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Familiensoziologie

0501
2008
978-3-8385-3061-1
UTB 

Diese Einführung bietet einen umfassenden Überblick über den gesamten Bereich von familialen und nichtfamilialen Lebensformen und das Spannungsverhältnis von Familie und Gesellschaft. Der Autor macht dabei deutlich, dass sich die Familie heute neuen Anforderungen wie Individualismus, Mobilität und Flexibilität stellen muss. Jedes Kapitel beinhaltet eine Zusammenfassung, Übungsfragen und Literaturangaben. Glossar und Index erleichtern zudem die Erschließung von Grundbegriffen.

UTB 3061 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Köln · Weimar · Wien Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft · Stuttgart Mohr Siebeck · Tübingen C. F. Müller Verlag · Heidelberg Orell Füssli Verlag · Zürich Verlag Recht und Wirtschaft · Frankfurt am Main Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz Vandenhoeck Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich Günter Burkart Familiensoziologie UVK Verlagsgesellschaft mbH Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8252-3061-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2008 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Coverbild: Lawrence Manning/ Corbis Satz und Layout: Claudia Wild, Stuttgart Lektorat: Dr. Bernd Neumeister, Freiburg Druck: Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98 www.uvk.de Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Die Entwicklung der Familie zwischen Dramatisierung und Beschwichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.2 Trends gegen die Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.3 Relativierung der Krisendiagnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.4 Tücken der Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.5 Konkurrierende Werte und alternative Lebensformen . . . . . . . . . . . . . 32 1.6 Strukturelle und kulturelle Hintergründe - Wertewandel und Bildungsexpansion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung . . . . . . . . . . . . 51 2.1 Begriffe und methodische Instrumente der Demografie . . . . . . . . . . . . 51 2.2 Fertilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 2.3 Eheschließungen und Scheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.4 Lebenserwartung und Sterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.5 Struktur und Entwicklung der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft . . . . . 77 3.1 Ursprung und Universalität der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.2 Evolutionstheorie und Soziobiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3.3 Probleme und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.4 Verwandtschaftsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.5 Auf dem Weg zur monogamen Kleinfamilie: Natur und Kultur . . . . . 106 5 4. Die Familie im historischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.1 Antike und christliche Wurzeln der europäischen Familie . . . . . . . . . . 112 4.2 Die Hausgemeinschaft in der frühen Neuzeit - die traditionale Familie in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.3 Die bürgerliche Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4.4 Die Neujustierung des Geschlechterverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4.5 Familienverhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 5. Struktur und Funktion der modernen Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 5.1 Die Struktur der modernen Kernfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.2 Aufgaben und Funktionen der modernen Familie . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5.3 Privatheit und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.4 Familie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 5.5 Theorien in der deutschen Familiensoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6. Das konjugale Paar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 6.1 Das moderne Paar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 6.2 Paarbildung (»Partnerwahl«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 6.3 Nichteheliche Paarbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6.4 Heirat, Scheidung, Wiederverheiratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.5 Sexualität, Liebe und Partnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 6.6 Das Geschlechterverhältnis in Paarbeziehungen und die Arbeitsteilung im Haushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 7.1 Generationsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 7.2 Generationsbeziehungen in Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Inhalt 6 7.3 Formen des Zusammenlebens von familialen Generationen . . . . . . . . 212 7.4 Der Übergang in die Elternschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 7.5 Probleme der Elternschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 7.6 Kinder und Kindheit heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 8. Familie und Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 8.1 Der Individualismus als Grundzug der westlichen Kultur . . . . . . . . . . 238 8.2 Individuum, Lebenslauf und Biografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 8.3 Individualisierte Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 8.4 Kinderlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 8.5 Die Vereinbarkeit von Individualismus und Familie . . . . . . . . . . . . . . 261 9. Familienrecht und Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 9.1 Grundzüge des Ehe- und Familienrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 9.2 Aspekte der Rechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 9.3 Grundzüge der Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 9.4 Umstrittene Felder der Sozial- und Familienpolitik . . . . . . . . . . . . . . . 284 10. Die Zukunft der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 10.1 Zukunftsforschung: Prognosen und Szenarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 10.2 Niedergang oder Renaissance der Familie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 10.3 Die Zukunft der demografischen Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 10.4 Szenarien zum Verhältnis von Mann und Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 10.5 Eine Zukunft, in der die Familie überflüssig ist? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Inhalt 7 Anhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Datenquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Inhalt 8 Vorwort Die Familie steht immer wieder im Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Ihre Zukunft wird manchmal in Frage gestellt und als Lebensideal scheint sie ihre Attraktivität eingebüßt zu haben. Auf der anderen Seite ist sie mit hohen Erwartungen konfrontiert. Sie soll Defizite aus anderen gesellschaftlichen Bereichen auffangen, wird aber auch für manches sozial- und bildungspolitische Problem mitverantwortlich gemacht. Es sind Widersprüchlichkeiten solcher Art, die zu einem ambivalenten Eindruck der gesellschaftlichen Stellung der Familie beigetragen haben. Vor diesem Hintergrund will dieses Lehrbuch einen umfassenden Überblick zu den wichtigsten Fragen im Bereich der privaten Lebensverhältnisse vermitteln, das Spannungsverhältnis zwischen Familie und Gesellschaft ausloten und eine grundsätzliche Standortbestimmung der Familie in der Gesellschaft vornehmen. Ausgehend von den immer wieder aufflammenden Diskussionen über die Krise der Familie, die zwischen Dramatisierung und Beschwichtigung changieren, wird zunächst die Entwicklung der letzten Jahrzehnte dargestellt. Dabei kommt es auch darauf an, die Problematik der Interpretation familiendemografischer Daten zu verdeutlichen, die einen nicht unerheblichen Anteil an den widersprüchlichen Deutungen hat. Es folgt eine Übersicht grundlegender demografischer Begriffe und methodischer Instrumente sowie eine kurze Übersicht zur Bevölkerungsentwicklung. Die Frage nach dem Ursprung und der Universalität von Familie wird unter Bezugnahme auf Theorien der Evolutionstheorie und der Soziobiologie behandelt, aber auch unter Rückgriff auf ethnologische Forschungen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Verwandtschaftsstrukturen. Nach einem historischen Kapitel, das sich auf den Übergang von der traditionalen Hausgemeinschaft zur modernen Familie konzentriert, werden Struktur und Funktionen der modernen Familie behandelt. Zum Beispiel stellt sich die Frage, ob Familie mit Privatheit gleichzusetzen ist. Auch die vielfältigen Beziehungen und Verflechtungen zwischen der Institution Familie und anderen gesellschaftlichen Bereichen - vor allem Bildung und Wirtschaft - werden behandelt. In einem Exkurs werden die einflussreichsten Theorien in der deutschen Familiensoziologie erörtert. Zwei weitere Kapitel befassen sich mit dem Ehepaar bzw. der Paarbeziehung sowie den Generationsbeziehungen in Familien. Das Spannungsverhältnis zwischen Individualismus und Gemeinschaft ist ein weiterer Schwerpunkt. Fragen des Ehe- und Familienrechts sowie der Familienpolitik ziehen sich durch die Behandlung der Themen, sie werden in einem eigenen Kapitel aber noch einmal systematisch zusammengefasst. Abschließend wird ein Blick in die Zukunft der Familie und des Geschlechterver- 9 hältnisses geworfen. Die Beziehungen zwischen Mann und Frau spielen eine zentrale Rolle, ihre zukünftige Gestaltung wird mitentscheidend sein für die weitere Dynamisierung der Familie, etwa bei der Vereinbarkeitsproblematik oder der Arbeitsteilung im Haushalt. Fragen des Geschlechterverhältnisses ziehen sich durch alle in diesem Buch verhandelten Themen, deshalb gibt es kein eigenes Kapitel zum Thema Geschlecht. Die Institution Familie ist zwar immer wieder herausgefordert und muss sich neuen Anforderungen stellen. Gleichwohl erweckt sie den Eindruck einer »unverwüstlichen Lebensform«, deren Untergang eher unwahrscheinlich ist. Wir werden sehen, dass die dennoch verbreiteten Krisenszenarien und Zerfallsprognosen oft auf Fehlinterpretationen statistischer Daten oder einer historisch kurzsichtigen Betrachtungsweise beruhen. Unübersehbar ist aber, dass sich die Bedeutung von Ehe und Familie im Lebensverlauf geändert hat und weiterhin wandelt: Die Familiengründung hat sich für die meisten Menschen biografisch verschoben, ein Wechsel zwischen den Lebensformen ist auch in späteren Lebensphasen häufiger geworden. Die Toleranz gegenüber nichtfamilialen Lebensformen ist deutlich größer geworden. Als Leitbild ist die Familie für eine große Mehrheit aber weiterhin positiv besetzt. An den Rändern der Familie hat sich der Gegenstandsbereich ausgeweitet. Der Anteil der nichtehelichen und nichtfamilialen Lebensformen steigt seit Jahrzehnten - langsam, aber kontinuierlich. Wenn im Titel dieses Buches dennoch nur die »Familie« vorkommt, ist damit keine Vernachlässigung dieses Strukturwandels beabsichtigt. Der Titel bringt zum Ausdruck, dass diese Veränderungen auf die Familie bezogen bleiben und dass der Autor die Familie nicht für ein Auslaufmodell hält. Auch der zweite Teil des Buchtitels soll nicht zu eng verstanden werden. Die Beschränkung auf »Soziologie« bedeutet nicht, andere Zugangsweisen zum Gegenstandsfeld zu ignorieren. Ein Thema wie »Familie« bedarf eines breiten interdisziplinären Zugangs. Es geht um demografische und historische, um biologische und ethnologische, um psychologische und kulturelle Aspekte. Gleichwohl steht die soziologische Perspektive immer im Vordergrund. Sie ist am besten geeignet, diese verschiedenen Zugangsweisen in einer übergreifenden Sichtweise zu bündeln. Die Situation des Wissenserwerbs ist dabei, sich grundlegend zu wandeln. Der Siegeszug des Internet und die Umstellung auf verschulte Kurzstudiengänge fördern die Tendenz, sich Wissen in überschaubaren Portionen und in vereinfachter Form anzueignen. Seit einigen Jahren bekomme ich als Hochschullehrer immer häufiger Hausarbeiten oder Referatsausarbeitungen vorgelegt, in denen fast nur noch aus dem Internet zitiert wird. Nicht immer, so zeigt es sich, können die Studierenden dabei unterscheiden, ob es sich bei ihrer Quelle um einen wissenschaftlichen Aufsatz eines Experten handelt, ein vorläufiges Seminarpapier eines Dozenten oder eine populärwissenschaftliche Zusammenfassung eines interessierten Laien. Vorwort 10 Viele wissenschaftliche Datenquellen und Analysen sind im Internet (noch) nicht kostenlos zugänglich. Dort aber, wo ein kostenfreier Zugang gegeben ist, hat man es häufig mit Zusammenfassungen, Auszügen und kurzen Überblickstexten zu tun. Lehrbüchern kommt in dieser Situation eine besondere Bedeutung zu. Sie sind Vermittler zwischen den leicht zugänglichen, aber nicht immer zuverlässigen Informationen im Netz und in den öffentlichen Debatten und den schwer zugänglichen Spezialanalysen. Zwar können auch Lehrbücher nicht auf komprimierte und zusammenfassende Stoffvermittlung verzichten und die methodischen Probleme und wissenschaftstheoretischen Feinheiten bestimmter Ergebnisse und Diskussionen nicht immer ausführlich darstellen, auch nicht den komplizierten Prozess von Hypothesenbildung und Überprüfung, der oft nur zu vorläufig gültigen Zwischenergebnissen führt. Aber man darf von ihnen erwarten, dass hinter der komprimierten Information eine sorgfältige Bewertung der Einzelstudien liegt; dass sie verbreitete Missverständnisse klarstellen; dass sie erlauben, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden; dass sie ausgewogen und ideologisch neutral sind; dass sie die Leserin und den Leser in die Lage versetzen, die vielfältigen und oft widersprüchlichen Zeichen des Wandels richtig zu deuten. Familienforschung, wie sie hier verstanden wird, ist allerdings ein weites Feld, und nicht alle Fragen können in gleicher Ausführlichkeit behandelt werden. So werden im vorliegenden Buch zum Beispiel die verschiedenen Theorie-Ansätze in der Familiensoziologie nur knapp dargestellt, in Form eines längeren Abschnittes im fünften Kapitel. Auf eine Darstellung der Geschichte der Familiensoziologie wurde ganz verzichtet. Auch die kulturvergleichende Familienforschung kann nicht ausführlich dargestellt werden. Kindheits- und Jugendforschung haben sich inzwischen zu eigenständigen Forschungsgebieten entwickelt, über die man sich in entsprechenden Einführungen und Überblickswerken informieren kann. Ein Problem der Darstellung der familiendemografischen Entwicklungen ergibt sich aus der Menge vorhandener Daten. Es gibt eine ganze Reihe von Spezial- und auch Übersichtsdarstellungen, in denen eine Fülle von Zahlen präsentiert wird, bei der man leicht den Überblick verlieren kann. Demgegenüber ist der Umgang mit Zahlen in diesem Buch eher sparsam. Der Grund für diese Sparsamkeit liegt nicht darin, dass der Autor die Kenntnis von demografischen Zahlen für nicht so wichtig hielte - ganz im Gegenteil: In den öffentlichen Debatten, im Gespräch mit Kollegen aus anderen Forschungsbereichen oder in Hochschulprüfungen wird immer wieder deutlich, dass die Thesen von der Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen, vom Niedergang der Normalfamilie und vom Aufstieg nichtfamilialer Lebensformen weit verbreitet sind. Fragt man aber kritisch nach und will etwas über die Größenordnung der behaupteten Veränderungen erfahren, zeigt sich oft, dass es an einer klaren Vorstellung darüber fehlt. Vielleicht - so Vorwort 11 jedenfalls meine Hoffnung - kann eine solche Vorstellung eher entstehen, wenn nicht Dutzende von Tabellen und Zahlenreihen präsentiert werden, sondern nur wenige, die besonders wichtig sind. Aus demselben Grund werden Prozentangaben häufig nicht mit Stellen hinter dem Komma angeführt, sondern nur als ungefähre Angabe, also zum Beispiel: »etwa 20 Prozent«. Damit soll außerdem deutlich werden, dass solche Zahlen immer ein Stückweit unsicher sind. Stellen hinter dem Komma täuschen eine Genauigkeit vor, die es selten gibt. Gerade bei »amtlichen« Daten glaubt der Laie gern, dass sie präzise sind. Das ist aber keineswegs immer der Fall. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Statistischen Landesämter und des Statistischen Bundesamtes wissen um diese Probleme besser als jeder andere, und sie bemühen sich um eine sorgfältige Erhebung, Bereinigung und Aufbereitung dieser Daten, bevor sie der Forschung für vertiefende Analysen bereitgestellt werden. Diese Vorarbeiten brauchen viel Zeit. Deshalb lagen für viele Fragestellungen, die in diesem Buch behandelt werden, zum Zeitpunkt der Drucklegung noch keine Analysen des Mikrozensus von 2006 vor, und manche Datenreihe reicht daher nur bis zum Jahr 2005. Allerdings ist es für die Beurteilung der demografischen Entwicklung wichtiger, langfristige Trends zu erkennen als auf kurzfristige Veränderungen zu schauen, deren Bedeutung erst im historischen Abstand klar wird. Zwar wird in den Medien gern einmal von einem »neuen Baby-Boom« oder einem »Heiratsboom« geschrieben, wenn die jährlichen Zahlen einmal etwas höher sind als im Vorjahr, aber über eine mögliche Trendwende lässt sich erst nach mehreren Jahren sorgfältiger Beobachtung und Berechnung urteilen. Dieses Buch ist entstanden auf der Grundlage von Vorlesungsmanuskripten. Ich danke den Studentinnen und Studenten an der Leuphana Universität Lüneburg für ihre Fragen und Kommentare, durch die an vielen Stellen eine Verbesserung des Textes möglich wurde. Diese Vorlesungen richteten sich an Hörer aus mehreren Studiengängen, insbesondere Lehramt, Erziehungs-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Das hat mir geholfen, auf soziologischen Fachjargon so weit wie möglich zu verzichten. Ich hoffe, dass dies auch im vorliegenden Buch gelungen ist. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus der Familienforschung und der Soziologie haben bei vielen Gelegenheiten Hinweise gegeben, Zweifel angemeldet oder Fragen beantwortet. Ihnen allen gilt mein Dank. Alexander Scheibner und Daniela Steinert haben als studentische Mitarbeiter bei den technischen Arbeiten und bei den Recherchen geholfen und dazu beigetragen, dass manche Datenlücke geschlossen werden konnte. Beiden sei herzlich für ihr Engagement gedankt. Schließlich danke ich auch dem Lektorat des Verlags und dessen Leiterin Sonja Rothländer für die sorgfältige Arbeit an der ersten Fassung des Textes sowie ihre fachkundige Begleitung und Geduld während der langen Phase von den ersten Planungen bis zur Vollendung des Werkes. Vorwort 12 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform Die Familie gehört zu den Lebensbereichen, die immer wieder Gegenstand ideologischer Auseinandersetzungen sind. Die Diskussion bewegt sich oft zwischen Dramatisierung und Beschwichtigung, zwischen der Ansicht, die Familie sei eine untergehende Lebensform, und der Gegenposition, für die es keine Krise der Familie gibt, sondern nur einen ganz normalen Strukturwandel (? 1.1). Manche Krisendiagnose wirkt überzogen, aber es gibt doch einige gravierende Veränderungen, die einen tief greifenden Umbruch signalisieren. Der Geburtenrückgang, die Verkleinerung der durchschnittlichen Haushaltsgröße und der Anstieg der Scheidungen gehören zu den bekannten Entwicklungen, die weg von der Familie zu führen scheinen (? 1.2). Doch die Interpretation der Daten bleibt umstritten. Es gibt eine Reihe von Argumenten zur Relativierung der Krisendiagnose. So sieht manches anders aus, wenn man eine langfristige Betrachtungsweise wählt, bei der die 1950er-Jahre nicht Ausgangspunkt sind, sondern eine Ausnahmesituation darstellen. Auch lässt sich manche Entwicklung, die von der Datenlage her eindeutig scheint, für oder gegen die Familie interpretieren (? 1.3). Ein weiterer Grund, warum es trotz einer durchaus günstigen Datenlage immer wieder zu sehr unterschiedlichen Diagnosen kommt, sind Fehlinterpretationen der Statistik. Das betrifft insbesondere Entwicklungen wie den Anstieg der Zahl von Singles oder den angeblichen Bedeutungsverlust der Normalfamilie (? 1.4). Wichtig ist auch die Berücksichtigung der Lebenszeitperspektive. Dadurch erscheinen die »alternativen« Lebensformen eher als Übergangsphasen im Lebenslauf. Insgesamt spricht einiges dafür, dass Ehe und Familie immer noch zentrale Lebenswerte sind, die weiterhin von einer großen Mehrheit der jungen Erwachsenen angestrebt werden. Aber diese Werte stehen in größerer Konkurrenz zu anderen Lebenswerten (? 1.5). Die allgemeinen Gründe für den Wandel lassen sich mit Formeln wie »Modernisierung« und »Individualisierung« umschreiben, mit Prozessen also, die langfristig wirksam sind. Für die Geschwindigkeit des Wandels zwischen 1965 und 1975 sind die besonderen Bedingungen der späten 1960er-Jahre verantwortlich, als eine neue Generation rasch das kulturelle Wertsystem umkrempelte. Dabei kommt der Bildungsexpansion der 1970er-Jahre eine besondere Bedeutung zu. Sie hat vor allem zu einer strukturellen Verbesserung der Situation der Frauen geführt, mit 13 weitreichenden Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis in Paarbeziehungen und Familien. Allerdings gibt es in dieser Hinsicht noch deutliche Milieu-Differenzierungen (? 1.6). 1.1 Die Entwicklung der Familie zwischen Dramatisierung und Beschwichtigung Seit Jahrzehnten ist das Feld der »Familie« politisch umkämpft. Die öffentliche Diskussion wird von normativ getönten oder deutlich wertenden Stellungnahmen beherrscht: Wer sich äußert, ist fast unvermeidlich für oder gegen die Familie. Hinter den meisten Aussagen zum Strukturwandel der Familie steht entweder - mehr oder weniger deutlich ausgesprochen - die Auffassung, die Familie sei in der Krise oder bereits untergegangen oder aber die gegenteilige Behauptung, die Familie sei im Großen und Ganzen eine »unverwüstliche Lebensform«, eine Lebensform mit großer Kontinuität und Stabilität. Seit Jahrzehnten gibt es deshalb ziemlich widersprüchliche Aussagen über den familialen Wandel. Diese Polarisierung spiegelte sich auch in der Familienforschung wider, wo die Untergangsthese unter anderem von Vertretern der Individualisierungstheorie, die Beharrungsthese eher von empirischen Familienforschern vertreten wurde. Nüchterne, wertneutrale Aussagen, wie sie für die Wissenschaft doch üblich sein sollten, sind hier natürlich durchaus zu finden, dennoch verstricken sich die Wissenschaftler immer wieder in einen normativen Kampf um die Familie. Seit einiger Zeit beherrscht in der öffentlichen Debatte der Krisendiskurs wieder stärker das Geschehen. Nun geht es zwar nicht mehr in erster Linie um den Zerfall der Familie oder gar um das »Aussterben der Deutschen«, sondern um die demografische Krise mit ihren sozialpolitischen Folgeproblemen. Aber auch die wachsende Kinderlosigkeit, besonders unter Akademikern, wird zunehmend als Problem gesehen, auch von seriösen Demografen und Familienforschern. 1 Manche von ihnen sprechen von »schrumpfender Gesellschaft« und »Geburtenlücke«. 2 Auf der anderen Seite gibt es aber auch Stimmen, die den Geburtenrückgang begrüßen oder zumindest nicht verstehen, was daran so problematisch sein soll. 3 Naturgemäß etwas schriller sind die Töne im populär-medialen Diskurs, wo auch 1 Berger/ Kahlert (2006), Konietzka/ Kreyenfeld (2007). 2 Kaufmann (2005a). 3 Hondrich (2008). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 14 konservative Stimmen laut werden. Kritisiert wird dabei der Feminismus, der zumindest eine »Mitschuld« an der Misere habe. 4 Und manchen geht es durchaus auch um das Aussterben der Deutschen: So spricht der Journalist Schirrmacher vom einem »Minimum«, auf das wir zusteuerten, wenn wir weiterhin so wenig Kinder bekämen, und vergleicht dies mit großen Katastrophen. 5 Es ist nicht leicht, in dem Streit um die Entwicklung der Familie Klarheit zu schaffen, denn es gibt kaum ein Feld der sozialwissenschaftlichen Forschung, in dem seit Jahren so viele ausführliche Analysen auf statistischer Datenbasis vorliegen und dennoch so kontroverse Einschätzungen anzutreffen sind. So werden oft die gleichen Datenquellen herangezogen, um entweder den nahenden Untergang der Familie zu verkünden oder deren unverminderte Attraktivität zu behaupten, auch wenn viele Probleme dieser Datenquellen längst bekannt sind. Diese Geschmeidigkeit der Daten für eine optimistische oder eine pessimistische Variante sei zunächst an zwei Beispielen verdeutlicht: So hieß es in einer Veröffentlichung zur Lage der Familien: »Verheiratet Zusammenleben ist die dominierende Lebensform. (…) Neun von zehn minderjährigen Kindern leben bei einem Elternpaar.« Diese Aussagen standen, typografisch herausgestellt, als Leitsätze vor dem ersten Kapitel eines Berichtes des Statistischen Bundesamtes, unterlegt mit dem Foto einer glücklichen vollständigen Familie. 6 Sie waren offensichtlich gegen die Krisendiagnose gerichtet. Es waren Erfolgsmeldungen der »Profamilisten«. Aber jedem geübten Krisendiagnostiker wäre es schon damals, Mitte der 1990er-Jahre, leicht gefallen, beim ersten Satz einzuhaken: »Ja, aber wohl nicht mehr lange; und schon heute nur noch für eine knappe, relative Mehrheit; und selbst für diese nicht mehr auf Dauer.« Und bei der zweiten Erfolgsmeldung hätte der Krisendiagnostiker einwenden können: »Ja, aber mit abnehmender Tendenz, und es ist längst nicht mehr bei allen das ursprüngliche Elternpaar, und diese Kinder können nicht mehr sicher sein, dass ihre Eltern zusammenbleiben werden.« Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Entwicklung in den Vereinigten Staaten von Amerika. Auch dort pendelt die öffentliche Debatte häufig zwischen Dramatisierung und Beschwichtigung. Im Januar 2007 berichteten die Zeitungen, erstmals in der jüngeren Geschichte der USA lebe die Mehrzahl der Amerikanerinnen ohne einen Ehemann. Der Anteil der verheirateten, mit dem Ehemann zusammenlebenden Frauen war im Jahr 2005 auf 49 Prozent gesunken, so hatte die ame- 4 Gaschke (2005), Bolz (2006). Zur Kritik an dieser Position vgl. z. B. Kahlert (2006). 5 Schirrmacher (2006). 6 Statistisches Bundesamt (1995: 7). 1.1 Die Entwicklung der Familie zwischen Dramatisierung und Beschwichtigung 15 rikanische statistische Bundesbehörde gemeldet. 1950 waren es noch 65 Prozent, 1970 noch 60 Prozent, im Jahr 2000 noch 51 Prozent gewesen. Doch was bedeutet das? Es klingt ein wenig nach Vollendung der Emanzipation, nach endgültiger Abkehr von der Versorgungsehe oder sogar nach Untergang der Ehe. Aber wie passt das zusammen mit der gleichzeitig verbreiteten Information, dass die Ehe »das bevorzugte Modell« bleibe, »drei Viertel der Amerikanerinnen« heiraten und »im Schnitt die Hälfte ihres Erwachsenenlebens in einer Ehe« verbringen würden. 7 Demnach hatten also 75 Prozent der amerikanischen Frauen geheiratet, aber nur noch 49 Prozent von ihnen waren verheiratet, wie eingangs erwähnt. Wie passen diese beiden Aussagen zusammen? 8 1.2 Trends gegen die Familie Die demografischen Entwicklungen, die den - tatsächlichen oder vermeintlichen - Niedergang der Familie markieren, sind oft beschrieben worden. Sie lassen sich in drei Punkten zusammenfassen. 1. Seit dem Ende des »Baby-Booms« Mitte der 1960er-Jahre gingen die jährlichen Geburtenzahlen überall in der »westlichen« Welt kontinuierlich zurück, besonders stark in der Bundesrepublik, die schon Mitte der Achtzigerjahre einen historischen Tiefpunkt erreicht hatte: Die Geburtenrate 9 sank auf etwa 1,3 Kinder pro Frau (Abb. 1.1). 2. Im selben Zeitraum war ein starker Rückgang der Eheschließungszahlen zu registrieren, gerade bei den jüngeren Erwachsenen im »heiratsfähigen« Alter. Mit dieser Abkehr von der Heirat ging ein merklicher Anstieg der Scheidungsquoten einher - auf ein Niveau, bei dem mehr als jede dritte Ehe wieder geschieden wird (Abb. 1.2). 7 Meldung im Berliner Tagesspiegel, 17.1.2007. Datenquelle: U. S. Census Bureau: Current Population Survey, January 2007 (www.census.gov) 8 Die Auflösung des Rätsels folgt an späterer Stelle. 9 Gemeint ist hier die Fertilitätsrate (Total Fertility Rate = TFR) bzw. die zusammengefasste Geburtenziffer. Mit ihr wird geschätzt, wie viele Kinder die zurzeit lebenden Frauen (im gebärfähigen Alter) im Durchschnitt zur Welt bringen werden. Genaueres dazu und zu den verschiedenen Maßzahlen für Fertilität siehe Kapitel 2. Wenn im Text von »Geburtenrate« die Rede ist, ist meist diese Rate (TFR) gemeint. 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 16 Abbildung 1.1: Geburtenzahl und Geburtenrate 1,00 1,20 1,40 1,60 1,80 2,00 2,20 2,40 2,60 2,80 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 400.000 600.000 800.000 1.000.000 1.200.000 1.400.000 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Entwicklung der jährlichen Geburtenzahl und der Geburtenrate (Total Fertility Rate; durchschnittliche Kinderzahl pro Frau) in Deutschland, 1950-2005/ 2006. Quelle: Statistisches Bundesamt. Eigene Darstellung. 1.2 Trends gegen die Familie 17 3. Und schließlich war eine markante Abnahme des Anteils von »Normalfamilien«-Haushalten zu verzeichnen, mit einer entsprechenden Zunahme nichtfamilialer Haushalte: kinderlose Ehepaare, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Wohngemeinschaften, Single-Haushalte. Besonders markant sind die langfristige Abnahme der großen und die entsprechende Zunahme von Einpersonen-Haushalten (Abb. 1.3). 10 Abbildung 1.2: Eheschließungen und Ehescheidungen 0 100.000 200.000 300.000 400.000 500.000 600.000 700.000 800.000 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 Eheschließungen Ehescheidungen Entwicklung der jährlichen Eheschließungs- und Scheidungszahlen in Deutschland, 1950-2005. Quelle: Statistisches Bundesamt. Eigene Darstellung. 10 Es gibt in Deutschland etwa 39 Millionen Haushalte bei einer Bevölkerungszahl von über 83 Millionen, so dass in einem Haushalt durchschnittlich etwa 2,1 Personen leben. Genauere Zahlen für 2005: 39,2 Millionen Haushalte mit 82,7 Millionen Haushaltsmitgliedern (83,5 Millionen Menschen zählten zur »wohnberechtigten Bevölkerung«, von der etwa 856.000 Menschen nicht in Privathaushalten, sondern in Gemeinschaftsunterkünften wohnten). Die durchschnittliche Haushaltsgröße ging von 2,27 Personen (1991) auf 2,11 Personen (2005) zurück (Statistisches Bundesamt 2006: 11 f.). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 18 Abbildung 1.3: Haushaltsgröße 1900 14,7 44,4 7,1 16,8 17,0 0 10 20 30 40 50 1 2 3 Personen 4 5 und mehr % 2005 33,9 14,0 10,8 3,9 37,5 0 10 20 30 40 50 1 2 3 Personen 4 5 und mehr % Anteile von Haushalten nach Personenzahl in Deutschland, 1900 und 2005. Quelle: Statistisches Bundesamt. Eigene Darstellung. 1.2 Trends gegen die Familie 19 Ost- und Westdeutschland Diese Trends wurden zunächst an der Entwicklung in Westdeutschland und in anderen westlichen Ländern abgelesen. Auch 18 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung gibt es in mancherlei Hinsicht noch starke Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen neuen und alten Bundesländern. Auf manchen Gebieten ist aber auch schon eine Annäherung erfolgt. Im Jahr 1990 lag die Geburtenrate (TFR) noch in beiden Teilen Deutschlands bei etwa 1,5, aber schon im Jahr danach gab es im Osten einen starken Einbruch. Im Jahr 1994 war die Geburtenrate in Deutschland insgesamt so niedrig wie noch nie (1,24), mit erheblichen Unterschieden zwischen West- (1,35) und Ostdeutschland (0,78). Im Jahr 2005 war der Unterschied jedoch nur noch gering (West 1,37, Ost 1,31). Das durchschnittliche Alter der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes lag im Jahr 2005 in Westdeutschland etwas über dem in Ostdeutschland, bei ca. 29 Jahren. Von den Frauen des Geburtsjahrgangs 1965 waren im Jahr 2005 im Westen etwa 27 Prozent, im Osten dagegen nur etwa 14 Prozent kinderlos. Der Anteil der nichtehelichen Geburten war in Westdeutschland immer vergleichsweise gering, in der DDR sehr hoch. Insgesamt stieg dieser Anteil nach 1990 stark an, wobei der deutliche Unterschied zwischen Ost und West erhalten blieb. Zwischen 1990 und 2005 stieg der Anteil nichtehelicher Geburten in den alten Bundesländern von 10 auf 22 Prozent, in den neuen Bundesländern von 34 auf 58 Prozent. 11 Auch die Erwerbstätigkeit von Müttern unterscheidet sich noch sehr. So waren beispielsweise im Jahr 2004 nur 20 Prozent aller Mütter mit minderjährigen Kindern in Westdeutschland vollzeiterwerbstätig, jene mit einem Kind zu 25 Prozent, jene mit drei oder mehr Kindern zu zwölf Prozent. In Ostdeutschland lagen die entsprechenden Anteile - aufgrund der entsprechenden Tradition in der DDR, in der die Erwerbstätigkeit von Frauen sehr viel höher war als in der alten Bundesrepublik - deutlich höher: Hier waren 48 Prozent aller Mütter mit minderjährigen Kindern vollzeiterwerbstätig, und immerhin noch 29 Prozent der Mütter mit drei Kindern. 12 Unter den unverheirateten Paaren lebten im Osten Deutschlands etwa die Hälfte mit Kindern, während im Westen der Anteil von Elternpaaren unter 11 Statistisches Bundesamt (2006), Grünheid (2006, 2007). Ein Problem der Vergleichbarkeit von Daten für Ost- und Westdeutschland besteht darin, dass die Daten für Berlin (Ost/ West) nicht in allen Berechnungen in gleicher Weise zugeordnet werden. In neueren Publikationen rechnet das Statistische Bundesamt die Daten von Gesamtberlin den neuen Bundesländern zu. 12 Statistisches Bundesamt (2005: 33). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 20 den nichtehelichen Lebensgemeinschaften deutlich niedriger lag, allerdings mit steigender Tendenz: 1996 21 Prozent, 2005 26 Prozent. 13 Die durchschnittliche Haushaltsgröße (Personenzahl je Privathaushalt) geht in Deutschland seit langem leicht, aber kontinuierlich zurück. Dieser Trend ist in Ostdeutschland jedoch stärker. Zwischen 1991 und 2005 ging dort die durchschnittliche Haushaltsgröße von 2,3 auf 2,0 Personen zurück, in Westdeutschland nur von 2,2 auf 2,1. Seit dem Jahr 1999 sind die ostdeutschen Haushalte im Durchschnitt kleiner. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass in diesem Zeitraum der Anteil der größeren Haushalte (mit drei und mehr Personen) im Osten sehr viel stärker zurückging (zwischen 1991 und 2005 von 37 auf 25 Prozent) als im Westen (von 35 auf 29 Prozent). In beiden deutschen Gebieten stieg der Anteil der Einpersonenhaushalte weiter an, zwischen 1991 und 2005 von 27 auf 37 Prozent im Osten, von 35 auf 37 Prozent im Westen. Inzwischen ist der Anteil der Einpersonenhaushalte also auch in Ostdeutschland so hoch wie im Westen. 14 Deutschland, Europa und die Welt Alle diese Entwicklungen lassen sich in den meisten Ländern der westlichen Welt wiederfinden, wenn auch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und mit bemerkenswerten Unterschieden. Während einige Länder, insbesondere in Osteuropa, zuletzt besonders niedrige Geburtenraten aufwiesen, gab es in einigen westeuropäischen Ländern wie Frankreich oder Schweden in den letzten Jahren einen Anstieg der Geburtenzahlen. Für manche dieser Länder wurde in jüngster Zeit sogar die Erfolgsmeldung verbreitet, sie lägen nun wieder über dem Reproduktionsniveau - also bei über 2,1 Kindern - oder zumindest dicht daran. Allerdings ist bei aktuellen Meldungen dieser Art immer Vorsicht geboten, da die Daten vorläufig sind und häufig nachträglich noch deutliche Änderungen gemeldet werden. Eindeutig lag nur für Island die Geburtenrate deutlich über zwei Kindern pro Frau, für Irland knapp darunter. Großbritannien, Schweden, Dänemark, Finnland und die Niederlande kamen zuletzt auf Fertilitätsraten zwischen 1,7 und 1,8. 15 13 Statistisches Bundesamt (2006: 32). 14 Statistisches Bundesamt (2006: 11 ff.). 15 Eurostat-Daten (epp.eurostat.ec.europa.eu). Aktuelle Daten im europäischen Vergleich sind meist nur Schätzwerte, deren Zuverlässigkeit nicht immer sicher ist, und die in den amtlichen Veröffentlichungen je nach Berechnungsmethode teilweise sehr unterschiedlich angegeben werden. 1.2 Trends gegen die Familie 21 Besonders die französische Entwicklung fand auch hierzulande Beachtung, nicht zuletzt, weil man vermutete, dass dort die Familienpolitik so erfolgreich war, dass sie sich direkt auf die Fertilitätsrate ausgewirkt habe. In Frankreich stieg die zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) von 1,71 im Jahr 1995 auf 1,94 im Jahr 2005. Allerdings zeigen die Kohortendaten, soweit verfügbar, noch keinen Anstieg: Während die Frauen der Geburtskohorte 1955 im Durchschnitt 2,13 Kinder hatten, kommt die Kohorte von 1965 voraussichtlich auf 2,05 Kinder. 16 Mitte der 1980er-Jahre hatte Westdeutschland mit einer TFR von 1,34 kurzzeitig die niedrigste Geburtenrate in Europa, wurde überraschenderweise aber bald von südeuropäischen katholischen Ländern wie Italien und Spanien »überholt«. Dies wird unter anderem darauf zurückgeführt, dass auch dort die Frauenerwerbsquoten stark gestiegen sind, staatliche Leistungen für Familien und Mütter jedoch gering blieben, weil in diesen Ländern die Ansicht vorherrscht, Familien benötigten keine besondere staatliche Förderung, da sie in der Alltagskultur gut verankert seien. In jüngster Zeit haben einige osteuropäische Länder die Positionen am unteren Ende der europäischen Fertilitätsskala übernommen. In den meisten dieser Länder - Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Polen, Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien - meldete die OECD für die letzten Jahre Werte um 1,2 oder 1,3. Im Weltmaßstab gehört Japan zu den Ländern mit besonders niedriger Fertilität: Die Total Fertility Rate lag hier in den letzten Jahren bei 1,3. Dagegen haben die USA ein kleines Zwischenhoch (einen kleinen Baby-Boom). Auch hier wurden vorläufige Zahlen von knapp über zwei Kindern pro Frau gemeldet. Bemerkenswert ist, dass sich die Erhöhung der Fertilitätsraten vor allem den aus hispanischen Kulturen eingewanderten Frauen verdankt. Während in der hispanischen Bevölkerung eine TFR von 2,8 erreicht wird, kommen die weißen Amerikanerinnen nur auf etwa 1,85. 17 Auch in Deutschland wirken die unterschiedlichen Fertilitätsniveaus der Herkunftskulturen bei Migrantenfamilien nach, wie die deutlich höhere Rate ausländischer Frauen in Deutschland (1,8, bei deutschen Frauen 1,2) zeigt. Die höchsten Geburtenraten werden immer noch in weiten Teilen Afrikas und Asiens erreicht, zum Beispiel in Afghanistan mit 7,3 oder in Angola mit 6,6. Deutlich niedriger sind die Geburtenraten in »Schwellenländern« wie Brasilien (2,3) oder Indien (2,9). 18 Ebenfalls besonders hoch ist hierzulande - im europäischen Vergleich - auch die Kinderlosigkeit. Während für Frankreich ein Wert von acht Prozent angegeben 16 BiB-Mitteilungen (27, 2/ 2006: 6). Vgl. zum Begriff der Kohorte Kapitel 2.1. 17 BiB-Mitteilungen (27, 2/ 2006: 12). 18 Daten der WHO (Weltgesundheitsorganisation) (www.who.int). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 22 wird, für Italien und Spanien elf Prozent, für andere Länder zwischen 13 und 17 Prozent, ist für Deutschland ein Wert von 22 Prozent ausgewiesen. 19 Kinderlosigkeit ist allerdings schwer festzustellen, hier sind auch die europäischen Vergleichsdaten besonders unsicher. Für den Geburtsjahrgang 1965 wird erwartet, dass etwas mehr als ein Viertel der westdeutschen Frauen kinderlos bleiben (in Ostdeutschland sind es deutlich weniger). Besonders auffällig ist auch der große Unterschied in der Kinderlosigkeit zwischen Frauen mit Hochschulabschluss und Frauen mit einfachem Schulabschluss. Der Geburtenrückgang und die anderen genannten Trends, die einen Rückgang der Orientierung an der Normalfamilie anzuzeigen scheinen, können zunächst pauschal mit Modernisierung in Verbindung gebracht werden, also mit Prozessen der Säkularisierung und Urbanisierung, der Individualisierung, des Anstiegs des Bildungsniveaus und anderen Entwicklungen. Alle diese Trends beeinflussen in komplexer Weise die Geburtenrate und drücken sie nach unten. Deshalb setzte in der westlichen Welt der Geburtenrückgang früher ein, während weltweit zunächst noch überall hohe Geburtenraten und Bevölkerungswachstum zu verzeichnen waren. Die Geburtenpolitik in China Allmählich erreichen diese Entwicklungen, die zuerst im »Westen« einsetzten, auch andere Länder. Dies gilt auch für ein relativ neues demografisches Problem, das in den letzten Jahren überall dort auftrat, wo der Geburtenrückgang mit einer steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung zusammenfiel: Inzwischen gibt es Prognosen, dass das bisher bedrohliche Wachstum der Weltbevölkerung (»Bevölkerungsexplosion«) bald gestoppt und dann ein Schrumpfungsprozess eingeleitet wird, der weltweit auch dringend notwendig scheint. Problematisch ist dabei allerdings die gleichzeitige Überalterung. China ist als eines der ersten ehemals stark wachsenden Länder davon betroffen. Kein Land der Welt hat in den letzten Jahrzehnten eine rigidere Bevölkerungspolitik verfolgt. 1979, fast im selben Jahr, in dem Chinas Bevölkerung über die Milliardengrenze wuchs (1980), wurde eine Ein-Kind-Politik als Prinzip weitgehend durchgesetzt, und Verstöße dagegen wurden mit harten Sanktionen belegt. Für die ländliche Bevölkerung allerdings war diese Regel schwer zu akzeptieren, vor allem, wenn das erste Kind ein Mädchen war. Es kam zu Abtreibungen und Tötungen von Mädchen, mit der Folge, dass die Geschlechterproportion inzwischen bei etwa 120 Jungen zu 100 Mädchen 19 Eurostat-Daten. Vgl. Dorbritz (2005), Höhn et al. (2006: 19). 1.2 Trends gegen die Familie 23 liegt (normal wäre 106: 100). 20 Chinesische Demografen sprechen seit längerem von einer 4-2-1-Gesellschaft. Damit ist gemeint, dass es in der jüngeren Generation oft nur noch ein Kind gibt, das dann als Erwachsener nicht nur zwei Eltern versorgen oder pflegen muss, sondern auch noch vier Großeltern. Ein gravierendes Folgeproblem der Ein-Kind-Politik und dem mit ihr erzeugten Mädchenmangel ist nun eine Schieflage auf dem Heiratsmarkt. Es wird geschätzt, dass über 23 Millionen Männer, die nach 1980 geboren wurden, keine chinesische Ehefrau finden können. 21 Es wäre aber falsch, den Geburtenrückgang in China ausschließlich auf die Politik zurückzuführen. Zwar ist es richtig, dass in Ländern mit stark autoritativer Staatsführung die Fertilität leichter durch politische Maßnahmen zu beeinflussen ist als in den individualisierten, liberalen Gesellschaften des Westens. Das war in der Vergangenheit auch in der DDR oder in Rumänien zu sehen, etwa bei Änderungen der gesetzlichen Abtreibungsregelungen. Dennoch sind auch hier der Politik Grenzen gesetzt. Tatsächlich sank nämlich die chinesische Geburtenrate schon vor Einführung der Ein-Kind-Politik deutlich. Sie lag im Jahr 1963 noch bei 7,5 Kindern pro Frau und sank dann schnell auf 2,7 (im Jahr 1979). Seit Mitte der 1990er-Jahre lag die Geburtenrate relativ konstant knapp unter der Marke von zwei Kindern pro Frau. In städtischen Regionen war sie bereits in den 1970er-Jahren unter das Reproduktionsniveau gefallen. Die Kurve des Geburtenrückgangs zeigt in der Tat verblüffende Parallelen zum Westen, wo ebenfalls zwischen 1970 und 1975 der stärkste Rückgang zu verzeichnen war. Auch chinesische Wissenschaftler betonen, dass der Geburtenrückgang in China ohnehin eingesetzt hätte. Dennoch sei es richtig gewesen, diesen Prozess durch politische Steuerung zu beschleunigen. 22 1.3 Relativierung der Krisendiagnose Kommen wir zurück zur heimischen Debatte. Neben den deutlichen Veränderungen, die von manchen Beobachtern als Krise der Familie interpretiert werden, gibt es auch stabile Elemente. Und nicht alles, was sich seit den Sechzigerjahren geändert hat, verweist auf den Niedergang von Ehe und Familie. In diesem und dem folgenden Abschnitt werden einige Argumente vorgebracht, die die These vom 20 Gransow (2008). 21 BiB-Mitteilungen (26, 4/ 2005: 22). Peng (2008). 22 Peng (2008). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 24 Niedergang der Familie in Frage stellen. Dazu gehören nicht zuletzt auch Hinweise auf Fehlinterpretationen der Statistik (? 1.4). Außerdem ist es hilfreich, den Blick auf eine längere Zeitspanne zu richten. Langfristige Perspektive Ein erster Punkt, der die Krisendiagnose relativiert, bezieht sich auf die Perspektive des historischen Vergleichs. Wer die Situation in den 1970er-Jahren vor dem Hintergrund der 1950er-Jahre betrachtete, dem erschien der Wandel der Sechziger- und Siebzigerjahre als besonders heftig und »dramatisch«. Nimmt man jedoch nicht die Fünfzigerjahre als Vergleichsmaßstab, sondern geht historisch noch weiter zurück, zeigt sich ein ganz anderes Bild. Dann erscheinen nämlich die Fünfzigerjahre als eine historisch ungewöhnliche Blütezeit der Familie: Nie zuvor waren so viele Menschen verheiratet gewesen, schon lange hatte es nicht mehr so viele Geburten gegeben. Und dann erscheint auch der Baby-Boom der späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre als Besonderheit und Abweichung, nämlich als Unterbrechung eines langfristigen Abwärtstrends, der sich danach dann umso schneller fortsetzte. In mancherlei Hinsicht war die Situation der Siebzigerjahre historisch also nicht so einzigartig, wie sie den Zeitgenossen und einigen Interpreten erschien, es hatte auch in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts manche dieser Erscheinungen bereits gegeben, etwa eine hohe Kinderlosigkeit. Auch die heute relativ hohen Erwerbsquoten von Müttern gab es schon früher in der deutschen Geschichte. Mit dieser Perspektive wird auch deutlich, dass es einen langfristigen Geburtenrückgang gibt, der durch den Baby-Boom der 1950er-/ 1960er-Jahre nur unterbrochen wurde. Der Geburtenrückgang hat in Deutschland (und Europa) schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eingesetzt. 23 In Deutschland sank die durchschnittliche Kinderzahl der Frauen von etwa fünf Kindern in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf 3,9 Kinder für die Frauen der Geburtsjahrgänge um 1875 (also etwa für die Zeit um die Jahrhundertwende). Schon zehn Jahre später lag die durchschnittliche Kinderzahl nur noch bei 2,9, und fünf Jahre später bei 2,4. Die Frauen der Geburtsjahrgänge um die Jahrhundertwende, die überwiegend in den 1920er-Jahren Mütter wurden, erreichten gerade noch eine Geburtenrate von knapp über zwei Kindern, dann aber fiel sie unter das Reproduktionsniveau. 24 Eine Ausnahme von dieser Entwicklung bildeten die Frauen der Geburtsjahrgänge 23 Coale/ Watkins (1986), Burkart (1994: 195 ff.). 24 Schwarz (2005), Schwarz (2006: 289). 1.3 Relativierung der Krisendiagnose 25 der 1930er-Jahre, die wesentlich mit zum Baby-Boom der späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre beigetragen haben. Die Frauen der Geburtsjahrgänge 1936/ 40 erreichten eine durchschnittliche Kinderzahl von 2,2. Danach sank sie wieder deutlich unter das Reproduktionsniveau. Für die 1960 geborenen Frauen ist eine Kinderzahl von etwa 1,6 bis 1,7 zu erwarten, für die um 1970 Geborenen etwa 1,4. Der skizzierte Wandel mit dem starken Geburtenrückgang und dem Baby- Boom hatte sich mit einem ungewöhnlichen Tempo vor allem zwischen 1965 und 1975 vollzogen und erschien daher den Zeitgenossen als »dramatisch«. Das gilt auch für andere Entwicklungen, etwa den Anstieg der Scheidungszahlen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Ehe wieder geschieden würde, verdoppelte sich in kurzer Zeit, von etwa 16 Prozent (1970) auf 30 Prozent (1985). In den letzten beiden Jahrzehnten stieg die Kurve der Scheidungsrate zwar weiter an, aber deutlich langsamer. Vermeintliche Krisenindikatoren können auch anders interpretiert werden In den Achtzigerjahren stabilisierte sich die Situation, zumindest in einigen Bereichen (was oft unbemerkt blieb, da jetzt erst die Krisendiagnostik in voller Blüte stand). Es gab wieder etwas mehr Geburten, es wurde weiterhin geheiratet, wenn auch meist in späterem Alter als früher. (Man könnte hinzufügen: Immer mehr Leute heirateten sogar mehr als ein Mal in ihrem Leben.) Auch die Scheidungsquoten stabilisierten sich, wenn auch auf relativ hohem Niveau. 25 Manches, was unter dem Eindruck von drastischen Veränderungen der jährlichen Raten als Abkehr von Heirat und Familiengründung interpretiert worden war, entpuppte sich im Licht von genaueren Analysen (z. B. Kohortenanalysen) nun »lediglich« als biografischer Aufschub. Es wurde nicht unbedingt weniger geheiratet, aber später: Das durchschnittliche Heiratsalter der ledigen Männer stieg zwischen 1960 und 1990 von etwa 26 auf etwa 29 Jahre; bei den ledigen Frauen von etwa 24 auf etwa 27. 26 Inzwischen liegt es bei den Männern bei über 31 Jahren, bei den Frauen bei 25 Kohortenanalysen zeigten allerdings, dass die Aussage oder Prognose, die in den 1990er- Jahren kolportiert wurde - »Jede dritte Ehe in der Bundesrepublik wird wieder geschieden« - falsch oder zumindest verfrüht war. Kein Eheschließungsjahrgang erreichte damals einen Anteil geschiedener Ehen von mehr als 30 Prozent (Wagner 1997). 26 Auch hier zeigte eine langfristige Betrachtung, dass die 1950er bzw. frühen 1960er-Jahre eine besondere Situation darstellten, in der besonders früh geheiratet wurde. Die Männer 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 26 über 28 Jahren. Das ist eine deutliche Verschiebung, während der Rückgang der Heiratsquote insgesamt nicht so dramatisch ist. Auch das durchschnittliche Alter der Mütter bei der Geburt des ersten Kindes ist deutlich angestiegen: von knapp 25 Jahren im Jahr 1960 auf inzwischen über 29 Jahre (in Westdeutschland). 27 Weiterhin ist es ratsam, bei der Interpretation mancher dieser Entwicklungen vorsichtig zu sein, wie sich an drei Beispielen demonstrieren lässt. So ist der Rückgang der Geburtenraten keineswegs unmittelbar ein Beleg für den Niedergang der Familie oder für eine Abkehr von der Elternschaft. Er könnte sogar das Gegenteil bedeuten: Wenn zum Beispiel alle Frauen statt drei nur noch zwei Kinder bekämen, könnte dies als Hinweis für eine gesteigerte elterliche Verantwortlichkeit interpretiert werden: Zwei Kinder können besser betreut und verantwortungsvoller erzogen werden als drei oder vier. Ähnlich lässt sich auch mit den Scheidungsraten argumentieren, deren Steigerung zunächst fast immer als Zeichen dafür angesehen wurde, dass die Ehe an Wert verliert. Inzwischen ist es nicht mehr ungewöhnlich, genau anders herum zu argumentieren: Steigende Scheidungsraten verweisen auf eine zunehmende Wertigkeit der Institution Ehe, auf steigende Ansprüche. Im Gegensatz zu früher verbleibt man nicht mehr so leicht in einer »schlechten« Ehe. Auch der Eheaufschub könnte so interpretiert werden: Wenn die Ehe wichtiger ist, wenn die Ansprüche an die Qualität der Ehe steigen, wird länger gewartet und der Partner sorgfältiger ausgewählt. Mit diesen Hinweisen soll die Entwicklung nicht verharmlost werden. Zweifellos hat sich in den letzten vier Jahrzehnten im Zusammenleben der Menschen eine Menge geändert. Einige dieser Veränderungen dürften tiefgreifend und dauerhaft sein. Darauf kommen wir noch ausführlich zurück. Und manche Entwicklung der letzten Dekaden, die es in ähnlicher Form schon vor knapp 100 Jahren gab - etwa eine hohe Kinderlosigkeit oder ein hoher Anteil von Stieffamilien -, hat ganz andere Ursachen als damals. Die neue Kinderlosigkeit hat etwas mit der Emanzipation der Frauen und der Bildungsexpansion zu tun, die alte Kinderlosigkeit war eher auf ökonomische Probleme und Heiratshindernisse zurückzuführen. Frühere Stieffamilien waren eher die Folge des Todes eines Ehepartners, heute entstehen Stieffamilien eher als Folge einer Scheidung. und Frauen, die in Deutschland in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erstmals heirateten, waren im Durchschnitt ein bis zwei Jahre älter als jene, die um 1960 heirateten. Heute liegt allerdings das Erstheiratsalter deutlich höher als vor 100 Jahren. 27 Engstler/ Menning (2003: 77), Grünheid (2007). 1.3 Relativierung der Krisendiagnose 27 1.4 Tücken der Statistik Was sind nun die Gründe für diese Unklarheiten bei der Interpretation der Entwicklung von Ehe und Familie, die doch so gut dokumentiert ist wie kaum ein anderes Gebiet? Hat denn nun in den letzten Jahrzehnten eine Abkehr von Ehe und Familie stattgefunden oder nicht? Es ist nicht leicht, diese Frage klar und unmissverständlich zu beantworten. Das liegt daran, dass sie selbst keineswegs so eindeutig ist. Sie erweist sich als äußerst vielschichtig. Schon auf der definitorischen Ebene gibt es große Probleme, etwa bei der Abgrenzung von Haushalt und Familie oder bei der Frage, ob eine alleinerziehende Mutter mit ihrem Kind eine Familie bildet. Durch die Verwendung verschiedener Familienbegriffe kommen auch unterschiedliche Diagnosen zustande. Abgesehen davon aber beruht manche Aussage über die Entwicklung von Ehe und Familie auf Fehlinterpretationen statistischer Daten. Betrachten wir einige Beispiele. Der angebliche Minderheitenstatus der »Normalfamilie« Wie hoch ist der Anteil von Menschen, die (noch) in Familien leben? Immer wieder kann man in Medienberichten lesen, die »Normalfamilie« sei bereits in der Minderheit. Wenn sich solche Aussagen auf einen engen Begriff von Normalfamilie beziehen, sind sie nicht ganz abwegig - etwa, wenn man unter »Normalfamilie« die klassische Versorgungsehe meint, bei der die Ehefrau ganz auf Erwerbsarbeit verzichtet. Aber häufig beruhen solche Aussagen auf einer Fehlinterpretation statistisch-demografischer Daten. Statistiken über Haushaltsformen zeigen, dass die Kategorie »Ehepaare ohne Kinder« inzwischen einen relativ hohen Anteil ausmacht, sogar höher als die Kategorie »Ehepaare mit Kindern«. 28 2003 stieg der Anteil der Ehepaare ohne Kinder im Haushalt erstmals auch in Westdeutschland über den von Ehepaaren mit Kindern (in Ostdeutschland schon 1999). Nur noch etwa ein Viertel aller deutschen Haushalte ist ein Familienhaushalt (im Sinne von: Paare mit Kindern unter 18 Jahren im Haushalt). 29 28 Der Anteil von Familienhaushalten (Eltern-Kind-Haushalten) sank von knapp 40 Prozent 1972 auf 25 Prozent im Jahr 2005. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Einpersonenhaushalte von 26 Prozent auf 37 Prozent. 29 Engstler/ Menning (2003: 5). Bezogen auf Paar-Haushalte lauten die Werte für 2004: 46 Prozent aller zusammenlebenden Paare waren Ehepaare ohne Kinder im Haushalt, 43 Prozent waren Ehepaare mit Kindern, der Anteil von Lebensgemeinschaften ohne Kinder lag bei acht Prozent, mit Kindern bei drei Prozent (Statistisches Bundesamt 2005: 17). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 28 Das lässt auf den ersten Blick den Schluss zu, Familienhaushalte seien nur noch eine Minderheit, »Ehepaare ohne Kinder« sei die relativ häufigste Lebensform - und meist implizit, aber durchaus auch explizit wird suggeriert, es handle sich dabei um kinderlose Ehepaare. Aber das ist natürlich falsch. In der Haushaltsstatistik sind als »Ehepaare ohne Kinder« alle Ehepaare gezählt, bei denen aktuell keine Kinder im Haushalt wohnen. Und weil die Menschen immer länger leben, steigt der Anteil der älteren Ehepaare, deren Kinder längst den Haushalt verlassen und einen eigenen gegründet haben. In einer personenbezogenen Perspektive zeigt sich, dass die Mehrheit der Bevölkerung immer noch in Familienhaushalten mit Kindern leben. Ihr Anteil lag im Jahr 2005 - wenn auch bei rückläufiger Tendenz - bei 53 Prozent. 30 Die Rückläufigkeit hat mehrere Gründe. Neben dem Geburtenrückgang gehört auch die gestiegene Lebenserwartung dazu. Dies senkt den Anteil der Familienhaushalte und verkürzt die relative Lebenszeit, in der Personen in einem Familienhaushalt zusammenleben. Darüber hinaus zeigt die Haushaltsstatistik nur eine Momentaufnahme. Man müsste wissen, wie lange und in welchen Lebensphasen Menschen sich in dieser oder jener Lebensform befinden. Dafür gab es bis vor kurzem keine statistischen Daten, doch das Problem ist erkannt, und die Lebensverlaufsforschung beginnt, diese Lücken zu schließen. Wenn man die »Normalfamilie« als verheiratetes Paar mit mindestens zwei Kindern definiert, dann lebten 2005 noch 63 Prozent der deutschen Kinder in einer solchen Familie. 31 Im Übrigen liegt auch auf der Einstellungsebene in Deutschland die Zustimmung zur »Normalfamilie« höher als in vielen anderen europäischen Ländern. Nach OECD-Daten vertreten in Spanien und Deutschland über 50 Prozent, in Großbritannien dagegen etwa ein Drittel, in Schweden etwa ein Viertel die Meinung, es sei gut, wenn der Mann Vollzeit arbeitet und die Mutter nur Hausfrau sei. 32 Dies alles lässt sich so oder so interpretieren. Zweifellos geht der Anteil von Familienhaushalten zurück, das heißt jedoch nicht, dass der Anteil von Menschen zurückgeht, die als Familie leben. In den modernen Gesellschaften gilt das Prinzip der Neolokalität. Das heißt, wenn Kinder erwachsen werden und selbst eine neue Familie gründen, verlassen sie das Elternhaus. Heute ist von »multilokaler Mehrgenerationenfamilie« die Rede, um zu verdeutlichen, dass Familien auch dann noch Familien sind, wenn sie in verschiedenen Haushalten leben (von denen der Haushalt der Großeltern dann zwangsläufig ein »kinderloser« Haushalt ist). 30 Engstler/ Menning (2003). Statistisches Bundesamt (2006: 27). 31 Statistisches Bundesamt (2006: 50). 32 OECD (2005). 1.4 Tücken der Statistik 29 Mythos Single Betrachten wir als Nächstes den oft konstatierten Vormarsch alternativer Lebensformen. Alleinleben, »living apart together« und nichteheliche Lebensgemeinschaften, so die These, lösen allmählich die Familie ab. Wie sieht es damit aus? Zunächst zu den »Singles«. Immer wieder wurde in den letzten Jahrzehnten die Abkehr von der Familie mit dem wachsenden Anteil von Alleinlebenden begründet. Die Vertreter der »Singularisierungs-These« berufen sich meist auf die Zunahme der Einpersonenhaushalte in der Haushaltsstatistik. 33 In der journalistischen Berichterstattung konnte man schon in den 1990er-Jahren häufiger lesen, dass in bestimmten Großstädten »schon jeder Zweite ein Single« sei. Diese Aussage ist grob falsch, ganz egal, wie man »Single« definiert. Tatsächlich ist in einigen deutschen Großstädten der Anteil der Einpersonenhaushalte an allen Haushalten auf über 50 Prozent gestiegen. Und in Deutschland insgesamt liegt er bei über einem Drittel (etwa 37 Prozent). Doch dieser Anteil ist natürlich kein brauchbarer Indikator, wenn man etwas über »Singles« aussagen will, allein schon aus logischmathematischen Gründen: Wenn die Hälfte aller Haushalte Einpersonenhaushalte sind, dann leben in der anderen Hälfte zwei, drei oder mehr Personen, und der Anteil der allein lebenden Personen sinkt entsprechend. Man muss also vom Anteil der Personen ausgehen, die alleine leben. Das waren im Jahr 2005 etwa 17 Prozent. 34 Nun gehört aber ein erheblicher Teil dieser Personen zu den höheren Altersgruppen, und das gilt besonders für Frauen: Das Durchschnittsalter der allein lebenden Frauen lag 2005 bei ca. 60 Jahren. Etwa die Hälfte der Frauen im Alter von 70 bis 75 Jahren lebt alleine, bei den 75bis 80-Jährigen sind es zwei Drittel, und bei den über 80-jährigen Frauen leben über 80 Prozent alleine. Der Grund dafür ist in der Mehrzahl der Fälle die Verwitwung, da die Frauen eine deutlich höhere Lebenserwartung haben als die Männer, und die Ehefrauen in der Regel einige Jahre jünger sind als ihre Partner. Fast die Hälfte der allein lebenden Frauen in Deutschland sind Witwen. 35 33 Das Statistische Bundesamt hat inzwischen das Konzept der Lebensformen in den Mikrozensus aufgenommen, so dass auch die amtliche Statistik in Zukunft bessere Möglichkeiten hat, Lebensformen von Haushaltsformen zu unterscheiden. 34 53 Prozent der Bevölkerung lebten in Eltern-Kind-Gemeinschaften, 28 Prozent in Paargemeinschaften ohne Kinder, zwei Prozent in Mehrpersonenhaushalten ohne eigene Kinder und ohne Lebenspartner (Statistisches Bundesamt 2005: 15). 35 Statistisches Bundesamt (2006: 38 f.), Engstler/ Menning (2003: 226). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 30 Abbildung 1.4: Alleinlebende nach Alter 0 10 20 30 40 50 60 18-24 25-29 30-34 35-44 45-54 Altersgruppen 55-64 65-74 75-70 80 und mehr Prozent ledig nicht mehr ledig 0 10 20 30 40 50 60 unter 20 20-24 25-29 30-34 35-44 45-54 55-64 65-69 70-74 75 und mehr Altersgruppen in % der gleichaltrigen Bevölkerung Anteile von Alleinlebenden für verschiedene Altersgruppen, Deutschland, 2005. Quelle: Statistisches Bundesamt (2006: 39). Mikrozensusdaten. 1.4 Tücken der Statistik 31 Daher lässt sich über die Zahl und den Anteil von »Singles«, wie diese Lebensweise in der Öffentlichkeit unter Stichworten wie »Abkehr von der Familie« und »Selbstverwirklichung« diskutiert wird, nur dann etwas Sinnvolles aussagen, wenn man die älteren Personen herausrechnet. Das heißt nicht, dass es kein Problem wäre, wenn so viele alte Menschen allein leben. Nur ist es eine andere Problematik als jene, die mit dem Stichwort »Singles« meist gemeint ist. Konzentriert man sich auf die mittleren Altersgruppen, dann zeigt sich, dass in der Altersgruppe der 25bis 35-Jährigen im Jahr 2005 immerhin etwa 28 Prozent der Männer und 18 Prozent der Frauen allein in ihrer Wohnung lebten. Bei den 35bis 45-Jährigen waren es immer noch 21 bzw. zehn Prozent. 36 Das ist, verglichen mit dem goldenen Zeitalter der Familie, nicht wenig, und in den letzten Jahrzehnten ist eine deutliche Steigerung festzustellen. Für manche Beobachter ist diese Quote hoch genug, um das Single-Zeitalter auszurufen. Allerdings haben wir es hier immer noch mit der Haushaltsstatistik zu tun. Diese Daten sagen nichts darüber aus, ob es sich dabei um »Singles« handelt, die nicht in einer festen Partnerschaft leben, oder um Alleinlebende mit einem festen Partner, mit dem sie aber nicht zusammenleben (»living apart together«). Wenn man eine sehr enge Single-Definition wählt und damit die »freiwillig gewählte, auf Dauer angelegte Lebensform« des Alleinseins meint, fällt der Anteil von Singles an der Gesamtbevölkerung auf unter ein Prozent. 37 Es bleibt aber festzuhalten: Die Zahl der unverheirateten Alleinlebenden steigt weiter an. Auch in der Altersgruppe 45-55 liegen ihre Anteile inzwischen bei 14 bzw. zwölf Prozent (Männer/ Frauen). 1.5 Konkurrierende Werte und alternative Lebensformen Andere Paar-, Familien- und Lebensformen Während der Einschätzung des Anteils von »Normalfamilien« sowie von »Singles« in der Öffentlichkeit also manchmal Fehlinterpretationen der Haushaltsstatistik zugrunde liegen, wird der aktuelle Anteil von »alternativen« Lebens- und Famili- 36 Grünheid (2006: 79). 37 Hradil (2003), Peuckert (2004: 70), Peuckert (2008: 53 f.). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 32 enformen in der Öffentlichkeit gelegentlich überschätzt, weil der Anstieg in den letzten Jahrzehnten so markant war. Das gilt zunächst für die nichtehelichen Lebensgemeinschaften, also unverheiratet zusammenlebende Paare. Ihre Zahl stieg in Westdeutschland von etwa 100.000 im Jahr 1970 über etwa eine Million im Jahr 1990 auf nunmehr knapp zwei Millionen, in Ostdeutschland liegt sie bei etwa 600.000. 38 Das Statistische Bundesamt gibt für 2005 eine Gesamtzahl von 2,4 Millionen nichtehelichen Lebensgemeinschaften an. Das bedeutet gegenüber 1996 eine Steigerung um rund ein Drittel. 39 Der Anteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften an allen Paaren stieg damit auf etwa zwölf Prozent, 88 Prozent aller Paare waren auch 2005 verheiratet. 40 Der Anteil der Frauen, die unverheiratet mit einem Partner zusammenleben, stieg in der Altersgruppe der 18bis 35-Jährigen von weniger als einem Prozent auf etwa 15 Prozent (zwischen 1970 und 2005). Das ist ein gewaltiger Zuwachs im historischen Vergleich; aber gemessen an der Diskussion über den Zerfall der Ehe erscheint der Anteilswert doch immer noch erstaunlich niedrig. Und in der Altersgruppe 35-55 lag der Anteil der in nichtehelichen Gemeinschaften lebenden Frauen bei etwa sieben Prozent. Dennoch gilt auch hier: Die Zahl der Ledigen und die Ledigenquote steigen weiter an. 41 Die Mehrheit der Paare, die Kinder bekommen, heiratet immer noch, besonders in Westdeutschland. Betrachtet man alle »Familien« (im Sinne von: zusammenlebende Elternpaare oder Alleinerziehende mit Kindern unter 18 Jahren), dann ergibt sich für das Jahr 2005 folgende Verteilung: 73 Prozent Ehepaare, sechs Prozent nichteheliche Lebensgemeinschaften, 21 Prozent Alleinerziehende. 42 Dabei hatten die Ehepaare mehrheitlich zwei oder drei Kinder, die anderen Fami- 38 Grünheid (2006: 92). 39 Statistisches Bundesamt (2006: 30). 40 Statistisches Bundesamt (2006: 28). 41 Im Jahr 2000 waren etwa 18 Prozent der Männer und elf Prozent der Frauen der Altersgruppe 40-44 ledig. Man vermutet, dass vom Geburtsjahrgang 1960 im früheren Bundesgebiet 30 Prozent der Männer nie heiraten werden (bei den ostdeutschen Frauen wird mit zehn Prozent gerechnet) (Engstler/ Menning 2003). 42 Statistisches Bundesamt (2006: 43). Das entspricht einem Anteil der Alleinerziehenden von etwa zwei bis drei Prozent an allen Haushalten. Gegenüber 1996 ging der Anteil der Ehepaare an den Eltern-Kind-Gemeinschaften um fünf Prozentpunkte zurück. Der entsprechende Anteil von Alleinerziehenden-Haushalten liegt in den europäischen Staaten zwischen ein und fünf Prozent. 1.5 Konkurrierende Werte und alternative Lebensformen 33 lienformen mehrheitlich ein Kind. 81 Prozent der Kinder lebten bei einem verheirateten Paar, der Großteil von ihnen bei seinen eigenen beiden Eltern. 43 Der Anteil von Stieffamilien lässt sich aus der amtlichen Statistik nicht genau ermitteln. Nach Schätzungen aus verschiedenen Studien liegt ihr Anteil bei etwa sieben Prozent aller Familien (mit Kindern unter 18 Jahren). Aus der Sicht der Kinder leben fünf bis sechs Prozent aller Kinder in Deutschland in Stieffamilien. 44 Zugenommen hat wahrscheinlich auch die Zahl der Paare, die keine gemeinsame Wohnung beziehen, sondern getrennt leben (»living apart together«). Doch fehlen dazu gesicherte Daten. 45 Es gibt unterschiedliche Gründe für diese Lebensweise und entsprechend auch unterschiedliche Formen. Die Varianten reichen von hoch-individualisierten Paaren, die in der selben Stadt zwei getrennte Wohnungen haben, weil sie ihre jeweilige Autonomie nicht aufgeben wollen, bis zu den Berufspendlern, die sich nur am Wochenende sehen können. Diese Form von Beziehungsmobilität hat zugenommen. 46 Übergangsphasen im Lebenslauf Eine der am häufigsten verwendeten Formeln für den familialen Wandel und die relative Abkehr von der klassischen Normalfamilie ist die »Pluralisierung der Lebensformen«. Darauf konnten sich auch jene Kritiker festlegen, für die die Diagnose »Individualisierung« zu unklar war. Richtig an der Formel ist, dass es bei jungen Erwachsenen heute eine größere Vielfalt an Lebensformen gibt, und dass diese auch legitim sind. Dennoch ist die Formel zu undifferenziert. Die nichtehelichen Lebensformen sind keine »neuen Lebensformen« im Sinne einer dauerhaften Alternative zur herkömmlichen Ehe und Familie. Alleinleben und nichteheliches Zusammenleben haben aber als Übergangsphase im Lebensverlauf stark an Bedeutung gewonnen. Sie sind somit eine »Alternative« zu Ehe und Familie in bestimmten Lebensphasen, insbesondere in der Phase zwischen dem Verlassen des Elternhauses und der Gründung eines eigenen Familien- oder Ehehaushaltes. Sie sind, so gesehen, Alternativen zur Frühehe. Immer mehr Menschen leben irgendwann in ihrem Leben vorübergehend allein oder in anderen nichtfamilialen 43 Statistisches Bundesamt (2006: 50). 44 Bien et al. (2002). 45 Aus verschiedenen Untersuchungen lässt sich ein Anteil von vier bis acht Prozent aller Paare in den mittleren Altersgruppen abschätzen, die getrennte Haushalte führen. Doch die Dauer dieser Lebensform ist dabei nicht erfasst (Peuckert 2004: 100). 46 Schneider et al. (2002), Limmer (2005). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 34 Lebensformen - nach dem Auszug aus dem Elternhaus; nach einer Scheidung oder Trennung; nach dem Tod des Partners. Aussagekräftiger als der Anteil der Alleinlebenden zu einem bestimmten Stichtag wäre also die biografische Dauer: Darüber aber sagt die Haushaltsstatistik nichts. Was wir immerhin aus der Statistik wissen, ist das erstaunliche Faktum, dass die Ehedauer zugenommen hat. Die durchschnittliche Ehedauer lag im Jahr 2004 mit 26,8 Jahren um 2,9 Jahre höher als 1991. 47 Das überrascht, wenn man an den Aufschub der Eheschließung und den Anstieg der Scheidungsquote denkt. Die Erklärung ist auch hier in der erhöhten Lebenserwartung zu suchen. Immerhin könnte der Eindruck entstehen, Ehe und Familie seien zumindest bei den jungen Erwachsenen bereits zur Lebensform einer Minderheit geworden. Vergleicht man aber die Anteile von nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit denen von verheirateten Paaren in verschiedenen Altersgruppen, dann findet man selbst unter den jungen Erwachsenen bereits mehr verheiratet zusammenlebende als nichteheliche Paare. Ehe und Familie werden in den späten Jugend- und frühen Erwachsenenjahren nicht durch Alleinleben oder nichteheliche Lebensgemeinschaft übertroffen: Diese Formen liegen bei etwa 15 Prozent. Die wichtigste Lebensform in dieser Altersgruppe ist, noch ledig bei den Eltern oder einem Elternteil zu wohnen. Nur in der Altersgruppe zwischen 25 und 30 Jahren liegt statistisch gesehen der Tatbestand vor, der mit »Pluralisierung der Lebensformen« angesprochen ist: Die verschiedenen Lebensformen (bei den Eltern leben; allein leben; unverheiratet zusammenleben; verheiratet; mit Kindern; in einer Wohngemeinschaft) sind in dieser Altersgruppe etwa gleich stark besetzt bzw. kommen jedenfalls in nennenswertem Umfang vor. Bei den jüngeren Gruppen (bis 25) dominiert dagegen das Leben in der Herkunftsfamilie, bei den Älteren (ab 30) dominiert das Leben in der selbst gegründeten Familie. 48 (Abb. 1.5) Im Jahr 2000 waren nach Auswertungen des DJI-Familiensurvey in der Altersgruppe der 30bis 35-Jährigen knapp 30 Prozent der Befragten unverheiratet (allein oder mit Partner), aber über 70 Prozent der Befragten bereits verheiratet. Bei den 40bis 45-Jährigen lag der Anteil der Unverheirateten unter 20 Prozent, bei den 50bis 55-Jährigen unter 10 Prozent. 49 47 Statistisches Bundesamt (2005: 18). 48 Diewald/ Wehner (1995); Statistisches Bundesamt (2004: Tabelle A1-4). 49 Matthias-Bleck (2006: 152). 1.5 Konkurrierende Werte und alternative Lebensformen 35 Abbildung 1.5: Lebensformen im Lebensverlauf 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 18-24 25-29 30-34 35-44 45-54 Altersgruppen 55-64 65-74 75-79 80 und mehr Prozent NEL verheiratet alleinlebend im Elternhaus Anteile von Lebensformen (Alleinleben, nichteheliche Lebensgemeinschaft, Ehe, Familie) im Lebensverlauf Quelle: Statistisches Bundesamt (2004: Tabelle A1-4). Eigene Darstellung. Die je nach Standpunkt geteilte Befürchtung oder Hoffnung, dass die Menschen sich massenhaft von Ehe und Familie abwenden, hat sich nicht bestätigt. Aber die Familien verändern ihr Gesicht: Sie werden biografisch später gegründet; sie werden häufiger wieder aufgelöst; und sie sind kleiner geworden: Für alle Geburtskohorten seit 1935 ist der Anteil der Frauen mit drei oder mehr Kindern kontinuierlich von Jahrgang zu Jahrgang gesunken, von etwa 35 auf etwa 15 Prozent beim Jahrgang 1960. Familien mit mehr als vier Personen sind selten geworden (Abb. 1.6). 50 Das hängt auch mit der späten Familiengründung zusammen: Die meisten Kinder werden heute von Frauen im Alter zwischen 27 und 31 Jahren geboren. Die Zahl der Kinder, deren Mütter bei der Geburt über 35 Jahre alt sind, steigt weiter. Und schließlich sind bei Scheidungen immer häufiger auch kleinere 50 Mit dem Geburtsjahrgang der Frauen von 1935 setzte der Geburtenrückgang ein, der seit 1965 bemerkbar wurde. Dieser setzt sich vor allem aus zwei Komponenten zusammen: Anstieg der Kinderlosen und starker Rückgang des Anteils von Frauen, die drei oder mehr Kinder bekamen. 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 36 Kinder betroffen. 170.000 Kinder in Deutschland erlebten im Jahr 2004 die Scheidung ihrer Eltern. 51 Vor allem die wachsende Kinderlosigkeit gilt als ernsthafter Indikator für eine stärkere Abwendung von der Familie überhaupt. Der Anteil der kinderlos bleibenden Frauen erhöhte sich - in Westdeutschland - von etwa zehn Prozent beim Geburtsjahrgang 1940 auf etwa 20 Prozent beim Jahrgang 1955. Der Anteil könnte beim Geburtsjahrgang 1970 auf ein Drittel steigen. 52 Der Geburtenrück- Abbildung 1.6: Kinderzahl 0 5 10 15 20 25 30 35 40 1935 1940 1945 1950 1955 kinderlos 1 2 3+ Kinderzahl (Paritäten) von Frauen in Deutschland, Geburtsjahrgänge 1935 bis 1958. Quelle: Statistisches Bundesamt. Eigene Darstellung. 51 Grünheid (2006: 34). 52 Kohortendaten des Instituts der deutschen Wirtschaft (Köln) weisen für die Geburtsjahrgänge 1936 bis 1941 14 Prozent Kinderlosigkeit aus, für die Geburtsjahrgänge 1946 bis 1951 15,5 Prozent und für die Geburtsjahrgänge 1956 bis 1961 20,8 Prozent (iwd 32/ 2004: 5). 1.5 Konkurrierende Werte und alternative Lebensformen 37 gang als solcher führt noch nicht notwendigerweise zu einem Bedeutungsverlust der Familie. Solange die Familien lediglich kleiner werden, könnte sogar das Gegenteil der Fall sein. Das ist anders im Fall von dauerhafter, »freiwilliger« Kinderlosigkeit. Familie als Lebenswert Was bedeutet »Familie« noch für die Menschen? Eine Zeitlang gehörte es in den Medien gewissermaßen zum guten Ton, Ehe und Familie mit Geringschätzung zu belegen, während »abweichenden« Lebensformen, besonders solchen mit großem Unterhaltungswert, ausgiebige Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Auf der anderen Seite ist seit Jahrzehnten eine fast ungebrochene Zustimmung zu Ehe und Familie als Grundwerte eines guten Lebens festzustellen, wenn wir der empirischen Sozialforschung und der Demoskopie glauben. In vielen Umfragen erreicht die Zustimmung zu Ehe und Familie - etwa wenn man fragt: »Was ist für Sie im Leben ganz wichtig? « oder: »Wie wichtig sind Ihnen eigene Familie und Kinder« - Werte über 80 Prozent. 53 Insgesamt besteht kein Zweifel, dass auf der Alltagsebene Ehe und Familie von einer breiten Mehrheit weiterhin geschätzt werden. Viele sehen für sich selbst die Ehe immer noch als selbstverständlich an - ohne deswegen aber darin eine für andere verbindliche Norm zu sehen: Im Zuge einer allgemeinen »kulturellen Liberalisierung« ist die Toleranz gegenüber den Abweichungen von der Normal-Lebensform gestiegen. 54 Man könnte auch sagen: Ehe und Familie werden nicht mehr ideologisch verteidigt, aber weiterhin praktisch bevorzugt. In letzter Zeit gibt es sogar in bestimmten Mediensparten auch wieder einen verstärkten ideologischen Rückgriff auf Modelle einer heilen Familienwelt. Wenn auch nicht substanziell geschwächt, so hat der Lebenswert »Familie« zumindest Konkurrenz bekommen. Es gibt zunehmend rivalisierende Werte, vor allem aus zwei Richtungen: Zum einen hat der wachsende Wohlstand immer mehr Freizeit, immer mehr Möglichkeiten der konsumorientierten »Selbstverwirklichung« mit sich gebracht; immer mehr Möglichkeiten mehr oder weniger sinnvoller Lebensgestaltung außerhalb der Familie (und außerhalb des Berufes). Zum Zweiten hat die Familie dadurch Konkurrenz bekommen, dass sie nun auch 53 Gille et al. (2006). Trend- und Freizeitforscher« glauben sogar, in den letzten Jahren eine Trendwende bei jungen Erwachsenen ausgemacht zu haben: Nach der »Spaßgesellschaft« stünden Ehe und Familie wieder hoch im Kurs (Opaschowski 2004). 54 Kaufmann (1988). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 38 für die Frauen immer häufiger mit dem Beruf konfligiert. Besser gesagt: Der Beruf tritt als »Generator« für Lebenssinn auch für Frauen zunehmend gleichberechtigt neben die Familie. Strukturwandel der Geburtenentwicklung und der Elternschaft Für die Beantwortung der Frage nach der weiteren Entwicklung von Ehe und Familie, insbesondere der Frage, was sich langfristig und dauerhaft (irreversibel) verändert, hängt stark von der Geburtenentwicklung ab. Deshalb fassen wir die wichtigsten Trends noch einmal in zehn Punkten zusammen. 1. Vom Baby-Boom zum Geburtenrückgang. Seit Mitte der 1960er-Jahre ist in den meisten Ländern der westlichen Welt ein Rückgang der Geburten zu verzeichnen, nachdem es in der Nachkriegszeit zu einem vorübergehenden Anstieg der jährlichen Geburtenzahlen gekommen war. 2. Säkularer Geburtenrückgang. Langfristig gesehen war der Baby-Boom nur eine vorübergehende Unterbrechung eines langfristigen Geburtenrückgangs, der sich durch das 20. Jahrhundert zieht (deshalb »säkular«, von lat. saeculum = Jahrhundert). 3. Aufschub der Elternschaft. Der Geburtenrückgang in der Zeit zwischen 1965 und 1975 wurde zusätzlich verstärkt durch einen biografischen Aufschub der Erstgeburt bei vielen Frauen, besonders jenen, die in dieser Zeit in das höhere Bildungssystem strömten. 4. Anstieg der Kinderlosigkeit. Neben dem Rückgang großer Kinderzahlen (immer seltener bekommen Frauen mehr als zwei Kinder) ist besonders für die deutsche Entwicklung auch ein wachsender Anteil an kinderlos bleibenden Frauen und Männern bemerkenswert. 5. Damit verbunden ist eine Polarisierung zwischen jenen, die Kinder bekamen (in der Regel zwei Kinder) und jenen, die kinderlos bleiben. 6. Kindorientierte Eheschließung. Als eine (west-) deutsche Besonderheit wird angesehen, dass Paare bevorzugt dann heiraten, wenn ein Kind geplant oder schon unterwegs ist. 7. Anstieg der nichtehelichen Geburten. Zwar ist in Westdeutschland der Anteil der nichtehelichen Geburten immer noch gering, verglichen etwa mit skandinavischen Ländern, aber auch mit den neuen Bundesländern, doch stieg er in den letzten Jahrzehnten deutlich an. 8. Zunahme von Alleinerziehenden. Der Anstieg der Zahl von Ein-Eltern-Familien - überwiegend alleinerziehende Mütter - geht zum Teil zurück auf die gestiegenen Scheidungszahlen, zum Teil auf einen Anstieg von Geburten bei 1.5 Konkurrierende Werte und alternative Lebensformen 39 Frauen ohne feste Partnerschaft. Man spricht deshalb manchmal von »neuer Matrilinearität« und allgemein von »individualisierter Elternschaft«. 9. Entkoppelung von Sexualität, Zusammenleben, Ehe und Elternschaft. Zu bestimmten Zeiten war weder voreheliche Sexualität noch nichteheliches Zusammenleben in größerem Umfang möglich, die vier Verhaltensformen fielen weitgehend zusammen. Dies hat sich seit den 1970er-Jahren grundlegend gewandelt. 10. Trennung von biologischer und sozialer Elternschaft. Schon immer gab es - durch Adoption - die Möglichkeit, dass die biologischen Eltern nicht mit den sozialen Eltern identisch waren. Diese Möglichkeit wurde in den letzten Jahrzehnten auch durch neue medizinische Techniken (künstliche Befruchtung mit anonymem Spendersamen, »Leihmutterschaft«) ergänzt. 1.6 Strukturelle und kulturelle Hintergründe - Wertewandel und Bildungsexpansion Die Erklärung solch komplexer Entwicklungen ist nicht einfach. Es können eine Fülle von Gründen zusammenkommen, kurzfristige und langfristige, individuelle und strukturelle. Die Entwicklung von Lebensformen hängt mit ökonomischen und rechtlichen, sozialen und kulturellen Faktoren zusammen, und manchmal ist es nicht leicht, eindeutige Erklärungen zu bekommen. Am einfachsten wäre es, wenn es einen speziellen Faktor für eine Veränderung gäbe. Ein solch einfacher Erklärungsversuch speziell für den Geburtenrückgang war zum Beispiel mit dem Schlagwort vom »Pillenknick« verbunden, das eine Zeit lang sehr populär war. Demnach wäre in den Kurven der Geburtenentwicklung ein »Knick« zu sehen, der auf die Einführung der »Pille« - wie der wirksame Ovulationshemmer bald genannt wurde - im Jahr 1962 folgte. Dass man einen solchen Knick in der Kurve nicht eindeutig identifizieren kann, muss nicht bedeuten, dass die Pille keinen Einfluss auf den Geburtenrückgang gehabt hätte. Es ist aber methodisch schwierig, einen solchen Einfluss zu isolieren und von anderen Faktoren zu trennen. Zunächst lässt sich ein einfacher Strukturfaktor identifizieren, der mit zum Geburtenrückgang beigetragen hat. Gemeint ist - und das klingt zunächst paradox - der Baby-Boom seit Ende der 1950er-Jahre, der in Deutschland 1964 seinen Höhepunkt erreichte. Er war aus zwei Besonderheiten zusammengesetzt, die nur eine Zeitlang wirksam waren. Zum einen wurden nun Geburten nachgeholt, die während der Kriegsjahre und der unmittelbaren Nachkriegszeit aus naheliegenden 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 40 Gründen aufgeschoben worden waren. Zum Zweiten bekamen mit dem aufblühenden »Wirtschaftswunder« und dem aufkommenden Familismus zunehmend jüngere Frauen ihr erstes Kind. Der Baby-Boom setzte sich also zusammen aus nachgeholten Geburten älterer Frauen und vorgezogenen Erstgeburten jüngerer Frauen. Diese Entwicklung war dann Mitte der 1960er-Jahre weitgehend abgeschlossen, so dass der Rückgang danach besonders deutlich ausfiel. 