyse- und Interpretationsweisen begegnen sollte und nicht mit begrifflicher Theorie. Es ist in etwa so, als ob man jemanden fragen würde, ob er eine Theorie seines 7. Anmerkungen 273 <?page no="273"?> Lebens besitzt, mit der er sein Leben besser versteht. Jeder, der lebt, würde dies verneinen müssen. 86 Immer noch eine zentrale soziologische Unterscheidung. Vereinfacht gesagt: Systemische Integration meint das Problem, wie die verschiedenen Systeme der Gesellschaft, also das Wirtschaftssystem, das Rechtssystem, das politische System usw. so arrangiert werden, dass ihre jeweiligen Funktionen für die Gesellschaft und ihre jeweiligen Leistungen für andere Systeme funktionieren. Soziale Integration meint das Problem, wie innerhalb dieser systemischen Integrationszwänge die Menschen so eingepasst werden können, dass möglichst alle Mitglieder der Gesellschaft genügend Teilhabe-, Anerkennungs- und Entfaltungsmöglichkeiten besitzen. 87 Das kann hier leider nicht ausgeführt werden. Festzuhalten ist hier nur der grundlegende Ansatz, dass Menschen und menschliche Verbände nicht mehr als einzigartig, als die »Krone der Schöpfung«, als unvergleichbar mit anderen Lebewesen und z. B. tierischen Sozialverbänden betrachtet wurden, sondern so, dass einzig nur noch das Informations- und das Kognitionsverhalten im Mittelpunkt stand. Es spielt dann keine Rolle mehr, ob man das Verhalten von Lachsen, von Maschinen, von Menschen, von Pflanzen usw. analysiert. Die analytische Einheit wird dann als autopoietische Maschine gesetzt, die sich molekular, biologisch, psychisch und eben auch sozial verwirklicht. 88 Zur Verdeutlichung kann man nochmals an das Fernsehen erinnern: Obzwar das Fernsehen nun schon seit einem halben Jahrhundert massenhaft praktiziert wird und schon für viele Generationen als wichtiger Sozialisationsfaktor gilt, scheint es immer noch nicht ausreichend kulturell angeeignet worden zu sein - zu diesem Schluss kommt man zumindest, wenn man Kinderpsychologen und -pädagogen Glauben schenken darf. Den neusten kulturelle Aneignungsdruck erzeugt gegenwärtig die Kulturtechnik des Internet-Surfens. 89 »Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation.« (Marx/ Engels, Manifest der kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, S. 466.) Für Marx war klar, dass die bürgerliche Kultur, wie es Schopenhauer einmal sagte, auf dem Dienstboten beruht. Indes: Die Situation heute ist eine andere: Es gibt nun eine Kultur des Dienstboten, besser: Kulturen der Dienstboten. 90 Das gilt selbst dann, wenn man, auf die Wissenschaft bezogen, folgende Aussage Jacques Barzuns von vor 40 Jahren noch für gültig hält: »Kurz: man kann sagen, daß die westliche Gesellschaft gegenwärtig die Wissenschaft beherbergt wie einen fremden, mächtigen und geheimnisvollen Gott.« (Barzun in Toulmin 1968, S. 10) 91 »Weder Marx noch die späteren Marxisten haben je anzugeben vermocht, auf welche qualitativ andersartigen und total neuen Produktivkräfte sich die neue sozialistisch-kommunistische Gesellschaftsordnung stützen könnte.« (Flechtheim/ Lohmann 1991, S. 43) 92 Also eingedenk der Tatsache, dass weiterhin Milliarden von Menschen diese Möglichkeiten nicht gegeben sind, vorenthalten werden und weiterhin entrissen werden. 93 Kulturimperativ in der »Tradition« des kategorischen Imperativs von Kant. Verlangte Kant, dass jeder sein Handeln so ausrichten sollte, als ob es als allgemeines Gesetz gelten und von allen anderen gutgeheißen werden könnte, so wäre die Anweisung des kulturellen Imperativs: Handle und kommuniziere stets so, dass der Freiraum, in dem der andere anders sein 7. Anmerkungen 274 <?page no="274"?> kann als ich selbst, zunimmt. - Die spannende Frage ist dann, wie komplex die Arbeit am Konstruieren von Gemeinsamkeiten zwischen mir und dem anderen realisiert werden kann. 7. Anmerkungen 275 <?page no="276"?> 8. Literaturhinweise 8.1 Benutzte und weiterführende Literatur Adorno, Theodor W., Résumé über Kulturindustrie, in: Dieter Prokop (Hg.), Medienforschung, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1985, S. 476-483. Adorno, Theodor W., Über Technik und Humanismus, in: derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 20·1: Vermischte Schriften I, Frankfurt a. M. 1997, S. 310-317. 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Stapelfeldt, Gerhard, Der Liberalismus. Die Gesellschaftstheorien von Smith, Ricardo und Marx, Freiburg 2006. Stapelfeldt geht es um eine historisch-genetische Darstellung des »System der bürgerlichen Ökonomie« und damit um diejenige Achsenzeit, in welcher der Liberalismus die bürgerliche Gesellschaft auf ein unvergleichliches Niveau der Vergesellschaftung gehoben hat. Der Autor verfolgt diese Gesellschaftsrevolution anhand der Texte und Theorien der »Gesellschaftstheoretiker« Smith, Ricardo und Marx. - Geeignet für Leser, die 8.2 Leseempfehlungen zur weiteren Beschäftigung mit Marx und dem Marxismus 283 <?page no="283"?