55 In langfristiger Perspektive lassen sich drei allgemeine Faktoren des Geburtenrückgangs nennen: Zunächst haben die allgemeine Wohlfahrtssteigerung, der Strukturwandel von der Agrarzur Industriegesellschaft und die Einführung einer staatlichen Altersversorgung dafür gesorgt, dass für die einzelnen Familien eigene Kinder nicht mehr »nötig« waren, weder für die Altersversorgung noch als Arbeitskräfte. Diese Entwicklung setzte bereits im 19. Jahrhundert ein. Ein zweiter allgemeiner Grund ist die Individualisierung, die dem Einzelnen einen höheren Wert zuschreibt, und damit auch der Persönlichkeit des einzelnen Kindes. Die moderne Familie hat deshalb das Ideal der Zwei-Kind-Familie - ein Mädchen, ein Junge - entwickelt. Mehr als zwei Kinder großzuziehen erscheint angesichts der hohen Erziehungs- und Versorgungsansprüche oft schon als Überforderung. Auch diese Entwicklung reicht länger zurück, hat sich aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkt. Der dritte allgemeine Grund ist in der Emanzipation der Frauen und den kulturellen Umwälzungen seit den 1960er-Jahren zu sehen. Kulturelle Faktoren wirken meist langfristig, das heißt, die Veränderung von Werten braucht normalerweise längere Zeit. 56 Allerdings gibt es manchmal auch schnelle Umbrüche im Wertesystem, wie in den 1960er-Jahren. Nicht umsonst war damals bald von einer »Kulturrevolution« in der westlichen Welt die Rede. Eine Reihe von sozialen Bewegungen - die Studentenbewegung, die Frauenbewegung, die Alternativbewegungen - erreichte in kurzer Zeit einen grundlegenden Wertewandel. In diesen Bewegungen war überall eine deutliche Abkehr von traditionellen Werten, gerade auch in Bezug auf Ehe und Familie, zu spüren. Da gleichzeitig der Geburtenrückgang einsetzte, konnte der Eindruck entstehen, die ideologische Front gegen die »bürgerliche« Ehe und Familie hätte Wirkung in der demografischen Entwicklung gezeigt. Mit dieser »Kulturrevolution« lässt sich zumindest das hohe Tempo des Wandels erklären, das in den Jahren zwischen 1965 und 1975 zu beobachten war. Das 55 Solche Veränderungen wie Baby-Boom und anschließender Geburtenrückgang sind bei Periodendaten immer stärker sichtbar als bei Kohortendaten (vgl. dazu genauer Kapitel 2). 56 Mit »Kultur« bzw. »kulturell« ist im Anschluss an Parsons das Wertesystem einer Gesellschaft gemeint. 1.6 Strukturelle und kulturelle Hintergründe - Wertewandel und Bildungsexpansion 41 wird noch deutlicher, wenn man den Generationswechsel in Betracht zieht. 57 Die Mitglieder der Geburtsjahrgänge etwa um 1930-1935 kamen in den Fünfzigerjahren ins »heiratsfähige Alter«, nach einer durch Faschismus und Krieg gründlich verdorbenen Kindheits- und Jugendphase. Sie waren bei Kriegsende 10 bis 15 Jahre alt und heirateten überwiegend in den 1950er-Jahren. Oftmals konnten sie wegen der Kriegsjahre und den Schwierigkeiten der ersten Nachkriegsjahre erst mit Verzögerung Familien gründen. Folgerichtig wurden sie denn auch zu den Müttern und Vätern des Baby-Booms. Von dieser Generation konnte man nicht unbedingt erwarten, dass sie neue Werte durchsetzte. In Bezug auf Demokratisierung, Liberalisierung und Modernisierung auch des Privatlebens kam es gewissermaßen zu einem »Reformstau«. Der Prozess der Veränderung, der dadurch aufgehalten worden war, wurde dann, durch die Nachfolge-Generation, die »Achtundsechziger«, umso heftiger in Gang gesetzt. Ab Mitte der Sechzigerjahre kam diese Generation - die Geburtsjahrgänge aus den Kriegs- und frühen Nachkriegsjahren - ins Erwachsenenalter, aber sie engagierten sich zunächst für ganz andere Ziele und Werte als ihre Eltern und propagierten ideologisch eine Abkehr von Ehe und Familie. Die Geschwindigkeit des Wandels seit den 1960er-Jahren lässt sich also damit erklären, dass einige der allgemeinen Faktoren des demografischen Wandels in einer Generation zusammentrafen: die Erfindung der »Pille«, ein bestimmtes Maß an Wohlstand und Bildungsniveau, die grundsätzliche Diskussion um familiale Werte und außereheliche Sexualität, die rechtlichen Veränderungen hinsichtlich Abtreibung, Scheidung, Kuppelei, Volljährigkeit und so weiter. Mit der Studenten-, Alternativ- und Frauenbewegung der Sechzigerjahre wurde ein grundlegender Wandel der Haltungen zu Fragen von Sexualität, Partnerschaft und Ehe eingeleitet. Im Erfolg dieser sozialen Bewegungen lag einer der wesentlichen Gründe für das rasche Aufkommen von Wohngemeinschaften und nichtehelichen Lebensgemeinschaften sowie den biografischen Aufschub der Heirat, der zunächst als totale Abkehr von der Ehe erschien, weil die Ideologie so lautstark gewesen war. 58 Mit dem Wertewandel, den diese Generation erst einmal für sich durchsetzte, verschwanden rasch zwei traditionelle Eheschließungsgründe: Sowohl das Bedürfnis nach sexuellen Beziehungen als auch der Wunsch, das Elternhaus zu verlassen, 57 Zum Begriff der Generation - auch in Abgrenzung zu Geburtskohorte - vgl. Kapitel 2.1 sowie 7.1. 58 In den 1960er und 70er-Jahren gab es eine Fülle von Büchern gegen Ehe und Familie, die als »bürgerliches Gefängnis« oder Ähnliches bezeichnet wurden. 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 42 konnten jetzt problemlos außerhalb der Ehe (im Rückblick lässt sich eher sagen: vor der Ehe) befriedigt werden. Die Bedeutung der Bildungsexpansion Das gilt vor allem für jene in dieser Generation, die von der einsetzenden Bildungsexpansion profitieren konnten. Der wachsende Zustrom junger Menschen ins höhere Bildungssystem war eine wesentliche strukturelle Ursache für den biografischen Aufschub von Eheschließung und Familiengründung. 59 Dazu kommt, dass sich im Zuge der Bildungsexpansion die Stellung der Frau und das Verhältnis der Geschlechter veränderten. Die Forschungen über den historischen Geburtenrückgang in unserem Kulturkreis lassen sich ebenso wie die Forschungen über die Geburtenentwicklung in der Dritten Welt alle auf einen Nenner bringen: Je höher das Bildungsniveau der Frauen, desto schwächer die traditionelle Geschlechtsrollendefinition, desto geringer die Kinderzahl, desto geringer die Bedeutung von Familie, zumindest in ihrer patriarchalen Form. 60 Die Studierendenzahlen in Deutschland (West) kletterten von etwa 300.000 im Jahre 1960 auf etwa 1,5 Millionen 1990. Die Abiturienten- und die Studierendenquoten verdoppelten sich schon im Lauf der 1960er-Jahre von sechs auf zwölf Prozent. 61 Während die Abiturientenquote danach weiter anstieg (eine erneute Verdopplung zwischen 1970 und 1985), ging die Studierendenquote zunächst nur noch langsam nach oben, seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre dann wieder stärker. Zwischen 1990 und 2000 stieg die Studierendenquote von 20 auf 24 Prozent an. Wichtiger in struktureller Hinsicht war der wachsende Anteil der Frauen im höheren Bildungssystem, besonders deutlich in den 1970er-Jahren. Zwischen 1960 und 1990 wuchs der Anteil der Frauen an den Studierenden von etwa 25 Prozent auf über 40 Prozent. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten nur ganz 59 Der Zusammenhang zwischen der Bildungsexpansion und dem Aufschub von Heirat und Familiengründung ist vielfach belegt (z. B. Blossfeld/ Huinink 1989). 60 Wie Ökonomen sich ausdrücken: Mit steigendem Bildungsgrad der Frauen steigen sowohl die Opportunitätskosten von Kindern als auch die Investitionskosten. Das heißt, die Zeit einer gut qualifizierten Frau ist teurer, ihr entgeht mehr Geld, wenn sie, statt erwerbstätig zu sein, Kinder aufzieht (»Opportunitätskosten«). Und wenn beide Eltern gut qualifiziert sind, steigen die Kosten für die Ausbildung der Kinder, denn die sollen ja mindestens dasselbe Bildungsniveau erreichen (»Investitionskosten«). 61 In Prozent der Gleichaltrigen (vgl. Geißler 1992: 216; Geißler 2002: 336). 1.6 Strukturelle und kulturelle Hintergründe - Wertewandel und Bildungsexpansion 43 wenige Frauen studiert, ihr Anteil lag 1908 im Deutschen Reich bei zwei Prozent, 1932 bei 19 Prozent. In West- und in Ostdeutschland lag der Frauenanteil unter den Studierenden in den 1960er-Jahren bei etwa 25 bis 30 Prozent. Erst im Lauf der 1970er-Jahre - etwa mit den Geburtsjahrgängen ab 1955 - wurde es zu einer Selbstverständlichkeit für Frauen, studieren zu können. 62 Der deutlichste Anstieg (von 31 auf 38 Prozent) lag in Westdeutschland zwischen 1970 und 1975. In der DDR war schon 1980 eine Angleichung erreicht, im Westen stieg der Frauenanteil erst in den 1990er-Jahren auf über 40 Prozent an. 63 Etwa um das Jahr 2000 war die Benachteiligung der Frauen, soweit es das Studium im Allgemeinen betrifft, aufgehoben. In Westdeutschland lag nun der Anteil der Frauen unter den Studierenden bei 48 Prozent, im Osten bei 53 Prozent. Bekanntlich liegt der Frauenanteil allerdings noch deutlich niedriger in den technisch-naturwissenschaftlichen Fächern, bei Promotionen und Habilitationen. Immer noch ergibt sich eine steile Abwärtskurve, wenn man die Frauenanteile der Reihe nach abträgt: von Abiturienten über Studienanfänger, Hochschulabsolventen, Promovierte und Habilitierte bis zur höchsten Statusgruppe unter den Professoren (Abb. 1.7). 64 Ähnliche Tendenzen zeigen sich auch bei der Erwerbsbeteiligung der Frauen, die in den letzten Jahrzehnten in allen Altersgruppen angestiegen ist. In den mittleren Altersgruppen stiegen die Erwerbsquoten der Frauen auf über 80 Prozent. Und noch bemerkenswerter war, dass immer mehr verheiratete Frauen mit kleinen Kindern erwerbstätig wurden - was in den 1960er-Jahren noch stark missbilligt worden war. 65 Deren Erwerbsquoten stiegen in den letzten Jahrzehnten stärker an als beim Durchschnitt der Frauen. Die Anhebung der gesellschaftlichen Stellung der Frauen durch wachsende Bildungs- und Erwerbsbeteiligung stärkt ihre Position. Ihre Abhängigkeit von den Männern sinkt, die »Versorgungsehe« verliert an Bedeutung. Sie können eher auf die Heirat verzichten, oder sie können sich leichter scheiden lassen. Vor allem aber wird für Frauen eine eigene »Berufsbiografie« immer mehr zu einem normalen Element der Lebensperspektive. Die Beschränkung auf »Küche und Kinder« erscheint dann als geradezu absurdes Relikt. 62 Natürlich ist es nicht allein die Bildungsexpansion gewesen, die die Stellung der Frauen verbessert hat - aber der Kampf der Frauenbewegung wäre wohl weniger erfolgreich gewesen ohne diese wachsende Bildungsbeteiligung. 63 Geißler (2002: 369). 64 Geißler (2002: 377). 65 Sommerkorn (1988). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 44 Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ergab sich daraus ein Spannungsverhältnis zwischen Familien- und Erwerbssystem. Die Familie hatte früher die Funktion - und war entsprechend strukturiert -, durch die nichterwerbstätige Ehefrau und Mutter die anderen Systeme (Sozialpolitik, Erwerbssystem) zu entlasten. Wenn Frauen zunehmend erwerbstätig werden und wenn Berufstätigkeit zu einem festen Bestandteil ihrer biografischen Grundorientierungen wird, wird die Familie deshalb nicht zwangsläufig unwichtig für sie. Aber sie sind nicht mehr so leicht in der Lage, allein für ein gutes Familienklima zu sorgen. Die Männer müssten sich Abbildung 1.7: Frauenanteile bei Studierenden und akademischen Positionen 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% Studienberechtigte Studienanfänger Studierende Absolventen Promotionen Wissenschaftl. und künstl. Mitarbeiter Habilitationen Juniorprofessoren Professoren C4-Professoren Frauenanteile bei Studienanfängern, Studienabsolventen, Promovierten, Habilitierten und Professoren, Deutschland 2004. Quelle: Statistisches Bundesamt. Eigene Darstellung. 1.6 Strukturelle und kulturelle Hintergründe - Wertewandel und Bildungsexpansion 45 beteiligen. Aber sie tun es, nach allem, was wir aus entsprechenden Untersuchungen wissen, bisher kaum. 66 Und warum sollten sie auch; warum sollten sie auf ihre bisherige gesellschaftliche Integration über den Beruf verzichten? Mit moralischen Forderungen ist hier wenig getan. Diese führen allenfalls dazu, dass die Männer im öffentlichen Diskurs vorgeben, sich für die Interessen der Frauen einzusetzen. Milieu-Differenzierungen Die Bildungsexpansion ist noch in einer anderen Hinsicht von Bedeutung. Langfristig steigt die Bedeutung von Bildung für den Beruf und damit auch ihre Bedeutung für die Schichtzugehörigkeit. Auch für die oberen Schichten wird Bildung wichtiger, Geld und Beziehungen allein reichen immer weniger aus. 67 Gleichzeitig ist aber der Zugang zum höheren Bildungssystem immer noch in hohem Maß abhängig von der sozialen Herkunft: Studienanfänger rekrutieren sich immer noch überproportional aus Familien mit höheren Bildungsabschlüssen (Abitur und Hochschulabschluss). 68 Der Bildungshintergrund bestimmt heute in erheblichem Maße die Schichtbzw. Milieuzugehörigkeit. Und von dieser hängt der Lebensstil ab, und dieser wiederum prägt auch die Struktur und die Vorstellungen des Familienlebens und das biografische »timing« des Verhältnisses von Erwerbs- und Familienbiografie. Daraus sind Überlegungen abgeleitet worden, denen zufolge der Individualisierungsprozess nicht gleichförmig verläuft, sondern sich auf bestimmte soziale Schichten oder Milieus konzentriert. 69 Als (sozio-kulturelle) Milieus bezeichnet die Soziologie vergleichsweise homogene soziale Gruppierungen, in denen bestimmte Lebensstile vorherrschen. Milieus unterscheiden sich voneinander durch spezifische kulturelle Selbstverständlichkeiten, typische Verhaltensmuster und bestimmte Normalitätsvorstellungen. Diese Unterschiede hängen stark von der Bildungskarriere ab. In jedem Milieu gibt es jeweils eigene Vorstellungen über das »richtige« oder »gute« Leben; in jedem Milieu gibt es unterschiedliche Bedeutungen von der Familie, vom Beruf, von einem Norm-Alter des Übergangs in die Elternschaft: Eine Akademikerin ist mit 28 »zu jung« für ein Kind; im Arbeitermilieu ist eine Frau dafür fast schon »zu alt«. 66 Die Ergebnisse von Künzler (1994) sind in der Tendenz weiterhin gültig. Vgl. Burkart (2007). 67 Bell (1975), Bourdieu et al. (1981). 68 Bourdieu/ Passeron (1970, 2007), Köhler (1992), Prenzel et al. (2007), BMBF (2007). 69 Burkart/ Kohli (1992), Burkart (1997), Hopf/ Hartwig (2001). 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 46 Unterschiede zwischen verschiedenen Milieus lassen sich schon auf der (strukturellen) Ebene der demografischen Daten leicht belegen: Kinderlosigkeit, Einpersonenhaushalte, nichteheliche Lebensgemeinschaften, hohe Scheidungsraten - alle diese »postmodernen« Formen kommen in Großstädten sowie in den Bevölkerungsschichten mit höherer Bildung und höherem Einkommen wesentlich häufiger vor als in kleineren Gemeinden und in Sozialschichten mit geringem Bildungsniveau. Auch der Aufschub von Ehe und Familie ist wesentlich ausgeprägter bei jungen Paaren mit hohem Bildungsniveau, die wiederum häufiger in größeren Städten leben. 70 Allerdings sind solche Unterschiede nicht immer besonders groß oder sie wurden im Lauf der Jahre sogar kleiner. 71 Daher ist umstritten, welche Bedeutung langfristig solchen Milieu-Unterschieden zukommt. Es scheint zumindest eine Tendenz zur Polarisierung der Milieus zu geben: auf der einen Seite individualistische Milieus, in denen der Wert des Individuums unter Umständen höher ist als der Wert der Familie; auf der anderen Seite familistische Milieus, bei denen es umgekehrt ist. Polarisierungstendenzen dieser Art wurden bereits empirisch festgestellt hinsichtlich der Elternschaft: Ein wachsender Teil der Paare bleibt kinderlos; Paare aber, die ein Kind bekommen, entscheiden sich (in der Regel) auch für weitere Kinder. 72 Das heißt auch, dass es keine starke Tendenz zur Einkindfamilie gibt, das Einzelkind ist immer noch in der Minderheit. 73 Wegen der hohen Wahrscheinlichkeit des Aufschubs der Familiengründung bei Studierenden und den großen Schwierigkeiten bei Akademikerpaaren, Kinder und zwei Karrieren unter einen Hut zu bringen, ist es durchaus möglich, dass die Kinderlosigkeit unter Akademikern weiter ansteigt, während für andere Bevölkerungsgruppen weiterhin die 70 Burkart/ Kohli (1989). Ein Beispiel aus Österreich: Während der Anteil der Einpersonenhaushalte in Wien bei 46 Prozent liegt, beträgt er im Burgenland nur 27 Prozent (Schipfer 2007: 34). 71 Grünheid (2006: 81 f.). 72 Der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg hat ausgerechnet, dass diejenigen Frauen, die noch Kinder bekommen (zur Zeit etwa zwei Drittel der jüngeren Frauen), genau die zur Bestandserhaltung notwendige Kinderzahl erreichen, nämlich 2,1. Gäbe es keine Kinderlosigkeit, so seine etwas einfache These, wäre der Geburtenrückgang gestoppt (Birg 2003). 73 Huinink (1989). Im Jahr 2000 lag der Anteil von Einzelkindern in Westdeutschland bei etwa 18 Prozent, in Ostdeutschland bei etwa 30 Prozent (Engstler/ Menning 2003). Allerdings gibt es in den letzten Jahren Anzeichen des Anwachsens von Einkindfamilien. Kaufmann (2005b: 60) weist jedoch darauf hin, dass bei steigender Kinderlosigkeit gleichzeitig bei jenen Frauen, die noch Mütter werden, die durchschnittliche Kinderzahl gestiegen ist. 1.6 Strukturelle und kulturelle Hintergründe - Wertewandel und Bildungsexpansion 47 Zwei-Kind-Norm gültig bleibt. Wie schon erwähnt, ist die Kinderlosigkeit von Akademikern nicht leicht zu erfassen. 74 Das Statistische Bundesamt selbst hatte im Jahr 2005 für Aufregung gesorgt, als es Zahlen verbreitete, wonach in Westdeutschland 30 Prozent der Frauen und sogar 43 Prozent der Akademikerinnen kinderlos blieben. 75 Diese Angaben bezogen sich auf die Haushaltsstatistik und auf die Frage, ob im Haushalt von 37bis 40-jährigen Frauen (es betraf die Geburtsjahrgänge 1964 bis 1967), Kinder lebten. Inzwischen weiß man, dass diese Zahlen überhöht sind und als Maß für endgültige Kinderlosigkeit nicht taugen. 76 Betrachtet man die 38bis 43-jährigen Frauen, dann sind es schon deutlich weniger (31 Prozent der Akademikerinnen). Zusammenfassende Thesen Die Diskussion um die Familie bewegt sich seit Jahrzehnten zwischen Dramatisierung und Beschwichtigung. Es gab zwischen 1965 und 1975 einen raschen und starken Wandel, der weg von der Familie zu führen schien. Die These vom Niedergang der Familie beruhte zum Teil auf einer zu kurzfristigen Betrachtungsweise, zum Teil auf Fehlinterpretationen der statistischen Daten. Es kam zwar seit den Sechzigerjahren zu einem gewissen Wertverlust der Ehe und komplementär dazu zu einer stärkeren Toleranz gegenüber alternativen Lebensformen. Unverheiratete werden nicht mehr diskriminiert. Gleichwohl bleibt die Ehe das bevorzugte Partnerschaftsmodell. Die feste Paarbeziehung und die Monogamie sind ebenfalls weiterhin bevorzugte Modelle, doch wird der Anspruch der Dauerhaftigkeit immer häufiger aufgegeben. Die Familie bleibt zwar als Lebensmodell weiter favorisiert, doch kommt es immer häufiger zum Aufschub und schließlich zum Verzicht auf Familiengründung. Von einer »Pluralisierung von Lebensformen« zu sprechen ist irreführend, da sie nur in einer bestimmten Altersgruppe - etwa um das 30. Lebensjahr - deutlich 74 Konietzka/ Kreyenfeld (2007). 75 Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes. Vgl. BiB-Mitteilungen (26, 4/ 2005: 11 f.). 76 Viel zu hoch waren auch die Angaben zur Kinderlosigkeit in einer journalistischen Publikation zur Familie (SPIEGEL SPECIAL, Nr. 4, 2007, S. 27). Dort hieß es, unter Frauen mit Hauptschulabschluss seien 27 Prozent kinderlos, unter Frauen mit Fachhochschul- und Hochschulreife sogar 52 Prozent. 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 48 festzustellen ist. Die alternativen Lebensformen sind eher Lebensphasen - Übergangsphasen im Lebenslauf zwischen dem Auszug aus dem Elternhaus und der Gründung einer eigenen Familie. Allerdings dauern diese Übergangsphasen inzwischen relativ lange. Zu den wichtigsten Gründen des Wandels zählen allgemein Modernisierung und Individualisierung, vor allem die Modernisierung des Geschlechterverhältnisses, die durch die Bildungsexpansion und die sozialen Bewegungen seit den 1960er-Jahren wichtige Impulse erfahren hat. Damit hängen aber auch Polarisierungstendenzen zwischen individualisierten und weniger individualisierten Milieus zusammen, heute vor allem in Bezug auf die Familiengründung bzw. Kinderlosigkeit. Übungsfragen - Warum wird der Anteil der Singles häufig überschätzt? - Welche der genannten demografischen Veränderungen sind vermutlich irreversibel und warum? - Wie lässt sich die Behauptung vom Niedergang der Familie belegen und bewerten? - Was sind die wichtigsten Aspekte der Geburtenentwicklung in der westlichen Welt seit den 1960er-Jahren? - Nach einer Zeitungsmeldung sind in den USA weniger als die Hälfte der Frauen (49 Prozent) verheiratet; gleichzeitig heißt es aber, 75 Prozent würden heiraten. Wie passen diese beiden Aussagen zusammen? - Über den Anteil von »Normalfamilien« gibt es sehr unterschiedliche Aussagen mit Prozentangaben zwischen 25 und 63 Prozent. Wie kommen diese unterschiedlichen Zahlen zustande? - Wie hoch ist das Ausmaß der Kinderlosigkeit, und wie ist diese Entwicklung zu bewerten? 1.6 Strukturelle und kulturelle Hintergründe - Wertewandel und Bildungsexpansion 49 Basisliteratur Engstler, Heribert/ Sonja Menning (2003): Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik. Lebensformen, Familienstrukturen, wirtschaftliche Situation der Familien und familiendemografische Entwicklung in Deutschland. Bonn: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt Grünheid, Evelyn (2006): Die demografische Lage in Deutschland 2005. Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 31, S. 3-104 Huinink, Johannes/ Dirk Konietzka (2007): Familiensoziologie. Eine Einführung. Frankfurt/ M.: Campus Kaufmann, Franz-Xaver (2005): Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Nave-Herz, Rosemarie (2004): Ehe- und Familiensoziologie. Eine Einführung in Geschichte, theoretische Ansätze und empirische Befunde. Weinheim: Juventa Peuckert, Rüdiger (2008): Familienformen im sozialen Wandel. 7. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften Statistisches Bundesamt (Hrsg., 2006): Leben in Deutschland. Haushalte, Familien und Gesundheit - Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt 1. Zur Einstimmung: Über die Krise einer unverwüstlichen Lebensform 50 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung Geburtenrückgang, hohe Scheidungsraten, abnehmende Heiratsneigung, Pluralisierung von familialen Lebensformen, instabile Paarbeziehungen, steigender Anteil von »Singles« und Alleinerziehenden usw. - das sind also die Entwicklungen, welche die Diskussionen um den familialen Wandel beherrschen und die manchen Familien- und Sozialpolitikern Sorgen machen. Grundlage der Einsichten in diese Prozesse sind die familiendemografischen Daten und Analysen. In der Demografie geht es vor allem um eine möglichst genaue Darstellung der empirischen Sachlage und damit auch um die Entwicklung von methodischen Instrumenten zur Erfassung von Entwicklungen. In diesem Kapitel werden die wichtigsten Grundbegriffe und Methoden der Demografie in Kürze dargestellt, soweit sie für das Verständnis der familiendemografischen Entwicklung notwendig sind. Zunächst werden grundlegende Begriffe und methodische Instrumente der amtlichen Statistik, aber auch einige ihrer Probleme erläutert (? 2.1). Dann werden die verschiedenen Möglichkeiten aufgezeigt, die Entwicklung der Fertilität (? 2.2) und der Nuptialität (? 2.3) in Messziffern abzubilden. Es folgen Erläuterungen zu Lebenserwartung und Sterblichkeit (? 2.4). Schließlich geht es um einige Aspekte der Bevölkerungsstruktur, Migration und Mobilität, sowie um die langfristige globale Bevölkerungsentwicklung. Dabei wird auch der »Demografische Übergang« und der »Malthusianismus« behandelt (? 2.5). 2.1 Begriffe und methodische Instrumente der Demografie Die Demografie ist eine Wissenschaftsdisziplin, die sich mit der Beschreibung und Analyse von Bevölkerungsentwicklung und -struktur befasst. Es geht dabei insbesondere um vier Bereiche: Fertilität (Geburtenentwicklung), Nuptialität (Eheschließungs- und Scheidungsgeschehen), Mortalität und Mobilität/ Migration. Im Unterschied zu anderen Ländern ist die Demografie in Deutschland 51 immer noch vergleichsweise schwach entwickelt - eine Spätfolge ihrer Verstrickungen im Nationalsozialismus. 1 Die wichtigste Datenbasis für die Demografie ist in der Regel die amtliche Statistik. Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von Daten unterscheiden: Perioden- oder Querschnittdaten und Kohorten- oder Längsschnittdaten (Paneldaten). Periodendaten sind Daten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt erhoben werden und eine Zustandsbeschreibung liefern. Sie werden deshalb auch Querschnittdaten genannt. Längsschnittdaten dagegen sind auf die Beschreibung von Verläufen angelegt. Durch regelmäßige Erhebung von Periodendaten lassen sich zwar auch Zeitreihen erstellen, womit die Möglichkeit gegeben ist, Entwicklungen im Zeitverlauf zu beschreiben. Solche Beschreibungen haben jedoch bestimmte Nachteile, denn sie können auch zu Fehlinterpretationen der Entwicklung führen, wie am Beispiel der Geburtenentwicklung bereits gezeigt wurde. Kohortendaten ermöglichen hier eine genauere Darstellung. Kohorten sind Gruppen von Personen, die durch dasselbe Ereignis in einem bestimmten Zeitraum (meist ein Jahr) definiert sind. Für die Demografie sind neben Geburtskohorten - alle Personen, die im selben Jahr geboren wurden - auch andere, zum Beispiel Eheschließungs-Kohorten relevant. Manchmal werden mehrere Geburtskohorten zu einer Generation zusammengefasst. 2 Regelmäßig erhobene Kohortendaten eröffnen die Möglichkeit einer genauen historischen Beschreibung von Entwicklungen. Beispielsweise lässt sich damit genau verfolgen, wie sich von Geburtsjahrgang zu Geburtsjahrgang die Fertilität oder das Heiratsverhalten verändert. Oder wie sich in der Aufeinanderfolge von Eheschließungsjahrgängen das Scheidungsrisiko erhöht (oder wie es sinkt). Kohortendaten haben allerdings den Nachteil, dass sie immer erst im Rückblick endgültig sind. So lässt sich zum Beispiel heute noch nicht mit absoluter Genau- 1 Nur an wenigen deutschen Universitäten gibt es überhaupt demografische Lehrstühle oder Institute. Von den außeruniversitären Institutionen ist neben dem Institut für Bevölkerungswissenschaft, das dem Statistischen Bundesamt angegliedert ist, das Max-Planck-Institut für demografische Forschung, das mit der Universität Rostock verbunden ist, zu erwähnen. 2 »Generation« ist damit allerdings nur rein formal oder quantitativ definiert. In der Soziologie wird der entsprechende Generationsbegriff meist qualitativ definiert, ohne scharfe Abgrenzung von Geburtsjahrgängen, z. B. die Generation der »68er« oder die »skeptische Generation«. Eine andere Bedeutung von »Generation« bezieht sich auf die Eltern-Kinder- Folge in einer Familie: In diesem Sinne spricht man von der Eltern-Generation, der nachwachsenden Generation, der Drei-Generationen-Familie oder schließlich der »zweiten Generation« von Einwanderern (vgl. dazu Kapitel 7). 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 52 igkeit sagen, wie viele Kinder die Frauen des Geburtsjahrgangs 1970 bekommen, da ein Teil von ihnen noch um das 40. Lebensjahr erstmals Mutter werden kann. Für die Erklärung von Veränderungen - etwa der Geburtenrate - kann es wichtig sein, Kohorten-, Perioden- und Alterseffekte zu unterscheiden. Das heißt, es ist bei empirischen Messreihen nicht auf den ersten Blick klar, ob Veränderungen im Zeitverlauf darauf zurückzuführen sind, dass a) die untersuchten Personen im Zeitverlauf älter werden und deshalb ihre Meinung oder ihr Verhalten ändern (Alterseffekt); oder dass b) die untersuchten Personen veränderten historisch-sozialen Einflüssen ausgesetzt sind, unabhängig von ihrem Alter (Periodeneffekt); oder dass c) die Veränderungen des Verhaltens oder der Einstellungen darauf zurückzuführen sind, dass die untersuchten Personen unterschiedlichen Generationen angehören (Generationseffekt). Ein Beispiel, bei dem diese Unterscheidung wichtig ist, ist der »Wertewandel« zwischen 1960 und 1990 von »materialistischen« und Pflicht- Werten zu postmaterialistischen Werten. 3 Die dabei festgestellte Veränderung einer sinkenden Bedeutung von Pflichtbewusstsein und einer steigenden Bedeutung von Selbstverwirklichung kann entweder die Folge eines allgemeinen kulturellen Wertewandels sein, der alle Menschen betrifft (Periodeneffekt) oder die Folge der Durchsetzung dieses Wertewandels bei den jüngeren Generationen, die dann allmählich das Werteklima der gesamten Kultur bestimmen, insbesondere wenn ihre Mitglieder als Angehörige der »gesellschaftlichen Elite« entscheidende Positionen besetzen (Generationseffekt). 4 Zu den begehrtesten Datensorten der empirischen Sozialforschung gehören Panel-Daten, bei denen dieselbe Untersuchungsgruppe in größeren Zeitabständen mehrfach befragt wird. Diese Daten spielen in der Praxis der familiendemografischen Forschung allerdings nur eine geringe Rolle, auch weil es sehr aufwendig ist, dieselben Personen für mehrfache Wiederholungserhebungen »bei der Stange« zu halten (das Problem der »Panelmortalität«). Für die Beobachtung von Lebensverläufen und biografischen Entwicklungen sind dies jedoch die wichtigsten Daten. Auch die Ereignisanalyse hat inzwischen in der detaillierten Erforschung von Lebensverläufen eine große Bedeutung, zum Beispiel für die Analyse des »timing« von Lebensereignissen, also etwa dem Alter bei der ersten Geburt. 3 Inglehart (1977, 1989), Klages (1984). 4 Ein Alterseffekt ist dagegen für dieses Beispiel nicht plausibel. Ein solcher läge dann vor, wenn bei allen Menschen im Alter die Selbstverwirklichungswerte wichtiger würden als im jungen Erwachsenenalter und zusätzlich die Älteren im Verhältnis zu den Jüngeren einen immer größeren Anteil ausmachten. Die zweite Bedingung (Altern der Gesellschaft) ist zwar für die deutsche Geschichte in den letzten Jahrzehnten gegeben, aber die erste Bedingung ist nicht gegeben. 2.1 Begriffe und methodische Instrumente der Demografie 53 Die statistischen Einheiten (Untersuchungseinheiten) sind meist die einzelne Person oder der Haushalt. Die Haushaltsstatistik spielt eine wichtige Rolle in der Demografie, ist aber auch häufig Anlass für Missverständnisse, wie bereits am Beispiel der »Singles« oder bei der Kategorie »Kinder im Haushalt« (»keine Kinder im Haushalt« ist nicht gleichbedeutend mit Kinderlosigkeit) gezeigt wurde (? 1.2). »Familie« ist streng von »Haushalt« zu unterscheiden, wobei Familie unterschiedlich definiert werden kann: In der modernen westlichen Gesellschaft ist nur die Kernfamilie in der Regel mit der Haushaltsfamilie identisch, während die erweiterte Familie (Verwandtschaft) auf mehrere Haushalte verteilt ist. Das gilt auch für die verschiedenen Generationen einer Familie (»multilokale Mehrgenerationenfamilie«). Für die Bevölkerungsstatistik werden Zahlen gesammelt; und das ist keineswegs so einfach, wie es sich anhört. Zahlen müssen eindeutig sein, damit sie zweifelsfrei erhoben, tabelliert und in Berechnungen verwendet werden können. Relativ eindeutig und zuverlässig festzustellen ist zum Beispiel die Zahl der Geburten oder die Zahl der Eheschließungen pro Jahr, da hier die Standesämter zuverlässige Daten bekommen (Meldepflicht), die sorgfältig gesammelt und dokumentiert werden. Problematischer ist dagegen die Feststellung der Zahl der Einwohner einer Stadt oder eines Landes oder der Zahl und Struktur der Haushalte. Besonders schwierig ist es, die Zahl der unverheiratet zusammenlebenden Paare zu ermitteln, und fast unmöglich ist es - jedenfalls mit Mitteln der amtlichen Statistik -, die Zahl der Paarbeziehungen und damit auch die Zahl der »Singles« (ohne »festen« Partner lebend) anzugeben. Besonders Paare, die nicht zusammenleben, sind in keiner Statistik erfasst. Begrenzt sind auch die Möglichkeiten der amtlichen Statistik, etwa die sozio-ökonomische Lage von Haushalten und Familien zu erfassen. Dafür braucht es in der Regel soziologische Untersuchungen oder spezielle Datensätze, wie den »Familiensurvey« (Deutsches Jugendinstitut) oder das »Sozio-ökonomische Panel (SOEP)«. 5 Doch die amtliche Statistik ist auch bei zentralen demografischen Fragen manchmal überfordert. So war es zum Beispiel in Deutschland bisher nicht möglich, den Anteil der kinderlos bleibenden Frauen und Männer genau festzustellen, weil es nicht erlaubt war, in amtlichen Befragungen nach der Zahl der Kinder zu fragen, die jemand bisher in seinem bzw. ihrem Leben zeugte oder gebar. 6 Daher beziehen sich die meisten Angaben auf die Haushaltsstatistik: Man nimmt etwa die Frauen der Altersgruppe 35 bis 40 Jahre, bei denen keine Kinder im Haushalt 5 Vgl. dazu im Anhang: Datenquellen der Familienforschung. 6 Ab 2008 gibt es nun auch in Deutschland eine gesetzliche Grundlage, um diese Frage zu stellen. 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 54 leben, als Indikator für Kinderlosigkeit. Bei dieser brisanten Frage kursieren daher auch sehr unterschiedliche Zahlen und wer beschwichtigen will, findet ebenso eine mehr oder weniger zuverlässige Quelle wie jemand, der dramatisieren will. Neben solchen generellen Erfassungslücken gibt es auch bei den erhobenen Daten Fehlerquellen, die ihre Genauigkeit und Vollständigkeit einschränken: Untererfassung, Mehrfachzählungen, Fehlzuordnungen oder Nichtzuordbarkeit. Ein Beispiel ist die unklare Zuordnung von Wohngemeinschaften mit nichtverwandten Personen, z. B. Studierende. Für die Haushaltsstatistik kann es sich bei einer Drei- Personen-Wohngemeinschaft um drei Ein-Personen-Haushalte handeln, wenn diese Personen angeben, wirtschaftlich unabhängig voneinander zu sein. Die wichtigsten Erhebungsmethoden (für Periodendaten) der amtlichen Statistik sind Volkszählung und Mikrozensus. Volkszählungen sind allerdings sehr aufwendig und werden daher nur in größeren Abständen durchgeführt. Darüber hinaus gibt es manchmal größere Widerstände in der Bevölkerung gegen ihre Durchführung, wie zuletzt in Deutschland in den 1980er-Jahren. Mikrozensus-Erhebungen finden wesentlich häufiger statt. Es handelt sich dabei um sehr große Stichproben (über 800.000 Personen), die eine detaillierte Auswertung auch nach kleineren Teilgruppen ermöglichen. 7 Bei der in der empirischen Sozialforschung üblichen Stichprobengröße von 1000 bis 2000 Personen (bei Repräsentativbefragungen, in denen die Bevölkerungsstruktur sich widerspiegelt) ist es zum Beispiel nicht möglich, statistisch gesicherte Aussagen über bestimmte Teilgruppen - zum Beispiel alleinerziehende Väter - zu machen, weil unter 1000 Personen vielleicht nur zehn von ihnen vorkommen. Man unterscheidet die Statistik des Bevölkerungsstandes von der Statistik der Bevölkerungsbewegung. Erstere erfasst Personen, Haushalte, Familien, Verheiratete usw. zu einem bestimmten Zeitpunkt: Daraus lassen sich Strukturbeschreibungen ableiten, zum Beispiel über das Verhältnis von Ledigen, Verheirateten, Geschiedenen und Verwitweten an einem bestimmten Stichtag. Bei der Erfassung der Bevölkerungsbewegung werden Geburten, Eheschließungen, Scheidungen, Sterbefälle, Wanderungen gezählt und in Zeitreihen dargestellt, so dass die Veränderungen im Zeitverlauf sichtbar werden. Ein Hinweis für die politisch-soziale Brisanz solcher Entwicklungsverläufe ist die häufige Verwendung von drastischen Metaphern bei der Beschreibung der entsprechenden Kurven (Bevölkerungsexplosion, Geburtenschwund, Niedergang, »decline of the family«) oder bei der Veränderung der »Bevölkerungspyramide« zu einem »Pilz«. Familiendemografisch-statistische Daten werden nach ihrer Erhebung und Erfassung in mehreren Schritten bearbeitet und zu Zwecken der Interpretation 7 Lengerer et al. (2007). 2.1 Begriffe und methodische Instrumente der Demografie 55 und Analyse in unterschiedlicher Form dargestellt. Für die Darstellung der Daten lassen sich drei grundlegende Ebenen unterscheiden: absolute Zahlen, Verhältniszahlen und Index-Zahlen. Bei den absoluten Zahlen (pro Zeiteinheit) werden beispielsweise die Eheschließungen pro Jahr in einem definierten Gebiet (Stadt, Nationalstaat) einfach addiert. Die Verhältniszahlen (»Rate« oder »Ziffer«) geben die relative Häufigkeit (auch »Wahrscheinlichkeit«) an, mit der ein Ereignis auftritt. Die Eheschließungen werden dann ins Verhältnis zu einer anderen Zahl gesetzt, zum Beispiel zur Zahl der Einwohner oder der bestehenden Ehen. »Spezifische Ziffern« gelten für bestimmte Teilgruppen (etwa Altersgruppen). Die Index- Zahlen werden meist gebildet aufgrund komplexer Berechnungen. 2.2 Fertilität »Fertilität« kann sowohl Geburtenhäufigkeit als auch Fruchtbarkeit meinen. Fertilität im Sinne von Fruchtbarkeit hat wiederum zwei Bedeutungen: zum einen bezeichnet es die tatsächliche Fruchtbarkeit, d. h. die Zahl der Geburten, zum anderen die Fähigkeit zur Geburt. Diese Fruchtbarkeit im engeren Sinn wird auch Fekundität genannt. Die Geburtenentwicklung (d. h. Veränderungen der Fertilität) kann mit folgenden Maßzahlen erfasst werden, wobei die Terminologie leider nicht einheitlich ist, so dass es wichtiger ist, das Prinzip zu erfassen, als sich den jeweiligen Terminus zu merken: 1. Zahl der Lebendgeborenen (pro Zeiteinheit). 8 2. Rohe Geburtenziffer oder Allgemeine Geburtenrate: Zahl der Lebendgeborenen, bezogen auf die Gesamtbevölkerung. 3. (Allgemeine) Fruchtbarkeitsziffer oder »Spezifische Geburtenziffer«: Zahl der Lebendgeborenen bezogen auf die Zahl der Personen im fortpflanzungsfähigen Alter - sinnvollerweise im Normalfall bezogen auf Frauen im gebärfähigen Alter; in der Statistik sind damit die 15bis 45-Jährigen gemeint. Spezifische Fruchtbarkeitsziffern beziehen sich auf bestimmte Frauengruppen, in erster Linie Altersgruppen. 9 4. Die in der Öffentlichkeit am stärksten verbreitete Geburtenrate heißt im internationalen Sprachgebrauch Total Fertility Rate (TFR): Damit wird die durch- 8 Diese Zahl ist nicht ganz identisch mit der Zahl der Geburten (wegen Mehrlingsgeburten) oder der Zahl der Geborenen (wegen Totgeburten). 9 Will man Geschlechts- und Altersstruktureffekte ausschalten, berechnet man standardisierte Geburtenziffern. 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 56 schnittliche Zahl von Kindern erfasst, die eine Frau in ihrem Leben zur Welt bringt. In der deutschen Demografie ist hier meist von »zusammengefasster Geburtenziffer« die Rede. 5. Die Nettoreproduktionsrate (NRR) ist eine Maßzahl, bei der nicht nur die weibliche Fruchtbarkeit, sondern auch das Geschlecht der Kinder berücksichtigt wird. Nur die geborenen Mädchen gehen in die Berechnung ein. Die NRR bringt zum Ausdruck, in welchem Maß die Bevölkerung in einem Jahr wächst oder schrumpft, unter Zugrundlegung der gegenwärtigen Fertilitäts- und Sterbeverhältnisse. 10 Eine NRR von 1.0 bedeutet, dass die Frauen im Durchschnitt genau die Anzahl von Mädchen geboren haben, die langfristig benötigt werden, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten, indem sie selbst Mütter werden. 11 Sinkt die NRR unter den Wert 1.0, schrumpft die Bevölkerung (bei unveränderter Migration). In vielen europäischen Ländern liegt die NRR derzeit zwischen 0.6 bis 0.7; das heißt, zur Bestandserhaltung fehlt etwa ein Drittel. Die Geburtenbzw. Fruchtbarkeitsziffern können auch nach dem Familienstand der Mutter unterschieden werden: ledig oder verheiratet. Der Anteil der nichtehelich Geborenen an allen Lebendgeborenen zeigt an, wie stark die Koppelung von Ehe und Familiengründung ist. In den deutschsprachigen Ländern gibt es dazu kleine terminologische Unterschiede: Nichtehelichenquote (D), Unehelichenquote (A), Außerehelichenquote (CH). Früher wurden diese Geburten auch als »illegitim« bezeichnet, und die Kinder manchmal sogar als »Bastarde« diskriminiert. Die durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantierte Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern ist auch heute noch nicht in jeder Hinsicht hergestellt. Die genannten Maßzahlen sind zunächst immer Periodenmaßzahlen. Das gilt auch für die Total Fertility Rate, die zunächst auf der Basis von Periodendaten berechnet (z. T. geschätzt) wird, damit schon vor Abschluss der fertilen Lebensphase der Frauen ein Hinweis auf die langfristigen Veränderungen der Geburtenrate möglich wird. Langfristig zuverlässige Aussagen über die Geburtenentwicklung sind nur auf der Grundlage von Kohortendaten möglich. So wissen wir zum Beispiel, dass in Deutschland der Anteil von Frauen, die drei oder mehr Kinder bekamen, bei den Frauen der Geburtskohorte von 1940 noch bei knapp 30 Prozent lag, dreißig Jahre später aber (bei den Frauen der Geburtskohorte von 1970) 10 Nicht die allgemeinen Sterbeverhältnisse werden einbezogen, sondern nur jene der Frauen bis zum Ende ihrer Gebärfähigkeit. 11 Einfach gesagt: Bei einer NRR von 1.0 bringt jede Frau im Durchschnitt genau ein Mädchen zur Welt, das später selbst wieder mindestens ein Mädchen zur Welt bringt. 2.2 Fertilität 57 nur noch bei 15 Prozent. Relativ stabil blieb in dieser Zeit der Anteil von Frauen, die zwei Kinder bekamen: Er lag immer zwischen 30 und 35 Prozent. 12 Der Nachteil von Kohortendaten liegt auf der Hand: So stehen die Zahlen bezüglich der 1970 geborenen Frauen erst etwa im Jahr 2010 endgültig fest. Allerdings zeigen Kohortendaten als Zeitreihen gegenüber Periodendaten weniger starke Schwankungen. Zum Beispiel ist der »Baby-Boom« (Anfang der 1960er- Jahre) bei den Periodendaten deutlicher ausgeprägt, ebenso der leichte Anstieg der Fertilität in der Zeit des Nationalsozialismus. 13 Periodendaten können also zu Überschätzungen von Trends führen. Das Ausmaß der Kinderlosigkeit in Deutschland ist schwer zu ermitteln, deshalb kursieren in der Öffentlichkeit immer wieder verschiedene Zahlen. Im Prinzip wäre es einfach, aufgrund der Daten der Standesämter alle Geburten einer Frau zu erfassen, d. h. die Ordnungszahl jedes Kindes (erstes Kind, zweites Kind, drittes Kind einer bestimmten Frau). Doch diese Daten dürfen nicht verwendet werden. Wenn zum Beispiel eine Frau heiratet und in dieser Ehe kinderlos bleibt, wird sie als kinderlos eingestuft, obwohl sie vielleicht vor ihrer Ehe ein nichteheliches Kind hatte. In der Haushaltsstatistik (Mikrozensus) wiederum wird nur erfasst, ob im Haushalt eines Erwachsenen Kinder leben. Nicht gezählt werden somit Kinder, die den Haushalt bereits verlassen haben. Das kann gerade bei der Altersgruppe der 40-Jährigen eine erhebliche Zahl sein. Dies gilt noch stärker für Männer, die nach einer Scheidung allein leben. Die Kinderlosigkeit von Männern kann deshalb nur grob geschätzt werden. 2.3 Eheschließungen und Scheidungen Ein erster Indikator für die Heiratshäufigkeit in einer Gesellschaft ist die Struktur des Familienstandes in der Bevölkerung, also die Anteile der Ledigen, Verheirateten, Verwitweten und Geschiedenen an der Gesamtbevölkerung (oder an den Personen im heiratsfähigen Alter) zu einem bestimmten Zeitpunkt. Allerdings weiß 12 Kaufmann (2005a: 125). 13 Die Allgemeine Fruchtbarkeitsziffer stieg im Deutschen Reich zwischen 1929 und 1937 von 68 auf 79 an (Hubbard 1983: 94), danach sank sie wieder, um dann in den 1950er- Jahren erneut anzusteigen (Baby-Boom). In den Kohortendaten dagegen zeigt sich für die Nazi-Zeit kein Anstieg, weil die Erhöhung der Geburtenrate in dieser Zeit durch alle Altersgruppen von Frauen zustande gekommen war. 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 58 man bei den Verheirateten zunächst nicht, ob es ihre erste, zweite oder dritte Ehe ist. Je geringer der Anteil der Erstehen, desto schwieriger ist die Erfassung der Nuptialität mit Hilfe von Periodendaten. Die Anteile von Verheirateten und Ledigen werden im zeitlichen Vergleich aussagekräftiger, wenn sie nach Alter und Geschlecht aufgeschlüsselt sind. Langfristig ist es wichtig, den Anteil der Lediggebliebenen an den Geburtskohorten zu kennen. Diese Anteile lassen sich aber erst definitiv ermitteln, wenn alle Mitglieder einer Kohorte gestorben sind. Die erste Datenquelle zur Erfassung der Nuptialität ist die Zahl der Eheschließungen pro Zeiteinheit. Die rohe Eheschließungs- oder Heiratsziffer gibt an, wie viele Ehen in einem Zeitraum geschlossen wurden, bezogen auf die durchschnittliche Bevölkerung in diesem Zeitraum. Dabei können Heiratsziffern der Ledigen (Erstehe) von denen der Nichtledigen (Wiederverheiratung nach Tod oder nach Scheidung) unterschieden werden. Alters- und geschlechtsspezifische Heiratsziffern zeigen, dass Männer und Frauen in unterschiedlichem Alter und in unterschiedlichem Ausmaß heiraten. Das Heiratsalter ist eine wichtige Größe, die zeigen kann, ob der Rückgang der Eheschließungsziffern von einem Jahr zum anderen ein Rückgang der Heiratsneigung ist oder nur eine biografische Verzögerung des Heiratens, und somit einfach einen Anstieg des Heiratsalters darstellt. Ein Problem für die amtliche Statistik ist der wachsende Anteil von nichtehelichen Lebensgemeinschaften und von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Ihre Erfassung ist weitaus ungenauer als die der Eheschließungen, auch wenn hier mit dem Konzept der Lebensformen im Mikrozensus eine Verbesserung erreicht wurde. Hier ist man weiterhin auf sozialwissenschaftliche Studien und die Auswertung großer Datensätze angewiesen. Das Ausmaß von Ehescheidungen ist schwieriger zu belegen als man meinen könnte. Die Aussage, dass heute immer mehr Ehen nicht durch Verwitwung, sondern durch Scheidung aufgelöst werden, ist sicher richtig, obwohl sie sich strenggenommen mit den Maßzahlen der Demografie nicht belegen lässt, jedenfalls nicht für die letzten Jahre. Denn dazu müsste man zum Beispiel wissen, wie hoch die Anteile der Verwitwungen und der Scheidungen bei den 1980, 1990 oder 2000 geschlossenen Ehen sind. Das wissen wir jedoch für jene Ehen aus diesen Jahren noch nicht, die noch intakt sind - und das ist die Mehrheit. Zumindest in langfristiger Perspektive ist aber klar, dass der Anteil der durch Scheidung aufgelösten Ehen steigt, was sich nicht nur mit einer erhöhten Scheidungsbereitschaft (und den dafür verantwortlichen strukturellen Faktoren) erklären lässt, sondern zu einem nicht unerheblichen Ausmaß auch mit der gestiegenen Lebenserwartung, weil dadurch die Ehedauer ansteigt und damit auch das Scheidungsrisiko. Folgende Maßzahlen lassen sich unterscheiden: 2.3 Eheschließungen und Scheidungen 59 1. Zahl der Ehescheidungen pro Zeiteinheit. 2. Zahl der Ehescheidungen (pro Jahr) im Verhältnis zur Bevölkerungszahl zu einem bestimmten Zeitpunkt (»Rohe Scheidungsziffer«). 3. Zahl der Ehescheidungen (pro Jahr) im Verhältnis zur Zahl der bestehenden Ehen zu einem bestimmten Zeitpunkt. 4. Zahl der Ehescheidungen im Verhältnis zur Zahl der Eheschließungen im selben Zeitraum.. 5. Anteil der Ehescheidungen an allen Eheauflösungen pro Eheschließungskohorte. Die Zahl der Ehescheidungen pro Zeiteinheit bezogen auf die Gesamtbevölkerung ist als Vergleichszahl nur begrenzt sinnvoll - nämlich nur dann, wenn Länder oder Gebiete mit ähnlichen Bevölkerungs-, Alters- und Familienstrukturen verglichen werden. Etwas aussagefähiger ist die Zahl der Ehescheidungen bezogen auf die Zahl der bestehenden Ehen. In der Öffentlichkeit wird gern gesagt: »Jede dritte Ehe wird heute geschieden«, oder auch: »Zwei von fünf Ehen werden geschieden«. Solche Aussagen beziehen sich auf die einfache Periodenmaßzahl, bei der die Zahl der Ehescheidungen im Lauf eines bestimmten Jahres auf die Zahl der Eheschließungen im gleichen Zeitraum bezogen wird. Die zitierten Äußerungen sind insofern Vereinfachungen. Erst wenn dieses Verhältnis über einen längeren Zeitraum hinweg konstant bliebe, ließe sich eine Aussage über die Entwicklung der Ehe machen. Demgegenüber zeigen Kohortendaten, dass das Ausmaß an Scheidungen bisher meist überschätzt wird. 14 Schwierig zu berechnen sind schließlich Wiederverheiratungsquoten, besonders, wenn man differenzieren will zwischen Wiederverheiratung nach einer Scheidung - um die Frage zu beantworten: »Wie viele Geschiedene heiraten wieder? « - und Wiederverheiratung nach dem Tod des Partners. Personenbezogene Daten (in dem Sinn, dass man sagen könnte, wie hoch der Anteil aller Personen ist, die irgendwann im Leben ein zweites oder drittes Mal heiraten) sind nicht verfügbar. Aus den Daten der Standesämter lässt sich aber relativ leicht feststellen, wie sich bei den Eheschließungen der Anteil von Zweitehen im Zeitverlauf verändert. Aber auch eine »Zweitehe« kann Unterschiedliches bedeuten: In einem Fall ist die Frau ledig, der Mann ist verwitwet, in einem anderen Fall sind Frau und Mann geschieden. Im Zeitraum von etwa hundert Jahren - von den Siebzigerjahren des 19. bis zu den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts - nahm der Anteil von Ehen, bei denen 14 Wagner (1997). - Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten der Auflösung von Ehen: durch Tod eines Partners, durch Scheidung oder durch Annullierung. Erst wenn alle Ehen einer Eheschließungskohorte aufgelöst sind, steht eine exakte Scheidungsquote für diese Kohorte fest. 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 60 davor beide Partner ledig waren, ständig ab. Zum Beispiel waren in Berlin im Jahr 1871/ 72 bei 80 Prozent aller Eheschließungen Mann und Frau davor noch ledig. Hundert Jahre später (1875/ 76) war dieser Anteil auf 53 Prozent gesunken. 1871/ 72 kam bei den übrigen Eheschließungen in erster Linie die Zweitehe nach Verwitwung vor: Bei 17 Prozent aller Eheschließungen war wenigstens einer der Partner verwitwet. Der Anteil der Geschiedenen fiel kaum ins Gewicht. Hundert Jahre später dagegen war bei etwa 42 Prozent aller Eheschließungen wenigstens einer der Eheschließenden geschieden. 15 2.4 Lebenserwartung und Sterblichkeit Geburt und Tod sind die beiden Ankerpunkte des menschlichen Lebens. Die Zählung von Geborenen und Gestorbenen gehört zu den ältesten demografischen Erhebungsmethoden von städtischen und staatlichen Verwaltungen und, noch früher, von Kirchenverwaltungen. Das Verhältnis von Geborenen und Gestorbenen im Zeitverlauf gibt wichtige Aufschlüsse über Veränderungen von Größe und Struktur der Bevölkerung. Eine sinkende Geburtenrate führt erst dann zu einer Schrumpfung der Bevölkerung (zu einem Bevölkerungsrückgang), wenn sie unter die Sterberate fällt und wenn Ein- und Auswanderungen zu vernachlässigen sind. Neben wachsender oder sinkender Bevölkerungszahl ist auch die Bevölkerungsstruktur wichtig. Insbesondere eine sich verändernde Altersstruktur, wie sie gegenwärtig viele Länder erfahren (»Das Altern der Gesellschaften«), kann erhebliche Auswirkungen auf die Systeme der sozialen Sicherung und die gesamte Stabilität einer Gesellschaft haben. Veränderungen in den Sterberaten, im Verhältnis von Geborenen und Gestorbenen, und in der Lebenserwartung gehören zu den wichtigen Veränderungen, die sich direkt auf die Bevölkerungszahl eines Territoriums auswirken. Das gegenwärtig zu beobachtende Altern der Bevölkerung ergab sich vor allem durch zwei Entwicklungen: zum einen durch den Geburtenrückgang, zum anderen durch die steigende Lebenserwartung. Bekanntlich ist die Lebenserwartung in vielen westlichen Ländern in den letzten hundert Jahren in ganz erstaunlicher Weise angestiegen; sie hat sich in einigen Ländern geradezu verdoppelt. Auch wenn nicht ganz klar ist, worauf dies im Einzelnen und insgesamt zurückzuführen ist, so lässt sich doch sagen, dass sich in diesem Anstieg eine deutliche Verbesserung der Lebensbedingungen widerspiegelt (Verbesserung der Ernährung, der Hygiene, der Gesundheitsversorgung, usw.). Dies alles trug wesentlich dazu bei, 15 Hubbard (1983: 75). 2.4 Lebenserwartung und Sterblichkeit 61 dass die Sterblichkeit bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sehr stark zurückgegangen ist. Vor allem die Sterblichkeit im jüngeren Alter ging drastisch zurück. Bis weit in die neuere Zeit (18. Jahrhundert) erreichte oft nur etwa die Hälfte aller Kinder das Erwachsenenalter, und von diesen wiederum nur etwa die Hälfte das 60. Lebensjahr. 16 Noch am Ende des 19. Jahrhunderts waren weniger als zehn Prozent der Verstorbenen älter als 75 Jahre. 17 Dagegen leben heute im Alter von 75 Jahren noch etwa 80 Prozent der Frauen des entsprechenden Geburtsjahrgangs und etwa 60 Prozent der Männer. Aber auch der Anstieg der »fernen Lebenserwartung« ist in den letzten Jahrzehnten beachtlich. Beispielsweise konnten 1970 in Österreich nur 28 Prozent der 60-jährigen Männer damit rechnen, das 80. Lebensjahr zu erreichen. Um das Jahr 2000 waren es bereits 48 Prozent. 18 Die Bedeutung der gestiegenen Lebenserwartung liegt nicht nur in der Verlängerung des individuellen Lebens, in den »gewonnenen Jahren«, wie es Arthur E. Imhof nannte, sondern auch in dem Zugewinn an Erwartungssicherheit, im Normalfall ein hohes Alter zu erreichen. Dies ist ein großer Unterschied zu den Menschen des 19. Jahrhunderts, für die der Tod noch allgegenwärtig war und jederzeit befürchtet werden musste. 19 Die Lebenserwartung wird festgestellt, indem für jede Altersstufe auf der Grundlage der gegebenen Sterblichkeitsverhältnisse, die in »Sterbetafeln« erfasst sind, die wahrscheinliche Zahl der Jahre berechnet wird, die die Mitglieder der jeweiligen Altersstufe noch leben werden. Bei den Angaben zur Lebenserwartung ist es wichtig darauf zu achten, ob die Lebenserwartung bei der Geburt gemeint ist. Diese kann sehr stark variieren in Abhängigkeit von der Säuglingssterblichkeit: Ist sie hoch, ergibt sich eine niedrigere Lebenserwartung, obwohl es theoretisch sein kann, dass in dieser Population die Lebenserwartung der Sechzigjährigen höher ist als in einer Population mit niedriger Säuglingssterblichkeit. Die Säuglingssterblichkeit ist definiert als Sterblichkeit lebendgeborener Kinder im ersten Lebensjahr. 20 Dabei wird der Anteil der im ersten Lebensjahr Gestorbenen an den Lebendgeborenen errechnet. Die Säuglingssterblichkeit ist auch in 16 Masset (1996: 102 f.). 17 Lüscher/ Liegle (2003: 71). 18 Lüscher/ Liegle (2003: 71). 19 Imhof (1981). 20 Sie bezieht sich also nur auf Lebendgeborene. Als Totgeburten gelten Föten, die zwischen der 28. Schwangerschaftswoche und der Geburt sterben. Bis zur 27. Schwangerschaftswoche spricht man von intrauteriner oder Fetalsterblichkeit. Perinatalsterblichkeit bezieht sich auf den Tod des Kindes zwischen dem Ende der 24. Schwangerschaftswoche und dem 7. Tag nach der Geburt. 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 62 modernen Gesellschaften immer noch höher als die Sterblichkeit im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Deshalb wird die Lebenserwartung oft erst nach dem ersten Lebensjahr berechnet. Insbesondere wenn man die Lebenserwartungen in Gesellschaften mit hoher Säuglingssterblichkeit und in solchen mit niedriger Säuglingssterblichkeit vergleichen will, ist dies sinnvoll. Am Ende des 19. Jahrhunderts (1881/ 90) lag die Lebenserwartung bei der Geburt in Deutschland bei etwa 37 Jahren für die Männer, bzw. 40 Jahren für die Frauen; die Lebenserwartung nach dem ersten Lebensjahr bei etwa 48, bzw. 50 Jahren. 100 Jahre später (1991/ 93) hatten sich die entsprechenden Werte (für Westdeutschland) verdoppelt: auf etwa 73 Jahre für die Männer und über 79 Jahre für die Frauen (Lebenserwartung bei der Geburt). 21 Auch in den letzten Jahren gab es einen weiteren Anstieg. Nach der Sterbetafel für 2002/ 04 lag die Lebenserwartung bei der Geburt bei 75,9 Jahren für Männer und bei 81,5 Jahren für Frauen. Die Lebenserwartung bei der Geburt unterscheidet sich heute in hochentwickelten Ländern nur noch geringfügig von der Lebenserwartung nach dem ersten Lebensjahr. Nach einem Lebensjahr ist sie sogar etwas geringer als bei der Geburt: eine Folge des Rückgangs der Säuglingssterblichkeit von über 20 Prozent am Ende des 19. Jahrhunderts auf unter ein Prozent. 22 In vielen ärmeren Ländern ist dagegen auch heute noch die Säuglingssterblichkeit sehr hoch. Sie lag zum Beispiel im Jahr 2003 in Angola bei etwa 15 Prozent, in Indien bei sechs Prozent. Auch bei der Lebenserwartung - die sich weltweit erhöht hat - gibt es immer noch große Unterschiede zwischen reichen und armen Ländern. So hatten im Jahr 2002 zum Beispiel japanische Frauen eine Lebenserwartung (bei der Geburt) von über 85 Jahren, die Frauen in Brasilien dagegen nur von knapp 72 Jahren. In den letzten Jahrzehnten verbesserte sich die Lebenserwartung älterer Menschen deutlich. »Dies führte erstmals in der Geschichte der Menschheit zu einem verstärkten Altern von der Spitze der Bevölkerungspyramide her.« 23 So stieg zum Beispiel in Deutschland die Lebenserwartung der 60-Jährigen zwischen 1980 und 1991 bei den Männern um 1,5 Jahre (von 76,5 auf 78) und bei den Frauen um 1,6 Jahre (von 80,8 auf 82,4). 24 Geschlechtsunterschiede: Hinsichtlich der Lebenserwartung bei der Geburt liegt der Vorsprung der Frauen vor den Männern in einigen europäischen Ländern bei 21 Die Lebenserwartung nach einem Jahr lag 1991/ 93 etwa sechs Monate unter der Lebenserwartung bei der Geburt. 22 Höpflinger (1997: 152). Die Säuglingssterblichkeit in Deutschland lag im Jahr 2003 bei 0,4 Prozent. 23 Höpflinger (1997: 42). 24 Schmähl (1999: 15). 2.4 Lebenserwartung und Sterblichkeit 63 acht bis neun Jahren. Schon im 18. Jahrhundert wurde eine höhere Sterblichkeit der Männer festgestellt. Die Ursachen der deutlich höheren weiblichen Langlebigkeit sind strittig. Zwar werden gern biologische Ursachen angeführt, aber die Unterschiede haben sich erst im 20. Jahrhundert so deutlich ausgeprägt. 25 Einer der sozialen Gründe war das höhere Risiko von Männern, an bestimmten Krankheiten zu sterben (z. B. Lungenkrebs), aber auch an Unfällen. Besonders in der Mitte des 20. Jahrhunderts vergrößerte sich der Vorsprung der Frauen in europäischen Ländern. 26 Die Differenz zwischen Frauen und Männern stieg in Deutschland auf etwa 6,7 Jahre um 1980. Abbildung 2.1: Lebenserwartung 0 20 40 60 80 100 1900 1920 1940 1960 1980 2000 Lebensjahre weiblich männlich Entwicklung der Lebenserwartung bei der Geburt für Männer und Frauen in Deutschland, 1900-2010. Quelle: Statistisches Bundesamt. Eigene Darstellung. 25 Es scheint, dass sich bestimmte immunbiologische Vorteile, die Frauen haben, erst bei guter Ernährung deutlich auswirken. 26 Zwischen 1950 und 1970 öffnete sich die Schere zwischen Männern und Frauen bei den 65-Jährigen von einem Abstand von etwa einem Jahr auf vier Jahre (Schmähl 1999: 12). 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 64 Seit 1990 verringert sich allerdings der Unterschied. Im Jahr 2000 lag das durchschnittliche Alter der Frauen »nur« noch um 5,8 Jahre über dem der Männer. 27 Dieser Rückgang des Abstandes in den letzten Jahrzehnten hängt u. a. auch damit zusammen, dass die Unfall-Sterblichkeit junger Männer nicht mehr so viel größer ist als die junger Frauen. Außerdem ist das Todesrisiko durch Rauchen bei den Männern nicht mehr so viel höher als bei den Frauen. 28 Insgesamt geht man heute davon aus, dass der größte Teil des Unterschieds zwischen Männern und Frauen auf unterschiedlich gesundheitsschädigende Lebensstile zurückgeht. Nur ein bis zwei Jahre Unterschied gelten als vermutlich biologisch bedingt. Emile Durkheim hatte bereits vor über 100 Jahren im Rahmen seiner Suizid- Studie herausgefunden, dass die Sterblichkeit von Witwern in manchen Ländern erheblich über der von Witwen lag. 29 Auch heute noch lassen sich Zusammenhänge zwischen Geschlecht, Familienstand und Sterblichkeit feststellen. Die Lebenserwartung ist bei ledigen, geschiedenen und verwitweten Personen im Allgemeinen niedriger als bei verheirateten Personen. Und dieser Zusammenhang ist bei Männern deutlich stärker ausgeprägt als bei Frauen. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass es Frauen besser gelingt, den Verlust eines Partners - sei es durch Scheidung oder Tod - durch emotional stützende Netzwerke auch außerhalb der Familie aufzufangen. 30 Neben dem Geschlecht gibt es eine Reihe anderer sozialer Differenzierungen, die als Einflussfaktoren für Krankheit und Tod gut dokumentiert sind: So erhöhen Armut und mangelnde Bildung das Krankheits- und Sterberisiko. 31 Was man heute in den hochentwickelten Staaten »demografische Krise« nennt, setzt sich aus den beiden Komponenten Geburtenrückgang und Steigerung der Lebenserwartung zusammen. In der Tat gehören beide Seiten eng zusammen: In allen Ländern, wo die Lebenserwartung gestiegen ist, ist gleichzeitig die Geburtenrate gesunken; bzw. dort, wo die Kinderzahl niedrig ist, ist gleichzeitig die Lebenserwartung hoch. Zum Beispiel liegt in Äthiopien die Geburtenrate noch bei sieben Kindern, die Lebenserwartung aber unter 45 Jahren. In Ländern wie Japan, Italien 27 Luy/ Giulio (2005: 367 f.). 28 Luy/ Giulio (2005: 369 f.). 29 Durkheim (1987 [1897]: 196 f.). 30 Alber (2005). 31 Gärtner et al. (2005). Die Lebenserwartung des Geburtsjahrgangs 1955 liegt um drei Jahre höher als die des Jahrgangs 1925. Davon lassen sich möglicherweise etwa zwei Jahre auf den Einfluss der Bildungsexpansion, also auf den wesentlich höheren Anteil von Höhergebildeten im Geburtsjahrgang 1955, zurückführen (Schulze/ Unger 2006). 2.4 Lebenserwartung und Sterblichkeit 65 oder Deutschland, wo die Geburtenrate deutlich unter durchschnittlich zwei Kinder gesunken ist, liegt die Lebenserwartung etwa bei 75 Jahren. 32 Demografische Entwicklungen und Übergänge im Lebenslauf Die grundlegenden Ereignisse im Lebenslauf der Individuen sind also auch für die Demografie wichtig: Geburt, Heirat, Elternschaft, Tod. Dazu kommen weitere biografische Übergänge wie etwa der Auszug der jungen Erwachsenen aus dem Elternhaus, der immer seltener mit unmittelbarer Familiengründung zusammenfällt. Auch Bildungsverläufe und die Beendigung der Ausbildungsphase, Berufseintritt und Berufswechsel sind Ereignisse, die in bestimmter Weise mit Familienereignissen korrelieren können. Schließlich ist der Übergang in den Ruhestand eine wichtige Markierung im Lebenslauf. Solche Übergänge werden von der Demografie im engeren Sinn, der Bevölkerungsstatistik, nur zum Teil erfasst. Hier haben Biografie-, Lebenslauf- und Lebensverlaufsforschung in den letzten Jahrzehnten wichtige Impulse gegeben und differenzierte Ergebnisse über die Dauer von Lebensphasen, Statuspassagen und biografischen Übergängen erzielt. Auf diese Thematik wird in Kapitel 8.2 noch einmal ausführlicher eingegangen. 2.5 Struktur und Entwicklung der Bevölkerung Die bisher beschriebenen Veränderungen beziehen sich überwiegend auf den Wandel und die Entwicklung der Bevölkerung. Es gibt aber auch einige bedeutsame Aspekte der Beschreibung der Bevölkerungsstruktur (des Bevölkerungsstandes) zu einem bestimmten Zeitpunkt: Die Zahl der Bevölkerung, ihre Verteilung im Raum, ihre Struktur nach Geschlecht, Alter, Familienstand, Religionszugehörigkeit, ethnischer Zugehörigkeit, Sprache, Erwerbsstatus, Stellung im Beruf, Bildungsgrad usw. Für die Familiensoziologie und für eine Soziologie des Alterns ist besonders das Verhältnis von Altersstruktur und Geschlechterproportion wichtig, wie es in der »Bevölkerungspyramide« dargestellt wird (Abb. 2.2). Man kann an dieser Darstellung ablesen, wie viele Männer und Frauen in den einzelnen Lebensaltern in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt leben. Es kann hilfreich sein, weitere Differenzierungen einzuführen, etwa nach Familienstand oder Nationalität. 32 Birg (2003: 160). 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 66 Bei dieser Darstellung der Bevölkerungszahl und -struktur nach Lebensalter und Geschlecht kommt häufig eine bestimmte Metaphorik zum Zuge. Um 1900 ähnelte diese Darstellung für Deutschland noch einem Dreieck bzw. einer Pyramide, wie sie auch heute noch für Länder wie Brasilien zutrifft. Von einer »Bevölkerungspyramide« kann aber in Bezug auf die die alternden Länder des Westens nicht mehr länger die Rede sein, wenn man beispielsweise die Verhältnisse in Deutsch- Abbildung 2.2: Bevölkerungsstruktur Männer 600 Tausend 600 300 Frauen 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 0 300 Altersaufbau: 2008 Deutschland Altersstruktur und Geschlechterproportion, Deutschland, 2008. Quelle: Statistisches Bundesamt. 2.5 Struktur und Entwicklung der Bevölkerung 67 land etwa seit 1980 betrachtet. Daher wurden neue Metaphern gesucht wie zum Beispiel: »Von der Pyramide zum Pilz«. In einer offenbar rassistisch unterlegten Darstellung war auch einmal zu lesen: »Der deutsche Lebensbaum krankt«. Gemeint war damit der Anstieg der Ausländer, insbesondere bei den jüngeren Altersgruppen. Sie waren in der Darstellung innen angebracht, so dass der Eindruck entstehen konnte, der »deutsche Lebensbaum« würde »von innen« zersetzt. Erfrischend harmlos dagegen wirkt das Bild einer »Vase«. 33 Es ist ratsam, sich des metaphorischen Charakters solcher Umschreibungen eines statistischen Zusammenhangs zu vergewissern, da mit solchen Metaphern häufig normative Implikationen verbunden sind, etwa Vorstellungen über eine »gesunde« Bevölkerungsstruktur. Migration und Mobilität Dieses komplexe Thema kann hier nicht ausführlich behandelt werden. Ein paar knappe Bemerkungen sind aber angebracht. Der Geburtenrückgang in vielen westlichen Ländern konnte teilweise durch Einwanderung von Ausländern kompensiert werden. Die USA waren in diesem Sinn immer ein Einwanderungsland, dessen Bevölkerung trotz sinkender Geburtenraten kontinuierlich anstieg. Eine Zeitlang wurde auch in Deutschland den Warnern (»Sterben die Deutschen aus? «) entgegnet, man könnte den Geburtenrückgang doch problemlos durch Einwanderung ausgleichen. Inzwischen wird diese Entwicklung hierzulande kritischer gesehen, da die Integration größerer Gruppen von Ausländern sich als zunehmend schwierig erweist. In den letzten Jahren wurde die Formel »Jugendliche mit Migrationshintergrund« geradezu zu einem Symbol für Benachteiligung in Deutschland und für schwerwiegende soziale Probleme. Auch in den USA wachsen allmählich die Integrationsprobleme, die sich durch bestimmte Einwanderergruppierungen ergeben. So gibt es inzwischen in einigen Gebieten hispanische Bevölkerungsgruppen, die mehrheitlich spanisch sprechen. China hat das Problem der Wanderarbeiter, die noch für sehr niedrige Löhne in den aufblühenden Wirtschaftszentren der Ostküste arbeiten. Darüber hinaus wachsen im Zeitalter der Globalisierung die weltweiten Migrationsströme. Das betrifft nicht nur politische Flüchtlinge und klassische Arbeitsmigration, sondern auch die zunehmende Einwanderung von Personal für häusliche Dienst- und Pflegeleistungen, was zu unterschiedlichen Probleme führen kann. 34 Es gibt aber auch 33 Walter/ Bräuninger (2005: 176). 34 Hochschild (2003) spricht in diesem Zusammenhang von einer »global chain of care«. Vgl. dazu auch Kapitel 10.4. 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 68 positive Aspekte dieses Themas: So nimmt mit der wachsenden globalen Mobilität auch die Zahl an bi-kulturellen Ehen und multi-kulturellen Familien zu. Mit der wachsenden beruflichen Mobilität, die durch die wirtschaftliche Entwicklung seit Mitte der 1990er-Jahre forciert wurde, steigt auch der Anteil von Menschen in »mobilen Lebensformen«. Damit sind zum Beispiel Pendler-Paare gemeint oder Paare, die nicht in derselben Stadt arbeiten und deshalb nicht zusammen wohnen können. 35 In Deutschland wurde in den Jahren nach der Wiedervereinigung zunehmend das Problem der Ost-West-Wanderungen wahrgenommen. Neben einem starken Bevölkerungsrückgang in einigen Regionen Ostdeutschland wurde auch die Tendenz festgestellt, dass vor allem gut ausgebildete junge Frauen häufig Regionen im Osten verlassen, wo dann schlecht ausgebildete junge Männer nicht nur von Arbeitslosigkeit bedroht sind, sondern auch von erzwungener Ehelosigkeit aufgrund eines wachsenden Männerüberschusses. 36 Bevölkerungsentwicklung Auch zu diesem Thema können hier nur wenige Bemerkungen gemacht werden. In allgemeiner Hinsicht ist es bemerkenswert, dass die globale Bevölkerungszahl Jahrtausende lang stagnierte oder in Zyklen wuchs und schrumpfte und daher nur ein sehr langsames Wachstum der Gesamtbevölkerung auf dem Globus festzustellen war. So schwankte zum Beispiel die (geschätzte) Bevölkerung Europas in den ersten fünfzehn Jahrhunderten unserer Zeitrechnung zwischen etwa 40 und 70 Millionen, lag im 17. Jahrhundert bei etwa 100 Millionen und auch im 19. Jahrhundert noch unter 300 Millionen. Ein wesentlicher Grund für diese relative Stagnation waren die Sterbeverhältnisse. Die mittlere Lebenserwartung bei der Geburt lag zum Beispiel im 13. Jahrhundert bei 35 Jahren. 37 Seit Mitte des 18. Jahrhunderts verbesserte sich allmählich die Situation, und die großen Sterbewellen, die die Bevölkerung immer wieder reduziert hatten, blieben aus. Seit dem 19. Jahrhundert wuchs die europäische Bevölkerung stark und bald auch die übrige Weltbevölkerung. Die letzten Jahrzehnte waren geprägt von dramatischen Verkürzungen der Zeitabstände, innerhalb derer sich die Weltbevölkerung verdoppelte. Während die Bevölkerung in Europa im 20. Jahrhundert nur noch langsam wuchs, gab es gewaltige Zuwächse in Asien, Afrika und Lateinamerika. 35 Schneider et al. (2002). 36 Mai/ Schon (2005). 37 Felderer/ Sauga (1988). 2.5 Struktur und Entwicklung der Bevölkerung 69 Inzwischen ist aber absehbar, dass sich das Wachstum verlangsamt und irgendwann, vielleicht um 2050, stagniert: So lautet etwa eine der Prognosen, dass im Jahr 2050 das Wachstum der Weltbevölkerung nur noch etwa 0,3 Prozent betragen und die Geburtenrate auf etwa 2,0 gesunken sein werde. 38 Das Problem der Überbevölkerung ist dennoch keineswegs harmlos, abgesehen von zusätzlichen Problemen, die sich durch den »clash of civilizations« 39 ergeben könnten oder durch den globalen Klimawandel. Demografischer Übergang In vielen Ländern der westlichen Welt war vor etwa hundert bis hundertfünfzig Jahren folgende Entwicklung zu beobachten: Aufgrund der Verbesserung der Lebensbedingungen und der medizinischen Versorgung war ein deutlicher Rückgang der Sterblichkeit in allen Lebensaltern (insbesondere aber bei der Kinder- und Müttersterblichkeit) festzustellen. Bis zu dieser Zeit war es in vielen Familien Abbildung 2.3: Entwicklung der Weltbevölkerung 1 2 3 4 5 6 7 1900 1910 1920 1930 1940 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 in Mrd. Entwicklung der Weltbevölkerung, 1900-2010 Quelle: Daten der Vereinten Nationen (UN). 38 Bericht des International Monetary Fund (World Economic Outlook 2004: 138). 39 Huntington (1996). 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 70 eine leidvolle Erfahrung, dass von acht oder zehn geborenen Kindern oft nicht einmal die Hälfte überlebte. Dann aber verbesserte sich die Situation und immer seltener starben Kinder frühzeitig. Es setzte ein starkes Bevölkerungswachstum ein, weil die Sterberate, die vorher nur knapp unter der Geburtenrate lag, nun rasch abfiel und der Geburtenüberschuss von Jahr zu Jahr größer wurde. Die Reaktion in den darauf folgenden Generationen war nun, dass die Zahl der Geburten zurückging und sich allmählich Geburten- und Sterberaten wieder annäherten, wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau. Diese Veränderung wird als »demografischer Übergang« bezeichnet. Er war in vielen westlichen Ländern bereits am Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlossen. Die Geburtenrate sank dann im 20. Jahrhundert weiter, aber deutlich langsamer. Einen wichtigen Grund für den langfristigen Fall der Geburtenrate sehen insbesondere Ökonomen auch darin, dass Kinder immer unwichtiger für die ökonomische Unterstützung der Eltern und ihre Alterssicherung wurden. Heute ist manchmal vom »zweiten demografischen Übergang« die Rede. 40 Damit sind die Veränderungen seit den 1960er-Jahren gemeint, die in den meisten dieser Länder zu einem Geburtenrückgang, nun deutlich unter dem Repro- Abbildung 2.4: Demografischer Übergang Geburtenüberschuss Geborene Verstorbene Zeit 0 10 20 30 40 Demografischer Übergang (Modell) Quelle: Felderer/ Sauga (1988). Eigene Darstellung. 40 Van de Kaa (1987), Lesthaeghe (1992). 2.5 Struktur und Entwicklung der Bevölkerung 71 duktionsniveau, führten. Im Unterschied zum ersten demografischen Übergang handelt es sich dabei nicht um eine Reaktion auf veränderte Sterbeverhältnisse oder auf wirtschaftliche Veränderungen, sondern um einen Bedeutungsanstieg kultureller Faktoren für das Geburtenverhalten. Es ist deshalb sinnvoll, deutlich zwischen zwei Phasen des langfristigen Geburtenrückgangs zu unterscheiden: Während es beim ersten Geburtenrückgang - im Rahmen des demografischen Übergangs - noch um das Wohl der Kinder und eine liebesorientierte, kindzentrierte Ehe gegangen war, wie Philippe Ariès betont, steht seit den 1970er-Jahren eher die Selbstverwirklichung der Erwachsenen im Vordergrund. »König Kind« wurde entthront. 41 Häufig wird - im Zusammenhang mit dem Aufstieg der »postmodernen Familie« - ein Rückgang der Zuwendung zum Kind zugunsten der Selbstverwirklichung der Erwachsenen konstatiert. 42 Malthusianismus und European Marriage Pattern Beim Thema Bevölkerungsentwicklung im Zusammenhang mit der Fertilität taucht häufig der Name Malthus bzw. die Bezeichnung »Malthusianismus« auf. Im 18. Jahrhundert gingen Sozialphilosophen wie Adam Smith oder John Stuart Mill von einem engen Zusammenhang zwischen Einkommens- und Bevölkerungsentwicklung aus: Wachsender Wohlstand würde zu einem Geburtenanstieg führen. Während etwa Adam Smith darin kein Problem, sondern eher eine günstige Entwicklung für die Arbeitsmärkte sah, machten sich andere Theoretiker Sorgen, weil rasch wachsende Bevölkerungen häufig zu sozialen Problemen, etwa durch Versorgungsschwierigkeiten, führen könnten. Zu den Pessimisten gehörte auch der Theologe und Nationalökonom Thomas Robert Malthus. 1798 erscheint sein Werk »An Essay on the Principle of Population as it Affects the Future Improvement of Society«. Malthus nimmt darin an, dass ein durch Wohlstand erzeugtes Bevölkerungswachstum regelmäßig zu einer Nahrungsmittelknappheit führt, weil die landwirtschaftlichen Produktivitätszuwächse nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten könnten. Als Konsequenz, so Malthus, müssten moderne Gesellschaften dafür sorgen, dass ihre Bevölkerungen nicht ungeregelt wuchsen. Zwar würden auch weiterhin natürliche Mechanismen wie Hungersnöte und Seuchen in solchen Fällen eine »Lösung« herbeiführen. Aber auch um dies zu vermeiden, seien »preventive checks« nötig, d. h. 41 Ariès (1980). 42 Shorter (1989). 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 72 Maßnahmen zur Beschränkung der Geburtenzahl. Malthus war damit der Erste, der Geburtenkontrollen forderte, wenn Bevölkerungen zu schnell wachsen. Dieses Prinzip nennt man seither auch Malthusianismus. Als Theologe sprach sich Malthus bekanntlich gegen bestimmte Methoden der Geburtenkontrolle aus, wie sie heute üblich sind. Er empfahl sexuelle Enthaltsamkeit und späte Heirat. Tatsächlich hat sich in England und anderen Ländern ein »Malthusianisches Heiratssystem« durchgesetzt. 43 Es wird manchmal auch mit dem European Marriage Pattern gleichgesetzt. Dieses ist geprägt durch eine hohe Ledigenquote und ein spätes Heiratsalter - und diese beiden Aspekte haben in den meisten mittel- und nordwesteuropäischen Regionen tatsächlich zu einer relativ niedrigen Geburtenrate beigetragen. Der Begriff European Marriage Pattern wurde von dem Demografie- Historiker Hajnal geprägt, dem diese beiden Charakteristika - hohe Ledigenquote und spätes Heiratsalter - als Besonderheit des europäischen Nordwestens aufgefallen waren. In den meisten mittel- und nordwesteuropäischen Staaten war noch im Jahr 1900 etwa die Hälfte der Männer im Alter zwischen 25 und 29 Jahren unverheiratet, während dieser Anteil in Süd- und Osteuropa deutlich niedriger lag. Dieses Heiratsmuster verlor in bestimmten, sich schnell industrialisierenden Regionen wieder an Bedeutung. Mit der Industrialisierung sank das Heiratsalter, wenn man auch aufgrund starker regionaler Schwankungen mit eindeutigen Aussagen vorsichtig sein muss. 44 Insgesamt ist es aber unstrittig, dass im Verlauf des 20. Jahrhunderts das Heiratsalter deutlich sinkt, zumindest bis in die 1970er-Jahre. Das Europäische Heiratsmuster wird oft als Faktor für den Geburtenrückgang und allgemein für eine niedrige Fertilität angesehen. Der Geburtenrückgang in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist jedoch stärker zurückzuführen auf Geburtenkontrolle in der Ehe (ausgelöst auch durch die rückläufige Kindersterblichkeit). Geburtenkontrolle in der Ehe wurde bevorzugt auf zwei Wegen durchgeführt: zum einen durch »stopping« der Geburtenfolge; das heißt, die Paare achteten darauf, dass zum Beispiel nach dem dritten Kind im Alter von 30 Jahren keine weitere Schwangerschaft mehr auftrat. Zum anderen gab es die Möglichkeit, die Geburtenabstände zu vergrößern, zum Beispiel durch längere Stillzeiten. Aber beide Methoden reichen für die Erklärung des Geburtenrückgangs nicht aus, es mussten auch direktere Maßnahmen (Enthaltsamkeit, empfängnisverhütende Mittel, Abtreibung) zur Anwendung kommen. 43 Macfarlane (1986). 44 Gestrich (1999: 76 ff.). 2.5 Struktur und Entwicklung der Bevölkerung 73 Zusammenfassende Thesen Die Demografie hat eine Reihe von Methoden und Messziffern entwickelt, um mit Hilfe der Daten der amtlichen Statistik Entwicklungstrends belegen zu können. Grundsätzlich geht es dabei um die Bevölkerungsentwicklung, also um Wachstum oder Schrumpfung, aber auch um Veränderungen in der Zusammensetzung der Bevölkerung, d. h. um die Bevölkerungsstruktur. Im Besonderen geht es um die Entwicklungen von Geburten und Familiengründungen, Eheschließungen und Scheidungen, Lebenserwartung und Sterblichkeit. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Perioden- und Kohortendaten, weil Erstere häufig ein verzerrtes Bild ergeben und zu voreiligen Schlussfolgerungen verleiten können. Eine Reihe von Entwicklungen sind auch mit Hilfe der amtlichen Statistik nicht leicht zu erfassen, zum Beispiel das Ausmaß an Kinderlosigkeit oder die Häufigkeit, mit der Geschiedene erneut heiraten. Zu den bemerkenswerten Entwicklungen des letzten Jahrhunderts hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung gehören die deutlich gestiegene Lebenserwartung und der Rückgang der Sterblichkeit (sowohl bei Säuglingen und Kindern als auch bei alten Menschen). Dem langfristigen Geburtenrückgang in der westlichen Welt steht ein immer noch starkes globales Bevölkerungswachstum gegenüber, das sich zwar verlangsamt, aber erst in der Mitte des 21. Jahrhunderts beendet sein dürfte. Besondere Kennzeichen der Bevölkerungsentwicklung in Westeuropa sind der demografische Übergang sowie ein malthusianisches Ehesystem (European Marriage Pattern). 2. Familiendemografie und Bevölkerungsentwicklung 74 Übungsfragen - Was sind die Vor- und Nachteile von Perioden- und Längsschnittdaten? Wie unterscheiden sich Kohorten- und Paneldaten voneinander? - Welche Maßzahl für die Fertilitätsentwicklung ist am besten geeignet, um das Sinken unter das Reproduktionsniveau zu belegen - und warum? - Welche Probleme ergeben sich bei den verschiedenen Maßzahlen hinsichtlich der Scheidungshäufigkeit? - Was sind die Kennzeichen des »Alterns der Gesellschaft«? - Welche historische Entwicklung wird als »demografischer Übergang« bezeichnet? - Was bedeutet »Malthusianismus«? Basisliteratur Felderer, Bernhard/ Michael Sauga (1988): Bevölkerung und Wirtschaftsentwicklung. Frankfurt/ M.: Campus Höpflinger, François (1997): Bevölkerungssoziologie. Eine Einführung in bevölkerungssoziologische Ansätze und demografische Prozesse. Weinheim: Juventa Imhof, Arthur E. (1981): Die gewonnenen Jahre. Von der Zunahme unserer Lebensspanne seit dreihundert Jahren oder von einer neuen Einstellung zu Leben und Sterben. München: Beck Kaufmann, Franz-Xaver (2005): Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Lesthaeghe, Ron (1992): Der zweite demografische Übergang in den westlichen Ländern: Eine Deutung. Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 18, S. 313-354 2.5 Struktur und Entwicklung der Bevölkerung 75 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft Gibt es »die Familie« immer schon, seit dem Anfang der menschlichen Geschichte? Ist, mit anderen Worten, die Familie eine universelle Struktur, eine Institution, die sich in jeder Gesellschaft und jeder Kulturepoche entwickelt hat? Man kann diese Frage unterschiedlich angehen, und je nach Forschungsrichtung ergeben sich unterschiedliche Antworten. Ein erster Zugang ergibt sich, indem nach dem historischen Ursprung der Familie gefragt und versucht wird, mit Mitteln der Geschichtsschreibung und der Human-Archäologie möglichst weit zurückzugehen. Die entsprechenden Quellen sind natürlich spärlich und deshalb ist bei dieser Frage auch viel spekuliert worden (? 3.1). Ein zweiter Zugang zur Beantwortung der Frage nach der Universalität von Familie und Verwandtschaft ergibt sich unter Rekurs auf die biologisch-soziale Doppelnatur von Sexualität, Familie und Verwandtschaft. Mit dem wachsenden Erfolg der Bio-Wissenschaften in den letzten Jahrzehnten wird die These einer biologischen Basis der Familie wieder offensiver vertreten. Besonders die Soziobiologie glaubt, Erkenntnisse aus der Tierverhaltensforschung auf den Menschen übertragen zu können.(? 3.2). Inzwischen gibt es auch in populären Darstellungen solche Übertragungen von Ergebnissen der Tierverhaltensforschung auf den Menschen. Dabei werden aber eine Reihe von Problempunkten übersehen, die sich vor allem daraus ergeben, dass sich die Evolution der menschlichen Kultur von der biologischen Evolution gelöst hat und menschliches Verhalten bestimmten Normen und Wertvorstellungen folgt, die nichts mit der biologischen Evolution zu tun haben (3.3). Auch die Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen scheint zunächst einer biologischen Begründung von Familie entgegenzukommen, zumal, wenn man an Blutsverwandtschaft (»Blutsbande«) denkt. Allerdings zeigt die ethnologische Forschung, dass die kulturellen Ausformungen der biologischen Basis äußerst differenziert sind. Und obwohl sich zeigt, dass bestimmte elementare Strukturen der Verwandtschaft in den meisten Kulturen vorkommen (und daher in gewisser Weise als universell betrachtet werden können), wird in der Ethnologie doch eher die kulturelle »Natur« der Verwandtschaftsbeziehungen hervorgehoben. Ähnlich wie in der Geschlechterforschung wird also auch in der ethnologischen Verwandtschaftstheorie betont, dass die biologische Basis die kulturellen Ausformungen von Verwandtschafts- und Familienbeziehungen keineswegs determiniert (? 3.4). 77 Am Schluss des Kapitels werden einige Ergebnisse von Tierverhaltensforschung und Ethnologie noch einmal unter der Frage gebündelt, ob es aus der Stammesgeschichte des Menschen und seiner biologischen Natur Hinweise dafür gibt, dass sich langfristig Monogamie und Kleinfamilie durchsetzen (? 3.5). 3.1 Ursprung und Universalität der Familie Die Ursprünge der Menschheit liegen immer noch weitgehend im Dunkel. Das gilt erst recht für die Frage nach den Formen des Zusammenlebens der vorgeschichtlichen Menschen. Archäologen und Paläoanthropologen stoßen zwar immer wieder einmal auf bemerkenswerte Funde aus grauer Vorzeit, doch lassen sich daraus nur selten klare Erkenntnisse darüber ableiten, wie die Familien- oder Verwandtschaftsstrukturen aussahen. 1 Bevor Ethnologie, Evolutionstheorie und Soziobiologie in dieser Hinsicht neue Erkenntnisse gewannen (siehe dazu den nächsten Abschnitt), gab es zu diesen Fragen viele Spekulationen: etwa darüber, ob am Anfang Polygamie oder Monogamie vorherrschend war oder ob es anfangs matrilineare Familienstrukturen oder vielleicht sogar ein Matriarchat gab. In Deutschland wurden hier vor allem die Thesen von Friedrich Engels und Johann Jakob Bachofen immer wieder diskutiert, anschließend an Lewis H. Morgan, einem »Freund der Irokesen«, der bei diesem Stamm die Matrilinearität entdeckt hatte und sie später zu einer frühen Phase der Menschheit (»Urgesellschaft«) verallgemeinerte. Diese Autoren standen allerdings noch stark unter dem Einfluss einer evolutionstheoretischen Grundannahme aus europäisch-amerikanischer (westlich-ethnozentrischer) Sicht, der zufolge die moderne monogame Familie die höchste Entwicklungsstufe der menschlichen Sozialität darstellt. In der deutschen (philosophischen) Anthropologie wurde die Erkenntnis betont, dass der Mensch eine »physiologische Frühgeburt« sei und wesentlich unfertiger zur Welt komme als die meisten anderen Tiere. 2 Daraus lässt sich folgern, 1 »Graue Vorzeit«: Das Paläolithikum (Altsteinzeit; ca. zwei bis drei Millionen bis etwa vor 10.000 Jahren) gilt als Phase der Menschwerdung. Konkrete Zeugnisse kultureller Aktivitäten des Menschen sind nicht älter als ca. 40.000 Jahre (Höhlenmalereien). Für die Zeit davor kann man aus Knochen- und anderen Fossilienfunden (Feuerstätten, Grabstätten) Vermutungen über Essgewohnheiten ableiten, aber kaum über Familienformen. 2 Der Biologe Adolf Portmann sprach vom ersten Entwicklungsjahr des menschlichen Säuglings als »extrauterines Frühjahr« (zu früh geboren, allein nicht überlebensfähig). Das deutsche Wort »Anthropologie« bezieht sich auf die Gesamtheit des philosophisch-biologischen 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 78 dass die längere Abhängigkeit der Kinder von der Mutter oder anderen Bezugspersonen die Bildung von Familienverbänden und Verwandtschaftsnetzen, vielleicht auch die Herausbildung der Monogamie, begünstigt. Die theoretischen Überlegungen der Anthropologie können zwar heute ein Stück weit durch neuere Forschungsergebnisse der Paläoanthropologie ergänzt werden. Aber es ist immer noch sehr schwierig, im archäologischen Material - Knochenfunde und sonstige Überreste prähistorischer Menschen oder Menschenaffen - Spuren der Kulturentwicklung zu finden. 3 Man weiß heute einiges über die Zusammenhänge zwischen aufrechtem Gang, Hirngröße, Bewusstsein und einigen sozialen Verhaltensweisen wie zum Beispiel Begräbnisrituale. Aber die Hinweise auf eine frühe Familienbildung des Menschen sind spärlich und unsicher. Der moderne Mensch gehört zur Primatenart der Hominiden. Der Übergang von den Menschenaffen zu den Hominiden (d. h. aufrechter Gang) liegt beim »Australopithecus« 4 , der vermutlich vor zwei bis drei Millionen Jahren in Afrika lebte: Der bekannteste Fund bekam den Namen »Lucy«. Die Australopithecinen starben vor ca. 700.000 Jahren aus. Der moderne Mensch, der Homo sapiens, existiert seit vielleicht 50.000 Jahren (seit dem Jungpaläolithikum). Soweit man darüber überhaupt etwas wissen kann, lebten diese Menschen in sehr unterschiedlichen Sozialformen. Man glaubt aber sagen zu können, dass es überall schon enge Bindungen zwischen den Müttern und ihren Kindern gab - sicher nicht im Sinne moderner »Mutterliebe«, sondern eher in dem Sinn, dass die Kinder die ersten Jahre nur überleben konnten im engen körperlichen Kontakt zur Mutter oder einer »Allomutter« (einer primären Bezugsperson), und dass dieses Überleben des Kindes immer schon das primäre Interesse von Müttern ist. 5 Kinder und Mutter- Kind-Einheiten konnten jedoch nur überleben, wenn es einen sie schützenden Kontext gab: also etwa eine Gruppe von engen Verwandten oder sonstigen Nahestehenden. Das hat nicht nur Familienbildung, sondern vielleicht auch patriarchale Tendenzen begünstigt. 6 Denkens über den Menschen (Gadamer/ Vogler 1972), im Unterschied zum englischen Wort Anthropology, mit dem sowohl die Ethnologie gemeint sein kann (Kulturanthropologie) als auch die Paläoanthropologie (Bestimmung der Menschheitsentwicklung durch Fossilienfunde, z. B. Leakey 1994). 3 Vgl. etwa Leakey (1994). 4 Die Bezeichnung setzt sich aus lat. australis (=südlich) und griech. Pithékeios (=affenartig) zusammen. 5 Bowlby (1975), Hrdy (2002). 6 Hrdy (2002: 130 ff.). 3.1 Ursprung und Universalität der Familie 79 Zu den Besonderheiten des Menschen kann auch die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gezählt werden, die es in dieser Form bei den Primaten oder Säugetieren nicht gibt. Sie hat sich möglicherweise erst mit der Beherrschung des Feuers und mit der Großwildjagd entwickelt. 7 Bei der Jagd wird es schwierig, die kleinen Kinder mitzunehmen. Sie müssen zurückbleiben - und mit ihnen die Mütter. Das gleiche gilt für das Feuer: Es liegt nahe, dass die Frauen, die sich um die Kleinkinder kümmern, bei der Feuerstelle bleiben. Eine weitere Besonderheit des Menschen ist die sexuelle Dauerbereitschaft der Frau, die es ebenfalls bei Primaten oder Säugetieren nicht gibt, und die sich wahrscheinlich schon seit der Trennung der Hominiden von den Schimpansen, also etwa vor vier Millionen Jahren entwickelt hat. 8 Das könnte die sexuelle Rivalität der Geschlechtsgenossen um das jeweilige andere Geschlecht auf Dauer gestellt haben.. Die Frage nach der Universalität lässt sich auch funktionalistisch verstehen: Wenn sich zeigt, dass die Familie bestimmte Funktionen für die Gesellschaft erfüllt, die nur sie erfüllen kann, dann muss es in jeder Gesellschaft zwangsläufig zur Bildung von Familien kommen. Jede Gesellschaft, so kann man argumentieren, muss das Nachwuchsproblem lösen. Das würde zwar nicht zwingend Familienstrukturen erforderlich machen (schon gar nicht in der modernen Form), aber es ist in der kulturellen Evolution unvermeidlich, dass diese Funktionen (Nachwuchs zu zeugen und ihn aufzuziehen) irgendeine institutionelle Form herausbilden müssen. Wenn dann gezeigt werden kann, dass die Familie - und nur die Familie - diese Funktionen erfüllen kann, dann hat man die Universalität von Familie gewissermaßen theoretisch bewiesen. 9 Auch in der soziologischen Theorie der Familie wird oft funktionalistisch argumentiert. Es werden Funktionen der Familie benannt - Reproduktion der Gattung, Sozialisation, Regeneration, Bereitstellung von Emotionalität und Privatsphäre usw. - und dann die Frage nach möglichen funktionalen Äquivalenten aufgeworfen: Bedarf es zur Erfüllung dieser gesellschaftlichen Funktionen der Familie oder gibt es andere Institutionen, die diese Funktionen ebenfalls (oder vielleicht sogar besser) erfüllen könnten? Dazu später mehr. 7 Masset (1996). 8 Masset (1996). 9 Murdock (1949) gehörte zu jenen, für die die Familie universell war. Er sprach der Familie vier grundlegende Funktionen zu: Sexualität, Reproduktion, Sozialisation, Ökonomie. 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 80 3.2 Evolutionstheorie und Soziobiologie Erste Übersicht Unter den biologischen Teildisziplinen hat vor allem die Soziobiologie seit den Forschungen von William D. Hamilton über die genetische Verwandtschaft von Tieren einen zunehmenden Einfluss bei der Frage der Erklärung des Verhaltens »sozialer Tiere« gewonnen. Umstritten dagegen ist immer noch, ihre Erkenntnisse einfach auf den Menschen zu übertragen; vor allem weil damit, seit der Popularisierung der Theorie durch den Ameisenforscher Edward O. Wilson, oftmals der Anspruch verbunden wird, die Soziobiologie sei eine universelle Wissenschaft vom Leben, was wiederum die Sozialwissenschaften überflüssig machen könnte, weil es keinen entscheidenden Unterschied zwischen tierischem Verhalten und menschlichem Handeln gäbe. 10 Man könnte aber auch argumentieren, dass dieser Anspruch zurecht besteht, weil die Evolutionstheorie gezeigt hat, dass der Mensch lediglich ein höheres Tier ist, und viele höhere Tierarten Formen des Zusammenlebens entwickelt haben, die als »Familie« bezeichnet werden könnten. Vor allem hinsichtlich Elternschaft und Nachwuchssicherung hat die Soziobiologie viele Parallelen zwischen Mensch und Tier entdeckt. Manche Soziobiologen übertragen die Ergebnisse der Tierforschung relativ direkt auf den Menschen, andere sind vorsichtiger und betonen das Zusammenspiel von Natur und Kultur beim Menschen. Die Grundannahme der Evolutionstheorie ist, dass sich jene Arten oder jene Individuen innerhalb einer Art in der Evolution durchgesetzt haben, die sich am besten an die jeweilige Umwelt angepasst haben und die deshalb ihr genetisches Potential am besten umsetzen konnten: Der Fortpflanzungserfolg ist das wichtigste Kriterium der natürlichen Selektion. Wer die besten »Strategien« hat, um seine Reproduktionsrate zu erhöhen, setzt sich in der Evolution durch. Weil die Soziobiologie eine Sprache verwendet, bei der es so aussieht, als würden Tiere gewissermaßen bewusst solche Strategien anwenden - oder mehr noch: als würden sie wie ein rationaler Akteur Kosten und Nutzen kalkulieren, wenn es um reproduktive Entscheidungen geht, obwohl es sich in der Theorie um »genetische Programmierung« handelt -, kommt es häufig zu Missverständnissen. Die handlungstheoretische Sprache nach dem Modell der Rational-Choice-Theorie suggeriert, die Tiere - oder gar ihre Gene - wüssten, wie sie ihren Fortpflanzungserfolg erhöhen könnten, und würden entsprechende Strategien wählen. Tatsächlich geht es 10 Wilson (1975). 3.2 Evolutionstheorie und Soziobiologie 81 aber nur darum, dass Arten, bei denen sich aus ganz unterschiedlichen Gründen bestimmte Verhaltensweisen zufällig entwickelten, sich deshalb besser anpassen konnten und dadurch einen höheren Fortpflanzungserfolg hatten. Darwin und die Soziobiologie Die Soziobiologie steht in der Tradition der Evolutionsbiologie Darwins, aber auch der Genetik (Vererbungslehre). Eine Grundannahme der Evolutionstheorie ist, dass sich jene Arten selektiv durchsetzen, die am besten angepasst sind und daher eine optimale reproduktive Effizienz erreichen; das heißt, den bestmöglichen Fortpflanzungserfolg. Lange Zeit wurde die Arterhaltung als ultima ratio biologischer Anpassungsprozesse angesehen. Bei Darwin ging es bei »Anpassung« um die Erhaltung einer Art in einer gegebenen Umgebung und damit um die Frage, ob sich eine Art an sich verändernde Umweltbedingungen rasch genug anpassen konnte, etwa durch Veränderungen im Sozialgefüge der Art oder durch Veränderungen der Nahrungssuche. Hier hat die Soziobiologie eine andere Perspektive entwickelt. Seit Hamilton weiß man, dass die biologische Verwandtschaft eine wichtige Rolle spielt. Deshalb wird bei der Soziobiologie die evolutive Anpassung auf die Ebene der genetischen Selektion verlagert. Das einzelne Individuum einer Gattung verhält sich nicht im Sinne der Arterhaltung, sondern im Sinne der Reproduktion seiner eigenen genetischen Abstammungslinie (»Gesamtfitness«). Diese Einsicht führte zu der populär gewordenen, aber missverständlichen Rede vom »egoistischen Gen«. 11 Darwin konnte sich zum Beispiel nicht recht erklären, warum sich in der Evolution auch altruistische Tendenzen durchgesetzt haben. Er und seine Nachfolger hatten angenommen, dass Gruppenselektion das Hauptprinzip sei, dass sich also Individuen gewissermaßen im Interesse der Gruppe (letztlich: der Arterhaltung) aufopfern würden. Dieses Problem glaubt die Soziobiologie gelöst zu haben mit der Annahme, das einzelne Individuum würde sich »im Interesse« seiner Gene bzw. der seiner biologisch nahen Verwandten aufopfern. Drei Aspekte - drei Forschungsfelder der Soziobiologie - werden im Folgenden etwas genauer betrachtet: Kooperation und Altruismus, Geschlechterbeziehungen und sexuelle Selektion, Elterninvestment. Sie hängen enger zusammen als die getrennte Darstellung nahe legt. 11 Dawkins (1978). 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 82 Kooperation und Altruismus Soziale Tiere sind auf Kooperation angewiesen. Für das einzelne Individuum einer Gattung ergibt sich daraus ein Dilemma: Lohnt es sich, im Dienst der Gruppe zu agieren und unter Umständen auf den eigenen Fortpflanzungserfolg zu verzichten? Unter welchen Bedingungen erhöht sich mein Fortpflanzungserfolg, obwohl ich mich um das Wohlergehen der anderen kümmere? Die Soziobiologie hat sich mit solchen Fragen beschäftigt um erklären zu können, warum es trotz des biologischen Egoismus auf der genetischen Ebene (Wettbewerb, Selektionsdruck, natürliche Auslese) bei vielen Tierarten zu Kooperation, »Familiensolidarität« oder »Vetternwirtschaft« (nepotistischem Altruismus) kommt. 12 Die Antwort liegt in der Annahme begründet, dass Verwandtenselektion stattfindet. Es kann für den Fortpflanzungserfolg eines Individuums (im Sinne der genetischen Reproduktion) unter Umständen günstiger sein, sich nicht selbst fortzupflanzen, sondern einen nahen Verwandten bei der Fortpflanzung zu unterstützen. Empirisch zeigt sich: Je enger zwei Individuen genetisch verwandt sind, desto wahrscheinlicher unterstützen sie sich, und desto wahrscheinlicher gehen sie sogar persönliche Risiken zum Vorteil ihres Partners oder Artgenossen ein bzw. nehmen Nachteile in Kauf. 13 Im Unterschied zu Darwin konnte die Soziobiologie also zeigen, dass unter bestimmten verwandtschaftlichen und ökologischen Bedingungen eine solche Aufopferung zugunsten des Fortpflanzungserfolgs anderer durchaus als biologische Angepasstheit im »egoistischen« Vermehrungsinteresse der »eigenen« Gene verstanden werden kann. Die genetisch-biologische Verwandtschaft transportiert auch den »genetischen Eigennutz«, und das »egoistische Gen« sorgt nun dafür, dass seine Träger, einschließlich naher Verwandter, füreinander sorgen. Was auf der Verhaltensebene wie Altruismus - oder »Familienorientierung« - aussieht, kann sich als genetischer Egoismus entpuppen, denn einem phänotypischen Altruismus kann ein genotypischer Egoismus unterliegen. 14 12 Voland/ Paul (1998: 36 ff.). 13 Entscheidend ist die »Gesamtfitness« (inclusive fitness): Sie errechnet sich aus dem persönlichen Fortpflanzungserfolg eines Individuums einer bestimmten Gattung plus dem Anteil am Fortpflanzungserfolg seiner genetischen Verwandten. Im Extremfall ist es günstiger (in einer Kosten-Nutzen-Kalkulation) für ein Gen, seinen Träger zur Selbstaufgabe zu veranlassen (eines der Tiere stößt beim Angriff eines Feindes einen Warnruf aus, rettet dadurch seine Artgenossen, wird aber selbst getötet). 14 Hamilton (1964), der dies als erster erkannt hat, konnte damit das Rätsel theoretisch lösen, warum fast alle Honigbienen (die Arbeiterinnen) keinen eigenen Nachwuchs zeugen. Er konnte berechnen, dass die Gesamtfitness der einzelnen Tiere dennoch höher ist (Voland 1993: 58 f.). 3.2 Evolutionstheorie und Soziobiologie 83 »Deshalb bekräftigt das biologische Evolutionsgeschehen konsequenterweise nicht nur die Eigenschaften, die die Fortpflanzung der Individuen begünstigen, sondern auch jene Eigenschaften, die den jeweils nächsten Verwandten zu höherem Reproduktionserfolg verhelfen.« 15 Allerdings stellt sich hier - und erst recht bei der Übertragung auf den Menschen - die Frage, ob Kooperations- und Hilfsbereitschaft (Altruismus) und Verwandtensolidarität direkt im »genetischen Programm« angelegt sind und der Fortpflanzung der Gene dienen; oder ob sie sich doch eher aus dem Zusammenleben und beim Menschen aus den sozialen Verpflichtungen, besonders aufgrund der Verwandtschaft, ergeben. Im Fall des menschlichen Soziallebens lässt sich erkennen - wie im Abschnitt 3.4 gezeigt wird) -, dass der Verpflichtungsgrad nicht unmittelbar mit der genetischen Verwandtschaftsnähe steigt, sondern mit der kulturellen Verwandtschaftsnähe. Anders gesagt: In einer Kultur, in der meine Kreuzcousine - zum Beispiel die Tochter eines Bruders meiner Mutter - zu meinen nahen Verwandten gehört, werde ich mich mehr um sie kümmern als in einer Kultur, in der sie als entferntere Verwandte gilt, obwohl sie in beiden Fällen genetisch den selben Verwandtschaftsgrad hat. Einige Ergebnisse der Soziobiologie bezüglich der Kooperation regen dazu an, sie auf den Menschen zu übertragen. Dabei handelt es sich in der Regel allerdings um bloße Plausibilitätsannahmen. Denn Kulturbzw. Umweltbedingungen können, auch wenn beim Menschen entsprechende Ergebnisse nachgewiesen sind, als Erklärungsfaktoren nie ausgeschlossen werden: 1. Rudelbildung und Gruppenleben haben sich bei vielen Arten als Evolutionsvorteil erwiesen. Gilt das auch noch für den Menschen? 2. Kooperation bei Fortpflanzung und Brutpflege (»Helfer am Nest«): Was haben Tiere davon, die sich nicht selbst fortpflanzen und statt dessen anderen dabei helfen, den Nachwuchs zu pflegen und zu verteidigen? Es kann für schwächere Tiere, die selbst vielleicht keinen Sexualpartner finden oder ihren Nachwuchs nicht ausreichend ernähren könnten, »kostengünstiger« sein, anderen zu helfen (als gar nichts zu tun) - z. B. könnten sie, beim Tod der Mutter oder des Vaters, als »Onkel« einspringen. 16 3. Verwandtenunterstützung kann besonders kostengünstig sein: Gesamtfitness- Maximierung. Ist das ein biologischer Grund für unsere größere Bereitschaft, Verwandte zu unterstützen? 15 Voland/ Paul (1998: 37). 16 Voland (1993: 36 f.). 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 84 Geschlechterbeziehungen und -konkurrenz: male competition/ female choice Auch wenn Darwin die Arterhaltung in den Mittelpunkt rückte, so sah er doch, dass die sexuelle Selektion zu einer Konkurrenz innerhalb der Geschlechterklassen führt. In der Sprache der Soziobiologie: Wer die »besten Exemplare« des anderen Geschlechts für die gemeinsame Fortpflanzung gewinnen kann, der erkämpft sich damit Selektionsvorteile für seine Gene. Dabei haben die beiden Geschlechter, aufgrund der unterschiedlichen Reproduktionspotentiale, unterschiedliche Erfolgsstrategien (male competition/ female choice): Wenn die Männchen ihren Fortpflanzungserfolg optimieren wollen, müssen sie möglichst viele Weibchen begatten und zugleich sexuell kontrollieren (ihre »Treue« kontrollieren); Weibchen dagegen müssen zusehen, möglichst hochwertige Gene zu bekommen, da ein »Fehlgriff« schwerwiegendere Folgen hat als bei den Männchen. Sie müssen also eine sorgfältigere Auswahl unter den Männchen treffen. Da sie nicht direkt die Qualität der Gene sehen können, müssen sie auf »erfolgversprechende Merkmale« achten; die Männchen wiederum müssen dann in die Qualität dieser Merkmale investieren (z. B. Muskeln) und entsprechend »werben«. Einige Ergebnisse der Tierverhaltensforschung zum Zusammenhang von Geschlechterbeziehungen und sexueller Selektion haben Soziobiologen und Evolutionspsychologen angeregt, über ihre Übertragbarkeit auf den Menschen zu spekulieren: 1. Es gibt viele Spielarten reproduktiver Konkurrenz zwischen Individuen derselben Gattung und des gleichen Geschlechts: zum Beispiel der Brutparasitismus, wie er etwa beim »Kuckuksei« bekannt ist, wo ein anderes Individuum unbemerkt die Brutarbeit übernimmt; oder Störungen der Kopulation, um deren Erfolg zu verhindern. 17 Ein Übertragungsbeispiel für den Menschen können polygyne Haushalte sein, in denen mehrere Frauen sich das »Investmentpotential« eines Mannes teilen müssen. »Die erste Frau eines Polygynisten erreicht im Mittel eine höhere Fruchtbarkeit als die einzige Frau eines Monogamisten. Die reproduktiven Einbußen treffen erst die zweiten, dritten und ggf. weiteren Frauen, deren Fruchtbarkeit im Durchschnitt deutlich unter der der ersten Frau rangiert.« 18 2. Dominante Männchen haben einen größeren Paarungs- und damit Fortpflanzungserfolg. Dieses soziobiologische Ergebnis wird häufig in der Übertragung 17 Voland (1993: 53). 18 Voland (1993: 52). 3.2 Evolutionstheorie und Soziobiologie 85 auf den Menschen als biologische Begründung männlicher Herrschaft über die Frauen (Patriarchat) angeführt, obwohl es streng genommen nur eine Begründung dafür liefert, warum es unter männlichen Tieren zu einem Konkurrenzkampf kommt, bei dem die Stärkeren die Herrschaft ergreifen. 3. Auch Menschen, so nehmen etwa Psychologen und Verhaltensforscher (Evolutionsbiologen) an, suchen bei der Partnerwahl nach Zeichen genetischer Fitness. 19 So gilt etwa »Schönheit« als ein solches Zeichen. 4. Bei einigen Tieren dreht sich die Geschlechterkonkurrenz um und die Weibchen konkurrieren um die »besten« Männchen. 5. Bei manchen polygynen Tierarten kommt es zum Kampf der Männchen um mehrere Weibchen (»Harem«), wobei die Weibchen manchmal subtile Strategien entwickeln, um dennoch »wählerisch« sein zu können. 20 6. Schwächere Männchen, die im Kampf um Sexualpartnerinnen häufig den Kürzeren ziehen, entwickeln manchmal trickreiche Strategien. So gibt es zum Beispiel »Opportunisten« oder »Satelliten«, d. h. Individuen, die sich in der Nähe eines Weibchens aufhalten und mit dem Kopulationsversuch warten, bis das stärkere Männchen außer Reichweite ist. 21 7. Bei einer bestimmten Affenart (den Languren) kommt es vor, dass ein fremdes Männchen in die Gruppe eindringt, den bisherigen »Herrscher« vertreibt und die Jungen der Mutter tötet, die anschließend bereit ist, sich mit ihm zu paaren. Man hat dies als Ergebnis der sexuellen Selektion interpretiert: Konkurrenz der Männchen um Paarungen mit Weibchen. Die männlichen Verlierer hinterlassen keine Nachkommen. Für das Weibchen kann es immer noch »kostengünstiger« sein, den »Mörder« ihrer Kinder zu »heiraten«. 22 Gerade das letzte Beispiel zeigt, wie problematisch eine einfache Übertragung von solchen Beobachtungen auf den Menschen sein kann. Hier lassen sich allenfalls Beispiele aus der Mythologie finden oder Extrembeispiele von Gewaltausübung. Elterninvestment, Brutpflege, Familie Aus der Geschlechterkonkurrenz leitet sich eine Tendenz für Weibchen ab, ihre Sexualpartner sorgfältiger auszuwählen als dies Männchen tun. Dies gilt aber nicht nur (oder vielleicht nicht einmal vorrangig) unter dem Aspekt der genetischen 19 Voland (1993: 115 ff.), Buss (1997). 20 Voland (1993: 125). 21 Voland (1993: 127 ff.). 22 Hrdy (2002: 53 ff., 282 ff.). 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 86 Qualität (Samenqualität), sondern auch hinsichtlich der Bereitschaft des Männchens zur Brutpflege. Für beide Geschlechter stellt sich darüber hinaus die Frage, wie viel sie von ihrer eigenen Zeit und Energie in die Produktion von Nachkommen investieren wollen. Wenn Zoologen oder Ethologen von »Familie« sprechen, dann meinen sie vor allem die Brutpflege. 23 Je mehr Aufwand für weibliche Tiere mit der Geburt und Aufzucht von Nachkommen verbunden ist, desto wichtiger wird es für sie, einen stabilen Rahmen für die Brutpflege zu haben. Für die Weibchen ist es daher nicht nur wichtig, ein Männchen zu gewinnen, das »gute Gene« hat; noch wichtiger ist für das Weibchen die Frage, ob sich der Gatte an der Brutpflege beteiligen wird oder nicht und ob er über Ressourcen verfügt bzw. Zugang zu Ressourcen hat, mit denen die Brut ernährt und geschützt werden kann. Sie wird also bei der Partnerwahl auch auf solche Merkmale achten, die ein hohes Potential an Elterninvestment anzeigen. Für das Männchen dagegen stellt sich die Frage, ob sich dieses Investment lohnt. Bei vielen Tierarten wurden Verhaltensweisen entdeckt, die sich als Strategien von Männchen interpretieren lassen, in die Elternschaft nur dann Zeit und Energie zu investieren, wenn die Vaterschaft sicher ist und wenn die Treue des Weibchens kontrolliert werden kann (Pater semper incertus). Beim Elterninvestment geht es immer auch um ein Abwägen: Soll man sich auf wenige Nachkommen konzentrieren, die man aber intensiv betreut, oder soll man lieber möglichst viele Nachkommen produzieren? (Qualität oder Quantität? ) Unter welchen Bedingungen soll man die Reproduktion aufschieben und lieber auf bessere Zeiten warten, bis die Kinder höhere Überlebenschancen haben? Oder wann soll die Anstrengung in die Aufzucht abgebrochen werden, wenn sich die Bedingungen verschlechtern? Es gibt zahlreiche Beispiele von Tieren, die unter sich verschlechternden Bedingungen die jüngsten Nachkömmlinge dem Tod überlassen. Die natürliche Selektion begünstigt nicht ein Brutpflegesystem, das Eltern dazu motiviert, gleich viel in die Aufzucht aller Nachkommen zu investieren, unabhängig wie lebensfähig diese Nachkommen sind und vor allem wie fortpflanzungsfähig. 24 Tiere haben bestimmte Praktiken entwickelt, um sich von überzähligem Nachwuchs zu trennen. Und selbst beim Menschen, so spekulieren Soziobiologen, habe es die Natur so eingerichtet, dass Eltern nicht unnötig viel Zeit mit überlebensschwachem Nachwuchs vergeuden: Es komme in solchen Fällen häufig zu einem natürlichen Abort. 23 Wickler/ Seibt (1984: 125 ff.). 24 Voland (1993: 217). 3.2 Evolutionstheorie und Soziobiologie 87 Das Grundprinzip der Theorie des Elterninvestment ist die Annahme, dass Eltern alles tun, um das Überleben ihres Nachwuchses so zu sichern, dass er sich schließlich selber fortpflanzen kann. Dann haben die Eltern sozusagen ihre genetische Schuldigkeit getan und können sterben. Tatsächlich gibt es manche Tierarten, bei denen die Tiere, wenn ihre reproduktive Phase abgeschlossen und der Nachwuchs selber zeugungsfähig ist, sterben oder sogar vom Nachwuchs aufgefressen werden. Elterninvestment und Geschlecht Ausgehend von der Grundthese der sexuellen Selektion wird angenommen, dass Weibchen mehr Zeit und Energie in ihre Fortpflanzung investieren. Wegen des unterschiedlichen Aufwands der Gametenproduktion haben sie einen größeren Verlust als die Männchen, wenn eine Brut verloren geht. Bei Säugetieren kommt der Aufwand für Schwangerschaft, Geburt und Laktation hinzu. Außerdem spielt noch die Unsicherheit der Männchen über die Vaterschaft eine Rolle. Trotzdem kann es unter bestimmten ökologischen oder sozialen Bedingungen für die Weibchen günstiger sein, weniger zu investieren als die Männchen. 25 Die Primatologin Sarah Blaffer Hrdy befasst sich in ihrem Buch »Mutter Natur« ausführlich mit der Frage, ob es eine biologische Basis dafür gibt, dass sich Mütter mehr um ihre Kinder kümmern als Väter, was fast in allen menschlichen Kulturen der Fall ist. Hrdy versucht, die biologische Basis der Mutterschaft herauszuarbeiten, ohne dabei dem »naturalistischen Fehlschluss« jener Evolutionsbiologen, Moralisten und Politiker zu verfallen, die die traditionelle Geschlechtsrolle (»Mütter sollen sich für ihre Kinder und ihren Mann aufopfern« usw.) unter Berufung auf die »Natur« der Frau rechtfertigen wollten. Sie untersucht vor allem die variantenreichen Strategien der Weibchen, die alles dafür tun, damit ihr Nachwuchs überlebt. Um dieses biologische Ziel zu erreichen, so Hrdy, nehmen sie manches in Kauf (z. B. patriarchale Strukturen oder Infantizid) und sind, je nach Umweltbedingungen, keineswegs immer »gute«, sich aufopfernde Mütter; auch sind sie keineswegs immer »treuer« oder sexuell zurückhaltender als Männchen. Und es geht ihnen auch nicht primär um die sorgfältige Auswahl eines Trägers mit dem »besten Sperma«, wie unter Bezug auf den Menschen heute manchmal in der Presse zu lesen ist, sondern darum, ein Männchen oder ein soziales Arrangement (»Familie«) zu finden, bei dem das Überleben der Kinder am besten gewährleistet ist. 25 Voland (1993: 207). 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 88 Sexuelle Selektion und Monogamie/ Polygamie Dem Grundmuster der sexuellen Selektion zufolge müssen die Weibchen »wählerischer« sein und die Männchen eher polygyn, um ihren jeweiligen Fortpflanzungserfolg zu steigern. Es gilt vor allem dort, wo der väterliche Anteil an der Jungenaufzucht gering ausfällt und wo, wie bei den Säugetieren, der weibliche Aufwand in eine gelungene Aufzucht besonders groß ist: Deshalb gibt es bei vielen Tierarten und bei Säugern häufig Polygynie. Monogame Fortpflanzungssysteme - oder beim Menschen: Heiratssysteme - werden dagegen begünstigt durch hohes väterliches Investment. 26 Monogame Fortpflanzungssysteme bzw. Heiratssysteme entstehen also - aus der Sicht der Soziobiologie - vor allem dort, wo die Männchen keine Gelegenheit zur Polygynie haben oder aber dort, wo es sich für Männchen als vorteilhafter erweist - wiederum: bezüglich ihres Reproduktionserfolges -, in die Aufzucht des Nachwuchses zu investieren, statt sich mit anderen Männern um mehrere Frauen zu streiten. 27 Das sind aber eher die Ausnahmen: Deshalb ist die Monogamie längst nicht so häufig (im Tierreich, aber auch bei den menschlichen Kulturen) wie die Polygamie. 28 3.3 Probleme und Kritik Auch in der Ethologie gibt es Vorbehalte gegen die These der Soziobiologie, dass der Fortpflanzungserfolg das alles beherrschende Prinzip sei. Wolfgang Wickler und Uta Seibt zum Beispiel sind vorsichtiger hinsichtlich der Übertragung der Erkenntnisse der Geschlechtsfunktionen im Tierreich (Funktionen von Männchen und Weibchen bei der Fortpflanzung und der Brutpflege) auf die Geschlechtsrollen beim Menschen und die entsprechenden Konsequenzen für die Familie: »Nicht die Familie, entstanden aus der Fortpflanzungsgemeinschaft, ist der ursprüngliche Rahmen gegenseitiger Interaktionen von Lebewesen, sondern 26 Voland (1993: 160), Hrdy (2002: 255 ff.). 27 Voland (1993: 183). 28 Bei der Primatenart der südamerikanischen Springaffen kümmern sich die Väter ganz intensiv um ihren Nachwuchs. »Nach der Geburt trägt der Vater zu 93 Prozent der Zeit das Kind« (Hrdy 2002: 255). Ein Grund dafür ist, dass die Mütter nicht so schnell wie sonstige Primatenmütter auf das Schreien ihrer Babys reagieren - und die Konsequenz ist, dass die Babys bald den Vater bevorzugen. Die Springaffen sind in dieser Hinsicht die Ausnahme, und sie sind dies auch, weil sie sehr monogam sind. 3.3 Probleme und Kritik 89 eine auf gegenseitigen Vorteil gerichtete Zusammenarbeit, bei der die Vermehrung gar keine Rolle spielt.« 29 Ein zentraler Kritikpunkt an der Soziobiologie ist deren Grundannahme, das Ziel jeglichen Verhaltens aller Lebewesen sei die Optimierung des eigenen Fortpflanzungserfolgs. Die Soziobiologie wird außerdem häufig kritisiert, weil sie einem »genetischen Determinismus« das Wort rede, d. h. die Auffassung vertrete, dass das Verhalten der Lebewesen (auch des Menschen) von ihren Genen gesteuert sei. Diesen Vorwurf weisen ihre Vertreter zwar zurück mit dem Hinweis, dass für die Ausprägung des Verhaltens keineswegs die Gene allein verantwortlich seien, sondern auch die Umwelt. 30 Dennoch bleibt das Problem, dass die Soziobiologie alles Verhalten sehr stark unter dem Aspekt des Fortpflanzungserfolges sieht. Das mag für die Frühgeschichte des Menschen eine durchaus zutreffende Perspektive sein. Sie wird aber umso mehr fragwürdig, je mehr sich die kulturelle Evolution des Menschen von seiner biologischen Basis gelöst hat. In der menschlichen Kulturentwicklung geht es schon lange nicht mehr um den Fortpflanzungserfolg in der Konkurrenz mit anderen Gattungen, sondern eher um dessen Eindämmung. Darüber hinaus wirkt die kulturelle Evolution immer stärker auf die biologische Evolution zurück. Seit dem Beginn der Jungsteinzeit (Neolithikum) hat sich zum Beispiel der Geburtenabstand beim Menschen gegenüber den Menschenaffen immer stärker verkürzt. 31 Das war nicht nur ein wichtiger Faktor für ein damit einsetzendes Populationswachstum der Menschen. Es war auch wichtig für eine veränderte »Familien«-Situation: Nun hatte eine Mutter in der Regel mehrere Kinder gleichzeitig zu betreuen, und jetzt wurde es noch wichtiger, sich die Unterstützung von Männern und/ oder Allomüttern zu sichern. 32 Viele Missverständnisse zwischen Soziobiologen und Sozialwissenschaftlern ergeben sich auch dadurch, dass Soziobiologen den Menschen oft so charakterisieren, als handle nicht er selbst, sondern seine Gene; sie scheinen ihm damit die Entscheidungsfreiheit abzusprechen. Auf der anderen Seite verwenden sie eine Sprache, die häufig Tieren Absichten und rationale Planung unterstellt. Diese Sprache findet sich auch häufig in Fernsehsendungen über Tiere. Dort wird gern gesagt: »Die Wüstenwühlmaus täuscht ihrem Partner Treue vor… « -, als ob die Tiere 29 Wickler/ Seibt (1984: 163). 30 Voland (1993: 12); Hrdy (2002). 31 Die Menschenaffen haben lange Stillzeiten und große Geburtenabstände und die Geburtenrate für ein Affenweibchen liegt bei nur etwa fünf Kindern. Die langen Geburtenabstände waren wichtig für die Koevolution von Mutter und Kind, denn die Mutter bekam in der Regel ihr nächstes Kind erst, wenn sie das ältere schon entwöhnt hatte. 32 Hrdy (2002: 240 ff.). 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 90 wüssten, dass sie dies und jenes tun müssen, um ihren Fortpflanzungserfolg zu erhöhen; oder als ob sie eine Kosten-Nutzen-Kalkulation durchführten, welche Strategie für sie günstiger ist (z. B. Treue oder Untreue), wenn sie einen hohen Fortpflanzungserfolg erzielen wollen. Der deutsche Soziobiologe Eckart Voland wehrt sich gegen »ideologische Vereinnahmung und Vulgarisierung der Humansoziobiologie«. 33 Eine der frühen Vulgarisierungen war die Formel »survival of the fittest«, die von Herbert Spencer verbreitet wurde. Daraus entwickelte sich der Sozialdarwinismus, mit dem der ökonomische Individualismus begründet wurde und gleichzeitig soziale Unterschiede als naturgegeben legitimiert werden konnten: »Erfolgreich sind die (biologisch) Stärkeren«. Oder bezüglich des Geschlechts: »Frauen und Männer sind in ihren Rollen biologisch festgelegt«. Verhaltensgenetik oder Patriarchat? Oder: Gibt es eine biologische Basis patriarchaler Strukturen? Die Erkenntnis, dass dominante Männchen einen größeren Paarungs- und damit Fortpflanzungserfolg haben als weniger dominante, wird auch gern auf die menschliche Evolution übertragen: So sei in den meisten bisherigen Kulturformen (Jäger und Sammler; Ackerbauer und Viehzüchter) der Reproduktionserfolg der mächtigen Männer stets höher als der von weniger Mächtigen. Das ist kaum zu bestreiten, insbesondere in polygyn-patriarchalen Gesellschaften, in denen die Mächtigen gleich mehrere Frauen »besitzen«, während dies für Sklaven, arme Bauern oder besitzlose Tagelöhner nicht gilt. Voland hat zum Beispiel Zusammenhänge zwischen Besitz und Reproduktionserfolg auch an einer ostfriesischen Population des 18. und 19. Jahrhunderts nachgewiesen. 34 Die Frage ist nur, können die patriarchalen Strukturen auf die biologische Evolution zurückgeführt werden? Für unsere nächsten Verwandten, die nicht-menschlichen Primaten, sind ausgeprägte Dominanzstrukturen unter Männchen nachgewiesen. Aber es gibt auch dominante Weibchen wie zum Beispiel die berühmte Affenmutter »Flo«, die von Jane Goodall ausgiebig beobachtet und gefilmt wurde. 35 Viele Biologen tendieren dazu, in der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern einen Evolutionsvorteil zu sehen, besonders bei Arten mit langer Schwangerschaft und Stillzeiten, also den höheren Säugetieren und Primaten. Auch Hrdy 33 Voland (1993: 18 f.). 34 Voland/ Paul (1998). 35 Hrdy (2002: 47 ff., 74 ff.). 3.3 Probleme und Kritik 91 neigt zu der Annahme, dass es für die kulturelle Evolution naheliegender war (sozusagen bequemer für beide Geschlechter), aus dem kleinen biologischen Unterschied, der sich aus Schwangerschaft und Laktation ergibt, einen großen kulturellen Unterschied in den Geschlechtsrollen zu machen. Soziobiologen haben nach historischen Ereignissen gesucht, die ihre Thesen auch für den Menschen bestätigen könnten. So wird etwa das Beispiel der Pilgrim Fathers genannt, die 1620 mit der Mayflower den Atlantik überquerten und in Plymouth die erste Siedler-Kolonie aufbauten. 36 Da von den etwa 100 Reisenden nach einem Jahr nur noch etwa die Hälfte lebte, hatte man hier ein »natürliches Experiment«, also Bedingungen, unter denen es relativ leicht war, die Überlebenden mit den Gestorbenen zu vergleichen und Hypothesen über die Gründe dieses Unterschieds zu testen. Amerikanische Biologen fanden heraus, dass die Überlebenswahrscheinlichkeit deutlich mit dem Verwandtschaftsgrad korrelierte, d. h., es überlebten eher solche Personen, die noch Verwandte hatten. Allerdings, so muss man wieder einschränkend sagen, konnten die Biologen nicht direkt nachweisen, dass der Grund des Überlebens in den Genen lag (in der genetischen Nähe). Der Grund des Überlebens könnte genauso gut darin liegen, dass es eine Norm der stärkeren Solidarität unter Familienangehörigen und Verwandten gab. Zum Beispiel starben von jenen Kindern, deren Eltern bereits gestorben waren, sehr viel mehr als von jenen Kindern, deren Eltern noch lebten. Das wird einen nicht verwundern und es ist schwer zu glauben, dass hier die genetische Verwandtschaft - isoliert betrachtet - stärker gewirkt haben sollte als die soziale Verpflichtung zur Hilfsbereitschaft innerhalb von Familien. Das würden auch die Soziobiologen nicht behaupten. Aber immerhin sagen sie, dass die genetische Verwandtschaftsnähe eine größere Hilfsbereitschaft erzeugen könnte. Aktuelle Attraktivität soziobiologischer Argumente Wir leben heute in einer Zeit, in der naturalistische Argumente gerade auch in Bezug auf Geschlechtsunterschiede und Familienleben, seien sie nun soziobiologisch oder molekularbiologisch oder neurologisch, in der Öffentlichkeit wieder stärker Beachtung finden und durch populärwissenschaftliche Medien, meist mit dem Schein unumstößlicher Wahrheit, verbreitet werden. Frank Schirrmacher behauptet zum Beispiel in seinem Buch Minimum, es sei inzwischen klar erwiesen, dass Frauen von Natur aus empathischer, kommunikati- 36 Voland/ Paul (1998: 35 f.). 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 92 ver, familienorientierter, sozialer und so weiter sind. 37 Er beruft sich dabei nur auf wenige Wissenschaftler, etwa den Psychologen (Autismusforscher) Baron-Cohen, der ein Buch über den Unterschied zwischen dem weiblichen und dem männlichen Gehirn geschrieben hat, das angeblich »vom ersten Tag an anders verdrahtet« sei. 38 Schirrmacher glaubt ferner, die biologische Evolution sorge in Krisenzeiten dafür, dass mehr Mädchen geboren werden. Als empirischen Beleg führt er an, dass in einem Jahr nach der Wende in Ostdeutschland zwei Prozent mehr Mädchen als üblich geboren worden seien. 39 Das ist, wenn man statistische Methoden anlegt, eine höchst unsaubere Argumentation, denn in einzelnen Jahren sind Abweichungen vom langfristigen Mittelwert üblich. Es ist auch biologisch ganz unplausibel, dass der Natur eine solch rasche Anpassung an veränderte soziale Bedingungen gelingen kann. Bei seinen Ausführungen zu Solidarität und Altruismus, besonders in Krisenzeiten, übernimmt Schirrmacher (implizit) die soziobiologischen Argumente über Verwandtenselektion. Er beginnt sein Buch mit einer Katastrophen-Geschichte am Donner-Pass und fragt nach den Gründen des Überlebens. Zunächst weist er darauf hin, dass die Männer viel häufiger gestorben seien als man angesichts der Helden-Mythen des Westens meinen könnte, aber das läge in der Natur: Die Männer seien biologisch anfälliger. Am Donner-Pass hätten vor allem jene überlebt, die in einer Familie eingebunden seien; je größer die Familie, desto besser. Was dabei klar wird, ist, dass sich nahe Verwandte und Familienangehörige eher geholfen haben als andere. Für Schirrmacher wird dagegen klar: die Gründe fürs Überleben liegen in der Biologie. Auch bei einer Brandkatastrophe überlebten eher jene, die in Familien eingebunden waren. Die Tatsache, dass sich Freunde nicht organisierten, interpretiert Schirrmacher ebenfalls biologisch: Nur Familienbande sind sicher, im Katastrophenfall lösen sich die selbstgewählten (Freundschaft) Bande schnell auf. 40 Abgesehen davon, dass man nicht »beweisen« kann, dass sich hier die Gene durchsetzen, sind Verwandtschaftsbeziehungen in der menschlichen Geschichte niemals nur biologisch begründet gewesen, wie der folgende Abschnitt zeigen 37 Schirrmacher (2006). 38 Baron-Cohen (2006); vgl. Schirrmacher (2006: 132 ff.). Das Buch von Baron-Cohen (2006) ist populärwissenschaftlich und unseriös, d. h., bei vielen Behauptungen über angebliche Unterschiede zwischen Männern und Frauen fehlt es an Belegen und methodischen Erläuterungen. 39 Schirrmacher (2006: 143). 40 Schirrmacher (2006: 40 ff.). 3.3 Probleme und Kritik 93 wird. Im Unterschied zu den Tieren bilden Menschen Normen und Werte aus, die nichts mit dem Fortpflanzungserfolg zu tun haben. Die kulturelle Evolution hat das menschliche Verhalten immer stärker von biologischen Notwendigkeiten gelöst. In der Öffentlichkeit ist heute jedoch die Bereitschaft wieder groß, den biologischen Wissenschaften eine Definitionshoheit über menschliches Verhalten zuzweisen. Dazu haben die Erfolge der letzten Jahrzehnte, vor allem in Genetik und Gehirnforschung, beigetragen. Dabei besteht jedoch die Gefahr, Erkenntnisse, die sich auf Zusammenhänge zwischen Genen und Proteinen in menschlichen Zellen oder auf die Lokalisation bestimmter kognitiver Funktionen im Gehirn beziehen, umstandslos als neue Erkenntnisse über menschliches Verhalten zu interpretieren und dabei den Anteil der Kultur völlig zu vernachlässigen. Wir wenden uns nun diesem Anteil der Kultur in Hinsicht auf die Verwandtschaftsstrukturen und -beziehungen zu. 3.4 Verwandtschaftsstrukturen Familie, Verwandtschaft und Sozialstruktur Wenn wir nach der Universalität der Familie fragen, dann müssen wir bedenken, dass wir heute das Wort »Familie« auch dort benutzen, wo früher von Haushalt, dem »Haus«, von Hausgemeinschaft, Sippe oder Verwandtschaft die Rede war. Familie setzt Verwandtschaftsstrukturen voraus: Ein Kind wird zwar »in eine Familie« hineingeboren, aber als erstes lernt es doch (bevor es »ich« sagt und ein Individuum im vollen Sinne ist), sich in Verwandtschaftsbegriffen und -relationen zu definieren: als das Kind, Sohn oder Tochter, seiner Eltern; eine Oma, einen Bruder oder eine Schwester haben. Und wenn man Familie als eine Gruppe definiert, dann kommt ihre Besonderheit allein durch Verwandtschaftsbeziehungen zustande. Bis weit in die jüngste Vergangenheit waren Verwandtschaftsstrukturen und verwandtschaftliche Netzwerke wichtige Elemente der Sozialstruktur in fast allen bekannten Gesellschaftsformationen. Erst im 20. Jahrhundert und zunächst nur in den westlichen Industrienationen kam es zum Bedeutungsverlust der erweiterten Familie (extended family) bzw. der Verwandtschaft und zur relativen »Isolation der Kernfamilie«, wie der Soziologe Parsons diesen Prozess bezeichnete. 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 94 Filiation und Heirat (Deszendenz und Allianz) Grundsätzlich werden zunächst zwei Arten von Verwandtschaft unterschieden: durch Abstammung (Deszendenz, Filiation) und durch Eheschließung (allgemeiner: Allianz, Affinalverwandtschaft). 41 Bei Abstammung (Deszendenz) denkt man vielleicht an »Blutsverwandtschaft«, aber Deszendenz- oder Abstammungsregeln, nach denen Individuen in der Generationsfolge ihre gemeinsame Abstammung bestimmen, »müssen nicht mit dem biologischen Verwandtschaftskriterium übereinstimmen, sie sind vielmehr soziale Konstruktionen, die davon erheblich abweichen können«. 42 Ein Beispiel dafür sind Adoptivkinder. Außerdem gibt es Abweichungen von der genetischen Abstammung in den kulturellen Deszendenzregeln. Verwandtschaft hat jedenfalls eine biologische und eine soziale oder kulturelle Komponente. Zur Affinalverwandtschaft gehören sowohl Eheleute als auch deren Schwager, denn sowohl Ehemann als auch Schwager sind »angeheiratet«. Bei den Verwandtschaftssystemen zeigt sich im Kulturvergleich noch deutlicher als bei den Familienformen eine große Variabilität. Es gibt sehr unterschiedliche Regeln der Allianz (Heiratsregeln), häufig haben herrschende Kreise ihre Macht durch Verheiratung ihrer Kinder abgesichert. Und nach Ansicht von Jack Goody hat die katholische Kirche im Mittelalter ihre Macht vor allem mit dem Mittel des Endogamie-Verbots in den Oberschichten gewonnen und gefestigt. 43 Geschlecht und Generation in der Verwandtschaftsterminologie Zu den beiden Achsen Filiation und Allianz kommen noch weitere Differenzierungen: »Verwandtschaft ist eine Form der sozialen Beziehung zwischen Menschen, die mindestens nach den Kriterien Geschlecht, Generationszugehörigkeit, Blutsversus Schwiegerverwandtschaft variieren«. 44 Das heißt, in den Verwandt- 41 Vgl. zu den Begriffen der Verwandtschaftsbeziehungen auch das Glossar. Die internationale Terminologie ist manchmal verwirrend: Parenté bedeutet im Französischen sowohl Eltern als auch Verwandtschaft; im Englischen wird u. a. zwischen lineage (Abstammung), kinship (Blutsverwandtschaft) und affinity oder affinal kinship (Allianz/ Verschwägerung) unterschieden. Außerdem gelten - zumindest nach deutschem Recht - Eheleute insofern nicht als Verwandte, als im BGB »Verwandtschaft« nur im Sinne von Abstammung gemeint ist. 42 Hill/ Kopp (1995: 16). 43 Goody (1989). Vgl. dazu auch Kapitel 4.1. 44 Schütze/ Wagner (1998: 7). 3.4 Verwandtschaftsstrukturen 95 Abbildung 3.1: Verwandtschaftsverhältnisse männlich weiblich undifferenziert Geschlecht: Heirat: oder = bezeichnen die Allianz Ehepaar Verschwisterung: also Bruder und Schwester Filiation: also Kinder eines Paares In jedem Diagramm der Verwandtschaft wird das Bezugsindividuum Ego , von dem aus das Verwandtschaftsverhältnis gesehen wird, wie folgt angegeben: Ego patrilateraler Kreuzvetter patrilateraler Parallelvetter matrilateraler Parallelvetter matrilateraler Kreuzvetter Ego Verwandtschaftsatom Parallelvettern und Kreuzvettern Notationssystem für Verwandtschaftsverhältnisse, wie es in der Ethnologie üblich ist. Quelle: Zonabend (1996: 27). 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 96 schaftsbezeichnungen vieler (nicht aller) Kulturen stecken die entsprechenden Unterscheidungen. Geschlecht: Bruder und Schwester, Onkel und Tante, Oma und Opa; Generationszugehörigkeit: Vater und Sohn, Tante und Neffe; Blutsversus Schwiegerverwandtschaft: Mutter und Sohn, Großvater und Tochter; versus: Ehemann und Ehefrau, Schwager und Ehemann. Kombiniert man die drei Dimensionen, ergeben sich weitere Unterscheidungen. Wenn Blutsverwandtschaft und Generationszugehörigkeit kombiniert werden, gehören Geschwister und Filiations-Verwandte (Eltern und Kinder) zu unterschiedlichen Verwandtschaftsklassen. Deshalb unterscheidet man manchmal nicht nur zwischen Filiation und Allianz, sondern betrachtet Verschwisterung als einen eigenständigen Typus von Verwandtschaft. Nur Verschwisterung und Filiation haben eine biologische Basis, die Affinalverwandtschaft dagegen ist rein sozial (strikt sozial sogar insofern, als Blutsverwandtschaft in den meisten Gesellschaften mit einem Heiratsverbot belegt ist). Die Unterscheidung von drei Arten von Verwandtschaft schlägt sich auch in den Notationssystemen für Verwandtschaftsverhältnisse nieder (Abb. 3.1). Biologische und soziale Verwandtschaft Immer wieder wird auf die biologisch-soziale Doppelnatur der Verwandtschaft hingewiesen: »Verwandtschaft folgt zwar Regeln der (biologischen) Abstammung, doch wird sie dadurch nicht vollständig und eindeutig definiert.« 45 Überall werden Menschen aus der Vereinigung von Mann und Frau geboren, »doch diese biologische Grundtatsache wird von jeder sozialen Gruppe nach ihrer eigenen Logik neu interpretiert und umgesetzt«. 46 Auch die »Abstammung« ist kein rein biologischer Begriff - schon früher nicht (Adoption 47 ) und in Zukunft zunehmend weniger, wenn man an »Leihmütter« und »Retortenbaby« denkt. Besonders die vielfältigen Verwandtschaftsterminologien und Klassifikationssysteme, die darüber entscheiden, wer in welcher Weise als verwandt gilt, haben oft wenig mit der »Natur« zu tun. Man darf nicht vergessen, dass die biologischen Zusammenhänge bei der Zeugung noch nicht allzu lange bekannt sind - und noch weniger die Regeln der genetischen Vererbung. Auch wenn es selbst bei Tieren immer schon ein »Wissen« um verwandtschaftliche Nähe gibt, so gab es in vie- 45 Schütze/ Wagner (1998: 7). 46 Zonabend (1996: 23). 47 Bis 1969 waren zum Beispiel in Deutschland Väter rechtlich nicht mit den von ihnen nichtehelich gezeugten Kindern verwandt, zum Beispiel mit der Konsequenz, dass diese Kinder nicht erbberechtigt waren (Fthenakis 1985b: 49). 3.4 Verwandtschaftsstrukturen 97 len menschlichen Kulturen sehr unterschiedliche Vorstellungen etwa über die Bedeutung von Mann und Frau bei der Zeugung: So stellte Malinowski bei den Trobriandern fest, dass die Rolle des Vaters bei der Fortpflanzung nicht wichtig erschien; in ihrer Verwandtschaftsterminologie galt dementsprechend der Vater nur als angeheirateter Verwandter, als ein »Fremder im Haus der Frau«. 48 Aus diesen und anderen Gründen sind sich die Ethnologen weitgehend einig, dass Verwandtschaft »ein im wesentliches soziales Faktum (ist), das sich zwar auch nach den biologischen Gegebenheiten von Zeugung und Fortpflanzung richtet, aber symbolisch manipuliert wird und willkürlich festgelegt werden kann«. 49 Lévi- Strauss erklärte in diesem Zusammenhang sogar, dass Verwandtschaftsverhältnisse »nur im Bewusstsein der Menschen bestehen« würden. 50 Mag diese Formulierung auch irreführend sein - Verwandtschaft ist jedenfalls in erster Linie ein kulturelles System, genauer ein System der Klassifikation und der Einordnung. Das kann dazu führen, dass biologisch nahe Verwandte, die in einer Kultur durchaus auch als sozial nahe Verwandte angesehen werden, in einer anderen Kulturen dagegen als sozial ferne Verwandte gelten: So werden auf diese Weise beispielsweise Vaterbrüder sehr unterschiedlich behandelt. Verwandtschaft in einfachen und traditionalen Gesellschaften Verwandtschaftssysteme sind, besonders in einfachen Gesellschaften (Stammesgesellschaften), weit mehr als nur Regeln des »privaten« Zusammenlebens. Verwandtschaft ist hier vielmehr ein Teil der Sozialstruktur und übernimmt zum Beispiel Herrschafts- oder Rechtsprechungsfunktionen. Deshalb sind Verwandtschaftssysteme und Gesellschaftsstrukturen koordiniert. Und das ist auch der Grund, weshalb die Ethnologie eine solche Fülle von Material zu Familien- und Verwandtschaftsstrukturen zusammengetragen hat - sozusagen nebenbei. Den meisten Ethnologen ging es zunächst einfach darum, die grundlegenden ökonomischen, sozialen und kulturellen Strukturen der von ihnen untersuchten fremden Kulturen zu verstehen. Dabei stießen sie in der Regel auf das Faktum, dass sich im Verwandtschaftssystem gewissermaßen alle anderen Strukturen bündelten: Herrschafts- und Geschlechterverhältnis, ökonomische Arbeitsteilung, kultischreligiöse Formen usw. 48 Malinowski (1983 [1929]: 20 f.). 49 Zonabend (1996: 25). 50 Lévi-Strauss (1991: 66). 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 98 »Verwandtschaft« ist ein Maß der sozialen Nähe oder Distanz innerhalb des Systems von Abstammung und Heirat. Mit den Verwandtschaftsbezeichnungen wird die Nähe oder die Distanz zu den Machtzentren symbolisiert. Es sind Wörter zur Einordnung und Klassifikation - ähnlich wie Schicht- oder Klassenbegriffe - mit den entsprechenden sozialen und wirtschaftlichen Ansprüchen auf privilegierte Behandlung, Zuwendung, Solidarität und Unterstützung. Verwandtschaft ist daher eine Status- und Herrschaftskategorie und es kommen in ihrer Terminologie Erwartungen und Ansprüche (also: soziale Normen) zum Ausdruck, die allenfalls vermittelt etwas mit der genetischen Verwandtschaft zu tun haben. Die Erforschung von Verwandtschaftssystemen und -terminologien beginnt mit Lewis Henry Morgan, der 1871 ein wegweisendes Werk veröffentlichte (Systems of Consanguinity and Affinity of the Human Family). Auch wenn es vom Evolutionismus und vom Ethnozentrismus des 19. Jahrhunderts geprägt war (das heißt von der Vorstellung, dass die modernen westlichen Kulturen an der Spitze einer weltgeschichtlichen Entwicklung standen, die »primitiven Kulturen« dagegen am unteren Ende der Entwicklungsskala), so war es doch wegweisend, weil es den Systemcharakter von Verwandtschaftsgruppen aufzeigte und »die Idee der Einheit der menschlichen Familie« zum Ausdruck brachte, die später von Claude Lévi-Strauss wieder aufgegriffen wurde. 51 Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Ethnologie vor allem eine »armchair«-Wissenschaft: So hat beispielsweise James George Frazer (1854-1941) ein gewaltiges Werk über die in der damaligen Welt bekannten Heiratssysteme veröffentlicht, ohne jemals »Feldforschung« zu betreiben. Erst seit Malinowski war es üblich, Wissen durch teilnehmende Beobachtungen bei Stammesgesellschaften zu erwerben. Seither wurden zahlreiche Kulturen untersucht, und die Analyse der Verwandtschaftssysteme stand dabei immer im Zentrum. Die Bedeutung des Inzestverbots Die beiden Grundformen der Verwandtschaft werden gewissermaßen durch das Inzestverbot auseinandergehalten: Affinal-Verwandtschaft, also Verwandtschaft durch Heirat, ist für nahe Abstammungs-Verwandte in fast allen Kulturen verboten, wobei allerdings der Grad der »Nähe« variiert. Fast überall verboten sind Eheschließungen zwischen Großeltern, Eltern und Kindern, auch zwischen Geschwistern. Im deutschen Recht ist die Eheschließung »zwischen Blutsverwandten in gerader Linie und zwischen vollbürtigen und halbbürtigen Geschwistern« 51 Zonabend (1996: 23). 3.4 Verwandtschaftsstrukturen 99 verboten. Dies gilt im deutschen Recht als »absolutes Eheverbot«. In manchen Kulturen ist es verboten, die Kreuzcousine zu heiraten, aber sogar erwünscht, die Parallelcousine zu heiraten - oder umgekehrt. Im alten Ägypten gab es zumindest kein deutlich formuliertes Inzestverbot - Geschwisterehen sind aber nur selten nachgewiesen. 52 Den Gedanken, dass die Verwandtschaftssysteme von Filiation und Allianz sowohl für die fernste Vergangenheit als auch für die jüngste Gegenwart der Menschheitsgeschichte Geltung haben, versuchte Lévi-Strauss mit der folgenden These zu begründen: »Das aus allen Kulturen bekannte Inzestverbot ist überall mit Geboten verbunden, über den engen Kreis der Verwandtschaft hinauszuheiraten. Verbote verwandeln sich in positive Allianzregeln, bei denen die Frauen zum Tauschmittel werden, um Beziehungen zwischen Gruppen zu stiften, die sich selbst als verwandtschaftlich definieren«. 53 Das Inzestverbot ist also eigentlich eine Regel der Exogamie. Und das führt zum Austausch zwischen Gruppen, zum Austausch von »Blut«, aber eben auch zum friedlichen Austausch von Kultur - im Unterschied zu früheren Phasen des Frauenraubs - und damit zur Entwicklung der Kulturen. Heute könnte man in der Zunahme des Anteils von bi-kulturellen Eheschließungen eine entsprechende friedliche Vermischung von Kulturen sehen. Abstammungs- und Heiratsregeln In der Ethnologie sind eine Reihe weiterer Begriffe gebräuchlich, die sich auf Verwandtschaftsstrukturen, Abstammungs- und Heiratsregeln beziehen: patriarchal, patrilinear, patrilokal und patrilateral auf die väterliche bzw. männliche Seite, matriarchal, matrilinear, matrilokal und matrilateral auf die mütterliche oder weibliche Seite. 54 Patriarchat ist die väterliche oder männliche Herrschaft, Matrilinearität ist die Dominanz der mütterlich-weiblichen Abstammungslinie im Verwandtschaftssystem. Als patrilokal bezeichnet man die Regel, dass eine fremde Frau in die Gruppe des Mannes einheiratet und zu seinem Wohnort (dem seines Vaters) zieht. Entsprechendes gilt für die jeweiligen Gegenbegriffe. Neolokalität wäre, wenn das Ehepaar sich einen neuen Wohnort sucht, unabhängig von dem der Frau oder des Mannes. Die meisten Kulturen, die von Ethnologen untersucht wurden, sind patrilinear und patrilokal. 52 Forgeau (1996). 53 Zonabend (1996: 23). 54 Statt patri-/ matri-linear ist auch von -lineal die Rede. 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 100 Mit Endogamie und Exogamie werden zwei grundlegende Heiratsregeln bezeichnet. Endogamie bedeutet Heirat innerhalb der eigenen Gruppe (Verwandtschaft, Klan, Dorfgemeinschaft), Exogamie entsprechend die Heirat eines Partners, der von außerhalb kommt. 55 Monogamie ist die Einehe, Polygamie die Vielehe, wobei die männliche (Polygynie = ein Mann, mehrere Frauen) und die weibliche (Polyandrie = eine Frau, mehrere Männer) Vielehe unterschieden werden können. Die meisten Kulturen, die von Ethnologen untersucht wurden, sind polygyn. Das Geschlecht hat auch in anderer Hinsicht noch eine Bedeutung bei Abstammung und Allianz: Verwandtschaftliche Beziehungen sind agnatisch, wenn das männliche Geschlecht als strukturierendes Element gilt, uterin bei weiblicher Dominanz und kognatisch, wenn keines der Geschlechter dominiert. Entsprechend gilt bei der Filiation: patri- oder matrilinear oder undifferenziert (bzw. bilinear). Agnatisch oder uterin bzw. patri- oder matri-linear sind unilineare Verwandtschaftsbeziehungen, weil nur ein Geschlecht den Ausschlag gibt. Agnatische und patrilineare Zugehörigkeit fallen häufig zusammen. Ein Beispiel für eine agnatisch-patrilineare Verwandtschaftsstruktur liegt vor, wenn sich die Gruppenzugehörigkeit nach dem Vater richtet. Die Kinder des Vaterbruders werden dann zur selben Verwandtschaftsgruppe gezählt, nicht jedoch die Kinder der Vaterschwester, die der Verwandtschaftsgruppe des Schwestergatten zugeordnet werden. 56 Damit werden die Kinder der Vaterschwester zu möglichen oder sogar bevorzugten Heiratspartnern, während die Kinder des Vaterbruders nicht geheiratet werden dürfen. Kreuzcousine und Parallelcousine Damit ist bereits ein wichtiger Unterschied angesprochen, der in der ethnologischen Forschung zu Verwandtschaftsterminologien eine wichtige Rolle spielt: die unterschiedliche Stellung von Cousinen und Cousins. Im Anglo-Amerikanischen unterscheidet man in der Terminologie nicht zwischen den Geschlechtern, beide sind cousins (male, female). Vor allem aber unterscheidet man nicht nach der geschlechtlichen Abstammungslinie (lineage) der cousins, sondern lediglich nach 55 In soziologischen Texten wird »Endogamie« manchmal im Sinne von »Homogamie« gebraucht. Religiöse oder Schichten-Endogamie meint dann, dass innerhalb der selben Konfession oder Herkunftsschicht geheiratet wird. Heute spricht man hier eher von Homogamie (Gegensatz: Heterogamie). 56 Zonabend (1996: 24). 3.4 Verwandtschaftsstrukturen 101 Graden (first, second; once removed, twice removed cousins). Im Deutschen oder Französischen oder Spanischen differenziert man zwar zwischen dem Geschlecht (Cousin, Cousine; Vetter, Base), aber auch hier nicht nach dem Geschlecht der Eltern bzw. der Abstammungslinie der Cousins und Cousinen. 57 Dies ist jedoch in Clan-Gesellschaften ganz wichtig. Sehr verbreitet ist die Unterscheidung zwischen Parallel-Cousins/ Cousinen und Kreuz-Cousins/ Cousinen: Erstere sind entweder die Töchter oder die Söhne des Vaterbruders (Onkel väterlicherseits) bzw. der Mutterschwester (Tante mütterlicherseits); sie werden in manchen Kulturen wie Geschwister gesehen, und es gibt ihnen gegenüber ein Inzesttabu (oder zumindest eine Hemmung, sie als Ehepartner in Betracht zu ziehen). In einer patrilinearen Gesellschaft sind also die Töchter meines Vaterbruders für mich (als Sohn) wie Schwestern (d. h. Parallel-Cousinen); das Gleiche gilt in einer matrilinearen Gesellschaft für die Töchter meiner Mutterschwester. Entsprechend sind die anderen (Töchter des Mutterbruders, Töchter der Vaterschwester) für mich Kreuz- Cousinen und oftmals die bevorzugten Heiratspartner (in Clan-Gesellschaften). Verwandtschaftsterminologien Es gibt zahlreiche Verwandtschaftsterminologien. Man unterscheidet fünf oder sechs Grundtypen. 58 Norbert Bischof schreibt dazu: »Unter den Skalen sozialer Distanz ist die verwandtschaftliche am merkwürdigsten gegliedert. Sie darzustellen ist nicht leicht, wenn man den Laien mit Details verschonen will, ohne den Fachmann durch allzu kühne Glättung zu verärgern.« 59 In der Anfangszeit der Ethnologie und der Fernreisen von Europäern zu fremden Kulturen kam es dementsprechend zu vielen Missverständnissen. Beispielsweise beruht auch der theologische Streit um die Jungfräulichkeit Marias nach Jesu Geburt auf einem solchen Missverständnis, da in der Bibel von »Brüdern« Jesu die Rede ist. Allerdings wurden in der aramäischen Kultur auch solche Verwandte »Brüder« genannt, die bei uns nur als »Vettern« gelten. Fangen wir mit der uns am ehesten vertrauten Terminologie an: der Eskimo- oder Inuit-Terminologie. Wir unterscheiden bekanntlich die Geschwister unserer Eltern nur nach dem Geschlecht (Tanten und Onkel), aber nicht nach ihrer Stellung zu Vater oder Mutter, auch wenn wir manchmal hinzufügen: mein Onkel 57 Außerdem fehlt ein Oberbegriff für Vetter und Base, wie das engl. cousin. 58 Stanton (1995: 110 ff.); Bischof (1989) fasst Crow und Omaha zu einem Crow-Omaha- System zusammen. 59 Bischof (1989: 54). 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 102 Abbildung 3.2: Verwandtschaftsterminologien HAWAII ESKIMO IROKESE CROW OMAHA Die wichtigsten Typen von Verwandtschaftsterminologien Quelle: Bischof (1989: 54 ff.). Eigene Darstellung. 3.4 Verwandtschaftsstrukturen 103 mütterlicherseits usw.. Dasselbe gilt für die Kinder unserer Onkel und Tanten: sie sind alle Vettern und Basen oder Cousins und Cousinen (bilinear oder undifferenziert). In der Hawaiianischen Terminologie, die im malaiisch-polynesischen Raum, aber auch bei vielen Indianerstämmen Nordamerikas verbreitet war, haben die Verwandten innerhalb einer Generation dieselben Verwandtschaftsbezeichnungen: Sowohl die eigenen Eltern als auch deren Brüder und Schwestern (bei uns Onkel und Tanten) gelten als »Eltern«. Ebenso werden nicht nur die eigenen Geschwister, sondern auch die Kinder der Eltern-Geschwister (bei uns Cousins/ Cousinen) als »Geschwister« bezeichnet. Und schließlich gehören die Kinder der Geschwister und Cousinen zur selben Gruppe wie die eigenen Kinder. Die zwei bzw. drei nächsten Typen gelten für Clan-Gesellschaften. In der Irokesen-Terminologie, die sowohl in patrials auch in matrilinearen Gesellschaften vorkommen kann, gibt es zum Beispiel verschiedene Bezeichnungen für den Bruder des Vaters (der als »Vater«) gilt und für den Bruder der Mutter (der nicht als »Vater« gilt); ebenso für die Schwestern der Mutter (Parallelonkel, Kreuztante, Kreuzcousine). Das Irokesen-System liegt etwa in der Mitte zwischen Eskimo- und Hawaii- System. 60 Als »Eltern« werden hier die eigentlichen Eltern, sowie die Mutterschwester und der Vaterbruder bezeichnet; entsprechend gelten deren Kinder genau so wie die der eigentlichen Eltern als »Geschwister« und werden dementsprechend von den Ethnologen als »Parallel-Cousins« bezeichnet. Im Irokesen-System wird somit deutlich zwischen Kreuz- und Parallel-Cousinen unterschieden. Spiegelverkehrt zueinander verhalten sich die Omaha- und die Crow-Terminologie. Diese beiden Systeme sind für Europäer nur noch schwer nachvollziehbar: Die mütterliche Verwandtschaft wird im Crow-System anders bezeichnet als die väterliche. Das gilt nicht nur für die Parallel-Cousins, die ebenso wie im Irokesen- System den Geschwistern zugerechnet werden; auch dass die Mutterschwester »Mutter« und der Vaterbruder »Vater« ist, kennen wir vom Irokesen-System. Dass nun aber der Sohn der Vaterschwester nicht zu der Klasse der Cousins gezählt wird, sondern auch als eine Art Onkel gilt, erscheint uns rätselhaft und verwirrend. Für die Bezeichnung »Mutter« gilt nichts Entsprechendes. Genau spiegelverkehrt ist es dagegen im Omaha-System. Rätselhaft und verwirrend ist weiterhin, dass im Crow-System die eigenen Kinder des Mannes zu derselben Kategorie gehören wie die Kinder eines Mutterbruders (bzw. spiegelbildlich im Omaha-System: Hier gehören die eigenen Kinder der Frau zur selben Kategorie wie die Kinder einer Vaterschwester). Es gibt also ganz verschiedene Bezeichnungen für die Kreuz- und für die Parallel-Cousins: und zwar nicht einfach nur Bezeichnungen, 60 Bischof (1989: 56 ff.). 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 104 sondern gravierende Unterschiede hinsichtlich der Generationszugehörigkeit der Verwandten (eigene Kinder und Parallel-Cousins in der selben Kategorie, obwohl zu verschiedenen Generationen gehörend) und der Heiratfähigkeit bzw. der Inzestschranke. Übertragung ethnologischer Forschung auf die historische Entwicklung Die zahlreichen Erkenntnisse ethnologischer Feldforschung der letzten 100 Jahre lassen sich auch nutzen, um die historische Ursprungsfrage zu beantworten: Einfache (schriftlose) Gesellschaften, wie sie von Ethnologen noch bis vor Kurzem entdeckt wurden, könnten ja in der Weltgeschichte am Anfang der Entwicklung gestanden haben. Trifft das zu, dann lassen sich Erkenntnisse über sie auf unsere eigene schriftlose Vorgeschichte rückprojizieren. Das gilt insbesondere für Erkenntnisse über noch existierende Jäger- und Sammlergesellschaften, die zumindest begründete Spekulationen über das Leben der Menschen vor der neolithischen Revolution (vor etwa 10.000 Jahren) zulassen. 61 Ebenso lassen sich Erkenntnisse über hirtennomadische oder Ackerbau treibende Stämme nutzen, um die weitere Entwicklung zu rekonstruieren. Was wir über solche Gesellschaften in Bezug auf die Familienfrage vor allem wissen, sind Abstammungsregeln (Matrilinearität war vermutlich am Anfang häufiger verbreitet), Heiratsregeln (Exogamie), der soziale Kontext, in dem das Aufwachsen der Kinder stattfindet sowie Arbeitsteilung und Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Eine Darstellung verschiedener Gesellschaftstypen im Sinne eines Stufenmodells findet sich zum Beispiel bei Klaus E. Müller, der Wildbeutergemeinschaften (Jäger und Sammler), Pflanzer, Hirtennomaden, bäuerliche und städtische Kulturen unterscheidet. 62 Dabei versucht er auch, eine Entwicklungsgeschichte des Patriarchats zu skizzieren, und begründet die männliche Dominanz in den meisten Kulturen mit Patrilokalität und Exogamie. Nur bei Sammlergemeinschaften sei das Geschlechterverhältnis einigermaßen ausgeglichen. Sobald aber der Besitz ins Spiel komme (an Boden, Vieh und sonstigen Ressourcen), setze sich eine patrilinear-patrilokal-exogame Tendenz durch; d. h. die Frauen werden aus der Fremde zu 61 Im Neolithikum (Jungsteinzeit) gab es nicht nur wichtige technische Fortschritte (geschliffene Äxte und Querbeile, zweiseitig bearbeitete Pfeilspitzen, handgeformte Keramik), sondern es kam vor allem zur Sesshaftigkeit und damit auch zur Domestikation und Zucht bestimmter Tiere und zum Ackerbau mit Pflug (»neolithische Revolution«). 62 Müller (1985). 3.4 Verwandtschaftsstrukturen 105 den Männern geholt, die am Ort ihrer Väter bleiben und so die Kontrolle über Besitz und Ressourcen sowie über ihre Vaterschaft behalten, indem sie die Sexualität ihrer Frauen überwachen. Außerdem gibt es in den meisten Kulturen ein Vorrecht der Männer, Kontakte zur Außenwelt, zum »fremden Wissen« aufzunehmen, während der Bewegungsradius der Frauen meist auf die Binnensphäre des Lagers oder der Feuerstelle eingeschränkt ist. Müller hat aus dem vielfältigen ethnologischen Material versucht, gemeinsame Muster herauszuarbeiten und zu Typen zu gelangen. Demgegenüber betonen viele Ethnologen die große Variabilität von Familien- und Verwandtschaftsformen: Mit der Methode des Kulturvergleichs will man zeigen, dass »die Familie« zwar in fast allen Kulturen vorkommt, darunter aber sehr Unterschiedliches verstanden werden kann. 3.5 Auf dem Weg zur monogamen Kleinfamilie: Natur und Kultur Welche Erkenntnisse ergeben sich nun aus der Durchsicht von soziobiologischer, anthropologischer und ethnologischer Forschung hinsichtlich der Frage nach der Universalität der Familie, insbesondere der modernen monogamen Kleinfamilie? Tierverhaltensforschung und Soziobiologie können hinsichtlich dieser Frage nur bedingt herangezogen werden, da im Tierreich alle möglichen Formen von Geschlechter- und Familienverhältnissen vorkommen und diese keineswegs in einer linearen Abfolge von den einfachen Lebewesen zu den Primaten beschrieben werden können. Selbst bei den Primaten gibt es eine große Variationsbreite - Poly- oder Monogamie; unterschiedliche Grade der Beteiligung der Männchen an der Aufzucht; unterschiedliches Konkurrenz- und Dominanzverhalten zwischen den Geschlechtern -, auch wenn nicht zu leugnen ist, dass es Gemeinsamkeiten zwischen nichtmenschlichen und menschlichen Primaten gibt, die auch Auswirkungen auf das »Familienleben« haben können. Das betrifft sowohl Unterschiede in der weiblichen und männlichen Sexualität als auch bei Schwangerschaft und Mutter-Kind-Bindung. Direkt von der Primatenforschung auf den Menschen zu schließen, ist dennoch aus mehreren Gründen unzulässig: Erstens gibt es, wie gesagt, eine große Varianz von Familienformen und Geschlechterbeziehungen bei Säugetieren und Primaten, je nach ökologischem Kontext. Zweitens ist seit dem Übergang zu den menschlichen Primaten bereits sehr viel Kulturzeit vergangen, in der sich die Bedingungen 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 106 häufig änderten, unter denen etwa Polygynie oder Monogamie vorteilhaft waren. Drittens setzt sich das stammesgeschichtliche Erbe beim Menschen nicht einfach durch, sondern der Mensch kann sich entscheiden, welche Fortpflanzungsstrategie (welches Familien- und Verwandtschaftssystem) ihm auch aus kulturellen Gründen sinnvoll erscheint. Ähnlich verhält es sich mit den ethnologischen Forschungen über Jäger- und Sammlergesellschaften: Gerade auch dieser Gesellschaftstyp, von dem man annimmt, dass er viele Jahrtausende lang (vor der neolithischen Revolution) für die Entwicklung der menschlichen Gattung prägend war, und von dem deshalb etwa die Evolutionspsychologen vermuten, dass noch heute viele Spuren dieser Jäger- und Sammlerexistenz beim modernen Menschen wirksam seien, prägte sich je nach den verschiedenen Umweltbedingungen und Verhältnissen unterschiedlich aus. So sind auch hier keine eindeutigen Gemeinsamkeiten zu finden, die es erlaubten, eine eindeutige biologische Prägung von den Menschenaffen über die Jäger und Sammler bis zum heutigen Menschen anzunehmen. Im Gegenteil: Mit der Entwicklung der Sprache und der Kulturentwicklung, so kann man argumentieren, erfolgte eine allmähliche Loslösung von der biologischen Basis mit Rückwirkungen auf diese; die Kultur fing an, die Natur des Menschen umzuformen. Ein Beispiel wurde bereits genannt: Der deutliche Rückgang der Geburtenabstände im Neolithikum - ohne dass ein direkter kultureller Einfluss im Sinne von »Geburtenkontrolle« angenommen werden müsste - schuf ganz neue Bedingungen für das Zusammenleben von Eltern und Kindern, da nun mehrere Kinder gleichzeitig aufgezogen werden konnten. Ein weiteres Beispiel ist die weibliche Sexualität des Menschen, die sich von den Naturzyklen löste, wenngleich es noch heute biologische Spuren davon gibt. 63 In der populären Diskussion wird heute gerne auf neuere Erkenntnisse von Genforschung, Molekularbiologie, Endokrinologie und Gehirnforschung verwiesen. Hier sind vielleicht noch spektakuläre Ergebnisse über Zusammenhänge zwischen biologischer Ausstattung und kulturellem Verhalten zu erwarten. Aber in den letzten Jahren sind hier vor allem unseriöse und voreilige Verallgemeinerungen spezieller Ergebnisse und Erkenntnisse über Gene, Hormone oder bestimmte Tierarten aufgefallen. Einzelne Gene können, jedenfalls nach heutigem Stand der Genetik, nicht für komplexe Verhaltensweisen (wie Treue, Alkoholismus, Homosexualität) verantwortlich gemacht werden, ebenso wenig wie bestimmte Hormone oder bestimmte Gehirnareale. Hier weiß man noch sehr wenig über die komplexen Wechselwirkungen zwischen Genen und Enzymen, Hormonen und Gehirnfunktionen sowie ihren Auswirkungen auf das Verhalten und die entspre- 63 Hrdy (2002: 262 ff.). 3.5 Auf dem Weg zur monogamen Kleinfamilie: Natur und Kultur 107 chenden Rückkopplungsmechanismen auf Hormonhaushalt und Enzymproduktion. Es scheint, dass vor allem in der Evolutionspsychologie sehr viel fragwürdige Spekulation am Werk ist: etwa, wenn behauptet wird, die Partnerwahl beim Menschen richte sich nach prähistorischen Duftstoffen, die einmal dazu da waren, einem anderen Tier eine hohe eigene Genqualität anzuzeigen und damit größere Chancen im Evolutionskampf. Soziobiologie und Primatenforschung lassen am ehesten einige vorsichtige Schlussfolgerungen auf die Frage zu, ob es eine biologische Begründung für Monogamie und Kleinfamilie gibt: So scheint es klar zu sein, dass aus der Perspektive der Primatenkinder die Monogamie die günstigste Form der Beziehung der Eltern ist. 64 Die Überlebenschancen der Kinder sind unter bestimmten Umständen größer, wenn die Mutter einen treuen Partner findet, der sich als Vater engagiert. Die Monogamie ist ein Kompromiss zwischen den Geschlechtern und schafft eine Disposition zur Gleichheit, die bei polygamen Formen weniger gegeben ist. Aber es hat in der Entwicklungsgeschichte der Primaten eben auch Vorteile für polyandrische Weibchen gegeben: Wenn sie es schafften, mehr als ein Männchen an sich zu binden oder für die Nachwuchssorge zu gewinnen, war es um so besser für sie. 65 Die Kehrseite der Polyandrie ist, dass die Männchen dabei über ihre Vaterschaft unsicher sind und daher entweder zögern, sich bei der Aufzucht zu engagieren oder aber dies nur tun, wenn sie die Weibchen kontrollieren können. Ist so das Patriarchat entstanden? Auch wenn bereits bei einigen Primatenarten patriarchale Ansätze vorhanden sind (manchmal kombiniert mit matrilinearen Strukturen), so sind die Hinweise doch deutlich, dass patriarchale Strukturen und patrilokale Heiratssysteme sich zu dem Zeitpunkt stärker durchgesetzt haben, als Reichtum und Besitzvererbung wichtiger wurden, also in fortgeschrittenen Ackerbau- und Viehzüchtergesellschaften. Dann nämlich wurde auch die Sicherheit über die Vaterschaft wichtiger. Unter bestimmten Bedingungen kann dann sogar Polygynie auch für die Frauen eine akzeptable Option sein. 66 64 Hrdy (2002: 274 ff.). 65 Bei der Polyandrie geht es also nicht in erster Linie um viele Sexualpartner der Frau, sondern um möglichst viele potentielle »Väter« oder »Paten« (Hrdy 2002: 288 ff.). 66 Hrdy (2002: 298). 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 108 Zusammenfassende Thesen Die Familie ist die wichtigste Institution, innerhalb derer sich die biologische und soziale Reproduktion der Gesellschaft miteinander verknüpfen. Familie ist ein universelles Strukturierungsprinzip, das in allen Gesellschaften vorkommt. Dennoch ist Familie eine kulturelle Struktur, und deshalb sind die Familien- und Verwandtschaftsstrukturen auch so vielfältig und variabel und weichen zum Teil stark von der biologischen Verwandtschaft ab. Der Kulturvergleich macht also deutlich, dass »Familie« ganz Unterschiedliches bedeuten kann; er zeigt auch, wie schwierig es ist, eine allgemeingültige Definition von Familie zu finden. Von den vielen gängigen Definitionsmerkmalen gibt es nur eines, das wohl in keiner Definition fehlt: die Mutter-Kind-Beziehung. Sie ist der Kern jeder Definition von Familie, auch wenn es Gesellschaften und Verwandtschaftsstrukturen gibt, in denen diese Beziehung nicht im Mittelpunkt steht, etwa in patrilinearen und patrilokalen Kulturen. Die Forschungen zur Mutter-Kind-Bindung in der Evolutionspsychologie und der Primatologie liefern wichtige Hinweise für die Parallelen bei den Menschen. Aber viele Erkenntnisse der Tierverhaltensforschung lassen sich nicht einfach auf den Menschen übertragen, auch wenn dies in populärwissenschaftlichen und wissenschaftsjournalistischen Beiträgen heute zunehmend gemacht wird. Übungsfragen - Warum ist die Familie eine universelle kulturelle Struktur? - Was bedeutet biologisch-soziale Doppelnatur von Familie und Verwandtschaft? - Was heißt Verwandtschaft? - Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Inzestverbot und Exogamie? - Gibt es eine genetische Programmierung für Familie und für Mutterschaft? - Was lässt sich sagen zu der Behauptung in einer Pressemitteilung über eine Studie, Männer suchten sich jüngere Frauen, weil das ihren Fortpflanzungserfolg erhöhen würde? 3.5 Auf dem Weg zur monogamen Kleinfamilie: Natur und Kultur 109 Basisliteratur Bischof, Norbert (1989): Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie. München: Beck Hrdy, Sarah Blaffer (2002): Mutter Natur. Die weibliche Seite der Evolution. Berlin: Berlin Verlag Voland, Eckart (1993): Grundriss der Soziobiologie. Stuttgart: G. Fischer/ UTB Zonabend, Françoise (1996): Über die Familie. Verwandtschaft und Familie aus anthropologischer Sicht. In: André Burguière et al. (Hrsg.): Geschichte der Familie. Band 1: Altertum. Frankfurt/ M.: Campus, S. 17-90 3. Ursprung und Universalität von Familie und Verwandtschaft 110 4. Die Familie im historischen Wandel Die Wurzeln der modernen Familie, deren Entwicklung in der westlichen Welt durchaus als »Sonderentwicklung« betrachtet werden kann, lassen sich bis in die Antike zurückverfolgen. Im Orient wurde die Saat gelegt für den modernen Individualismus und die moderne Familie in ihrer monogamen und (relativ) egalitären Form. Für ihre Entfaltung war die lange Phase der christlichen Dominanz in der europäischen Kultur des Mittelalters bedeutsam (? 4.1). Die Hausgemeinschaft war die vorherrschende Lebensform im Europa der frühen Neuzeit, also etwa seit dem 16. bis ins 19. Jahrhundert. Das Individuum war eingebunden in feste Strukturen einer Wirtschafts- und Versorgungsgemeinschaft. Diese Lebensform war besonders verbreitet in Zentral-, Nord- und Westeuropa, während in anderen Regionen Europas auch »Großfamilien« vorkamen (? 4.2). Der Übergang vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft wurde vielfach beschrieben als Geburt der modernen Familie, die durch das historisch ungewöhnliche Prinzip der Liebesehe gekennzeichnet ist. Mit der bürgerlichen Familie setzte sich auch die Trennung von Wohnen und Arbeiten, von Privatheit und Öffentlichkeit durch (? 4.3). Eine besondere Behandlung verdient dabei die Transformation des Geschlechterverhältnisses. Für Frauen und Männer wurden im 18. Jahrhundert unterschiedliche Wesenszüge angenommen und die neue Stellung der Frau war ambivalent: Zum einen wurde sie dem Mann tendenziell gleichgestellt, zum anderen wurde sie als »Gefühlsspezialistin« wieder in die häusliche Sphäre zurückgedrängt (? 4.4). Auch wenn dieses Konzept der modernen Familie im Bürgertum zunächst eher ein Ideal als eine reale Lebensform war, hat es sich doch allmählich als universell gültig (in den westlichen Industriestaaten) durchgesetzt, allerdings erst im 20. Jahrhundert. Das 19. Jahrhundert war demgegenüber noch geprägt von einer starken Differenzierung von Familientypen, abhängig von der jeweiligen sozialen Lage: Auf der einen Seite die beiden modernen Formen, die bürgerliche und die proletarische Familie, auf der anderen Seite die traditionellen Familienformen von Handwerkern und Bauern (? 