> ein generelles, historisch-kontextuelles Interesse an den Entstehungsbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise haben. Schulte, Günter, Kennen Sie Marx? Kritik der proletarischen Vernunft, Frankfurt a. M./ New York 1992. Schulte geht es in seinem Buch um die Aufdeckung der »geheimnisvollen Grundlagen« des Marx’schen Denkens, die er für die »unheimliche Wirkung der Marxschen Lehre« verantwortlich macht - und die nach seiner Ansicht von der hegemonialen Marx-Rezeption nicht die Beachtung bekommen haben, die sei verdienen. - Geeignet für fortgeschrittene Leser, die die Marxsche Theorie schon so rekonstruiert haben, dass sie sich mit Freude auf eine instruktiv-provokante und dekonstruktive Re-Lektüre einlassen können. Marx lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert, hg. u. kommentiert von Robert Kurz, Frankfurt a. M. 2001. Kurz stellt Texte von Marx zusammen in der Absicht, einen unbekannten, einen »anderen« Marx bekannt zu machen. Er spaltet Marx in zwei Erscheinungen auf: die eine zeigt Marx als Vertreter des Arbeiterbewegungsmarxismus, als politischen Aktivisten. Diese Seite lässt Kurz beiseite. Ihn interessiert die andere Erscheinung, die Marx als radikal kritischen Theoretiker zeigt, als radikaler Kritiker der »Irrationalität des modernen warenproduzierenden Systems«. - Geeignet für fortgeschrittene Leser. Kolakowski, Leszek, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall, 3 Bde, München 1976-1978. Dieses Kompendium gilt weiterhin als Standardreferenz für die Zusammentragung und Einordnung der gewaltigen Rezeptionsgeschichte der Marxschen Schriften. Auch wenn eine Aktualisierung für die letzten 30 Jahre nötig wäre, so findet man hier doch die wesentlichen Linien der Lehren von Marx wieder. - Geeignet für Leser, die das Marxsche Werk schon kennen, um überhaupt die Unterschiede in der Rezeption würdigen zu können. Iorio, Marco, Karl Marx interkulturell gelesen, Nordhausen 2005. Der Autor entfaltet auf knapp 130 Seiten gute Einblicke in Marx’ Leben, Werk und Methode. Abgeschlossen wird das Buch mit einem 30 Seiten langen Kapitel zum Verhältnis Interkulturalität und Marxsche Theorie. - Geeignet für Leser, die in kürzester Zeit einen gleichsam gehaltvollen Einblick in das Werk von Karl Marx erhalten wollen. Hautmann, Hans, Karl Marx - Friedrich Engels. Ein Vademekum über ihr Leben und Werk, Wien 2001. Diese klar gegliederte und gleichsam klar Stellung beziehende Einführung besticht durch eine gelungene »organische« Darstellung der theoretischen, biographischen und politischen Dimensionen der Personen und des Werkes von Marx und Engels. Haut- 8. Literaturhinweise 284 <?page no="284"?> manns Anliegen ist, »die Entwicklung des Marxismus historisch-genetisch zu behandeln und dabei auf die Stationen der Lebenswege von Karl Marx und Friedrich Engels, auf das gesellschaftliche Umfeld, in dem sie wirkten, vor allem aber auf ihre wichtigsten Schriften inhaltlich einzugehen«. - Geeignet für Leser, die vorhaben, sich über das Maß einer Pflichtbeschäftigung (ob einer Hausarbeit oder eines Referats) hinaus mit Marx und dem Marxismus ins Benehmen zu setzen. Fetscher, Iring, Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten, 4. Aufl. der einbändigen Ausgabe, München 1984. Dieses etwas in die Jahre gekommene Kompendium besticht vor allem durch die Vielzahl der in Textauszügen zu Wort kommenden Autoren und Kritikern von Marx und Engels sowie durch kompakte und stupende Einführungen zu den Themenfeldern »Philosophie-Ideologie«, »Ökonomie-Soziologie« sowie »Politik«. Diesen werden jeweils diesbezügliche Marx/ Engels-Texte in Auszügen vorangestellt, gefolgt von zustimmenden wie kritischen Texten. - Geeignet für Leser, die historisches Interesse an detaillierten Differenzierungen innerhalb der marxistischen Rezeption besitzen und die Marxens Texte unmittelbar in diesem Kontext kennenlernen möchten. Böhme, Hartmut, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006. Böhme behandelt nur im dritten Kapitel dezidiert die Warenanalyse Marxens und die Konsequenzen, die Marxens Fetischbegriff für die Rezeption und auch Weiterentwicklung seiner theoretischen Kritik zeitigte. Trotzdem ist die Anlage seiner Ausführungen für die Beschäftigung mit dem Marxismus spannend, da er in weitausholenden Erörterungen eine andere Grundlage der Moderne ausmacht und dementsprechend die marxistische Kritik am Kapitalismus im Begriff des Warenfetischismus selbst noch einmal fundiert zu kritisieren vermag. - Geeignet für Leser, die fundierte Marx-Kenntnisse besitzen und sich für (wenn auch gewichtige, so doch) spezielle Probleme des Marxschen Œuvres interessieren. Euchner, Walter, Karl Marx, München 1983. Euchners Einführung ist anspruchsvoll geschrieben und bleibt doch eine Einführung. Er behandelt Marxens Biographie knapp, dafür sehr stupend die materialistische Geschichtsauffassung und die Ideologiekritik Marxens, die zentralen Achsen seiner politischen Ökonomie, den Stellenwert der Klassen, des Klassenkampfs und der Revolution. - Geeignet für Leser, die eine kompakt-abstrakte Sprache zu schätzen wissen und schon etwas Vorkenntnisse betreffs Marx besitzen. Claessens, Dieter/ Claessens, Karin, Kapitalismus als Kultur. Entstehung und Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1979. Dieses Buch gehört auch 35 Jahre nach seinem ersten Erscheinen 1973 zu den besten Einführungen in die kulturellen, gesellschaftstheoretischen, sozialen, alltagspraktischen 8.2 Leseempfehlungen zur weiteren Beschäftigung mit Marx und dem Marxismus 285 <?page no="285"?> Bedingungen und Veränderungen des Kapitalismus und durch den Kapitalismus. - Das Buch ist uneingeschränkt für alle Leser, ob fortgeschritten oder nicht, geeignet. Borkenau, Franz, Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild. Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode (1934), Darmstadt 1976. Borkenaus 1932 fertiggestellte Buch bietet zweierlei: Zum einen eine sehr umfassende geistesphilosophische und philosophiegeschichtliche Rekonstruktion der beginnenden Wissenschaften und der moralisch-theologischen Grundierung des beginnenden Kapitalismus; zum anderen bietet es eine Probe aufs Exempel marxistischer Denkungs- und Analyseart, wenn sie auf philosophische, sprich: »ideologische« Systeme angewendet wird. Borkenau will zeigen, wie die damalige Philosophie ihre Auffassung des Naturgeschehens »nach Analogie der Vorgänge in einer Manufaktur« gebildet hat. - Geeignet für philosophisch interessierte und auch versierte Leser, die Freude an epistemologischen Fragestellungen haben. 8. Literaturhinweise 286 <?page no="286"?> Glossar Akkumulation Anhäufung, Speicherung, Ansammlung. Mit Akkumulation bezeichnet Marx den Abschnitt innerhalb des Kapitalbildungsprozesses, in dem Mehrwert in Kapital rückverwandelt wird. Während bei der ursprünglichen Akkumulation zuerst Kapital entsteht, das in die Produktion von Waren durch Arbeitskraft eingesetzt wird und dadurch Mehrwert erzeugt, meint Akkumulation den Zeitpunkt, ab dem der erzielte Mehrwert als Kapital eingesetzt wird. Dieser kapitalisierte Mehrwert, so Marx, enthält nun »nicht ein einziges Wertatom, das nicht aus unbezahlter fremder Arbeitskraft herstammt« (Marx, Das Kapital I, MEW 23, 608). Akkumulation, ursprüngliche Meint den historischen Herausbildungsprozess, der überhaupt dazu führen konnte, dass kapitalistisches Wirtschaften sich ausbildete. Mit der sogenannten ursprünglichen Akkumulation will Marx den Ausgangspunkt bestimmen für einen Prozess, in dem Geld in Kapital verwandelt wird, durch Kapital Mehrwert und aus Mehrwert mehr Kapital erzeugt wird. Der Ausgangspunkt ist bestimmt durch den grundlegenden Vorgang der Scheidung von Produzent und Produktionsmittel. Arbeit (produktive, unproduktive) Der Gebrauch der Arbeitskraft ist die Arbeit selbst, so Marx. Sie ist grundlegend ein Prozess zwischen Mensch und Natur, »worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert« (ebenda, 193). Für den Historischen Materialismus gilt der Begriff der Arbeit als Schlüssel zum Verständnis der gesamten Geschichte der Gesellschaft. Ihre operative innere Trennung in körperliche und geistige Arbeit korrespondiert mit der gesellschaftlichen Trennung von Produzent und Produktionsmittel. Die durch den Kapitalismus vollständig ökonomisierte Form der Arbeit (Lohnarbeit) lässt nur noch zwei Attribute zu: produktive und unproduktive, also Mehrwert schaffende und keinen Mehrwert schaffende Arbeit. Produktive Arbeit ist daher im Produktionsprozess das variable Kapital, während die unproduktive Arbeit maximal zur Minimierung der Produktionskosten beitragen kann. Arbeiterklasse an sich/ Arbeiterklasse für sich Eine Unterscheidung, die den Grad der Selbstverständigung und des Selbstbewusstseins der Arbeitenden betrifft. In der Herausbildung der kapitalistischen Industria- 287 <?page no="287"?> lisierung bildete sich gleichsam die Arbeiterklasse mit aus, in Abgrenzung sowohl vom Kleinbürgertum wie auch vom Lumpenproletariat und den Pauperisierten. Die Bestimmung blieb allein orientiert an der Ökonomie (der Lohnhöhe, der Qualität der Arbeiten, der Arbeitsmarktkonkurrenz). Dies drückt sich im Bewusstsein aus, eine Arbeiterklasse an sich zu sein. Erst mit der Hinzunahme soziokultureller, politischer und historischer Bestimmungen dieser neuen Arbeiterklasse als sogenannter subjektiver Faktor entsteht ein Bewusstsein der Klasse für sich und damit ein Bewusstsein von der Mission der Emanzipation, die der Klasse aufgegeben ist. Die Unterscheidung an sich/ für sich geht auf die trinitäre Hegelsche Reflexionslogik zurück (Reflexion an sich, Reflexion für sich, Reflexion an-und-für-sich). Dialektik Im eigentlichen Sinne: Kunst der Unterredung. Das dialektisches Denken von Marx versuchte sich vom metaphysischen Denken dadurch abzuheben, dass es die Polaritäten zwischen These und Antithese, zwischen dem Positiven und dem Negativen, zwischen Kontinuität und Diskontinuität, zwischen Sein und Sollen in die realen geschichtlichen und gesellschaftlichen Prozesse hineinversetzte. Kernmotiv ist die Annahme, dass Wirklichkeiten, die sich zeigen, immer in einer Spannung zu dem stehen, was durch die Verwirklichung gleichsam miterzeugt wird, aber noch nicht in der Sphäre angekommen ist, in der Realisierung stattfindet, weil das noch zu Realisierende über den gegenwärtigen Stand der Wirklichkeit hinausschießt. Das Wirklichkeit Gewordene bezieht sich immer auf das noch nicht wirklich Gewordene und dieses bezieht sich immer auf das schon Gewordene durch die Kraft der Negation. Marx betrachtete das Dialektische nicht allein als Darstellungsweise, sondern ging davon aus, dass die Wirklichkeit in sich selbst dialektisch geformt ist. Entfremdung/ Verdinglichung Meint bei Marx einen Zustand des Lebens, des Arbeitens und des Bewusstseins, in dem der arbeitende Mensch vollständig abgetrennt ist von der Möglichkeit der Selbstwahrnehmung, des Selbstaneignens seines Produkts, des Selbstverstehens seiner Lage - weil er vollständig als Mittel (»Ware«), und nicht mehr als Selbstzweck seiender Mensch in der Arbeitsgesellschaft angesprochen, adressiert wird. Der arbeitende Mensch entfremdet sich also von seiner Arbeit als Tätigkeit, von seinem Arbeitsprodukt, von sich selbst als Arbeiter sowie von seiner »eigenen Natur« und von den Beziehungen, die er mit anderen Menschen eingeht. Die Entfremdung kommt nach Marx im Kapitalismus zu ihrer höchsten Ausprägung. Verdinglichung unterscheidet sich von Entfremdung nicht in der Sache, sondern in der argumentativen Herleitung. Glossar 288 <?page no="288"?