4.5). In einem Gesamtüberblick zur Familienforschung, bei dem die Geschichte der Familie nur ein Kapitel umfasst, können nur wenige ausgewählte Aspekte der historischen Entwicklung der Familie dargestellt werden. Das Kapitel konzentriert sich auf den Übergang von der traditionalen Hausgemeinschaft der europäischen Neuzeit zur modernen bürgerlichen Familie im 18. und 19. Jahrhundert. 111 4.1 Antike und christliche Wurzeln der europäischen Familie Wie die soziobiologischen und ethnologischen Erkenntnisse über Fortpflanzungs- und Verwandtschaftssysteme gezeigt haben, reichen die Wurzeln von familialen Zusammenhängen sehr weit zurück, und die Strukturen, die sich dabei entwickelten, sind Begleiterscheinungen der kulturellen Evolution. In gewisser Weise haben sich mit der stärkeren Dominanz von Polygynie und patriarchalen Strukturen in den außereuropäischen Kulturen Entwicklungen vollzogen, die sich als Fortschreibung der ethnologischen Befunde lesen lassen. In Europa dagegen wurden Nomaden und Stammesgesellschaften deutlich früher durch bäuerliche und städtische Kulturen verdrängt als in vielen anderen Teilen der Welt. Die Ursprünge der modernen europäischen Familie liegen, auch wenn die Tradition der germanischen Stammeskulturen nicht ganz folgenlos blieb, in der orientalischen Antike und im Mittelmeerraum. Im Orient wurde die Saat gelegt für den modernen westlichen Individualismus und die moderne Familie. 1 Was wir im Rückblick als Frühgeschichte der »europäischen« Kultur bezeichnen, war in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung weitgehend auf die Küstenregionen des Mittelmeers konzentriert. 2 Im antiken Judentum wurden wichtige Strukturmerkmale der modernen Gesellschaften im Ansatz entwickelt, über die hellenistische und römische Antike weitertransportiert und durch das Christentum weiter modifiziert und geformt. Als historisch erste monotheistische Religion hat das antike Judentum erste Ansätze von Individualismus in einer ansonsten noch stark gemeinschaftlich orientierten Welt hervorgebracht. Der Monotheismus hat in gewisser Weise auch die Monogamie begünstigt, die, so die entsprechende These von Historikern, der Beziehung zwischen dem einen Gott und dem Volk Israel entspricht, das durch seinen König repräsentiert wird. Der Bund zwischen Gott und König David wird häufig als archaische Vorform einer Vertragsbeziehung zwischen Individuen interpretiert. 3 Für die Entwicklung der modernen westlichen Familie war der Individualismus von großer Bedeutung, der sich in der griechisch-römischen Antike schon deutlich bemerkbar machte. 1 Parsons (1988) spricht von den alten Hochkulturen des Orients als »Saatbettgesellschaften« für die Entwicklung zur modernen Gesellschaft. 2 Braudel et al. (1993). 3 Alvarez-Péreyre/ Heymann (1996: 224); Walzer (1995). 4. Die Familie im historischen Wandel 112 In Europa verlief die Entwicklung deshalb auch etwas anders als in der übrigen Welt, in der sich patriarchale Strukturen und Polygamie stärker durchsetzten und es damit auch zu einer wachsenden Bedeutung der patrilinearen Abstammung, der genealogischen Ordnung und der Blutsverwandtschaft kam. In Europa wurde der Einfluss der Blutsverwandtschaft bereits früh zurückgedrängt. Deutlich wird dies etwa bei der römischen familia, die in erster Linie ein häuslicher Herrschaftsverband war und weniger eine genealogische Ordnung. 4 Die patria potestas, die väterliche Gewalt, ist deshalb eher mit einer politischen Machtposition vergleichbar als mit einer patriarchalen Stellung im Familienverband. 5 Damit wurde auch die Tendenz zu patrilokalen und polygynen Verhältnissen zurückgedrängt und die Monogamie konnte sich leichter durchsetzen. Zur Förderung der Monogamie und zum Abbau verwandtschaftlicher Macht hat das Christentum früh beigetragen. Der Historiker Jack Goody meint, dass die Kirche in der Spätantike und im frühen Mittelalter durch eine erfolgreiche Machtpolitik ihre eigene Stellung im Verhältnis zu den weltlichen Oberschichten stärken konnte. 6 Ein wichtiges Mittel dafür war nach Goody die Durchsetzung des Verbots der bis dahin im Mittelmeerraum besonders bei den besitzenden Bevölkerungsschichten üblichen Verwandtenehe. Die Kirche verschaffte sich mit dem Verbot solcher Ehen, aber auch mit der Ächtung des Konkubinats sowie der Einführung des Zölibats Zugang zu Besitz, der frei wurde, weil nun ein bestimmter Teil der Söhne nicht heiraten konnte. Und dort, wo die Verwandtenehe oder andere Formen verbotener Eheschließungen weiterhin praktiziert wurden, ließ sich die Kirche deren Bewilligung gut bezahlen (sogenannte Dispens-Ehen). Ein wichtiger Punkt für die Entwicklung hin zur modernen Ehe und Familie ist nun, dass mit dieser kirchlichen Politik die Eigenständigkeit des Paares gegenüber Verwandtschaft und Familie gestärkt wurde und damit auch die Individualisierung der Partnerwahl erleichtert wurde. Die Folge davon ist die verstärkte Autonomisierung des Ehepaares gegenüber seiner Abstammungsgruppe. Wenn das Endogamie- Verbot ausgeweitet wird, verliert die Allianz-Politik der Familien an Bedeutung. Mit der Durchsetzung des Konsensprinzips und der Aufwertung der Ehe zum Sakrament trug die Kirche zusätzlich dazu bei, die Ehe aus dem Einflussbereich der 4 Fusco (1982). »Familia« bezeichnete zunächst »die Herde der Sklaven« (Thomas 1996: 277). 5 Das Konzept der väterlichen Gewalt kam aus dem römischen Rechtsdenken in das europäische Familienrecht; es gibt aber in Deutschland auch germanische Wurzeln, in der Muntehe, bei der die Sippenväter über die Heirat der Töchter entschieden. 6 Goody (1986). 4.1 Antike und christliche Wurzeln der europäischen Familie 113 Familien zu lösen. 7 Das Konsensprinzip besagt, dass eine Ehe von Mann und Frau in freier Übereinstimmung geschlossen werden sollte; im Unterschied zu streng patriarchalen Systemen, innerhalb derer die Kinder nach den wirtschaftlichen oder politischen Interessen des Vaters verheiratet wurden. 8 Die Durchsetzung dieses Prinzips markiert den Übergang von der Solidarität der Verwandtschaftsgruppen hin zur Eigenständigkeit des Ehepaares, von der Blutsverwandtschaft zur Konjugalität. 9 Durch die Übernahme des bereits im spätrömischen Recht angelegten Konsensgedankens in ihre Lehre von der Ehe hat die alte christliche Kirche Europas zum Abbau patriarchaler Strukturen in der Ehe und zur Hervorhebung des Paares als Konsensualgemeinschaft beigetragen; dies wird oft übersehen. 10 Auch für die eheliche Sexualität forderten die Theologen Gleichheit zwischen Mann und Frau: ein für die damalige Welt erstaunlicher Gedanke. Dabei konnten sie sich auf Paulus berufen, der der Ehefrau genauso wie dem Ehemann das Verfügungsrecht über den Leib des Partners zugestanden hatte. Genauer gesagt: Der Zweck der ehelichen Vereinigung - christliche und »schöne« Kinder - schien ihnen eher gesichert, wenn beide Partner freiwillig ihrer Pflicht nachkamen. 11 Andererseits bleibt festzuhalten, dass die Kirche Sexualität, Leidenschaft und Erotik zutiefst verdammte, wahrscheinlich in einem bis dahin in der menschlichen Kulturgeschichte nicht gekannten Ausmaß. Außerdem muss man auch beim Konsensgedanken vorsichtig sein: Er stand zunächst nur auf dem theologischen Papier; in der Praxis dagegen hatten Frauen wohl nur selten die Chance einer autonomen ehelichen Partnerwahl. 12 In einem jahrhundertelangen Prozess hat die Kirche des Mittelalters allmählich also immer mehr Einfluss auf die Praxis der Eheschließung und des Familienlebens genommen. 13 In den ersten Jahrhunderten stand der Zölibat im Vordergrund der christlichen Lehre, die Ehe war in der Spätantike weitgehend eine welt- 7 Dülmen (1990: 160), Mitterauer (1990). 8 Dieser Unterschied ist bereits in der Spaltung des römischen Reiches und später der römisch-katholischen Kirche in einen westlichen und einen östlichen Teil angelegt. Der östliche Teil entwickelte sich stärker in Richtung Patriarchalismus, der westliche Teil stärker in Richtung Individualismus. 9 Goody (1986: 37 f.). 10 Kaufmann (1986: 105), Pernoud (1991: 134 f.). 11 Flandrin (1984: 150 ff.). 12 Dinzelbacher (1993: 80), Klapisch-Zuber (1989). 13 Neben der schon genannten Arbeit von Goody sind hierzu auch Studien von Duby (1985) und Schröter (1985) von Bedeutung. 4. Die Familie im historischen Wandel 114 liche Angelegenheit, für die sich die Kirche noch wenig interessierte. 14 Dies änderte sich allmählich, und schließlich wurde im 12. Jahrhundert die Ehe zum christlichen Sakrament. Doch es dauerte noch einmal fast vier Jahrhunderte, bis die Kirche die Definitionsmacht über die Legitimität der Eheverbindung gewann. Erst mit dem Konzil von Trient (1545-63) gelang es ihr, ihre Konzeption der Ehe als einzig rechtmäßige durchzusetzen. So entwickelten sich Ehe und Familie allmählich von einer zunächst noch ganz von den Familien beherrschten zu einer zunehmend von der Kirche kontrollierten Angelegenheit. Langfristig gesehen hat jedoch die Kirche bzw. die christliche Religion - wenn auch unbeabsichtigt - zur Säkularisierung von Ehe und Familie beigetragen. Dieser Prozess begann schon damit, dass die Kirche geholfen hat, das Ehepaar aus den engen verwandtschaftlichen Abhängigkeiten zu befreien. Damit ergab sich der Raum für weitere Autonomie-Bestrebungen des Ehepaares, das sich später auch von der Kirche löste. Diese Tendenz zur Loslösung wurde von der reformierten Kirche und vor allem von protestantischen Sekten wie den Puritanern weiter gestärkt, die den Einfluss der Kirche und des Priesters auf das Eheleben zurückdrängten, während im Katholizismus die Kirche mit ihren Pfarrern noch sehr viel länger als Vermittler zwischen Gott und den Eheleuten auftrat. Die puritanische Familie gilt deshalb den Historikern in vieler Hinsicht als Prototyp der Familie im Übergang zur Moderne. 15 Sie war eine frühe Form einer Reflexionsgemeinschaft, in der das Individuum anfing, sich selbst im Rahmen der Familie zu thematisieren. Die Gattenbeziehung war als Kameradschaftsbeziehung zweier vernünftiger Individuen gedacht. Die Stellung der Frau war deutlich besser, wenngleich patriarchale Züge auch hier noch vorhanden waren. Am Ende der Geschichte steht die Säkularisierung von Ehe und Familie. Nachdem die mittelalterliche Kirche zunächst die Definitionsmacht über die Legitimität der Eheverbindung gewonnen hatte, wurde seit der Reformation die kirchliche Autorität wieder geschwächt. Allmählich übernahm der absolutistische Staat die Legitimationsmacht. Mit der französischen Revolution wurde die Ehe zum privatrechtlichen Vertrag, und im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 wurde die staatliche Ehegerichtsbarkeit eingeführt, auch wenn die kirchliche Trauung noch längere Zeit Voraussetzung für eine rechtsgültige Ehe blieb (sie fiel erst 1875 weg). 14 Für Paulus rangierte die Ehe noch hinter der Ehelosigkeit, dem Zölibat (Métral 1981). 15 Schücking (1964), Dohrn van Rossum (1982). 4.1 Antike und christliche Wurzeln der europäischen Familie 115 4.2 Die Hausgemeinschaft in der frühen Neuzeit - die traditionale Familie in Europa Der Feudalismus war die prägende Gesellschaftsform während einer langen Periode des europäischen Mittelalters bis weit in die Neuzeit und bestimmte maßgeblich die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen. Die damit verbundenen Standesunterschiede haben auch die Familienformen geprägt. Es gibt in dieser Zeit nicht »die Familie«, sondern im Wesentlichen zwei Hauptgruppen: erstens die Familien der Führungsschichten, d. h. des europäischen Adels, der in sich sehr differenziert war, dessen Familienbeziehungen aber nicht immer auf das eigene Territorium beschränkt blieben. Die Heiratspolitik des europäischen Adels war oft mit politischen Strukturveränderungen Europas verbunden. Die zweite - und quantitativ mit Abstand die größte - Gruppe waren die bäuerlichen Familien bzw. die Hausgemeinschaften. Daneben gab es auch noch andere Familienformen, insbesondere die städtisch-bürgerlichen, zumeist Handwerker und Händler-Familien. Als vorherrschende Lebensform der frühen Neuzeit (16.-18. Jahrhundert) haben die Historiker die Hausgemeinschaft identifiziert. Diese war keine »Familie« im modernen Sinn, weil hier nicht die Blutsverwandtschaft und die Kernfamilie im Vordergrund standen, sondern die ökonomische Arbeitsgemeinschaft, zu der, neben der eigentlichen Kernfamilie, immer auch ledige Verwandte (z. B. Cousinen, Onkel) und nichtverwandte Arbeitskräfte gehörten. Auch Letztere blieben häufig unverheiratet, was insgesamt zu einem hohen Ledigenanteil in der traditionalen Gesellschaft geführt hat. Wenn wir also von »Hausgemeinschaft« sprechen, haben wir nicht in erster Linie das Ehepaar, die Familie oder die Verwandtschaft im Blick. Sexuelle oder emotionale Beziehungen standen nicht im Mittelpunkt, die Hausgemeinschaft war in erster Linie eine Arbeitsgemeinschaft. Man könnte auch von Wirtschaftsbetrieben sprechen, insbesondere bei Bauern und Handwerkern. Wer lebte in der Hausgemeinschaft? Sechs Hauptgruppen lassen sich unterscheiden: Eheleute, Kinder (leibliche Kinder, Stiefkinder, uneheliche Kinder, Zieh-, Pflege-, Kost-Kinder), Verwandte (z. B. lediggebliebene Schwestern des Hausvaters), Gesinde (Knechte, Mägde; Gesellen), Inleute (Nichtverwandte, die der Gewalt des Hausherrn unterstanden) sowie Altenteiler (die Eltern, die aufs »Altenteil« geschickt wurden). 16 Im Hinblick auf das Erbe waren Blutsverwandtschaft und Kernfamilie von Bedeutung, aber im Arbeitsalltag spielte die Unterscheidung zwischen Verwandten und nichtverwandten Hausbewohnern keine besondere Rolle. 16 Dülmen (1990: 13). 4. Die Familie im historischen Wandel 116 Als falsch hat sich die frühere Vorstellung erwiesen, die europäische Familie habe sich von der traditionalen »Großfamilie« zur modernen Kleinfamilie entwickelt. Der Familienhistoriker Michael Mitterauer sprach deshalb vom »Mythos der vorindustriellen Großfamilie«. 17 Dies gilt zumindest für Mittel-, West- und Nordeuropa, wo weder die Großfamilie noch eine frühe Form der Kleinfamilie, sondern eben die häusliche Gemeinschaft (das »ganze Haus«) die zentrale Lebenseinheit war. Das heißt zwar nicht, dass die Lebensform als Ehepaar unwichtig gewesen wäre - man musste schon verheiratet sein, wenn man sozial integriert sein wollte. 18 Aber die Ehe war eingebettet in den sozialen Kontext: in die Hausgemeinschaft und die Stände-Gesellschaft. Sie war keine Institution zur Erfüllung persönlicher Bedürfnisse (wie Liebe oder Geborgenheit) - außer jenem, sozial abgesichert oder integriert zu sein. Die häusliche Gemeinschaft war also keine »Großfamilie«, weder im Sinne eines Zusammenlebens von mehreren verwandten Generationen noch im Sinne eines Großhaushaltes: Die Haushalte waren eher mittelgroß. 19 Es gab in Europa allerdings auch Regionen mit einer starken Verbreitung von größeren Hausgemeinschaften oder sogar richtigen »Großfamilien«: beispielsweise in Russland oder dem Baltikum, aber auch in Südeuropa und Südfrankreich. Bekannte Beispiele sind auch die jugoslawische Zadruga, die »stillschweigenden Gemeinschaften« und die Stammfamilien in Frankreich, die als Zusammenschlüsse mehrerer Kernfamilien bzw. mehrerer Familiengenerationen organisiert waren. 20 Im Vergleich zu heute lassen sich einige Besonderheiten der Lebensweise der frühen Neuzeit hervorheben: 21 1. Niemand lebte allein (abgesehen von Landstreichern). 2. Kaum jemand lebte als Paar zu zweit. 3. Auch innerhalb des Haushalts gab es wenig Raum für Individualität, Privatheit oder Intimität. 4. Kaum ein Haushalt hatte weniger als vier Personen (oft sehr viel mehr). 17 Mitterauer (1978). 18 Dülmen (1990: 159). 19 In England lag die durchschnittliche Haushaltsgröße bei vier bis fünf Personen, in den meisten Regionen West- und Mitteleuropas war sie nur unwesentlich höher (Mitterauer/ Sieder 1984: 42 f.). Allerdings gab es eine breite Streuung: Manche Haushalte waren sehr klein, andere umfassten mehr als zwanzig Personen. Auch die Kinderzahl war eher niedrig, gemessen an der Vorstellung von »Großfamilie«. Aber auch hier war die Streuung groß: So hatte zum Beispiel knapp ein Viertel aller Ehen zwischen 10 und 12 Kindern, und andererseits hatte jede fünfte Ehe nicht mehr als 4 Kinder (Dülmen 1990: 28 ff.). 20 Segalen (1990: 34 ff.). 21 Dülmen (1990). 4.2 Die Hausgemeinschaft in der frühen Neuzeit - die traditionale Familie in Europa 117 5. Privatleben und Arbeitsleben waren integriert, die Hausgemeinschaft war Produktionsgemeinschaft, aber auch Wohn-, Lebens- und Schutzgemeinschaft (etwa, um ein »gesichertes Leben in Ehre« führen zu können). »Das Haus erst machte den Menschen zum Mitglied der Gesellschaft.« 22 6. Die Hausgemeinschaft war patriarchal strukturiert: Der Hausherr war zugleich Vater, Ehemann und »Arbeitgeber«. Der letzte Punkt bedarf noch der Erläuterung, da bereits mehrfach betont wurde, dass die europäische Entwicklung weniger stark patriarchalisch gewesen sei: Damit ist gemeint: weniger stark als in anderen Kulturen, aber eben doch in einer bestimmten Weise »patriarchalisch«. In einem patriarchalischen Haushalt hatte der Hausherr normalerweise das Sagen; doch insgesamt war die Arbeit kooperativ und die Arbeitsteilung (zwischen Mann und Frau) weniger strikt als im 19. Jahrhundert, da Hausarbeit und Feldarbeit bzw. Handwerkstätigkeit noch nicht so deutlich getrennt waren wie später die (weibliche) Hausarbeit einerseits und die (männliche) außerhäusliche Arbeit im Betrieb andererseits oder wie in vielen anderen Kulturen. Der Hausherr vertrat das Haus nach außen und trug die Verantwortung für die Abwicklung von Geschäften. Von Kirche und Obrigkeit wurde außerdem erwartet, dass er für einen sittlich-moralischen Lebenswandel der Angehörigen seiner Hausgemeinschaft sorgte. Dies kommt besonders in der »Hausväterliteratur« des 17. Jahrhunderts zum Ausdruck. Patriarchalische Struktur in der Hausgemeinschaft bedeutete aber nicht uneingeschränkte oder gar despotische Machtausübung des Hausherrn. In erster Linie hatte er dafür zu sorgen, dass der Lebensunterhalt aller Mitglieder gesichert war, dass sie innerhalb der Gemeinschaft vor äußeren Gefahren geschützt oder im Krankheitsfall versorgt wurden. Das Haus war eben auch Schutz- und Solidargemeinschaft, wie überhaupt der europäische Feudalismus die beiden Komponenten Herrschaft und Schutz miteinander verband. Eine despotisch-autoritäre Führung der Hausgemeinschaft hätte die Wahrnehmung dieser Funktionen eher gefährdet. Die häusliche Gemeinschaft war für den Menschen der frühen Neuzeit also der Lebensmittelpunkt. Hier erfuhr er seine Identität: Er war nicht autonomes Individuum in einem abstrakten Staatswesen, sondern Mitglied einer lokalen häuslichen Gemeinschaft. Viele gesellschaftliche Funktionen, die heute öffentlich sind, wurden damals vom Haus übernommen: zum Beispiel Teilbereiche der staatlichen Gerichtsbarkeit, Bildungsaufgaben oder Schutzfunktionen. Es gab keine Privatsphäre; zumindest bedeutete »Privatheit« in der frühen Neuzeit noch etwas anderes als später. 22 Dülmen (1990: 14). 4. Die Familie im historischen Wandel 118 Die Kinder wurden mit einer gewissen Strenge »erzogen«, vor allem mussten sie sich früh an die Hausordnung halten und mitarbeiten. Noch existierte keine eigene Welt der Kinder im modernen Sinn, vielmehr gab es ein Nebeneinander von Spiel und Arbeit im Rahmen der Erwachsenenwelt. Erst mit dem Bürgertum Ende des 18. Jahrhundert kam es zu einer deutlicheren Trennung der »Kindheit« von der Welt der Erwachsenen und zu einer Verbindung von Lernen und Spiel. Aber auch hier müssen Unterschiede zwischen den Ständen beachtet werden. Dass sich vor dem 18. Jahrhundert noch keine eigenständige Lebensphase Kindheit herausbilden konnte, hängt auch mit der niedrigen Lebenserwartung zusammen. Fast die Hälfte der Kinder starb bereits bis zum 10. Lebensjahr. Insgesamt überlebte etwa ein Drittel der Neugeborenen bis zum frühen Erwachsenenalter. Wer erwachsen wurde, konnte erwarten, etwa 40 bis 50 alt zu werden. Älter als 50 wurde nur etwa ein Viertel, über 80 wurden nur wenige (vielleicht drei oder vier Prozent). Man war darauf eingestellt, dass einen der Tod jederzeit treffen konnte und wer schwer krank wurde, richtete sich aufs Sterben ein und ließ den Pfarrer holen (seltener einen Arzt). Der Begriff »Familie« Sucht man nach der historischen Bedeutung des Wortes »Familie«, stellt man fest, dass es sich im Deutschen erst seit dem 18. Jahrhundert durchgesetzt hat. 23 Für die Eltern-Kind-Gruppe im Sinne der heutigen Kern- oder Kleinfamilie gab es davor keine eigene Bezeichnung. Man half sich z. B. aus mit der Umschreibung »mit Weib und Kind« oder sprach vom »Haus des XY«. Dass man kein Wort für die Eltern-Kinder-Gruppe hatte, spricht dafür, dass dieser auch keine besonders hervorgehobene soziale Bedeutung zukam. Das neue Wort »Familie«, das sich im 18. Jahrhundert etablierte, schloss an das französische »famille« an, und dieses wiederum ist vom Lateinischen »familia« abgeleitet. Die Grundbedeutung des Lateinischen »familia« ist jedoch »Haus(gemeinschaft)« - und zwar im Sinne der Gesamtheit der in einem Haus lebenden Personen, einschließlich des Gesindes bzw. der Haussklaven. 24 Auch »pater« und »mater« bringen ursprünglich nicht einen genealogischen Zusammenhang zum Ausdruck (im Sinne einer Abstammungslinie), sondern einen Herrschafts-Zusammenhang. Der »pater familias« ist also nicht (unbedingt) der biologische Vater, 23 Mitterauer/ Sieder (1984: 15, 19ff, 29ff ). 24 Auch im Mittelalter war »familia« nicht die häusliche Verwandtschaftsgruppe, sondern »die Gemeinschaft der Hörigen, die einer Grundherrschaft unterstanden« (Schuster 1993: 15). 4.2 Die Hausgemeinschaft in der frühen Neuzeit - die traditionale Familie in Europa 119 vielmehr bezeichnet der Ausdruck eine Herrschaftsposition: »Herr des Hauses«. Und das durchaus auch im rechtlichen Sinn: Dem Herrn des Hauses unterstanden Frau, Kinder, Verwandte und sonstige Hausangehörige. Im alten deutschen Wort »Haus« blieb dieser Wortsinn bis ins 18. Jahrhundert erhalten: Es bedeutete damals sowohl das Gebäude als auch die darin Lebenden. Reste dieser zweiten Bedeutung sind bis heute erhalten (»Grüße von Haus zu Haus«), gingen aber allmählich in das neuere Wort »Haushalt« ein. Spätes Heiratsalter und Sexualität Eine Besonderheit des westeuropäischen Ehe- und Familiensystems, die gewöhnlich mit dem Stichwort »European Marriage Pattern« umschrieben wird, wurde bereits erwähnt (? 2.5). Die beiden wesentlichen Besonderheiten dieses Heiratsmusters, das in weiten Teilen Nord-, West- und Mitteleuropas wirksam war, sind ein relativ spätes Heiratsalter und eine hohe Ledigenquote. Letztere ist wichtig für die Frage nach nichtehelichen Paarbeziehungen und vorehelicher Sexualität. Ersteres für die Frage der Autonomie des Paares und der Partner zueinander. Je älter die potentiellen Brautleute, desto weniger konnten die Familien in die Partnerwahl hineinreden. Die Partnersuchenden waren in der Regel längst erwachsen, lebten auch häufig (etwa, wenn sie Gesindedienst machten) nicht mehr bei den Eltern, die vielfach bereits gestorben waren. 25 Insofern ist das Europäische Heiratsmuster wichtig als Wegbereiter der modernen, paar-orientierten (konjugalen) Familie. Die Ehe im Rahmen der Hausgemeinschaft war noch nicht die intime Liebes- und Sexualitätsgemeinschaft späterer Zeiten. Zwar ist über die Sexualität in der Ehe aus diesen Zeiten generell wenig bekannt. Gemessen an heutigen Vorstellungen dürfte sie weniger intensiv gewesen sein. Es gab viel Arbeit, wenig Freizeit, viele Kinder, wenig Platz, keine intimen Räume. Es ging um Solidarität und gegenseitige Unterstützung, nicht um seelische Hingabe oder Lustgewinn, Erotik oder Sinnlichkeit. Die Attraktivität des Partners spielte wohl keine allzu große Rolle. 26 Historiker vermuten, dass die Sexualität vom 16. zum 18. Jahrhundert sich grundlegend verändert hat: Während man noch für das ausgehende Mittelalter eine gewisse Offenheit und Direktheit in sexuellen Angelegenheiten annehmen darf, wurde aufgrund des wachsenden kirchlich-reformatorischeren Einflusses, 25 Macfarlane (1986). 26 Anschaulich zeigen dies historische Dokumente, wie sie etwa Hubbard (1983: 242 ff.) zusammengestellt hat. 4. Die Familie im historischen Wandel 120 aber auch des Einflusses frühbürgerlicher und staatlicher Kräfte das Sexuelle, Körperliche und Intime immer mehr privatisiert, tabuisiert, teilweise auch kriminalisiert. 27 Die Vermutung, im 16. Jahrhundert hätte große sexuelle Freizügigkeit geherrscht, ist dennoch mit Vorsicht zu genießen. Es gab strenge Normen, und ihre Verletzung wurde im Allgemeinen hart bestraft. Sexualität vor der Ehe war zwar - besonders in der bäuerlichen Bevölkerung - üblich, aber im Normalfall nur zwischen bereits Verlobten oder sich Versprochenen. Die Zahl unehelicher Kinder war geringer, als man aufgrund des späten Heiratsalters vermuten könnte. Besonders rigide war die Praxis im städtischen Handwerk: Illegitime Kinder hatten kaum eine Chance, später in eine Zunft aufgenommen zu werden. Ehebruch wurde teilweise hart bestraft. Während voreheliche Sexualität, wenn sie als solche erkennbar war (etwa nach einer Verlobung), in der frühneuzeitlichen Gesellschaft in Grenzen akzeptiert wurde, gilt das nicht in gleicher Weise für außereheliche Sexualität, die im Verlauf der Entwicklung bis zum 18. Jahrhundert immer stärker diskriminiert wurde. 28 Die alte christliche Moralvorstellung, dass Sexualität, wenn überhaupt, nur in der Ehe möglich sei, hatte sich paradoxerweise im Zuge der frühneuzeitlichen Säkularisierung - durch Protestantismus, Pietismus und andere Strömungen - allmählich durchgesetzt. 29 4.3 Die bürgerliche Familie Erster Überblick Die häusliche Gemeinschaft war also für den Menschen der frühen Neuzeit der Kristallisationspunkt des Lebens. Mit der »Geburt der bürgerlichen Familie« am Ende des 18. Jahrhunderts rückte das Ehepaar stärker in den Vordergrund. Und damit begann auch die moderne Aufteilung zwischen den Geschlechtern in die Zuständigkeit für das Affektive und das Kognitiv-Rationale. Hier finden wir erstmals in der abendländischen Geschichte eine Einheit von Liebe, Sexualität und 27 Elias (1969), Dülmen (1990: 184 ff.). 28 Dülmen (1990: 186 ff.). 29 Generell war der Einfluss der Kirche auf die Alltagsmoral bis zum Ende des Mittelalters aufgrund geringer Mobilität und fehlender Möglichkeiten der kirchlichen Zentralgewalten, ihre Botschaften zu verbreiten, eher gering gewesen. Das änderte sich in der frühen Neuzeit. 4.3 Die bürgerliche Familie 121 Ehe, auch eine Verschmelzung von Geist, Erotik und Leidenschaft. Diese Einheit und die Liebesehe lassen sich als historischer Sonderfall deuten, - auch deshalb, weil heute Sexualität und Liebe, Zusammenleben und Ehe teilweise schon wieder entkoppelt sind. Mit dem Aufstieg des Bürgertums entwickelte sich allmählich eine neue Familienform, die sich später als vorherrschendes, für die ganze Kultur (der westlichen modernen Gesellschaften) geltendes Ideal durchsetzen sollte. Bestimmte Entwicklungen innerhalb des Bürgertums begünstigten dieses Familienmodell: in kultureller Hinsicht etwa der Empfindsamkeitsdiskurs oder das neue Lebensideal der Aufklärung (Vernunftorientierung und Selbstbestimmung des Individuums). In sozio-ökonomischer Hinsicht war die Trennung von Haus und Betrieb, von Wohnstätte und Arbeitsplatz, strukturell wichtig: Dadurch entstand ein Privatraum. Außerdem grenzte sich die bürgerliche Familie, zunehmend auch in der Binnensphäre, von nicht-verwandten Personen ab. Das »ganze Haus« begann sich aufzulösen. Dagegen dominierten im Adel sowie bei Bauern und Handwerkern auch im 19. Jahrhundert noch lange die alten Lebensformen. Die neuen Merkmale der bürgerlichen Ehe und Familie sind von vielen Autoren beschrieben worden. 30 Diese Merkmale hängen eng zusammen und bedingen sich zum großen Teil gegenseitig, die Auflistung in fünf Punkte ist daher nicht allzu trennscharf: 1. Von der Hausgemeinschaft zur konjugalen Familie. In der bürgerlichen Familie rückte das Ehepaar stärker in den Mittelpunkt des Geschehens. Es gewann an Autonomie innerhalb des Familienverbandes und der Verwandtschaftsstruktur. Dazu gehört auch die Individualisierung der Partnerwahl, die sich historisch in vier Schritten vollzog: Erstens Entscheidung durch die Eltern; zweitens Anbahnung durch die Eltern, Mitsprache- oder zumindest Vetorecht der Brautleute; drittens Anbahnung der Ehe durch den Ehemann, Mitsprache- oder Vetorecht der Braut und der Eltern; und viertens freie selbstbestimmte gegenseitige Partnerwahl von Mann und Frau. 2. Die Liebesheirat wird zur Norm. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam in Deutschland und anderen europäischen Ländern ein neues Ehe- und Familienleitbild auf, in dessen Zentrum eine veränderte Einstellung zur ehelichen Liebe stand. Bis dahin hatte in allen Schichten eine sachliche, zweckorientierte Einstellung zur Ehe vorgeherrscht, gegen die nun ein »literarischer Feldzug« 31 einsetzte. »Liebe« wurde zunehmend als zentrales ehestiftendes 30 Shorter (1975), Stone (1977), Dülmen (1990), Rosenbaum (1982), Schenk (1987); für die USA: Degler (1980), Popenoe (1988). 31 Rosenbaum (1982: 264). 4. Die Familie im historischen Wandel 122 Motiv herausgestellt. In allgemeinerer Hinsicht kam nun der Gefühlsbasis der Ehe eine besondere Bedeutung zu: Mutterliebe und Gattenliebe wurden im Sinne des »affektiven Individualismus« 32 zu wesentlichen Pfeilern des Familienlebens. 3. Aufgeklärte Erziehungsvorstellungen, Aufwertung der Kindheit. Die Emotionalisierung der Ehe wirkte sich auch auf die Mutter-Kind-Beziehung aus, die intensiviert wurde. Für die Erziehung der Kinder entwickelten sich neue Vorstellungen. Den Kindern wurde nun besondere Aufmerksamkeit geschenkt, Vater und Mutter kümmerten sich selbst um sie, schirmten sie von äußeren Einflüssen ab und suchten Individualität, Sittlichkeit und Vernunft der Kinder zu fördern. Die Kindheit wurde zu einer eigenständigen Lebensphase, die Persönlichkeit und psychische Entwicklung des Kindes wurden wichtig. 33 4. Aufwertung von Emotionalität und Intimität, von Häuslichkeit und Privatheit. Mit der Emotionalisierung des familialen Binnenraums war eine entsprechende Abgrenzung von der rationalen Außenwelt verbunden. Es entstand eine Sphäre der Privatheit und Intimität, die Familie richtete sich in einer gegenüber Beruf und Öffentlichkeit zunehmend abgeschirmten Häuslichkeit ein. Die ökonomische Versorgung der Kleinfamilie wurde jetzt allein durch die außerhäusliche Erwerbsarbeit des Mannes gewährleistet. Im Haus der Familie sollte nun das »Gefühl« eine wesentliche Rolle spielen. Die familiale Atmosphäre sollte gefühlsbetont sein. 5. Neujustierung des Geschlechterverhältnisses. Mit diesen Veränderungen wurde das Geschlechterverhältnis neu definiert, die moderne Aufteilung zwischen den Geschlechtern in die Zuständigkeit für das Affektive und das Kognitive hat hier ihren Ausgangspunkt. Die Frauen wurden zu Gefühlsspezialistinnen, sie wurden für die Sphäre des Gefühls und der häuslichen Privatheit zuständig. Der bürgerlichen Frau wurden die Rollen der guten Mutter, Hausfrau und Gattin zugeschrieben - mit den damit verbundenen höheren Anforderungen: Sauberkeit, Ordnung und Behaglichkeit im Haus, sittliche Erziehung der Kinder, liebende Unterstützung des Mannes. Den Männern war demgegenüber eher die Welt der Berufsarbeit und des öffentlichen Lebens zugeordnet. Soweit der Überblick. Im Folgenden werden einige dieser Aspekte vertieft. 32 Stone (1977). Zur Mutterliebe: Badinter (1980), Schütze (1986). 33 Ariès (1975). Hier beginnt eine Entwicklung, bei der die Subjektivität und Individualität des Kindes immer wichtiger wird, bis man schließlich von der »Selbstfindung des Kindes« als »Erziehungsprogramm der europäischen Moderne« sprechen kann (Gestrich 2001). 4.3 Die bürgerliche Familie 123 Die umstrittene These des sentiments approach In der Forschung ist die Frage umstritten, wann die Affektivität in der Familie eine dominante Rolle zu spielen beginnt: Einerseits behaupten die Vertreter des »Gefühlsansatzes« (sentiments approach), dass sie erst mit dem Bürgertum diese enorme Bedeutung bekam. 34 Shorter zum Beispiel sprach davon, dass eine »Woge des Gefühls« (surge of sentiment) über die traditionale Familie geschwappt sei, die sich in drei Bereichen als revolutionäre Neuerung durchsetzte: Romantische Liebe als Grundlage der ehelichen Partnerwahl; Mutterliebe; Privatheit, Intimität und Häuslichkeit. Andererseits wurden die Thesen des sentiments approach von mehreren Seiten kritisiert: So wird darauf hingewiesen, dass die Vertreter des Gefühls- oder Mentalitäten-Ansatzes den historischen Bruch überbetonten. Dagegen lasse sich zeigen, dass es auch früher schon Gefühle, Privatheit und eine größere Bedeutung des Paares und seiner Beziehung gegeben habe. 35 Umgekehrt sei auch später noch lange nicht alles vom Gefühl und der romantischen Liebe bestimmt gewesen. 36 Einwände gibt es auch gegen die Behauptung, die Liebesehe habe erst mit dem Bürgertum begonnen. So hatte in der Tat der Adel strikt getrennt zwischen (außerehelicher) leidenschaftlicher Liebesbeziehung und Ehe, in der die Leidenschaft keinen Platz hatte. Für ihn war die Liebesehe nie eine brauchbare Option. 37 Doch es gibt Hinweise darauf, dass in den Unterschichten Europas vor dem 18. Jahrhundert wenigstens in Ansätzen Liebesehen geschlossen wurden. Manche gehen so weit zu sagen, die Praxis der Liebesehe sei nicht vom Bürgertum erfunden worden, sondern von den europäischen Bauern. 38 Das vereinfacht allerdings die Dinge über Gebühr: Diese »Liebesehen« waren gewiss nicht vergleichbar mit dem, was das frühe Bürgertum als Leitidee entwickelte. Aber es spricht manches dafür, dass die Ehe bei den Bauern im alten Europa - im Unterschied zum Adel - keine reine Sachehe war. Vor allem war sie häufig nicht von den Eltern arrangiert, insbesondere dann, wenn kaum Besitz zu vererben war. Insgesamt herrscht aber Übereinstimmung, dass der historische Übergang von der traditionellen, vorbürgerlichen Familie hin zur modernen bürgerlichen Familie mit Prozessen der Intimisierung, Privatisierung, Individualisierung und mit 34 Zu den Vertretern des sentiments approach gehören vor allem die Historiker Lawrence Stone und Edward Shorter. Stone (1977) hat das Aufkommen des »affektiven Individualismus« für die Entwicklung der bürgerlichen Liebesehe verantwortlich gemacht. 35 Dülmen (1990), Macfarlane (1978, 1986). 36 Rosenbaum (1982), Borscheid (1983). 37 Das gilt bis heute, wie etwa die Dramen um Prinzessin Diana gezeigt haben. 38 Solé (1979: 43 ff., 49). 4. Die Familie im historischen Wandel 124 einer Stärkung des Gefühls verbunden war. Auch wenn man nicht so einseitig wie der sentiments approach die Bedeutung des Gefühls betont, lässt sich die Entwicklung in der frühen Neuzeit doch als Subjektivierung und Psychologisierung interpretieren. In struktureller Hinsicht brachte die Entwicklung in den letzten drei bis vier Jahrhunderten eine Schwerpunktverlagerung vom Verwandtschaftsverband hin zur Kernfamilie und schließlich zum Individuum: Dominierte in der vorbürgerlich-traditionalen Gesellschaft noch die Lebensform der häuslichen Gemeinschaft; so setzte sich im späten 18. und im 19. Jahrhundert die Familie im engeren Sinn durch. Später rückte mehr und mehr das (Ehe-) Paar in den Vordergrund. Und heute, so sehen es manche Autoren, sei das Individuum die Leitfigur: Mit jedem dieser Schritte verstärkte sich der Individualisierungsprozess. Es kam zu einer Intensivierung der Selbstthematisierung und Psychologisierung, bis hin zur heutigen Therapie- und Bekenntniskultur. 39 Vorläufer des modernen ehelichen Liebespaares: Der englische Individualismus Für die Entstehung des modernen europäischen Paares und der konjugalen Familie ist, wie schon erwähnt, die Entwicklung in England von besonderer Bedeutung. England gilt als eine Wiege des modernen Individualismus. Der Historiker Alan Macfarlane hat dies im Hinblick auf Ehe und Familie genauer untersucht: Die Verschmelzung altenglischer und protestantischer Traditionen führte im Puritanismus zu der Form des modernen Paares, die sich am deutlichsten von der traditionalen Form (Einbindung in Verwandtschaft, Abhängigkeit des Paares von der Gemeinschaft usw.) entfernte. Macfarlane sprach schon für die alte englische Gesellschaft von einem Malthusianischen Ehesystem als einer frühen Form der modernen Ehe. 40 Sie sei viel mehr von rationalen Erwägungen und individuellen Entscheidungen der Ehepartner geprägt gewesen als man gewöhnlich für die traditionale Ehe und Familie annimmt. Der Grund dafür ist, dass die altenglische Gesellschaft in gewisser Weise schon im 17. Jahrhundert eine »moderne« Gesellschaft war: individualistisch, marktorientiert, mobil. Auch die Frauen waren besser gestellt als in den meisten anderen Gesellschaften dieser Epoche. In seinen wesentlichen Zügen - spätes Heiratsalter, Monogamie, relative Gleichheit zwischen Mann und Frau, Dauerhaftigkeit der Ehe (keine leichte Scheidungsmöglichkeit), Exogamie, Neolokalität nach der Eheschließung, eine annähernd gleiche Vertei- 39 Burkart (2006a). 40 Macfarlane (1986); vgl. dazu Burkart (1994: 226 ff.). 4.3 Die bürgerliche Familie 125 lung des Geldes, das Mann und Frau in die Ehe einbringen - unterschied sich das englische Heiratssystem von dem der meisten anderen Kulturen jener Zeit. Im Mittelpunkt der Ehe standen die ökonomischen und psychologischen Ziele des Paares. Das zeigt sich für Macfarlane u. a. daran, dass die Ehe selbst dann unauflöslich war, wenn sie kinderlos blieb. In einem solchen paarzentrierten Familiensystem spielten Kinder eine geringere Rolle als in traditionalen Familien, in denen Besitzvererbung, Altersversorgung und Verwandtschaftsbeziehungen wichtig waren. In den meisten Kulturen hatte und hat die Ehe den Zweck der Familiengründung: Kinder bedeuten Wohlergehen, familiäre Macht und Status. Nicht so im Malthusianischen System: Hier sind Kinder auch ein Kostenfaktor. Im alten England, so Macfarlane, konnte man reich werden, gerade ohne viele Kinder zu haben. Natürlich lockerten sich durch dieses System auch die engen Bande zwischen lokalen Familien- und Verwandtschaftsgruppen, auch jene zwischen den Generationen. Es gab keine starken sozialen Heiratsregeln; die wichtigste Regel war, dass das Paar in der Lage sein musste, eine neue Einheit zu formen. Auch wenn es finanzielle Unterstützung durch andere gab: Das Paar musste sich letztlich ökonomisch selbst tragen können. Die Ehe, so resümiert Macfarlane, war ein Kompromiss zwischen ökonomischen Notwendigkeiten und sexuell-psychischen Erfordernissen. »Marriage was a game, with strategies, tactics, prizes and penalties.« 41 Historisch-semantische Wurzeln der bürgerlichen Liebesehe Aus der Vielzahl von literarischen und philosophischen Äußerungen zu Ehe und Familie im 18. Jahrhundert lassen sich drei Konzepte hervorheben, die für die bürgerliche Konzeption der Liebesehe besonders einflussreich wurden: die »vernünftige Liebe«, die Empfindsamkeit sowie die romantische Liebe. 1. Die »vernünftige Liebe« ist ein Produkt der Aufklärung. In der aufgeklärten Ehe-Vorstellung lässt sich eine deutliche Aufwertung der Frau und der ehelichen Gemeinschaft feststellen, wobei jedoch nicht leidenschaftliche Liebe oder Sexualität im Mittelpunkt stehen, sondern die Übereinstimmung im Geiste. Dieses Modell galt für das aufstrebende Bürgertum. Die Ehe wurde als Bildungsanstalt des Menschen begriffen, in der sich die bürgerliche Persönlichkeit vervollkommnen konnte. 42 In der »vernünftigen Liebe« geht es eher um Tugendhaftigkeit des geliebten Menschen als um sexuelle Attraktivität. Das spontane, leidenschaftliche, auf Erfüllung drängende Gefühl wird abgelehnt, solange es nicht durch den »Filter 41 Macfarlane (1986: 322). 42 Dülmen (1990: 163), Kluckhohn (1966). 4. Die Familie im historischen Wandel 126 der Vernunft« gelaufen ist. Leidenschaft ist irrational. Liebe ist eher mit Freundschaft vergleichbar: Verständnis für die Fehler und Einsicht in die Vorzüge des Partners sind wichtig. 43 Die eheliche Liebe sollte also gleichzeitig »vernünftige Liebe«, Gefühlsgemeinschaft und »geistige Gemeinschaft« der Eheleute sein. Sie sollten miteinander kommunizieren, über sich und ihre gemeinsamen Angelegenheiten. Das war zumindest in Deutschland ein Novum (in der englisch-puritanischen Familie sahen wir einen historischen Vorläufer). 2. Im Empfindsamkeits-Diskurs des 18. Jahrhunderts findet sich der literarische Kontext, in dem die Gefühlskultur diskutiert wurde. 44 »Liebe« in diesem neuen Verständnis ist erst möglich auf der Basis eines allgemeineren kulturellen Musters der Empfindsamkeit (sensibility). Zwei kulturelle Neuerungen sind hervorzuheben: Zum einen wurde die Literatur für das Bürgertum zu einem zentralen Kommunikationsmedium (weit mehr als jemals für den Adel); zum anderen rückte innerhalb dieser wichtiger gewordenen Literatur - für die einen insbesondere im Drama 45 , für die anderen eher im Roman - die »Liebe« stärker in den Vordergrund. Darüber hinaus änderte sich der Charakter von »Liebe« fundamental: Die Liebessemantik des 18. Jahrhunderts brachte nicht nur Liebe und Ehe zusammen, sondern auch Liebe und Individualität, Liebe und Subjektivität, Liebe und Selbstthematisierung. Ohne einen »Individualisierungsschub« ist die Intensivierung der Liebesvorstellung kaum denkbar. Diese neue Form von Liebe - wie übrigens auch die persönliche Freundschaft 46 - setzt eine hoch entwickelte Individualität und eine differenzierte Subjektivität voraus. 3. In der deutschen Romantik wird schließlich die Konzeption der Liebesehe auf die Spitze getrieben: 47 Mehr als jemals zuvor steht das Paar im Mittelpunkt. Nun geht es nicht mehr um Vernunft und geistige Übereinstimmung, sondern um die psychische und erotische Verschmelzung der beiden Partner. Man kann nur eine Person lieben, und diese Liebe ist gegenseitig und exklusiv, weltabgewandt und hermetisch. Das Paar bildet sich durch die romantische Liebe und isoliert sich damit zugleich mehr als frühere Liebespaare von der Welt. Romantische Liebe ist, im Gegensatz zu Freundschaft und anderen Liebes-Vorstellungen, nur zu zweit, nur als Dyade möglich. 48 Mit der absoluten Konzentration auf »Lie- 43 Rosenbaum (1982: 264). 44 Greis (1991), Wegmann (1988). 45 Greis (1991). 46 Tenbruck (1964). 47 Kluckhohn (1966: 343 ff.), Rougement (1966: 258 ff.), Singer (1984: 283 ff.), Gay (1986: 57 ff.). 48 Tyrell (1987: 573 ff., 583 ff.). 4.3 Die bürgerliche Familie 127 be« hat die Romantik erstmals die Institution der Ehe in Frage gestellt, denn durch die Koppelung an Liebe wird die Ehe von Instabilität bedroht. 49 Geht man, wie Dux, von einem »Weltverlust des Subjekts« in der Romantik aus, so erscheint die Liebe als einzige Möglichkeit, den Weltbezug wiederzugewinnen: Der Geliebte soll für die Liebende (und umgekehrt) »das Universum und damit alles« sein. 50 4.4 Die Neujustierung des Geschlechterverhältnisses Ein Punkt verdient es, noch einmal etwas ausführlicher dargestellt zu werden: die Veränderung des Geschlechterverhältnisses, die weitreichende Konsequenzen bis heute hat. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass in der Beurteilung dieser Veränderung im Bürgertum des 18. Jahrhunderts eine deutliche Ambivalenz zu erkennen ist, die sich in der Frage ausdrückt: War diese Entwicklung ein Fortschritt für die Frauen oder nicht? Aus heutiger Sicht mag man (bzw. »frau«) darin eher eine Verschlechterung sehen, die seither mühsam korrigiert werden musste - und noch dazu von einem neuen Biologismus wieder bestärkt wird. Damals, so wenden die Kritiker ein, wurde die Frau zur Hausfrau degradiert und auf eine scheinbar natürliche Mutterrolle festgelegt. Auch wenn diese Beurteilung weitgehend zutrifft, so war mit dieser Bestimmung der Frau als guter Mutter und Ehefrau, als Spezialistin für Gefühl und eine gute Familienatmosphäre doch auch eine rechtliche und soziale Aufwertung verbunden. Diese Tendenz zur Gleichstellung der Frau wurde zwar nicht realisiert, doch die Frauenbewegungen konnten sich darauf berufen und taten dies auch. Der Anspruch auf Gleichheit ist heute so selbstverständlich geworden, dass er nicht mehr begründet werden muss. Allein seine Nichterfüllung ist heute begründungsbedürftig. In der Konzeption der bürgerlichen Liebesehe ist die geschlechtliche Ungleichheit also aufgehoben. Gegenüber der gesellschaftlich im 18. Jahrhundert noch weitverbreiteten Frauenverachtung und Hierarchie der Geschlechter setzte der bürgerliche Liebesroman eine gegenteilige Asymmetrie: ein Vorrecht der Frauen in Liebesdingen; sie hatten nun das Vorrecht »nein« zu sagen. 51 Allerdings heben demgegenüber einige Autorinnen kritisch hervor, dass selbst im Diskurs nicht 49 Schenk (1987). 50 Dux (1994: 466). 51 Tyrell (1987: 582 f.). Vgl. auch Luhmann (1982). 4. Die Familie im historischen Wandel 128 eine symmetrisch-wechselseitige Liebe zwischen zwei gleichen Individuen im Vordergrund gestanden habe, sondern die »Gattenliebe« zwischen Mann und Frau, deren Rollen immer noch sehr unterschiedlich definiert waren. 52 Deshalb war die Stellung der bürgerlichen Frau eine schlechtere als in der traditionalen Gesellschaft, in der die Ehefrau noch öffentliche und ökonomische Funktionen wahrnehmen konnte, etwa im Rahmen des »Ganzen Hauses« oder des Familienbetriebs. Erst im Bürgertum wurde die Frau auf Haus und Herd, Küche und Kinder zurückgedrängt. Diese Rückstufung und Spezialisierung wurde im 18. Jahrhundert mit neuen kulturellen Geschlechterdefinitionen durchgesetzt (»Polarisierung der Geschlechtscharaktere«): Im Zuge der allgemeinen Psychologisierung, aber auch der Verwissenschaftlichung der Medizin wurde der Frau zunehmend ein »Geschlechtscharakter« zugeschrieben, der zunehmend auch biologisch definiert wurde. Diese Festschreibung natürlicher Wesenheiten für Männer und Frauen verstärkte sich noch während des 19. Jahrhunderts und erreichte um die Wende zum 20. Jahrhundert ihren Höhepunkt - beispielsweise mit jenen heute absurd anmutenden Versuchen, die angeblich minderwertige weibliche Intelligenz anhand des geringeren Schädelumfangs zu »beweisen«. Bis weit in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein finden sich noch Zeugnisse für den wissenschaftlichen Glauben an den natürlichen Unterschied zwischen Männern und Frauen - vor allem bezüglich Emotionalität und Rationalität und vieler damit begründeter Wesensunterschiede. 53 So heißt es etwa in einem auflagenstarken Buch von 1967, dass die Berufstätigkeit der Frau nur als »Notbehelf« angesehen werden könne, weil wir »die Gewißheit haben, dass der eigentliche, unvergleichliche und unersetzliche Beruf der Frau die Mutterschaft ist«. 54 Die »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« Die neuen Vorstellungen wurden durch die im 18. Jahrhundert aufkommenden Wissenschaften vom Menschen - dazu zählten Anthropologie, Medizin und Psychologie - fundiert. Diese neuen Humanwissenschaften betonten auf der einen Seite das moderne Individuum, unabhängig von Standesunterschieden. Sie hoben auf der anderen Seite die »Natur des Weibes« hervor. Während der Mann sozusa- 52 Mahlmann (1991). 53 Vgl. dazu Frevert (1995). 54 Schultz (1967: 25). 4.4 Die Neujustierung des Geschlechterverhältnisses 129 gen zum geschlechtslosen Gattungswesen Mensch verallgemeinert wurde, verschwand die Frau hinter diesen vom Mann abgeleiteten Allgemeinbegriffen (Mensch oder Individuum) und wurde zunehmend als »von Natur aus« anders definiert. 55 Die These von der »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« wurde in einem einflussreichen Aufsatz der Historikerin Karin Hausen entwickelt. 56 Hausen betont, dass die neuen Vorstellungen von Geschlechtsunterschieden zur Legitimierung der Trennung in die öffentlich-männliche und die häuslich-weibliche Sphäre beitrugen. Neu war nicht, so stellt Hausen fest, die Behauptung von Geschlechtsunterschieden, sondern deren Begründung: Sie wurden nun als natürliche Unterschiede nicht nur im biologischen Sinn, sondern mehr noch im Sinn der aufkommenden Psychologie als Charakter- und Wesensunterschiede konzipiert. Bis dahin wurden Mann und Frau nicht so sehr durch Charaktereigenschaften unterschieden, als vielmehr durch Standesrechte und -pflichten, Arbeitsbereiche und Aufgaben. Charakterzüge und »Tugenden« waren im Verständnis der traditionalen Kultur den jeweiligen ständisch-sozialen Positionen zuzuschreiben gewesen. Nun, mit dem neuen Denken der Aufklärung, wurde das Individuum aus den ständischen Zuordnungen befreit, dafür aber mit unterschiedlichen Geschlechtscharakteren ausgestattet. Das bedeutete auch, dass jetzt alle Individuen der jeweiligen Geschlechtsklasse gemeint waren, nicht nur bestimmte Standesgruppen. Ein universales Zuordnungsprinzip trat so an die Stelle eines partikularen. 57 Der Mensch war nicht mehr in erster Linie Teil einer Gemeinschaft, sondern autonomes Individuum. Damit geriet nun aber die alte hausväterliche Herrschaft unter Legitimationsdruck. Es kam zu Emanzipationsforderungen, und der eingeschränkte Aktionsradius der Frauen musste neu begründet werden. Das Modell der »vernünftigen Persönlichkeit«, das der Frau jetzt nicht mehr ohne weiteres abgesprochen werden konnte, musste mit der der Frau zugedachten Rolle als Hausfrau und Mutter in Übereinstimmung gebracht werden. Dies gelang, indem die Rollentrennung als Naturzweck begründet wurde: Frauen und Männer sind von Natur aus unterschiedlich begabt und dementsprechend passen »vernünftige Persönlichkeit« und die unterschiedlichen Naturen von Frau und Mann wieder zusammen. Immer stärker wurde die Frau nun über die Familie - und die Familie über die Frau - definiert. 55 Honegger (1991). 56 Hausen (1976), hier zitiert nach Hausen (1978). Vgl. auch Rosenbaum (1982: 293), die hier im wesentlichen Hausen folgt. 57 Hausen (1978: 163 f.). 4. Die Familie im historischen Wandel 130 Karin Hausen hob zwei gesellschaftliche Funktionen hervor, die man diesem fundamentalen Wandel zuschreiben kann. 58 Erstens diente die neue Vorstellung der ideologischen Absicherung männlicher Herrschaft und deren rechtlicher Privilegierung. Gegen die Emanzipationsbestrebungen der Frauen wurde immer wieder ihre »natürliche Wesensbestimmung« vorgebracht, vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die zweite Funktion bestand darin, ein Ergänzungsverhältnis, eine Komplementarität zwischen Mann und Frau zu begründen, häufig unter Zurückweisung des Herrschaftscharakters. Frauen und Männer, so lautete nun die Botschaft, sind unterschiedlich, sie ergänzen einander. Der Mann herrscht nicht über die Frau, im Gegenteil: Um sich zu einer harmonischen Persönlichkeit zu entwickeln, braucht er die Frau. Die Menschlichkeit vollendet sich in der Ergänzung von Mann und Frau, die Gegensätze ergänzen sich zur harmonischen Einheit. Und deshalb ist auch die Trennung von Familien- und Erwerbsleben, von privat-weiblicher und öffentlich-männlicher Sphäre, nicht nur naturgegeben, sondern sogar ideal: Sie dient der Vollendung natürlicher Menschlichkeit. Der Komplementaritätsgedanke tritt im Lauf des 19. Jahrhunderts immer deutlicher hervor. Es gab somit eine doppelte Trennung: innerhalb der Familie zwischen der männlichen Vernunft und der weiblichen Emotionalität, und außerhalb zwischen der emotionalen Familie und der rationalen Gesellschaft. So war auch die Ergänzung zwischen den Ehepartnern gedacht: Im Außenverhältnis der Familie repräsentiert der Mann die Ratio, aber im Innenverhältnis bietet ihm die Ehefrau die Möglichkeit des Zugangs zu den Gefühlen. Die neuen psychologischen Ideen zum Geschlechtsunterschied waren schnell populär geworden: So traten beispielsweise etwa um 1800 in Konversationslexika Charakterdefinitionen an die Stelle von Standesdefinitionen. Die Konversationslexika der jeweiligen Epoche geben einen guten Einblick in die jeweils vorherrschende Idee über die Ursachen der Geschlechtsunterschiede. 59 Abbildung 4.1 zeigt, wie in verschiedenen Epochen soziale, biologische oder psychologische Begründungen im Vordergrund der Definition von Männlichkeit und Weiblichkeit standen. 58 Hausen (1978: 167 ff.). 59 Frevert (1995). 4.4 Die Neujustierung des Geschlechterverhältnisses 131 Abbildung 4.1: Geschlechtsunterschiede in Konversationslexika Geschlecht Mann Frau bis ca. Mitte 18. Jh. »Moralische« Kategorie (»sozial«) und »Naturrecht«- Kategorie 1739: Ehemann Profession oder Stand (z. B. »Bedienten«) 1747: »Stande der Verheyrathung« Göttliche Bestimmung: Kinder empfangen Sind Weiber Menschen? 1788: Arbeitsgenossinnen ihrer Ehemänner Ende 18. Jh./ Anfang 19. Jh. Psychologische Kategorie (»Geschlechtscharakter«) 1806: Stärke, Mut, Tapferkeit 1806: Gefühlswesen Ende 19. Jh./ Anfang 20. Jh. Biologische Kategorie Geschlechtsreife 1898: Bestimmung: Mutter Seit 1970er Jahren Sozio-kulturelle Kategorie 1991: Biologie: belanglos Soziale Rolle und kulturelle Konstruktion Ende 20./ Anfang 21. Jh. Neuer Biologismus: Geschlechts-Gene XY-Chromosome XX-Chromosome In den Konversationslexika verschiedener Epochen werden Geschlechtsunterschiede jeweils anders definiert und unterschiedlich begründet. Quelle: Frevert (1995). Eigene Darstellung. Zunächst galt die Psychologisierung des Geschlechtsunterschiedes nur innerhalb des Bürgertums (und zunächst auch nur in der Theorie), sie setzte sich aber im Verlauf des späten 19. und dann des 20. Jahrhunderts zunehmend auch in anderen Schichten durch. Ebenso war auch die neue bürgerliche Ehe- und Familienkonzeption gegen Ende des 18. Jahrhundert zunächst nur ein Programm, das nur die wenigsten - gerade auch im Bürgertum 60 - realisieren konnten. Materielle Interessen und soziale Absicherung der Frau blieben weiterhin die Grundlage der bürgerlichen Ehe, »wenngleich sie durch die stärkere Betonung der Gefühlsebene aufgewertet wurde«. 61 Zur vollen Verwirklichung des Entwurfs der Ehe als »Gefühls- und geistige Gemeinschaft« fehlte die tatsächliche Gleichstellung zwischen Mann und Frau, von der das frühe Bürgertum noch weit entfernt war. Gerade der Aus- 60 Rosenbaum (1982: 285 ff.), Dülmen (1990: 230). 61 Rosenbaum (1982: 286). 4. Die Familie im historischen Wandel 132 schluss der Frau aus der öffentlichen Sphäre und dem Bereich der Arbeit führte zu ihrer ökonomisch-sozialen Abwertung und zu einer Stabilisierung der männlichen Dominanz. Auch der hohe Altersabstand der Gatten in der bürgerlichen Ehe trug zur Ungleichheit zwischen Mann und Frau bei. 62 Eine Doppelmoral der Männer bestimmte zunehmend die ehelichen Beziehungen: Männer verschafften sich außer Hauses sexuelle Befriedigung, die Frauen wurden zunehmend zur Prüderie und Sittsamkeit angehalten. 63 Und gegen Ende des 19. Jahrhunderts waren schließlich im erstarkten deutschen Wirtschaftsbürgertum soziale Gesichtspunkte sowie die Beeinflussung durch die Familie für die Eheschließung wieder wichtiger geworden. 64 Es gibt dennoch Gründe, hinsichtlich der Entwicklung zur bürgerlichen Familie von einer Besserstellung der Frau zu sprechen: Erstens wurde mit der allgemeinen Aufwertung von Subjektivität und Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft auch die Frau in ihrer Persönlichkeit aufgewertet - zumindest potentiell. Patriarchale Herrschaft war unter den Prämissen bürgerlicher Emanzipation und Subjektivität immer schwerer legitimierbar und auch unverträglich mit der Umstellung auf Komplementarität. Zweitens wurde das Heiratssystem im Zuge dieser Veränderungen allmählich von dem Allianz-Vertrag auf die individuelle Neigungs-Ehe umgestellt, was einen bedeutenden Fortschritt bezüglich der Entscheidungsautonomie von Frauen bei der Partnerwahl und Eheschließung darstellte. In einer Übergangszeit, in der große Teile des Bürgertums, vor allem des Besitzbürgertums, noch ganz an der Allianz-Ehe festhielten, gleichzeitig die Töchter und Söhne aber bereits von der Idee der Liebesehe beeinflusst waren, gab es häufig Konflikte und Spannungen. 65 Der Fall Cornelia Goethe wurde in dieser Hinsicht genauer untersucht. 66 Die Schwester des Dichterfürsten erkrankte geradezu an der Überforderung, die durch die Kluft zwischen dem ideellen Anspruch der Liebesehe und den realen Bedingungen erzeugt wurde: »Sie muss heiraten, sie braucht eine standesgemäße Versorgung. […] Aber alle diese Zwänge darf es für die Reinheit der Empfindung nicht geben.« 67 62 Rosenbaum (1982: 288 ff.), Schmid-Bortenschlager (1992). 63 Rosenbaum (1982: 348), Schenk (1987: 90 ff.). 64 Rosenbaum (1982: 310 ff.), Borscheid (1983). 65 Dülmen (1990: 181 ff.). 66 Prokop (1983; 1991). 67 Prokop (1983: 75). 4.4 Die Neujustierung des Geschlechterverhältnisses 133 4.5 Familienverhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert An der Schwelle zum 19. Jahrhundert kamen also die Liebesehe und ein neues Geschlechterverständnis zum Vorschein: zunächst nur im Bürgertum und auch nur als Ideal. Es sollte sich aber bis zum 20. Jahrhunderts als universelles Familienmodell - eben die moderne Kleinfamilie - durchsetzen. Doch im Verlauf des 19. Jahrhunderts sind zunächst noch die Unterschiede zwischen den Familientypen verschiedener sozialer Stände und Klassen auffällig: Adel, Bürgertum, Handwerker, Bauern, Heimarbeiter, Industriearbeiter - diesen sozialen Gruppen sind noch sehr unterschiedliche Wohn- und Lebensverhältnisse eigen. 68 Im 19. Jahrhundert und auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte die Mehrheit der Bevölkerung in Europa in ländlich-bäuerlichen Verhältnissen. Ein erheblicher Teil von ihnen war weder verheiratet noch hatte er Besitz, sondern arbeitete als Tagelöhner. Ihre Lebensform entsprach deshalb nicht dem Ideal des »ganzen Hauses«, das ansonsten für wohlhabende Bauernfamilien immer noch die vorherrschende Lebensform darstellte. Die Einheit von Produktion und Familienleben war hier noch gegeben: Arbeitskräfte wurden in den Haushalt aufgenommen und sozial integriert. Die größeren bäuerlichen Betriebe fanden sich eher in Gebieten mit Anerbenrecht, wo der ganze Hof an ein Kind - in der Regel den ältesten Sohn - vererbt wurde, während in Gebieten mit Realteilung alle Kinder gleiche Anteile erbten. Hier war daher eher Klein- und Kleinstbesitz verbreitet. 69 Auch in den Handwerkerfamilien des 19. Jahrhunderts war das vorherrschende normative Leitbild des »ganzen Hauses«, wo Lehrlinge, Gesellen und Meister zusammen wohnten, nur beim wohlhabenden Teil realisiert. 70 Ländliche und handwerklich-städtische Familien waren vielfach kleine Familienbetriebe, deren Anteil an der Bevölkerung im Lauf des 20. Jahrhundert stark zurückging. 71 Hier war die Besitzvererbung, ähnlich wie beim Besitzbürgertum und den Großbauern, ein entscheidender Gesichtspunkt bei der Wahl eines Heiratspartners der Kinder, im Regelfall stand nicht die Liebesehe im Vordergrund, sondern immer noch die Verheiratung der Töchter durch die Väter nach Besitz- und Statusgesichtspunkten. 72 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann sich aufgrund von strukturellen 68 Vgl. dazu Rosenbaum (1982). 69 Rosenbaum (1982: 51). 70 Gestrich (1999: 13). 71 Gestrich (1999: 15). 72 Mooser (1982). 4. Die Familie im historischen Wandel 134 Wandlungen im Handwerk die Sozialform des »ganzen Hauses« aufzulösen. Das hing mit der beginnenden Industrialisierung und der entsprechenden Vergrößerung mancher Betriebe sowie mit dem starken Anstieg des Anteils von Gesellen und der Ausweitung des Gesellenstatus auf das ganze Leben zusammen. 73 In Gebieten mit einem hohen Anteil von »unterbäuerlicher« Bevölkerung - so wurden arme Bauernfamilien oder solche mit wenig Besitz bezeichnet - entwickelte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Übergang zur Industriegesellschaft ein neuer Familientypus: die Heimarbeiter- oder Hausindustrie-Familie. 74 Hier gab es zwar noch, wie in den traditionellen Haushaltsformen, eine Einheit von Produktion und Familienleben, doch waren insgesamt die Lebensbedingungen hier weniger günstig als im traditionellen ganzen Haus, da die Bezahlung der Heimarbeiter durch den »Verleger« oft schlecht war. 75 Insofern ist die Hausindustrie-Familie eine Vorform der proletarischen Familie. Während sich im Bürgertum die Kernfamilie im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend privatisierte (das gemeinsame Wohnen mit Nichtverwandten oder entfernten Verwandten wurde immer seltener), waren die Familien der Arbeiterklasse aus ihrer Not heraus oft gezwungen, »Schlafgänger« aufzunehmen, das heißt, Schlafplätze zu vermieten. Sie waren dadurch »halboffene Familien« in beengten Wohnverhältnissen: Ihre Mitglieder hatten dementsprechend kaum private Rückzugsmöglichkeiten. 76 Da die Frauen meist zum Broterwerb beitragen mussten, kam es oft zu einer Vernachlässigung der Kinder (zumindest aus der Perspektive des bürgerlichen Ideals). Doch letztendlich war auch in der Arbeiterklasse der Trend zur Privatisierung der Kernfamilie nicht aufzuhalten; er wurde u. a. stark gefördert durch genossenschaftlichen Wohnungsbau zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch bei den Bauern gab es eine Tendenz zur Privatisierung der Kernfamilie; selbst dort, wo noch die Form des »ganzen Hauses« vorherrschte. 77 Generell war diese Lebensform in der ländlichen Bevölkerung noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein verbreitet, besonders in Anerbengebieten, während es in Gebieten mit Realteilung schneller zur Verkleinerung der Familien und Haushalte kam. Als »moderne« Familienformen haben sich im 19. Jahrhundert also die bürgerliche Familie und die Arbeiterfamilie immer stärker ausgebreitet. Beiden ist 73 Rosenbaum (1982: 183 ff.). 74 Rosenbaum (1982: 189 ff.). 75 Als »Verleger« wurden die Arbeitgeber bezeichnet, die der Heimarbeiterfamilie die Produktionsmittel zur Verfügung stellten, zum Beispiel eine Nähmaschine und entsprechendes Material zur Bearbeitung. 76 Gestrich (1999: 24). 77 Gestrich (1999: 27). 4.5 Familienverhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert 135 gemeinsam die Trennung von Arbeiten und Wohnen. Das führt auch zu einer verstärkten Verbreitung der Liebesehe, da die Wahl eines Ehepartners nicht mehr so sehr von seinen Qualitäten als Arbeitskraft im Haushalt abhing. Außerdem konnte sich, wie bereits Friedrich Engels erkannt hatte, die Liebesehe dort leichter durchsetzen, wo es wenig Besitz zu vererben oder es keine starken verwandtschaftlichen Ansprüche (in Form von Heiratsregeln) gab. Das galt zum einen für das Bildungsbürgertum, das eher zu den weniger wohlhabenden Schichten des Bürgertums gehörte, zum anderen auch für die Arbeiterklasse. 78 Die Jugendlichen aus der Arbeiterklasse waren es auch, die im 20. Jahrhundert die aufblühende Medien- und Kulturindustrie nutzten, um, wie Eva Illouz schreibt, »die romantische Utopie zu konsumieren«. Das heißt, die Konsumkultur stellte einen Rahmen für die Paarbildung zur Verfügung, der eine größere Autonomie der Jugendlichen ermöglichte. In den USA war beispielsweise das Autokino ein wichtiges Medium dieser Autonomie. 79 Das bürgerliche Leitbild der modernen Kleinfamilie, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden war, entfaltete seine Breitenwirkung also erst 100 Jahre später. 80 Und im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, so sehen es jedenfalls manche Beobachter, geriet dieses Leitbild in eine Krise; vor allem durch die »Kulturrevolution« der 1960er-Jahre wurde es erschüttert. Damit befindet sich aber nicht »die Familie« als solche im Niedergang, sondern deren spezifisch bürgerliche Ausprägung. Man kann sogar sagen, dass die »Achtundsechziger«-Revolte nicht ausschließlich gegen das alte Familienleitbild kämpfte, sondern zum Teil die Realisierung daran geknüpfter Ideen einforderte: Das gilt insbesondere für die Idee der Geschlechtergleichheit. Insgesamt lässt sich behaupten, dass die Dominanz der modernen Familie, die aus der bürgerlichen Familie hervorgegangen ist, ungebrochen ist. Das Bild von der postmodernen Familie 81 ist kein Gegenbild, sondern eine nochmals modernisierte Variante der modernen Familie. Zu seinen Kennzeichen gehört der verstärkte Anspruch auf Geschlechtergleichheit im Zuge einer allgemeinen »Feminisierung der Kultur«. 82 Dazu gehört auch, dass sich bei den jungen Erwachsenen eine 78 Bei Handwerks- und Bauernfamilien kommt noch eine Tendenz dazu, die zusätzlich gegen die Liebesehe wirkte: Starb ein Partner, so gab es einen starken Druck zur schnellen Wiederverheiratung, und die Wahl des Ehepartners war von ökonomischen Erfordernissen geprägt, nicht von Gefühlen oder Merkmalen körperlicher Attraktivität. 79 Illouz (2003). 80 Rosenbaum (1982: 478 f.). 81 Zur Konzeption der postmodernen Familie vgl. Shorter (1975) und Lüscher et al. (1988) sowie Kap. 10.2. 82 Cancian (1987). 4. Die Familie im historischen Wandel 136 Lebensphase entwickelt hat, in der der Wille zur Familiengründung deutlich zurückgedrängt wurde. Eine andere Frage ist es, ob im Zuge der Globalisierung und einer in vielen Bereichen zu beobachtenden »Verwestlichung« sich auch die Form der modernen Familie noch stärker ausbreitet, oder ob diese Entwicklung durch die Differenz und den »Kampf der Kulturkreise«, wie ihn Huntington sieht, verhindert wird. 83 Zusammenfassende Thesen Die europäische Familienentwicklung hat, im Vergleich mit anderen Weltregionen, einen gewissen Sonderweg beschritten, der sich einerseits durch eine geringere Bedeutung des Patriarchalismus, der Genealogie und der Großfamilie, andererseits durch ein größeres Gewicht des Individuums, der Paarbeziehung und der Kernfamilie auszeichnet. Ein wesentlicher Grund für diesen Sonderweg liegt im großen Einfluss des Christentums, das mit seinen orientalischen Wurzeln auch Ansätze für eine Dominanz des Individuums und der Kernfamilie übernommen und sie verstärkt hat. Für das Mittelalter und die frühe Neuzeit ist in Europa die Hausgemeinschaft oder »das ganze Haus« die vorherrschende Lebens- und Familienform. Sie war in erster Linie eine Arbeits-, aber auch eine Solidargemeinschaft, bei der die Verwandtschaftsbeziehungen eine geringere Rolle spielten als in stärker patriarchalischen Systemen. Der Übergang zur Moderne wird markiert durch die Führungsrolle des europäischen Bürgertums, die sich vor allem in kultureller Hinsicht auswirkte durch die neuen Ideen der Liebesehe und der Neudefinition des Geschlechterverhältnisses. Vor etwa 200 Jahren begann sich eine Unterscheidung zwischen der männlichen und der weiblichen »Natur« durchzusetzen, die bis heute für die unterschiedliche Stellung von Mann und Frau in Gesellschaft und Familie Begründungen lieferte, die seit den 1970er-Jahren allerdings immer weniger überzeugten. Das bürgerliche Familienideal setzte sich zunächst nur zögernd durch, aber bis zum 20. Jahrhundert wurde es zum allgemeinen Modell. Spätestens seit den 1960er-Jahren verliert es aber stark an Legitimation. 83 Huntington (1996). 4.5 Familienverhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert 137 Übungsfragen - Welchen Anteil hat das Christentum an der Entwicklung der modernen Paarbeziehung? - Was bedeutet »Mythos der Großfamilie«? - Was sind die Kennzeichen der Hausgemeinschaft im frühneuzeitlichen Europa? - Was heißt »patriarchal« im Kontext der traditionalen Familie in Europa? - Was sind die Kennzeichen der bürgerlichen Familie? - Wie hat sich durch die moderne bürgerliche Familie das Geschlechterverhältnis verändert? Basisliteratur Ariès, Philippe (1975): Geschichte der Kindheit. München: Hanser Ariès, Philippe/ Georges Duby (Hrsg. 1991): Geschichte des privaten Lebens, Fünf Bände, Frankfurt/ M.: Fischer Burguière, André/ Christiane Klapisch-Zuber/ Martine Segalin/ Françoise Zonabend (Hrsg., 1996): Geschichte der Familie. Vier Bände. Frankfurt/ M.: Campus Dülmen, Richard van (1990): Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Erster Band: Das Haus und seine Menschen 16.-18. Jahrhundert. München: Beck Frevert, Ute (1995): »Mann und Weib, und Weib und Mann«. Geschlechter-Differenzen in der Moderne. München: Beck Hausen, Karin (1976): Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Werner Conze (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart: Klett, S. 363-393; auch in: Heidi Rosenbaum (Hrsg., 1978): Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Frankfurt/ M.: Suhrkamp, S. 161-191 Rosenbaum, Heidi (1982): Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 4. Die Familie im historischen Wandel 138 5. Struktur und Funktion der modernen Familie Im Verlauf der historischen Entwicklung zur modernen Gesellschaft hat sich ein Familienmodell etabliert, das sich theoretisch als Strukturmodell der modernen Familie fassen lässt, mit bestimmten Merkmalen, durch die es sich von anderen Familiensystemen unterscheidet. Die Grundstruktur der Kernfamilie ergibt sich aus der Kombination von Filiation und Konjugalität, darüber hinaus ist die Einbindung in Verwandtschaftsstrukturen zu berücksichtigen (? 5.1). Als Institution und als gesellschaftliches Teilsystem erfüllt die Familie bestimmte Funktionen für die Gesellschaft und ihre Teilsysteme. Dazu gehören die biologische und soziale Reproduktionsfunktion, die Sozialisations- und die Statuszuweisungsfunktion. Funktionszuschreibungen können sich im Zeitverlauf ändern, da es der Familie unter bestimmten Gegebenheiten schwer fällt, diese Funktionen noch zu erfüllen, zum Beispiel durch Auslagerung von Aufgaben an andere Institutionen (? 5.2). Mit dem Aufkommen der modernen Familie hat sich auch ein Bereich der Privatheit herausgebildet. Darunter kann allerdings sehr Unterschiedliches verstanden werden; ein Stufenmodell der Privatheit soll hier mehr Klarheit schaffen. Die Familie kann jedenfalls nicht einfach dem Privatbereich zugeschlagen werden, vielmehr lässt sie sich im Schnittpunkt zwischen Privatsphäre und öffentlicher Sphäre verorten (? 5.3). Die Familie kann als besonderes gesellschaftliches Teilsystem betrachtet werden, das über seine Funktionszuschreibungen mit anderen gesellschaftlichen Systemen in komplexen Beziehungen steht. Wichtig sind vor allem die Systeme der Erwerbsarbeit und der Bildung. Familien sind aber auch eingebunden in Strukturen sozialer Ungleichheit: So sind Familien aus unterschiedlichen sozialen Schichten oder Milieus von Problemen in unterschiedlicher Weise und Stärke betroffen (? 5.4). Ein Überblick über die wichtigsten Theorien in der Familiensoziologie schließt das Kapitel ab. Insbesondere drei Theorien haben sich in der deutschen Diskussion als einflussreich erwiesen: Die Individualisierungstheorie, die Theorie funktionaler Differenzierung und die Rational-Choice-Theorie. Dabei wird noch einmal die Frage nach der grundlegenden Bedeutung der Familie für die Gesellschaft aufgeworfen (? 5.5). 139 5.1 Die Struktur der modernen Kernfamilie Die Grundstruktur der Kernfamilie lässt sich als Kreuztabellierung zweier dichotomer Strukturmerkmale darstellen: Filiation und Konjugalität, also Eltern- Kind-Beziehung und eheliche Paarbeziehung. Der Zusammenhang von zwei Generationen und zwei Geschlechtern macht die Kernstruktur aus, wobei das Geschlechterverhältnis asymmetrisch-komplementär und das Generationsverhältnis hierarchisch organisiert ist: jedoch nicht im Sinne einer Machtbeziehung, sondern einer sozialisatorischen Verantwortungsbeziehung. Talcott Parsons sprach in diesem Zusammenhang von der »Führungskoalition der Eltern« und von der »instrumentellen Führungsrolle des Vaters« in Verbindung mit seiner Einbindung in das Erwerbssystem. Der Mutter wurde die expressive Führungsrolle zugeschrieben (Abb. 5.1). 1 Diese Definition ist offensichtlich geprägt von der klassischen Vorstellung eines komplementär-egalitären Verhältnisses, wie es in der bürgerlichen Familie entwickelt wurde (»Polarisierung der Geschlechtscharaktere«). Diese Rollenzuschreibung, wie überhaupt das Festhalten an einem Modell von Normalfamilie, wird heute vielfach kritisiert, weil damit immer auch ein normativer Anspruch verbunden sei, der »abweichende« Formen abwerte. Ein Teil der Kritik lässt sich dadurch entschärfen, dass zwischen einem theoretischen Modell und empirischen Varianten unterschieden wird. Zum theoretischen Modell würde dann die Vaterposition gehören, auch wenn sie empirisch nicht besetzt ist, wie im Fall der Alleinerziehenden oder bei gleichgeschlechtlichen Elternpaaren. Für eine Minimaldefinition von Familie genügt heute die Filiation, speziell die Mutter-Kind-Dyade. Das heißt, die Mindestbedingung, um von »Familie« sprechen zu können, ist eine Beziehung zwischen einem Kind und einem Elternteil (oder einem »Elter«, wie Biologen sagen). Abbildung 5.1: Binnenstruktur der Kernfamilie Konjugalität/ Elternschaft instrumentelle expressive Rolle Filiation/ Kindheit Gatte/ Vater Gattin/ Mutter Sohn/ Bruder Tochter/ Schwester Binnenstruktur der Kernfamilie nach Talcott Parsons. Eigene Darstellung. Es handelt sich um eine Funktions- und Rollenstruktur, unabhängig von der Besetzung in einer konkreten Familie, wo nicht alle Positionen besetzt sein müssen. 1 Parsons/ Bales (1955). 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 140 Parsons hat das westliche Familiensystem als »offenes, multilineares Gattenfamiliensystem« definiert. 2 Das heißt, es gibt, abgesehen vom Endogamieverbot, keine Regel, wer mit wem eine Paarbeziehung eingehen und eine Familie gründen darf. Es gibt also auch keine bevorzugten Heiratspartner. Damit ist die Stellung der Verwandten weniger wichtig als beispielsweise in Kulturen, wo erwartet wird, eine Kreuzcousine zu heiraten. Auch die Bezeichnung »Gattenfamiliensystem« verweist auf die starke Bedeutung der Ehegatten im Vergleich zur Verwandtschaft und zur Herkunftsfamilie. Das neolokale Prinzip - die Kinder-Generation lebt nur bis zur Gründung eines eigenen Haushalts bei den Eltern - und die Eigenständigkeit des Ehepaares machen die Unterscheidung zwischen Herkunfts- und Zeugungsfamilie wichtig: Jede Familie besteht deshalb in der Regel aus mindestens zwei Haushalten. Die in weiten Teilen Mitteleuropas und der westlichen Welt vorherrschende Familienform wird manchmal auch als Mehrgenerationen-Familie in Form des Generationsverbundes bezeichnet. 3 »Generationsverbund« steht dabei in Abgrenzung zur Abstammungsfamilie, in der Patrilinearität vorherrscht und der Herkunftsfamilie Priorität zukommt. Die einzelnen Generationen bilden relativ autonome Einheiten, die Ehe-/ Paarbeziehung hat Priorität gegenüber der Herkunfts- oder Abstammungsfamilie, keine der beiden Herkunftsfamilien wird systematisch bevorzugt. Neuerdings sind auch Tendenzen einer Matrilinearität festzustellen, aufgrund der Zunahme von alleinerziehenden Müttern und multiplen Vaterschaften. Das Strukturmodell der Kernfamilie setzt die Maßstäbe dafür, was als »Normalfamilie« gelten kann. Manche Autoren wollen von »Normalfamilie« nicht sprechen, weil damit ein normativer Anspruch und eine Kritik an jenen verbunden sei, die nicht nach diesem Modell lebten. Doch es ist nicht die primäre Aufgabe von Wissenschaftlern, normative Maßstäbe zu setzen, sondern zu beobachten, wie Normalität im Alltag entsteht und reproduziert wird: In jeder Kultur entwickeln sich normative Maßstäbe und damit Ansichten, was als »normal« gilt. Allerdings kann die Toleranz gegenüber anderen Lebensformen unterschiedlich hoch sein, und das »Normale« muss nicht unbedingt der empirisch häufigste Fall sein. Gegenwärtig scheint diese Toleranz in unserer Kultur sehr hoch zu sein, daher gibt es kaum noch Sanktionen gegen Lebensformen, die vom Normalmodell abweichen. Allerdings gilt diese Aussage nicht für alle sozio-regionalen Milieus gleichermaßen. Wie bereits ausgeführt, hat die weitgehende Gleichsetzung von Haushalt und Familie in der amtlichen Statistik zu manchen Missverständnissen in der öffentlichen Wahrnehmung des Vorkommens von Normalfamilien geführt; auch zu Fehldarstellungen, die besonders im Wissenschaftsjournalismus verbreitet sind. 2 Parsons (1964 [1943]). 3 Nave-Herz (2004: 32). 5.1 Die Struktur der modernen Kernfamilie 141 Erinnert sei an die Beispiele des angeblichen Single-Anteils von 50 Prozent in Großstädten oder die Aussage, die Normalfamilie sei eine Minderheit geworden (? 1.2). Richtig ist daran, dass Familienhaushalte (d. h. Haushalte, in denen zwei Generationen zusammenleben) nicht mehr die größte Gruppe unter den Haushalten sind - ein Umstand, der auf das neolokale Prinzip der Familiengründung, die gestiegene Lebenserwartung und den hohen Anteil von Einpersonenhaushalten Älterer zurückzuführen ist. Als Leitbild gilt aber weiterhin die Kernfamilie, wie im ersten Kapitel gezeigt wurde. Die dargestellte Binnenstruktur bezieht sich auf die Kernfamilie. Sie ist, trotz der genannten Probleme, einigermaßen klar definierbar. Dagegen herrscht eine gewisse Unsicherheit über die erweiterte Kernfamilie. Die Regeln, wer dazu gehört, scheinen in der Tat stark aufgeweicht. Das moderne, westliche Verwandtschaftssystem war allerdings immer schon ein offenes System, in dem die Regeln der Zugehörigkeit nicht so starr waren. Und die erweiterte Kernfamilie ist in modernen Gesellschaften weniger bedeutsam, unter anderem auch deshalb, weil das Patronage-Prinzip (Nepotismus, Begünstigung von Verwandten) der Idee der Leistungsgesellschaft und der Chancengleichheit elementar widerspricht und nicht als legitim gilt, obwohl es empirisch immer noch eine Rolle spielt. Für die Analyse von erweiterten Familiensystemen, also die Frage, wie Kernfamilie und Verwandtschaftssystem miteinander verzahnt sind, könnte - da es wenig klare Regeln gibt - eine genaue Analyse kultureller Aspekte hilfreich sein: zum Beispiel von Ritualen und symbolischen Praktiken wie etwa Familienfeste, bei denen Verwandte zusammenkommen, die sonst in alle Winde zerstreut sind, aber sich offenbar doch der einen »Familie« oder »Sippe« zugehörig fühlen. Auch eine Analyse der Frage, wer zu welchen Anlässen Geschenke von welchen Verwandten erwarten darf (zum Beispiel von der Patentante), wäre hilfreich. Man könnte dann Kriterien finden, die nicht mehr auf formale Verwandtschaftsregeln beschränkt wären, ohne deswegen gleich alle familialen Beziehungen der individualisierten Beliebigkeit anheimzustellen. Die Grenzen, wer noch dazu gehört und wer nicht (und vor allem mit wem man etwas zu tun haben will oder nicht), waren auch in der Vergangenheit nicht so starr, wie heute die Rede von der »Wahlverwandtschaft« suggeriert. Bis in die 1970er-Jahre war die von Parsons stammende These der »strukturellen Isolation der Kernfamilie« einflussreich. 4 Sie wurde oft missverstanden und als widerlegt angesehen, nachdem gezeigt worden war, dass die Kontakte zwischen den Generationen und innerhalb der Verwandtschaft durchaus noch hoch waren. Schon in den 1950er- und 60er-Jahren hatte es Studien gegeben, die zeigten, dass 4 Parsons (1970). 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 142 »Isolation« nicht notwendigerweise weniger Kontakte zwischen den Generationen bedeuten muss, als vielmehr eine Lockerung von Verwandtschaftsbindungen nach sich zieht. Parsons hatte bei seiner These allerdings weniger die Lockerung von Kontakten oder fehlende Außenkontakte im Blick, sondern eher die relative Autonomie der Familie, den Grad der Autonomie der Kleinfamilie im Verwandtschaftssystem. Das stimmt mit der Definition von »Gattenfamilie« (famille conjugale) durch Emile Durkheim überein. 5 Mit den hohen Scheidungsraten wuchs nicht nur die Zahl von Stieffamilien: Aus der Sicht der betroffenen Individuen stieg damit auch die Zahl potentieller Verwandter an. Der amerikanische Familienforscher Frank Furstenberg sprach in diesem Zusammenhang von der »Fortsetzungsfamilie« bzw. »Fortsetzungsehe« (conjugal succession) und betonte dabei den Aspekt, dass mit jeder neuen Ehe ein Teil der Verwandtschaft ausgewechselt werde, wobei es im Belieben jedes Einzelnen zu liegen scheine, ob sie auch nach einer Scheidung mit bestimmten Verwandten des Ex-Ehegatten weiterhin Kontakte pflegen wollten. 6 Beziehungen zu Verwandten werden in modernen Gesellschaften ohnehin mehr für eine Sache der freien Entscheidung gehalten: Wahlverwandtschaften. Zu einem großen Teil ist deshalb in der Theorie an die Stelle von Verwandtschaft das Netzwerk getreten. In den 1980er/ 90er-Jahren wurden zunehmend »informelle« Netzwerke untersucht, nicht nur im Zusammenhang mit dem Rückgang innerfamiliärer Bindungen, sondern auch dem vermeintlichen Rückzug des Staates aus der Familienversorgung. In der Familienforschung wurden Netzwerke vor allem als Unterstützungssysteme betrachtet, als ein positiv funktionierendes Netz von Sozialkontakten. 7 5.2 Aufgaben und Funktionen der modernen Familie Es gibt eine gewisse Tradition im sozialwissenschaftlichen Denken, die Familie als Gegenstruktur zur Gesellschaft anzusehen: als sicheren Hafen in einer unruhigen Welt, wie es bei Christopher Lasch heißt, als Hort des Privaten und der Intimität, 5 Durkheim (1921), Wagner (2001). 6 Furstenberg (1987). Allgemein zur Verwandtschaftsthematik: Schütze/ Wagner (1998), Schmidt et al. (2007). 7 Hollstein/ Straus (2006). In einer stärker problemorientierten Sichtweise werden Ambivalenzen betont (Lüscher/ Pillemer 1998) oder Konflikte herausgearbeitet (Schmidt 2002: 69 ff.). 5.2 Aufgaben und Funktionen der modernen Familie 143 als Rückzugs- und Schutzraum gegen die »kalten« (rationalisierenden) Tendenzen der modernen Gesellschaft. Diese Perspektive kommt auch in solchen Ansätzen zum Ausdruck, die in der gesellschaftlichen Modernisierung eine Bedrohung der Familie sehen. 8 Andere sozialwissenschaftliche Ansätze heben demgegenüber die positive Bedeutung der Familie für die Gesellschaft hervor: So wird etwa in der Theorie der Zivilgesellschaft die Familie als wichtige intermediäre Instanz zwischen Markt und Staat betrachtet. 9 Solche intermediären Instanzen - neben der Familie insbesondere auch Bürgervereinigungen wie Bürgerinitiativen, Vereine und Kommitees - sind wichtig, um sowohl eine zu starke Marktorientierung als auch einen zu großen Einfluss des Staates auf das Privatleben einzudämmen. Im Rahmen der Theorie funktionaler Differenzierung wird nach Aufgaben, Leistungen und Funktionen der Familie für die Gesellschaft und deren Teilbereiche gefragt. Als Funktionen werden Leistungen oder Beiträge für andere Bereiche und für die Gesamtgesellschaft angesehen. 10 Man spricht in historischer Perspektive manchmal vom Funktionsverlust der Familie beim Übergang zur Moderne, insgesamt ist es aber sinnvoller, von Funktionsspezialisierung zu sprechen. Denn mit dem Übergang zur Moderne verlor die Familie zwar eine Reihe von politischen, ökonomischen und rechtlichen Funktionen, andere blieben aber erhalten, differenzierten sich weiter aus und wurden wichtiger. Vier Grundfunktionen können unterschieden werden: 1. Biologische Reproduktion. 2. Sozialisation. 3. Soziale Reproduktion. 4. Statuszuweisung. Die aktuelle Diskussion dreht sich vor allem um die Frage der Schwächung dieser Funktionen durch Auslagerung an private Dienste und Aufgabenverlagerung an den Wohlfahrtsstaat. Nach wie vor gilt die biologische Reproduktion der Bevölkerung als eine zentrale Funktion und ein Privileg der Familie. Wenn die Gesellschaft ihre Nachwuchsproduktion sichern und steuern will, wird sie sich zuerst mit der Frage nach der Absicht zur Familiengründung bei Paaren befassen. Zwar gibt es Anzeichen der Schwächung dieser familialen Funktion im Sinne einer Stärkung matrilinearer Tendenzen und einer relativen Schwächung der Konjugalität, denn immer häufi- 8 Lasch (1980), Bellah et al. (1985), Hochschild (2003). Zelizer (2005) kritisiert, dass eine solche Kolonialisierungs- oder Rationalisierungskritik die Familie ungewollt naturalisiere, als ob es dort eine Art natürlicher Wärme gäbe. 9 Cohen/ Arato (1992). 10 F. X. Kaufmann (1990 bzw. 1994), Tyrell (1988), Nave-Herz 2004: 77 ff.). 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 144 ger wird Mutterschaft ohne klassische Familienkonstellation konstituiert oder fortgesetzt. Aber immer noch leben etwa 80 Prozent der Kinder bei ihren beiden biologisch-sozialen Eltern. Wegen des weitgehend durchgesetzten Prinzips der »verantworteten Elternschaft« 11 ist die biologische Reproduktionsfunktion heutzutage »sogar enger als je zuvor« an die Familie gebunden. 12 Ernsthaft bedroht wäre das Monopol der Familie auf die biologische Reproduktionsfunktion wohl erst durch Tendenzen einer Professionalisierung der Elternschaft: d. h., wenn durch einen zu hohen Grad an Kinderlosigkeit oder ein zu niedriges Geburtenniveau eine Form von sozialer Leihmutterschaft - gewissermaßen »Berufsmutterschaft« - legitimiert würde. Dafür gibt es durchaus Anzeichen, insbesondere im Zusammenhang mit der Globalisierung, den Problemen der Vereinbarkeit von Kind und Beruf vor allem bei Akademikerpaaren und der Gen-Technologie. 13 Die Familie hat nicht nur das Monopol auf die Zeugung und Geburt von Kindern, sondern auch auf die Erziehung im grundlegenden Sinn: Die primäre Sozialisation gehört immer noch zu den wichtigsten Funktionen der Familie. Besonders in Deutschland hat die Familie praktisch das Monopol für die Kleinkind-Sozialisation. 14 Die Anforderungen an eine gute Erziehung sind weiter gestiegen; 15 das fördert allerdings auch Professionalisierungstendenzen im Sinne der Auslagerung bestimmter Sozialisationsleistungen aus der Familie, die sich überfordert sieht. Analysen zum Sozialisationsprozess, die in der Familienforschung der 1970er- Jahre noch im Vordergrund standen, werden heute vor allem von der Entwicklungspsychologie, der Sozialpsychologie und der pädagogisch orientierten Sozialisationsforschung vorgenommen. Die Familiensoziologie dagegen hat sich aus diesem Bereich etwas zurückgezogen. 16 Auch die soziologische Kindheitsforschung der letzten Jahre und Jahrzehnte befasste sich weniger mit familialer Sozialisation als mit der Lebenswelt von Kindern. Insgesamt belegt die Forschung aber die enorme Bedeutung der Sozialisation in der Familie für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und ihre soziale Integration. 11 »Prinzip der verantworteten Elternschaft«: So nennt Franz Xaver Kaufmann die Norm, dass Eltern mit der Geburt ihrer Kinder die Verantwortung für deren Wohlergehen übernehmen. Das impliziert auch, dass Eltern nur so vielen Kindern das Leben schenken sollten, als sie glauben, auch verantwortungsvoll aufziehen zu können (Kaufmann 1990: 39 ff., 82). 12 Nave-Herz (2004: 85). 13 Mehr dazu im 10. Kapitel. 14 Huinink (2002) spricht in diesem Zusammenhang von »kulturellem Familismus«. 15 Nave-Herz (2004: 88 ff.), Apple (2006). 16 Schmidt (2002: 204 ff.). Wichtige Studien der letzten Jahre: Leu/ Krappmann (1999), Hopf (2005), Grundmann (1999; 2006). 5.2 Aufgaben und Funktionen der modernen Familie 145 Die dritte Funktion lässt sich als soziale Reproduktion bezeichnen. In der Literatur gibt es hier eine gewisse Vielfalt der Bezeichnungen, die es bei den anderen drei Funktionen nicht gibt. Es geht um Regeneration (von der Arbeit), um Erholung und Entspannung, kurz gesagt um alles, was der Mensch braucht, um wieder leistungsfähig zu werden, vom Essen bis zum Schlafen. Weiter geht es um emotionale Stabilisierung, Gesundheit und Erholung, Unterstützung und wechselseitige Hilfe. 17 Manche Autoren sprechen vom Spannungsausgleich 18 , betont wird aber auch die »Versorgung« der Familienmitglieder mit affektiven Bindungen, Solidarität, Intimität und emotionaler Sicherheit in einem basalen Sinn. Allerdings werden auch Elemente der sozialen Reproduktionsfunktion zunehmend ausgelagert: wie etwa Kochen, Essen oder Waschen. Manche Autoren sehen deshalb die Gefahr der Erodierung dieser Funktion. Arlie Hochschild etwa spricht vom Auskühlen der emotionalen Wärme in der Privatsphäre durch Tendenzen der Kommerzialisierung der Intimität oder der Rationalisierung: »When home becomes work«. 19 Dennoch gibt es Anzeichen dafür, dass diese Funktion wichtiger geworden ist, wenn man unter »sozialer Reproduktion« auch die Entfaltung von Individualität und Selbstverwirklichung versteht. Schließlich hat die Herkunftsfamilie für die Kinder immer noch eine große Bedeutung im Sinne der sozialen Platzierung und Statuszuweisung: Das heißt, der Lebenserfolg eines Menschen hängt immer noch stark davon ab, welcher sozialen Schicht seine Familie zugehört. 20 Zwar kommt dem Bildungssystem eine vermittelnde Funktion bei der Statuszuweisung zu, indem es Chancen für einen sozialen Aufstieg bietet und die herkunftsbedingten Vor- und Nachteile ausgleichen soll. Es scheint aber, dass sich seit den frühen Untersuchungen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu bis zu den internationalen PISA-Studien sowohl in empirischer als auch in theoretischer Hinsicht wenig geändert hat an der grundlegenden Diagnose der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die familiäre Herkunft. 21 Der Familie kommen also nach wie vor die eng zusammenhängenden Funktionen der biologischen Reproduktion, der Sozialisation, der Statuszuweisung und der sozialen Reproduktion (von einfacher Regeneration bis zu Selbstverwirklichung) zu. Sie hat die Aufgabe und das Monopol der Nachwuchssicherung (Ge- 17 Kaufmann (1995: 34 ff.). 18 Während der Marxismus dies noch kritisch bewertet hatte - die Reproduktion diene vor allem dazu, die Menschen wieder arbeits- und damit ausbeutungsfähig zu machen -, sind solche Stimmen heute nur noch selten zu hören. 19 Hochschild (1997, 2003). 20 Hartmann (2002). 21 Bourdieu/ Passeron (1971, 2007), Huinink (2000), Prenzel et al. (2007) 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 146 burt, Pflege und Primär-Erziehung von Kindern), der Reproduktion der Individuen in der Intimsphäre und damit letztlich auch die Funktion, Individualität herzustellen. 5.3 Privatheit und Familie Wir haben im historischen Teil bereits einen wesentlichen Charakterzug der bürgerlichen Familie hervorgehoben: Sie hat einen Ort für Privatheit geschaffen. Das heißt aber nun nicht, dass Familie und Privatsphäre deckungsgleich sind. Sehen wir uns zunächst an, was man unter Privatheit verstehen kann. Was heißt Privatheit? Als »privat« lassen sich ganz unterschiedliche Bereiche begreifen. 22 Es ist deshalb hilfreich, zunächst zwei grundlegende Bedeutungsvarianten zu unterscheiden: Erstens ist das Private das Geheime, Verborgene, Unsichtbare, das vor äußerem Zugriff und Kontrolle Geschützte und das vom Außen abgegrenzte Innere; zweitens lässt sich darunter das Individuelle oder Partikulare verstehen als Abgrenzung zum öffentlich Sichtbaren und Zugänglichen bzw. Kollektivismus und Universalismus. Mit solchen Unterscheidungen wird also vor allem der Charakter der Grenzziehung beschrieben. Die eine Seite der »Grenze« verhüllt den Menschen, macht ihn unsichtbar und unzugänglich, die andere Seite macht ihn sichtbar und zu einem öffentlichen Wesen. Eine weitere Definitionsmöglichkeit besteht darin, die Bereiche zu benennen, die durch die Unterscheidung abgegrenzt werden: Innenwelt und Außenwelt, Haus und Hof, »Hinterbühne« und öffentlicher Raum, Familie und Politik. Darüber hinaus ist, wie gesagt, der Sprachgebrauch uneinheitlich. Wenn wir eine Art Stufenmodell zugrunde legen, lassen sich fünf verbreitete Vorstellungen und Formen des Privaten unterscheiden, wobei der jeweilige Komplementärbegriff einen Teil der Bedeutung des Privaten der nachfolgenden Stufen einschließen kann. 22 Eine ausführlichere Darstellung zur Privatheit findet sich bei Burkart (2002a). 5.3 Privatheit und Familie 147 Abbildung 5.2: Ein Stufenmodell der Privatheit A B C D E Beruf Häuslichkeit Intimität (Paar) persönliche Autonomie Innenwelt Verschiedene Bedeutungen von Privatheit, die sich von »innen« nach »außen« erweitern. A. Die Innenwelt der Person: für andere unzugänglich, das private Selbst, die Subjektivität. 23 B. Die persönliche Sphäre des Individuums: seine Handlungs- und Entscheidungsautonomie, seine Körperzone, die persönliche »Hinterbühne« in sozialen Situationen, der Rechtsschutz der Person. 24 C. Die Intimsphäre einer Person: die sie mit einer (oder mehreren) anderen teilt in persönlichen Beziehungen, Freundschaft, Liebe. D. Die häusliche Sphäre: Häuslichkeit, Gemeinschaft, private Lebensformen. E. Die Privatsphäre: Eigentum, Arbeit und Beruf, marktförmige Beziehungen zwischen »Privatleuten«. Dementsprechend können wir also unterscheiden zwischen einer psychischen, persönlichen, intimen, häuslichen und beruflichen Privatsphäre. Entsprechende »Gegenwelten« sind dann: Sozialwelt, Sphäre unpersönlicher Beziehungen, Gemeinschaft, öffentlicher Raum (»Straße«), Zivilgesellschaft. Privatheit lässt sich auch raumbezogen (territorial) bestimmen. Ein territorialer Aspekt findet sich auf jeder der vier Stufen B bis E: das eigene Zimmer, das gemeinsame Schlafzimmer, das Haus oder die Wohnung, das Arbeitszimmer. Die verschließbare Tür ist dabei das Symbol der Grenzziehung. Für die historische 23 Hier lässt sich eine Parallele zu Luhmanns Trennung von psychischen und sozialen Systemen ziehen, bei der es auch darum geht, dass das Subjekt und sein Inneres frei von gesellschaftlichen Zumutungen bleibt (Luhmann 1984). 24 Ein Großteil der aktuellen Literatur zu Privatheit (privacy) bezieht sich auf den Rechtsschutz der Privatsphäre der Einzelperson, vor allem im Zusammenhang mit neuen Kontroll- und Überwachungstechnologien (Datenschutz). 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 148 Entstehung des Privaten im Sinn von B, C und D gibt es eine Reihe wegweisender Arbeiten, die zeigen, wie innerhalb des Hauses Privat- und Intimräume entstanden, die auch abschließbar waren. 25 Die fünfte Bedeutung (E) fällt auf den ersten Blick aus dem Rahmen der Familienforschung. Sie hatte jedoch in der politischen Philosophie und im ökonomischen Liberalismus eine zentrale Bedeutung für das Private im Sinne der von Öffentlichkeit und Staat abgegrenzten Sphäre der beruflichen Arbeit. 26 In neueren Diskussionen dagegen wird das Berufliche oft dem Privaten gegenübergestellt, vor allem hinsichtlich der Vereinbarkeitsproblematik zwischen häuslichen und beruflichen Anforderungen. Dennoch sind Beruf und Familie zwei wichtige Schnittstellen zwischen privater und öffentlicher Sphäre. Die Familie als Ort der Ausbalancierung von privat und öffentlich Schon die fünf Beschreibungen des Privaten (A bis E) machen deutlich, dass in unserem Sprachgebrauch nur eine schwache Übereinstimmung zwischen »privat« und »Familie« herrscht. Das Private reicht offensichtlich in ganz andere als in die von der Familiensoziologie erfassbaren Bereiche hinein. Ein Stufenmodell der Privatheit kann helfen, die vielfältigen Verschachtelungen der Sphären des Privaten genauer zu analysieren - im Sinne eines territorialen Aufbaus von innen nach außen oder im Sinne logischer Abhängigkeiten: Ist A die Voraussetzung für B, B für C und so weiter? Ist zum Beispiel die intime Privatsphäre des Paares nur möglich auf der Grundlage persönlicher Privatheit und Individualität? Davon geht man in der Diskussion über die romantische Liebe im Allgemeinen aus. Gleichzeitig dient aber die Sphäre der persönlichen Privatheit dem Schutz der Person vor 25 Vor allem die Arbeiten von Ariès (1975), Elias (1969) und Vigarello (1988). 26 Historischer Ausgangspunkt ist die antike Unterscheidung zwischen der häuslich-ökonomischen und der politischen Sphäre (oikos/ polis). Daraus haben sich, vor allem in der politischen Philosophie, verschiedene Varianten der Abgrenzung privat/ öffentlich entwickelt, denen gemeinsam ist, dass das Private zunächst mit Markt, Ökonomie und Privatrecht gleichgesetzt wird, während auf der anderen Seite sich zwischen Markt und Staat die Sphäre des Öffentlichen im klassischen Sinn (polis, res publica, civil society) schiebt. In der bürgerlichen Gesellschaft wird die Arbeit allmählich aus dem Privatbereich ausgelagert bzw. die häusliche Sphäre in familiale Privatheit umgewandelt. Gleichwohl bleiben Verbindungen, wie sie etwa auch Habermas (1961) herausgearbeitet hat: Privateigentum und häusliche Privatsphäre oder die Analogie zwischen Privatgrundstück (»Betreten verboten! «) und der Privatsphäre als Tabu-Zone der Person. 5.3 Privatheit und Familie 149 der Einvernahme durch die familiale Gemeinschaft oder der Verschmelzung (Fusion) in der Paarbeziehung. Im Modell der individualisierten Paarbeziehung kommt dieser Schutz zum Ausdruck kommt: Authentizität und Aufrichtigkeit sind ambivalente Qualitäten und die Aufgabe der persönlichen Privatsphäre oder der Verzicht auf Autonomie wird nicht erwartet. Grundsätzlich setzt aber der Übergang zur jeweils nächsten Stufe ein Stück Entprivatisierung voraus. Man kann keine Beziehung eingehen ohne ein Minimum an persönlicher Offenbarung, und man kann auch keine häusliche Gemeinschaft eingehen, ohne ein Stück weit die körperliche Privatsphäre »öffentlich« zu machen. Die Familie ist nicht einfach Rückzugsraum. Vielmehr geht es um die Balance zwischen Entprivatisierung und Aufrechterhaltung der Privatsphäre, zwischen dem Schutz des Privaten und seiner gesellschaftlichen Regelung, d. h. der Bewahrung allgemeiner Werte und Grundsätze auch im Privaten. Insbesondere im Verhältnis von persönlicher, intimer und häuslicher Privatheit ist diese Balance zwischen Verhüllung und Preisgabe eine wichtige strukturelle Aufgabe. Für die Familiensoziologie ist daher besonders die Unterscheidung zwischen individueller Autonomie, Intimität und Häuslichkeit (B, C und D) wichtig. Die Familie ist ein bevorzugter struktureller Ort für diesen Balanceakt, da sich hier private und öffentliche Bereiche treffen und sich gegenseitig in Schach halten. In der häuslichen Sphäre überschneiden sich Privatheit und Familie am stärksten, aber beide Bereiche reichen auch weit darüber hinaus. Innerhalb von Familie und häuslicher Sphäre können wiederum flexible und variable Abgrenzungen von Privatbereichen entstehen, etwa zwischen Bruder und Schwester gegen die Eltern oder zwischen dem Vater und seinem besten Freund gegen die Familie. Diese Abgrenzungen der Privatheit sind selbst jedoch keine Privatangelegenheit: Sie bedürfen der Legitimierung. Relativ zur jeweils nächsten Stufe lassen sich Bereiche legitimer Privatheit abgrenzen. Die Familienmitglieder akzeptieren zum Beispiel, dass es einen Bereich der Intimität des Eltern-/ Ehe-Paares gibt und auch die übrigen Mitglieder ihre Geheimnisse haben. Von außen nach innen kann es aber zu Versuchen kommen, der Aufrechterhaltung von Privatsphäre, dem Verhüllen und Verbergen, die Legitimität abzusprechen. Es darf also weder zu viel noch zu wenig Privatheit geben. Einerseits ist die Familie die Institution, in der die Bereiche legitimer Privatheit verhandelt werden: Somit ist das Private ein gesellschaftlich geduldeter sozialer Raum, der sich der Rationalisierung und Verrechtlichung, aber auch gesellschaftlichen Werten wie Gleichheit oder Gerechtigkeit ein Stückweit entziehen kann. Andererseits aber hält die Gesellschaft das Private sozusagen an der langen Leine, die nach Bedarf gestrafft werden kann. Dafür braucht sie die Familie. Dabei sind Differenzierungen innerhalb des häuslichen Bereichs möglich. Sowohl im historischen als auch im Kulturvergleich und schließlich auch inner- 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 150 kulturell im Vergleich der Subkulturen oder Milieus lassen sich Familienhaushalte danach unterscheiden, welchen Grad an Autonomie und Privatheit sie ihren Mitgliedern gewähren: Paare eines eher individualistisch geprägten Milieus haben, wenn sie überhaupt zusammenwohnen, oft getrennte Zimmer, während im familistischen Milieu das gemeinsame Schlafzimmer und das für die Kontakte mit der Öffentlichkeit bestimmte Wohnzimmer eine solche individuelle Privatsphäre nicht bieten; wohl aber garantiert das gemeinsame Schlafzimmer eine Privatheit des Paares in Relation zur Gesamtfamilie (zu den Kindern, zu Besuchern, zu sonstigen Mitbewohnern). Private Lebensformen an Stelle von Familie? In den letzten Jahren wurde gelegentlich die Forderung erhoben, in der Familienforschung die Konzentration auf »die Familie« zurückzunehmen zugunsten einer Soziologie der privaten Lebensformen. So betonen manche Autoren, dass im Zuge der Pluralisierung nun drei Lebensformen mehr oder weniger gleichrangig nebeneinander stünden: das Alleinleben (Single), die kinderlose Paarbeziehung (Ehe) und die Familie. 27 Darüber hinaus seien die familialen Lebensformen sehr vielfältig: Patchwork-Familien, Alleinerziehende, usw. Was heißt aber nun private Lebensform? Drei eng zusammenhängende Aspekte sind in der Regel gemeint, auch wenn dies selten explizit gemacht wird: erstens die Art und die Intensität einer Bindung und Beziehung zu (einem) anderen (mit oder ohne Einschluss von Sexualität; Liebe oder Partnerschaft); zweitens deren öffentliche Legitimierung und Institutionalisierung (Ehe, Familie, eingetragene Lebensgemeinschaft); und drittens die Wohnform (allein, zu zweit, zu mehreren). »Private Lebensformen« haben eine private (die innere Gestaltung der Beziehung) und eine öffentliche Seite. Die Öffentlichkeit weiß in der Regel, ob jemand allein, in einer festen Beziehung oder in einer Familie lebt. Was sie in der Regel nicht weiß, ist das, was der Alleinlebende, das Paar oder einzelne Familienmitglieder in ihren privaten Räumen machen: Das heißt, was privat ist an den sogenannten »privaten« Lebensformen, sieht man diesen also gerade nicht an. Es stellt sich nun die Frage, ob Familie tatsächlich nur eine untergeordnete, eine von mehreren möglichen privaten Lebensformen ist. Gegen eine Unterordnung lässt sich aus der Sicht des familialen Strukturmodells argumentieren, dass die 27 Zur Ausdifferenzierung privater Lebensformen in diese drei Typen vgl. Meyer (1992). Zum Vorschlag, die Familie zu einer Soziologie der privaten Lebensformen bzw. der persönlichen Beziehungen zu erweitern vgl. Schneider (2002) und Lenz (2003). 5.3 Privatheit und Familie 151 Familie eine theoretisch vorrangige Lebensform und sie nicht nur eine Lebensform, sondern eine Institution ist. Freie Liebe, nichteheliche Wohngemeinschaften, die Ehe, kinderlose Paare oder Singles - alle diese »nichtfamilialen« Lebensformen sind historisch definiert in Relation und in Abgrenzung zur Familie. Die Familie bleibt der kulturelle Bezugspunkt nicht nur für die zukünftige Lebensplanung von jungen Erwachsenen, sondern auch bedingt durch den biografischen Hintergrund, denn fast alle Individuen haben eine Herkunftsfamilie. Man kann es auch so ausdrücken: Jede Lebensform hat ihren Ursprung in einer Familie und jene, die diese nicht kennen, wie etwa Adoptiv- oder Heimkinder, suchen oft ein Leben lang danach. In jeder Biografie ist in diesem Sinn auch ein Ursprungsmythos enthalten, eine Antwort auf die Frage: Wo komme ich her? Solche biografischen Begründungen des eigenen Lebens kommen nicht ohne Familie aus. 28 Familie ist außerdem vorrangig, weil sie andere Funktionen erfüllt als Ehe, Partnerschaft oder Privatheit. Familie ist nicht nur das private Zusammenleben von mehreren Personen, sondern ein institutioneller Funktionszusammenhang, in dem in bestimmter Weise patriarchale Strukturen, das Geschlechterverhältnis, die Generationenfolge und die Funktion der primären Sozialisation zusammengefasst sind - in jeweils historisch und kulturell sehr unterschiedlichen Formen (Monogamie oder Polygamie; Liebesehe oder Sachehe; Patri- oder Matrilinearität usw.). Die Familie ist weder nur eine Form »persönlicher Beziehungen« - oder eine bestimmte Form der »höchstpersönlichen« bzw. »enthemmten« Kommunikation (Luhmann) - noch nur ein Privatheitstyp unter anderen. Weder das Private noch die private Lebensform, noch die Beziehung oder gar die Subjektivität sind funktional äquivalent 29 mit Familie im Sinne eines geregelten Zusammenhangs von Filiation und Konjugalität im gesellschaftlichen Kontext. 5.4 Familie und Gesellschaft Die Familie mag, wie Parsons formulierte, »strukturell isoliert« sein - gleichwohl steht sie in vielfältigen Verbindungen und Interdependenzen zu anderen Bereichen. Sie erfüllt nicht nur bestimmte Aufgaben für die Gesamtgesellschaft, son- 28 Der moderne Mythos des Individualismus braucht zwar nicht unbedingt eine Gesellschaft - in der Ideologie des Individualismus ist der Einzelne autonom und für sich selbst verantwortlich (vgl. Kapitel 8) -, aber doch eine Familie. 29 Von funktionaler Äquivalenz spricht man, wenn zwei Bereiche oder Institutionen eine bestimmte Funktion in gleicher Weise erfüllen können. 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 152 dern auch für verschiedene Teilsysteme. Daraus ergeben sich eine Reihe von Spannungsverhältnissen. Man kann zunächst grundsätzlich sagen, dass die Familie die Basis für verschiedene gesellschaftliche Bereiche darstellt. Indem sie ihrer biologischen Reproduktionsfunktion nachkommt, stellt sie der Gesellschaft gewissermaßen das Personal zur Verfügung, das sie darüber hinaus - und sofern sie ihre Sozialisations- und soziale Reproduktionsfunktion erfüllt - mit grundlegenden Kompetenzen und Werthaltungen ausstattet, und deren Leistungsfähigkeit sie immer wieder erneuert. Schließlich trägt sie auch, mittels ihrer Statuszuweisungsfunktion, zur Verteilung dieses Personals auf Statuspositionen bei. Aus dieser Beschreibung ergibt sich, dass die Familie für zwei gesellschaftliche Subsysteme besonders wichtig ist: für das Bildungssystem und für das Erwerbssystem. Für beide Systeme soll die Familie das mit entsprechenden Grundkompetenzen ausgestattete Personal »bereitstellen«. Und die Stellung, welche die Menschen in diesen beiden Systemen erreichen, bildet auch die Grundlage für die Sozialstruktur im Sinne eines strukturierten Systems sozialer Ungleichheit. Familie und Arbeit Die Aufmerksamkeit eines Großteils der Familienforschung richtet sich, sofern sie auf das Arbeits-, Berufs- oder Beschäftigungssystem bezogen ist, auf das »Vereinbarkeitsproblem« zwischen Arbeit und Familie oder die »work-life-balance«. Dabei geht es vorwiegend um die Frage von adäquaten infrastrukturellen oder politischen Maßnahmen, die Frauen und Paaren die Entscheidung für ein Kind erleichtern sollen. In diesem Zusammenhang wurden in den letzten Jahren wichtige Fragen nach der Flexibilisierung von Arbeit und Familie und den Veränderungen der entsprechenden Zeitstrukturen aufgeworfen. In die Pflicht genommen werden neben dem Staat gerade auch die Unternehmen, die zunehmend versuchen, sich als »familienfreundliche Unternehmen« zu profilieren. 30 »Familienfreundlichkeit« ist, ähnlich wie »Nachhaltigkeit«, zu einem Wertbegriff geworden, der breite Zustimmung findet. Zwischen 2003 und 2006 hat sich deutlich der Anteil von Führungskräften erhöht, die »Familienfreundlichkeit« als für ihre Unternehmen förderlich ansehen. Folgerichtig hat sich auch der Anteil der Unternehmen erhöht, die entsprechende Maßnahmen tatsächlich anbieten, wenngleich hier noch eine große Diskrepanz zwischen Nachfrage und Angebot herrscht. Zu den am häufigsten angebotenen Maßnahmen gehören individuell 30 Ostendorp/ Nentwich (2005). 5.4 Familie und Gesellschaft 153 vereinbarte Arbeitszeiten, flexible Tages- und Wochenarbeitszeiten sowie Freistellung von der Arbeit bei Krankheit der Kinder. 31 Das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf belastet nach wie vor die Frauen deutlich mehr. Dies drückt sich auch in den unterschiedlichen Erwerbsquoten von Männern und Frauen aus, vor allem, wenn sie Eltern sind. Noch schärfer lässt sich der Unterschied in Führungspositionen beobachten: So lag zum Beispiel im Jahr 2004 der Frauenanteil aller abhängig Beschäftigten bei 47 Prozent, bei den Führungskräften jedoch bei 33 Prozent und bei Positionen mit umfassenden Führungsaufgaben (zum Beispiel Direktoren- oder Geschäftsführerpositionen) nur noch bei 21 Prozent. 32 Noch geringer - etwa zehn Prozent - war der entsprechende Anteil bei den Müttern. Der vergleichbare Anteil für Väter lag bei 24 Prozent. Eine grundlegende Frage, die aber in der empirischen Forschung bisher noch wenig Beachtung findet, bezieht sich auf den Zusammenhang von basalen Kompetenzen, die in der Familie erworben werden, und dem Wandel der Kompetenzen, die in der Arbeitswelt erforderlich sind. Zu diesen neuen Arbeitswerten gehören zum Beispiel Flexibilität und Kreativität, Kommunikationsfähigkeit und Selbstbestimmung, Innovationsfähigkeit und Kritikbereitschaft. Die französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello haben argumentiert, dass diese Werte, die zunächst von den »Achtundsechzigern« gegen die Leistungsgesellschaft vertreten wurden, allmählich in die Arbeitswelt eingedrungen seien. 33 Die Frage ist, ob in der Familie solche neuen Werte vermittelt werden. Eine mögliche Antwort wäre: Da die »Achtundsechziger« zu einem Großteil auch Familien gegründet haben, ist anzunehmen, dass zumindest in diesen Familien auch die neuen Werte vermittelt wurden. Familie und Bildungssystem Der zweite wichtige Bereich im Verhältnis zur Familie ist das Bildungssystem. Dabei geht es zunächst um die Relation von Erziehung und Bildung, von primärer und sekundärer Sozialisation und um die Frage: Werden die Kinder in den Familien ausreichend gefördert, um anschließend den schulischen Anforderungen zu genügen? In Deutschland hat man diesbezüglich seit Längerem gewisse Zweifel - nicht erst seit dem »PISA-Schock«. 31 Flüter-Hoffmann (2007). 32 Statistisches Bundesamt (2005: Schaubild 29). 33 Boltanski/ Chiapello (2003). 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 154 Die Herkunftsfamilie hat, wie schon erwähnt, für die Kinder immer noch eine große Bedeutung hinsichtlich ihrer Statuszuweisung. Dem Bildungssystem soll dabei eine vermittelnde Funktion zukommen: Es soll Vor- und Nachteile der sozialen Herkunft ausgleichen und so Chancengleichheit für den sozialen Aufstieg herstellen. Empirische Untersuchungen - von Bourdieus frühen Untersuchungen über die »Illusion der Chancengleichheit« bis zu den PISA-Studien - zeigen demgegenüber jedoch immer wieder, dass es dem Bildungssystem nicht gelingt, die Startvorteile bzw. Nachteile der sozialen Herkunft auszugleichen. Das ist seit langem bekannt, und man kann sich deshalb darüber wundern, dass es im Juni 2007 in vielen Pressemitteilungen ein großes Erstaunen über die Ergebnisse der neusten Sozialerhebung des Studentenwerks gab, die diesen Befund erneut bestätigte. 34 Demnach lag die Chance für ein Akademikerkind, ein Studium aufzunehmen, bei 83 Prozent, für ein Nichtakademikerkind jedoch nur bei 23 Prozent. Nur jedes sechste Arbeiterkind studierte, aber fast jedes Kind eines verbeamteten Akademikers. Als »beschämend für die Demokratie« bezeichnete der Präsident des Studentenwerks diese Ergebnisse: Auch werde die Wirtschaft leiden, wenn nicht endlich alle Potenziale ausgeschöpft würden. 35 Mehr als vierzig Jahre früher war das Wort des Pädagogen Georg Picht von der »Bildungskatastrophe«, das sich auf dasselbe Problem bezogen hatte, zu einem vielzitierten Schlagwort geworden. Allerdings folgte jener Epoche die Bildungsexpansion, von der einige Gruppierungen in der Bevölkerung, insbesondere junge Frauen aus den mittleren Schichten, besonders profitierten. 36 Der Familie kommt im Schichtungssystem also immer noch eine ganz wesentliche Bedeutung zu: Sie bleibt ein Ort der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Bourdieu hat diese Tatsache vor allem mit den Begriffen Habitus und inkorporiertes kulturelles Kapital zu erklären versucht. Damit ist gemeint, dass der Erwerb kultureller Kompetenzen, die für den Bildungserfolg wichtig und entscheidend sind, in den Familien der mittleren und oberen Schichten ganz ohne bewusste Erziehungsmaßnahmen erfolgt: einfach durch das Aufwachsen in einer kulturell anspruchsvollen Umgebung, in der es selbstverständlich ist, dass beispielsweise 34 BMBF (2007). 35 Der Tagesspiegel, 21.6.2007, S. 1, S. 18. 36 Damals war es auch um die »Ausschöpfung der Begabungsreserven« gegangen. Im Jahr 2007 wurde erneut betont, dass das Rekrutierungspotential für Akademiker aus den hochschulnahen Milieus ausgeschöpft sei. Die zusätzlichen Hochqualifizierten, die Deutschland dringend brauche, müssten aus Schichten mobilisiert werden, in denen es keine akademische Bildungstradition gibt. Hinter dieser Aussage steckt auch die Überzeugung, dass viele Kinder von Akademikern studieren, obwohl sie nicht besonders begabt sind, während viele Begabte aus den unteren Schichten nicht studieren. 5.4 Familie und Gesellschaft 155 Papa beim Tischgespräch über eine neue Inszenierung an der Staatsoper plaudert. Dem Bildungssystem verbleibt dann gewissermaßen nur noch die Funktion, die Ungleichheit zu legitimieren; denn solange man an die Fähigkeit des Bildungssystems glaubt, Chancengleichheit herzustellen, erscheinen soziale Nachteile als selbst verschuldet. Familie und soziale Ungleichheit Damit wird deutlich, dass es weiterhin einen sehr engen Zusammenhang gibt zwischen der sozialen Herkunft einer Person (der Stellung ihrer Familie in der Sozialstruktur), ihrem Erfolg im Bildungssystem und dem sozialen Status, den sie in der Gesellschaft erreicht. In Deutschland wurde, etwa im Zusammenhang mit den PISA-Studien, häufig auf die Benachteiligung von Kindern aus »Familien mit Migrationshintergrund« hingewiesen. Doch wurden auch eine Reihe anderer Unterschiede festgestellt, die daran erinnern, dass auch in Deutschland weiterhin Strukturen sozialer Ungleichheit existieren. Nachdem in den 1970er-Jahren manche Soziologen schon den »Abschied von der Klassengesellschaft« verkündet hatten, weil sie die sozialen Unterschiede in der gesellschaftlichen Egalisierung im Schwinden sahen, sind in Deutschland im Zusammenhang mit der Globalisierung und den wachsenden finanziellen Schwierigkeiten, einen umverteilenden Sozialstaat noch finanzieren zu können, die sozialen Unterschiede - auch im Vergleich zu anderen Ländern, wie im OECD-Bildungsreport vom September 2007 dokumentiert - sogar wieder gewachsen. 37 Das bedeutet aber auch, dass die Chancen von vielen Kindern hinsichtlich Bildung, Wohlstand und Lebenserfolg wesentlich schlechter geworden sind. Der Ausgangspunkt für diese Problematik ist die Familie. In der Tat zeichnen sich die Unterschiede zwischen sozialen Klassen, Schichten oder Milieus auf der alltäglichen Ebene am deutlichsten ab, wenn man die Lebensbedingungen von Familien betrachtet. 38 Familie und Geschlecht Das Verhältnis von Familie und Gesellschaft wird nicht zuletzt durch das Geschlechterverhältnis vermittelt. Geschlecht ist eine »omnirelevante« Kategorie, das heißt, bei den meisten sozialen Problemen und kulturellen Entwicklungen ist 37 OECD (2007). 38 Bourdieu (1982), Geißler (2002), Hartmann (2002). 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 156 der Geschlechtsunterschied wichtig oder wird als wichtig erachtet. Fragen des Geschlechterverhältnisses ziehen sich denn auch durch alle in diesem Buch verhandelten Themen, und deshalb gibt es kein eigenes Kapitel dazu. An dieser Stelle geht es um Zusammenhänge zwischen Familien- und Geschlechterforschung. Außerdem soll deutlich gemacht werden, dass man bei der Analyse der Geschlechterbeziehungen zwischen der Ebene der privaten Lebensformen und dem öffentlichen Geschlechterverhältnis unterscheiden muss. Das Geschlechterverhältnis innerhalb der Familie und in persönlichen Beziehungen (auf der Mikro-Ebene) weist einige Besonderheiten auf und kann deshalb nicht analog zum Geschlechterverhältnis in der Gesamtgesellschaft (auf der Makro-Ebene) untersucht werden. Die Verknüpfungen von Familien- und Geschlechterforschung gestalten sich deshalb bezüglich der Mikro- und Makro- Ebene unterschiedlich. Auf der Makro-Ebene werden die Beziehungen zwischen dem Familiensystem und dem System der »Geschlechterklassen« betrachtet. 39 Hier werden Männer und Frauen als zwei getrennte Großgruppen behandelt: etwa wenn die Erwerbsquoten oder die Einkommen zwischen Männern und Frauen verglichen werden. Dagegen geht es innerhalb der Familie um das Geschlechter-Paar als eine besondere Beziehung zwischen zwei Personen: also um Liebe, emotionale Unterstützung und Partnerschaft. Dieser Unterschied wird häufig nicht ausreichend beachtet. Das hängt auch damit zusammen, dass die beiden Forschungsfelder Geschlechter- und Familiensoziologie vergleichsweise wenig Berührungspunkte haben, zumindest in Deutschland. Zwar hat sich innerhalb der Familienforschung etwa die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern (vor allem in Verbindung mit der »Vereinbarkeitsproblematik«) zu einem zentralen Thema entwickelt. Aber die theoretischen Diskussionen der Geschlechterforschung wurden in der Familiensoziologie nur am Rande rezipiert. Die von Goffman stammenden wichtigen Impulse und die sich daran anschließenden Debatten um die soziale Konstruktion von Geschlecht wurden nur selten aufgegriffen. 40 Umgekehrt befassen sich die feministische Theorie oder die Geschlechtersoziologie selten mit der Familie. 41 Im Schnittfeld der Geschlechter- und Familientheorie stand vor Jahren die Thematisierung patriarchaler Strukturen im Vordergrund. Heute behandelt kaum 39 Goffman (1994: 107 ff.). 40 Goffmann (1994), Tyrell (1986), Burkart/ Koppetsch (2001). 41 Vgl. etwa Heintz (2001). Dieser Sammelband zur Geschlechtersoziologie mit etwa 20 Beiträgen hat seinen Schwerpunkt auf dem Zusammenhang von Geschlecht und sozialer Ungleichheit in der öffentlichen Sphäre (Bildung, Beruf, Politik). Familie und Paarbeziehungen werden nur am Rand thematisiert. 5.4 Familie und Gesellschaft 157 jemand in der Familiensoziologie diese Frage, die von der Geschlechter- oder Körpersoziologie übernommen wurde. 42 Für die meisten Familienforscher scheint die Frage geklärt, ob es noch patriarchale Strukturen gibt, und sie wird kaum noch gestellt. Es herrscht weitgehend Konsens darüber, dass in der Familie Gleichheit und Partnerschaftlichkeit durchgesetzt seien. 43 Allerdings fällt es dann schwer, die weiterhin asymmetrische Aufgabenverteilung in Privathaushalten oder die bestehenden Paarungsregeln (»Der Mann sollte älter, größer und statushöher sein«) zu erklären. Hier soll kein Plädoyer für alte Patriarchats- oder Machtbegriffe gehalten werden. Der alte, personalisierte Patriarchatsbegriff, dem zufolge die mächtigen Männer direkt über die Frauen herrschen, ist zu Recht vielfach kritisiert worden. Nur ist es theoretisch genauso unbefriedigend, mehr oder weniger selbstverständlich von Gleichheit und Partnerschaftlichkeit auszugehen - ohne die empirisch deutlichen Asymmetrien noch theoretisch fassen zu können. Als Ausweg bietet sich an, von patriarchalen Strukturen zu sprechen. Mit diesem Konzept lassen sich »Ungleichheiten« sowohl in der Familie als auch im Beruf erklären, weil damit die Möglichkeit eingeschlossen ist, dass Männer Privilegien gegenüber Frauen haben, ohne dass dies als Folge direkter Machtausübung der Männer begriffen werden müsste. Die Kenntnisse jener subtilen Mechanismen, die dazu führen, dass zum Beispiel der Anteil von Professorinnen oder von Unternehmensleiterinnen nach wie vor so gering ist, können dann auch theoretisch nutzbar gemacht werden für das Verständnis der scheinbar so schwer erklärbaren Tatsache, dass in den meisten Paarbeziehungen und Familien die Männer die bessere Berufsposition einnehmen. Häufig wird bei diesen Fragen, in Ermangelung einer soziologisch adäquaten Theorie, auf die ökonomische Ressourcentheorie zurückgegriffen: Demnach ist es eine rationale Entscheidung innerhalb der Familie, wenn die weniger gut ausgebildete Frau auf die Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit verzichtet bzw. diese reduziert, weil dadurch für die Familie insgesamt mehr zu gewinnen ist, als wenn die Frau auf ihren Erwerbsansprüchen beharren würde. Der Mann hat mehr Ressourcen, den Lebensunterhalt für die Familie zu bestreiten, und deshalb ist es ökonomisch sinnvoll, wenn er sich auf die Erwerbsarbeit konzentrieren kann. In dieser Sichtweise werden Familie und Paarbeziehung allerdings auf eine rein sachlich-ökonomische Institution reduziert. 42 Walby (1997), Connell (1987), Turner (1996). 43 Symptomatisch dafür ist vielleicht, dass der Buchtitel »Vom Patriarchat zur Partnerschaft« (Mitterauer/ Sieder 1984) als zentrale Formel für die Modernisierung der Familie gilt. 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 158 5.5 Theorien in der deutschen Familiensoziologie Die Darstellung verschiedener Theorie-Ansätze, wie sie in manchen Lehrbüchern üblich ist, steht hier nicht im Vordergrund: Wir beschränken uns deshalb auf eine knappe Skizze der wichtigsten Theorien in der deutschen Familiensoziologie der letzten Jahrzehnte. Im Wesentlichen sind es drei Theorie-Richtungen, die in den letzten 20 Jahren der deutschsprachigen Familienforschung deutliche Impulse geben konnten: 1. Individualisierungstheorie. 2. Theorie funktionaler Differenzierung. 3. Rational-Choice-Theorie. Individualisierungstheorie Den wohl stärksten Einfluss auf die allgemeine Diskussion über Zustand und Zukunft der Familie in Deutschland hatte in den letzten zwei bis drei Dekaden die Individualisierungstheorie, die Eingang fand in die Familien-, Jugend-, Kindheits- und auch Geschlechterforschung. Einige Publikationen Mitte der 1980er- Jahre leiteten diesen Trend ein. 44 Die Grundannahme der Individualisierungstheorie ist, dass die Familie und andere Gemeinschaftsformen in den letzten Jahrzehnten an Bindungs- und Prägekraft verloren haben und dass die Einzelnen immer stärker auf sich selbst verwiesen sind. Der Lebenserfolg oder Misserfolg der Menschen wird stärker als Ergebnis ihrer eigenen Entscheidungen betrachtet, weniger als Ergebnis sozialer Strukturen. Das bedeutet unter anderem, dass die Familie nicht mehr so wichtig ist, vor allem die »klassische Normalfamilie«. Dementsprechend wurde die Individualisierungsthese manchmal zur Krisen- und Verfallsdiagnose der Familie ausgebaut. Sie mündete häufig in eine Pluralisierungsthese, derzufolge heute eine bunte Vielfalt von Lebens- und Familienformen anzutreffen ist, weil die Individuen sich nicht mehr nach festen Regeln und Strukuren richten, sondern stärker selbst entscheiden, wie sie leben möchten. Das gilt vor allem auch für Frauen. 44 Zum Beispiel Beck (1983), Beck-Gernsheim (1983), Kohli (1985) und andere aus den frühen 1980er-Jahren. Einige dieser Publikationen wurden später in einem Sammelband zusammengefasst (Beck/ Beck-Gernsheim 1994). 5.5 Theorien in der deutschen Familiensoziologie 159 Eine der Grundaussagen der Individualisierungstheorie - die Autonomisierung der Familie innerhalb des Verwandtschaftssystems und die Autonomisierung der Individuen innerhalb der Familie - gehören seit Durkheim und Simmel zum common sense der Familiensoziologie. Es gab eine Fülle von Diskussionen und zahlreichen Auseinandersetzungen: beispielsweise darüber, ob die Individualisierung einen Autonomiegewinn für die Individuen bedeutet, weil sie weniger abhängig von sozialen Strukturen sind; oder ob die soziale Strukturierung so stark nachgegeben hat, dass nun die einzelnen ihr Leben selber gestalten müssen (»Bastelbiografie«). Eine weitere Frage stellte sich hinsichtlich des Charakters des Neuen: Was waren die Besonderheiten des neuen Individualisierungsschubes seit den 1960er- Jahren? Ebenso wurde auch über die empirische Fundierung der Individualisierungsthese viel diskutiert. 45 Differenzierungstheorie Auch die Theorie funktionaler Differenzierung, im Anschluss an die soziologischen Klassiker (Durkheim, Weber und Simmel), vor allem aber an die Systemtheorie von Parsons und Luhmann, hat einen starken Einfluss auf die theoretischen Überlegungen in der Familiensoziologie ausgeübt, wenn auch weniger spektakulär als im Fall der Individualisierungsthese. Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von einigen Bielefelder Autoren, die an Luhmann anschlossen. 46 Funktionale Differenzierung bedeutet allgemein, dass sich im Verlauf der historischen Entwicklung bestimmte gesellschaftliche Bereiche »ausdifferenzieren« - das heißt, sie werden zu Subsystemen und erhalten gegenüber dem System Gesamtgesellschaft eine relative Autonomie - und sich auf die Erfüllung einer bestimmten Funktion spezialisieren. Im Unterschied zu dem Wirtschafts-, Rechts- oder Politiksystem blieb es aber im Falle der Familie umstritten, ob sie als ein gesellschaftliches Teilsystem angesehen werden kann. 47 Die Familie ist jedenfalls ein System der besonderen Art, mit einer speziellen Funktion. Funktionale Differenzierung führt nach Luhmann im Verlauf des Modernisierungsprozesses zu einem zunehmenden Bedarf an Individualität und Selbstthematisierung, weil die Individuen in der funktional differenzierten Gesellschaft keine starke soziale Verortung mehr 45 Zu den Diskussionen vgl. etwa Friedrichs (1998). 46 Meyer (1992), Herlth et al. (1994), F. X. Kaufmann (1994), Tyrell (1988). Manchmal ist hier auch synonym von »Modernisierungstheorie« die Rede (Nave-Herz 1999). 47 F. X. Kaufmann (1994), Burkart (2005). 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 160 haben: Unter diesen Bedingungen ist das Intimsystem Familie nun der einzige soziale Ort, an dem das Individuum noch als »ganzer Mensch« gesehen wird, während es in den anderen Funktionssystemn (zum Beispiel Bildung, Wirtschaft oder Recht) nur unter dem jeweiligen Funktionsaspekt gesehen wird. Mit der These von der De-Institutionalisierung nähert sich die Differenzierungstheorie der Individualisierungstheorie an. 48 Beide Theorie-Richtungen betonen, dass der Charakter von Ehe und Familie als Institution geschwächt sei. Gleichwohl hält die Differenzierungstheorie stärker an der Bestimmung von Ehe und Familie als Institutionen fest. Diskutiert wird auch die Ausdifferenzierung des Intimsystems bzw. die These der Entkopplung von Ehe und Elternschaft. In langfristiger Perspektive ist wohl unbestritten, dass es zur Ausdifferenzierung eines Intimsystems (Privatsphäre, Familie) gekommen ist. Weniger klar ist, wie heute das Verhältnis verschiedener Teilbereiche zueinander - Verwandtschaft, Familie, Paarbeziehungen, Intimität, Privatheit - verstanden werden soll. Rational-Choice-Theorien Im Anschluss an die ökonomischen Theoretiker früherer Generationen haben deutsche Rational-Choice-Theoretiker ihre allgemeinen Überlegungen auch auf die Familie angewandt und dadurch einen spürbaren Einfluss auf die soziologische Familienforschung gewonnen. 49 Mit der Bezeichnung Rational Choice (RC) werden unterschiedliche Strömungen zusammengefasst, die sich alle in einer Grundannahme einig sind: Menschen handeln und treffen Entscheidungen, indem sie eine individuelle Kosten- und Nutzen-Kalkulationen der möglichen Handlungsalternativen durchführen und sich dann rational für jene Alternative entscheiden, für die sich die günstigste Kosten-Nutzen-Bilanz ergibt. Ferner wird angenommen, dass gesellschaftliche Strukturen und Institutionen das Ergebnis einer Fülle von solchen individuellen Handlungen sind, wobei die Ziele der Akteure jedoch nicht mit den Folgen ihrer Handlungen auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene übereinstimmen müssen. 50 48 Tyrell (1988). 49 Insbesondere im Umfeld von Hartmut Esser in Mannheim wurde die Rational-Choice- Theorie auf die Familienforschung angewandt (Hill/ Kopp 1995, Esser 1999). Von den Ökonomen, die diese Theorie entwickelt und auf die Familie bezogen haben, ist insbesondere Gary Becker (1996) zu erwähnen. 50 Die Bezeichnung rational choice (RC) umfasst deshalb verschiedene Ansätze wie Haushaltsökonomie, Mikroökonomie der Familie, Austausch-, Ressourcen- oder auch Entscheidungstheorien, sofern diese in der Tradition von Theorien des ökonomischen Austausches 5.5 Theorien in der deutschen Familiensoziologie 161 Die Rational-Choice-Theorie kommt vielen Empirikern entgegen, weil sie am Individuum ansetzt und Ergebnisse aus empirischen Befragungen mit Ad-hoc-Erklärungen plausibel machen kann. Sie ist als Handlungstheorie konzipiert, die offen ist für die Berücksichtigung von Rationalität einschränkenden Strukturbedingungen: Dabei steht die Frage im Vordergrund, auf welche Weise bestimmte Bedingungen (constraints) verhindern, dass Menschen rational handeln können. Wichtig sind auch Überlegungen zur Mikrofundierung von Makrostrukturen und zu den nichtintendierten Handlungsfolgen, wie sie sich etwa in Veränderungen der Fertilitäts- oder Scheidungsraten niederschlagen. 51 Von Soziologen wird immer wieder die enge Bindung der Rational-Choice- Theorie an das ökonomische Modell der rationalen Wahl kritisiert: Dieses stelle den soziologischen Wert der Theorie in Frage, weil damit die Eigenmächtigkeit von Normen und Werten unterschätzt würde. Umstritten ist auch, welchen Status die theoretischen RC-Aussagen haben: Sind es lediglich Modell-Aussagen auf der Mikro-Ebene, in dem Sinne, dass man das Handeln von Menschen so beschreibt, »als ob« sie rational handeln würden? Oder handelt es sich um die Behauptung, im empirischen Normalfall liege dem Handeln immer eine rationale Wahl nach einer Kosten-Nutzen-Kalkulation zugrunde? Oder handelt es sich um eine normative Theorie (im Sinne einer Vernunftmoral), die die Akteure auffordert, möglichst rational zu handeln? Ein Großteil der kritischen Diskussion befasst sich mit diesen Fragen, und häufig enden solche Diskussionen damit, dass sich die Theorie-Kontrahenten gegenseitig Missverständnisse vorhalten. Kritik gibt es auch an der Nichtberücksichtigung von Erkenntnissen der Geschlechterforschung. 52 Den drei Theorien ist gemeinsam, dass sie nicht unmittelbar mit der empirischen Forschung in Einklang zu bringen sind. Es wurde schon erwähnt, dass die empirische Begründung der Individualisierungstheorie fragwürdig ist. Einige Thesen der Theorie beruhen auf Fehlinterpretationen der Statistik, wie sie im ersten Kapitel erörtert wurden. Auch die Theorie der funktionalen Differenzierung gibt keine klaren Kriterien etwa für die empirische Abgrenzung zwischen verschiedenen familialen Teilsystemen. Die Rational-Choice-Theorie scheint auf den ersten stehen, das heißt, von einer generellen Orientierung von Akteuren am Nutzenkalkül und ferner von quantifizierbaren Tauschrelationen ausgehen. In der englischsprachigen Familienliteratur findet man den Ausdruck rational choice seltener, eher ist dort von exchange theory die Rede. Im Lehrbuch von Hill/ Kopp (1995, 2004) werden gleich drei Ansätze unterschieden und in eigenen Abschnitten abgehandelt, die hier unter RC zusammengefasst werden. 51 Esser (2001). 52 Katz (1997), Schulz/ Blossfeld (2006). 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 162 Blick, wie schon angedeutet, forschungsnäher. Aber Kosten-Nutzen-Kalkulationen und Entscheidungsprozesse werden selten direkt empirisch untersucht, häufig bleibt die rationale Wahl eine bloße Annahme. 53 Andere Theorien Welchen Einfluss haben andere soziologische Theorien auf die Familienforschung? Zwar wird der Strukturfunktionalismus Parsonsscher Prägung, der die deutsche Familientheorie der 1950er-Jahre dominierte, noch in vielen Übersichts- und Lehrbüchern als einer von fünf oder sechs der wichtigsten Ansätze genannt; er spielt jedoch seit Längerem keine bedeutende Rolle mehr, zumindest nicht im Sinne einer expliziten Bezugnahme. Gleichwohl müssen sich die an Pluralisierung oder Auflösung orientierten Theorien oder Thesen, denen zufolge es »die Familie« oder eine feste Struktur der Familie nicht mehr gibt, weiterhin am klassischen Modell der Struktur der Kernfamilie orientieren. Auch die Frage nach Leistungen und Funktionen der Familie ist nicht überflüssig geworden. Mit der Vernachlässigung von Parsons’ Ansatz ist jedoch auch die enge Verzahnung der drei Ebenen Gesellschaft, Familie und Persönlichkeitsstruktur verloren gegangen: Parsons hatte seine Familientheorie auch auf die Psychoanalyse aufgebaut (was heute weitgehend vergessen ist - und was auch nicht zu dem Bild des konservativen Familienideologen passt, das heute vielfach von Parsons vermittelt wird). 54 Der Symbolische Interaktionismus, der eine Zeitlang stark die amerikanische Familienforschung beeinflusst hatte, war in Deutschland in der Familienforschung weniger präsent. Neuerdings gibt es allerdings aus interaktionistischen Richtungen (in einem weiten Sinn) Bestrebungen, das Feld der Familiensoziologie auszuweiten und die Verengungen, die mit dem teilweise als überholt bezeichneten Familienbegriff verbunden sind, aufzubrechen. Aus der Familiensoziologie sollte, so die Forderung, eine Soziologie der Intimbeziehungen, der persönlichen Beziehungen oder der Privatheit werden - oder eine »Sozialpsychologie der Ehe«, wie Bertram kritisch anmerkt. 55 Es spricht sicher manches dafür, Ehe und Familie nicht nur als 53 Blossfeld/ Müller (1996), Burkart (2002b). 54 Vereinzelt finden sich Bezugnahmen auf andere Klassiker, zum Beispiel Durkheim (Wagner 2001) oder Simmel (Tyrell 2001). Aus dem Umfeld der strukturtheoretischen Soziologie stammt der Versuch von Allert (1998), die »Unverwüstlichkeit« von Familie gegenüber den behaupteten Auflösungstendenzen nachzuweisen. 55 Vgl. dazu die Theorie-Debatten um den Kern (und die Bezeichnung) des Forschungsgebietes in einer Ausgabe des Diskussionsforum Erwägen - Wissen - Ethik (Lenz 2003 und Dis- 5.5 Theorien in der deutschen Familiensoziologie 163 Institution oder als System zu betrachten, sondern als eine Form von persönlicher Beziehung zu begreifen: So zeigt ja beispielsweise die empirische Forschung, dass die höheren Scheidungsraten zu einem erheblichen Teil auf gestiegene Ansprüche zurückgeführt werden müssen - also die Qualität der persönlichen Beziehung stärker im Vordergrund steht als früher. Aber eine Reduzierung der Familie auf persönliche Beziehungen oder Interaktionsformen wäre doch unzureichend. Wie in den gesamten Sozialwissenschaften hat auch im Bereich der Familienforschung der Marxismus in wenigen Jahren seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre fast jeden Einfluss verloren. Das könnte sich vielleicht wieder ändern, denn in der Soziologie ist der Begriff des Kapitalismus wieder salonfähig geworden: Für Arlie Hochschild ist es der Kapitalismus, der das Verhältnis von Familie und Arbeit und deren emotionale Besetzung nachhaltig ändert. 56 Und für die französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello profitiert der Kapitalismus heute von jenen Tendenzen, die der Familie geschadet haben, nämlich vom Trend zu Individualismus und Selbstverwirklichung. 57 In Lehr- und Übersichtsbüchern findet man manchmal noch Bezeichnungen wie »Konfliktansatz« oder »kritische« Familienforschung, die sich häufig auch auf den Marxismus beziehen. Schließlich ist es keine Frage, dass der Feminismus und die Geschlechterforschung wichtige Impulse für die Familientheorie geliefert haben, wenn auch deren theoretisches Interesse nicht primär auf die Familie gerichtet war und feministische Studien zur Familie relativ selten sind. Von einer feministischen Familienforschung kann man deshalb wohl nicht sprechen - und die Phase feministischer Familienkritik ist möglicherweise schon historisch. 58 In den USA gibt es allerdings Ansätze für eine postmodern-feministische Familientheorie, die in der Tradition der feministisch-konstruktivistischen Kritik am bürgerlich-männlichen Familien- und Geschlechtermodell steht. 59 kutanten) und in der Zeitschrift Soziale Welt. Vgl. dazu W. Schneider (2002) sowie die Kritiken von Bertram (2002), Burkart (2002a) und Matthias-Bleck (2002). 56 Hochschild (1997, 2003). 57 Boltanski/ Chiapello (2003). 58 Vgl. etwa das Themenheft der Feministischen Studien zu Kinderlosigkeit, dessen Herausgeberinnen auf Distanz zur früheren feministischen Familienkritik gehen, in der die Familie als patriarchales System zur Unterdrückung der Frau gesehen worden war (Benninghaus 2005). 59 Baber/ Allen (1992), Osmond/ Thorne (1993). 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 164 Internationale Familienforschung Die internationale Familienforschung ist in mancherlei Hinsicht nicht wesentlich anders als die deutsche. 60 Es ist aber deutlich eine globale Orientierung und ein stärkeres Interesse am Kulturvergleich erkennbar. 61 Auch scheint man international eher die Auffassung zu vertreten, dass Familie (einschließlich Lebensformen der persönliche Beziehungen, Privatheit) ein zentraler Bereich der globalisierten Welt ist: »For examining the impact of globalization and the ramifications of individualization, there is no better test-bed than the family setting« (Scott et al. 2004, xv). Hochschild arbeitet an einer Zeitdiagnose, deren wichtigste Themen »emotion, gender, family, capitalism, globalization« sind. 62 Sie gehört international zu den wenigen, die versuchen, den Gesamtzusammenhang zwischen Geschlechterbeziehungen, Familie und Arbeitswelt im Auge zu behalten und dabei sowohl die Bedeutung von Emotionen als auch die Tendenzen zur Professionalisierung von Familientätigkeiten, nicht zuletzt durch Globalisierung zu berücksichtigen, durch die zunehmend Pflege- und Erziehungsaufgaben von Personal aus der Dritten Welt übernommen werden. Neben den klassischen Theorie-Ansätzen finden sich international zunehmend »alternative« Ansätze: postmodern, feministisch oder postkolonial. Diesen Ansätzen wurde in den 1990er-Jahren zunehmend eine wichtige Stellung in englischsprachigen Handbüchern und Sammelbänden zugewiesen. 63 Postmoderne Merkmale, die auch die privaten Lebensformen kennzeichnen, sind Fragmentierung, Pluralismus und Diversifizierung, Fortschritts- und Rationalitätsskepsis. Besonders in Bezug auf postmoderne Unsicherheiten gibt es in der Sache deutliche Überschneidungen zur Individualisierungstheorie. Unter dem Stichwort »Individualisierung« findet man in englischsprachigen Werken häufig noch den Hinweis, 60 Vgl. z. B. Gelles (1995), Leira (1999), Scott et al. (2004). 61 »Families in a global world« ist ein Hauptteil eines Sammelbandes (Scott et al. 2004) überschrieben. Von einem »Western Bias« in der Familiensoziologie ist dort die Rede, das heißt, von einer Vernachlässigung nicht-westlicher Familiensysteme; gleichwohl spiegelt der Band mit vorwiegend nordamerikanischen und britischen Autoren diese Einseitigkeit wider. 62 Hochschild (2003: 1). 63 Doherty (1999), Cheal (1999). In der zweiten Auflage des Handbook of Marriage and the Family (Sussmann et al. 1999) ist einer von zwei Theorie-Artikeln der postmodernen Familientheorie gewidmet (Doherty 1999) - und ist der einzige, der die neuere Theorie- Entwicklung rekapituliert. Postmodern ist häufig eine Art Sammelbegriff, der auch feministische Studien und postcolonial studies einschließt. 5.5 Theorien in der deutschen Familiensoziologie 165 diese Theorie sei vor allem in Deutschland verbreitet. 64 Allerdings gab es auch in den 1980er-Jahren schon US-Autoren, die sich auf die deutsche Diskussion bezogen. 65 Arbeit am Familienbegriff - Gesellschaft ohne Familie? Diskussionen des Familienbegriffs sind ein Indikator für theoretische Entwicklungen. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass damit meist auch normative Positionierungen verbunden sind. So ist zum Beispiel in den letzten Jahren deutlich geworden, dass Autoren häufiger darauf verzichten, a) die Rechtsform Ehe, b) die Anwesenheit zweier Eltern oder c) die Anwesenheit eines heterosexuellen Elternpaares als Grundelement der Definition von »Familie« zu betrachten. Das sind nicht immer theoretisch oder empirisch begründete Setzungen, sondern manchmal eher implizite politische Stellungnahmen: a) für nichteheliche Lebensgemeinschaften, b) für Ein-Eltern-Familien (Alleinerziehende), c) für homosexuelle Elternpaare. Für diese drei Gruppen wird ein »Familien«-Status reklamiert. Die familiensoziologische Theorie trägt hier zwar den gewandelten normativen Haltungen - dem »Diskurs« - in der Kultur Rechnung, muss sich aber fragen lassen, ob damit die Struktur schon ausreichend beschrieben ist. Klärungsbedürftig wäre beispielsweise die Frage nach der Vaterposition, die aufgrund empirischer Befunde als teilweise verzichtbar gilt oder als austauschbar. »Familie« wäre dann im Kern reduzierbar auf die Mutter-Kind-Dyade (»Neue Matrilinearität«). Es gibt eine bestimmte Form der Familienkritik bzw. der Kritik an der Familienforschung, deren Ziel es zu sein scheint, die Überflüssigkeit des Familienbegriffs und damit der Familie zu beweisen. Dennoch macht sie damit, zumindest an der Oberfläche, nichts weiter als das, was die Familiensoziologie macht oder zumindest machen sollte: nämlich den verwendeten Familienbegriff immer wieder zu überprüfen: taugt er noch oder nicht, wie ist er neu zu bestimmen. Doch gleichzeitig geht es immer wieder um Alternativen: »postfamiliale Familie«, »persönliche Beziehung« oder »Privatheit«. In letzter Instanz geht es bei dieser Kritik um die Abschaffung des Familienbegriffs. Können wir uns vorstellen, dass eine Gesellschaft ohne Familie möglich wäre? Wenn es im Kulturvergleich fast überall »Familien« gibt, dann ist das nur verständlich vor dem Hintergrund eines systematischen Zusammenhangs von Nachwuchssicherung (Elternschaft und Sozialisation), Herrschafts- und Geschlechter- 64 Cheal (1999). 65 z. B. Cherlin/ Furstenberg (1989). 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 166 verhältnissen. Kulturen unterscheiden sich gleichzeitig sehr in ihren Regelungen, was die soziale Strukturierung und kulturelle Einbettung der Mutter-Kind-Dyade und der sozialen Organisationsformen des Aufwachsens der Kinder betrifft: in ihren Verwandtschafts- und Heiratsregeln, Vererbungs- und Herrschaftsformen, Wohn- und Arbeitsverhältnissen, Sozialisationsformen, Semantiken. Dennoch gibt es keine Gesellschaften oder Kulturen ohne solche Regeln, ohne geregelten Zusammenhang von Generationsfolge und Konjugalität. Insbesondere das Aufwachsen der Kinder (spezifischer: die primäre Sozialisation) muss organisiert werden. Im Kontext patriarchaler Strukturen und dem System der Zweigeschlechtlichkeit ist diese Aufgabe den Frauen übertragen, abgesichert durch die Ehe. 66 Das ist der Kern von Familie, und nur die vollständige Auflösung dieses Zusammenhangs - Sozialisation in der Familie, Zweigeschlechtlichkeit, patriarchale Strukturen, Generationsverbindungen - würde die Familie überflüssig machen. Das ist nicht undenkbar, aber auch nicht gerade sehr wahrscheinlich. An dieser Stelle soll der Hinweis auf das Sozialisationsproblem genügen. Wenn die Frauen sich nicht mehr in der Lage sehen, die Erziehungsarbeit wie bisher zu übernehmen, wenn die Männer sich nicht in der Lage sehen, sich mehr zu beteiligen, und wenn sich zu viele Paare überfordert fühlen, Kinder zu bekommen oder zu erziehen: dann müssen andere Lösungen für das Sozialisationsproblem gefunden werden. Mindestens zwei Modelle sind vorstellbar: Im Falle des einen, Kollektivierung der Sozialisation, gibt es historische Versuche, für das zweite, Professionalisierung der Elternschaft, noch nicht. Tendenzen in diese Richtung gibt es aber bereits, denn die Ansprüche an »verantwortete Elternschaft« steigen, und die Anforderungen an eine gute Erziehung werden höher. Es läge in der Logik der Funktionsdifferenzierung der modernen Gesellschaft, nicht mehr alle Personen mit dieser komplexen Aufgabe der Erziehung von kleinen Kindern zu belasten, sondern dafür Spezialisten auszubilden. Vielleicht ist tatsächlich eine der entscheidenden Fragen der Zukunft, ob sich die Elternschaft professionalisieren lässt - wenn ja, wäre das postfamiliale Zeitalter erreicht. 67 66 »Patriarchal« hier verstanden in dem ganz weiten Sinn, dass Männer die Frauen - wie auch immer - dazu bringen, sich mehr als sie selbst um die gemeinsamen Kinder zu kümmern. 67 Dieser Punkt wird im Schlusskapitel noch einmal aufgegriffen. 5.5 Theorien in der deutschen Familiensoziologie 167 Zusammenfassende Thesen Die moderne Familie lässt sich in theoretischer Perspektive als ein Strukturmodell konzipieren, das aus zwei Achsen - Filiation und Konjugalität oder Generation und Geschlecht - besteht. Damit lässt sich nicht nur das Verhältnis von Kernfamilie und erweiterter Familie besser erfassen, sondern auch die Frage klären, in welchem Verhältnis Strukturmodell und empirische Familienformen zueinander stehen. Die Familie erfüllt nach wie vor wichtige Funktionen für die Gesellschaft und für bestimmte gesellschaftliche Teilsysteme, auch wenn es Erosionstendenzen bei der Funktionserfüllung gibt. Die vier Grundfunktionen sind die biologische und die soziale Reproduktion, die Sozialisation sowie die primäre Statuszuweisung. Allerdings gibt es bei der Funktionserfüllung auch Erosionstendenzen, insbesondere durch Auslagerung von Aufgaben in andere gesellschaftliche Bereiche. Um die Funktionsbestimmungen erfassen zu können, ist es wichtig, dass die Familie nicht etwa als Gegenstruktur zur Gesellschaft, d. h. als reine Privatsphäre verstanden, als vielmehr in ihrer Vermittlungsfunktion zwischen privater und öffentlicher Sphäre gesehen wird. Besonders intensiv, aber auch spannungsvoll, sind die Beziehungen des Familiensystems zu den Systemen der Erwerbsarbeit und der Bildung. Dem Bildungssystem wird eine Vermittlungsrolle zwischen der sozialen Herkunft eines Individuums und seinem später im Erwerbssystem erworbenen Status zugeschrieben. Diese Vermittlung - im Sinne des Ausgleichs von unterschiedlichen Startchancen durch die soziale Herkunft - gelingt jedoch nur unzureichend, besonders in Deutschland. In der deutschsprachigen Familienforschung haben in den letzten Jahrzehnten vor allem die Individualisierungstheorie, die Theorie funktionaler Differenzierung sowie die Rational-Choice-Theorie maßgeblichen Einfluss auf die familiensoziologischen Diskussionen ausgeübt. 5. Struktur und Funktion der modernen Familie 168 Übungsfragen - Wie kann man Familie definieren? - Welche Familienform ist heute vorherrschend? - Welche Funktionen erfüllen Familien heute noch und gibt es Anzeichen der Schwächung dieser Funktionen? - Erläutern Sie das Verhältnis von »privaten Lebensformen« und »Familie«. - Was sind die wichtigsten Punkte der Individualisierungstheorie bezüglich der Familie? - Wie wird in der Rational-Choice-Theorie das Familienleben interpretiert? Basisliteratur Beck, Ulrich/ Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg., 1994): Riskante Freiheiten. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Herlth, Alois/ Ewald J. Brunner/ Hartmann Tyrell/ Jürgen Kriz (Hrsg., 1994): Abschied von der Normalfamilie? Partnerschaft kontra Elternschaft. Berlin: Springer Kaufmann, Franz-Xaver (1995): Zukunft der Familie im vereinten Deutschland. Gesellschaftliche und politische Bedingungen. München: Beck Nave-Herz, Rosemarie (2004): Ehe- und Familiensoziologie. Eine Einführung in Geschichte, theoretische Ansätze und empirische Befunde. Weinheim: Juventa Parsons, Talcott (1964): Das Verwandtschaftssystem in den Vereinigten Staaten [1943]. In: Ders.: Beiträge zur soziologischen Theorie (Hrsg. Rüschemeyer). Neuwied, S. 84-108 Parsons, Talcott/ Robert F. Bales (1955): Family, Socialization, and the Interaction Process. Glencoe: Free Press 5.5 Theorien in der deutschen Familiensoziologie 169 6. Das konjugale Paar Manche Kritiker der Familiensoziologie haben eine Vernachlässigung der konjugalen Beziehung moniert. Sie betonen die Eigenständigkeit des Paares und auch der Ehe gegenüber der Familie. Diese Betonung ist insofern berechtigt, als sich, wie gezeigt, historisch eine Bedeutungszunahme des Ehepaares im Rahmen des Familiensystems feststellen lässt. Dazu kommt, dass das Ehepaar zunehmend als Liebespaar gedacht wurde und nicht mehr nur als Elternpaar. Darüber hinaus gibt es heute immer mehr kinderlose Paare. Dieses Kapitel konzentriert sich daher auf die Ehe und die Paarbeziehung, also auf die Achse der Konjugalität. 1 Die Paarbeziehung lässt sich als eine besondere Form persönlicher Beziehung betrachten, die sich durch romantische Liebe definiert. Seit den Veränderungen der 1960er-Jahre ist die Paarbeziehung als Institution jedoch zunehmend mit grundlegenden Problemen konfrontiert, etwa dem Problem der Dauerhaftigkeit oder den Autonomiebedürfnissen der Partner (? 6.1). Es gibt verschiedene Theorien, die versuchen, das Zustandekommen von Paarbeziehungen zu erklären. Mit dem historischen Bedeutungszuwachs des Paares geht eine stärkere Individualisierung der Partnerwahl einher: Die Paarbildung wird auf freie Wahl umgestellt. Gleichwohl lassen sich weiterhin auch in freien Heiratssystemen soziale Regeln der Paarbildung ausmachen. In den letzten Jahrzehnten hat sich vor allem die Regel der Bildungshomogamie in den Vordergrund geschoben (? 6.2). Die Eheschließung ist heute nicht mehr die unmittelbare Konsequenz nach der Gründung einer Paarbeziehung. Viele Paare wohnen unverheiratet zusammen. Es ist jedoch sinnvoll, bei den nichtehelichen Lebensgemeinschaften zwischen verschiedenen Bedeutungsvarianten - je nach Lebensphase - zu unterscheiden. Zu den nichtehelichen Paarbeziehungen gehören auch gleichgeschlechtliche Paare (? 6.3). Immer noch heiratet irgendwann die Mehrheit aller Paare. Auch für die Ehe gilt, dass sie in verschiedenen Lebensphasen unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Darüber hinaus gibt es Unterschiede zwischen Milieus, in denen die Ehe noch selbstverständlich ist, und solchen, in denen es fast normal geworden ist, 1 Konjugalität = die Gattenverbindung (von lat. coniugare = verbinden). Im anglo-amerikanischen Sprachraum ist es schon länger üblich, das Forschungsgebiet der Familiensoziologie als sociology of marriage and the family zu bezeichnen. Auch ein Lehrbuch von Nave-Herz (2004) zieht die entsprechende Konsequenz. 171 nicht zu heiraten. Ehen können wieder aufgelöst werden, entweder durch Scheidung oder durch Annulierung. Ehescheidungen haben deutlich zugenommen, wenn auch nach wie vor die Mehrheit aller Ehen bestehen bleibt. Die Umstellung vom Schuldprinzip auf das Zerrüttungsprinzip in den meisten westlichen Ländern hat zu einer Erleichterung und Privatisierung der Scheidung geführt (? 6.4). Im folgenden Abschnitt geht es um einige Aspekte der Binnenstruktur von Paarbeziehungen, um Sexualität, Liebe und Partnerschaftlichkeit. Liebe und Partnerschaftlichkeit werden als Konzepte vorgestellt, die Paarbeziehungen »regulieren«. Eine etwas ausführlichere Behandlung erfährt der Anspruch auf Treue. Dieser ist keineswegs überholt, auch wenn sich vielleicht die Begründungen dafür ent-moralisiert haben (? 6.5). Den Abschluss des Kapitels bilden Fragen des Geschlechterverhältnisses, vor allem im Zusammenhang mit der häuslichen Arbeitsteilung. Es stellt sich die Frage, warum die Veränderungen im Geschlechterverhältnis auf der diskursiven Ebene sich nicht in gleicher Weise in der Praxis der häuslichen Arbeitsteilung niederschlagen (? 6.6). 6.1 Das moderne Paar Die Paarbeziehung oder Zweierbeziehung lässt sich zunächst als besondere persönliche Beziehung betrachten, in Abgrenzung zu Freundschaft und Verwandtschaftsbeziehungen. 2 Aus soziologischer Sicht ist die Paarbeziehung aber auch eine soziale Institution. Das heißt, es gibt Strukturen, Regeln und Normen. Zunächst lassen sich als wichtigste Institutionalisierungsformen die Ehe und die nichteheliche Lebensgemeinschaft unterscheiden. Letztere kann auch gleichgeschlechtliche Paarbeziehungen einschließen. Liebe und Partnerschaftlichkeit gelten als die beiden wichtigsten »Regulative«. Zu den grundlegenden Normen gehören Ansprüche an Dauerhaftigkeit, Exklusivität und Verbindlichkeit. Die Liebesehe ist, wie bereits im vierten Kapitel dargestellt, als alltägliches Muster der Verbindung von Mann und Frau historisch vergleichsweise neu. Liebespaare der alten Gesellschaften waren häufig außereheliche Verbindungen. Das Ehepaar war lange Zeit dem Gefüge von Sippe, Verwandtschaft und häuslicher Gemeinschaft eingeordnet. Erst in der jüngeren Geschichte rückte das Paar stärker in den Vordergrund. Die Liebesehe ist, wie gezeigt, eine Erfindung des Bürgertums 2 Lenz (1998), Burkart (2008). 6. Das konjugale Paar 172 im 18. Jahrhundert. Und das Liebespaar auf egalitärer Basis ist als soziale Erscheinung mit einer gewissen Verbreitung erst im 20. Jahrhundert aufgetaucht, auch wenn es als Produkt der Dichtung schon lange existiert. Für das Aufkommen des modernen Liebespaares waren eine Reihe von Bedingungen wichtig: So musste das kulturelle Muster der romantischen Liebe entworfen und das Paar relativ abgehoben und frei von Familien- und Verwandtschaftszusammenhängen und auch entlastet von wirtschaftlichen und anderen Funktionen sein. Zum modernen Liebespaar gehört weiterhin die Vorstellung von der individuellen Persönlichkeit, verbunden mit entwickelten Formen der Selbstthematisierung und Selbstoffenbarung, damit eine Form intimer Kommunikation entstehen kann. Es gibt vier grundlegende Probleme, mit denen Paarbeziehungen heute konfrontiert sind: a) das Problem der biografischen Dauerhaftigkeit; b) der Institutionalisierungsgrad und die Institutionalisierungsformen des Paares; c) das Verhältnis von Individualität und Paar (und damit auch das Spannungsverhältnis von Bindung und Autonomie); d) das Verhältnis von Paar und Geschlecht. Aus diesen vier Problemfeldern ergeben sich auch die Elemente für eine Definition der Paarbeziehung: Die soziale Institution des Paares ist, gestützt auf das kulturelle Wertmuster »Liebe«, eine auf Dauer angelegte heterosexuelle Verbindung mit einer bestimmten Institutionalisierungsform (Sexualpartnerschaft; Wohn-Gemeinschaft; Ehe). Alle diese Elemente sind jedoch historisch und kulturell variabel. (a) Wenn sich Paare finden, denken sie nicht an das Ende, sondern haben die Vorstellung von Dauerhaftigkeit. Gleichwohl müssen heute viele Paare damit rechnen, dass die Beziehung nicht von Dauer ist. In einer zeitgenössischen Normalbiografie kann es mehrere aufeinanderfolgende Phasen der Liebe mit wechselnden Partnern geben: Man spricht hierbei von conjugal succession, »Fortsetzungsehe«, »serieller Monogamie« oder der Lebensabschnittsbeziehung. (b) Die Frage der Dauerhaftigkeit der Institution des Paares hängt auch mit Institutionalisierungsform und -grad zusammen: Ehe, nichteheliche Lebensgemeinschaft, living apart together - diese Formen sind nicht in gleicher Weise langfristig angelegt und dementsprechend nicht in gleichem Maße stabil. (c) Das Paar ist nicht einfach eine Austauschbeziehung zwischen zwei Individuen. Die Bildung einer Paarbeziehung schafft vielmehr eine neue Wirklichkeit, die Gemeinsamkeit des Paares schafft eine neue Sinnebene. Indikatoren dafür sind etwa der Übergang von der »Ich- Du«zur »Wir«-Perspektive. 3 Damit kommt der Aspekt in den Blick, dass die beiden Individuen eines Paares ein Stück weit ihre Eigenständigkeit aufgeben und sich in ihrer Selbstdefinition und Außendarstellung als »gemeinsam« definieren. 3 Alberoni (1998), Burkart (2008). 6.1 Das moderne Paar 173 Dadurch taucht, gerade in der modernen, individualisierten Partnerschaft, das neue Problem auf, wie man seine Individualität und Autonomie innerhalb der Paarbeziehung bewahren kann. (d) Weiterhin stellt sich heute zunehmend die Frage, ob eine Paarbeziehung aus Mann und Frau bestehen, also andersgeschlechtlich bzw. heterosexuell sein muss. Und bei Mann-Frau-Beziehungen stellt sich zunehmend die Frage, welche Bedeutung den Geschlechtsnormen zukommt. Schließlich ist noch zu berücksichtigen, dass heute die romantische Liebe zunehmend in Frage gestellt wird, zugunsten des Prinzips der Partnerschaftlichkeit (dazu siehe Abschnitt 6.6). 6.2 Paarbildung (»Partnerwahl«) Die Auswahl eines passenden (Ehe-) Partners ist für jeden Menschen von zentraler biografischer Bedeutung. Schon in traditionalen Kulturen war diese Wahl besonders wichtig. Sie wurde im Allgemeinen nicht den jungen Leuten überlassen, sondern von den Familien oder den patriarchalen Führern mehr oder weniger gesteuert und beeinflusst. Gerade in Gesellschaften, in denen die Eheschließung ein wesentliches Element der Reproduktion der Sozialstruktur ist, gibt es Steuerungsmechanismen der Paarbildung in Form von Vererbungs-, Lokalitäts- und Heiratsregeln: zum Beispiel die Regel der neolokalen Familiengründung, vor allem jedoch spezifische Endogamie- oder Exogamie-Regeln. Solche Regeln grenzen den Kreis der wählbaren Partner ein. Die strukturalistische Ethnologie hat den Regelcharakter hervorgehoben. 4 Demgegenüber betonten Autoren wie Bourdieu Heirats-Strategien. Doch auch bei ihm sind diese Strategien in einen übergreifenden Regel-Zusammenhang eingebettet: Es sind nicht individuell-rationale Kalküle im Sinne von Bedürfnis- und Nutzenmaximierung, sondern Strategien des praktischen Bewusstseins, in denen so etwas wie soziales Gespür bzw. »sozialer Sinn« zum Ausdruck kommt. 5 Mit dem historischen Bedeutungszuwachs des Paares ging eine stärkere Individualisierung der Partnerwahl einher; die Paarbildung wurde allmählich von der arrangierten Ehe auf freie Wahl umgestellt. Gleichwohl lassen sich weiterhin auch in freien Heiratssystemen soziale Regeln der Paarbildung ausmachen. Insofern ist »Partnerwahl« ein irreführender Begriff, weil er eine gänzlich individuelle Ent- 4 Lévi-Strauss (1947). 5 Bourdieu (1982, 1987). 6. Das konjugale Paar 174 scheidung ohne soziale Regeln suggeriert. 6 Man kann sogar sagen, dass der Begriff »Partnerwahl« früher bzw. in Kontexten von durch die Eltern arrangierten Ehen angemessener war als heute, weil die Wahl eines Ehepartners durch die Eltern eher eine Angelegenheit rationaler Wahl war als beim modernen Paar unter dem Zeichen von sexueller Attraktion und Liebe. Wir sollten daher lieber von Paarbildung sprechen, verstanden als Ergebnis komplexer Prozesse von intentionalen Handlungen, zufälligen Begegnungen, Wechselwirkungen und einer Reihe von sozialen Strukturbedingungen und Regeln. Soziale Regeln und Regelmäßigkeiten der Paarbildung wurden vielfach untersucht. Ein erster Typus von Regeln bezieht sich auf die Ähnlichkeit oder Unterschiedlichkeit der Partner in sozialer Hinsicht, also zum Beispiel hinsichtlich der sozialen Herkunft, der Konfessionszugehörigkeit oder der politischen Einstellung. Man spricht in diesem Zusammenhang von Homogamie, wenn sich die Partner in bestimmten Merkmalen ähnlich sind, und von Heterogamie, wenn sie entsprechend verschieden sind. Manchmal ist auch von Hypergamie die Rede, wenn nicht einfach Verschiedenheit gemeint ist, sondern ein systematischer Unterschied - etwa bei den Regeln, dass der Mann in der Paarbeziehung größer, älter und statushöher sein sollte als die Frau. Mit Endogamie ist allgemein die Heirat innerhalb der eigenen sozialen Gruppe gemeint, das kann sich auch auf Stand und Klasse beziehen. 7 Es gibt zahlreiche historische Beispiele für eine Tendenz zur endogamen Eheschließung. So zeigte sich etwa bei den Geburtskohorten der Jahre 1920 bis 1940, dass von den Töchtern von höheren Beamten fast zwei Drittel einen höheren oder gehobenen Beamten oder Angestellten heirateten. Rechnet man bei den Ehemännern noch Selbständige mit mindestens zwei Mitarbeitern hinzu, kommt man auf drei Viertel. Die Heiraten dieser Töchter von höheren Beamten mit Arbeitern, Landwirten, einfachen Beamten oder einfachen Angestellten machten dagegen kaum fünf Prozent aus. Umgekehrt heirateten von den Töchtern ungelernter 6 In der psychologischen Literatur, im Rahmen des Methodologischen Individualismus, aber auch allgemein in der Familienforschung (z. B. Nave-Herz 2004: 119 ff.) ist meist von »Partnerwahl« die Rede. 7 Zur Terminologie: Manche Psychologen sprechen von »Endogamie«, wenn sie sich auf sozio-kulturelle Variablen beziehen (Bildung, Konfession, etc.), von »Homogamie« dagegen unter Bezug auf psychologische Variablen (Jäckel 1980). Demgegenüber reservieren wir hier, in Übereinstimmung mit der Ethnologie, den »Endogamie«-Begriff für die Heirat innerhalb einer definierten sozialen Gruppe (zum Beispiel Arbeitermilieu). Man spricht dann auch von geschlossenen Heiratskreisen oder sozialer Schließung, im Anschluss an Max Weber, der zwischen offenen und geschlossenen sozialen Beziehungen unterschied (Weber 1972: 23). 6.2 Paarbildung (»Partnerwahl«) 175 Arbeiter fast drei Viertel einen Arbeiter. 8 Auch in neueren Studien werden immer wieder solche Tendenzen festgestellt. 9 Solche Regeln können in Frage gestellt werden, und sie ändern sich: So war etwa früher die Konfessions-Homogamie eine wichtige Regel. »Mischehen« zwischen Katholiken und Protestanten waren unerwünscht. Heute ist Bildungshomogamie wichtiger (oder leichte Bildungs-Hypergamie). Mit der Angleichung der Geschlechtsrollen und dem Anspruch auf Gleichheit sollte auch die Homogamie steigen: Männer und Frauen sollten dann etwa den gleichen Bildungsgrad haben, eine ähnliche soziale Herkunft, ein etwa gleiches Alter und eine etwa gleiche Körpergröße (vielleicht auch Körpergewicht? ). In Bezug auf Alter und Körpergröße gelten aber immer noch die alten Regeln, denen zufolge der Mann in einer Paarbeziehung älter und größer sein sollte. 10 Für das Zustandekommen solcher Regelmäßigkeiten sorgen kulturelle und soziale Faktoren. Zunächst sind allgemeine kulturelle Wertmuster wirksam, weil es wichtig ist, in bestimmten Wertfragen übereinzustimmen. In manchen Kreisen ist es wichtig, die männliche Autorität nicht durch Statusüberlegenheit der Frau oder durch ihre Körpergröße zu gefährden. Verständlicher werden diese Regelmäßigkeiten, wenn man berücksichtigt, dass die kulturellen Regeln nicht nur im Wertehimmel schweben, sondern in sozialen Strukturen verankert sind. Wir unterscheiden Institutionen der Paarbildung und Gelegenheitsstrukturen, die das Feld vorstrukturieren, bevor die Partnersuchenden in Aktion treten. Institutionen ermöglichen regelmäßige und alltägliche Gelegenheiten für Kontakte mit Personen des anderen Geschlechts und ähnlichem sozialen Hintergrund. Dazu gehören in erster Linie Institutionen des Bildungssystems und der Arbeitsplatz. Hier werden die meisten Beziehungen angebahnt. 