> Sah und identifizierte Marx entfremdende und entfremdete Formen maßgebend auf der Grundlage eines historisch-anthropologischen, eines quasi-humanistischen Anschnitts, so betrachtete er später verdinglichende und verdinglichte Formen maßgebend von einem formalen, polit-ökonomisch, fast sachlich zugeschnittenen Beobachtungspunkt aus. Fetisch Bezogen auf die Ware bestimmt Marx diesen religionsgeschichtstheoretischen Begriff so, dass in ihm zum Ausdruck kommt, wie das Gemachtwerden und das Gesellschaftlichsein von Arbeitsprodukten und Arbeitsverhältnissen ihren gesellschaftlichen Charakter verlieren und es so scheint, als ob der gegenständliche Charakter von Produkten und Verhältnissen quasi von »Natur aus« immer schon so sei, wie er ist. Die Menschen begegnen dem fetischisierten Produkt oder Verhältnis so, als ob sie einem gesellschaftlichen Gesamtverhältnis entstammen, das nichts mit den Verhältnissen des Menschen zu tun hat. Es scheinen daher »die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten« zu sein. »So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 86 f.) Gebrauchswert/ Tauschwert Jede Ware stellt sich nach Marx als Einheit von Gebrauchs- und Tauschwert dar. Der Gebrauchswert einer Ware bezieht sich dabei immer auf eine Form von Nützlichkeit, Brauchbarkeit und Nötigkeit, die diese mit dem System der Bedürfnisse, also mit realen Entsprechungen des Gebrauchs und Verbrauchs, verbindet. Der Gebrauchswert einer Ware und damit die Ware selbst findet ihre Bestimmung im Konsumiertwerden. Marx spricht daher auch von der Naturalform der Ware. Der Tauschwert einer Ware abstrahiert vollständig von der jeweiligen Qualität der Ware und bezeichnet nur den Wert der Ware selbst. Das Ziel der Ware als Tauschwert ist die Verwandlung in Geld um des Geldes willen. Der Tauschwert ist ein rein quantitatives Phänomen, also ein Ausdruck eines Austauschverhältnisses zwischen potenziell allen Waren, deren Äquivalent gebildet wird entlang der Wertgröße, die in ihr »steckt« in Gestalt der vergegenständlichten, also als Gebrauchswert sich realisieren müssenden Arbeit. Glossar 289 <?page no="289"?> Historischer Materialismus (Histomat) Der Histomat versteht sich als die vollständige Weltanschauung jeglicher Theorie und Philosophie, die sich dem Materialismus verpflichtet fühlte. Im Kern geht es um das Verhältnis zwischen Materie und Geschichte. Die Grundlage sowohl der Dialektisierung von Materie wie auch der Materialisierung von Geschichte wird in Marxens vollzogener Revolution in der Geschichte der Philosophie gesehen; sie besteht darin, Hegels bewusste Dialektik aus dem idealistischen Reich der Ideen evakuiert zu haben, um sie in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte »hinüberzuretten«. Der Histomat verstand sich als wissenschaftliche Philosophie, für die soziale und menschliche Seinssphäre das zu leisten, was die Naturwissenschaften für die Erklärung und das Erkennen der natürlichen (Um-)Welt leisten. Ideologie/ Ideologiekritik Für Marx ist Ideologie ein System der Weltanschauung - politisch, religiös, philosophisch, ökonomisch usw. -, das durch bestimmte Klasseninteressen bestimmt ist und bestimmte Klasseninteressen zum Ausdruck bringt. Der wesentliche Punkt besteht dabei darin, die nur partikularen Interessen als allgemeine Interessen, als selbstverständliche Interessen zu propagieren. »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.« (Marx/ Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 46) Marx und Engels sehen den Kampf zwischen der bürgerlichen und der sozialistischen Ideologie als notwendig an; setzen dabei aber einen Unterschied: Die Arbeiterklassen-Ideologie sei wissenschaftlich, die übrigen Ideologien seien dagegen unwissenschaftlich. Kapital Nach Marx ist dann von Kapital zu sprechen, wenn eine bestimmte Wertsumme in Gestalt von Produktionsmitteln, Arbeitskräften und Waren vorliegt, mit der Profit erzielt werden soll. Kapital bezeichnet dann die Wertsumme, die als G’ (also als schon vermehrtes Geld, mehr Geld als die ursprünglich eingesetzte Wertsumme) Effekt bzw. Produkt eines Verwertungsprozesses ist und nun wieder eingesetzt wird, um ein weiteres Mal G’ zu »werden«. Im kapitalistischen, industriellen Verwertungsprozess ist nach Marx dieses Hecken, also Hervorbringen/ Erzeugen von mehr Geld, durch den Einsatz der Arbeitskraft als wesentlicher Bestandteil des Kapitals bedingt. Kapital bezeichnet das Gesamt der produzierten Produktionsmittel, die produktiv konsumiert werden (investiert werden), um Profit zu erzielen. Das »Kapitalverhältnis« meint als Begriff darüber hinaus ein bestimmtes Glossar 290 <?page no="290"?> gesellschaftliches Verhältnis der Menschen, das geprägt ist durch bestimmte Eigentumsverhältnisse, die wiederum bestimmen, wer wie über Personen, Sachen und Handlungen verfügen darf und wer wie sich zu fügen hat. Kapital, konstantes »Der Teil des Kapitals also, der sich in Produktionsmittel, d. h. in Rohmaterial, Hilfsstoffe und Arbeitsmittel umsetzt, verändert seine Wertgröße nicht im Produktionsprozeß. Ich nenne ihn daher konstanten Kapitalteil, oder kürzer: konstantes Kapital.