11 Auch das Wohnviertel ist im Allgemeinen ein wichtiger Ort der Paarbildung. Ebenso sind Freizeitaktivitäten und Urlaub bekannte Medien der Paarbildung: Hier begegnen sich häufig Personen mit ähnlichem sozialen Hintergrund. Schon früher sorgten kommerzielle Paar- und Heirats-Vermittlungsinstitute dafür, dass sich Partner mit ähnlichen Eigenheiten eher finden. Auch Heiratsbzw. Kontaktanzeigen gibt es schon lange. So stellte Georg Simmel fest, dass die Heiratsannonce »einer der größten Kulturträger 8 Handl (1988: 112). 9 Wirth (2000). 10 Heute sind die Männer in Deutschland mit 1,80 m im Durchschnitt 13 cm größer als vor hundert Jahren, die Frauen mit 1,70 »nur« neun (Greil 2001). Das fördert das Weiterbestehen der alten Regel, dass der Mann in einer Paarbeziehung größer sein sollte. 11 Seriöse Studien zu diesen Fragen sind rar. Schätzungsweise die Hälfte bis zwei Drittel aller Paarbeziehungen werden am Arbeitsplatz bzw. im Bildungssystem angebahnt. 6. Das konjugale Paar 176 ist«, weil sie »dem Einzelnen eine unendlich höhere Chance adäquater Bedürfnisbefriedigung verschafft, als wenn er auf die Zufälligkeit des direkten Auffindens der Objekte angewiesen wäre«. 12 Heute übernimmt zunehmend das Internet mit seinen Kontaktbörsen die selbst organisierte Partnerwahl. 13 Theorien der Paarbildung Ein Großteil der sogenannten »Theorien der Partnerwahl« kommt aus dem Umfeld der Austauschtheorien. Sie gehen von einem »Heiratsmarkt« aus, auf dem Männer und Frauen ihre Ressourcen (Qualitäten) zum Tausch anbieten, die der Partner sucht und schätzt: Frauen können zum Beispiel Attraktivität oder »Häuslichkeit« - und heute zunehmend auch: Bildung - anbieten, die Männer zum Beispiel Berufsstatus oder - in manchen Milieus - Körperkraft. Theorien rationaler Wahl gehen zusätzlich davon aus, dass Partnersuchende auf diesen Märkten eine Art Kosten-Nutzen-Analyse der verschiedenen potentiell verfügbaren Partner aufstellen. Denkt man an die »romantische Liebe«, dann erscheint die Vorstellung einer »Wahl«, gar einer rationalen Wahl, allerdings ziemlich abwegig. 14 Spätestens seit der Veröffentlichung eines Buches von Robert F. Winch im Jahre 1958, in dem er seine These der Komplementarität der Bedürfnisse bei der Partnerwahl formulierte, findet ein Großteil der psychologischen Diskussion um Partnerwahl in der Spannung zwischen der Ähnlichkeits- und der Komplementaritätsthese statt. 15 Für die Ähnlichkeitsthese (»like marries like« oder »Gleich und gleich gesellt sich gern«, also Homogamie) gibt es eine Fülle empirischer Belege, auch der Zusammenhang zwischen Ähnlichkeit und Ehestabilität bzw. Ehezufriedenheit ist oft belegt. Vertreter der Komplementaritätsthese gehen ebenfalls von einer Ähnlichkeit der sozio-kulturellen Merkmale aus, die sie nicht als das Ergebnis einer »Wahl«, sondern eher aufgrund einer Vorstrukturierung (opportunity structure) sehen. Dann aber, beim konkreten Wahl-Prozess, setzt sich nach dieser Theorie eher Komplementarität durch, vor allem in psychologischer Hinsicht: »Gegensätze ziehen sich an«. Die Quintessenz aus der Kombination beider Ansätze wäre also: 12 Simmel (1900/ 1989: 523 f.). Eine der wenigen sorgfältigen empirischen Untersuchungen zu Kontakt- und Heiratsanzeigen stammt von Ruth Berghaus (1985), die den Personenkreis der Annoncierenden und deren Motive erforscht hat. 13 Illouz (2006: 115 ff.). 14 Die »Rhetorik der Passion beschwört Unfreiwilligkeit und passives Befallensein«, und bei der romantischen Liebe ist »Schicksal« und »Fügung« im Spiel (Tyrell 1987: 593). 15 Winch (1958, 1967), Kerkhoff/ Davis (1962). 6.2 Paarbildung (»Partnerwahl«) 177 Homogamie auf der Ebene sozialer Merkmale und Einstellungen sowie Komplementarität auf der Ebene psychischer Dispositionen und unbewusster Bedürfnisse. So sucht sich beispielsweise ein aktiv-dominanter Partner einen, der sich eher passiv unterordnet. Auch die Psychoanalyse hat sich mit Paarbildung und »Partnerwahl« beschäftigt und ebenfalls Vorstellungen von Komplementarität entwickelt. Beziehungen, in denen die beiden Partner unterschiedliche »Macken« haben und sich gegenseitig »ergänzen« können (neurotische Komplementarität), funktionieren demnach oft besser als solche Beziehungen, in denen derselbe Störungstypus vorliegt. 16 Schon Sigmund Freud hatte Zusammenhänge von frühkindlicher Erfahrung und »Objektwahl« (Wahl eines Sexualpartners) angenommen. Freud unterschied später zwischen der Objektfindung durch Anlehnung an die frühinfantilen Vorbilder und der narzisstischen Objektfindung, »die das eigene Ich sucht und im anderen wiederfindet«. 17 Die einfache psychoanalytische Vorstellung der Partnerwahl geht also davon aus, dass sich das Individuum unbewusst einen Partner sucht, der entweder dem andersgeschlechtlichen Elternteil ähnelt oder - bei der narzisstischen Partnerwahl - einem idealen Selbst ähnelt. Insbesondere unter dem Einfluss der systemischen Familientherapie setzte sich allmählich die Grundvorstellung durch, dass die Paarbildung Ergebnis eines unbewussten Kompromisses zwischen zwei Individuen ist. Konflikte, deretwegen Paare in die Therapie kommen, erweisen sich oft als »Ausdruck oder Folge von unbewussten Kompromissen«, »welche zwei Menschen dazu führen, sich zu ›lieben‹, zu ›wählen‹ und sich mehr oder weniger eng aneinander zu binden«. 18 Für die erste Phase einer Liebesbeziehung sind auch Idealisierungen und Verleugnungen der Realität typisch. Sie werden nach Ansicht der Psychoanalyse erst dann zum Problem, wenn sie über längere Zeit beibehalten werden. 19 Im Zuge der allgemeinen Re-Biologisierung werden in den letzten Jahren immer häufiger Thesen der Evolutionsbiologie verbreitet, denen zufolge sich am grundsätzlichen Partnerwahlprinzip »seit der Steinzeit« nichts geändert habe: Die Männer suchten immer nach der attraktivsten Partnerin, die Frauen immer nach dem besten Beschützer. Oder es wird behauptet, die Partnerwahl richte sich immer noch danach aus, welcher Partner den größten Fortpflanzungserfolg verspricht. Solche Aussagen sind allerdings wenig hilfreich. Sie sind empirisch nicht zu überprüfen und differenzierte Erklärungen von Paarbildungsprozessen sind damit nicht möglich. 16 Kernberg (1992: 804 f.); ähnlich auch das Konzept der Kollusion (Willi 1975, 1991). 17 Freud (1905/ 1972: 126). 18 Lemaire (1980: 43). 19 Lemaire (1980: 74 ff.). 6. Das konjugale Paar 178 Historische Veränderungen von Homogamie-Regeln Heiraten war immer schon ein Mittel der sozialen Schließung - und in einer durchlässigen Sozialstruktur auch ein Mittel des sozialen Aufstiegs, besonders für Frauen. »Die Heirat eröffnet den Frauen eindeutig bessere Aufstiegschancen als die eigene Erwerbstätigkeit.« 20 In einer Reihe amerikanischer Studien wurde herausgefunden, dass die Aufstiegschancen für Frauen durch Heirat sogar größer waren als jene für Männer durch die berufliche Karriere. 21 Das galt besonders deutlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gilt aber immer weniger, seit die Bildungsexpansion ihre Wirkungen zeigte. Die eminente Bedeutung von Bildung für Frauen wird an diesem Punkt deutlich: Ein höheres Bildungsniveau verbessert nicht nur die beruflichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sondern direkt und indirekt auch die Chancen auf dem Heiratsmarkt. 22 Welche Veränderungen der Regeln, nach denen sich Paare bilden, lassen sich in den letzten Jahrzehnten erkennen? Zunächst ist langfristig ein Abbau von ständischer und klassenspezifischer Endogamie zu konstatieren. Das heißt, die soziale Schließung nahm ab und die Heiratskreise erweiterten sich: Man heiratete immer häufiger außerhalb der eigenen Standes- und Klassengrenzen. Das müsste eigentlich zu einer zunehmenden individuellen Unabhängigkeit der Partnerwahl und daher im Ergebnis zu einer zunehmenden Heterogamie von Ehepartnern geführt haben. Doch empirisch zeigt sich eine Tendenz zur Homogamie, insbesondere hinsichtlich Bildung und Alter. Der Bildung kommt in zweifacher Hinsicht eine wachsende Bedeutung zu: Sie wird wichtiger als Auswahlkriterium, und die Paare tendieren stärker in Richtung Angleichung der Bildungsgrade. An die Stelle von religiöser und ethnischer Homogamie setzt sich eine Tendenz zur Bildungshomogamie. Das wurde in Langzeitstudien für die USA nachgewiesen. 23 Und auch für Europa und Deutschland ist dieser Trend deutlich: Im Verlauf der letzten Jahrzehnte wurde das Bildungssystem zu einem wichtigen Heiratsmarkt, und die Bildungshomogamie nahm zu. Darüber hinaus ist auch die Tendenz zu beobachten, dass innerhalb der Bildungselite die soziale Schließung wieder zunimmt. 24 Im Zuge der Globalisierung 20 Handl (1988: 119). 21 Portocarero (1985: 152 f.). 22 Handl (1988: 161). 23 Mare (1991), Kalmijn (1991). 24 Blossfeld/ Timm (2003). Außerdem zeichnet sich in den letzten Jahren eine leichte Tendenz ab, dass Abiturientinnen häufiger eine Beziehung mit einem Partner eingehen, der kein Abitur hat (BMFSFJ 2007). 6.2 Paarbildung (»Partnerwahl«) 179 kommt es zu einer Zunahme bikultureller Paarbeziehungen. Gerade bei diesen ist jedoch auch wichtig, dass sie sich nicht allzu sehr hinsichtlich ihres Bildungshintergrundes unterscheiden. Der Altersabstand von Mann und Frau in Paarbeziehungen schrumpft im historischen bzw. im Kohortenvergleich. 25 Die Paare wurden also in den letzten Jahrzehnten nicht nur bildungs-, sondern auch altersähnlicher. Ein hoher Altersabstand war wahrscheinlich in der Antike schon üblich. Der Mann war bei der Eheschließung häufig über 25, die Braut war oft kaum älter als 14. 26 Auch für das europäische Mittelalter darf von einem hohen Altersabstand ausgegangen werden. 27 Unsere historischen Kenntnisse über den Altersabstand von Ehepartnern in der europäischen Vormoderne sind durch die Forschungen der Historischen Demografie entscheidend verbessert worden; gleichwohl gibt es keine zuverlässigen Massendaten. Immerhin wissen wir aus vielen Gemeindefallstudien, dass die Altersabstände teilweise recht hoch waren. Aufgrund der unsicheren Lebenserwartung kam es außerdem häufig zu Wiederverheiratungen mit bedeutend jüngeren Partnerinnen. Und der bürgerliche Ehemann war oft, anders als es das Ideal der Liebesehe vermuten lässt, wesentlich älter als seine Frau. 28 Für die letzten 100 Jahre lässt sich eine Tendenz nachweisen, dass der Altersabstand zwischen Mann und Frau kleiner wird. So lag zum Beispiel am Ende des 19. Jahrhunderts das Durchschnittsalter der Bräute in den USA bei etwa 22 Jahren, das der Bräutigame bei etwa 26. Der Altersabstand betrug also durchschnittlich etwa vier Jahre. 80 Jahre später (1968) war das Heiratsalter der Frauen auf 20,8, das der Männer auf 23,2 gesunken, der durchschnittliche Altersabstand entsprechend auf etwa zweieinhalb Jahre gesunken. 29 Auch in Deutschland scheint der Altersabstand bei jungen Paaren in den letzten Jahrzehnten kleiner geworden zu sein bzw. der Anteil von Paaren, bei denen beide Partner etwa gleich alt sind, ist im Zeitverlauf größer geworden, während der Anteil von Paaren sank, bei denen der Mann deutlich älter ist. 30 Teilweise ist der Effekt der Verringerung des Altersabstandes aber gegenläufig kompensiert. Bei steigendem Heiratsalter steigt auch wieder der Altersabstand: Eine Analyse für das Jahr 1989 und die Bundesrepublik Deutschland erbrachte einen erstaunlich linearen Zusammenhang zwischen dem Heiratsalter und dem Altersabstand der Ehepartner. Bei einem Heiratsalter des Ehemannes von 22 Jah- 25 Frick/ Steinhöfel (1991). 26 Eyben (1985: 435 ff.). 27 Klapisch-Zuber (1989), Duby (1993). 28 Schmid-Bortenschlager (1992). 29 Burgess et al. (1971: 305). 30 Nach Daten des DJI-Familiensurvey (BMFSFJ 2007). 6. Das konjugale Paar 180 ren gab es keinen messbaren Altersabstand zur Frau. Beim Heiratsalter 28 lag der Altersabstand bereits bei zwei Jahren, beim Heiratsalter 33 bei vier Jahren, beim Heiratsalter 40 bei sechs Jahren, beim Heiratsalter 50 bei acht Jahren und schließlich betrug beim Heiratsalter 60 der Altersabstand 10 Jahre. 31 In den letzten Jahren ist das Erstheiratsalter in allen europäischen Ländern angestiegen, der durchschnittliche Altersabstand zwischen Männern und Frauen ist dabei etwas größer geworden. Zwischen 1995 und 2005 stieg er zum Beispiel in den Niederlanden von etwa 2,3 auf etwa 2,4 Jahre; oder in Schweden von 2,4 auf 2,5 Jahre. In osteuropäischen Ländern, wo das durchschnittliche Heiratsalter besonders stark angestiegen ist, stieg auch der durchschnittliche Altersabstand zwischen Männern und Frauen stärker an, zum Beispiel in Tschechien von 2,4 auf 2,8. 32 6.3 Nichteheliche Paarbeziehungen In den 1970er-Jahren gewannen die »nichtehelichen Lebensgemeinschaften« große Aufmerksamkeit in der Familienforschung. Anfangs ging es dabei vor allem um die Frage, ob diese Lebensform eher als Vorstufe zur Ehe (»Probe-Ehe«) oder eher als Alternative zur Ehe betrachtet werden konnte. Später interpretierte man das nichteheliche Zusammenleben stärker als Übergangsphase im Lebenslauf, als Aufschub der Familiengründung. 33 Eine weitere Frage bezog sich zunächst auf die Toleranz und Akzeptanz von »wilden Ehen«. Noch 1970 war es zum Beispiel schwierig, eine Wohnung zu mieten, wenn man nicht verheiratet war. Probleme dieser Art haben sich weitgehend erledigt. Nichteheliche Lebensgemeinschaften sind sozial akzeptiert, und es wäre aus Gründen der kulturellen Anerkennung heute nicht mehr notwendig zu heiraten. Unverheiratete Paare verursachen keine Aufregung mehr. Argumente, Ehepaare gegenüber nichtehelichen Paaren rechtlich zu bevorzugen, finden zunehmend weniger Verständnis. Als die ersten Veröffentlichungen zu dieser Thematik erschienen waren, hatte sich bald der Begriff nichteheliche Lebensgemeinschaft etabliert. Gelegentlich war, vor allem unter Juristen, noch der historische Begriff des Konkubinats (ursprüngliche Bedeutung: »uneheliches Zusammenliegen«) und des Konkubinatspaares zu 31 Mueller (1993). 32 Quelle: Eurostat-Daten. 33 Burkart (1997). 6.3 Nichteheliche Paarbeziehungen 181 hören. 34 In der Schweiz sprach man von Konsensualpaaren und manchmal auch von Nupturienten. Den Begriff der eheähnlichen Lebensgemeinschaft bevorzugten besonders jene Juristen, die eine rechtliche Gleichstellung mit der Ehe erreichen wollten. In der angelsächsischen Forschung ist, neben anderen Bezeichnungen wie consensual unions, der Begriff der cohabitation (nonmarital cohabitation; cohabitation without marriage) vorherrschend. Auch in Frankreich ist der Begriff cohabitation (hors mariage) zumindest unter Demografen verbreitet. In Deutschland ist es bisher nicht üblich, von Kohabitation zu sprechen, obwohl dieser Begriff mehrere Vorteile hätte: Er ist weniger wertbelastet als der Terminus »nichteheliche Lebensgemeinschaft«, bei dem abwertende (»nichtehelich«), aber auch ideologische Untertöne (»Lebensgemeinschaft«) mitschwingen - wie früher beim Konkubinat. Außerdem ist nicht immer klar, ob sich der Begriff nur auf zusammenlebende Paare bezieht oder auch auf getrennt lebende Paare. Anders als etwa die Bezeichnung »unverheiratet zusammenleben« unterstreicht Kohabitation den institutionellen Charakter dieser Lebensform. Allerdings gibt es auch hier Grenzen: Der Begriff existiert nicht in der Umgangssprache - und er hat wohl auch keine Chance, sich dort durchzusetzen. Es wäre zwar möglich, allerdings auch befremdlich, von kohabitierenden Paaren oder von Kohabitanden zu sprechen. Doch die Umgangssprache bietet uns keinen anderen Begriff an, zumindest keinen einfachen und eindeutigen. Man hat nur die Wahl zwischen den technischen Begriffen der Demografie und den alten Moralbegriffen, die immer nur eine Abweichung vom Normalfall der Ehe suggerieren: »Wilde Ehe« oder »Ehe ohne Trauschein«. Noch gibt es zum Beispiel keine sprachlich fixierte metaphorische Vorstellung davon, dass das nichteheliche Zusammenleben ebenso wie die Ehe eine biografische Endstation wäre: »Überträgt man die landläufige Redensart vom ›Hafen der Ehe‹ auf unser Thema, so bleibt zu fragen, gibt es auch einen Hafen der Nicht-Ehe oder bewegen wir uns noch auf dem stürmischen Meer? « 35 In den meisten Ländern der westlichen Welt lässt sich seit den 1970er-Jahren eine rapide Zunahme der Zahl unverheiratet zusammenlebender Paare feststellen. Auch wenn das genaue Ausmaß in vielen dieser Länder mangels zuverlässiger statistischer Daten nicht bekannt ist, zeigt sich doch überall eine steigende Tendenz, und zunehmend gibt es auch nichteheliche Paare mit Kindern. Immer noch relativ 34 Weimar (1985). 35 Schott (1985: 14). In einem 1957 erschienenen Buch bezog sich der Titel »Die Unverheirateten« noch mit größter Selbstverständlichkeit auf jene Problemgruppen, die nicht nur ledig, sondern auch partnerlos geblieben waren und allein lebten: Alte Jungfern und Junggesellen, Enttäuschte und Hängengebliebene (Stern 1957). 6. Das konjugale Paar 182 selten ist die Kohabitation in Irland, England, Belgien und den südeuropäischen Ländern. Im Lauf der 1980er-Jahre vollzog sich ein struktureller Wandel: Einerseits stieg die Zahl jüngerer Paare, die unverheiratet zusammenlebten, weiterhin an. Andererseits konnte ein wachsender Anteil von Geschiedenen registriert werden, die öfter als früher das Zusammenleben ohne Trauschein einer schnellen Zweitehe vorzogen, selbst in den Vereinigten Staaten mit ihrer Tradition der hohen Scheidungs- und Wiederverheiratungsquoten. 36 Besonders deutlich war dieser Trend zur »postmaritalen Kohabitation« in Schweden zu beobachten. 37 Das Zusammenleben bekam allmählich den Status einer Alternative zur Zweitehe beziehungsweise wie manche argumentierten: einer Alternative zum Alleinleben. 38 Deshalb ist es sinnvoll, zwischen lebensphasenspezifischen Varianten der Kohabitation zu differenzieren. Drei Grundtypen lassen sich unterscheiden: erstens das voreheliche jüngere Paar, das so verbreitet ist, weil die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach dem Auszug aus dem Elternhaus nicht gleich eine Ehe eingehen oder eine Familie gründen. Kohabitation ist hier Übergangsphase zwischen dem Auszug aus dem Elternhaus und der eigenen Familiengründung. Zweitens das Paar im mittleren Alter, dessen Partner jeweils eine erste Ehe hinter sich haben: Kohabitation ist hier eine Übergangsphase nach der Ehe und eine Alternative zur Zweitehe oder zum Alleinleben. Schließlich gibt es auch die Kohabitation als Lebensphase nach der Verwitwung, nach dem Tod des Partners. Überhaupt ist die Kohabitation in erster Linie ein biografisches Übergangsphänomen, ein temporärer Status, den immer mehr Paare irgendwann einmal durchlaufen. Der Anteil der nichtehelichen Lebensgemeinschaften an allen Paarbeziehungen zu einem bestimmten Zeitpunkt ist daher weitaus geringer als der Anteil jener Paare, die irgendwann einmal für mehr oder weniger lange Zeit in dieser Lebensform waren. 39 Allerdings lassen sich diese verschiedenen Typen der Kohabitation aus den statistischen Daten nur in grober Annäherung ablesen. Bei den Mikrozensusdaten von 1992 für Deutschland ergab sich ein Anteil von 57 Prozent für Paare mit zwei ledigen Partnern; von 19 Prozent mit einem schon einmal verheirateten Partner; 36 Bumpass/ Sweet (1989: 619). 37 Blanc (1987: 395). 38 Rindfuss/ vandenHeuvel (1990). 39 Ein Beispiel: Während von den 30-34jährigen befragten US-Amerikanern fast die Hälfte irgendwann einmal schon unverheiratet mit einem Partner zusammengelebt hatte, waren es zum Erhebungszeitpunkt nur sechs Prozent gewesen (Bumpass/ Sweet 1989: 618). 6.3 Nichteheliche Paarbeziehungen 183 und von 24 Prozent für Paare, bei denen beide Partner vorher verheiratet waren. 40 Kombiniert man den Familienstand mit dem Alter, zeigt sich, dass die größte Gruppe (mehr als die Hälfte) jene Paare waren, bei denen beide Partner noch ledig waren - bis zum Alter von 35 Jahren war das der Normalfall. Das typische Paar der zweiten Gruppe (etwa ein Drittel) waren 35-55jährige Partner, bei denen wenigstens einer, häufig aber auch beide, schon einmal vorher verheiratet waren. Die dritte Gruppe schließlich waren ältere Paare (über 55), in der Regel ebenfalls beide schon einmal verheiratet. 41 Auch Milieu-Unterschiede sind zu beachten: In einer Studie, die wir Ende der 1980er-Jahre durchführten, fanden wir deutliche Unterschiede sowohl im Vorkommen als auch in der Bedeutung (Alternative zur Ehe oder Vorstufe zur Ehe) zwischen dem individualisierten und dem akademischen Milieu auf der einen, dem ländlichen und dem Arbeiter-Milieu auf der anderen Seite. 42 So fanden wir zum Beispiel in dem Dorf, das in der Studie das ländliche Milieu repräsentierte, kein unverheiratetes Paar bei den Altersgruppen ab 30 Jahren. Die Kohabitation hat also mehrere Bedeutungen und zahlreiche Formen: Es gibt verhinderte Ehepaare (aufgrund äußerer Heiratshindernisse); ehemals Verheiratete (Geschiedene, »gebrannte Kinder«), für die das Zusammenleben manchmal eine biografische Zwischenphase darstellt; »freie Ehen« in klassischer Form, also eheähnlich zusammenlebende Paare, die bewusst auf Legalisierung verzichten; freie Partnerschaften, die versuchen, eheähnliche Strukturbildungen zu vermeiden; unverheiratete Paare, für die das Zusammenleben eine Versuchsehe, eine Vorstufe zur Ehe oder eine neue Art der Verlobungszeit darstellt. Es gibt Ehe-»Tester« und Ehe- Gegner. Kohabitation kann ein Moratorium sein (warten, bis man »reif« ist) oder einfach eine selbst auferlegte Warteposition, bis man das Geld zusammen hat (wie im 19. Jahrhundert der ökonomischen Heiratsbeschränkungen), bis man den richtigen Partner gefunden hat oder man wieder bereit zu einer zweiten Ehe ist. Es gibt die Kohabitation in allen Lebensphasen und in jeder hat sie eine andere Bedeutung. 43 Die wichtigste Bedeutung der Kohabitation ist, dass sie eine Möglichkeit darstellt, das Elternhaus zu verlassen ohne deswegen gleich heiraten oder alleine leben zu müssen. In dieser Bedeutungsvariante hat sich das nichteheliche Zusammenleben universell durchgesetzt und stellt eine neue Lebensphase zwischen dem Verlassen des Elternhauses und der Gründung eines eigenen Familienhaushalts dar. 40 Niemeyer (1994: 512). 41 Niemeyer (1994: 513). 42 Burkart et al. (1989). 43 Als voreheliche Lebensphase ist die Kohabitation gut erforscht, für spätere Lebensphasen gilt das nicht in gleichem Maße (Matthias-Bleck 2006). 6. Das konjugale Paar 184 Gleichgeschlechtliche Paarbeziehungen Vor nicht allzu langer Zeit war Homosexualität in Deutschland noch ein Straftatbestand. Der berüchtigte Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs wurde erst 1994 abgeschafft. 44 Seither hat sich die Lage von Homosexuellen deutlich verbessert. Seit 2001 haben homosexuelle Paare die Möglichkeit, sich als Lebenspartnerschaft eintragen zu lassen. Die beiden Partner haben dadurch ähnliche gegenseitige Rechte und Pflichten wie Eheleute. Zumindest im politisch-korrekten öffentlichen Diskurs ist die Toleranz gegenüber »Schwulen und Lesben« deutlich gestiegen, wie auch die Verwendung dieser früher diskriminierenden Bezeichnungen in Kommentaren von Politikern zeigt. 45 Allerdings kann man nicht davon ausgehen, dass in der Alltagskultur keinerlei Diskriminierung mehr vorkäme. Es ist nach wie vor schwer, die Verbreitung von Homosexualität und von homosexuellen Paarbeziehungen exakt zu bestimmen. Immerhin gibt es seit 1996 im deutschen Mikrozensus die Möglichkeit, die Lebenspartnerschaft zu erfragen, auch unabhängig vom Geschlecht. Allerdings ist diese Zählmethode nicht besonders sicher. Das Statistische Bundesamt hat deshalb Schätzmethoden entwickelt. Die Zahlen sind seit 1996 deutlich gestiegen, für 2004 lagen sie zwischen 56.000 und 160.000. 46 Das heißt, etwa 56.000 Personen gleichen Geschlechts, die in einem Haushalt zusammenwohnen, haben angegeben, dass der andere Bewohner ihr Lebenspartner sei. Die Zahl 160.000 ist insofern eine Obergrenze, als hier auch solche »Paare« gezählt wurden, die ohne tatsächliche Partnerschaft in einem Haushalt zusammenleben: also etwa eine Wohngemeinschaft von zwei Personen gleichen Geschlechts, die keine Beziehung miteinander haben. Andere Schätzungen gehen von etwa fünf Prozent homosexuell aktiver Personen in Deutschland aus. Das würde bedeuten, dass es etwa »eine Million schwuler Männer und etwa eine halbe Million lesbischer Frauen« im Alter von 18 bis unter 60 Jahren gibt. Die geschätzten Zahlen homosexueller Paare schwanken erheblich von den schon genannten 56.000 bis zu 2,5 Millionen. 47 Die meisten von ihnen leben nicht in 44 Als strafbare Handlung galt bis dahin, wenn ein erwachsener Mann mit einem Jugendlichen (unter 18 Jahren) sexuellen Kontakt hatte. Sexueller Missbrauch gegenüber Jugendlichen beiderlei Geschlechts unter 16 Jahren ist jedoch weiterhin strafbar. 45 Interessanterweise tauchen diese Bezeichnungen jedoch in den großen klassischen Standardlexika nicht als eigenständige Stichworte auf (Brockhaus - Die Enzyklopädie, 20. Auflage, 2000; Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden, 10. Auflage, 2006). 46 Statistisches Bundesamt (2005a: 21). 47 Matthias-Bleck (2006: 242 f.). 6.3 Nichteheliche Paarbeziehungen 185 einem gemeinsamen Haushalt, was die Zählproblematik verstärkt. Homosexuell orientierte Menschen können durchschnittlich eine höhere Bildung vorweisen. 48 6.4 Heirat, Scheidung, Wiederverheiratung Wie bereits im ersten Kapitel dargelegt, entstand in den 1970er-Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend der Eindruck, Heiraten komme ganz aus der Mode. Tatsächlich gingen die Eheschließungszahlen drastisch zurück. Allerdings wurde später deutlich, dass dieser Trend überschätzt worden war, denn es handelte sich damals vor allem um den Beginn einer Bewegung hin zur biografisch späteren Heirat. Seit Mitte der 80er-Jahre schien es wieder zunehmend üblich zu heiraten. Doch auch hier waren die Meldungen trügerisch. Das Auf und Ab der jährlichen Heiratsquoten verbirgt die Veränderungen des Heiratsalters und damit der lebensphasenspezifischen Bedeutung der Ehe. Mit dem scheinbaren Aufschwung Mitte der 80er-Jahre, zum Teil getragen durch ein Nachholen bisher aufgeschobener Ehen, wurde aber immerhin deutlich, dass sich die Symbolik der Heirat wieder etwas erholt hatte. Die Hochzeitsrituale sind nicht ausgestorben. Man könnte auch sagen, dass zwar weniger geheiratet wird, aber wenn, dann mit einem größeren Aufwand (großes Fest, Zeremonien, höhere Kosten) als früher. Das aber hängt - abgesehen von der allgemeinen Wohlstandssteigerung - auch damit zusammen, dass immer mehr Ehen in einem höheren, ökonomisch besser gestellten Lebensalter geschlossen werden. Außerdem steigt der Anteil von Zweit- und Drittehen mit fortschreitendem Alter. Man heiratet später und lässt sich häufiger wieder scheiden, bevor das natürliche Ende der Ehe erreicht ist: So könnte man meinen, dass die in einer Ehe verbrachte Lebenszeit kürzer wird. Doch die durchschnittliche Ehedauer ist heute, trotz späterer Eheschließung und höherer Scheidungsraten, länger als jemals zuvor in der Geschichte. 49 Der Grund dafür ist die hohe durchschnittliche Lebenserwartung und die hohe Erwartungssicherheit, dieses Alter auch zu erreichen. Viele Ehepaare erreichen heute ihre »Goldene Hochzeit«, also 50 stabile Ehejahre. »Noch nie haben so viele Ehepaare ihre Goldene, Eiserne usw. Hochzeit gefeiert wie heute«. 50 48 Matthias-Bleck (2006: 247). 49 Zur Erinnerung: Die durchschnittliche Ehedauer lag im Jahr 2004 mit 26,8 Jahren um 2,9 Jahre höher als 1991 (Statistisches Bundesamt 2005a: 18). 50 Nave-Herz (2004: 70). 6. Das konjugale Paar 186 Der Anteil solcher langjähriger Ehen (50 Jahre) an allen Ehen ist allerdings noch sehr gering. Er stieg von 0,4 Prozent auf ein Prozent zwischen 1991 und 2004. 51 Tatsächlich ist die Erhöhung der durchschnittlichen Ehedauer ausschließlich zurückzuführen auf die Ehen im Seniorenalter. Dagegen sank die durchschnittliche Ehedauer bei den mittleren Altersgruppen. 52 In dieser Perspektive wäre die Vermutung, dass die in einer Ehe verbrachte Lebenszeit kürzer wird, also nicht ganz falsch. Die lange Ehedauer im Alter bedeutet aber auch, dass normalerweise nach der Zeit des kernfamilialen Zusammenlebens - also der Jahre, in denen die Kinder groß werden, bis sie schließlich das Elternhaus verlassen - noch einmal eine längere Phase des Zusammenlebens folgt (»Empty-Nest«-Phase). Heute bildet diese nachelterliche Phase mit durchschnittlich etwa 30 bis 35 Jahren die längste Phase im Lebenslauf der Individuen. Nicht für alle hat sich die Ehe von einer Lebensform in eine Lebensphase verwandelt. Für manche ist sie in ihrer Biografie tatsächlich verschwunden: Während die jährlichen Heiratszahlen auf der einen Seite dadurch ansteigen (oder wenigstens nicht weiter absinken), dass immer mehr Personen mehr als einmal im Leben heiraten, steigt auf der anderen Seite der Anteil der Personen, die überhaupt nicht mehr heiraten. Was also oben über den Aufschub der Eheschließung gesagt wurde, ist nicht die ganze Wahrheit. Schon ab den Geburtsjahrgängen 1936 (bei den Männern) beziehungsweise 1942 (bei den Frauen) wurde nicht nur biografisch später geheiratet, sondern es blieben auch mehr Menschen dauerhaft ledig. Während von den Geburtsjahrgängen 1930 nur etwa fünf Prozent der Frauen in Westdeutschland ledig blieben, stieg dieser Anteil beim Geburtsjahrgang 1950 auf knapp zwölf, beim Jahrgang 1955 auf etwa 15 und beim Geburtsjahrgang 1960 auf knapp 20 Prozent. Bei den Männern sind die entsprechenden Anteile noch höher, der Geburtsjahrgang 1960 kommt der 30-Prozent-Marke nahe. 53 Allerdings können die Anteile für die jüngeren Kohorten noch nicht als »dauerhaft ledig« interpretiert werden, da immer mehr Menschen nach dem 40. Lebensjahr zum ersten Mal heiraten. Im Jahr 2000 lagen die Anteile der Ledigen in der Altersgruppe 45-49 bei den Männern bei knapp 15 Prozent, bei den Frauen noch deutlich unter zehn Prozent. Je höher der Bildungsgrad, desto höher ist die Ledigenquote in dieser Altersgruppe. 54 Im historischen Vergleich ist der Anteil Lediger dennoch nicht außerordentlich hoch. Der Unterschied zu früher besteht eher darin: Wer nicht heiratet, tut dies heute meist freiwillig. Heiratsverbote gibt es nur noch wenige, auch ökonomisch- 51 Statistisches Bundesamt (2005a: 18). 52 Statistisches Bundesamt (2005a: 18). 53 Engstler/ Menning (2003: 68), Lüscher/ Liegle (2003: 80 f.). 54 Engstler/ Menning (2003: 67 ff.). 6.4 Heirat, Scheidung, Wiederverheiratung 187 soziale Heiratshindernisse sind eher zu vernachlässigen. Teilweise finden wir also eine Ablehnung der Ehe. Aber mehr noch lässt sich die Tendenz zum Rückgang der Heiratsquoten als Indifferenz betrachten: Die Frage, ob man heiratet oder nicht, hat eine geringere Bedeutung. Man kann auch vom »Plausibilitätsverlust der Ehe als Institution« sprechen. Diese Tendenz zur symbolischen Indifferenz gegenüber der Ehe wird dadurch verstärkt, dass sich Kohabitation und Ehe strukturell immer mehr angeglichen haben. Das kommt der Rational-Choice-Theorie entgegen: Wenn die Frage ihre symbolische Bedeutung verloren hat, dann ist es naheliegend, dass »Vor- und Nachteile«, ja sogar »Kosten und Nutzen« gegeneinander abgewogen werden. Die Entscheidung für oder gegen die Ehe kann dann ganz praktisch begründet werden. Sobald die Eheschließung Vorteile bringt, spricht nichts mehr dagegen, zu heiraten. Angeblich hat das bereits Charles Darwin so gehalten. Als für ihn die Frage der Eheschließung anstand, soll er die Vor- und Nachteile des Heiratens in einer Kosten-Nutzen-Analyse abgewogen haben. 55 Neben Eheverzicht und Indifferenz gibt es aber auch Milieus, in denen die Ehe noch selbstverständlich ist: Vom ländlichen und Arbeiter-Milieu war in diesem Zusammenhang schon die Rede. Eine Studie über junge Frauen im Arbeitermilieu kommt zu ähnlichen Ergebnissen. 56 Scheidung und Trennung Trennungen und Scheidungen scheinen kontinuierlich zuzunehmen. Die allgemeinen Tendenzen dieses Anstiegs wurden bereits im ersten Kapitel kurz dargestellt. Der Anstieg der Scheidungsraten seit den 1970er-Jahren hat sich so stark im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass häufig überhöhte Raten genannt werden. Das hängt auch damit zusammen, dass das Ausmaß der Scheidungshäufigkeit nicht ganz leicht zu berechnen ist. Wenn Ehen geschieden werden, dann passiert das immer noch nach relativ kurzer Ehedauer: Die meisten Ehescheidungen gibt es nach vier bis sechs Ehejahren. Zwischen 1970 und 2000 fielen die Anteile von Geschiedenen mit minderjährigen Kindern, und die durchschnittliche Ehedauer bei der Scheidung stieg an. 57 Das bedeutet, dass Scheidungen auch nach längerer Ehe häufiger werden - dass man 55 »In order to help him resolve the question of whether to marry, Darwin decided to set out a balance sheet of the advantages and disadvantages. In pencil on a blue sheet he drew up a cost-benefit analysis« (Macfarlane 1986: 3). 56 Hopf/ Hartwig (2001). 57 Engstler/ Menning (2003: 81). 6. Das konjugale Paar 188 also im Sinne der »Lebensabschnittspartner«-Idee nach einer beispielsweise zehnjährigen und durchaus guten Ehe sich dann doch allmählich auseinanderlebt und noch einmal etwas Neues beginnen möchte. Bis in die 1970er-Jahre war in den meisten westlichen Ländern das Scheidungsrecht vom Schuldprinzip beherrscht, als Scheidungsgrund diente ein schuldhaftes Verhalten des anderen, häufig Ehebruch, d. h. Untreue. Früher, in den Zeiten der Versorgungsehe, waren auch zahlreiche andere Verfehlungen in Frage gekommen: Trunksucht, Geschwätzigkeit, Faulheit, Arbeitsunfähigkeit und sehr lange auch Geisteskrankheit. Als die Versorgungsehe allmählich von der Liebesehe abgelöst wurde, blieb zwar das Schuldprinzip noch lange Zeit in Kraft, aber es gab zwei wichtige Veränderungen: Zum einen konnte allmählich auch der Mann zum Schuldigen erklärt werden (dagegen hatten es früher Frauen schwer, eine Scheidung auf ihre Initiative hin und gegen den Willen des Mannes durchzubekommen). Zum anderen wurden Lieblosigkeit und Untreue allmählich zu den einzigen anerkennenswerten Scheidungsgründen. Mit der Partnerschaftsehe setzte sich im Scheidungsrecht das Zerrüttungsprinzip durch. Die Trennung wurde als Konsequenz des Scheiterns einer Ehe angesehen. Heute sind in den meisten Ländern der westlichen Welt Ehe und Scheidung so weit privatisiert, dass auch der Staat kaum noch eingreift und es den betroffenen Ehepartnern überlässt, ob sie zusammenbleiben wollen oder nicht. Sie müssen weder der Kirche noch dem Staat dafür besondere Gründe nennen. Es genügt im Prinzip die Absichtserklärung. Annulierung von Ehen Ehen können auf dreierlei Weise enden: durch den Tod eines Partners, durch Scheidung und schließlich auch durch »Eheaufhebung«, bei der, im Unterschied zur Scheidung, die Ehe nicht aufgelöst, sondern nachträglich für ungültig erklärt wird. Das deutsche Recht kennt vier Gründe für eine Aufhebung der Ehe: Irrtum über die Eheschließung oder über die Person des anderen Ehegatten; Irrtum über die persönlichen Eigenschaften des anderen Ehegatten; arglistige Täuschung über wesentliche Umstände bei Eingehung der Ehe; widerrechtliche Eheschließung durch Drohung. 58 Bemerkenswert ist, dass zum Beispiel die Vortäuschung von Reichtümern oder einer beruflichen Spitzenstellung, mit der ein Partner in die Ehe gelockt wird, diesem nicht das Recht gibt, die Ehe aufheben zu lassen. Schwerwiegender - und damit in der Regel ein erfolgversprechender Eheanfechtungsgrund - ist das Verschweigen folgender Eigenschaften oder Umstände: 58 Seidl (1993: 4 f.). Dort auch die folgenden Beispiele. 6.4 Heirat, Scheidung, Wiederverheiratung 189 Transsexualität, ansteckende Geschlechtskrankheiten, erhebliche unheilbare geistige und körperliche Krankheiten, voreheliche Kinder oder auch eine voreheliche Schwangerschaft. Auch voreheliche schwere Straftaten müssen gebeichtet werden, will man sich nicht der Gefahr eines Eheaufhebungsantrags durch den Partner aussetzen. Selbst Unfruchtbarkeit kann unter Umständen immer noch zur Eheaufhebung führen - etwa, wenn sich herausstellt, dass ein Ehemann schon vor der Eheschließung zeugungsunfähig war und es für immer bleiben wird, die Ehefrau aber Kinder haben möchte. Wiederverheiratung, Zweit- oder Drittehe Mit einer anhaltend hohen Scheidungsquote steigt auf dem Heiratsmarkt die Zahl von Geschiedenen. Zwar ist, wie schon ausgeführt, die Berechnung von Wiederverheiratungsquoten nicht einfach, aber es lässt sich zumindest leicht feststellen, wie sich bei den Eheschließungen die Anteile von Ledigen und Geschiedenen verändern, und wie sich bei Zweit- oder Drittehen die Anteile von Geschiedenen und Verwitweten ändern. Eindeutig ist, dass Zweitehen früher sehr viel häufiger die Folge einer Verwitwung waren, während sie heute überwiegend die Folge von Scheidungen sind. Zwischen 1960 und 2000 fiel der Anteil von Eheschließenden in Westdeutschland, bei denen beide Partner ledig waren, von über 80 Prozent auf unter zwei Drittel. 59 Nach Schätzungen des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung sinkt die Neigung zur Wiederverheiratung; das heißt, Geschiedene bleiben häufiger ledig. Die geschätzte Wiederverheiratungsquote sank in Westdeutschland von etwa 70 Prozent für beide Geschlechter im Jahr 1980 auf etwa 55 Prozent bei den Männern und etwa 60 Prozent bei den Frauen im Jahr 2000. In Ostdeutschland lagen die entsprechenden Werte noch darunter. 60 6.5 Sexualität, Liebe und Partnerschaft Paarbeziehungen beginnen häufig mit einer sexuellen Begegnung. Sie werden meist als Liebesbeziehung verstanden: Sie sind Intimbeziehungen. Das Prinzip der Partnerschaftlichkeit steht heute in einer gewissen Konkurrenz zum Ideal der romantischen Liebe. 59 Engstler/ Menning (2003: 65). 60 Engstler/ Menning (2003: 69). 6. Das konjugale Paar 190 Sexualität Sexualität wird vielfach als ein biologischer Sachverhalt betrachtet, der nicht zum Gegenstandsbereich der Soziologie gehört. Dies ist schon im Grundsatz fragwürdig, und erst recht in der neueren Zeit: Denn Sexualität wurde in der Spätmoderne immer mehr zu einer kulturell geprägten sozialen Praxis und gewann an Bedeutung für die Identität des Individuums. 61 Die sexuelle Erfüllung ist für die Zufriedenheit in der Ehe wichtiger geworden. Die Sexualität wurde stärker zu einer in Paarbeziehungen reflektierten und ausgehandelten Praxis, und das hat auch Tendenzen gefördert, sie von ihrer engen Verbindung zu den Geschlechtsrollen zu lösen. Dies wiederum führte dazu, dass homosexuelle Paarbeziehungen den Anforderungen nach Egalität und Partnerschaftlichkeit unter Umständen stärker entsprechen als heterosexuelle Paarbeziehungen. 62 In Bezug auf die Geschlechtsrollen könnte man eine Angleichung von heterosexuellen und homosexuellen Paarbeziehungen in dem Sinn vermuten, dass die klassische Arbeitsteilung in beiden Beziehungstypen immer weniger als Norm gilt. Seit den 1990er-Jahren wurde eine Aufweichung sexueller Normen festgestellt. Öffentliche Enthüllungen sexueller Praktiken, die früher als Abweichungen galten, nahmen zu - zumindest in bestimmten Fernsehsendungen, in denen scheinbar tabufrei schamlose Bekenntnisse über sexuelle Praktiken jenseits bisher gültiger Standards feilgeboten wurden. Gleichzeitig häuften sich in den 1990er-Jahren Berichte aus der Sexualberatung und -therapie über sexuelle Langeweile und Lustlosigkeit in Beziehungen. 63 Besonders Frauen, die sich früher eher über einen »Mangel an funktionaler sexueller Kompetenz« sorgten (damit waren Orgasmusprobleme gemeint), klagten jetzt über fehlendes sexuelles Begehren, über Unlust zum und Lustlosigkeit beim Geschlechtsverkehr. 64 Vom »Verschwinden der Sexualmoral« war deshalb die Rede. Alles ist möglich - allerdings nur, wenn es vorher ausgehandelt wurde. Sexualforscher sprechen daher auch von einer Verhandlungs- oder Konsensmoral. 65 61 Schelsky (1955), Giddens (1993), Lautmann (2002). 62 Giddens (1993), Maier (2007), Matthias-Bleck. 63 Schmidt (1996: 17 ff.). 64 Schmidt (1993: 7). 65 Lautmann (1994), Schmidt (1996), Sigusch (1996). 6.5 Sexualität, Liebe und Partnerschaft 191 Liebe und Partnerschaftlichkeit Wie im historischen Kapitel ausgeführt, hat sich in der modernen, bürgerlichen Ehe die Vorstellung durchgesetzt, dass sie auf Liebe gegründet sein sollte. Gemeint ist dabei die romantische Liebe. Daneben lassen sich auch andere Formen von Liebe unterscheiden, etwa die platonische, die christliche, die mystische, die leidenschaftliche oder die vernünftige Liebe. 66 Zu den wesentlichen Elemente der romantischen Liebe gehört, dass sie eine Synthese von Sinnen- und Seelenliebe anstrebt, eine Einheit von sexueller Leidenschaft und affektiver Zuneigung - aber auch, dass sie auf die Ehe bezogen ist. 67 Das Problem der Liebesehe ist jedoch, dass sie keine Dauerhaftigkeit garantieren kann, und auch, dass sie für die Organisation des Alltags von Paarbeziehungen wenig geeignet erscheint. Als eine mögliche Lösung dieses Problems wurde - schon im 19. Jahrhundert - das Prinzip der Partnerschaftlichkeit (oder einfach Partnerschaft) 68 entwickelt. Inzwischen glauben einige Autoren, dass das Partnerschaftskonzept die romantische Liebe als Leitkonzept entweder ganz abgelöst habe oder dass die romantische Liebe im Lauf der Zeit in partnerschaftliche Liebe übergehe. 69 Das Partnerschaftskonzept ist ein anspruchsvolles Konzept, denn es verlangt von den Partnern eine Reihe von kommunikativen Kompetenzen wie Authentizität, Aufrichtigkeit oder Offenheit. Partnerschaft bedeutet, im Unterschied zur »sprachlosen« Liebe, dass man bereit ist, über alles miteinander zu reden; dass man sich gegenseitig sagt, was man vom anderen wünscht und was einen stört. Auch die Ratgeberliteratur verfolgt den Partnerschaftsgedanken. Sie stellt Regeln auf wie: Zuhören statt Recht haben wollen; Offenheit statt Rückzug; Raum für eigene Entfaltung lassen; Verantwortung für die Beziehung übernehmen; nicht immer den Partner ändern wollen und so weiter. Dabei wird suggeriert: Hält man sich an diese Regeln, führt Partnerschaft zum Glück. Voraussetzung ist, dass sich in der Partnerschaft zwei vernünftige, reflektierte Subjekte über alle wesentlichen Dinge verständigen. Mit dem Prinzip der Partnerschaftlichkeit treten allerdings auch eine Reihe von Problemen auf. So eignet es sich kaum für den Beginn einer Beziehung, und seine Grenzen für die praktische Alltagsgestaltung von Paarbeziehung ergeben sich vor allem aus den starken Gerechtigkeits- und Rationalitätsidealen des Modells, die 66 Burkart (1998). 67 Lenz (1998). 68 Partnerschaft meint hier und im Folgenden also nicht - wie vielfach üblich - die Paarbeziehung, sondern ein Muster ihrer Gestaltung. 69 Leupold (1983), Giddens (1993). 6. Das konjugale Paar 192 mit Liebe kaum zu vereinbaren sind. Partnerschaftlichkeit wird dort problematisch, wo sie zu rationalistisch verstanden wird, etwa im Anspruch an eine strikt egalitäre Arbeitsteilung oder eine genaue wechselseitige Begründung von häuslichen Routinen. 70 Treue und Untreue Zu den wichtigen Ansprüchen an eine gute Beziehung gehört auch die Vorstellung von Treue. Untreue ist jedenfalls in der Regel ein schwerwiegendes Problem für jede Beziehung. Treue im Allgemeinen lässt sich wie folgt definieren: 71 Sie ist eine aus besonderer Wertschätzung, Achtung und Vertrauen, letztlich aus Liebe erwachsene Folge- und Hilfsbereitschaft (»Loyalität«) gegenüber einer Person; eine Bereitschaft zur Unterstützung in jeglicher Hinsicht, auch wenn dies »unvernünftig« wäre, und zur Akzeptanz auch unmoralischer Eigenschaften und Handlungen. Weil nicht Macht oder Vertrag, sondern Liebe die Quelle der Treue ist, kann diese »bedingungslos«, »blind« und »irrational« sein - eine Solidarität, die unabhängig vom Tauschwert ist: Man kann Treue nicht oder jedenfalls nur schwer einklagen im Austausch gegen Versorgungsleistungen oder gar Geld. Das gilt zunächst einmal für persönliche Beziehungen im Allgemeinen, zum Beispiel auch für Mutter-Kind-Beziehungen. Für Paarbeziehungen folgt daraus die Exklusivität der Person: Sie allein hat privilegierten und ausschließlichen Anspruch auf Treue. Der Partner ist zu Recht derjenige, den man allen anderen vorzieht; derjenige, mit dem man bestimmte Erlebensbereiche ausschließlich teilt. Die Exklusivität hat zwei Dimensionen: Sexuelle Treue und umfassende persönliche Loyalität. Treue ist zwar stets mit dem sexuellen Erleben verknüpft, reicht jedoch darüber hinaus: Es wäre für den Partner unerträglich, dass man über längere Zeit hinweg zwar sexuell treu, jedoch in anderen Beziehungsbereichen (etwa Abends ausgehen, Alltagssorgen besprechen, die Wohnungseinrichtung umgestalten, den Kindergarten aussuchen) an anderen orientiert wäre. Es geht hinsichtlich der umfassenden Dimension von Treue (der symbolischen Ebene), die auf »Liebe« verweist, nicht nur um Ausschließlichkeit (wie bei der Sexualität), sondern um Bevorzugung, Vorrechte und Prioritäten, die der Partner, dem man treu ist, beanspruchen kann. Von »Untreue« wird in der Regel jedoch nur gesprochen, wenn es um das Sexuelle geht. Treue zielt schließlich auch auf Beständigkeit und Kontinui- 70 Dazu und zum Verhältnis Liebe/ Partnerschaft ausführlicher siehe Koppetsch/ Burkart (1999) und Burkart/ Koppetsch (2001). 71 Ausführlicher hierzu Burkart (1997: 191 ff.). 6.5 Sexualität, Liebe und Partnerschaft 193 tät. Sie enthält einen Anspruch auf Dauerhaftigkeit und Zeitlosigkeit, ist also grundsätzlich unbefristet: »Ewige Treue«. Treue bedeutet also erstens Folge- und Hilfsbereitschaft, zweitens hat sie Ausschließlichkeitscharakter und drittens ist sie auf Dauer angelegt. Sie verlangt vom anderen: »Du sollst in allen Lebenslagen zu mir stehen und zu mir halten«, »Du sollst keinen anderen außer mir haben« und »Du sollst mich ewig lieben«. Das ist der Kern der Definition und in diesem Sinn ist Treue ein institutionalisierter Anspruch an den Partner in jeder Paarbeziehung (auch wenn empirisch manches davon so strikt nicht haltbar ist). Der Anspruch auf Treue muss deshalb nicht eigens begründet werden, sie kann vom Partner erwartet werden. Die Bereitschaft zur Treue ist in der Regel verinnerlicht: Man will treu sein und benötigt keine ausgesprochene Sanktionsdrohung. Untreue ist Vertrauensbruch und moralisch verwerflich. Treue kann aber auch utilitaristisch verstanden werden, besonders im Zusammenhang mit dem Modell der Partnerschaftlichkeit. Das heißt, sie wird im Interesse der Aufrechterhaltung einer Beziehung, aufgrund der mit Untreue verbundenen Probleme oder aus anderen »vernünftigen« Gründen vereinbart. Untreue wäre dann nicht Vertrauensbruch in einem moralischen Sinn, sondern Vertragsbruch. Sie ist nicht unmoralisch, man anerkennt ein Bedürfnis danach als menschlich, es muss aber kontrolliert werden, im Interesse der Partnerschaft. Welchen Wandlungen waren die Vorstellungen und Praktiken von Treue und Untreue seit den Umwälzungen der 60er-Jahre unterworfen? Es ist nicht leicht, eindeutige Daten zur Beantwortung dieser Frage zu finden. Bei oberflächlicher Betrachtung hat die »sexuelle Revolution« zu einem deutlichen Rückgang der Treue-Ansprüche geführt. Es scheint, dass im Gefolge der »sexuellen Revolution« zunächst eine Bedeutungsverschiebung eingesetzt hat: von der Treue aus moralischen Gründen zur Treue aus Vernunft. Allerdings gab es auch gegenläufige Tendenz der Remoralisierung und Romantisierung. Auf die erste Welle sexueller Liberalisierung folgte eine konservative Renaissance, in den USA bereits Mitte der 70er-Jahre. Ihre Vertreter beklagten einen Verlust an commitment, einen Anstieg von Egoismus und Narzissmus. 72 Teilweise wurde der ehrwürdige Treue-Anspruch wiederbelebt. In einer Mehrfach-Wiederholungs- Studie über die Sexualität von College-Studenten war zwischen 1965 und 1975 ein steter Rückgang der moralischen Verurteilung von Promiskuität festzustellen. In den 80er-Jahren jedoch gab es einen deutlichen Anstieg dieser moralischen Kritik, obwohl das sexuelle Verhalten (voreheliche Petting- und Koitushäufigkeit) noch freizügiger geworden war. 73 Vielfach wurde das Aufkommen von AIDS für die 72 Lasch (1980), Bellah et al. (1985). 73 Robinson/ Jedlicka (1982), Robinson et al. (1991). 6. Das konjugale Paar 194 Wiederbelebung alter Moralvorstellungen verantwortlich gemacht. Doch es scheint, dass AIDS kein wesentlicher Faktor für Veränderungen im Treuebereich wurde, auch wenn es vereinzelte Ergebnisse gab, die insbesondere bei Mädchen eine stärkere Bereitschaft erkennen ließen, zur Verringerung der Infektionsgefahr auf Seitensprünge zu verzichten. 74 »Eine Option für Treue als Problemlösung der weiteren Ausbreitung von Aids muss gleichsam mit Gegenwind rechnen, weil sie gegen den Trend gesellschaftlichen Wandels gesetzt ist. Insofern scheint der zweiten Problemlösung - safer sex - bessere Chancen der Akzeptanz beschieden zu sein.« 75 Remoralisierung von Treue bedeutet nicht eine Rückkehr zu rigiden Moralvorstellungen, insbesondere von sexueller Ausschließlichkeit, sondern die Integration des Treue-Anspruchs in einen übergreifenden Wertkomplex. Gelegentliche Untreue scheint zwar seit den 1980er-Jahren tolerierter als noch zwanzig Jahre früher - aber, sie gefährdet im Grunde die Beziehungen stärker als früher, weil diese anspruchsvoller geworden sind. Eine Ost-West-Vergleichsuntersuchung im Jahr 2002 kam u. a. zu dem Ergebnis, dass jüngere Frauen offener gegenüber gelegentlicher Untreue geworden sind. 76 Immerhin 28 Prozent der Befragten gaben an, während der bestehenden Beziehung schon einmal fremdgegangen zu sein. Und dabei gab es einen höheren Anteil von Befragten, die behaupteten, der Seitensprung habe die Beziehung gestärkt, als von Befragten, die meinten, er habe die Beziehung eher belastet. 77 6.6 Das Geschlechterverhältnis in Paarbeziehungen und die Arbeitsteilung im Haushalt Wenn wir die »Polarisierung der Geschlechtscharaktere« als historischen Ausgangspunkt nehmen, dann hat sich seither eine Entwicklung vollzogen, in der durch die Gleichheitsforderung und das Prinzip der Partnerschaftlichkeit ein starker Druck zur Auflösung des Komplementaritätsverhältnisses entstanden ist. Seit der bürgerlichen Neudefinition des Haushalts hatte »Arbeit« für Frau und Mann nicht nur 74 Schmidt et al. (1989), Neubauer (1989). 75 Gerhards (1989: 541). 76 Starke (2005: 154 ff.). 77 Starke (2005: 172 f.). 6.6 Das Geschlechterverhältnis in Paarbeziehungen und die Arbeitsteilung im Haushalt 195 Unterschiedliches bedeutet (Gefühlsarbeit und Berufsarbeit, Hausarbeit und Erwerbsarbeit), sondern sie wurde auch unterschiedlich bewertet: So war es zu einer Abwertung der Hausarbeit gekommen. Seit Mitte der 1960er-Jahre jedoch verlor dieses Modell deutlich an Legitimation. Mit der wachsenden Beteiligung von Frauen im Bildungs- und Berufssystem, aber auch durch die kulturellen Veränderungen, ist die Definition der Geschlechtsrollen vor allem im öffentlichen Bereich in Bewegung geraten. Das musste sich auch auf das Verhältnis von Männern und Frauen in Paarbeziehungen auswirken. Gleichheitsansprüche stellen die Komplementarität der Aufgabenverteilung zwischen Mann und Frau und damit auch das Modell der Hausfrau-Versorger-Ehe in Frage. Naheliegend ist also die Vermutung, dass sich auch die Arbeitsteilung im Haushalt, als eines der markanten Kennzeichen der klassischen Geschlechter-Differenz, fundamental verändert hat. Wenn sich Geschlechtsrollen aufgelöst hätten, dann gäbe es auch keine Normen mehr, keine bindenden Erwartungen: Die Regulierung der Hausarbeit wäre dann eine Sache der freien Entscheidung, der Aushandlung zwischen zwei Individuen. Bei der Frage, ob sich die Geschlechtsrollen in den letzten Jahrzehnten tatsächlich gewandelt haben, ist es zunächst sinnvoll, zwischen Diskurs und Normen zu unterscheiden. Betrachtet man nämlich die einschlägigen Untersuchungen zu dieser Thematik, so scheint sich in den letzten Jahrzehnten, trotz der gestiegenen Erwerbsbeteiligung von Frauen und des Verlustes der Legitimität traditioneller Geschlechtsrollen, wenig geändert zu haben. Nach wie vor machen die Frauen den weitaus größeren Teil der Haus- und Erziehungsarbeit. Die genannte Unterscheidung könnte dies verständlich machen. Die Vermutung ist, dass sich zwar auf der Ebene des Diskurses - des öffentlichen Redens - viel geändert hat, aber nicht in der Praxis, in der klassische Geschlechtsnormen weiterhin wirksam sind. Daher sind in Umfragen die Anteile über die Beteiligung von Männern häufig höher als in genauen Analysen der tatsächlichen Beteiligung. Die Arbeitsteilung im Haushalt war Gegenstand zahlreicher empirischer Studien. 78 Sie zeigten immer wieder dieselben Tendenzen: Die Männer beteiligen sich nur sehr sporadisch an Hausarbeit und Kindererziehung, die überwiegend von Frauen verrichtet wird. Bis vor Kurzem galt dies auch für Familien, in denen die Frauen in Teilzeit beschäftigt oder vollzeiterwerbstätig waren, selbst für Dual-Career Familien (d. h. meist kinderlose Akademikerehepaare, die beide ihre eigene Berufskarriere verfolgen), und es gilt auch für Familien mit einer Arbeitseinteilung, die sie selbst für egalitär hielten. Immer wieder wurde auch ein Traditionalisierungseffekt nach dem Übergang in die Elternschaft festgestellt: Nachdem das 78 Übersichten bei Künzler (1994) und Huinink/ Röhler (2005). 6. Das konjugale Paar 196 erste Kind geboren ist, reduziert die Frau ihre Erwerbsarbeitszeit und kümmert sich stärker um den Haushalt, während der Mann häufig seine Erwerbsarbeitszeit ausdehnt. 79 Die relative, durchschnittliche Beteiligung des Mannes an der Hausarbeit lag bei den ausgewerteten Studien der 1970erbis 90er-Jahre zwischen zehn und - immerhin - 40 Prozent (der »hohe« Wert stammt aus einer Stichprobe von Doppelverdiener-Familien, in denen die Frauen vollzeiterwerbstätig waren), bei der Hälfte der Studien unter 20 Prozent. 80 In dem Zeitraum, den diese Studien abdecken, veränderten sich diese Anteile kaum. Wenn die Partnerin erwerbstätig ist, steigt zwar die Beteiligung des Mannes etwas an. 81 Aber dieser Anstieg der männlichen Beteiligung täuscht; denn absolut bleibt ihr Anteil gleich, wenn die Frau erwerbstätig ist. Der Männeranteil steigt nur, weil die Frauen ihre absolute Stundenzahl deutlich reduzieren. 82 Bei den Doppelverdiener-Paaren nimmt generell der Anteil der Hausarbeit ab, aber von dem, was bleibt, macht immer noch die Frau den deutlich größeren Teil. 83 Außerdem leisten Frauen umso mehr Hausarbeit, je mehr Kinder im Haushalt leben und je jünger die Kinder sind. Diese Aussagen gelten vor allem für eine große Zahl von Studien aus den 1970erbis 1990er-Jahren. Inzwischen gibt es ausgefeiltere Zeitbudget- und Zeitverwendungsstudien. Hat sich vielleicht in den letzten Jahren nun doch ein Wandel vollzogen? Die bisher vorliegenden Ergebnisse deuten jedenfalls nicht auf einen Wandel großen Ausmaßes, auch wenn eine Veränderung in einigen Punkten bemerkbar ist. Aus den Zeitbudgetstudien des Statistischen Bundesamtes geht u. a. hervor: - dass Frauen mit täglich fünf Stunden fast doppelt so lange unbezahlt arbeiten als Männer; - dass diese Art der Geschlechterungleichheit im Westen Deutschland noch deutlich größer ist; 79 Herlyn/ Krüger (2003), Schulz/ Blossfeld (2006). Auch Einstellungsuntersuchungen lassen vermuten, dass nach längerer Ehedauer egalitär-partnerschaftliche Vorstellungen an Bedeutung verlieren. 80 Im Mittel der ausgewerteten Studien bei etwa einem Viertel. 81 Im Durchschnitt übernahmen die Männer auch dann nur ein Drittel der Hausarbeit (Künzler 1994: 65 f.). 82 Mit anderen Worten: »Männer übernehmen kaum zusätzliche Hausarbeit, wenn die Partnerin erwerbstätig ist« (Künzler 1994: 69). 83 Künzler (1994: 71). 6.6 Das Geschlechterverhältnis in Paarbeziehungen und die Arbeitsteilung im Haushalt 197 - dass sich die Männer immer noch kaum an Wäschepflege und Wohnungsreinigung beteiligen; - dass handwerkliche Tätigkeiten immer noch Männersache sind. 84 Gegenüber früheren Untersuchungen hat der Zeitaufwand von Vätern für die Kleinkindbetreuung etwas zugenommen, aber die Mütter sind immer noch etwa dreimal so lange mit ihren Kindern beschäftigt als die Väter. Bei Ehepaaren mit einem Kleinkind unter drei Jahren ist der Mann im Durchschnitt etwa sechseinhalb Stunden erwerbstätig oder in Ausbildung, die Frau dagegen nur etwa eine Stunde. Der Mann wendet im Durchschnitt etwa eineinhalb Stunden für hauswirtschaftliche Tätigkeiten auf, die Frau viereinhalb Stunden. Die Kinderbetreuung durch den Ehemann macht im Durchschnitt etwas mehr als eine Stunde aus, die der Ehefrau mehr als dreieinhalb Stunden. 85 In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich, wenn auch langsam, die Zeitaufwendung für Haus- und Erziehungsarbeiten doch erkennbar verschoben: Die durchschnittliche Arbeitszeit der Frauen nahm etwas ab, jene der Männer nahm etwas zu. 86 Die Vermutung, dass die Väter in nichtehelichen Lebensgemeinschaften sich deutlich stärker an Hausarbeit und Kinderbetreuung beteiligen würden, lässt sich durch diese Daten allerdings nicht bestätigen. Es sieht so aus, als mache es in dieser Hinsicht keinen Unterschied, ob Eltern verheiratet sind oder nicht. 87 Doppelkarriere-Paare Eine deutliche Veränderung zeichnet sich bei Doppelkarriere-Paaren (Dual Career Couples) ab. Das sind in erster Linie Akademikerpaare, bei denen beide Partner in professionalisierten Berufen arbeiten. Abgegrenzt wird die Gruppe etwas allgemeiner mit hoher Bildung und hoher Berufsorientierung und dem Verfolgen einer eigenständigen Berufslaufbahn durch beide Partner. Je nach Berechnung kommt man in Deutschland auf etwa sechs Prozent aller zusammenlebender Paare, die als Doppelkarriere-Paare bezeichnet werden können. Von den akademisch gebildeten Männern haben inzwischen etwa 30 Prozent eine entsprechende Partnerin. Bei den akademisch gebildeten Frauen sind es knapp 50 Prozent. 88 84 Engstler/ Menning (2003: 131 ff.). 85 Engstler/ Menning (2003: 135). 86 Döge (2006). 87 Engstler/ Menning (2003: 136). 88 Solga/ Wimbauer (2005). 6. Das konjugale Paar 198 Bei Doppelkarriere-Paaren folgt im Allgemeinen die Arbeitsteilung im Haushalt stärker dem Gleichheitsgrundsatz, aber es sind auch hier oft die Frauen, die die Vereinbarkeitsarbeit übernehmen. 89 Vielen Akademikerpaaren aus der DDR scheint es außerdem gelungen, nach der Wende an dem Beziehungsmodell festzuhalten, das in der DDR vorherrschte. Hier war es für Frauen ganz selbstverständlich, erwerbstätig zu sein. 90 Wenn »Karrierefrauen« gegenüber ihrem Partner ihre Ansprüche nachdrücklich vertreten, haben sie gute Chancen, dass er sein Engagement verstärkt, zumal solche Frauen häufig nur dann zur Mutterschaft bereit sind, wenn sie sich auf einen mithelfenden Partner verlassen können. 91 Damit sind wir beim Thema »neue Männer«. Neue Väter und Hausmänner Die Beteiligung der Männer bezieht sich nicht nur auf die Haushaltstätigkeit; wichtiger für den Geschlechtsrollenwandel ist die Frage, ob es »neue Väter« gibt und vor allem, ob deren Anteil steigt. Nachdem in den 1980er-Jahren in einer Fülle von Schriften die Hoffnung zum Ausdruck gekommen war, der Neue Vater, der sich liebevoll um seine Kinder kümmert und die Karriere zurückstellt, würde bald eine Massenerscheinung und eine Selbstverständlichkeit sein, ist in den letzten zehn Jahren in dieser Hinsicht eher Ernüchterung eingetreten. Seit etwa Mitte der 1990er-Jahre hat sich ein Diskurs entwickelt, der eine erneute »Vaterlosigkeit« diagnostiziert. 92 Alexander Mitscherlichs »vaterlose Gesellschaft« scheint zunehmend Wirklichkeit zu werden, wenn auch aus anderen Gründen als der Psychoanalytiker damals vermutete. 93 Paradoxerweise sind die Gründe vielleicht in jenen Entwicklungen seit Mitte der 1960er-Jahre zu suchen, die damals gerade Hoffnungen auf eine neue Väterlichkeit hatten aufkommen lassen: Denn im Zuge jener Entwicklungen kam es zwar zu einem Einstellungswandel bezüglich der Frage, wie ein guter Vater sein sollte, und auch zu einer Aufwertung neuer Väterlichkeit; aber es kam zugleich auch zu einem kontinuierlichen Anstieg der Zahl von Kindern, die bei ihrer Mutter aufwuchsen, entweder ganz ohne Vater oder ohne eindeutigen Vater. Dazu hat nicht nur der Anstieg der Scheidungszahlen beigetra- 89 Behnke/ Meuser (2005). 90 Höhne (2005). 91 Herlyn/ Krüger (2003), Solga/ Wimbauer (2005). 92 Fascher (2004). 93 Mitscherlich (1963). 6.6 Das Geschlechterverhältnis in Paarbeziehungen und die Arbeitsteilung im Haushalt 199 gen, sondern auch die gestiegene Anerkennung und Unterstützung von Müttern, die »allein erziehen«. Wir haben also gleichzeitig eine Bedeutungssteigerung von neuer Väterlichkeit und von neuer Vaterlosigkeit. Es gibt viele Hinweise, die eine neue Haltung der Väter dokumentieren: Sie sind insgesamt emotionaler geworden und kümmern sich stärker auch um ihre Kleinkinder. 94 Bei manchen dieser Indikatoren mag man allerdings zweifeln, ob nicht doch soziale Erwünschtheit statt Fakten gemessen wird. 95 In Umfragen ist die Bereitschaft der Männer hoch, sich stärker zu beteiligen. Der Wille scheint da, aber die Bedingungen seien ungünstig, sowohl in finanzieller Hinsicht (Einkommensverluste der Familie, wenn statt der Mutter der Vater die Erwerbsarbeit reduziert) als auch auf betrieblicher Ebene, wo es nur wenige Teilzeit-Arbeitsmöglichkeiten für Väter gibt. Mit dem neuen Elterngeld (seit 2007) wurden große Hoffnungen verknüpft, ebenso mit neuen Modellen der »Allianz für die Familie«, mit Arbeitszeitpolitik und betrieblich gestützter Kinderbetreuung. 96 Die Bereitschaft zum Karriereverzicht bleibt allerdings die »Gretchenfrage«. Solange nur zwei, drei oder auch fünf Prozent der Männer tatsächlich Erziehungsurlaub oder Elternzeit nehmen, obwohl damit ja noch kein Karriere-Verzicht, sondern lediglich eine Verzögerung verbunden ist, kann man kaum vom Rollenwandel sprechen. In vielen Fällen sind die Männer partnerschaftlich orientiert und an einer aktiven Vaterrolle interessiert. Aber sie sind in den meisten Fällen nicht bereit, die Versorgerrolle ganz mit der Frau zu tauschen - schon gar nicht langfristig. 97 94 Nave-Herz (2004: 183 f.), Peuckert (2008: 258 ff.). Die Rolle des Vaters bei Schwangerschaft und Geburt hat sich offenbar schon in den 70er-Jahren deutlich gewandelt (Fthenakis 1985a: 103 ff.). »Noch zu Beginn der 1970er-Jahre wurden Väter, die der Geburt ihres Kindes beiwohnen wollten, häufig vom Klinikpersonal davon abgehalten und hatten gegen eine Reihe von Vorurteilen zu kämpfen. (…) Heute wohnt die Mehrzahl amerikanischer, deutscher, englischer und schwedischer Väter, um hier nur einige zu nennen, der Geburt des eigenen Kindes bei« (Fthenakis 1985a: 131). 95 Zum Beispiel stieg in England zwischen 1959 und 1979 der Anteil der Väter, die angaben, Windeln zu wechseln, von 57 auf 89 Prozent; oder jener, die in der Nacht wegen des Kindes aufstehen würden, von 49 auf 78 Prozent (Fthenakis 1985a: 174). 96 BMFSFJ (2006). 97 Ausführlicher zu diesen Fragen siehe Burkart (2007c), Bambey/ Gumbinger (2006). 6. Das konjugale Paar 200 Erklärungsversuche für die Hartnäckigkeit alter Rollenmuster In der Praxis hat sich der Geschlechtsrollenwandel also noch nicht vollzogen, jedenfalls nicht in gleicher Weise wie im Diskurs. Weniger klar ist, warum das so ist. Mit feministischer Alltagspsychologie - »faule Männer«, Paschas usw. - kommt man nicht weit; ebenso wenig mit der dazu komplementären, selbstkritischen These von Frauen, sie seien selber schuld, wenn sie ihre Männer nicht eindringlicher auffordern würden, mitzuhelfen. Gegenseitige Schuldzuweisungen sind wenig hilfreich, Erklärungen müssen tiefer ansetzen, an strukturellen Gegebenheiten. In der Frauen- und Geschlechterforschung gibt es Ansätze, die - im weitesten Sinn - von einer immer noch patriarchalen oder androzentrischen Grundstruktur ausgehen, die sich in verschiedenster Hinsicht auswirkt und somit dazu führt, dass die als weniger wertvoll betrachtete Haus- und Familienarbeit (einschließlich Kindererziehung) eher von Frauen übernommen wird. Wichtig ist hier die Struktur der Arbeitswelt, in der die Trennung zwischen männlichen und weiblichen Tätigkeiten immer noch stark mit der gesellschaftlichen Statushierarchie gekoppelt ist. Nicht zu übersehen sind auch die androzentrischen Strukturen innerhalb von Paarbeziehungen, die zum Beispiel dazu führen, dass in den wenigsten Paarbeziehungen die Frau einen höheren sozialen Status als der Mann hat. Für die klassische Versorgungsehe und generell für Ehe-Beziehungen, in denen der Mann höhere Einkünfte hat, scheinen bestimmte Theorien, die aus der Ökonomie stammen oder auf der Basis von Rational-Choice-Theorien entstanden sind, gut geeignet: so etwa die Ressourcentheorie ehelicher Machtverhältnisse. 98 Weil die Erwerbsarbeit der Frau weniger einbringt oder einbringen würde als die des Mannes, scheint es rational, dass sich der Mann auf die Sicherung des Familieneinkommens spezialisiert, die Frau dagegen auf die Sicherung der Reproduktionssphäre. Je mehr Erwerbseinkommen beide Partner zu erwarten haben, desto weniger rational ist es, einen erheblichen Teil der eigenen Lebenszeit für Haus- und Familienarbeit aufzuwenden. Dieses Erklärungsmuster macht einen Teil der aktuellen Kinderlosigkeit plausibel und auch den Trend, verstärkt auf Haushaltshilfen (zumindest: Putzfrauen) zurückzugreifen. Das große Manko all dieser Theorien ist jedoch, dass sie vom Individuum ausgehen, bewusste Strategien unterstellen und somit die Dynamik der Beziehung ebenso unterschätzen wie die Macht von kulturellen Deutungsmustern, etwa über den Wert von Hausarbeit oder Kindererziehung, aber auch über die normativen 98 Held (1978). 6.6 Das Geschlechterverhältnis in Paarbeziehungen und die Arbeitsteilung im Haushalt 201 Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Hier führt eine Praxistheorie, im Anschluss an Pierre Bourdieu, wesentlich weiter. 99 So geht Jean-Claude Kaufmann davon aus, dass nicht die Reflexion und die Absichtserklärungen entscheidend sind, sondern Routinen und ritualisierte Verhaltensweisen, die man nicht ständig kontrolliert, da sie im Habitus verankert sind: Das heißt, sie beruhen auf einer elementaren leiblichen Basis. Viele Tätigkeiten, so auch Haushalts- und Familienarbeiten, lassen sich nur bedingt rationalisieren - im Sinne von Kontrolle, Reflexion und Planung - und funktionieren besser, wenn sie einfach ablaufen. Denn alle Routinen und praktischen Normierungen bieten Entlastung, Sicherheit und Verlässlichkeit. Es hätte beispielsweise wenig Sinn, die Vorgänge rund ums Wäschewaschen (vom Sortieren der Schmutzwäsche bis zum Einsortieren der gebügelten Wäsche in den Schrank) streng nach Gleichheitsgesichtspunkten vorzunehmen. 100 Das wäre weder funktional in der Sache, noch wäre es eine ernsthafte Erleichterung oder Verbesserung für die Beteiligten. Das heißt umgekehrt allerdings auch, dass Routinen und praktische Regeln dieser Art in Spannung zu Idealen - etwa der Gerechtigkeit und Partnerschaftlichkeit - stehen können. Die Paarbeziehung lässt sich nur bedingt über partnerschaftliche Festlegungen und Gleichheits-Abmachungen regeln. Eine Paarbeziehung ist eben keine Vertragsbeziehung, aber auch keine Kampfbeziehung zwischen zwei Individuen, die am eigenen Nutzen interessiert sind (das ist der Fehler der ökonomischen Theorien). Genau so wenig ist eine Paarbeziehung ein Stellvertreter für den Geschlechterkampf (das ist ein Fehler mancher feministischer Theorien gewesen). Als klassische Macht-Beziehung kann keine Paarbeziehung lange funktionieren. In letzter Zeit wird zunehmend der Versuch unternommen, ökonomische mit soziologischen Theorien zu kombinieren, also sowohl die Ressourcen-Situation zu berücksichtigen (der zufolge Einkommensunterschiede maßgeblich sind für die Arbeitsteilung im Haushalt: Wer mehr verdient, geht arbeiten; der/ die andere macht die Hausarbeit) als auch Geschlechtsnormen (Vorstellungen von »Männlichkeit« hindern Männer oft daran, »weibliche« Hausarbeiten zu übernehmen). 101 In einer theoretisch-empirischen Arbeit haben Huinink und Röhler versucht, eine theoretische Integration der instrumentellen (Strategien, Kosten- Nutzen-Kalküle, rationaler Tausch), der normativen (Geschlechtsrollen) und der emotionalen Seite (Liebe, Anerkennung) zu erreichen, indem sie mikroökonomische und makrosoziologische mit sozial-psychologischen und emotionssoziologi- 99 Vgl. J. C. Kaufmann (1994). Vgl. auch Koppetsch/ Burkart (1999). 100 Zu dieser Thematik vgl. Kaufmann (1994). 101 Haberkern (2007). 6. Das konjugale Paar 202 schen Erklärungsmustern verknüpften. Die Liebe wird dabei zu einem wichtigen Faktor für die Erklärung der jeweiligen Organisation der Arbeitsteilung. 102 Zusammenfassende Thesen Die moderne Paarbeziehung ist eine besondere Form persönlicher Beziehungen, aber sie ist auch eine Institution mit bestimmten Regeln und Strukturmerkmalen. Sie unterliegt seit den 1960er-Jahren einem Strukturwandel. Theorien der Partnerwahl versuchen, das Zustandekommen von Paarbeziehungen zu erklären. Manche von ihnen sind aber zu stark am Modell der rationalen Wahl orientiert und vernachlässigen so die weiterhin bestehende starke soziale Strukturierung. Diese lässt sich insbesondere an der Homogamie bzw. Hypergamie der Partner ablesen. In den letzten Jahrzehnten ist die Bildungshomogamie wichtiger geworden. Wenn sich früher ein Paar gefunden hatte, war die Eheschließung oft der unmittelbar nächste Schritt. Heute jedoch gibt es vor der Eheschließung - und zum Teil auch statt der Ehe - eine mehr oder weniger lange Phase des nichtehelichen Zusammenlebens. Die Bedeutung der Kohabitation hängt stark davon ab, in welcher Lebensphase sie auftritt. Dennoch heiratet immer noch die Mehrheit aller Paare, wenn auch später und zunehmend mehr als einmal: Immer weniger gilt der Spruch »Bis dass der Tod euch scheidet«. Intimität, Sexualität und Liebe sind weiterhin wesentliche Elemente von Paarbeziehungen. Das Konzept der Partnerschaftlichkeit hat in bestimmten Paarbeziehungsformen aber an Bedeutung gewonnen. Die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern folgt immer noch weitgehend der alten Ordnung, aber Veränderungen sind nicht zu übersehen. 102 Huinink/ Röhler (2005). 6.6 Das Geschlechterverhältnis in Paarbeziehungen und die Arbeitsteilung im Haushalt 203 Übungsfragen - Was kennzeichnet eine Paarbeziehung im Unterschied zu anderen sozialen Beziehungen (Freundschaft, Verwandtschaft, berufliche Beziehung)? - Welche sozialen Faktoren regeln das Zustandekommen von Paarbeziehungen? - Welche Bedeutung haben nichteheliche Lebensgemeinschaften im Vergleich zur Ehe? - Spielen moralische Prinzipien heute noch eine Rolle bei der Ehescheidung? - Was lässt sich zum Wandel der Sexualität sagen? - Was lässt sich zum Wandel der Geschlechtsrollen hinsichtlich der Arbeitsteilung im Haushalt und der Kindererziehung sagen? Basisliteratur Burkart, Günter (1997): Lebensphasen - Liebesphasen. Vom Paar zur Ehe zum Single und zurück? Opladen: Leske und Budrich Burkart, Günter/ Cornelia Koppetsch (2001): Geschlecht und Liebe. Überlegungen zu einer Soziologie des Paares. In: Bettina Heintz (Hrsg.): Geschlechtersoziologie. Sonderband 41 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 431-453 Furstenberg, Frank F. (1987): Fortsetzungsehen. Ein neues Lebensmuster und seine Folgen. Soziale Welt, 38, S. 29-39 Giddens, Anthony: (1993): Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften. Frankfurt: Fischer Hahn, Kornelia/ Günter Burkart (Hrsg., 1998): Liebe am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Opladen: Leske und Budrich Kaufmann, Jean-Claude (1994): Schmutzige Wäsche. Zur ehelichen Konstruktion von Alltag. Konstanz: Universitätsverlag Koppetsch, Cornelia/ Günter Burkart, unter Mitarbeit von Maja S. Maier (1999): Die Illusion der Emanzipation. Zur Wirksamkeit latenter Geschlechtsnormen im Milieuvergleich. Konstanz: Universitätsverlag Künzler, Jan (1994): Familiale Arbeitsteilung. Die Beteiligung von Männern an der Hausarbeit. Bielefeld: Kleine Lautmann, Rüdiger (2002): Soziologie der Sexualität. München: Juventa Lenz, Karl (1998): Soziologie der Zweierbeziehung. Eine Einführung. Opladen: Westdeutscher Verlag 6. Das konjugale Paar 204 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien Wenn von Generationen die Rede ist, kann zweierlei gemeint sein: entweder familiale oder historische Generationen. Beiden Begriffen gemeinsam ist das generative Element. Das zahlenmäßige Verhältnis der Generationen untereinander in der Gesellschaft hat sich seit einiger Zeit aus demografischen Gründen immer mehr zu den Älteren hin verschoben. Man spricht deshalb vom »Altern der Gesellschaft«. Dabei wird im öffentlichen Diskurs häufig das Konfliktpotential diskutiert, das sich zwischen jüngeren und älteren Generationen aufgebaut hat (? 7.1). Demgegenüber hat die Forschung zu familialen Generationsbeziehungen in den letzten Jahrzehnten festgestellt, dass das Verhältnis der Generationen innerhalb von Familienverbänden insgesamt relativ gut ist. Das betrifft Kontakte und gegenseitige Unterstützung materieller und immaterieller Art (? 7.2). Auch wenn in den Familienhaushalten heute selten mehr als zwei Generationen zusammenleben, so wohnen die Generationen doch in relativer Nähe zueinander und bilden »multilokale Mehrgenerationenfamilien«. Ein gewisser Teil lebt auch in »Hausfamilien«. Der Auszug der Kinder aus dem Elternhaus und komplementär dazu das »leere Nest« der Eltern leiten über zur Frage der Großelternschaft (? 7.3). In den nächsten beiden Abschnitten gehen wir wieder zurück zur Elterngeneration und betrachten einige ihrer Probleme. Zunächst geht es um den Übergang in die Elternschaft, von dem heutzutage erwartet wird, dass er das Ergebnis einer bewussten Entscheidung ist (obwohl es schwer ist, dafür den richtigen Zeitpunkt zu finden). Wegen des häufigen biografischen Aufschubs dieses Übergangs sind die »späten ersten Mütter« zu einer besonders beachteten Teilgruppe geworden. Mit der Reproduktionsmedizin begann eine Entwicklung, in der die biologische von der sozialen Elternschaft abgekoppelt werden kann (? 7.4). Es folgen Erörterungen zu einigen Problemen von Vaterschaft und Mutterschaft, die etwa mit gestiegenen Erziehungsansprüchen zusammenhängen oder mit den Schwierigkeiten, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Auch erwerbstätige Mütter, Alleinerziehende sowie Stieffamilien sind mit speziellen Problemen konfrontiert (? 7.5). Schließlich wird die Situation der Kinder in den Familien und ihre gesellschaftliche Lage beleuchtet (? 7.6). 205 7.1 Generationsverhältnisse Zwei Generationsbegriffe Es gibt zwei Generationsbegriffe, die vordergründig nur wenig miteinander zu tun haben: Zum einen denkt man beim Begriff der Generation an Familiengenerationen oder familiale Generationsketten (Großeltern-Eltern-Kinder innerhalb einer Abstammungslinie). Die andere Bedeutung verweist auf historische Generationen, zum Beispiel »Achtundsechziger« oder »Golf-Generation«. Man spricht dabei manchmal auch von politischen oder kulturellen Generationen. Die beiden Begriffe werden in der Forschung häufig unabhängig voneinander und ohne Querverbindungen untersucht. 1 Betrachtet man den Generationsbegriff genauer, zeigt sich in seiner Verwendungsgeschichte ein Doppelcharakter: So geht einerseits der Begriff Generation zurück auf das griechische genesis und das römische generatio und verweist zunächst auf »Hervorbringen« (Generieren). Das zeigt sich auch beim Begriff des generativen Verhaltens, der im engeren Sinn auf Fertilität zielt, aber auch allgemein »etwas erzeugen«, »hervorbringen« oder »in die Welt setzen« bedeutet. Andererseits verweist der Begriff auch auf die Zusammengehörigkeit und auf die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv: Das Kind gehört zu den eigenen Eltern, aber es gehört auch zu einer anderen Generation. Zu den beiden Bedeutungen im Sinne der Genealogie (Abstammung, früher auch: »Geschlecht«) und der historischen Generationseinheit kam im neuzeitlichen Verständnis - vor allem in der entstehenden Pädagogik des 18. Jahrhunderts - noch der Gedanke hinzu, dass durch neue Generationen eine Verbesserung des Menschengeschlechts möglich sein sollte. Der Generationsbegriff hat auch eine ordnende Funktion, sowohl für das Leben des Einzelnen, indem er die Zugehörigkeit zur eigenen und die Abgrenzung gegenüber anderen Generationen strukturiert, als auch für die Gesellschaft, in der Altersgruppen und historische Generationen unterschieden werden können. Aus der Perspektive des Individuums stellt sich das Verhältnis der beiden Generationsbegriffe so dar: Man wächst als Jugendlicher in eine bestimmte historische Generation hinein, in Abhängigkeit vom Geburtsjahr und wichtigen historischen Ereignissen im Kindes- und Jugendalter. Erst im Jugend- und frühen Erwachse- 1 Es gibt jedoch zunehmend Studien, die versuchen, gegenseitige Bezüge und Verbindungen zwischen politisch-historischer Generationsforschung und der Forschung zu familial-genealogischen Generationsbeziehungen herzustellen (z. B. Kohli/ Szydlik 2000, Lüscher/ Liegle 2003). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 206 nenalter entwickelt man ein Generationsbewusstsein im Sinne der Zugehörigkeit zu einer historischen Generation und in Abgrenzung zur Generation der eigenen Eltern. Dieser Generation gehört man dann ein Leben lang an: Das erklärt, warum manche Personen oft beim Älterwerden an bestimmten Lebensweisen festhalten, dieselbe Frisur haben oder dieselbe Musik hören. Man ist dann irgendwann kein »Achtundsechziger« mehr, sondern ein »Altachtundsechziger«. Das Älterwerden ist allerdings mit einem Wechsel der Generationszugehörigkeit im familialen Sinn verbunden. Im Verlauf des Lebens, im Wechsel von Lebensphase zu Lebensphase, wird im Normalfall aus dem Kind seiner Eltern ein Erwachsener, der selbst in die Elternrolle schlüpft und dazu beiträgt, dass ihm eine neue Generation nachfolgt. Wenn diese neue Generation ihrerseits später den entsprechenden Rollenwechsel vom Kind zur Elternschaft vollzieht, wird aus der bisherigen Elterneine Großelterngeneration. Gesellschaftliche Generationen und das Altern der Gesellschaft Ein deutlich erkennbarer historischer Wandel geht häufig einher mit einem Generationswechsel in den leitenden Positionen der Gesellschaft. In traditionalen Gesellschaften, in denen sich die herrschende Elite oft aus wenigen Familien rekrutierte, war dies auch mit der »Stabsübergabe« vom Vater auf den Sohn (manchmal auch auf die Tochter) verbunden. Die westlichen Gesellschaften sind in den letzten Jahrzehnten stark geprägt von demografischen Veränderungen, die das Verhältnis der Generationen zueinander deutlich verschoben haben. Mit der zunehmenden Lebenserwartung und der steigenden Wahrscheinlichkeit, dass immer mehr Menschen ein hohes Lebensalter erreichen, erhöhte sich der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung. Dieser Effekt wurde noch verstärkt durch den Geburtenrückgang. Man spricht daher vom »Altern der Gesellschaft«. 2 Damit verlängerte sich auch für die Individuen die Lebensspanne nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben beziehungsweise nach dem Ende der aktiven Elternphase, das heißt, wenn die Kinder das Elternhaus verlassen. Immer mehr Ältere, die in den Ruhestand gehen, sind daher noch recht gesund und aktiv. Die Gerontologie spricht von »aktiven Senioren« oder von »jungen Alten«. An dieser Entwicklung entzündete sich seit den 1990er-Jahren eine Diskussion um einen möglichen neuen Generationenkonflikt: Auf politischer Ebene wurde von Vertretern der jüngeren Generationen zunehmend beklagt, dass die Älteren 2 Kohli (1989); vgl. auch Kapitel 2.5. 7.1 Generationsverhältnisse 207 auf ihre Kosten relativ gut versorgt seien (relativ üppige Renten, gute Krankenversorgung, gute Infrastruktur), während für die Jungen nichts übrig bleibe (wenig Geld für die Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit, Kürzungen im Bildungssystem, steigende Beiträge für die Sozialversicherung, wenig Rente im Alter). Vereinzelt kam es zu hitzigen öffentlichen Diskussionen um die Kosten der Pflege älterer Menschen: So wurde beispielsweise die Frage diskutiert, bis zu welchem Alter eines Menschen die Gesellschaft - die Jüngeren - bereit seien, ein künstliches Hüftgelenk zu finanzieren. Die öffentlichen Diskussionen trugen so zu dem Eindruck bei, dass das Verhältnis der Generationen eher problematisch sei. Dieser wurde noch verstärkt von der Individualisierungsdebatte und der Theorie der postmodernen Familie, die unter anderem behauptete, dass Solidarität und Bindungen zwischen den Generationen geschwächt seien. 3 Auch die Aussage, es gäbe kaum noch Mehrgenerationenfamilien und deshalb schwinde die Solidarität zwischen den Generationen, malte mit am Bild eines neuen Generationskonfliktes, der in den Medien auch durch die Verwendung einer dramatisierenden und mit deftigen Metaphern arbeitenden Rhetorik - »Krieg der Generationen«, »Vergreisung der Republik« - inszeniert wurde. 7.2 Generationsbeziehungen in Familien Die gesellschaftliche Entwicklung, insbesondere auch der technisch-medizinische Fortschritt, führte im 20. Jahrhundert zu einer Stabilisierung der Lebenszeit und hohen Lebenserwartung: So stieg die Dauer des gleichzeitigen Lebens und gegenseitigen Erlebens mehrerer Generationen deutlich an. Das gilt natürlich auch innerhalb der Familienverbände. Die Kinder erleben heute ihre Großeltern meist über eine längere Zeit als frühere Kinder; und es existieren heute mehrere Generationen nebeneinander innerhalb einer Familie, auch wenn sie meist nicht in einem Haushalt leben. In den letzten 15 Jahren wurden die vielfältigen Generationsbeziehungen innerhalb des Familien- und Verwandtschaftssystems intensiv untersucht. Die Forschungsergebnisse haben deutlich gezeigt, dass diese Beziehungen besser sind als es Debatten, Theorien und Medien uns vermitteln wollen: Es findet ein intensiver Austausch zwischen den Generationen innerhalb der Familien statt, wobei in den entsprechenden Studien meist drei Generationen betrachtet werden: Großeltern, 3 Shorter (1989). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 208 Eltern und Kinder. 4 Zu den Transferleistungen zwischen den Generationen gehören zunächst monetäre Transfers, zum Beispiel regelmäßige Geldgeschenke von Großeltern an Enkel, Geldzuwendungen der alten Eltern an die Erwerbstätigengeneration (die eigenen Kinder), etwa beim Hauskauf oder bei größeren Anschaffungen. Nicht zuletzt gehören dazu auch die Erbschaften. Auf der anderen Seite gibt es vielfältige immaterielle Transferleistungen in beiden Richtungen: Hilfe und Unterstützung in der Pflege, Versorgung, Erziehung usw. Auch die Häufigkeit und Intensität von Kontakten zwischen Angehörigen familialer Generationen stellte sich als überwiegend positiv heraus: So gaben zum Beispiel im deutschen Alters-Survey etwa 90 Prozent der befragten Personen im Alter zwischen 40 und 70 Jahren an, mindestens einmal im Monat Kontakt mit den eigenen Eltern oder einem Elternteil zu haben; und von diesen Personen gaben etwa 85 Prozent an, mit den eigenen Kindern mindestens einmal pro Woche Kontakt zu haben, eine große Zahl davon auch deutlich häufiger. 5 Etwas weniger eindeutig sind die Ergebnisse, wenn nach der Qualität der Beziehungen gefragt wird. Jeweils etwa zehn Prozent der Befragten im Alters-Survey berichteten, sich Sorgen um ein erwachsenes Kind außerhalb des Elternhaushalts zu machen, bzw. sich Sorgen um die eigenen Eltern zu machen. Knapp zehn Prozent berichteten von nennenswerten Konflikten mit ihren erwachsenen Kindern außerhalb des Haushalts. 6 Manchmal erscheint das Verhältnis der Generationen zueinander auch als ambivalent: So wurde zum Beispiel in einer Studie die Frage, ob sich die Generationen verstehen und näher kommen, von jeweils etwa der Hälfte der Befragten eher bejaht beziehungsweise eher verneint. 7 »Nähe kann zu intensiveren Kontakten führen, birgt in sich aber auch die Gefahr ernsthafter Meinungsverschiedenheiten, die ihrerseits den Abbruch der Beziehungen zur Folge haben.« 8 Auch sind sich die befragten Generationen nicht immer einig in der Beurteilung: Jüngere geben häufiger an, Konflikte mit Älteren zu haben als umgekehrt. 9 Eine spezielle Art von Transfers rückte in den letzten Jahren stärker in den Fokus der Generationsforschung: Das Vererben und Erben. 10 Nie zuvor wurde in Deutschland so viel vererbt wie in den letzten Jahrzehnten. Das liegt zum einen 4 Lüscher/ Schultheis (1993), Kohli/ Szydlik (2000), Kohli (2000), Kohli/ Künemund (2000), Lüscher/ Liegle (2003), Lauterbach (2004), Lettke/ Lange (2006). 5 Kohli et al. (2000: 190). 6 Szydlik (2002). 7 Lüscher/ Liegle (2003: 130). 8 Lüscher/ Liegle (2003: 135). 9 Lüscher/ Liegle (2003: 130). 10 Lüscher/ Liegle (2003: 154 ff.). 7.2 Generationsbeziehungen in Familien 209 am kontinuierlich steigenden Wohlstand seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zum anderen an der relativen Sparsamkeit der älteren Generationen. Das Ausmaß des Erbens hat in reichen Ländern wie Deutschland, in denen jahrzehntelang keine extremen, das Vermögen gefährdende Krisen mehr vorkamen, deutlich zugenommen und wird aller Voraussicht nach weiter steigen. Es ist zwar schwer, hierzu verlässliche Zahlen zu bekommen, aber die Tendenz ist eindeutig. In gewisser Weise steigt damit auch das Ausmaß an sozialer Ungleichheit: Um dieser entgegenzusteuern, kann der Wohlfahrtsstaat das Mittel der Erbschaftssteuer als Umverteilungsmechanismus einsetzen. Neben der Analyse der Art und des Umfangs von Transferleistungen sind auch deren Konsequenzen für familiale Solidarität, für die Belastungen des Sozialstaates und schließlich auch für die Ungleichheit zwischen den Generationen untersucht worden. Private Transfers mildern insgesamt die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen den Generationen. 11 Eine weitere Frage ist, ob die ausgebauten Sozialsysteme der Alterssicherung die Bereitschaft zur Unterstützung innerhalb der Familie zwischen den Generationen vermindern - ob also die jüngere Generation weniger Bereitschaft zur Solidarität mit den Älteren hat, wenn diese vom Staat großzügig unterstützt werden. Diese Annahme hat sich als fragwürdig erwiesen, eher ist der umgekehrte Effekt nachgewiesen worden: Wohlfahrtsstaatliche Zuwendungen können unter Umständen das Zusammenrücken der Generationen sogar vergrößern. 12 Gleichwohl ist die Vermutung richtig, dass gut ausgebaute Sozialsysteme bestimmte Solidarleistungen zwischen den Generationen innerhalb von Familien weniger notwendig machen. Das zeigt sich zum Beispiel auch bei ausländischen Familien in Deutschland: Hier ist es noch stärker üblich, Leistungen zwischen den Generationen zu erbringen, da diese Familien häufig aus Ländern stammen, in denen eine staatliche Versorgung weniger gut ausgebaut ist. Allerdings spielen soziale Erwartungen innerhalb der Familie immer noch eine große Rolle: So ist es beispielsweise verbreitet, dass vor allem Frauen die Pflege der Älteren im Familienverband übernehmen. Häufig wird nicht nur erwartet, dass sie ihre alten Eltern pflegen, sondern auch ihre Schwiegereltern. 13 11 Lüscher/ Liegle (2003: 145). 12 Lüscher/ Liegle (2003: 146), Künemund/ Rein (1999). 13 Lüscher/ Liegle (2003: 149). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 210 »Sandwich«-Generation? Die mittlere Generation wird manchmal als »Sandwich«-Generation bezeichnet, weil sie von zwei Seiten - von den eigenen Kindern und von den eigenen Eltern - mit Anforderungen auf Unterstützung konfrontiert ist und somit unter Druck gerät wie eine Käsescheibe in einem Sandwich. Sie ist belastet mit der Pflege der eigenen Eltern, der Betreuung der eigenen Kinder (oder, falls die eigenen Kinder schon älter und selber Eltern sind, mit der Betreuung der Enkelkinder). Außerdem geht sie noch dazu einer Erwerbstätigkeit nach, um für den Lebensunterhalt zu sorgen. Sollte der Sozialstaat diese benachteiligte Generation stärker unterstützen? In manchen Studien wird die Belastung der mittleren Generation - vor allem Frauen im Alter zwischen 40 und 55 sind betroffen - als sehr hoch beschrieben und als psychische Belastung eingestuft. Allerdings gibt es auch Kritik an dieser Diagnose: Manchmal werde die »Sandwich«-These bloß theoretisch aus der Generationen-Konstellation abgeleitet, ohne dass genauer untersucht würde, ob eine solche Belastung wirklich vorliege. Immerhin kommt von der älteren Generation oft große finanzielle Unterstützung und auch Hilfe bei der Betreuung der Enkelkinder. Und die eigenen Kinder können, wenn sie etwas größer sind, oft eine Hilfe darstellen, abgesehen davon, dass sie im Allgemeinen als Bereicherung des eigenen Lebens gesehen werden. So kommen breiter angelegte Studien denn auch zu weniger dramatischen Ergebnissen. Eine sehr hohe objektive Belastung in diesem Sinn kommt insgesamt seltener vor als die »Sandwich«-These suggeriert; und die Lebenszufriedenheit der Betroffenen scheint nicht eingeschränkt. 14 Eine Analyse des Berliner Alters-Survey zeigte zum Beispiel, dass von einer »Sandwich«-Situation im engeren Sinn nur etwa fünf Prozent der befragten Frauen (zum Befragungszeitpunkt 40 bis 55 Jahre alt) betroffen waren: d. h. sie betreuten Eltern oder Schwiegereltern, hatten eigene Kleinkinder oder Enkelkinder zu betreuen und gingen zugleich einer Erwerbstätigkeit nach. 15 Darüber hinaus ergaben die Daten keinen signifikanten Zusammenhang zwischen einer »Sandwich«-Konstellation und der Lebenszufriedenheit oder emotionalen Befindlichkeit. 16 Die in Frankreich übliche Bezeichnung »Scharniergeneration« (génération-pivot) ist deshalb vielleicht angemessener. 17 14 Künemund (2002). 15 Künemund (2002: 353). 16 Künemund (2002: 355). 17 Lüscher/ Liegle (2003: 79 f.). 7.2 Generationsbeziehungen in Familien 211 7.3 Formen des Zusammenlebens von familialen Generationen »Multilokale Mehrgenerationenfamilien« Die Generationsforschung hat in den letzten 15 Jahren auch deutlich gemacht, dass »Familien« nicht »zerfallen«, nur weil ihre Mitglieder nicht im selben Haushalt leben oder weil die Haushalte kleiner werden. 18 Damit wurde einer der populären Irrtümer, die im Zusammenhang mit der Individualisierungsdiskussion aufkamen, berichtigt: nämlich, dass die Verkleinerung der Haushalte und die Zunahme der Einpersonenhaushalte einen Zerfall der Familie anzeigten. Man spricht daher seit einiger Zeit vom Bedeutungszuwachs der »multilokalen Mehrgenerationenfamilie«. 19 Nicht nur das neolokale Prinzip, sondern auch die wachsende Mobilität hat zu einer Bedeutungssteigerung multilokaler Wohnverhältnisse beigetragen, die zum größten Teil durch eine relativ geringe Entfernung der beiden Wohnungen beziehungsweise Wohnorte gekennzeichnet sind: Etwa 80 Prozent der erwachsenen (neolokalen) Kinder leben eine Stunde oder weniger von ihren alten Eltern entfernt, nur 20 Prozent haben eine größere Entfernung zu überwinden, wenn sie sich besuchen wollen. 20 Die räumliche Entfernung steigt allerdings mit dem Bildungsgrad, da höhere Bildung häufig sowohl mit beruflicher als auch mit größerer regionaler Mobilität verbunden ist. Ist es aber richtig, von »multilokal« zu sprechen? Die »multilokalen Mehrgenerationenfamilien« verteilen sich bei Drei-Generationen-Familien meist auf zwei Haushalte oder zwei Wohnorte: Es handelt sich also streng genommen nur um eine »Bilokalität«. Die Bezeichnung »multilokal« ist erst wirklich angemessen bei Vier-Generationen-Familien: Davon gibt es immerhin bereits etwa 30 Prozent und sie leben meist an drei verschiedenen Orten. Fünf-Generationen-Familien gibt es dagegen noch nicht allzu häufig. 21 Zwar wohnen heute selten mehr als zwei Generationen in einem Haushalt zusammen, und bei wachsender Mobilität der jüngeren Generation sind auch räumliche Trennungen zwischen Jung und Alt 18 Bien/ Marbach (1991), Bertram (1995), Lüscher/ Liegle (2003), Lauterbach (2004). 19 Bertram (2000). 20 Lauterbach (2004: 221). 21 Lauterbach (2004: 224). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 212 häufiger geworden; doch überwiegend wohnen die verschiedenen Generationen einer Familie relativ nahe beieinander und besuchen sich häufig. »Hausfamilien« Von einer »Hausfamilie« - nicht zu verwechseln mit dem Projekt der »Generationshäuser« der Bundesministerin für Familie von der Leyen - reden wir, wenn mehrere Generationen oder verschiedene Verwandtengruppen einer Familie zwar nicht in einem Haushalt, aber »unter einem Dach«, d. h. in einem Haus wohnen. 22 Diese Form ist bisher kaum statistisch erfasst - und sie ist auch schwer zu erfassen, da die Haushaltsstatistik gewöhnlich nur die Mehrgenerationenfamilien, die zusammen in einem Haushalt leben, zählt. Daher kommt das Statistische Bundesamt nur auf etwa zwei Prozent der deutschen Bevölkerung, die in Mehrgenerationen-Haushalten (drei oder mehr) leben. Die »Hausfamilie« ist also eine Mischform zwischen getrennten Haushalten (Prinzip Neolokalität von Familien- Generationen) und Mehrgenerationenhaushalten und vielfach ist es schwierig, die genaue Konstellation zu erfassen und eine klare Abgrenzung zwischen den Teilhaushalten vorzunehmen. Das offizielle Kriterium für einen Haushalt - gemeinsames Wohnen und Wirtschaften - lässt sich häufig nicht exakt anwenden, etwa wenn ein alleinstehender älterer Sohn eine Einliegerwohnung hat, in der er aber kaum kocht. Nach den Analysen von Marek Fuchs lässt sich der Anteil solcher Hausfamilien an allen Haushalten deutschlandweit auf etwa sieben Prozent schätzen und etwa 13 Prozent aller Personen leben in solchen Häusern. 23 In einer Regionalstudie lag der Anteil etwas höher (11 Prozent aller Haushalte), da sie häufiger vorkommen, je kleiner die Gemeinden sind: In manchen ländlichen Gebieten ließen sich bis zu einem Drittel aller Haushalte dieser Haushaltsform zuordnen, in Großstädten dagegen nur etwa zwei bis fünf Prozent. Einerseits liegt dies natürlich an der unterschiedlichen Wohnstruktur in Städten und Dörfern, andererseits aber auch daran, dass der familiale Zusammenhalt in ländlichen Regionen aus bestimmten Gründen größer ist. Durchschnittlich bestehen Hausfamilien aus 2,2 Teilhaushalten und 4,6 Personen. Die Teilhaushalte einer Hausfamilie können in sehr unterschiedlicher Weise miteinander verbunden sein: So lässt sich danach fragen, ob der Teilhaushalt eine eigene Klingel, einen eigenen Hauseingang oder eine eigene Küche hat; oder ob es zu gegenseitigen Hilfeleistungen kommt. In der Studie von Fuchs wurden zwei 22 Fuchs (2003). 23 Fuchs (2003: 99). 7.3 Formen des Zusammenlebens von familialen Generationen 213 Haupttypen identifiziert: 55 Prozent wurden der »kooperativen Hausfamilie« zugeordnet. Das sind »an sich selbständige Haushalte, in denen Angehörige des selben Familienverbandes unter einem Dach leben«, typischerweise der verheiratete Sohn mit Frau und Kindern und seine Eltern in einem ländlichen Zweifamilienhaus. 24 Der zweite Haupttyp war die »integrative Hausfamilie« (gut 30 Prozent). Das sind Hausfamilien, deren Teilhaushalte keine vollständigen Haushalte sind: In einem der Teilhaushalte fehlt vielleicht ein eigenes Bad, eine eigene Klingel oder andere Merkmale eines vollständigen Haushaltes. Eine dritte Kategorie (knapp 15 Prozent) ließ sich aus verschiedenen Konstellationen zusammenfassen: Hier lebten ein oder mehrere vollwertige Haushalte mit einem oder mehreren unvollständigen Haushalten (»Satelliten«) in einem Haus zusammen. Vielfältige Verflechtungen wurden nachgewiesen: 25 So gab es häufig gemeinsame Mahlzeiten, Weihnacht- und Geburtstagsfeste; ein gemeinsamer Urlaub war dagegen eher selten. In etwa zwei Drittel der Hausfamilien konnten sich die Mitglieder in den Wohnbereichen der anderen Teilhaushalte frei bewegen. Dazu kommt, dass Satellitenhaushalte häufig keine Miete zahlen und »den verfügbaren Wohnraum gemeinsam, ohne gegenseitigen finanziellen Ausgleich nutzen«. 26 Lebenshaltungskosten wurden allerdings mehrheitlich von den Teilhaushalten getragen: Eine gemeinsame Haus(halts)kasse fand sich selten. Bei knapp 60 Prozent gab es eine Person, die wichtige Entscheidungen für die ganze Hausfamilie trifft. Man könnte die »Hausfamilie« als Scharnier zwischen Tradition und Moderne bezeichnen. Der »Rückgriff auf stabile Familienbeziehungen« scheint »gerade in ländlichen Gebieten eine notwendige Voraussetzung für eine zumindest partiell individualisierte Lebensführung zu sein«. 27 Ein typisches Muster ist mit dieser Interpretation jedoch nur schwer vereinbar: Häufig sind es die Söhne, die im elterlichen Haus eine eigene Wohnung ausbauen, anbauen oder auf dem Grundstück der Eltern ein eigenes Haus bauen, wenn sie heiraten. Diese Form von Patrilokalität fand sich in zwei Drittel aller Fälle des kooperativen Typs. Auch die Tatsache, dass ein erheblicher Anteil an Teilhaushalten innerhalb der Hausfamilien ökonomisch nicht in der Lage wäre, einen eigenständigen Haushalt zu finanzieren, spricht gegen eine individualistische Interpretation. Für eine solche spricht dennoch - zumindest im Vergleich zu traditionalen Formen wie Großfamilie und Ganzes Haus -, dass die Generationen meist in getrennten Wohnungen innerhalb eines Hauses leben. Generationensolidarität, die bei räumlicher Nähe leichter zu 24 Fuchs (2003: 177). 25 Fuchs (2003: 181 ff.). 26 Fuchs (2003: 206). 27 Fuchs (2003: 247). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 214 praktizieren ist, geht einher mit einer relativen Autonomie und Distanz, die nicht möglich wäre, wenn man einen gemeinsamen Haushalt hätte. Hier lässt sich über eine »postmoderne« Form des Haushaltstyps »Hausfamilie« spekulieren: Die Hausfamilie könnte in Zukunft, im Rahmen der Netzwerkgesellschaft, an Bedeutung gewinnen, wenn Einzelhaushalte stärker kooperieren und sich vernetzen. Auch in der städtischen Siedlungsstruktur sind Konstellationen vorstellbar, in denen Haushalte eines größeren Hauses eine Gemeinschaft bilden, bei der dennoch die Autonomie der Einzelhaushalte gewahrt bleibt. In allgemeiner Hinsicht verweisen diese Analysen auf flexible Wohnverhältnisse. So gibt es häufiger Familien mit zwei Wohnsitzen oder Kindern, die zwischen erster und zweiter Familie (nach einer Scheidung) pendeln. In Fällen dieser Art ist es schwierig, die Personen eindeutig einem Haushalt zuzuordnen. Das gilt auch für den folgenden Aspekt des Auszugs aus dem Elternhaus, wenn also die jüngere Generation dem Prinzip der Neolokalität folgt und den Haushalt der Eltern verlässt. Auszug aus dem Elternhaus Unter dem Schlagwort »Hotel Mama« wird seit einiger Zeit auch in den Medien das erstaunliche Phänomen diskutiert, dass immer häufiger Kinder bis ins Erwachsenenalter hinein noch bei den Eltern wohnen. Auch das Verlassen des elterlichen Haushalts erfolgt heute also biografisch verzögert. Bis zum Alter von 25 Jahren lebte in den letzten Jahren die Mehrheit der jungen Deutschen (insbesondere männliche) noch bei ihren Eltern. Auch international ist in vielen Ländern seit Mitte der 1980er-Jahre das durchschnittliche Auszugsalter angestiegen: Besonders ausgeprägt stellt sich die Situation in Italien dar, wo noch etwa 70 Prozent der 25bis 29-jährigen Männer bei ihren Eltern wohnen. 28 Für Deutschland ergaben Analysen des Mikrozensus, dass im Jahr 2004 im Alter von 20 Jahren noch etwa 85 Prozent der jungen Männer und 70 Prozent der Frauen, und im Alter von 40 Jahren sogar noch fünf Prozent der Männer und ein Prozent der Frauen im Haushalt ihrer Eltern lebten. 29 Diese Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. So gibt es auch hier Messprobleme, wie sie bereits mehrfach angesprochen worden sind: Studierende sind vielleicht noch zuhause gemeldet, haben dort auch noch ein Zimmer, das sie nutzen, wenn sie zu Besuch kommen, aber von »zuhause leben« kann dabei kaum noch die Rede sein. Außer- 28 Lüscher/ Liegle (2003: 139). 29 Statistisches Bundesamt (2005). 7.3 Formen des Zusammenlebens von familialen Generationen 215 dem haben wir beim Thema Hausfamilien gesehen, dass es häufig bei eher wohlhabenden Familien die Konstellation gibt, dass der Sohn oder die Tochter eine Einliegerwohnung hat, aber nicht unbedingt einen vollständig getrennten Haushalt. Wohnt er noch bei seinen Eltern oder nicht? Das »leere Nest« (empty nest) und der Übergang in die Großelternschaft Bisher wurde der Auszug aus dem Elternhaus aus der Perspektive der Kinder betrachtet. Doch sind davon genauso die älter werdenden Eltern betroffen. Der Auszug der Kinder aus dem elterlichen Haushalt kann für beide Seiten sowohl positive als auch negative Erfahrungen mit sich bringen: Während in der Forschung der Auszug der Kinder aus deren Perspektive eher positiv im Sinne von Autonomiegewinn und Erwachsenwerden angesehen wurde, hat ein großer Teil der Forschung auf der anderen Seite, bei den betroffenen Eltern, eher die problematische Seite betont, zumal diese Zeit häufig mit der Krise der Lebensmitte (midlife crisis) zusammenfällt. Vom empty nest war in diesem Zusammenhang die Abbildung 7.1: Auszug aus dem Elternhaus 0% 20% 40% 60% 80% 100% unter 15 18 22 26 30 34 38 42 45 und mehr Männer Frauen Ledige Kinder im elterlichen Haushalt, in Prozent der Bevölkerung des jeweiligen Alters, Deutschland, 2004. Quelle: Statistisches Bundesamt (2005: 29). Eigene Darstellung. 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 216 Rede - eine Metapher, bei der man sich traurige, alleingelassene Eltern vorstellt. 30 Doch muss man hier auch die andere Seite in den Blick bekommen: Für die Eltern kann der Auszug der Kinder ja durchaus ein positiver Prozess sein, bei dem gerade die Mütter noch einmal ein neues berufliches Engagement wagen oder in privater Hinsicht noch einmal einen Neuanfang versuchen. Deshalb ist manchmal auch vom »second honeymoon« die Rede. 31 Die Empty-Nest-Phase kann schon deutlich vor dem 50. Lebensjahr beginnen: Sie liegt aber im Durchschnitt für die meisten Eltern zwischen dem 55. Lebensjahr (bei etwa 50 Prozent der Eltern haben dann alle Kinder das Haus verlassen) und dem 65. Lebensjahr. In der Generationsforschung wird zunehmend betont, dass die Elternschaft nicht mit dem Auszug der Kinder aufhört. 32 Allerdings ist damit auch vielfach der biografische Übergang zur Großelternschaft verbunden, deren Bedeutung, zumindest in der Soziologie, bisher wenig untersucht wurde - was aber insofern wichtig ist, als im historischen Vergleich immer mehr Kinder ihre Großeltern über einen längeren Zeitraum noch erleben. Außerdem steigt die Zahl der Großeltern, während die Zahl der Kinder zurückgeht. Historische Studien zeigen, dass es früher für die Kinder keineswegs normal war (nur im Märchenbuch), noch eine längere Zeit mit ihren Großeltern verbringen zu können: Für die meisten waren etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Großeltern bereits gestorben, als sie zur Welt kamen. Erst danach wurde die Mehrgenerationenfamilie zum Normalfall, ganz im Gegensatz zum immer noch verbreiteten Mythos von der Großfamilie früherer Zeiten. 33 Darüber hinaus wird heute zunehmend erkannt, dass Großeltern für Paare sehr wichtig sein können, um den Kinderwunsch zu realisieren. Für die Bedeutung einer aktiven Rolle der Großeltern ist eine Unterscheidung sinnvoll, die in der Gerontologie inzwischen üblich geworden ist. Dort werden für das Alter zwei Lebensphasen beziehungsweise zwei Typen von alten Menschen unterschieden: einerseits die aktiven, »jungen« Alten (von etwa 60 bis etwa Mitte 70), die häufig keine ernsthaften gesundheitlichen Probleme haben, noch »fit« sind und oft in Ehrenämtern tätig sind; 34 andererseits die über 80-Jährigen oder Hochaltrigen, die häufig einer intensiven Pflege und Betreuung bedürfen. Zunehmend wächst auch die Gruppe der über 100-Jährigen: In manchen Großstädten 30 Dahinter steht für manche Familienforscher auch die allgemeine Vorstellung der Zeitkrise, dass es zu einer »Zerstörung des Nestes« gekommen sei (Popenoe 1988). 31 Pongratz (1988), Lachenmaier (1995). 32 Lauterbach (2004). 33 Lauterbach (2004: 158). 34 Wolf/ Kohli (1988). 7.3 Formen des Zusammenlebens von familialen Generationen 217 sind es bereits so viele, dass die Stadtverwaltungen aufgegeben haben, ihnen - etwa durch den persönlichen Besuch des Bürgermeisters - eine besondere Ehrung zukommen zu lassen. Das Leben in der Kernfamilie nimmt relativ an Dauer ab - bezogen auf den ganzen Lebensverlauf, aber auch bezogen auf den Familienzyklus. Dagegen verlängert sich relativ die Phase, in der man als Erwachsener mit seinen Eltern Beziehungen hat, wenn auch, in der Regel, in getrennten Wohnungen. 7.4 Der Übergang in die Elternschaft Kommen wir zurück zur Elternschaft der jüngeren Erwachsenen. Sie ist heute eine relativ späte Angelegenheit: Das durchschnittliche Alter der verheirateten Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes stieg in Deutschland von etwa 25 Jahren um das Jahr 1960 auf etwa 29 Jahre im Jahr 2004. Ledige Mütter bekommen ihr erstes Kind im Durchschnitt etwa ein Jahr früher. Die meisten Kinder werden heute von Frauen im Alter zwischen 26 und 31 Jahren geboren. In der DDR wurden die Frauen in der Regel deutlich früher Mütter, im Durchschnitt mit 22 bis 23 Jahren; und auch nach der deutschen Vereinigung lag das Durchschnittsalter bei der Geburt des ersten Kindes in den neuen Bundesländern zunächst noch unter 25 Jahren. Heute bekommen die meisten verheirateten Frauen in Ostdeutschland das erste Kind zwischen dem 28. und dem 29. Lebensjahr, ledige Frauen werden im Durchschnitt etwa zwei Jahre früher Mutter. 35 Die Phase der Elternschaft beginnt aber nicht nur später; sie nimmt im Lebensablauf auch weniger Zeit in Anspruch, denn im häufigsten Fall ist das zweite Kind, das im Zweijahresabstand dem ersten folgt, auch das letzte. Wie bereits im ersten Kapitel erörtert, liegt der Anteil der Lebensform »Ehepaar mit Kindern« bei den 25bis 30-Jährigen heute unter einem Viertel, in der Altersgruppe 30-35 aber bereits bei über 50 Prozent. Bei etwa 55 Jahren liegt der Umschlagpunkt von der Elternphase zur Phase des »empty nest«. Bis zu diesem Alter ist das Leben als Ehepaar mit Kindern die häufigste Lebensform (danach das Leben als älteres Elternpaar, dessen Kinder den Haushalt verlassen haben). 36 Die Elternschaft als Lebensphase konzentriert sich heute somit zwischen dem 30. und dem 55. Lebensjahr. Noch vor wenigen Jahrzehnten brachten Frauen die Hälfte ihres Lebens als Mütter zu, jetzt aber nur noch etwa ein Viertel. »Elternschaft« ist 35 Statistisches Bundesamt (2005), Engstler/ Menning (2003: 77). 36 Diewald/ Wehner (1995), Matthias-Bleck (2006). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 218 immer noch sehr wichtig für Identität und Normalität im Alltag der meisten Menschen, aber sie umfasst nicht mehr die ganze Lebenszeit und den gesamten Lebenshorizont: Sie ist - mit steigender Lebenserwartung und kleineren Kinderzahlen - eine relativ kürzere Lebensphase geworden. Als solche aber hat sich die Elternschaft noch intensiviert, was an den gestiegenen pädagogischen Anstrengungen vieler Eltern abzulesen ist: Oftmals bekommen sie nur noch ein Kind - und dieses steht dann ganz im Mittelpunkt. Diese hohe Wertschätzung, aber auch die hohe finanzielle Belastung der Eltern, kommt in der Formel pricing the priceless child gut zum Ausdruck, in der die Doppelbedeutung von »kostbar« und »teuer« anklingt. 37 Der Übergang in die Elternschaft als Entscheidung Unsere Kultur hat Sexualität und Zeugungsakt weitgehend voneinander abgelöst und wir haben damit prinzipiell die Möglichkeit - sowohl in einem technischen als auch in einem moralischen Sinn -, uns für oder gegen Kinder zu entscheiden. Die »technische« Möglichkeit hängt ab von der Verfügbarkeit wirksamer Kontrazeptiva und anderer Methoden der Empfängnisverhütung oder Geburtsvermeidung; die »moralische« Möglichkeit setzt die Klärung der Frage voraus, ob es in einer Gesellschaft legitim ist, diese Mittel auch zu benutzen. So ist die Abtreibung beispielsweise eine in dieser Hinsicht umstrittene Methode: Sie ist »technisch« leicht verfügbar, aber in moralischer Hinsicht problematisch. Gegenüber Kulturen, in denen Elternschaft eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit darstellt, kann und muss in modernen Gesellschaften entschieden werden, ob man eine Familie gründen will oder nicht. »Die Frage, ob man Kinder haben möchte, hat sich von einer kollektiven Norm zu einer individuell motivierten Entscheidung gewandelt.« 38 An dieser These, auch wenn sie breite Zustimmung gefunden hat, sind allerdings Zweifel angemeldet worden: zum einen an der grundsätzlichen Planbarkeit einer so komplexen Lebensveränderung, zum anderen an der behaupteten Rationalität dieser Entscheidung im Sinne einer Kosten-Nutzen- Abwägung. Es ist relativ schwierig, die Frage nach dem Wandel der Entscheidungsprozesse eindeutig zu klären, da diese selten genauer und nur indirekt untersucht werden. Ein erster Hinweis könnte in dem untersuchten Verhältnis von Übereinstimmung zwischen Kinderwunsch und tatsächlicher Kinderzahl gefunden werden. Häufig wird in der Forschung nach dem Kinderwunsch gefragt. Für Deutschland wurde 37 Zelizer (1985). 38 Gloger-Tippelt et al. (1993: 7). 7.4 Der Übergang in die Elternschaft 219 festgestellt, dass die Zahl der gewünschten Kinder inzwischen sogar niedriger liegt als die realisierte Fertilität, während bis vor Kurzem und in den meisten anderen Ländern die durchschnittliche Zahl der gewünschten Kinder stets - zum Teil deutlich - über der realisierten Kinderzahl lag. 39 In den USA liegt die gewünschte Kinderzahl seit Jahrzehnten relativ stabil knapp über zwei und entspricht damit der realisierten Kinderzahl. 40 Eine solche Übereinstimmung zwischen erwünschter und realisierter Kinderzahl könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Familiengröße sowohl einer Norm entspricht als auch das Ergebnis einer Entscheidung ist. Ein anderer Hinweis auf die Entscheidungsproblematik ist der relativ hohe Anteil an ungeplanten Schwangerschaften, der allerdings auch nicht ganz leicht festzustellen ist: Für die USA kann man vergleichsweise gut berechnen und für die Weltbevölkerung zumindest begründet abschätzen, dass etwa die Hälfte aller Schwangerschaften ungeplant sind. 41 Auch für Deutschland zeigen empirische Untersuchungen, dass es immer noch ein hohes Maß an ungeplanten Schwangerschaften gibt. 42 Und in qualitativen Untersuchungen kommt häufig zum Ausdruck, dass die Entscheidung für ein Kind weniger mit rationalem Abwägen als mit Zweifel und Hoffnung, mit Ambivalenz und Unsicherheit zu tun hat. 43 Auch Milieu-Unterschiede sind hilfreich. So lassen sich etwa Milieus identifizieren, in denen die Elternschaft noch weitgehend eine lebensweltliche Selbstverständlichkeit ist und nicht das Ergebnis eines intensiven Prozesses des Abwägens von Vor- und Nachteilen. Ein extremer Unterschied findet sich zum Beispiel in den USA: Vergleicht man hier weiße Frauen, die aus geordneten amerikanischen middle-class-Verhältnissen kommen und eine College-Ausbildung haben, mit schwarzen Frauen, die häufig nur sehr schlechte Bildungschancen haben, dann stellt man fest: Auf der einen Seite herrscht eine extrem hohe Kinderlosigkeit (und wenn Mutterschaft vorkommt, dann erst sehr spät). Auf der anderen Seite ist etwa jede fünfte der schwarzen Frauen bereits mit 18 Jahren erstmals Mutter geworden; und mit 20 fast schon die Hälfte. 44 Die Lebensweise in beiden Gruppen unterscheidet sich fundamental: Mutterschaft ist für die jungen schwarzen Frauen eine Alternative zur kaum zugänglichen Bildungskarriere und steht an der Schwelle zum Erwachsenenalter im Zentrum ihrer Lebensperspektive. Die weißen College- 39 Der Kinderwunsch in Deutschland ist rückläufig, und der Anteil jener, die keine Kinder wollen, ist heute höher als der Anteil jener, die mehr als zwei Kinder wollen (Rost 2005, BiB/ PPAS 2005). 40 Hagewen/ Morgan (2005). 41 Burkart (1994: 166, 246). 42 Helfferich (1999), Helfferich et al. (2005). 43 Engstler/ Lüscher (1991), Burkart (1994). 44 Genaueres dazu vgl. Burkart (1994: 171 f., 177 f.). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 220 Frauen dagegen stehen vor dem Problem, erste Mutterschaft und Berufskarriere in einem Lebensalter zu vereinbaren, in dem viele ihrer unterprivilegierten schwarzen Altersgenossinnen bereits Großmütter geworden und oft kaum älter als 30 Jahre sind! Das hat insbesondere Konsequenzen für die Generationenfolge, geprägt auf der einen (schwarzen) Seite durch 33-jährige Großmütter, 50-jährige Urgroßmütter und 80-jährige Urururgroßmütter; auf der anderen (weißen) Seite durch 70-jährige »einfache« Großmütter, deren Töchter erstmals mit 40 Mütter wurden. Wir haben somit in den USA zwei Extremgruppen in Bezug auf Elternschaft und den Konflikt Beruf-Familie und die daraus resultierenden Lebenschancen könnten kaum unterschiedlicher sein. In Deutschland sind solche extremen Unterschiede nicht zu finden, doch im Ansatz gibt es auch hier den Unterschied zwischen sozio-kulturellen Milieus, in denen Kinder immer noch eine Selbstverständlichkeit sind - zum Beispiel junge Arbeiterfamilien - und höher qualifizierten Paaren, für die erst einmal die Vorbereitung einer Berufslaufbahn im Vordergrund steht. 45 Hinsichtlich des Ergebnisses - unabhängig davon, ob Entscheidungen getroffen wurden oder das Ereignis zwangsläufig eingetreten ist - lassen sich drei Grundtypen biografischer Verläufe für die betroffenen Frauen unterscheiden: erstens frühe Mutterschaft und Existenz als Hausfrau und Mutter; zweitens späte Mutterschaft und Dasein als erwerbstätige Mutter; und drittens Kinderlosigkeit und Erwerbstätigkeit. Sie hängen, wie gezeigt, stark mit dem Bildungsgrad beziehungsweise der Zugehörigkeit zu den sozialen Milieus zusammen. Die Bildungsexpansion der 1970er-Jahre hat für Frauen aus der Mittelschicht den Besuch höherer Bildungsinstitutionen ebenso zur Selbstverständlichkeit gemacht wie den Verzicht auf frühe Elternschaft. Der richtige Zeitpunkt Die Entscheidung zur Elternschaft ist immer an einen bestimmten Zeitpunkt in der Biografie gebunden. Sie wäre dann rational, wenn der günstigste Zeitpunkt des Übergangs abgepasst werden könnte, der wiederum auf der Grundlage von Abwägungen über biografisch erwünschte Sequenzen von Ausbildungs-, Berufs- und Familienphasen festzulegen wäre. Das ist nicht einfach. Und selbst wenn man einen solchen optimalen Zeitpunkt kalkulieren könnte, so müsste immer noch ein Partner gefunden werden, dessen Planung mit dem eigenen synchronisiert werden könnte. Dieses biografische Synchronisationsproblem der Abstimmung zweier indi- 45 Hopf/ Hartwig (2001). 7.4 Der Übergang in die Elternschaft 221 vidueller Lebensentwürfe stellt sich heute besonders im Akademikermilieu, in dem beide Partner ihre Berufskarrieren zum Teil unabhängig voneinander verfolgen: Dabei ist oft nur der Aufschub der Entscheidungsfindung möglich. Besonders für Frauen gibt es allerdings einen kritischen Punkt: Wie lange kann ich warten? 46 Dieser setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen: der Dauer der Ausbildung (und manchmal der Dauer der beruflichen Einstiegs- und Konsolidierungsphase, in der eine Mutterschaft besonders schwierig zu realisieren ist); der Verfügbarkeit eines unterstützenden Partners (und/ oder einer Großmutter); den sozialen und biologischen Grenzen der Mutterschaft: Kann man mit 40 noch Mutter werden, ohne sich gravierende soziale und - trotz Vorsorgemedizin - auch gesundheitliche Probleme einzuhandeln? »Späte erste Mütter« Tatsächlich beginnt für eine noch kleine, aber wachsende Gruppe von Frauen die Mutterschaft erst im vierten oder gar fünften Lebensjahrzehnt, oftmals nach langjähriger erfolgreicher Berufskarriere. Mit dem biografischen Aufschub der Erstgeburt besonders bei Frauen mit langen Ausbildungszeiten, also vor allem Hochschulabsolventinnen, kam der Begriff der »späten ersten Mütter« auf. 47 Mit dem Anstieg des Anteils von älteren Müttern musste manche voreilige Prognose des Geburtenrückgangs und des Anstiegs der Kinderlosigkeit relativiert werden. Der Anteil »später erster Mütter«, die ihre erste Geburt mit 35 Jahren oder später haben, stieg in Deutschland seit Mitte der 1980er-Jahre deutlich an: von etwa vier Prozent Anfang der 80er-Jahre auf über 12 Prozent im Jahr 2000. Heute sind bereits etwa 17 Prozent der Mütter bei der Erstgeburt über 35 Jahre alt. 48 Seit einiger Zeit werden Schwangere über 35 nicht mehr automatisch als Risikoschwangere eingestuft. Die Reproduktionsmedizin schaffte allerdings auch neue Normen. So scheint sich eine »Pflicht zum unbehinderten Kind« entwickelt zu haben: Wer als ältere Schwangere nicht Pränataldiagnostik in Anspruch nimmt, handelt verantwortungslos. 49 Was sind die Gründe des Anstiegs? Bisher gibt es vergleichsweise wenig Untersuchungen zu dieser Thematik, abgesehen von Studien zur medizinischen Problematik und der allgemeinen These des Zusammenhangs von Bildungsexpansion 46 Menken (1985). 47 Engstler/ Lüscher (1991). 48 Herlyn/ Krüger (2003), Peuckert (2008: 101 f.). 49 Herlyn/ Krüger (2003: 20). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 222 und Aufschub der Erstgeburt. Es gibt keine klaren Hinweise für eine von vornherein geplante Spätmutterschaft, deutlich wird nur das bekannte Muster des immer wieder verlängerten Aufschubs. In einer der wenigen Studien der jüngeren Zeit, in der in den Regionen Hannover und Leipzig etwa 180 standardisierte und knapp 30 biografische Interviews durchgeführt wurden, bestätigte sich, dass die Mehrheit der späten Erstmütter Akademikerinnen sind. 50 In dieser Untersuchung wurden vier Typen unterschieden. Die Lebensplanung des ersten Typs - berufsorientierte Frauen, alle hochqualifiziert - war lange Zeit auf Kinderlosigkeit ausgerichtet. Spät entschieden sie sich dann doch noch für ein Kind. Die Frauen des zweiten Typs - von den Autorinnen Persönlichkeitsentwicklung genannt - waren an Selbstfindung und autonomer Lebensgestaltung orientiert: Ein Kind stand dem, zunächst jedenfalls, im Wege. Beide Typen sind typische Westmuster, die unter ostdeutschen Frauen nicht erkennbar waren. Frauen des dritten Typs - Doppelorientierung - verfolgten gleichrangig die Ausrichtung auf Beruf und Familie, mussten aber die Familiengründung immer wieder aufschieben. Auch der vierte Typ - die Familienorientierten - mussten aus verschiedenen Gründen die längst gewünschte Familiengründung immer wieder aufschieben. Die beiden letzten Typen machten zwei Drittel im qualitativen Sample aus. Daraus zogen die Autorinnen den Schluss, dass Mutterschaft immer noch eine starke, »selbstverständlich anerkannte Norm« darstellt. Reproduktionsmedizin: Trennung von biologischer und sozialer Elternschaft Manchmal kommt es, trotz intensiver Versuche von Mann und Frau ein Kind zu zeugen, nicht zu einer Schwangerschaft. Etwa jedes sechste Paar, so wird geschätzt, ist ungewollt kinderlos. 51 Durch den medizinischen Fortschritt sind in den letzten Jahrzehnten Methoden entwickelt worden, mit denen es betroffenen Frauen möglich wird, dennoch Mutter zu werden. Im Jahr 1978 gelang die erste Befruchtung außerhalb des Körpers einer Frau. Louise Brown gilt seither in populären Darstellungen als »erster im Reagenzglas gezeugter Mensch«. 52 Damals noch ein reproduktionsmedizinisches Experiment, ist die extrakorporale Befruchtung heute eine Standardmethode der Fortpflanzungsmedizin. Seit 1991 gibt es in Deutschland ein Embryonenschutzgesetz: Die Diskussionen um den Beginn des Lebens und 50 Herlyn/ Krüger (2003). 51 Onnen-Isemann (2000), Konietzka/ Kreyenfeld (2007). 52 Knoop (2004: 1). 7.4 Der Übergang in die Elternschaft 223 den entsprechenden Schutz des werdenden Lebens dauern jedoch bis heute an und werden wahrscheinlich noch intensiver geführt werden. Die Reproduktionsmedizin bezieht ihre Legitimation vor allem aus der Zielsetzung, Paaren zur Erfüllung ihres Kinderwunsches zu verhelfen, wenn dies auf normalem Wege nicht möglich ist. Gleichwohl gibt es auch eine Reihe ethisch umstrittener Bereiche, etwa die »Leihmutterschaft« oder gentechnologische Manipulationen. Unter der Bezeichnung Reproduktions- oder Fortpflanzungsmedizin wird eine Reihe von Methoden zusammengefasst. Die einfachste Methode im Sinn einer »medizinisch assistierten Fortpflanzung« ist die Hormonbehandlung, bei der die Medizin weder in den Zeugungsakt noch in das Austragen des Kindes eingreift, im Unterschied zu den anderen Methoden. Besonders die In-vitro-Fertilisation (IVF), die Befruchtung einer weiblichen Eizelle »im Reagenzglas«, hat die ethische Diskussion angestoßen. Weniger spektakulär ist die künstliche Befruchtung in vivo, d. h. die Zuführung von männlichen Samenzellen in die weibliche Gebärmutter ohne Geschlechtsakt. Mit heterologer Insemination ist die künstliche Befruchtung einer Frau mit anderem Samen als dem ihres Ehemannes gemeint. Weitere Methoden sind Mikroinjektion in vitro (ICSI) und Embryotransfer. 53 Bei allen diesen Methoden fehlt der natürliche Zeugungsakt und je nach Problematik werden Spenderkeimzellen (Ei- oder Samenzellen) dritter Personen verwendet. Auch zum Austragen des Kindes kann eine dritte Person beteiligt werden (Tragemutter, »Leihmutter«). Weltweit, so wird geschätzt, gab es bis zum Jahr 2000 etwa eine halbe Million Kinder, die ihr Leben einer IVF oder ICSI verdanken, davon in Deutschland ca. 80.000. 54 Bereits im Jahr 2005 war eine Verdopplung dieser Zahl erreicht. Die pränatale Diagnostik ist zwar kein zwingender Bestandteil der Fortpflanzungsmedizin, doch werden deren Techniken - etwa Untersuchungen des Fötus auf Gendefekte - zunehmend in der ärztlichen Praxis verwendet. Während die Reproduktionsmedizin im engeren Sinn Paaren helfen kann, Kinder zu bekommen, bei denen dies auf natürlichem Wege nicht gelingt, geht es bei der pränatalen Diagnostik um die Gesundheit der Kinder. Bei der Fortpflanzungsmedizin ergeben sich neue Differenzierungen der Elternschaft: So kann es etwa zur Trennung von biologischer und sozialer Elternschaft kommen und auch die biologische Elternschaft lässt sich weiter differenzieren. 53 Knoop (2004: 6 ff.), Peuckert (2008: 224 ff.). - ICSI = Intrazytoplasmatische Spermieninjektion. 54 Knoop (2004: 37). Allerdings ging in Deutschland die Zahl der reproduktionsmedizinischen Behandlungen seit der Gesundheitsreform 2004 deutlich zurück, da seither die Betroffenen einen deutlich höheren Anteil der Kosten selbst bezahlen müssen (Peuckert 2008: 225). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 224 Auch wenn die Frau nur mit einem Mann Geschlechtsverkehr hatte, ist er bei medizinisch assistierter Fortpflanzung nicht der genetische Vater, sofern ein Dritter als Samenspender herangezogen wurde. Ebenso ist eine Tragemutter, die den Embryo einer anderen Frau austrägt, nicht dessen genetische Mutter. Die soziale Folgeproblematik gerade dieser Methode (»Leihmutterschaft«) wurde schon häufiger in dramatischen Presseberichten erörtert, wenn etwa eine Tragemutter das von ihr ausgetragene Kind nicht der genetischen Mutter übergeben will. Mutterbzw. Vaterschaft werden somit zu Begriffen, die ihre Eindeutigkeit verlieren. Man muss sie mit Zusätzen versehen wie »physiologisch« oder »genetisch«: Als »physiologischer Vater« wird der Vater bezeichnet, der sein Kind selbst im Geschlechtsakt gezeugt hat. Bei einigen Methoden der Reproduktionsmedizin wird zwischen »genetischem« und »sozialem Vater« unterschieden. Im Extremfall können so bis zu fünf Personen in irgendeiner Weise die genetischen, physiologischen oder sozialen Eltern eines Kindes sein - wobei »Eltern« dann jedoch nur noch bedeutet, dass eine genetische, physiologische oder soziale Zuordnung des Kindes zu einem Erwachsenen möglich ist: Wenn die Wunscheltern, die später als sozialer Vater und soziale Mutter aktiv sein werden, nichts zur Entstehung des Kindes beitragen können, weil sie beide zeugungsunfähig bzw. infertil sind, dann können zwei weitere Personen als Samenbzw. Ei-Spender herangezogen werden (genetischer Vater und genetische Mutter). Unter Umständen bedarf es noch einer weiteren fünften Person, der die befruchtete Eizelle eingepflanzt wird und die das Kind austrägt (physiologische Mutter). 55 Inzwischen gibt es auch Kinder mit zwei genetischen Müttern, nämlich dann, wenn in die Eizelle einer Frau Zytoplasma (Zellflüssigkeit) einer anderen Frau injiziert wird, damit die erste Frau gebärfähig wird. 7.5 Probleme der Elternschaft Die heutige Elterngeneration ist mit zwei Hauptproblemen konfrontiert, die in einem engen Zusammenhang stehen und sich gegenseitig verstärken können: zum einen das Vereinbarkeitsproblem, zum anderen das Problem steigender Erziehungsansprüche. Ein Folgeproblem davon ist die wieder zunehmende Skepsis gegenüber der Erwerbstätigkeit von Müttern mit kleinen Kindern. Alleinerziehende Mütter (zunehmend auch Väter) und Stiefeltern sind zwei Gruppen von Eltern mit speziellen Problemen. 55 Knoop (2004: 16). 7.5 Probleme der Elternschaft 225 Steigende Erziehungsansprüche Mit der im 18. Jahrhundert aufkommenden Pädagogik und deren allmählicher Verwissenschaftlichung wurde die Erziehung der Kinder durch ihre Eltern zu einer Aufgabe, die immer komplexer und anspruchsvoller geworden ist. In den letzten Jahrzehnten, seit der »pädagogischen Revolution« in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts, sind die Anforderungen an eine gute Erziehung weiter gestiegen. 56 Die Ansprüche werden dabei von zwei Seiten an die Eltern herangetragen: zum einen durch die pädagogisch-psychologischen Wissenschaften und die Verbreitung entsprechender Ergebnisse in Ratgebern und Publikumszeitschriften, zum anderen durch die Kinder selber. Man sagt, dass Kinder heute höhere »Verfügungsansprüche« insbesondere gegenüber ihren Müttern stellen. Besonders Kinder von Eltern, die mit der Programmatik »antiautoritärer« oder zumindest sehr liberaler Erziehung aufgewachsen sind, scheinen solche Ansprüche zu erheben. 57 Vielleicht sind die hohen Erziehungsansprüche auch einer der Gründe für die hohe Kinderlosigkeit - das wird im nächsten Kapitel genauer erörtert. Dies scheint ein allgemeiner Trend der modernen Gesellschaften. Manche sehen darin aber auch ein typisch deutsches Problem, etwa die Autorengruppe des Siebten Familienberichts: Demnach seien in Deutschland die Ansprüche an die Erziehung besonders hoch; es herrsche hier stärker als in anderen Ländern die Meinung vor, Elternschaft lasse sich nur verwirklichen, wenn die berufliche Existenz gesichert sei. Und es gehöre zu den »Korsettstangen des deutschen Lebenslaufs«, dass die Familiengründung erst gewagt werde, wenn die berufliche Konsolidierung geschafft sei. 58 Vereinbarkeitsproblematik zwischen Elternschaft und Beruf Auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene betrifft das Vereinbarkeitsproblem vor allem die Strukturen der Arbeitswelt, die es Eltern, vor allem Müttern, bisher schwer machten, sich gleichzeitig und gleichwertig der Elternschaft und dem Beruf zu widmen. Aus der binnenfamilialen Perspektive haben wir es mit einem Rollenkonflikt zu tun, besonders bei den Frauen: Auf der einen Seite ist Mutterschaft, wie gesagt, zunehmend mit höheren Anforderungen verbunden (es geht immer weniger nur um Versorgung, sondern zunehmend um emotionale Unterstützung und 56 Cyprian/ Franger (1995), Sclafani (2004), Apple (2006). 57 BMFSFJ (2006: 76). 58 BMFSFJ (2006: 79, 87). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 226 Förderung in Bildungsfragen). Auf der anderen Seite lassen sich verstärkte Ansprüche der Frauen an ihre berufliche Laufbahn erkennen. Will die Frau keine »Rabenmutter« werden, muss sie das Ideal der »Supermom« anstreben: Sie darf erwerbstätig sein, sofern sie dadurch ihre Kinder nicht vernachlässigt. Die Mutterrolle kann somit in Konflikt mit den Wahlmöglichkeiten von Frauen geraten. 59 Die Frauen jedenfalls entscheiden sich zunehmend dagegen, nur zuhause zu bleiben - auch dann, wenn sie Mütter werden. Tatsächlich stiegen die Erwerbsquoten von Müttern in den letzten Jahren, auch wenn sie in Westdeutschland immer noch deutlich niedriger sind als in Ostdeutschland oder anderen europäischen Ländern: So waren beispielsweise im Jahr 2004 nur 20 Prozent aller Mütter mit minderjährigen Kindern in Westdeutschland vollzeiterwerbstätig. In Ostdeutschland lagen die entsprechenden Anteile deutlich höher. 60 Sinkende Toleranz gegenüber erwerbstätigen Müttern? In manchen öffentlichen Beiträgen der letzten Jahre kam wieder die alte Ideologie auf, die eigentlich seit den 1970er-Jahren verschwunden schien: nämlich, dass eine »gute Mutter« ganz für ihre Kinder da sein sollte. 61 Demgegenüber hatte die Umfrageforschung festgestellt, dass die Toleranz gegenüber erwerbstätigen Müttern ständig gestiegen war. Doch besonders in Westdeutschland ist sie gegenüber erwerbstätigen Müttern immer noch relativ gering und scheint in den letzten Jahren sogar wieder etwas abgenommen zu haben. So erhöhte sich zum Beispiel der Anteil von Befragten zwischen 2000 und 2006 leicht, die meinten, die Beziehung zum Kind leide, wenn die Mutter berufstätig ist. Dieser Anteil lag 2006 bei 60 Prozent. Dieser Wert gilt für Westdeutschland, der entsprechende Anteil für Ostdeutschland war deutlich niedriger: Im europäischen Vergleich haben Dänemark und Ostdeutschland die niedrigsten Werte bei der Bejahung des alten Ideals, die Frau solle zuhause bleiben »und sich um die Kinder kümmern, während der Mann arbeitet« (mit 18 bzw. 20 Prozent Zustimmung). In Schweden, Frankreich, Belgien und den Niederlanden lag 2006 die entsprechende Zustimmung bei Werten zwischen 30 und 40 Prozent, in Westdeutschland immerhin noch bei 53 Prozent. Noch traditioneller sind einige osteuropäische Länder: In Ungarn zum Bei- 59 Herlyn/ Krüger (2003: 23), BMFSFJ (2006: 77 f.), Beck-Gernsheim (2006). 60 Statistisches Bundesamt (2005: 33). 61 Zur historischen Entwicklung von »Mutterliebe« und der Idee der »guten Mutter« vgl. Schütze (1986) sowie Badinter (1980). 7.5 Probleme der Elternschaft 227 spiel lag die Zustimmung zum alten Ideal der Hausfrauenehe bei 81 Prozent, in Estland bei 73, in Tschechien bei 70 Prozent. 62 Alleinerziehende Mütter und Väter (Einelternfamilien) In Deutschland gibt es inzwischen etwa 2,5 Millionen Alleinerziehende. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren angestiegen, auch der entsprechende Anteil an allen Familienformen. Die Zahl entspricht etwa 20 Prozent von allen 12,5 Millionen Eltern- Kind-Gemeinschaften. 63 Damit wachsen etwa 15 Prozent aller Kinder in Deutschland in einer Ein-Eltern-Familie auf. Im Osten Deutschlands nahm der Anteil Alleinerziehender noch schneller zu als im Westen, obwohl er bereits früher schon höher war: Zwischen 1996 und 2004 stieg er dort von 19 auf 24 Prozent (im Westen von 16 auf 19 Prozent). 64 Der Sprachgebrauch ist nicht nur wegen der Verwirrungen mit der Rechtschreibreform uneinheitlich (heißt es »Alleinerziehende« oder »allein Erziehende« oder sollte man von »allein erziehenden Elternteilen« sprechen, wie in einer Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes? 65 ); auch von »Ein-Eltern-Familien«, »Ein-Elter-Familien« oder »weiblichen Ein-Elter-Haushalten« ist manchmal die Rede. Dagegen ist es nicht mehr legitim, von »unvollständigen Familien« zu sprechen. Nach wie vor sind es überwiegend die Mütter, die im Fall einer Trennung des Elternpaares die Erziehung allein übernehmen - oder besser gesagt: den Hauptteil der Erziehung, weil die Kinder meist bei der Mutter bleiben. Der Vater ist dann nur noch Besuchsvater. Der Anteil der Väter unter den Alleinerziehenden stieg in den letzten Jahren etwas an, er liegt bei etwa 18 Prozent. Etwa 40 Prozent der Alleinerziehenden sind geschieden, etwa 30 Prozent Ledige und knapp 10 Prozent verwitwet. Manche Untersuchungen behaupten, etwa 30 Prozent lebten »freiwillig« in dieser Lebenslage. Allerdings ist es wenig hilfreich, hier exakt zwischen freiwillig und unfreiwillig unterscheiden zu wollen. Von einem Teil der ledigen Mütter kann man annehmen, dass sie Mutter werden wollten, unabhängig von der Frage, ob und wie der Vater seine Elternrolle annimmt. Allerdings ist es kaum möglich, den Anteil dieser Frauen quantitativ zu erfassen. 62 Alle Angaben dieses Abschnitts bei Scheuer/ Dittmann (2007). 63 Statistisches Bundesamt (2005: 22). 64 Statistisches Bundesamt (2005: 23). 65 Statistisches Bundesamt (2005: 22 ff.). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 228 Die Abgrenzung zwischen Alleinerziehenden und nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern kann schwierig sein. Das Statistische Bundesamt zählt zum Beispiel Mütter, die mit einem neuen Partner zusammenleben, der nicht der Vater ihres Kindes oder ihrer Kinder ist, nicht zu den Alleinerziehenden - obwohl im Einzelfall der neue Partner vielleicht nur wenig Einfluss auf die Erziehung der Kinder hat; während umgekehrt eine offiziell alleinerziehende Mutter durch einen neuen Partner, häufig aber auch durch ihre eigenen Eltern, sehr viel Unterstützung erhalten kann. Ein deutlicher Unterschied zwischen alleinerziehenden Männern und Frauen entsteht dadurch, dass bei den Vätern sehr viel häufiger die Verwitwung der Grund für diese Lebensform ist, also der Tod der Mutter, während bei den alleinerziehenden Müttern der Anteil der Ledigen deutlich höher ist als bei den Vätern (Abb. 7.2). Jene Väter aber, die ein Kind alleine groß ziehen, weil sich die Mutter von ihnen getrennt hat, können zu Recht als »neue Väter« bezeichnet werden, d. h. als Väter, denen der Kontakt zu ihren Kindern und deren Erziehung mindestens so wichtig ist wie eine Berufstätigkeit. 66 Alleinerziehende werden häufig als sozialpolitische Problemgruppe angesehen. Manche Forscher betonen demgegenüber, dass es bei dieser Gruppe eine starke Differenzierung gibt: D. h. sie sind nicht grundsätzlich von Marginalisierung bedroht oder auf staatliche Fürsorge angewiesen. 67 Der internationale Vergleich - insbesondere der Vergleich mit skandinavischen Ländern - zeigt, dass alleinerziehende Mütter besonders in Deutschland, neben Langzeitarbeitslosen und ethnischen Minderheiten, als eine der Hauptrisikogruppen für Armut angesehen werden. Es wird vermutet, dass in Deutschland die Organisation des Sozialstaates und die Struktur des Arbeitsmarktes mit dazu beitragen, Erwerbsarbeit für Alleinerziehende als nicht besonders attraktiv erscheinen zu lassen, und sie deshalb häufig auf Sozialhilfeleistungen angewiesen sind. 68 Die Kritik zielt dabei auf eine wohlfahrtsstaatliche Politik, die Alleinerziehende als besonders förderungswürdige Problemgruppe ansieht und so gerade zu dem Problem und den negativen Folgen beiträgt. Wie das Beispiel Finnland zeigt, könnte ein Ausweg darin liegen, die Unterstützung für Alleinerziehende stärker auf die Bereitstellung von Betreuungsangeboten und einer entsprechenden Infrastruktur zu konzentrieren. Und auch in Schweden ist die ökonomische Situation von Alleinerziehenden relativ gut, weil man hier erfolgreich versucht hat, ihre Erwerbsquote zu erhöhen. 69 66 Vgl. dazu Kapitel 6.6. 67 Vetter et al. (2004). 68 Rohr (2004), Peschke (2004). 69 Törrönen (2004), Gähler (2004). 7.5 Probleme der Elternschaft 229 Es gibt, wie schon erwähnt, viele Zwischenformen, die statistisch schwer erfassbar sind. Das betrifft gerade Paarbeziehungen, die keinen gemeinsamen Haushalt führen. Es kann vorkommen, dass in der Praxis kaum ein Unterschied besteht zwischen einer alleinerziehenden Mutter, die eine feste Partnerschaft mit einem Mann hat, der zwar nicht bei ihr lebt, aber sich intensiv und regelmäßig um das Kind kümmert, und einem zusammenlebenden Elternpaar, bei dem der Vater seine Kinder nur selten sieht. 70 Abbildung 7.2: Familienstand der Alleinerziehenden 24 11 15 18 22 29 39 42 0% 20% 40% 60% 80% 100% Väter (0,387 Mill.) Mütter (2,116 Mill.) ledig verheiratet getrennt lebend verwitwet geschieden Familienstand von allein erziehenden Vätern und Müttern, Deutschland 2004. Quelle: Statistisches Bundesamt (2005: 23). 70 Für solche Tendenzen bei Living-apart-together-Eltern vgl. Traub (2005). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 230 Stiefeltern und Stieffamilien Noch heute spricht man von »stiefmütterlicher« Behandlung, wenn jemand vernachlässigt wird. Das schlechte Image von Stiefeltern in der Vergangenheit hängt auch damit zusammen, dass die Wiederverheiratung nach dem Tod eines Ehepartners oft aus ökonomischer Notwendigkeit erfolgte, die Beziehung zu den Kindern ohnehin nicht im Mittelpunkt stand und so die neue Mutter oder der neue Vater sich nur wenig um die Kinder des neuen Partners kümmern konnten oder wollten. Es liegen allerdings zu diesen Fragen kaum historische Studien vor, so dass wir wohl eher ein verzerrtes Bild aus der Vergangenheit haben (»die böse Stiefmutter«). In der modernen Familienforschung versucht man den Begriff der Stieffamilie zu vermeiden. Eine klare Alternative gibt es aber bisher nicht: Der Ausdruck Patchwork-Familie ist zwar populär, wird aber in der Wissenschaft nicht gern benutzt, da er eine schiefe Metaphorik transportiert. Im Französischen spricht man von famille recomposée; 71 Stiefeltern sind beaux-parents, die Stiefmutter ist la bellemère, was ungleich positiver klingt als die deutschen Begriffe. In den USA war früher der Begriff blended family (Familie mit Kindern aus früheren Ehen oder Partnerschaften) üblich; heute spricht man, ähnlich wie in Frankreich, eher von reconstituted family. Während früher ein großer Teil der Stieffamilien erst durch den Tod eines Elternteils entstanden, ist es heute viel häufiger der Fall, dass eine junge Mutter, die zunächst alleinerziehend war, später eine feste Bindung zu einem Mann eingeht, der nicht der Vater ihrer Kinder oder ihres Kindes ist; auch Wiederverheiratung oder eine neue Beziehung nach einer Scheidung ist häufig der Grund für Stieffamilien. Aus den Daten der amtlichen Statistik lässt sich der Anteil an Stieffamilien nicht genau erfassen. Man kann jedoch mittels Familiensurvey des Deutschen Jugendinstituts abschätzen, dass in Deutschland etwa 700.000 Familien als Stieffamilien im engeren Sinn anzusehen sind: D. h. ein Stiefelternteil und ein leiblicher Elternteil wohnen mit einem Kind oder Kindern in einem Haushalt zusammen. 72 Das entspricht einem Anteil von sieben Prozent an allen Familien mit Kindern unter 18 Jahren. Dabei sind immerhin ein Drittel der Eltern unverheiratet. Aus der Sicht der Kinder lebten (im Jahr 2000) etwa 850.000 Kinder in Deutschland in solchen Stieffamilien, das entsprach 5,5 Prozent aller Kinder (unter 18 Jahren), die mit einem oder zwei Eltern zusammenlebten. Ein etwas höherer 71 Meulders-Klein/ Théry (1998). 72 Bien et al. (2002). 7.5 Probleme der Elternschaft 231 Anteil wurde in einer neueren Studie ermittelt. Der Generation and Gender Survey kommt auf etwa neun Prozent von Kindern, die in Stieffamilien aufwachsen. 73 7.6 Kinder und Kindheit heute Im Lauf der Jahre hat sich im Rahmen der Familienforschung ein eigenständiger Forschungsbereich Kindheit entwickelt. Institutionell zeigt sich das auch daran, dass es in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eine Sektion Kindheit gibt, die sich zunächst innerhalb der Sektion Familiensoziologie entwickelte und dann eigenständig wurde. Das war zum Teil eine Reaktion darauf, dass einerseits die Familienforschung die Situation der Kinder etwas vernachlässigte - zugunsten von demografischen Analysen sowie der Situation von Paaren - und andererseits die Sozialisationsforschung, die noch in den 1970er-Jahren einen Großteil dieser Fragen abgedeckt hatte, sich zunehmend der Entwicklungspsychologie annäherte und mehr auf die Bildung der individuellen Persönlichkeit im Zeitverlauf konzentrierte. Die neue Kindheitsforschung dagegen befasst sich wieder stärker mit der Lebenswelt von Kindern: Neuere Forschungsrichtungen thematisieren verstärkt die Armut von Kindern und die Problematik von Vernachlässigung und Misshandlung. 74 Seit Beginn der 1990er-Jahre hat sich also eine eigenständige Kindheitsforschung etabliert. Diese Forschungen werden von einem Diskurs begleitet, der vor allem die Eigenständigkeit von Kindern und von Kindheit betont: 75 Kinder werden dabei nicht mehr in erster Linie als abhängig von ihren Eltern betrachtet, sondern als eigenständige Wesen und stärker in ihren Verflechtungen mit anderen Kindern (»Kinderkultur«). So wird beispielsweise das Spiel der Kinder nicht in erster Linie als Vorbereitung auf späteres Lernen gesehen (das ist die Erwachsenenperspektive), sondern es wird aus der Sicht der Kinder als eigenständig wertvolle Aktivität angesehen. Das gilt auch insgesamt für die Lebensphase Kindheit, deren eigenständiger Charakter stärker hervorgehoben wird. Auch die Individualisierungsthese fand in der Kindheitsforschung zunächst ein großes Echo - sowohl ein positives als auch ein negatives: Auf der einen Seite wurde konstatiert, dass Kinder heute mehr Autonomie haben, sich nicht einfach 73 Hullen (2006). 74 Beisenherz (2002). 75 Schweizer (2007), Beisenherz (2002: 243 ff.), Zinnecker (2000), Honig et al. (1996, 1999), Zeiher et al. (1996). 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 232 den Anweisungen ihrer Eltern fügen müssen, sondern selbst entscheiden dürfen und mit ihren Eltern aushandeln können, was gut und richtig für sie ist. Auf der anderen Seite wurde betont, dass die Situation für Kinder immer schwieriger wird, weil es ihnen an stabilen verwandtschaftlichen Bindungen fehle und weil es an institutionellen Formen der Vergemeinschaftung mangele. Im Kontext der Familienforschung wäre es naheliegend, den Strukturwandel der Familie und den Wandel der familialen Lebensformen aus der Perspektive der Kinder zu beleuchten. 76 Das geschieht jedoch relativ selten. Kinder werden in der Familienforschung immer noch überwiegend aus der Elternperspektive thematisiert: Was ändert sich in der Paarbeziehung, wenn Kinder kommen? Wie können Vater und Mutter das Vereinbarkeitsproblem lösen? Immerhin hat sich in der Scheidungsfolgenforschung und auf dem praktischen Sektor der Scheidungsmediation (hier geht es um Beratung von Familien, die sich in einem Scheidungsverfahren befinden) die Sichtweise durchgesetzt, dass die Kinder meist am stärksten unter den Folgen der Scheidung ihrer Eltern zu leiden haben. 77 Auch in anderen Bereichen der Familienforschung wurde das Defizit erkannt, und allmählich wird die Situation von Kindern stärker berücksichtigt. 78 Die rhetorische Frage: »Sind Kinder ein vergessenes Thema der Sozialberichterstattung«? 79 , kann inzwischen verneint werden. Auch der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht (2005) betont die Eigenständigkeit der kindlichen Lebenswelt. 80 Kinder werden nicht nur im Kontext von Familie und Schule betrachtet - im Gegenteil: Die Berichtskommission geht davon aus, dass das alte Zusammenspiel von Familie und Schule, das einerseits auf dem Modell der Hausfrauenehe und andererseits dem Prinzip der Halbtagsschule beruhte, immer weniger funktioniert. Der Bericht betont deshalb zum einen die Notwendigkeit der verstärkten öffentlichen Anstrengungen, um Familie und Schule bei ihren Aufgaben zu unterstützen und zu entlasten, zum anderen die Notwendigkeit einer einheitlichen Konzeption von Betreuung, Erziehung und Bildung. Diese drei Aufgaben, die bisher als Phasen im kindlichen Lebenslauf gesehen worden seien - mit entsprechender Arbeitsteilung zwischen Familie, öffentlicher Kinderbetreuung und Schule -, müssten in Zukunft verstärkt aufeinander abgestimmt werden und zu einer integrierten Aufgabe für das gesamte Kindes- und Jugendalter gesehen werden. 76 Alt (2001). 77 Wallerstein et al. (2002). 78 Vaskovics et al. (1997), Zinnecker/ Silbereisen (1996). 79 Alt (2001). 80 BMFSFJ (2005: 28). 7.6 Kinder und Kindheit heute 233 Wer sind überhaupt »Kinder«, wer gehört zur Kategorie »Kind«? Diese Frage ist nicht trivial, wenn man sich mit statistischen Daten befasst. Für das Statistische Bundesamt beispielsweise sind »Kinder« meist nicht eine Kategorie im Sinne eines bestimmten Lebensalters: Hierzu werden vielmehr alle Personen gezählt - ob minder- oder volljährig -, die bei ihren Eltern im Haushalt leben und nicht verheiratet sind. Deshalb kommt das Statistische Bundesamt auf 20,7 Millionen Kinder in Deutschland (für 2004). Beschränkt man die Betrachtung auf die minderjährigen Kinder (unter 18 Jahren), kommt man auf 12,5 Millionen. Von diesen lebten 2004 in Westdeutschland 81 Prozent - in Ostdeutschland jedoch nur noch 62 Prozent bei ihren verheirateten Eltern. 81 Gegenüber 1996 bedeutet dies ein Absinken der entsprechenden Anteile vor allem in Ostdeutschland (um 13 Prozentpunkte; in Westdeutschland um fünf Prozentpunkte). 14 Prozent der Minderjährigen im Westen bzw. 22 Prozent im Osten lebten bei einem alleinerziehenden Elternteil. Kinder sind - entgegen einer weitverbreiteten Ansicht - in Deutschland typischerweise keine Einzelkinder: Deren Anteil lag 2004 bei 25 Prozent; fast die Hälfte der Kinder (47 Prozent) wuchs mit einem Bruder oder einer Schwester auf, 19 Prozent hatten zwei Geschwister, und neun Prozent hatten drei oder mehr Geschwister. 82 In diesem Zusammenhang lässt sich ein weiteres Beispiel einer gravierenden Fehlinterpretation der Statistik anführen: In einer journalistischen Publikation, die sich ebenfalls auf Daten des Statistischen Bundesamtes berief, wurde behauptet, der Anteil von Familien mit einem Kind läge bei 51,3 Prozent. 83 Ein Fehler, den die Journalisten hier machten, war, auch jene Familien zu den Einkindfamilien zu rechnen, die ein erstes Kind hatten, deren Familienbildungsprozess aber noch gar nicht abgeschlossen war. Auf der anderen Seite zählten sie fälschlicherweise auch die Familien zu den Ein-Kind-Familien, in denen nur noch ein Kind im Haushalt lebte, da die anderen bereits das Elternhaus verlassen hatten. 84 Der Anteil von Familien mit nur einem Kind liegt also deutlich niedriger, bei etwa 35 Prozent. Vor allem aber darf dieser Prozentwert nicht für die Frage herangezogen werden, wie viele Kinder als Einzelkinder aufwachsen, wie folgendes 81 Statistisches Bundesamt (2005a: 27). 82 Statistisches Bundesamt (2005: 28). 83 Sehnsucht nach Familie. Die Neuerfindung der Tradition. SPIEGEL SPECIAL, Nr. 4, 2007, S. 25. 84 Ähnlich irreführend ist auch eine Meldung zum Mikrozensus: »2006 versorgte über die Hälfte (53 Prozent) der knapp 8,8 Millionen Familien nur noch ein minderjähriges Kind.« (www.faz.net, 28.11.2007) Das bedeutet, dass zum Zeitpunkt der Erhebung bei dieser Gruppe ein minderjähriges Kind im Haushalt der Eltern lebte. Es bedeutet aber nicht, dass diese Eltern nur ein Kind haben oder haben werden. 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 234 Rechenbeispiel verdeutlicht: Wenn von zehn Familien die eine Hälfte zwei und die andere Hälfte ein Kind hätte, dann würde nicht die Hälfte dieser - insgesamt 15 Kinder - als Einzelkinder aufwachsen, sondern nur fünf von ihnen, also ein Drittel. Zusammenfassende Thesen Wenn von Generationskonflikten oder gar von einem »Krieg der Generationen« die Rede ist, bezieht sich dies meist auf das Verhältnis von historischen Generationen bzw. auf die medialen Auseinandersetzungen zwischen Interessenvertretern der jüngeren und der älteren Generationen. Dagegen hat die familiensoziologische Generationsforschung deutlich gezeigt, dass die Generationsbeziehungen in den Familien im Allgemeinen recht positiv sind. Die Solidarität zwischen Jung und Alt in den Familien ist relativ gut, immaterielle Unterstützungsleistungen und materielle Transferleistungen sind hoch. Diese Forschung hat auch gezeigt, dass Familien nicht an den Haushaltstüren enden. Vielmehr ist es üblich, dass mehrere Generationen einer Familie in verschiedenen Haushalten leben (multilokale Mehrgenerationenfamilien oder Hausfamilien). Das Auszugsalter der Kinder aus dem Elternhaus hat sich in den letzten Jahrzehnten erhöht - ein weiteres Indiz für gute Beziehungen zwischen den familialen Generationen. Der biografische Übergang in die Elternschaft findet heute im Vergleich zu früher ebenso wie der Auszug aus dem Elternhaus später statt und wird auch stärker als Ergebnis einer Entscheidung betrachtet. Allerdings wird diese folgenreiche Lebensentscheidung nicht leichter, wenn sie in späteren Jahren stattfindet. Die Situation für Eltern ist nicht einfacher geworden, angesichts der Vereinbarkeitsproblematik und der gestiegenen Erziehungsansprüche. Bei Alleinerziehenden und Stieffamilien, deren Zahl weiter steigt, kommen dazu noch spezielle Probleme. 7.6 Kinder und Kindheit heute 235 Übungsfragen - Wie steht es heute mit der Generationensolidarität? - Wie hängen die beiden Generationenbegriffe zusammen? Wie verändert sich die Generationszugehörigkeit im Lebensverlauf? - Was sind multilokale Mehrgenerationenfamilien? - Wie unterscheiden sich Mehrgenerationenfamilien von Hausfamilien? - Was kennzeichnet heute den Auszug der Kinder aus dem Elternhaus? - Lässt sich der Übergang in die Elternschaft als Entscheidung begreifen? - Wie könnte sich die Elternschaft durch die Reproduktionsmedizin verändern? - Wie stellt sich die Situation von Kindern in verschiedenen Familienformen (»Normalfamilie«, Alleinerziehende, Stieffamilien) dar? Basisliteratur Fuchs, Marek (2003): Hausfamilien. Nähe und Distanz in unilokalen Mehrgenerationenkontexten. Opladen: Leske und Budrich Herlyn, Ingrid/ Dorothea Krüger (Hrsg., 2003): Späte Mütter. Eine empirisch-biographische Untersuchung in West- und Ostdeutschland. Opladen: Leske und Budrich Kohli, Martin/ Marc Szydlik (Hrsg., 2000): Generationen in Familie und Gesellschaft. Opladen: Leske und Budrich Lauterbach, Wolfgang (2004): Die multilokale Mehrgenerationenfamilie. Zum Wandel der Familienstruktur in der zweiten Lebenshälfte. Würzburg: Ergon Lüscher, Kurt/ Ludwig Liegle (2003): Generationenbeziehungen in Familie und Gesellschaft. Eine Einführung. Konstanz: Universitätsverlag 7. Großeltern, Eltern und Kinder: Generationsbeziehungen in Familien 236 8. Familie und Individualismus Seit mehr als zwei Jahrzehnten gilt »Individualisierung« als universelle Erklärungsformel für den Wandel familialer und nichtfamilialer Lebensformen. In der Tat hat sich, das wurde in der Behandlung der bisherigen Themenfelder immer wieder deutlich, der Individualismus als ein zentrales Merkmal der Gegenwartsgesellschaften erwiesen. Er ist eines der wichtigsten Kennzeichen der modernen westlichen Kultur, mit einer langen Geschichte. Er hat wesentlich zur Entstehung der modernen bürgerlichen Familie beigetragen und hat seit den 1960er-Jahren in Form der Beschäftigung des Individuums mit sich selbst noch einmal an Bedeutung gewonnen (? 8.1). Der Individualisierungsprozess hat auch Konsequenzen für die Vorstellung von Individualität und Identität, für Lebenslauf und Biografie. Die Standardisierung des Lebenslaufs wurde zunehmend zu einem wichtigen Ordnungsprinzip für die Vergesellschaftung der Individuen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts folgten immer mehr Menschen dem dreiteiligen Ablaufprogramm des Lebenslaufs, in dessen Mitte die Erwerbs- und Familienphase liegt. Gleichzeitig wurde die biografische Reflexion, der Blick auf das eigene Leben in seiner Gesamtheit, wichtig (? 8.2). Im Zuge des jüngsten Individualisierungsschubes verbreiteten sich individualistische Lebensformen, wie Singles, getrenntlebende Paare und individualisierte Partnerschaften (? 8.3). Ein Problem in diesem Zusammenhang, das in letzter Zeit große Aufmerksamkeit erlangte, ist die wachsende Kinderlosigkeit. Die Gründe dafür sind vielfältig. Neben der Bildungsexpansion und der Vereinbarkeitsproblematik gerade auch für Paare mit akademischer Berufsorientierung wirkt der Individualismus an der Entstehung einer »Kultur des Zweifels« mit (? 8.4). Vielfach werden individualistische, nichtfamiliale Lebensformen und Kinderlosigkeit als Ausdruck der Unvereinbarkeit von Individualismus und Familie angesehen. Im letzten Abschnitt wird deshalb der Frage nachgegangen, ob eine »Versöhnung« zwischen Individualismus und Familie nicht doch möglich ist (? 8.5). 237 8.1 Der Individualismus als Grundzug der westlichen Kultur Die Geschichte der westlichen Welt, so könnte man sagen, ist eine Geschichte anhaltender Individualisierung. Seit mehr als 500 Jahren lässt sich, wenn auch keineswegs kontinuierlich, ein Bedeutungszuwachs des Individualismus beobachten. Für England lassen sich die Ursprünge bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen. 1 Und immer wieder wird auf die Antike als Wiege des Individualismus hingewiesen. 2 Allerdings ist es vom Individualismus der alten Griechen bis zum modernen Individualismus noch ein langer Weg: Was zum Beispiel im alten Griechenland weitgehend fehlte, sind bestimmte Formen der Selbstthematisierung und Selbstreflexion, wie sie in den literarischen Formen Autobiografie oder Tagebuch zum Ausdruck kommen. Aber auch eine Kultur psychotherapeutischer Selbstreflexion oder die Vorstellung einer individuellen Bildungsgeschichte fehlte noch weitgehend. Auch wenn das Mittelalter nicht gerade einen Individualisierungsschub brachte, so hat doch das Christentum einiges dazu beigetragen, den Wert des Individuums zu steigern. Manche sehen in der christlichen Tradition geradezu den Ursprung des modernen Individualismus. 3 Im 19. Jahrhundert setzte sich die Ansicht durch, dass das individualistische Zeitalter mit der italienischen Renaissance beginnt. Für den Historiker Jakob Burckhardt waren die Italiener der Renaissance das »erstgeborene Volk des modernen, wesentlich individuellen Zeitalters, insofern sie sich subjektiv, als eigengeartete Menschen, empfinden und durchgängig und im Gesamten sich selbst, ihr ›Selbst‹, entdecken«. 4 Weitere wichtige Stadien der Individualisierung sind die Reformation und die Gegenreformation sowie die Säkularisierung der lutherischen und calvinistischen Konzeptionen im Zeitalter der Aufklärung. 5 Die Romantik führte diese Ideen weiter »und brachte sie in ihre bis heute gültige Gestalt: Das Individuum wird als einzigartige und selbstbestimmte Person begriffen; und von jedem wird gefordert, dass er sich zu solch einer Art von Person entwickle«. 6 In verschiedenen Epochen standen jeweils unterschiedliche Aspekte bzw. Entwicklungsaspekte des Individua- 1 Macfarlane (1978). 2 Vernant (1998). 3 Dumont (1991). 4 Rehm (1994: 10), in der Einleitung zu Burckhardt (1994 [1860]). 5 Die Entwicklung der Beichte bietet hier gutes Anschauungsmaterial (Hahn 1982). 6 Schimank (1988: 55 f.). 8. Familie und Individualismus 238 lismus im Vordergrund. Versteht man Individualisierung als wesentliche Dimension der Modernisierung, so lassen sich folgende Modernisierungsformen unterscheiden: 1. Ökonomische Modernisierung, bei der vor allem die wirtschaftliche Freiheit des Individuums zur Geltung kommt (Liberalismus, Utilitarismus). 2. Politische Modernisierung, bei der die individuellen Menschenrechte, insbesondere Freiheit und Selbstbestimmung, im Vordergrund stehen. 3. Kulturelle Modernisierung, bei der die Selbstreflexion des Individuums und entsprechende kulturelle Ausdrucksformen zentral sind. Mit Individualismus lässt sich also die Gesamtheit an Ideen und Lebensformen zusammenfassen, die dem Individuum gegenüber Kollektiven, Gemeinschaften oder sozialen Strukturen eine stärkere Stellung zuschreiben. Der Begriff kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf, zunächst als kritische Reaktion auf die Aufklärung und die französische Revolution mit ihrer Hochschätzung des Individuums. »Individualismus« hatte also zunächst eher eine negative Konnotation, so wie heute etwa bei Liberalen das Wort »Kollektivismus«. Als grundlegende Elemente der Idee des Individualismus, wie sie im 18. Jahrhundert entstand, können nach Stephen Lukes Autonomie, Menschenwürde, Privatheit und Selbstverwirklichung unterschieden werden. 7 Für die USA könnte man hinzufügen: self-reliance, das man am besten mit »sich auf sich selbst verlassen, nur sich selbst vertrauen« umschreiben kann. Die drei erstgenannten Werte - Autonomie, Menschenwürde und Privatheit - gehen auf das liberale und aufgeklärte politische Denken des 18. Jahrhunderts zurück, Selbstverwirklichung ist eher romantischen Ursprungs. Damit sind zwei Grundrichtungen des Individualismus angesprochen, die später noch einmal genauer definiert werden. »Individualisierung« galt auch für die Gründerväter der Soziologie - Georg Simmel, Ferdinand Tönnies, Max Weber, Emile Durkheim und andere - als ein Trend, der offenbar das Neue in der gesellschaftlichen Entwicklung gut charakterisierte: Der Übergang in die Moderne wurde von den meisten Beobachtern auch als Freisetzung des Individuums, als Zuwachs individueller Autonomie, als Freiheitsgewinn und Emanzipation, als Ausweitung persönlicher Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten und als Steigerung von Selbstreflexion interpretiert. Allerdings wurden diesen positiv bewerteten Aspekten auch negative gegenübergestellt: Anomie, Wertzerfall und Normerosion, Bindungsverlust, Sicherheitsverlust, Zuwachs an biografischen Risiken, Vereinsamung und Heimatlosigkeit. 7 Autonomy, dignity of man, privacy, self-development (Lukes 1973). 8.1 Der Individualismus als Grundzug der westlichen Kultur 239 Amerikanischer Individualismus Für die Untersuchung des Individualismus ist ein Blick auf die amerikanische Gesellschaft aufschlussreich, weil sie die am weitesten entwickelte Version des Individualismus repräsentiert. 8 In Europa wurde mit dem in den 1820er-Jahren aufgekommenen Begriff vor allem Egoismus, Selbstsucht und soziale Verantwortungslosigkeit assoziiert. Bei seinem Transfer in die USA verlor er aber bald diese negativen Konnotationen. Für Amerikaner bedeutete »Individualismus« eher Selbstbestimmung und Eigeninitiative. Ein wesentlicher Grund dafür, dass diese Ideen den Amerikanern wesentlich attraktiver erscheinen als den Europäern, ist in der grundsätzlich anderen Ausgangsbasis einer Gesellschaft zu suchen, deren elementares Selbstverständnis (wie es sich im »American Dream« niedergeschlagen hat) die Überzeugung ist, ohne den Ballast traditionaler Herrschaftsstrukturen, allein durch Eigeninitiative und individuelle Risikobereitschaft, eine erfolgreiche Kultur geschaffen zu haben. Die Amerikaner des 18. und 19. Jahrhunderts schrieben das Wohlergehen und den Wohlstand ihres Landes einer Gesellschaftsordnung zu, die im Geist von self-reliance und Individualismus aufgebaut war, einer Ordnung, in der es jedem erlaubt sein sollte, auf eigene Faust (on my own) vorwärtszukommen. Zunächst, im 17. und 18. Jahrhundert, stand die Idee des mutigen Abenteurers im Vordergrund, der sich in die Wildnis vorwagt, um Land zu besiedeln und sich eine Existenz aufzubauen. »Individualismus« galt zu Beginn der amerikanischen Geschichte als eine notwendige Tugend - zielstrebige, risikofreudige Individuen erobern ein unbekanntes, wildes Land. Man spricht auch vom »frontier individualism«. Im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff zunehmend politisch definiert: Gleichheit, Demokratie, Freiheit, auch in religiöser Hinsicht, standen jetzt im Vordergrund. In seiner politisch-gesellschaftlichen Bedeutung meint »Individualismus« bis heute die Freiheit des Einzelnen, der eher auf seine eigene Leistungsfähigkeit vertraut als auf organisierte Hilfe; insbesondere Regierung, Staat und Gesellschaft sollten das Individuum nicht bevormunden, sondern Hilfe zur Selbsthilfe geben, damit es seine Angelegenheiten selbst regeln konnte. Im 19. Jahrhundert schob sich mit dem aufstrebenden amerikanischen Kapitalismus mehr und mehr eine ökonomische Bedeutung des Begriffs in den Vordergrund, im Sinne eines utilitaristischen Individualismus (Initiative, Wettbewerb, Rastlosigkeit). Zwar gab es im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend kritische Stimmen, doch bleibt auch dieser pure Erfolgs-Individualismus weiterhin ein zentraler amerikanischer Wert. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts gewann 8 Ausführlicher hierzu Burkart (1995b). 8. Familie und Individualismus 240 schließlich die kulturelle Dimension von »Individualismus« an Bedeutung, die vor allem in den letzten vier Jahrzehnten verstärkt mit Expressivität, Hedonismus und Selbstverwirklichung verbunden wurde (wie an vielen Erscheinungen abzulesen ist, vom Therapie-Boom bis zum »Beziehungs«-Diskurs). Diese letzte Version geriet aber auch in ein Spannungsverhältnis zu den Gemeinschafts- und Familien- Werten. 9 Systematisierungsversuche Schon immer war es ein Problem, dass mit dem Begriff »Individualisierung« sehr unterschiedliche Entwicklungen angesprochen wurden und es dadurch häufig zu Missverständnisse kam. Immer wieder gab es deshalb Systematisierungsversuche. So definierte zum Beispiel Michel Foucault »Individualismus« als den Wert, den man der Einzigartigkeit des Menschen beimisst, und den Grad der Unabhängigkeit, der ihm zugestanden wird. Er unterschied davon die Hochschätzung des Privatlebens sowie die Intensität der Selbstbeziehungen, das heißt »Formen, in denen man sich selbst zum Erkenntnisgegenstand und Handlungsbereich nehmen soll«. 10 Axel Honneth differenzierte zwischen Individualisierung, Privatisierung und Autonomisierung. 11 Unter Individualisierung sei jener sozialstrukturelle Vorgang zu verstehen, in dessen Verlauf die individuellen Entscheidungsspielräume institutionell erweitert wurden. »Solche Optionszuwächse ergeben sich für das einzelne Individuum aus einer Erhöhung seiner ökonomischen Verfügungsmacht, aus der institutionellen Vervielfältigung von ihm zu Gebote stehenden Handlungsalternativen oder aus der Freisetzung von sozial normierten Verhaltensverpflichtungen. (…) Unter Privatisierung oder Vereinzelung wäre jener soziokulturelle Vorgang zu verstehen, der auf dem Weg einer Zerstörung von intersubjektiv erlebbaren Gemeinschaftsbezügen die Individuen ihrer gesicherten Sozialkontakte beraubt und somit zunehmend voneinander isoliert; (…) Unter Autonomisierung (…) sind alle die Vorgänge zu verstehen, durch die Individuen dazu befähigt werden, mit vorgegebenen Handlungsalternativen auf eine reflektierte, selbstbewusste Weise umzugehen.