« (Marx, Das Kapital I, MEW, Bd. 23, 223) Kapital, variables »Der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitals verändert dagegen seinen Wert im Produktionsprozeß. Er reproduziert sein eignes Äquivalent und einen Überschuß darüber, Mehrwert, der selbst wechseln, größer oder kleiner sein kann. Aus einer konstanten Größe verwandelt sich dieser Teil des Kapitals fortwährend in eine variable. Ich nenne ihn daher variablen Kapitalteil, oder kürzer: variables Kapital.« (Ebenda, 224) Klasse Grundbegriff der Marxschen und marxistischen Gesellschaftstheorie, der die sogenannte objektive Lage sowie das jeweils subjektive Interesse bestimmter Gruppierungen in der Gesellschaft benennen und erklären soll. Dabei ist eine sogenannte vertikale Orientierung der Gesellschaft vorausgesetzt, die damit ein Konfliktmodell nach sich zieht (»Klassenkampf«). Die Lehre von den Klassen gilt als methodischer Ansatz, um gesellschaftliche Prozesse und Entwicklungslinien bezüglich der Verteilung von Herrschaft, von Produktionsmitteln, von Produktivkräften und von Ideologien zu analysieren. Nach Marx erreicht im Kapitalismus der Klassenbildungsprozess seinen Höhepunkt: Es sind nur noch zwei Klassen, die sich gegenüberstehen. Kultur Ursprünglich Ackerbau, Pflege des Bodens bezeichnend, später auch Vervollkommnung. Der Begriff bezieht sich auf die sogenannte pragmatische Anthropologie des Menschen, also auf das, was Menschen aus ihrer »Menschennatur« machen im Gegensatz zum dem, was die Natur mit dem Menschen macht (physiologische Anthropologie). Kultur bezeichnet einen Kontrast zum Begriff der Tradition einerseits und zum Begriff Sozialität andererseits: Er wurde in der abendländischen Geschichte zu einem Zeitpunkt akut, als die selbstverständliche Orientierung der Menschen und Institutionen an Tradition problematisch wurde. Glossar 291 <?page no="291"?> Und er wird gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu einem Zeitpunkt akut, als die Überzeugungen von einer prinzipiellen rationalen, kontrollierbaren und sozialen Vergesellschaftung der Menschen Risse bekommen haben. Kulturen »bilden« sich spätestens im 20. Jahrhundert immer reflexiv, also immer im Bewusstsein und im Wissen des Vergleichs mit anderen kulturellen Beschreibungen und Praktiken. Das führt entweder zu einer Bejahung der prinzipiellen Offenheit der eigenen Kultur (Kontingenzfreundschaft, Differenztoleranz), oder zu einer Abkapselung derselben (Chauvinismus, Elitismus). Mehrwert Bedeutet das Anwachsen einer vorliegenden Wertsumme in Gestalt von Kapital durch die Anwendung von Arbeit in Gestalt von Arbeitskraft als die nach Marx einzige Quelle der Mehrwertschöpfung. Arbeitskraft stellt mehr Wert her, als sie selbst hat (»unbezahlte Mehrarbeit«). Der Kapitalist bezahlt den Wert der Arbeitskraft; er bezahlt nichts für die Mehrarbeit und den geschaffenen Mehrwert. Ihm bleiben zwei Möglichkeiten, den Mehrwert zu steigern: die Arbeitszeit der Arbeitskraft erhöhen (absoluter Mehrwert) oder die Produktivität der Arbeitskraft erhöhen, sodass mehr Wert bei gleicher Arbeitszeit produziert wird (relativer Mehrwert). Das Verhältnis zwischen dem erzielten Mehrwert zum eingesetzten variablen Kapital drückt sich in der Mehrwertrate aus. Profit Geht es beim Mehrwert »nur« darum, die Bedingungen im Auge zu halten, unter denen die Mehrarbeit und also der Mehrwert erzeugt wird - also das Verhältnis des Mehrwerts zum Wert des variablen Kapitals, so zählt beim Profit »nur«, wie viel Profit der gesamte, vorgeschossene Kapitaleinsatz abwirft resp. realisiert - und zwar in der Zirkulationssphäre. Für die Darstellung der Mehrwertrate gilt also das Verhältnis Mehrwert (m) geteilt durch variables Kapital (v), also m / v . Für die Darstellung der Profitrate kommen nun einige Ergänzungen, Abstraktionen hinzu: So werden jetzt die Anteile (c) und (v), also konstantes und variables Kapitel, zu (k) zusammengezogen: (k) bedeutet Kostpreis, also das Gesamt des vom Unternehmer aufgebrachten Kapitals, um durch Warenproduktion auf dem Markt einen Profit (p) zu erzeugen. Die Profitrate drückt nun das Verhältnis aus, das zwischen dem Mehrwert und dem gesamten investierten Kapital besteht, also m / c + v bzw. m / k (bzw. m / C . C und k bedeuten gleichermaßen das Gesamt des investierten Kapitals, allerdings mit verschiedenen Rechnungsgrundlagen. Siehe im Text mehr dazu.). Tauschwert siehe Gebrauchswert Glossar 292 <?page no="292"?> Verdinglichung siehe Entfremdung Wert (Wertgesetz, Wertverwertung) Die polit-ökonomische Bedeutung des Begriffs »Wert« bezeichnet ein historisch bestimmtes Produktionsverhältnis von Warenproduzenten, das als Verhältnis in Erscheinung tritt als Beziehung von Waren zueinander, als ein sich an Sachen darstellendes gesellschaftliches Verhältnis von Menschen. Denn die Beziehung zwischen Warenproduzent und Wareneigentümer ist eine des Gebrauchswerts: Der Kapitalist kauft die Ware Arbeitskraft zu ihrem Gebrauchswert. Doch dies nur, um die dabei produzierten Waren in ihrem bzw. zu ihrem Tauschwert zu realisieren. Er, der Kapitalist, eignet sich damit den Wert der Arbeit an, obwohl er nur den Wert der Arbeitskraft bezahlte. Aus dem Wert als dem allgemeinsten Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse der Warenproduktion entsteht die Geldform dieses Wertes (Klaus/ Buhr 1975, 1291). Das Wertgesetz soll zum Ausdruck bringen, dass sich alle ökonomischen Handlungen im Kapitalismus, besonders Warenproduktion und Warentausch, an der Bestimmung des Warenwerts durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit orientieren müssen. »Daß dabei die Erscheinungsform des Werts, der Preis, in der Regel etwas anders aussieht als der Wert, den er zur Erscheinung bringt, dies Schicksal teilt der Wert mit den meisten gesellschaftlichen Verhältnissen«, so Marx (Das Elend der Philosophie, MEW, Bd. 4, 565). Als einzige Wertquelle gilt Marx die wertbildende Arbeitskraft. Glossar 293 <?page no="293"?> Namens- und Sachregister Bemerkung: Es wurden die Namen aufgenommen, die zum Thema Marx wichtig sind. Namen und Begriffe in Zitaten sind nicht berücksichtigt. Begriffe und Ausdrücke, die im Buch selbst einen Abschnitt oder Unterabschnitt bezeichnen, werden im Sachregister nur berücksichtigt, wenn es zwingend ist. Namensregister Adenauer, Konrad 12 Adler, Viktor 85 Adorno, Theodor Wiesengrund 43 f., 78, 85, 89, 163, 235, 247, 265, 272 Allende, Salvador 85 Althusser, Louis 89 Altvater, Elmar 268 Anders, Günther 195 Aristoteles 51 Baecker, Dirk 273 Bakunin, Michael 57, 60, 71 Balibar, Entienne 78 Barzun, Jacques 274 Bauer, Bruno 50 f., 57, 60 Bauer, Edgar 57 Bauer, Egbert 57 Bauer, Otto 85 Bebel, August 85 Benjamin, Walter 250, 262 Berger, Johannes 266 Berlinguer, Enrico 85 Bernays, Lazarus-Ferdinand-Cälestin 57 Bernstein, Eduard 37, 73, 85, 87, 218 f. Bischoff, Joachim 11 Bloch, Ernst 85, 89 Blumenberg, Hans 39 Blumenberg, Werner 34, 72, 263 Böhm-Bawerk, Eugen 218 Böhme, Hartmut 41, 163 f., 268, 285 Bonaparte, Louis 68 Borkenau, Franz 267, 286 Börnstein, Heinrich 57 Bourdieu, Pierre 14, 85 Brecht, Bertolt 250 Bucharin, Iwanowitsch 85 Büchner, Georg 77 Castro, Fidel 85 Che Guevara, Ernesto 85 Christus 20 Claessens, Dieter 34 ff., 43, 130, 134 f., 231, 246 f., 268, 285 Claessens, Karin 34 ff., 43, 130, 134 f., 231, 246 f., 268, 285 de Mazza, Ethel Matala 261 Debord, Guy Ernest 85 Deleuze, Gilles 214 Derrida, Jacques 15, 23 f., 79, 82, 258 f. Dezamy, Théodore 54 Dobb, Maurice H. 89 Dragos, Pal 251 Dubcˇek, Alexander 85 Dutschke, Rudi 85 Eisenstadt, Shmuel N. 273 Elsenhans, Hartmut 128 Enzensberger, Hans Magnus 73, 89 f., 250 Euchner, Walter 60, 72, 285 Fehér, Ferenc 44, 81, 83, 85, 232 Fetscher, Iring 26, 76, 89, 140, 228, 230, 265, 267, 285 Feuerbach, Ludwig 27, 56, 59 Flechtheim, Ossip K. 25, 114, 148, 170, 178, 247, 274 Fleischer, Helmut 103 Foucault, Michel 214, 222 Fourier, Charles 73 Frank, Georg 14 Freud, Sigmund 41, 234, 245, 255, 265 Friedrich der Große 51 Friedrich Wilhelm III. 47 Friedrich Wilhelm IV. 64 Fukujama, Francis 10, 97 Gans, Eduard 50 f. Gehlen, Arnold 25, 241 294 <?page no="294"?> Giddens, Anthony 219 Giesen, Bernhard 242 f. Gorbatschow, Michael 40, 88 Gorz, André 89 Gramsci, Antonio 85, 89 Grass, Günter 11 Habermas, Jürgen 10, 14, 19, 214, 223, 235, 268, 272 Hall, Stuart 273 Hardt, Michael 40, 85, 273 Haug, Frigga 27 Haug, Helgard 12 Haug, Wolfgang Fritz 27, 230 Hautmann, Hans 26, 32, 35, 73, 121, 284 Hecker, Friedrich 64 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 17, 23 f., 50, 53, 56, 58, 73, 87, 90-99, 122, 140, 189, 216, 233, 236, 241, 265 f., 268, 272, 288, 290 Heine, Heinrich 57 Heller, Agnes 44, 81, 83, 85, 232 Herwegh, Georg 57 Hobsbawm, Eric J. 89 Holzkamp, Klaus 85 Honneth, Axel 14 Horkheimer, Max 85, 89, 247 Huntington, Samuel P. 273 Iorio, Marco 22, 82, 261 f., 284 Jameson, Frederic 240, 251, 273 Jehle, Peter 27 Jung, Thomas 18, 273 Kaempfer, Wolfgang 25, 34, 40 Kant, Immanuel 39, 233, 274 Klein, Peter 39 Kluge, Alexander 16 Kolakowski, Leszek 284 Köppen, Karl Friedrich 50 Korsch, Karl 85, 89 Kracauer, Siegfried 11 Kurz, Robert 10 f., 26, 40, 83, 89, 220, 261, 284 Lasalle, Ferdinand 72, 85 Leibniz, Gottfried Wilhelm 51 Lenin, Wladimir Iljitsch (Uljanow) 20, 55, 84, 88, 212, 264 Liebknecht, Karl 72, 85 Locke, John 35 Lohmann, Hans-Martin 25, 114, 148, 170, 178, 247, 274 Löhrs, Vitus 47 f. Luhmann, Niklas 10, 18 f., 27, 41, 81, 160 ff., 214, 237, 241, 262 Lukács, Georg 85 Luther, Martin 12 Luxemburg, Rosa 83, 85, 87 f. Macpherson, Crawford Brough 35, 43 Maenchen-Helfen, Otto 59, 72, 264 Marcuse, Herbert 85, 89, 223 Marx, Eleanor 65 Marx, Heinrich 46 f. Marx, Henriette 46 Marx, Jenny 50, 58, 64, 72 Marx, Laura 59, 65 Mazzini, Guiseppe 71 McLuhan, Marshall 10, 250 Metternich 49 Mignet, François Auguste M. 73 Mitscherlich, Alexander 250 Negri, Antonio 11, 40, 85, 273 Negt, Oskar 16, 85, 227 Nicolaevsky, Boris 59, 72, 264 Niechoj, Torsten 82 Nietzsche, Friedrich 234, 243 Owen, Robert 73 Pilgrim, Elis 69 Plessner, Helmuth 262 Proudhon, Pierre-Joseph 54, 60, 71, 76, 264, Qutb, Sayed 265 Reich, Wilhelm 85 Ricardo, David 17, 73, 76, 118 ff., 212, 267 Robespierre, Maximilian 77 Rohbeck, Johannes 116, 261 Rorty, Richard 79 Rosdolsky, Roman 89 Ruge, Arnold 52, 55, 57, 248 Rutenberg, Adolph 50 Saint-Simon, Claude- Henri de 73 Sartre, Jean-Paul 85, 89 Saussure, Ferdinand de 159 Scharang, Michael 15 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 245 Namens- und Sachregister 295 <?page no="295"?> Schmidt, Konrad 87 Schrempp, Jürgen 11 Schulte, Günter 34, 78, 261, 284 Schwarzschild, Leopold 83 Sennett, Richard 14, 220, 251, 273 Shaw, George B. 218 Shuster, Sam 264 Sloterdijk, Peter 15 Smith, Adam 17, 40, 73, 118 ff. Sohn-Rethel, Alfred 85, 267 Sokrates 20 Spinoza, Benedictus 51 Stahl, Julius 51 Stalin, Josef 84, 228, 264 f. Steffens, Hendric 50 Stirner, Max 60 Sweezy, Paul 89 Teubner, Gunther 14 Thiers, Louis-Adolphe 73 Tito, Josip Broz 85 Touraine, Alain 41 Trotzki, Leo 85 Ullrich, Otto 36, 224, 228 Vaihinger, Hans 234 Vief, Bernhard 10, 165 ff. von Foerster, Heinz 19, 22 von Savigny, Friedrich Karl 50 von Werlhof, Claudia 215 Wagner, Richard 264 Wallerstein, Immanuel 273 Weber, Hans Peter 30, 241, 273 Weber, Max 90, 221, 247 Weingart, Peter 42 Wetzel, Daniel 12 Wheen, Francis 45 Wittgenstein, Ludwig 9, 19 Woltmann, Ludwig 87 Wyttenbach, Johann Hugo 47 Zar Nikolaus I. 55 Zedong, Mao 85 Ziegler, Jean 40 Zˇ izˇek, Slavoj 20 Sachregister 1848 49, 62, 64, 66 ff., 87 Abstrakt(ion) 11, 51, 59, 84, 105, 120, 124 f., 133, 142, 145 f., 148 f., 153 f., 167 f., 183 f., 192, 196, 205, 216, 226, 248 A-Historizität 213 Aneignung 44, 93 f., 96 f., 107, 129 f., 245 ff., 274 Anerkennung, soziale 43, 131, 135, 273 f. Angebot/ Nachfrage 117, 174, 205 Anthropologie, philosophische 239, 241 Äquivalenz 145, 155 Arbeit, Durchschnittsgrad d. 117, 123, 146 f., 149, 178, 184, 203, 205, 219, 269 f. Arbeit, Lohn- 35, 95, 107, 114, 127 f., 129 ff., 141, 184, 211, 222, 287 Arbeit, unbezahlte 110, 120, 163, 178, 184, 198, 204, 207, 287, 292 Arbeiteraufstand 73 Arbeiterbewegung 11, 28, 60 ff., 69 f., 76, 86 ff., 185, 213, 263 Arbeiterbewegung, Organisationen d. 60 ff., 70 ff., 76, 87 f. Arbeitskampf 59, 62 Arbeitskraft 35 f., 106 f., 109, 111, 121, 125, 130, 134, 145, 167, 183 f., 187, 192, 195, 202, 216, 251, 268, 270, 287, 293 Arbeitsteilung 28, 188, 220, 273 Arbeitszeit, gesell. notwendige 117, 123, 146 f., 149, 178, 184, 203, 205, 269 f. Armut 11 f., 237 f. Aufhebung 38, 75, 98, 107, 165, 220, 249 Aufklärung, Legitimität d. 39 Autonomie 234 Autorität 19 ff., 39 Bedürfnisse, System d. 98, 143 f., 167, 227, 289 Besitzindividualismus 35 Namens- und Sachregister 296 <?page no="296"?> Bewegungsgesetz 13, 24, 86, 102, 115, 140, 142, 177 Bewusstsein 9 f., 51, 54, 92 ff., 114, 148, 233, 238, 240, 242, 248, 254, 261 f., 287, 292 Bewusstsein, Klassen- 40, 88 f., 92 ff., 246, 288 Bewusstsein, notwendig falsches 31 f., 78, 92 ff., 114, 116, 160, 162 f., 168, 199, 250 Bezugsquellen, Marxsche 73 Börse 135, 165, 219, 251 Bourgeois 35, 63 f., 93, 95 f., 188, 227 f. Bürger(tum) 35, 37, 52, 60, 63, 106 Bürgerlichkeit 25, 28, 35, 36 f., 49, 61, 76, 77 f., 79, 87, 93, 105, 115, 119, 123, 194, 222, 226, 234, 246 f., 267, 272, 274 Citoyen 35, 93, 95 Code 113, 165 f., 222, 238, 242 Code, Binär- 166 Codierung, indifferente 146 Darstellung, Probleme d. 18, 28, 30, 179, 194, 205 f., 217, 222, 225 Darstellung, Theorien- 105 ff., 115, 117, 141, 153, 179, 182, 195 f., 288 Dialektik 10, 21, 24, 58, 86, 97 f., 208, 225, 231, 233 Dienstleistung 10, 88, 141, 177, 206 Dynamik, Rationalisierungs- 32, 107, 140, 143, 186, 188, 208, 226, 267 Eigenlogik 228 Eigentum 22, 35 ff., 94, 106, 120 f., 130, 135, 178 f., 181, 219 f., 222, 228, 291 Emigration/ Flucht 26, 55, 57, 62, 64 f. Epistemologie 21, 75, 78 f., 286 Erkenntnis (-Interesse) 23 f., 26, 29 f., 41, 77 f., 82, 144, 231 Erkenntnis, wissenschaftliche 19 f., 21, 28, 80, 87, 96, 217, 233, 242, 262 Erscheinung (-form) 14, 44, 49, 91 ff., 99, 102, 106, 112 f., 123, 140, 142 f., 147 f., 149, 154, 156, 165, 168, 181, 183, 208, 216 f., 234, 253, 266 Familie 64, 66, 135, 237, 262 Feudalismus 35, 37, 39, 98, 134, Fleiß, industrieller 247 Freiheitsbegriff 36, 95 Freundschaft 57, 135, 292 Geist, absoluter 91 ff. Geist, objektiver 91 ff. Geist, Welt- 97 f. Gesellschaft, bürgerliche 87 Gesellschaft, kapitalistische 10, 14, 37, 222 f. Gesellschaft, kommunistische 18, 38 f., 74, 82, 99, 213, 221, 252 Gesellschaft, nachkapitalistische 213, 230, 251 Gesellschaft, Reichtum d. 103, 106, 119, 144, 267 Gesellschaft, warenproduzierende 114, 163 f., 267 Gesellschaft, Welt- 16, 30, 235 Gesellschaftskritik 15 f., 74, 83, 89 f., 148, 213 Gesellschaftsorganisation 10, 13, 39, 251 Globalisierung 11, 16, 40, 59, 104, 143, 205, 243 Gott 39, 92 f., 135, 163 Grenzenlosigkeit 208 Grenznutzentheorie 218 f., 267 Hegelianismus, Links- 75 Heteronomie 234 Individuum 33, 36, 42 f., 178, 220 f., 230, 234, 243, 249, 251 ff., 256 f., 273 Industriekultur 30, 103, 248 Information, Autorisierung v. 20 Intellektuelle 85 Interesse 93, 98, 133 ff., 181, 189, 201, 226 f., 233 f., 237, 290 Internationale, die 70, 72 Jakobinismus 77 Kapital 14, 88, 107, 109, 120, 141, 169, 181, 195, 199, 202, 223, 272 Namens- und Sachregister 297 <?page no="297"?> Kapital, Gesamt- 107, 142, 191, 194, 200, 202, 206 Kapital, Waren-, Geld-, Produktions- 109 ff. Kapitalanalyse 102, 112 ff. Kapitalismus (als Kultur) 43, 129, 231 Kapitalismus, digitaler 251 Kapitalismus, Genese d. 127 ff. Kapitalismuskritik 11, 15, 251 ff. Kapitalist(en), Entstehung d. 129, 131 f. Kapitalverwertungsprozeß 185 f., 190, 194, 196 Klasse, Arbeiter- 70 f., 75, 88 f., 98, 143, 195, 213, 216, 222, 226, 264 Kolonialisierung 133, 258 Kommunikation 9, 144, 231, 247 f. Kommunikationstechnik 42, 231, 247, 250 Kommunismus 10, 39, 54, 60 f., 62, 71, 84, 88, 103, 164, 213, 224, 233, 248, 251 ff., 265 Komplexität 30, 124, 161, 239, 244 Konkurrenz 113, 123, 135, 141 f., 186, 203, 205 f., 215, 219, 247, Konsumtion 107 f., 111 f., 144, 206 Kontrolle, proletarische 34, 256, 261 Kostpreis 111, 196 ff., 205, 270 Krise 33, 37, 67, 78, 106, 113, 141, 209, 212 f., 232 Kristallisation, kulturelle 25, 241 Kultur 29 ff., 34 ff., 42, 44, 84, 135 Kulturen, Kampf d. 231 Kulturindustrie 103, 163 f. Landbevölkerung 126, 128, 130 f., 214 f. linguistic turn 9 Macht 37, 62, 83, 88, 98, 106, 129 f., 134, 213, 234, 238, 252 Manufaktur 119, 128, 130, 267 Marktgesellschaft 40, 134, 222 Marktpreise 205 Marxismus, Diversifizierung d. 82 ff. Marxismus, kulturelle Bewegung d. 81, 83, 85, 231 f. Marxismus, Neo- 83, 85 f. Materialismus 30, 104 Materie 24, 92, 233, 290 Medientheorie 10 Mensch(heit) 10, 15, 22, 30 ff., 35, 38, 40 f., 43, 59, 78, 80, 91 ff., 102 f., 131, 141 f., 144, 160 f., 163, 181, 215, 220 f., 223, 230, 233 f., 236, 238 f., 241 ff., 249, 252, 255 ff., 262, 272 ff., 288, 291 Mensch (als Maß d. Dinge) 238 Menschen, »Natur« d. 10, 104, 238 f., 242, Menschheit, Vorgeschichte d. 39 Militär 64, 135 Nachlaß, Werk- 25 ff. Natur 28, 32, 39, 78, 91 f., 97, 123, 125, 134, 148, 159, 223 f., 230, 233 f., 287, 291 Negation 33, 51, 98, 214, 288 Nützlichkeit 121, 135, 144, 219, 268, 289 Oberfläche, kapitalistische 112 f., 116, 123, 142, 144, 182, 194 Ökologie, politische 223, 228, 230 Parlament 87, 134 Philosophie, Aufhebung d. 53, 55 f., 99, 233, 290 Philosophie, Geschichts- 74, 87, 115, 213, 239 Posthistoire 25 Postmoderne 9, 28, 236 f., 242 Preis(e) 112, 117, 125, 148, 156, 173 ff., 177 f., 199 f., 204 f., 210, 217 ff., 269 Preis, Verkaufs- 111, 116, 204 f. Pressewesen 135 Preußen 46, 49, 52, 55 Privateigentum 22, 94, 135, 219 f., 248 Proletariat 22, 34 f., 37 f., 59, 63, 77, 82, 87 ff., 130, 188, 213, 225, 245 f., 272 Proletariats, Diktatur d. 67, 106 Rationalität 29 f., 78, 223, 239, 265, 268 Religionskritik 51, 90 Namens- und Sachregister 298 <?page no="298"?> Reproduktion (d. Arbeitskraft) 178, 186 f. Republikanismus 63 Revolution, demokratischkapitalistische 37, 49, 61, 103, 258 Revolution, geistige 32, 51, 233, 263 Revolution, kommunistische 33, 39, 60, 63, 67, 71, 88, 106, 255, 257 f. Revolution, theoretische Bedeutung d. 38, 54, 68, 224 f., 232, 253 Rezeption, marxistische 14, 16, 20, 27 ff., 74 f., 78, 83 ff. Rheinische Zeitung 53, 55, 63 f., 68 Sein 9, 56, 96 ff., 233, 241, 288 Selbstbestimmung 94, 234 Selbstwiderspruch, performativer 78 Signifikant 159 Signifikat 159 Sittlichkeit (d. Staates) 93 Sozialismus 16, 39 f., 54, 60, 63, 76, 79, 81, 86, 103, 135, 164 Staatsinterventionismus 227 Staatsschulden 133 Staatstheorie 221 f., 266 Strömungen, marxistische 74, 76, 83 ff., 90 Subjekt d. Aussage 19 f. Subjekt d. Aussagens 19 f. Subjekt, historisches 77 Systeme, Interaktions- 160 f. Technik 42, 84, 140, 224, 226, 235, 241 Totalität 224, 233, 240, 246, 249, 252 Transformationsproblem, Wert/ Preis- 217 f. Überbau (-phänomene) 10, 43, 242, 261, 267 Umwelt 224, 227, 230 Unverbesserlichkeit d. Menschen 239 Verelendungstheorie 271 Vernunft 30, 34, 39, 87, 92, 268 Vernunft, kommunikative 223, 268 Vernunft, List d. 97 Vervollkommnung d. Menschen 239 Wahrheit 21, 77, 79, 224, 243, 262 Weltmarkt 210, 222 Wertausdruck, -gegenständlichkeit 149, 153 f., 167 Widerspruch 37, 71, 106, 142, 216 f., 222, 272 Wiener Kongreß 46, 49 Wirklichkeit 24, 31 f., 42, 78, 91 ff., 142, 224 f., 240 f., 262, 283, 288 Wissenschaft 21, 23, 74 f., 78 f., 84, 135, 265, 274 Zensur 55 Zirkulation 36, 107, 110 f., 130, 140, 142, 162, 169, 172, 174, 176, 179, 196, 202, 206 f., 210, 217 f. Zirkulationskosten 110, 207, 271 Zivilisation 30 f., 84, 230, 234, 241 Zusammensetzung, technische 195 Zusammensetzung, Wert- 195 Namens- und Sachregister 299 <?page no="299"?> Die Klassiker der Wissenssoziologie bei UVK Die Reihe »Klassiker der Wissenssoziologie« führt in die Werke von Wissenschaftlern ein, die für eine Soziologie des Wissens heute von besonderer Relevanz sind. Weitere Infos zur Reihe: www.uvk.de/ kw Bernt Schnettler Thomas Luckmann 2006, 158 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-545-1 Klassiker der Wissenssoziologie 1 Stephan Moebius Marcel Mauss 2006, 156 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-546-8 Klassiker der Wissenssoziologie 2 Martin Endreß Alfred Schütz 2006, 156 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-547-5 Klassiker der Wissenssoziologie 3 Jörg Strübing Anselm Strauss 2007, 152 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-548-2 Klassiker der Wissenssoziologie 4 Gabriela Christmann Robert E. Park 2007, 136 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-559-8 Klassiker der Wissenssoziologie 5 Jürgen Raab Erving Goffman 2007, 150 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-550-5 Klassiker der Wissenssoziologie 6 Reiner Keller Michel Foucault 2008, ca. 150 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-549-9 Klassiker der Wissenssoziologie 7 In Vorbereitung u.a.: Helmuth Plessner ... Émile Durkheim ... Karl Mannheim ... Harold Garfinkel ... Robert K. Merton ... Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Weiterlesen bei UVK <?page no="300"?> Ein umfassender einführender Überblick über klassische und zeitgenössische Theorien. Nicht nach Schulen aneinander gereiht, sondern systematisch und historisch werden die einzelnen Ansätze anhand ihrer jeweiligen »Diagnose« der Moderne vorgestellt. Dadurch werden Zusammenhänge und Unterschiede deutlich. Das Buch richtet sich an Studienanfänger ohne fachspezifische Vorkenntnisse und an alle, die einen Einblick in die soziologische Theorie gewinnen wollen. UTB basics - Lehrbücher mit einem klaren Konzept: Zusammenfassungen, Begriffsdefinitionen und Hintergrundinformationen erleichtern das Lernen zahlreiche Tabellen und Abbildungen machen Zusammenhänge sichtbar Lernkontrollfragen fördern das Verständnis mit weiterführenden Literaturangaben Sach- und Personenregister bieten zusätzliche Orientierung ideal für die Prüfungsvorbereitung Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Weiterlesen bei UTB Hartmut Rosa, David Strecker, Andrea Kottmann Soziologische Theorien 2007, 306 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-2836-1