« Auch die Theorie Ulrich Becks 12 lässt sich im Sinne eines Mehrebenenmodells systematisieren. Es handelt sich dabei um eine Entwicklung auf mehreren Ebenen 9 Bellah et al. (1985). 10 Foucault (1989: 59 f.). 11 Honneth (1988: 317 f.). 12 Beck (1986). 8.1 Der Individualismus als Grundzug der westlichen Kultur 241 gleichzeitig: Auf der strukturellen Ebene finden wir in erster Linie eine radikalisierte Freisetzung der Individuen aus traditionalen Bindungen (Klassenmilieu, Familie, Geschlechtsrollen), die mit der sich immer mehr durchsetzenden Arbeitsmarktmobilität und der Bildungsexpansion in Verbindung steht. Damit geht auf der kulturellen Ebene eine Erosion traditioneller Werte - insbesondere Familismus und Versorgungsehe - einher, außerdem ist eine zunehmende normative Unverbindlichkeit festzustellen (Anomie). Die Konsequenz auf der demografischstrukturellen Ebene ist die vielzitierte Pluralisierung von Lebensweisen, insbesondere die zunehmende Bedeutung individualistischer Lebensstile. Auf biografischer Ebene ist eine sich verstärkende biografische Instabilität festzustellen (Verlust der biografischen Perspektive der Dauerhaftigkeit, Destandardisierung des Lebenslaufs), aber auch eine wachsende biografische Autonomie, insbesondere für Frauen (Individualisierung der weiblichen Biografie). Schließlich, als wichtigste Konsequenz auf der Handlungsebene, vergrößert sich der Wahl- und Entscheidungsbedarf aufgrund einer Zunahme biografischer Optionen: Allerdings sind damit auch die »Schattenseiten« der Isolation, Vereinsamung und ein Sicherheitsverlust verbunden. In der soziologischen Diskussion wurde allerdings immer wieder betont, dass Individualismus nicht persönliche Idiosynkrasie oder Beliebigkeit des individuellen Verhaltens bedeutet, sondern auch Standardisierungen einschließt: So hat Talcott Parsons den institutionalisierten Individualismus als einen der Eckpfeiler der amerikanischen Kultur identifiziert. 13 Damit ist eine Art kontrollierter Individualismus gemeint. Dem Individuum wird von der Gesellschaft ein relativ großer Freiheitsspielraum des Handelns gelassen, der aber durch Sozialisationsprozesse soweit eingeschränkt ist, dass der Bestand des Systems nicht durch unkontrollierte und ausufernde individualistische Tendenzen der Abweichung gefährdet ist. Individualisierung bedeutet hier nicht, dass die Individuen gegen die Gesellschaft arbeiten. Man könnte von einer Art Vertrag sprechen: Die Gesellschaft lässt den Individuen einen großen Autonomie-Spielraum, diese fühlen sich aber auch verantwortlich für das Gemeinwesen. Die »Gesellschaft der Individuen« ist keine Gesellschaft von Egoisten. Der Familie kommt hier eine wichtige Mittlerrolle zu. 13 Parsons/ Platt (1973). 8. Familie und Individualismus 242 Drei Dimensionen der Individualisierung Individualismus und Individualisierung machen sich also in unterschiedlichsten Bereichen und auf unterschiedliche Weise bemerkbar, was sich in einer großen Unübersichtlichkeit innerhalb der Diskussion widerspiegelt: Von wachsender Entscheidungsautonomie ist die Rede oder von der Steigerung der Intimität; von wachsender individueller Freiheit oder von der Idee der Selbstverwirklichung. Die Vielfalt der Bedeutungsvarianten lässt sich ordnen, indem drei Dimensionen des Individualismus und der Individualisierung unterschieden werden - eine strukturelle, eine kulturelle und eine reflexiv-subjektive: 14 1. Unabhängigkeit, Handlungsautonomie und Selbstbestimmung durch Freisetzungsprozesse. 2. Besonderheit (Individualität im Sinne von Einzigartigkeit) durch Distinktionsprozesse. 3. Selbstreflexion (Subjektivierung) durch Institutionen der Selbstthematisierung. Die drei Dimensionen lassen sich auch mit den Stichworten Autonomie, Einzigartigkeit und Selbstbezug umschreiben: Freisetzung/ Autonomie: Weitgehend Übereinstimmung herrscht in der Soziologie darüber, dass der Übergang zur modernen Gesellschaft gekennzeichnet ist durch Individualisierung im Sinne der Auflösung traditionaler Gemeinschaftsformen und Bindungen, als Herauslösung der Individuen aus größeren Kollektiven und festen Strukturen. Die Freisetzung erhöht die individuelle Autonomie, erweitert Handlungsmöglichkeiten und Entscheidungsspielräume, zwingt aber auch zu Eigeninitiative und Selbstbehauptung (im Sinne von self-reliance). Als allgemeines Kennzeichen der Entwicklung der modernen Gesellschaft unbestritten, gab es aber Zweifel an der Diagnose eines neuen Individualisierungsschubes im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, insbesondere wenn etwa von Freisetzung in Bezug auf Geschlechtsrollen und Familie die Rede war. 15 Distinktion/ Einzigartigkeit: Die strukturelle Freisetzung begünstigt weitere Differenzierung, die Klassenstruktur wird durchlässiger, die individuelle Mobilität steigt. Das macht feinere Unterscheidungen notwendig: An die Stelle großer, homogener Blöcke (Klassen) treten immer stärker Milieus, Subkulturen und 14 Ausführlicher dazu und zu ähnlichen Unterscheidungen vgl. Burkart (1997, 2004, 2006a); die Unterscheidung der beiden ersten Dimensionen (Unabhängigkeit vs. Einzigartigkeit) geht auf Georg Simmel zurück (»quantitativer vs. qualitativer Individualismus«) und findet sich häufig in der Literatur, etwa in der Unterscheidung eines liberalen und eines romantischen Konzepts (Eberlein 2000). 15 Beck/ Beck-Gernsheim (1993), Burkart (1993). 8.1 Der Individualismus als Grundzug der westlichen Kultur 243 Lebensstilgruppen. 16 Schließlich setzen die Unterscheidungen direkt am Individuum an im Sinne von Besonderheit/ Einzigartigkeit und begleitet von wachsenden Abgrenzungsbestrebungen. Institutionell entwickeln sich immer raffiniertere Systeme der Distinktion und Klassifikation. 17 Feine Statusabstufungen und »ranking«-Systeme breiten sich in allen Lebensbereichen aus, vom Bildungssystem über das berufliche Statussystem bis hin zu Kulturbetrieb, Freizeitindustrie und Sport. Soziale Unterschiede werden individualisiert, indem sie psychologisch oder biologisch (etwa unter Berufung auf die Genforschung) begründet werden. Sie tragen so auch zur Individualisierung und Naturalisierung von Ungleichheit bei. 18 Selbstthematisierung/ Subjektivität: Die allgemeine Differenzierung führt nicht nur zu Freisetzung und Distinktion, sondern in ihrem Gefolge auch zu einem verstärkten Selbstbezug: Die Individuen denken über sich selbst nach und beschäftigen sich mit ihrem »Selbst«, das zunehmend als autonom, aus seinen sozialen Bezügen herausgelöst, wahrgenommen wird. Die Lebensgeschichte wird Gegenstand der Reflexion und erscheint zunehmend als machbar und planbar. Diese Art von Selbstreflexion ist in differenzierter Weise nur möglich, wenn kulturelle Muster der Selbstthematisierung und Selbstzuschreibung verfügbar sind, die institutionell abgesichert sein müssen. Die moderne Kultur hat solche Techniken und Institutionen der Selbstthematisierung entwickelt, von der Beichte über die Autobiografie und dem Tagebuch bis hin zur Psychotherapie. 19 Eine Kultur der Selbstthematisierung Während Individualisierung im Sinne der ersten beiden Dimensionen historisch schon lange zurückreicht, hat sich seit den 1960er-Jahren vor allem die dritte Dimension weiterentwickelt. 20 Insbesondere die inzwischen weit ausgefächerte »Psychoszene« hat seit dieser Zeit einen Diskurs der Selbstthematisierung hervorgebracht und intensiviert, den es in diesem Umfang wohl noch nie gab. Es hat sich eine historisch einzigartige Psychoreflexionskultur etabliert und immer mehr Menschen nehmen Psychotherapie-, Beratungs-, Selbsterfahrungs- oder Selbstmanagementangebote in Anspruch. Diese Selbstthematisierungskultur hat sich inzwischen zunehmend veralltäglicht, und das heißt auch: Sie fällt nicht mehr 16 Schulze (1992). 17 Bourdieu (1982). 18 Neckel (1991). 19 Hahn (1982), Willems/ Hahn (1999), Burkart (2006a). 20 Ausführlicher hierzu Burkart (2006b). 8. Familie und Individualismus 244 besonders auf - was manchen Beobachter zu der These verführt, dass die Zeit der Psychotherapie vorbei sei. Man darf demgegenüber aber annehmen, dass sich der Psychodiskurs in die Alltagskultur eingelagert hat, vor allem in den mittleren und höheren Bildungsschichten, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung im Zuge der Bildungsexpansion und der sie begleitenden sozialen Bewegungen stetig gewachsen ist. Daher gibt es auch in der Privatsphäre, in Familien und Paarbeziehungen, ein wachsendes Bedürfnis nach Selbstreflexion. Dies kommt auch im Partnerschaftlichkeits-Diskurs mit seinen Authentizitäts- und Aufrichtigkeitsansprüchen zum Ausdruck, der heute sehr einflussreich ist, wie eine Fülle von Ratgebern für Partner und Eltern belegen. Gleichzeitig weichen in vielen Praxisfeldern lebensweltliche Gewissheiten auf und stehen plötzlich unter Problematisierungsdruck: die eigene Sexualität oder die Erziehung der Kinder, der eigene Anteil am Gelingen der Partnerschaft, die richtige Studien- und Berufswahl. Auch in der Arbeitswelt gibt es einen wachsenden Bedarf an Selbstreflexion, Selbstdarstellung und der Anforderung, eine Balance zu finden zwischen Rollenkonformität (Leistungserfüllung) und Autonomie (Kreativität). Es gibt immer mehr Berufsgruppen, in denen es notwendig wird, die »ganze Persönlichkeit« einzubringen: so in Kultur- und Medienberufen (etwa in Werbe- oder Beratungsagenturen), aber auch generell im mittleren und höheren Management. Selbst- Coaching und Selbst-Management sind dort die neuen Schlagworte. 21 Auch Fragen der Selbstpräsentation sind allgemein wichtiger geworden, zum Beispiel bei Vorstellungsgesprächen. Strategien kontrollierter Selbstpräsentation erfordern intensivierte Selbstreflexion. Allgemein sind in der Arbeitswelt immer stärker flexible und reflexive Individuen gefragt - Individuen, die sich coachen (lassen) und wissen, wie man sich selbst präsentiert und gleichzeitig authentisch bleiben kann, die nicht einfach ihre Pflicht erfüllen, sondern über die eigene Selbstverwirklichung auch zum wirtschaftlichen Fortschritt beitragen. 22 Die Entwicklung solcher reflexiv-flexiblen Persönlichkeiten betrifft auch die familiale Sozialisation: Wieweit gelingt es der modernen Familie, solche Individuen zu »erzeugen«? 21 Bröckling (2000). 22 Anknüpfend an Studien wie jene von Boltanski und Chiapello (2003) über den Neuen Geist des Kapitalismus lässt sich - analog zur Protestantismusthese Webers - die These formulieren, dass es dem neuen Kapitalismus gelungen ist, sich das Selbstverwirklichungspotential zunutze zu machen. 8.1 Der Individualismus als Grundzug der westlichen Kultur 245 8.2 Individuum, Lebenslauf und Biografie Mit der Betonung des Individualismus geht auch eine stärkere Bedeutung von Lebenslauf und Biografie, Lebensplanung und Lebenszeitperspektiven einher. Zwar nehmen alle Gesellschaften eine Einteilung des Lebens ihrer Mitglieder in Altersstufen und Lebensphasen vor, aber für die moderne Gesellschaft wurde der Lebenslauf immer wichtiger und gleichzeitig standardisiert. Die soziale Einbindung der Menschen hat sich gewandelt hin zu einer Orientierung am eigenen Lebenslauf und der Biografie. Seit Mitte der Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine Soziologie des Lebenslaufs im engeren Sinn, in der es um Übergänge zwischen Lebenslaufphasen und um die Bedeutung des Lebenslaufs als »Institution« der Vergesellschaftung geht. 23 Darüber hinaus wurde in vielen Forschungsbereichen die Einsicht umgesetzt, dass jedes gesellschaftliche Problem immer auch eine lebenszeitliche Dimension hat. Das hatte erhebliche Konsequenzen für zahlreiche Forschungsgebiete wie beispielsweise die Sozialisationsforschung, in der ein Konzept von lebenslanger Sozialisation etabliert wurde. 24 Es ging jetzt um »das ganze« Leben, nicht mehr nur um einzelne Lebensphasen. Aber auch in der Familien- oder in der Arbeitssoziologie rückte nun stärker die Lebenslaufperspektive in den Vordergrund. Dadurch konnten Verbindungen zur historischen Forschung und zur Generationstheorie hergestellt werden. Mit der zeitlichen Dimension war zugleich der Anspruch verknüpft, nicht statisch-strukturelle, sondern dynamisch-prozesshafte Analysen vorzunehmen. Schließlich sollte dadurch auch die Subjektivität wieder mehr zu ihrem Recht kommen. Das galt insbesondere für die neu entstehende Biografieforschung. In der deutschen Forschung schälten sich drei Perspektiven heraus: erstens eine Soziologie des Lebenslaufs, zweitens eine Soziologie des Lebensverlaufs sowie drittens die Biografieforschung. 25 Der Schwerpunkt der »Lebensverlaufsforschung« lag zunächst bei methodischen Innovationen. Insbesondere die Methode der Ereignisanalyse hat wichtige Fortschritte in der Erfassung von Lebensverläufen gebracht: So wurde es möglich, detaillierte Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und bestimmten Übergängen im Lebenslauf zu analysieren (zum 23 Kohli (1978, 1985). 24 Kohli (1991). 25 Für die beiden erstgenannten Richtungen waren die profiliertesten Vertreter Martin Kohli bzw. Karl-Ulrich Mayer. Die beiden Autoren verwendeten zur Abgrenzung unterschiedliche Begriffe: »Lebenslauf« bzw. »Lebensverlauf« (vgl. dazu Wohlrab-Sahr 1992). Für die Biografieforschung vgl. Fuchs (1984) bzw. Fuchs-Heinritz (2005). 8. Familie und Individualismus 246 Beispiel den Einfluss des Bildungssystems auf den Zeitpunkt des Übergangs in die Ehe genauer zu bestimmen). 26 Außerdem wurden in dieser Forschungsrichtung strukturelle Faktoren für die Entwicklung des Lebenslaufs (wie Wohlfahrtsstaat, Bildungssystem und Arbeitsmarkt) stärker berücksichtigt. Der heutige »Normallebenslauf« ist das Ergebnis einer historischen Standardisierung und Institutionalisierung. 27 Während die Menschen früherer Epochen in vergleichsweise statischen sozialen Ordnungen lebten, die nur wenig durch Uhrzeit und Zeitpläne, dafür umso mehr durch die stabile Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Familie, Gemeinde, Stand) geregelt waren, hat sich in der Moderne, besonders in den letzten 100 Jahren, ein standardisiertes lebenszeitliches Ablaufprogramm entwickelt, dem die meisten Individuen mehr oder weniger strikt folgten. Eine wichtige Voraussetzung hierfür war auch, dass die individuelle Abweichung von der durchschnittlichen Lebenserwartung immer geringer wurde und immer mehr Menschen ein hohes Alter erreichten. Mit Standardisierung des Normallebenslaufs ist gemeint, dass immer mehr Menschen bestimmte biografische Ereignisse (Statusübergänge, Wechsel der Lebensphasen) in etwa demselben Alter erlebten. Besonders deutlich ist dies am Einschulungs- oder am Rentenalter zu sehen, die erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vereinheitlicht wurden. Auch das Heiratsalter hat sich standardisiert: Immer mehr Menschen heirateten und immer häufiger taten sie das ungefähr im selben Alter. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat sich bis Mitte der Sechzigerjahre das folgende Muster herausgebildet: Mit etwa 20 bis 25 Jahren heirateten die meisten Frauen (meist einen drei bis fünf Jahre älteren Mann), die meisten bekamen zwei oder drei Kinder im Alter zwischen 23 und 30 Jahren und lebten etwa zwanzig Jahre mit ihnen zusammen. Fast alle Männer waren erwerbstätig vom Ende ihrer Schulzeit bis zum Übergang in den Ruhestand. Das Rentenalter zu erreichen ist eine kulturelle Selbstverständlichkeit geworden, die uns »natürlich« erscheint, obwohl es sich dabei um eine historisch noch junge Errungenschaft handelt. Für die Geburtskohorten der Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts waren diese zeitlichen Normierungen am stärksten durchgesetzt - daher die eindrucksvolle Homogenität der Familienbildungsprozesse in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren. Der Lebenslauf kann als Institution gesehen werden, weil er durch Altersnormen und Übergangsregeln zwischen den Lebensphasen strukturiert und normativ geregelt ist: Das heißt, es gibt kulturell geltende Vorstellungen über das »richtige Alter« zum Heiraten oder zur Familiengründung. Der Normallebenslauf besteht 26 Blossfeld/ Huinink (2001). 27 Kohli (1985, 1986). 8.2 Individuum, Lebenslauf und Biografie 247 aus drei Hauptphasen mit dem Erwachsenenalter als Zentrum, bezogen auf einerseits Familie und andererseits Erwerbsarbeit. Kindheit und Jugend werden als Vorbereitungsphasen dazu angesehen. Der Ruhestand ist die Phase nach der Erwerbsarbeit und nach der aktiven Familienphase. Die Institution Lebenslauf wurde zu einem zentralen Strukturmuster der Arbeitsgesellschaft. Das galt lange Zeit nur für Männer, inzwischen aber immer häufiger auch für Frauen. Dennoch - und das wurde häufig kritisiert - passt die Institutionalisierungsthese vor allem für Männer, da sie auf die Erwerbsbiografie zentriert ist. Der weibliche Lebenslauf früherer Zeiten war dagegen um die Familienphase herum organisiert: Das junge Mädchen bereitete sich auf seine Mutter- und Gattinnenrolle vor, die ältere Frau war in erster Linie Großmutter. In differenzierterer Betrachtungsweise lassen sich heute sechs Phasen des Lebenslaufs unterscheiden: Kindheit, Jugend, junges Erwachsenenalter, mittleres Erwachsenenalter, frühes Seniorenalter (»aktives Alter«), spätes Seniorenalter. Hinsichtlich des Übergangs ins Erwachsenenalter entwickelte sich eine stärkere zeitliche Ballung der einzelnen Elemente dieses Übergangs, die früher oft weit auseinander lagen: Beendigung der formalen Schulbildung, Verlassen der Herkunftsfamilie, Heirat und Familiengründung, Aufnahme einer geregelten Erwerbsarbeit (Beruf ). Dadurch wurde die Übergangsphase kürzer: Kindheit, Jugend, Erwachsenenphase und Alter wurden deutlicher voneinander abgesetzt. Wichtige historische Markierungspunkte der Standardisierung waren die Einführung der Schulpflicht und des Rentenalters sowie die Stabilisierung der Lebenserwartung im hohen Alter. Dadurch sind auch die zentralen Leistungssysteme - Schule und Alterssicherungssystem - immer wichtiger geworden und haben mit zur Homogenisierung der Lebensläufe beigetragen. 28 Die zeitliche Strukturierung des Lebens gewann somit mehr und mehr an Bedeutung als neue Vergesellschaftungsform für die Individuen. Die Verfolgung eines eigenen Lebensplans wurde immer wichtiger. Insofern ist die Institutionalisierung des Lebenslaufs auch ein wichtiges Element des langfristigen Individualisierungsprozesses. Gleichzeitig schafft die Institutionalisierung des Lebenslaufs aber auch ein Spannungsverhältnis zwischen Standardisierung und Individualisierung. 29 Zum einen wird der Lebensablauf stärker geregelt, zum anderen soll er aber möglichst individuell und frei gestaltet werden. Weil die Menschen weniger abhängig sind von religiösen, familiären oder dörflichen Strukturen (Individualisierung im Sinne von »Freisetzung«), entsteht der Eindruck von größerer Wahl- 28 Kohli (1985). 29 Kohli (1986: 187). 8. Familie und Individualismus 248 freiheit, gerade in Bezug auf das eigene Leben - dem steht aber die stärkere Strukturierung des Lebenslaufs entgegen. Biografie und Selbstreflexion Neben den strukturellen Regelungen des Lebensablaufs sind für die Lebensführung des modernen Menschen auch biografische Orientierungsschemata wichtig: Interpretationen und Bewertungen des eigenen Lebensablaufs, einschließlich biografischer Reflexionen über die eigene Zukunft. Mit der Standardisierung des Lebenslaufs wuchs daher auch die Notwendigkeit der Selbstreflexion auf das eigene Leben. Weil man nicht mehr so stark in Gemeinschaften eingebunden ist, wird mit der Institutionalisierung des Lebenslaufs die Erfahrung biografischer Kontinuität wichtiger und diese wiederum ermöglicht die Erfahrung von Individualität. Das Leben soll als individuell gestaltetes erfahrbar und erlebt werden können. Solche Individualitätszumutungen, die mit dem neuzeitlichen Wertmuster des Individualismus aufgekommen sind, sorgen dafür, dass wir unser Leben als Ergebnis eigener biografischer Entscheidungen wahrnehmen können. Biografische Reflexionen beginnen schon in frühen Lebensphasen mit Überlegungen zur eigenen Zukunft. Das Individuum soll Lebensplanung betreiben, soll sich entscheiden: für eine Schulform, für eine Berufsausbildung. Auch wenn klar ist, dass gerade bei diesen frühen Entscheidungen dem Elternhaus eine wesentliche Bedeutung zukommt, wird in der modernen Gesellschaft doch erwartet, dass das Individuum sich autonom entscheidet. Das gilt erst recht für Entscheidungen wie die Wahl eines Partners und einer Lebensform (Single, Ehe, Familie). Solche Entscheidungen wiederum führen in späteren Phasen zu biografischen Bilanzierungen: Was wollte ich erreichen und was habe ich erreicht? 30 Planungen, Antizipationen und Bilanzierungen führen insgesamt zur Konstruktion einer eigenen Lebensgeschichte. Das heißt nicht, dass jeder seine Autobiografie schreibt - aber immer mehr Menschen tendieren dahin. 31 Im Unterschied zu Alltagsentscheidungen geht es bei biografischen Entscheidungen (Berufswahl, Partnerwahl, Familiengründung) um weite Planungshorizonte und folgenreiche Festlegungen; sie machen die Irreversibilität der Lebenszeit besonders deutlich - auch in der Zukunftsperspektive. Das relativ hohe Ausmaß an Kinderlosigkeit in der gegenwärtigen Gesellschaft lässt sich deshalb auch so ver- 30 Kohli (1982). 31 Zur Ausbreitung des autobiografischen Schreibens bei nicht-prominenten Alltagsmenschen vgl. Schmeiser (2006), Kraus (2006), Völter (2006). 8.2 Individuum, Lebenslauf und Biografie 249 stehen: Da Familiengründung eine besonders folgenreiche Festlegung des weiteren Lebenswegs darstellt, zögern immer mehr Paare, diesen Schritt zu tun (wie im Abschnitt 8.4 erörtert wird). Auflösung der Normalbiografie? Die Standardisierung des Lebenslaufs, wie sie bisher dargestellt wurde, ist eine langfristige Entwicklung vom späten 19. zum späten 20. Jahrhundert. Die Theorie der Institutionalisierung des Lebenslaufs und das Konzept der Normalbiografie wurden zu einer Zeit entwickelt, als es historisch seinen Höhepunkt schon fast erreicht hatte. Schon kurz nach der Umbruchphase der 1960er-/ 70er-Jahre wurden Tendenzen der Auflösung der Normalbiografie bemerkt. »Die empirischen Anzeichen mehren sich«, schrieb Kohli, dass der Prozess der Standardisierung des Lebenslaufs »zu einem Stillstand gekommen ist oder sich sogar umgekehrt hat«. 32 Zu dieser Frage wurde in den letzten Jahren eine Fülle von Untersuchungen durchgeführt. 33 Die Ergebnisse sind aber nicht eindeutig. Zwar lassen sich gewisse Destandardisierungstendenzen feststellen, vor allem in den jungen Erwachsenenjahren: So wurde die Erwerbsarbeit zunehmend flexibilisiert, prekäre Beschäftigungsverhältnisse traten zum Teil an die Stelle fester Berufe, von »Entgrenzung« zwischen Erwerbs- und Privatsphäre ist die Rede. Dennoch wäre es verfrüht, von einer »Auflösung« des Normallebenslaufs oder der Normalbiografie zu sprechen. Diese Konzepte können ohnehin nur allgemeine institutionelle Rahmenbedingungen erfassen, nicht aber die Vielfalt von Lebensverläufen. Ein aktuelles Problem wird heute darin gesehen, dass der Übergang in die Familienphase und die Phase der beruflichen Konsolidierung gegenwärtig nicht mehr gut zusammenpassen, was das »Vereinbarkeitsproblem« verschärft. Es gibt die These, dass dies besonders in Deutschland der Fall ist, weil hier der Lebenslauf noch stark am klassischen Modell orientiert sei und die mittlere Phase als Erwerbsphase überbetont werde, was wiederum zu einem Aufschub der Familiengründung und zu einer Orientierung an unterschiedlichen Lebensläufen und Vereinbarkeitsmustern für Frauen und Männer führe, wie die Autorengruppe des Siebten Familienberichts meint. 34 32 Kohli (1985: 22). 33 Eine Übersicht dazu bietet Scherger (2007). 34 BMFSFJ (2006). Der Siebte Familienbericht wurde von einer Gruppe von Soziologen und Psychologen verfasst, zu der Jutta Allmendinger, Hans-Bertram, Wassilios E. Fthenakis, Helga Krüger, Uta Meier-Gräwe, Katharina Spieß und Marc Szydlik gehörten. 8. Familie und Individualismus 250 8.3 Individualisierte Lebensformen Im Zuge des jüngsten Individualisierungsschubes verbreiteten sich Lebensformen wie Alleinleben, Getrenntleben als Paar und andere Formen individualisierter Partnerschaften. In einer negativen Interpretation - etwa im Sinne von Egoismus oder Narzissmus - scheint der Individualismus, der diese Lebensformen begünstigt, nicht nur mit zum Zerfall der Familie, sondern überhaupt von Gemeinschaftswerten beizutragen. So jedenfalls lautet eine weit verbreitete Meinung, die auch in den Sozialwissenschaften schon seit längerem diskutiert wird. 35 Die Frage, ob der Individualismus auch einen positiven Einfluss auf die Familienentwicklung haben könnte, wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels behandelt. Im Folgenden geht es zunächst um die Verbreitung neuer individualistischer Lebensformen, die besonders für jene Personengruppen attraktiv sind, die auch in anderer Hinsicht die Vorreiter des Individualisierungstrends sind: nämlich die städtisch-kreativen Bildungsschichten des individualisierten Milieus. Singles Der Anstieg der Anzahl der »Singles« gehört zu den Gemeinplätzen der Familienforschung der letzten Jahrzehnte, aber auch zu den Trends, über deren Größenordnung viel Unklarheit herrscht. Dies liegt zunächst an der begrifflichen Unschärfe in der »Singles«-Literatur, die daher rührt, dass mit dem Begriff unterschiedliche Phänomene erfasst werden. Ursprünglich meinte der Begriff »single« im Englischen - als Adjektiv - den Gegensatz zu »married«, also nichts anderes als »ledig«: Wer nicht verheiratet (oder wenigstens verlobt) war, hatte noch keine ernsthafte Beziehung, war also single (und lebte selbstverständlich noch bei den Eltern). Bezieht man sich auf »Singles« in einem eher essayistischen oder journalistischen Sinne, sind damit jene gemeint, die keine »feste« Partnerschaft haben oder haben wollen (zunächst unabhängig von der Wohnform und dem Familienstand). Manchmal wurde der Begriff »Single« auch für jene »Bewegung« von Personen reserviert, die sich »freiwillig für ein unbefristetes Alleinleben entschieden haben«. 36 Wer sich bei diesem Thema auf demografische Daten der Haushaltsstatistik stützt, bezieht sich auf die Alleinlebenden. Diese können ledig, verheiratet, geschieden oder verwitwet sein; sie können einen festen Partner haben oder ohne jegliche Partnerbindung sein. »Alleinstehende« nannte man früher alle Personen, 35 Lasch (1980), Bellah et al. (1985). 36 Peuckert (1991: 37). 8.3 Individualisierte Lebensformen 251 die keinen festen Partner hatten (sie mussten deshalb nicht alleine wohnen). Entsprechend sind verschiedene Kombinationen möglich: zum Beispiel alleinstehende Alleinwohnende oder Alleinwohnende in fester Partnerschaft. Es gibt daher weite und enge Bedeutungen von »Single«: In seinem weitesten Sinn schließt der Begriff sämtliche Personen in Einpersonenhaushalten ein (und manchmal noch mehr, weil die Statistik, wie gezeigt, deren Zahl überschätzt). Eine sehr enge Bedeutung hat er in folgender Definition: alle Alleinlebenden, die freiwillig und mit Entschiedenheit für lange Zeit auf eine feste Partnerschaft verzichten - und zwar in einer Lebensphase, in der man im Normalfall verheiratet ist bzw. eheähnlich zusammenlebt, also im Alter ab etwa 30 Jahren. Bei dieser engen Definition lassen sich noch einmal zwei Ausprägungen unterscheiden: die asketische und die hedonistische Variante. Asketische Singles verzichten nicht nur auf eine feste Partnerschaft, sondern mehr oder weniger auch auf Sexualität. Die zweite Variante entspricht eher dem, was manchmal mit »swinging single« bezeichnet wurde: vielfache sexuelle Kontakte ohne feste Bindungsabsicht. Auch wenn es Hinweise dafür gibt, dass heute eine größere Anzahl von Personen in hedonistisch-promisken Verhältnissen lebt, so ist doch insgesamt die Lebensform »dauerhaft und mit Entschiedenheit ohne Partner« kaum zu einer ernsthaften Alternative zur langfristig angelegten Paarbeziehung geworden. Wie viele »richtige« Singles gibt es? Auf jeden Fall ist die Gesamtzahl der Alleinlebenden nicht geeignet, diese Frage zu beantworten. Wenn man nur die Alleinlebenden in den mittleren Altersgruppen nimmt (zwischen dem 25. und dem 55. Lebensjahr), kommt man auf etwa zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands, also auf etwa sechs bis sieben Millionen Menschen. Bei einer engeren Definition von Singles - alleinlebend, zwischen 25 und 55 Jahre, freiwillige Partnerlosigkeit, beabsichtigte Dauerhaftigkeit - dürften es etwa drei Prozent der Bevölkerung Deutschlands sein, also etwa zwei bis drei Millionen. Nimmt man allerdings eine noch engere Definition, in der insbesondere der Aspekt betont wird, dass Singles bewusst eine Lebensform wählen, die einen »Gegenentwurf« zum langweiligen Dasein in ehelicher oder eheähnlicher Kohabitation darstellt, dann »lassen sich nur wenige Menschen finden, die Singles in diesem Sinn sind«. 37 Was sind die Gründe für das Alleinleben und die Partnerlosigkeit? Man kann die Frage zunächst sehr vereinfachen: Handelt es sich dabei eher um eine selbst gewählte oder eher um eine durch die Lebensumstände erzwungene Lebensform? Im ersten Fall haben wir es mit Menschen zu tun, die sehr selbständig sind, sich nicht gern nach anderen richten und vielleicht auch die ständige Nähe eines Partners nicht wollen. Sie fühlen sich im Großen und Ganzen sehr wohl, weil sie das 37 Hradil (1995: 6 ff.), Hradil (2003), Peuckert (2008: 53 f.). 8. Familie und Individualismus 252 Alleinsein eher genießen können, als dass sie unter Einsamkeit leiden würden. Im zweiten Fall haben wir Menschen vor uns, die gern wieder einen Partner hätten oder gern mit jemand zusammenlebten, aber Probleme haben, überhaupt jemanden oder den zu ihnen Passenden zu finden. In der Öffentlichkeit existieren beide Bilder: der Einsam-Depressive und der unbeschwerte Single, wenn auch, besonders in den Publikumszeitschriften, das Bild des positiv eingestellten, unabhängigen, selbstbewussten Individualisten überwiegt. Durch eine einfache Klassifikation nach den Dimensionen von Freiwilligkeit und Dauerhaftigkeit lassen sich vier Kategorien bilden (Abb. 8.1). Abbildung 8.1: Typen von Singles Freiwillig Erzwungen Zeitweilig Die Ambivalenten Die Hoffenden Dauerhaft Die Überzeugten Die Resignierenden Zusammenfassung verschiedener Typologien (vgl. Peuckert 2008: 48). Eigene Darstellung. Es gibt zahlreiche Typologien dieser Art, die vor allem von der Motivation zum Alleinleben ausgehen: die Vorsichtigen, die Hoffenden, die Zufriedenen, aber auch die Unzufriedenen, die Experimentierfreudigen, die Suchenden, die Abgeklärten, die egoistischen und die defensiven Singles, die Einsamen, die Kreativen, die Ambivalenten und viele andere. 38 In diesem Zusammenhang wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass Singles im Durchschnitt etwas größere Probleme mit Gesundheit und allgemeiner Zufriedenheit haben. Auch das Bild in der Öffentlichkeit ist nicht nur positiv: Singles werden in der Bevölkerung zum Teil immer noch negativer beurteilt als Verheiratete; sie werden eher mit Einsamkeit oder geringer Fürsorglichkeit in Verbindung gebracht. Noch immer gilt, dass Unverheiratete bzw. Partnerlose über 35 als etwas seltsam gelten. Jüngere Singles dagegen werden eher positiv eingeschätzt. 39 38 Eine Übersicht findet sich bei Hradil (1995: 47 ff.). 39 Hertel et al. (2007). 8.3 Individualisierte Lebensformen 253 Getrenntlebende Paare - Singles in Paarbeziehungen Viele der bisherigen Aussagen bezogen sich auf einen diffusen »Single«-Begriff; die verfügbaren Studien differenzieren häufig nicht genau zwischen partnerlos Alleinlebenden (»Singles« im engeren Sinn) und Alleinlebenden, die Teil einer Paarbeziehung sind (»living apart together«). Die Größenordnung dieser Differenz empirisch zu bestimmen, scheint bislang ein aussichtsloses Unterfangen: Wenn man wissen will, wie viele der Alleinlebenden einen festen Partner haben, dann reicht die Spannweite der Antworten in den verschiedenen Untersuchungen von einem Sechstel bis zur Hälfte. 40 Und in manchen Studien werden für getrenntlebende Paare sogar höhere Zahlen angegeben als für nichteheliche Lebensgemeinschaften. 41 Diese Unsicherheit hat zum einen damit zu tun, dass »feste Partnerschaft« in solchen Befragungen wenig eindeutig erfasst wird; zum anderen damit, dass viele dieser Partnerschaften nicht allzu lange stabil sind. Schätzungen zufolge dauert die Hälfte bis zwei Drittel der Partnerschaften Alleinlebender nicht länger als zwei Jahre. Dies wäre ein erster Hinweis darauf, dass auch living apart together nur eine Übergangsphase im Lebenslauf darstellt. Amerikanische und holländische Familienforscher haben den Begriff des living apart together geprägt, als sie versuchten, verschiedene Formen von nichtehelichen Lebensgemeinschaften zu differenzieren. 42 Es gibt zunächst Formen des Getrenntlebens, die mit diesem Begriff nicht erfasst werden (z. B. die lange Anfangsphase von Beziehungen, bevor man sich zum Zusammenleben entschließt; oder die vor einer Scheidung stehenden Nochverheirateten, die aber bereits getrennt leben). Weiterhin handelt es sich bei getrenntlebenden Paaren häufig um Pendler (commuter)-Paare, die nicht unbedingt freiwillig und auch nur zeitweise auf eine gemeinsame Wohnung verzichten (z. B. Stewardessen und andere Luftfahrt-Angestellte, Bohrinsel-Techniker und Fernfahrer, Seeleute und Montagearbeiter). In diesem Fall ist der zweite Haushalt häufig nur eine primitive Zweitwohnung. 43 Mit der Bezeichnung living apart together sind vor allem solche Paare gemeint, für die das Zusammenleben nicht oberste Priorität hat und die deshalb lieber zwei Wohnungen in verschiedenen Städten in Kauf nehmen, als auf eine Karriere-Möglichkeit in einer anderen Stadt zu verzichten. Für getrennte Wohnungen spricht bei solchen Paaren außerdem ein ausgeprägtes Autonomie-Bedürfnis. Living apart together ist eine Spezialform der individualisierten Partnerschaft, und deren Ideal- 40 Hradil (1995: 40), Bien/ Bender (1995: 65 ff.), Peuckert (2004: 98 ff.).. 41 Schlemmer (1995: 368). 42 Straver (1980), Gross (1987). 43 Schneider et al. (2002). 8. Familie und Individualismus 254 bild ist das freiwillig getrennt lebende Paar mit zwei Wohnungen in derselben Stadt. Meist sind diese Paare kinderlos (jedenfalls ohne Kinder im Haushalt); sie haben teilweise getrennte Freundeskreise und getrennte Kassen. Wenn es trotz eines beruflich erzwungenen Ortswechsels oder Pendelns beim freiwillig Getrenntleben bleibt, kann es zu der Konstellation kommen, dass jeder Partner zwei Wohnungen hat: Jeweils eine in der Stadt, in der das Paar lebt, und jeweils eine in den Städten, wo die beiden Partner arbeiten. Dies wäre die Extremform der Vermischung von »freiwillig« Getrenntleben und Pendel-Zwang: Ein Paar mit vier Wohnungen. Deutlich verbreiteter als dieser Grenzfall, der wohl nur in bestimmten Milieus, wenn überhaupt, vorkommt, ist die individualisierte Partnerschaft mit zwei Wohnungen in derselben Stadt, doch handelt es sich auch hier nicht um ein Massenphänomen, sondern um die Lebensform einer Minderheit im individualisierten Milieu. Wir haben es hier mit zwei unabhängigen Menschen zu tun, die einen wesentlichen Teil ihrer individuellen Sphäre nicht mit einer anderen Person teilen wollen, auch nicht mit dem Intimpartner. In diesem Fall wird der romantische Liebescode ausgesetzt: Es gibt keine Verschmelzung der Lebensbereiche und der Intimzonen. Aber auch die Partnerschaftsnormen sind teilweise ausgesetzt. Gerade die Offenheit und Reziprozität der modernen Partnerschaft wird mit Skepsis betrachtet; und deshalb will man sich vor allzu großer Nähe schützen: »Wir reden nicht über alles.« 44 In psychologischer Hinsicht mag hier »Bindungsangst« oder »Angst vor Nähe« im Spiel sein. Aber es geht auch um die Wahrung von Autonomie und man könnte auch sagen: Abstand erhält die Zuneigung, Rückzugsmöglichkeit ist Voraussetzung für Bindungsbereitschaft. Die Partner müssen sich ein Stück weit fremd bleiben, damit ihr Zusammenleben in Spannung gehalten wird. Zusammenfassend können wir sagen, dass das Getrenntleben als Paar verschiedene lebenszeitliche Bedeutungen annehmen kann: - Getrenntleben als Paar, während einer oder beide Partner noch bei den Eltern leben. - Getrenntleben als Paar vor dem Zusammenleben oder der Ehe (alleinlebend; für die Haushaltsstatistik handelt es sich daher um »Singles« - das gilt auch für die folgenden Kategorien). - Getrenntleben als Paar nach dem Zusammenleben oder der Ehe, in der Regel als Übergangsphase bis zum endgültigen Ende der alten Beziehung bzw. der Etablierung der neuen Bindung, die dann eine neue Phase des Zusammenlebens einleitet. 44 Schmitz-Köster (1990: 14). 8.3 Individualisierte Lebensformen 255 - Getrenntleben als Paar im Sinne einer längerfristigen Alternative zu Kohabitation oder Ehe (»individualisierte Partnerschaft«, »living apart together«). - Getrenntleben als Paar aufgrund beruflicher oder sonstiger Zwänge (»commuter«-Ehe; Pendler-Beziehung). Bei all diesen Formen ist die Frage der Dauerhaftigkeit besonders wichtig, wenn man wissen will, ob es sich hierbei um eine Alternative zu Ehe und Familie handelt. Ein weiteres Problem, das sich der Forschung stellt, ist die Frage der faktischen Zeitdauer, die gemeinsam (in einer Wohnung) verbracht wird. Manche Paare leben zwar in einer Wohnung zusammen, verbringen aber im Wachzustand an Werktagen kaum eine Stunde gemeinsam. Andere leben jeweils alleine in ihrer Wohnung, besuchen sich aber fast täglich und verbringen häufig ganze Abende und die folgenden Nächte zusammen. Schließlich gibt es Pendler-Paare, die das gesamte Wochenende miteinander verbringen, sich dann aber vier oder fünf Tage lang nicht sehen. 8.4 Kinderlosigkeit Auch das Leben ohne Kinder (entweder als Paar oder als Single) ist eine individualisierte Lebensform. Wenn heute in der Öffentlichkeit über Kinderlosigkeit diskutiert wird, geht es primär nicht mehr, wie früher, um unfreiwillige Kinderlosigkeit, etwa durch Unfruchtbarkeit eines Partners, sondern um die entweder ganz frei gewählte oder durch Lebensumstände (Kampf um Karriere, Vereinbarkeitsproblem) mehr oder weniger erzwungene. Auch wenn, wie mehrfach betont, in der Öffentlichkeit häufig überhöhte Zahlen kursierten, so stellt sich dennoch die Frage, warum die Kinderlosigkeit zugenommen hat. Sozialwissenschaftliche Studien haben bisher vor allem den Zusammenhang von Bildungsexpansion, Karriere-Orientierung und Aufschub der Elternschaft untersucht. Der Zeitpunkt der Familiengründung wird entsprechend der Bildungsdauer verschoben. Eine starke Karriere-Orientierung schließt Familiengründung oft ganz aus. 45 Wie das Beispiel der DDR zeigte, muss eine starke Karriere-Orientierung von Frauen aber nicht zwangsläufig zum Aufschieben der Familiengründung oder gar zur Kinderlosigkeit führen. Auch andere Länder haben - trotz hoher Frauenerwerbsquoten - deutlich niedrigere Anteile an kinderlosen Männern und Frauen als Deutschland. 45 Herlyn/ Krüger (2003: 21 f.). 8. Familie und Individualismus 256 Eine Kultur des Zweifels Ein gewisser Teil der Kinderlosigkeit lässt sich zwar darauf zurückführen, dass die strukturellen Barrieren zu hoch sind (z. B. gibt es zu wenige kostengünstige Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder). Doch die tieferliegenden Gründe müssen im kulturellen Wertesystem gesucht werden. Wenn Kinderlosigkeit nicht mehr in erster Linie als Problem oder als Defizit von Paaren und Individuen gesehen wird, sondern als eine Lebensweise, die von vielen Menschen bevorzugt wird, können wir von einer Kultur der Kinderlosigkeit sprechen. 46 Bisher war ein Leben ohne Kinder die Ausnahme und im Normalfall nicht freiwillig - wenn doch, dann wurde es als ein klarer Fall von Abweichung, ein Ausdruck von Verantwortungslosigkeit oder als Charakterfehler gesehen. Heute steht im Falle der Kritik an der Kinderlosigkeit meist die demografische Sorge im Vordergrund und weniger die klassische moralische Entrüstung gegenüber verantwortungslosen Hedonisten. Es lässt sich daher sagen, dass die kulturelle Bewertung der Kinderlosigkeit heute im Großen und Ganzen nicht mehr negativ ist. Eine Kultur der Kinderlosigkeit ist nur in einer stark individualistischen Kultur möglich. Der Individualismus ist zweifellos ein Hauptfaktor für den Geburtenrückgang, insbesondere dann, wenn man ihn als Hintergrund für das steigende Bildungsniveau der Frauen begreift: Der Zusammenhang von Bildung und Geburtenrückgang ist hinlänglich bekannt: Überall, wo sich das Bildungsniveau der Frauen erhöht, sinkt in der Regel die Geburtenrate. 47 In allgemeiner Form wird der Individualismus seit langem für Kinderlosigkeit verantwortlich gemacht. Demgegenüber wurde die oben genannte dritte Dimension der Individualisierung - Selbstreflexion - beim Versuch der Erklärung von Kinderlosigkeit bisher unterschätzt. Wo Selbstthematisierungen und Selbstreflexion wichtige Werte sind, ist auch der Zweifel verbreitet: Man reflektiert über Risiken von Lebensentscheidungen und problematisiert den Selbstverständlichkeitscharakter der Elternschaft und des Familienlebens. Auch sind Zweifel hinsichtlich Qualität und Stabilität der Partnerschaft, also der potentiellen Eltern-Beziehung, normal geworden. Und wie werden die Kinder die Partnerschaft verändern; zum Guten oder zum Schlechten? Die lebenslange Festlegung wird zum Problem. Und selbst wenn alles, was die Vereinbarkeitsproblematik und die Paarbeziehung betrifft, in bester Ordnung ist und man sich daher im Prinzip für Kinder entscheiden könnte: Es bleibt dann immer noch das Problem der hohen Ansprüche an eine gute Erziehung. Es bleiben Zweifel, ob man die Kompetenz zur Elternschaft besitzt. 46 Zum Folgenden ausführlicher Burkart (2006b, 2007b). 47 Caldwell (1982), Blossfeld/ Huinink (1989). 8.4 Kinderlosigkeit 257 Die Feststellung von hohen Erziehungsansprüchen scheint im Widerspruch zu stehen zu Thesen vom »Verschwinden der Kindheit«, von der »Kinderfeindlichkeit« oder dem Rückgang der Zuwendung zum Kind zugunsten der Selbstverwirklichung der Erwachsenen. »König Kind« wurde entthront, wie es Philippe Ariès ausdrückte. 48 In der Tat haben wir auf der einen Seite einen wachsenden Anteil Kinderloser, für die die eigene Selbstverwirklichung im Vordergrund steht. Aber diejenigen, die sich für Kinder entscheiden, sehen sich viel größeren Anforderungen und ausgefeilten Erziehungsidealen ausgesetzt. 49 Zur Diagnose einer Kultur der Kinderlosigkeit passt auch, dass sich das Image der Mutterschaft deutlich verschlechtert hat. In vielen qualitativen Studien über kinderlose Frauen kommt immer wieder zum Ausdruck, dass Mutterschaft negativ gesehen wird: harte Arbeit, ermüdend, langweilig, nicht anerkannt, eine Aufopferung; oder wie eine 29-Jährige in einer australischen Studie sagte: »It’s a full-time job, 24 hours a day, seven days a week, 20 years, no break«. 50 Viele Frauen, die heute zwischen 30 und 35 sind, also im kritischen Entscheidungsalter, wurden in den 1970er-Jahren von Müttern (und Vätern) aufgezogen, die stark von der »Achtundsechziger-« und der Neuen Frauenbewegung beeinflusst waren. Sie wuchsen also in einem Klima auf, in dem allmählich selbstverständlich wurde, dass Frau-Sein sich nicht auf Mutter und Hausfrau beschränken kann. Sie genossen nicht nur eine permissive Erziehung, sondern wurden auch mit einem neuen Bild der Frau vertraut. Wenn diese Frauen sich nun vorstellen, selbst Mütter zu sein - eine wichtige Vorstufe der Entscheidung zur Elternschaft -, könnten sie eine Reihe von Problemen damit verbinden. Sie könnten sich zum Beispiel vorstellen, dass ihre Kinder nicht nur das selbe Maß an Freiheit und Selbstbestimmung erwarten, sondern auch ein hohes Maß an Zuwendung fordern werden, und darüber hinaus den Anspruch haben werden, ein gewisses Maß an Führung und Lenkung zu erfahren. Mutterschaft könnte dadurch, so jedenfalls die Befürchtung, noch mehr unter den Druck geraten, auf die eigene Selbstverwirklichung doch zu verzichten. Jedenfalls gilt Mutterschaft heute als ziemlich anspruchsvolle und zugleich undankbare Aufgabe. Mit Abstrichen gilt das auch für die Vaterschaft: Die Männer dieser Generation sind, wie wir aus den Studien über die Arbeitsteilung im Haushalt wissen, durchaus noch geneigt, das alte Modell - passive Vaterschaft, hauptsächlich Familienernährer - zu akzeptieren. Aber sie können oder wollen das zumindest 48 Ariès (1980). 49 Sclafani (2004), Apple (2006). 50 Wheeler (2004). 8. Familie und Individualismus 258 nicht mehr aktiv fordern und forcieren - und sie akzeptieren deshalb neue Regelungen: Soweit haben sie den Geschlechtsrollenwandel vollzogen. All das erzeugt Zweifel, Skepsis, Zögern. Und das wiederum fördert den Aufschub der Elternschaft. Der Aufschub ist aber längst als einer der wichtigsten Gründe für die Kinderlosigkeit erkannt. Denn die Zweifel werden im Verlauf der Biografie kaum geringer. Neben diesen allgemeinen Entwicklungen könnte die Kultur der Selbstthematisierung noch spezielle Trends gefördert haben, die eine Neigung zur Kinderlosigkeit implizieren. Drei Trends sind dabei bedeutsam: Hedonismus, Narzissmus und Depressivität. Der Hedonismus wird oft beklagt und als Grund für Kinderlosigkeit angesehen: So lautet einer der Vorwürfe, die jungen Leute würden Konsum und Vergnügen der elterlichen Verantwortungsübernahme vorziehen. Demgegenüber begrüßten feministisch orientierte Studien die Unabhängigkeit und das neue Selbstbewusstsein der Frauen und bezogen sich positiv auf bestimmte Werte, die mehr oder weniger mit Hedonismus verbunden sind: »A childfree lifestyle includes spontaneity, freedom, and enjoyment.« 51 Hedonismus ist hier eine Spielart der Selbstverwirklichung. Die bereits oben zitierte Australierin ergänzt ihre Erläuterungen zum harten Mutterberuf so: »I’m far too selfish for that full-time job.« 52 Allerdings gibt es im gegenwärtigen Feminismus immer häufiger Stimmen, die sich von kämpferischen »Childfree«-Bewegungen distanzieren und auch nach anderen Lösungen des Vereinbarkeitsproblems suchen. 53 Auch der Narzissmus wird häufig als eine Ursache für den Zerfall der Familie und damit auch der Zunahme von Kinderlosigkeit beklagt, und im öffentlichen Diskurs werden Narzissmus, Hedonismus und Egoismus gern gleichgesetzt. In diesem Zusammenhang sei erinnert an eine Diskussion, die in den 1970er-Jahren in der Sozialisationsforschung um den sogenannten Neuen Sozialisationstypus geführt wurde, den man mit Narzissmus in Verbindung brachte. Mit dieser Charakterisierung war gemeint, dass viele Jugendliche sich vor allem mit sich selbst und ihren individuellen Problemen beschäftigten. 54 Der Narzissmus im engeren Sinn ist eine psychische Erkrankung mit einer starken psycho-sozialen Komponente, da sie eine Beziehungsstörung ist. Auch das 51 Wheeler (2004). 52 Wheeler (2004). 53 Vgl. das Themenheft der Feministischen Studien zur Kinderlosigkeit (Heft 1/ 2005). Die Herausgeberinnen distanzieren sich dort von Tendenzen, Kinderlosigkeit zu glorifizieren (Benninghaus 2005). 54 Ziehe (1975). 8.4 Kinderlosigkeit 259 Borderline-Syndrom und bestimmte Formen von Depressivität gehören zu diesen Störungen der Beziehungskompetenz. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat die Beobachtung, dass die Depression inzwischen die Neurose als zeittypische psychische Erkrankung abgelöst hat, mit dem Individualisierungstrend verknüpft. Er betont dabei den Aspekt, dass in spätmodernen Gesellschaften der Druck auf die Individuen zugenommen habe, Selbstverantwortung zu übernehmen: Was aus ihnen wird, müssen sie sich selbst zuzurechnen, als Ergebnis eigener Entscheidungen. Wenn etwas misslingt, ist man selber schuld. Wenn man etwas erreichen will, muss man selbst die Initiative ergreifen. Diese Anforderungen an Selbstverantwortung und Selbstmanagement führen zu einem Überforderungsdruck, dem immer mehr Individuen nicht gewachsen sind - Folge davon: sie verfallen in Depressionen. 55 Aus all dem könnte man schließen, dass heute ein größerer Teil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen so stark von dem Problem der Selbstfindung und Selbstproblematisierung okkupiert ist, dass das Leben sehr lange in einem provisorischen Zustand bleibt: Arbeit, Partnerschaft, Wohnform, Lebensmittelpunkt - alles steht ständig in Frage und muss erst gut durchdacht werden. In einer solchen Situation ist Familienplanung natürlich nicht sehr wahrscheinlich: Überforderung, Unsicherheit und Zweifel sind keine guten Voraussetzungen für Elternschaft. Damit ist zunächst nur eine Disposition zur Kinderlosigkeit benannt, die erst unter bestimmten strukturellen Bedingungen aktualisiert wird. Solche Bedingungen können sein: Eine ungünstige Infrastruktur der Kinderbetreuung, also zu wenig öffentliche Kinderkrippen- und Kindergartenplätze; ein Erwerbssystem, das die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erschwert; ökonomische Krisen; eine unzureichende Familienpolitik. Hinsichtlich der Betreuungsverhältnisse, der Vereinbarkeitsmöglichkeiten und der Familienpolitik wird hierzulande gern auf Länder wie Schweden oder Frankreich verwiesen, die es in dieser Hinsicht besser machten und in denen auch die Anteile der Kinderlosen deutlich niedriger sind. 56 Allerdings sind auch der Politik Grenzen gesetzt. Wenn sich eine Kultur der Kinderlosigkeit, wie sie in der Vorstellung vom »childfree lifestyle« und in der »childfree«-Bewegung in den USA besonders deutlich zum Ausdruck kommt, in der Tiefenstruktur der Kultur einlagern würde, wäre sie mit politischen Maßnahmen kaum noch zu beeinflussen. Angesichts dieses politisch-kulturellen Problems sollten wir aber nicht die ungewollte Kinderlosigkeit vergessen: Denn etwa jedes sechste Paar, so wird geschätzt, 55 Ehrenberg (2004). 56 Kaufmann (2003a). 8. Familie und Individualismus 260 ist hätte gern Kinder, kann aber keine eigenen bekommen. 57 Für die Betroffenen ist dies oft ein großes Unglück. Die Familienpolitik könnte hier helfen, indem sie Paare, die ungewollt kinderlos sind, bei der Inanspruchnahme der zum Teil recht teuren Techniken der Fortpflanzungsmedizin finanziell unterstützt. Unter einer pro-natalistischen Perspektive - d. h., einer Familienpolitik, der es vor allem um die Erhöhung der Geburtenrate ginge - wäre dies vielleicht sogar kostengünstiger und effizienter als der Versuch, die freiwillige Kinderlosigkeit durch politische Maßnahmen oder finanzielle Anreize reduzieren zu wollen. 8.5 Die Vereinbarkeit von Individualismus und Familie Die kulturpessimistischen Diagnosen des familialen Zerfalls und des Niedergangs von commitments und sozialem Verantwortungsbewusstsein durch den Individualisierungsprozess haben sich als nicht haltbar erwiesen. Ganz im Gegenteil: Es gibt gute Gründe für die These, dass Individualisierung nicht zum Zerfall der Familien führt, sondern zu einer Modernisierung der Familien. Für die zukunftstaugliche Familie wird ein gewisses Maß an selbstreflexiven Kompetenzen ihrer Mitglieder immer wichtiger. Selbsterkenntnis ist eine wichtige Voraussetzung für gelingende Interaktionen und für Sozialität und damit auch für sozialen Erfolg und Anerkennung. Die moderne Gesellschaft braucht autonome Individuen, die sich reflexiv thematisieren können; sie benötigt Personen mit individualisierter Identität und reflexivem Subjektivismus. 58 Wenn dieser Zusammenhang richtig ist, dann gehört es zu den elementaren Aufgaben der Familie, ihre Mitglieder mit selbstreflexiven Kompetenzen auszustatten. Der Prozess der Aufwertung der kindlichen Persönlichkeit hat den familialen Sozialisationsprozess ohnehin seit längerem verändert. Talcott Parsons hat schon früh festgestellt, dass wir durch die familiale Sozialisation zu selbstreflexiven Individuen werden. Der institutionalisierte Individualismus ist für ihn ein Kernelement des westlichen Wertesystems, für dessen Sicherung die Familie nach wie vor zuständig ist. Historisch lässt sich dieser Prozess weit zurückverfolgen. Schon im 57 Onnen-Isemann (2000). 58 Schimank (2002). Diese Form der »positiven Individualisierung« (Schroer 2000) findet sich in der Soziologie vor allem in der funktionalistisch-differenzierungstheoretischen Linie, das heißt bei Durkheim, Parsons und Luhmann. 8.5 Die Vereinbarkeit von Individualismus und Familie 261 Reformationszeitalter lassen sich solche Tendenzen erstmals ausmachen: Das Familiengespräch löste allmählich die kirchliche Beichte ab, die protestantische Familie wurde zum Forum der Selbstreflexion ihrer Mitglieder. 59 Die bürgerliche Familie hat in ihrer langen Geschichte diesen Prozess vorangetrieben und den Bildungsprozess des Subjekts zu einer ihrer Kernaufgaben gemacht. Die Siebzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts haben in dieser Hinsicht noch einmal einen weiteren Entwicklungsschub gebracht, mit erneuerten pädagogischen Idealen: »The whole idea is to be yourself«, heißt es zum Beispiel über die Summerhill- Schule von A. S. Neill. 60 Dazu kommen die bereits genannten allgemeinen Veränderungen hin zur Selbstverwirklichung bei den jungen Erwachsenen. Wir können deshalb vermuten, dass es unter den Familien, die seit den 1970er-Jahren gegründet wurden, einen größeren Anteil gibt, bei denen das wechselseitige Gespräch eine wichtige Rolle spielt, bis hin zu quasi-therapeutischen Gesprächen. 61 Vor allem für die Familien, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren im akademisch-alternativen Milieu gegründet wurden, dürfte das gelten. Diese Elternpaare waren die ersten, die die Gelegenheit hatten, in einer verlängerten Jugendphase eine intensive und lange Phase der Selbstreflexion vor Eheschließung und Familiengründung zu erfahren. Als Modellfall kann man sich ein zu Beginn der Fünfzigerjahre geborenes Paar vorstellen, das in den Siebzigerjahren studierte und die entsprechende Schulung der Selbstreflexion durchlief: in Wohngemeinschaften, Selbsterfahrungsgruppen und politisch-therapeutischen Zirkeln. Man lernte dort, wenn es gut ging, sich selbst genauer zu beobachten, auf wahre Wünsche zu achten, sensibel für unsensible Umgangsformen zu werden, die eigene Geschlechtsrolle zu reflektieren und autoritäre Verhaltensweisen selbstkritisch mit den eigenen wahren Bedürfnissen (die erst entdeckt werden mussten) zu konfrontieren. Wenn es weniger gut ging, schloss sich häufig eine Therapie an. Viele solcher Paare bekamen zu Beginn der 1980er-Jahre ihr erstes Kind. Der Beginn ihre Elternschaft stand in einem deutlichen Kontrast zu dem ihrer eigenen Eltern: zunächst deshalb, weil sich in dieser Zeit nicht nur das Verständnis von Paarbeziehung grundlegend gewandelt hatte, sondern auch die pädagogischen Vorstellungen. Frauen und Männer, die eine 59 Schücking (1964). 60 Gestrich (2001: 468). 61 Dazu gibt es jedoch kaum empirisch-soziologische Untersuchungen (Hahn 1988). Die systemisch-familientherapeutische Literatur bietet hier zwar reichlich Anschauungsmaterial, allerdings nur indirekt, da es dort in der Regel nicht um Selbstthematisierung in der »Normalfamilie« geht, sondern um pathologische Besonderheiten. 8. Familie und Individualismus 262 Paarbeziehung eingingen, wollten nun nicht mehr länger den überkommenen Ritualen und den entsprechenden Geschlechterrollen folgen. Als Ideal für Paarbeziehungen setzte sich allmählich das Modell der Partnerschaft (bzw. Partnerschaftlichkeit) durch. Wir haben es im 6. Kapitel zwar problematisiert und seine Grenzen für die praktische Alltagsgestaltung von Paarbeziehungen thematisiert. Ein bestimmtes Maß an Selbstthematisierung und Partnerschaftlichkeit ist heute aber unverzichtbar. Damit sind auch die Grundlagen geschaffen für eine Familienkommunikation, in der sich eine Balance herstellen lässt zwischen den Autonomie- und Selbstverwirklichungsbedürfnissen der einzelnen Mitglieder und der Übernahme von Verantwortung für das Gelingen der familialen Gemeinschaft. Aber es gibt auch Grenzen, zunächst ganz grundsätzlicher Art: Als Lebenswelt scheint die Familie ungeeignet für Selbstthematisierungen: Sie »könnte kaum als Dauerbeichte oder Dauertherapie gelebt werden«. 62 Ein Zuviel an Selbstthematisierung und Reflexion sowie bestimmte falsch verstandene Ideale von Offenheit und Authentizität können neue Arten von Konflikten und Belastungen mit sich bringen. Selbstreflexion kann zum Problem werden, sowohl auf der Ebene der Elternbeziehung wie am Modell der Partnerschaft angedeutet, als auch auf der pädagogischen Seite, wie man etwa an den negativen Seiten der antiautoritären oder liberalen Erziehung zeigen kann. Deshalb fragen sich heute auch selbstreflexive Eltern, ob es zum Beispiel ihre Autorität untergräbt bzw. die Kinder überfordert, wenn sie sich ihnen gegenüber offenbaren oder wenn sie Verbote selbstreflexiv zu begründen suchen: »Wenn ich sage, du sollst um zehn nach Hause kommen, dann tue ich das, weil ich mir Sorgen mache« (und die folgerichtige Antwort des Kindes: »Das ist doch dein Problem«). Es muss also auch eine tendenziell destruktive Tendenz der Selbstthematisierung in Familien bedacht werden. Nicht nur in Eineltern-Einkind-Familien gibt es Tendenzen, das Kind als Partner zu missverstehen und deshalb jede pädagogische Intervention selbstreflexiv begründen zu müssen. 62 Hahn (1988: 178). 8.5 Die Vereinbarkeit von Individualismus und Familie 263 Zusammenfassende Thesen Für die Geschichte der westlichen Familie ist der Individualismus von besonderer Bedeutung. Zum einen stand er in der historischen Entwicklung immer in einer gewissen Spannung zur Familie; zum anderen ist aber die Familie der Ort, an dem individualistische Persönlichkeiten heranwachsen. In der komplizierten Begriffsgeschichte des Individualismus lassen sich verschiedene Dimensionen unterscheiden. Neben der klassischen Unterscheidung in Autonomie und Einzigartigkeit hat sich in den letzten Jahrzehnten - dem jüngsten »Individualisierungsschub« - besonders die Dimension der Selbstreflexion stärker entwickelt. Mit der Bedeutungssteigerung des Individuums wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts auch die Orientierung am Normalmuster des Lebenslaufs und an der eigenen Biografie wichtiger. Als Alternative zur familialen Lebensform verbreiten sich seit etwa vier Jahrzehnten individualistische Lebensformen, wie Singles, getrenntlebende Paare und individualisierte Partnerschaften. Zu einer besonderen Problematik hat sich die Kinderlosigkeit entwickelt, die vielfältige Gründe hat, aber in allgemeiner Hinsicht auf einige negative Effekte der Individualisierung zurückgeführt werden kann. Besonders in Zeiten, in denen durch strukturelle Hindernisse und biografische Problematisierungen der Zweifel an der Kompetenz zur Familiengründung größer wird, machen sich diese Effekte bemerkbar. Dennoch sind Familie und Individualismus nicht grundsätzlich Antipoden, sondern durchaus miteinander vereinbar. Die Familie ist heute eine wichtige Institution zur Entwicklung individualistischer, selbstreflexiver Persönlichkeiten. Übungsfragen - Was sind die wichtigsten Dimensionen in der historischen Entwicklung des Individualismus? - Was ist mit der »Standardisierung des Lebenslaufs« gemeint? - Welche Bedeutung haben heute biografische Selbstreflexionen? - Was sind die wichtigsten Gründe für Paare, nicht zusammenzuleben? - Wie lässt sich das Ausmaß der Kinderlosigkeit in Deutschland erklären? - Müssen Familie und Individualismus Gegner sein? 8. Familie und Individualismus 264 Basisliteratur Beck, Ulrich/ Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg., 1994): Riskante Freiheiten. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Eberlein, Undine (2000): Einzigartigkeit. Das romantische Individualitätskonzept der Moderne. Frankfurt/ M.: Campus Friedrichs, Jürgen (Hrsg., 1998): Die Individualisierungs-These. Opladen: Leske und Budrich Konietzka, Dirk/ Michaela Kreyenfeld (Hrsg., 2007): Ein Leben ohne Kinder. Kinderlosigkeit in Deutschland. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften Lukes, Steven (1973): Individualism. Oxford: Blackwell 8.5 Die Vereinbarkeit von Individualismus und Familie 265 9. Familienrecht und Familienpolitik Ehe und Familie sind gesellschaftliche Institutionen, die in vielfältiger Weise durch staatliche Aktivitäten reguliert werden. Der Staat schafft durch Gesetzgebung sowie familien- und sozialpolitische Maßnahmen Rahmenbedingungen, greift aber unter Umständen auch stärker in die Binnenstruktur der Familien ein. Im Zuge der Säkularisierung vergrößerten die modernen Staaten seit dem 18. Jahrhundert ihren Einfluss: Ehe und Familien wurden stärker rechtlich reguliert. In Deutschland hat vor allem die Gesetzgebung durch das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 wesentliche Prinzipien staatlicher Regulierung von Ehe und Familie eingeführt. Zunächst werden die seither geltenden Grundzüge des deutschen Ehe- und Familienrechts dargestellt (? 9.1). In historischer Betrachtung zeigt sich, dass das Ehe- und Familienrecht zum einen oft ein Kompromiss zwischen konkurrierenden Wertvorstellungen ist und zum anderen meist eine nachträgliche Verrechtlichung kulturell bereits durchgesetzter veränderter Wertvorstellungen darstellt. So spiegeln sich auch die sozialen und kulturellen Umwälzungen der 1960er-Jahre in vielfältigen Gesetzesreformen wider (? 9.2). Neben der Gesetzgebung und der Rechtssprechung reguliert der Staat die Rahmenbedingungen für Familien als politischer Akteur und als Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Bei der Darstellung der familienpolitischen Grundzüge wird deutlich, dass Konflikte unvermeidlich sind. Je nach Schwerpunktsetzung der Familienpolitik - etwa Geburtenförderung oder Förderung der Lebensbedingungen von Familien mit kleinen Kindern oder Unterstützung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie - kommen unterschiedliche Spannungs- und Konfliktfelder in den Blick (? 9.3). Seit einiger Zeit dominiert in der Diskussion eine pronatalistische Politik mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung: von der Schließung der »Geburtenlücke« bis zur Herstellung von Gerechtigkeit. Das Problem der Kinderlosigkeit wird häufig darauf zurückgeführt, dass die Altersversorgung eine öffentliche Angelegenheit ist, Kinder aber als Privatsache gelten. Es gibt jedoch auch Einwände gegen eine pronatalistische Familienpolitik, weil sie in Widerspruch zu anderen Werten geraten kann, zum Beispiel Frauenförderung oder soziale Gerechtigkeit. Ein Schlüsselproblem ist die Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf, die auch im Zentrum einer nachhaltigen Familienpolitik steht (? 9.4). 267 9.1 Grundzüge des Ehe- und Familienrechts Ehe und Familie sind rechtlich geschützte Lebensgemeinschaften. Dem Familienrecht werden alle gesetzlichen Regelungen zugerechnet, die sich mit den Beziehungen der Familienmitglieder untereinander sowie den Beziehungen der Familie und ihrer Mitglieder gegenüber Dritten befassen. Das Familienrecht wird in die Bereiche Eherecht, Kindschaftsrecht und Betreuungsrecht (früher: Vormundschaftsrecht) eingeteilt. Beim Eherecht geht es vorwiegend um das Recht der Eheschließung, Bestimmungen über den Bestand der Ehe, das eheliche Güterrecht sowie das Scheidungsrecht. Das Kindschaftsrecht regelt Abstammungsfragen und die Rechtsfolgen des Eltern-Kind-Verhältnisses. Das Betreuungs- und Pflegschaftsrecht betrifft etwa Fragen der Betreuung Volljähriger oder der Vormundschaft über Minderjährige. Das Familienrecht gehört zum Privatrecht. Die wesentlichen Bereiche finden sich im Vierten Buch des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB, §§ 1297 ff.). Dort werden die Begriffe »Familie« und »Angehörige« häufig verwendet, ohne jedoch explizit definiert zu sein. Die meisten familienrechtlichen Vorschriften betreffen die Mitglieder der Kleinfamilie, also die Beziehungen zwischen den Ehegatten sowie zwischen Eltern und ihren Kindern. Auch im Allgemeinen Teil des BGB ist eine Fülle von familienrelevanten Bestimmungen zu finden. So regeln zum Beispiel die Paragraphen §§ 104 ff. die Geschäftsfähigkeit von Minderjährigen. Beispielsweise legt § 110 (»Taschengeldparagraph«) fest, dass Minderjährige auch ohne Zustimmung ihrer Eltern durchaus wirksame Verträge abschließen können, wenn sie die entsprechenden vertraglichen Leistungen mit eigenen Mitteln (Taschengeld) bestreiten. Schließlich enthält auch das Strafgesetzbuch (StGB) eine Reihe von familienrelevanten Tatbeständen. Das Grundgesetz bildet den verfassungsrechtlichen Rahmen des Familienrechts für die Bundesrepublik Deutschland und der Artikel 6 des Grundgesetzes (Art. 6 Abs. 1 GG) formuliert: »Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.« Auch die übrigen Absätze des Artikels 6 sind wichtig: Absatz 2 betont das Recht der Eltern, aber auch ihre Pflicht, die Kinder zu erziehen. Doch der Staat übernimmt hier eine Überwachungsfunktion: »Über ihre [der Eltern] Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.« Der Staat darf aber nur in besonderen Fällen eingreifen, etwa, »wenn die Erziehungsberechtigten versagen« oder wenn aus sonstigen Gründen eine Verwahrlosung der Kinder droht. Den Müttern - nicht jedoch den Vätern - schreibt das Grundgesetz einen »Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft« zu. 9. Familienrecht und Familienpolitik 268 Die rechtliche Seite der Verwandtschaft Im Unterschied zu früheren Gesetzeswerken, etwa dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794, bietet das deutsche Recht »keinerlei Definition von Ehe und Familie«. 1 Das lässt sich so interpretieren, dass der Staat den Ehepartnern nicht mehr vorschreiben will, »welchen Sinn und Zweck sie ihrer Lebensgemeinschaft geben sollen und wie diese zu gestalten ist«. Unbestritten ist aber, dass Ehe und Familie durch den Staat geschützt werden (müssen), es gibt ein »Förderungsgebot sowie ein Benachteiligungs- und Schädigungsverbot durch den Staat«. 2 Im BGB fehlt eine klare Definition von Verwandtschaft. Nicht immer werden Verwandtschaft und Schwägerschaft eindeutig abgegrenzt. Mit Verwandtschaft ist im BGB normalerweise die Abstammung gemeint, die in Bezug auf die Mutter per Geburt festgestellt wird. Die rechtlichen Definitionen von »Mutter« und »Vater« unterscheiden sich in bemerkenswerter Weise: »Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat« dagegen ist der »Vater eines Kindes der Mann, 1. der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist, 2. der die Vaterschaft anerkannt hat oder 3. dessen Vaterschaft nach § 1600d gerichtlich festgestellt ist.« (§ 1592) Geschwister sind Verwandte zweiten Grades in der Seitenlinie. Der Verwandtschaftsgrad wird »nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten bestimmt«. Mutter und Kind sind Verwandte ersten Grades in gerader Linie, Vetter und Base sind Verwandte des vierten Grades in der Seitenlinie. Häufig wird im BGB der Begriff »Angehörige« verwandt, der noch weiter gefasst ist als Familienmitglieder im engeren Sinn oder Verwandte. Zu »Angehörigen« gehören zum Beispiel auch Pflegeeltern. Immer wieder Gegenstand gesetzgeberischer Diskussionen war die rechtliche Situation nichtehelicher Kinder und deren Väter. Bis in die späten Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts änderte sich nichts an der Rechtslage, dass der Vater eines unehelich geborenen Kindes nicht mit diesem verwandt war (der alte § 1589 II des BGB) - ganz unabhängig davon, ob in biologischer oder sozialer Hinsicht die Vaterschaft bekannt oder anerkannt war. Schon die Weimarer Reichsverfassung (WRV) hatte vom Gesetzgeber gefordert, für nichteheliche Kinder »die gleichen Bedingungen für ihre leibliche, seelische und gesellschaftliche Entwicklung zu schaffen« wie für eheliche Kinder (Art. 121 WRV). 3 Und nahezu gleichlautend schreibt Art. 6, Abs. 5 GG vor, dass auch nichteheliche Kinder »die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische 1 Riedel-Spangenberger (2005: 136). 2 ebd. 3 Ramm (1985: 23). 9.1 Grundzüge des Ehe- und Familienrechts 269 Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft« haben sollen. Erst 1969 wurde ein entsprechendes Gesetz verabschiedet (Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder). Damit wurde allerdings die Verwandtschaft wieder stärker an die biologische Abstammung gebunden, denn vorher war nicht diese für ein Verwandtschaftsverhältnis entscheidend gewesen, sondern das Rechtsverhältnis zwischen Mutter und Vater, also die Frage, ob sie verheiratet waren oder nicht. 4 Mit dem Adoptionsgesetz von 1976 wurde andererseits der Verwandtschaftsbegriff von der biologischen Abstammung gelöst und wieder stärker zu einem Rechtsbegriff. Im § 1754 I ist festgelegt, dass ein adoptiertes Kind die rechtliche Stellung eines ehelichen Kindes bekommt, und sein Verwandtschaftsverhältnis mit seinen bisherigen Eltern erlischt. Unter Juristen und Verfassungsrechtlern ist dennoch bis heute umstritten, ob es eine strikte Rechtsgleichheit zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern geben solle. »Der verfassungsgebotene Schutz von Ehe und Familie darf nicht dazu führen, die unverheiratete Mutter und das nichteheliche Kind zu benachteiligen. Doch bedeutet dies nicht, dass sie der verheirateten Mutter und dem ehelichen Kind gleichzustellen sind.« 5 Mit dem ab 2008 geltenden neuen Unterhaltsgesetz ist diese Gleichstellung jedoch weitgehend erreicht: Die Unterhaltsansprüche eines Kindes sollen in Zukunft nicht mehr daran gemessen werden, ob seine Eltern verheiratet waren oder nicht. 6 Eheschließung und Eheauflösung Wer darf heiraten? Eheverbote gibt es heute nur noch wenige. Zunächst einmal muss man die Ehefähigkeit besitzen: Sie ist im Normalfall mit der Volljährigkeit gegeben - seit 1975 also mit 18 Jahren -, auf Antrag auch schon mit 16 Jahren (§ 1303). 7 Wer nicht geschäftsfähig ist, ist auch nicht berechtigt, eine Ehe zu schließen. Bigamie ist ebenso verboten wie die Ehe zwischen Großeltern, Eltern und Kindern, also zwischen Verwandten in gerader Linie, sowie zwischen 4 Ramm (1985: 10 f.). 5 Ramm (1985: 24). 6 Allerdings wurden geschiedene Eltern gegenüber unverheirateten Eltern beim Anspruch auf Betreuungsunterhalt bisher noch bevorzugt und damit indirekt auch die ehelichen gegenüber den nichtehelichen Kindern. Das Bundesverfassungsgericht verlangte in einem Urteil im Mai 2007 vom Gesetzgeber, dies zu ändern. 7 Vor 1975 lag das Volljährigkeitsalter in der Bundesrepublik bei 21 Jahren. In der DDR lag es schon seit 1950 bei 18 Jahren. 9. Familienrecht und Familienpolitik 270 Geschwistern (§ 1307). Cousinen können also geheiratet werden. Adoptivkinder von einem Elternteil können unter Umständen geheiratet werden. Das Eherecht sagt nichts zum Geschlecht der Eheleute. Offenbar ist für den Gesetzgeber bisher selbstverständlich, dass nur zwei verschiedengeschlechtliche Personen heiraten können. Das alte Recht kennt die Institution des Eheversprechens, besser bekannt unter dem Namen Verlöbnis (§§ 1297-1302). Gab es früher noch eine stärkere rechtliche Bindung und damit entsprechende Sanktionsmöglichkeiten, wenn jemand sein Eheversprechen nicht einhielt, so sind heute diese Möglichkeiten sehr schwach. Schon in den 1960er-Jahren wies der erste Paragraph darauf hin, dass ein Eheversprechen nicht einklagbar sei. Es gibt aber immer noch eine Schadenersatzpflicht (§ 1298), die unter Umständen beim Rücktritt vom Eheversprechen wirksam werden kann. Auch Geschenke im Zusammenhang mit dem Eheversprechen können unter Umständen zurückgefordert werden, allerdings »nach den Vorschriften über die Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung« (§ 1301 BGB). In einer 1965 erschienenen Sammlung von wichtigen Urteilen und Kommentaren zum Familienrecht stand unter der Überschrift »Eherecht« das Verlöbnis an erster Stelle. § 1300 regelte die »Beiwohnung« von Verlobten. »Hat eine unbescholtene Verlobte ihrem Verlobten die Beiwohnung gestattet, so kann sie«, wenn der Verlobte vom Eheversprechen zurücktritt, unter Umständen »eine billige Entschädigung in Geld verlangen.« Dieser Paragraph war in der erwähnten Sammlung von 1965 noch mit »Kranzgeldanspruch« überschrieben. In einem Urteil aus den 1950er-Jahren hieß es, dieser Anspruch bestünde deshalb, da die unbescholtene Braut ihre Unbescholtenheit aufgegeben habe, »weil sie in Erwartung der Eheschließung hoffen durfte, der Fehltritt werde ihr keinen Schaden bringen«. 8 Das Gericht versäumte nicht, hinzuzufügen, dass dieser Anspruch nicht mehr bestünde, falls die Braut »während der Verlobungszeit auch anderen Männern die Beiwohnung gestattet hat«. Es folgen ausführliche Erörterungen zum Begriff »Unbescholtenheit«, die eine Frau verliere, wenn sie »freiwillig« außerehelichen Geschlechtsverkehr habe. 9 Das Recht kennt zwei Auflösungsgründe für Ehen: Eine Ehe kann entweder geschieden oder sie kann rückgängig gemacht, also annuliert werden. Eine solche Aufhebung der Ehe (§§ 1313 ff.) ist »nur durch gerichtliches Urteil auf Antrag« möglich. Für Rechtslaien mag es etwas seltsam klingen, wenn zum Beispiel formuliert wird, dass eine Ehe aufgehoben werden könne, »wenn ein Ehegatte bei der 8 Schwind/ Hassenpflug (1965: 12). 9 Schwind/ Hassenpflug (1965: 13). Der § 1300 wurde im Jahr 1998 aufgehoben. 9.1 Grundzüge des Ehe- und Familienrechts 271 Eheschließung nicht gewusst hat, dass es sich um eine Eheschließung handelt«. Aber dahinter können ernsthafte Probleme stecken - etwa, dass man durch Täuschung zur Ehe genötigt wird. Auch, wenn man sich bei der Eheschließung »im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistestätigkeit« befand, kann die Ehe aufgehoben werden, ebenso bei »arglistiger Täuschung« oder wenn man durch Drohung zur Ehe genötigt wurde. Von Bedeutung ist auch, dass die Ehe aufgehoben werden kann, wenn »beide Ehegatten sich bei der Eheschließung darüber einig waren, dass sie keine Verpflichtung gemäß § 1353 Abs. 1 begründen wollen.« Hier geht es um eine »Scheinehe«: wenn etwa ein Ausländer nur heiratet, um eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, mit der festen Absicht, die Ehe nicht zu vollziehen. Der § 1353 [Eheliche Lebensgemeinschaft] Abs. 1 lautet: »Die Ehe wird auf Lebenszeit geschlossen. Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet: sie tragen füreinander Verantwortung«. Im Scheidungsrecht (§§ 1564 ff.) herrscht heute das Zerrüttungsprinzip: »Eine Ehe kann geschieden werden, wenn sie gescheitert ist. Die Ehe ist gescheitert, wenn die Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht und nicht erwartet werden kann, dass die Ehegatten sie wiederherstellen.« Auch die »Zerrüttungsvermutung« ist lapidar und klar formuliert. »Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit mehr als einem Jahr getrennt leben und beide Ehegatten die Scheidung beantragen oder der Antragsgegner der Scheidung zustimmt« (§ 1566). »Es wird unwiderlegbar vermutet, dass die Ehe gescheitert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben.« Getrenntleben ist so definiert: »wenn keine häusliche Gemeinschaft besteht und ein Ehegatte sie erkennbar nicht herstellen will, weil er die eheliche Lebensgemeinschaft ablehnt.« Dazu müssen nicht einmal getrennte Wohnungen bestehen. »Die häusliche Gemeinschaft besteht auch dann nicht mehr, wenn die Ehegatten innerhalb der ehelichen Wohnung getrennt leben« (§ 1567). Und selbst »ein Zusammenleben über kürzere Zeit, das der Versöhnung der Ehegatten dienen soll, unterbricht oder hemmt die in § 1566 bestimmten Fristen nicht« (§ 1567 Abs. 2). Alle diese Bestimmungen machen eine Scheidung zu einer einfachen Sache. An der Ehe festzuhalten, fällt dann schwer, auch wenn einer der Ehegatten es wollte. Es gibt jedoch noch eine »Härteklausel« (§ 1568) mit deutlicher Betonung des Ausnahmecharakters: »Aus besonderen Gründen ausnahmsweise« kann der scheidungsunwillige Partner die Scheidung verhindern oder zumindest verzögern, insbesondere dann, wenn eine Scheidung »auf Grund außergewöhnlicher Umstände« eine »besondere Härte darstellen würde«. 9. Familienrecht und Familienpolitik 272 Rechtliche Regelung des Geschlechterverhältnisses in der Ehe Schon in der Weimarer Verfassung (1919) war die »Gleichberechtigung der beiden Geschlechter« in der Ehe festgeschrieben (Art. 119 WRV). Doch auch das »Gleichberechtigungsgesetz« von 1957/ 58 hatte noch an der alten Rollenteilung (an der Hausfrauenehe) festgehalten: Erwerbstätig sollte eine Ehefrau nur sein dürfen, wenn sich das mit ihren Aufgaben in Haushalt und Familie vereinbaren lässt (§ 1356, Abs. 1). Im Zweifelsfall sollte die Frau eben doch für die Familie da sein und auf eine Erwerbstätigkeit verzichten. Im Gleichberechtigungsgesetz war nur der alte Passus gestrichen worden, dass der Ehemann ein Arbeitsverhältnis, das seine Frau eingegangen war, fristlos kündigen konnte. Erst mit dem Reformgesetz von 1976/ 77 wurde das Modell der Hausfrauenehe im Gesetz aufgegeben. Nun hieß es, die Eheleute sollten sich gleichberechtigt einigen, wie sie die Aufgabenverteilung im Haushalt regeln wollen. Damit war also keine Gleichberechtigung vorgeschrieben. Allerdings formulierte das Gesetz eine Pflicht beider Ehegatten: bei der Wahl und Ausübung der Erwerbstätigkeit auf die Belange des anderen und der Familie Rücksicht zu nehmen. Das wurde von manchen (konservativen) Juristen dann doch wieder als eine Pflicht betrachtet, von der in erster Linie die Frau betroffen war. 10 Die Grundbestimmung des ehelichen Güterrechts lautet: »Die Ehegatten leben im Güterstand der Zugewinngemeinschaft« (§ 1363). Sie können jedoch durch einen Ehevertrag entweder Gütergemeinschaft oder Gütertrennung vereinbaren. 11 Damit können gravierende Unterschiede verbunden sein. Wenn zwei Ehegatten extrem unterschiedlich vermögend sind, belässt die Zugewinngemeinschaft dem Vermögenden all das, was er bereits vor der Eheschließung besaß. Der andere Ehegatte hat jedoch einen Anspruch auf die Hälfte des Vermögens, das der Vermögende während der Ehezeit dazugewinnt. Über entsprechende Streitfälle unter Prominenten berichten die Klatschspalten von Zeitungen in regelmäßigen Abständen. 10 Limbach (1988: 19). Seit 1976 lautet der § 1356: »Die Ehegatten regeln die Haushaltsführung im gegenseitigen Einvernehmen. Ist die Haushaltsführung einem der Ehegatten überlassen, so leitet dieser den Haushalt auf eigene Verantwortung«. - »Beide Ehegatten sind berechtigt, erwerbstätig zu sein. Bei der Wahl und Ausübung einer Erwerbstätigkeit haben sie auf die Belange des anderen Ehegatten und der Familie die gebotene Rücksicht zu nehmen.« 11 Das gesetzliche Güterrecht, also die Zugewinngemeinschaft, umfasst die §§ 1363 bis 1390, zur Gütertrennung gibt es nur einen Paragraphen (§ 1414), während die »Gütergemeinschaft« eine Vielzahl von Regelungen umfasst (§§ 1415 bis 1518). 9.1 Grundzüge des Ehe- und Familienrechts 273 9.2 Aspekte der Rechtsentwicklung Das Recht war früher ein starkes Instrument von Kirchen- und Staatsführungen, ihre Vorstellungen über Gerechtigkeit und rechten Lebenswandel durchzusetzen. Heute ist es häufig bloß der Reflex des kulturellen Wandels. Wenn sich die Lebensweise und die Auffassungen über Normalität wandeln und in Widerspruch zu alten rechtlichen Regelungen geraten, vollzieht der Gesetzgeber oft nur noch die rechtliche Kodifizierung von bereits veränderten kulturellen Vorstellungen. Schon im 18. Jahrhundert begannen die europäischen Staaten, Ehe und Familie als Bereiche zu betrachten, die für die staatliche Ordnung und die Bevölkerungsentwicklung wichtig waren und deshalb von Staats wegen geregelt werden sollten. Als erster deutscher Staat definierte die Habsburger Monarchie mit dem Josephinischen Ehepatent von 1783 die Ehe als ein vertragsrechtliches Verhältnis, dessen Ausgestaltung und Kontrolle allein dem Staat obliege. 12 Wichtig war auch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR) von 1794. Viele seiner Bestimmungen und Grundsätze fanden später Eingang in die Entwürfe und Vorfassungen des BGB. Im ALR spiegelten sich die Auseinandersetzungen zwischen dem neuen bürgerlichen Individualismus und der alten ständischen Rechtsauffassung. So hieß es z. B. im § 1: »Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung von Kindern.« Aber sogleich wurde im § 2 hinzugefügt: »Auch zur wechselseitigen Unterstützung allein kann eine gültige Ehe geschlossen werden.« Der kirchliche Einfluss war im ALR noch deutlich zu erkennen: »Eine vollgültige Ehe wird durch die priesterliche Trauung vollzogen« (§ 136). Erst im Gesetz über die Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung (1875) war dann festgelegt: Eine Ehe kann »rechtsgültig nur vor dem Standesbeamten geschlossen werden« (§ 41). Im Verlauf des 19. Jahrhunderts blieben wesentliche Grundprinzipien des ALR erhalten. Deutlich geändert wurden allerdings die Erfordernisse für eine gültige Ehe. Zahlreiche Eheverbote wegen unterschiedlicher Standes- oder Religionszugehörigkeit wurden beseitigt. Auch wirtschaftliche Eheverbotsgründe fielen zum Teil weg. Die Bedingung der elterlichen Einwilligung zur Ehe wurde aufgehoben bzw. auf minderjährige Kinder beschränkt. 1875 wurde mit der Änderung des Reichspersonenstandsgesetzes die obligatorische Zivilehe eingeführt. Die katholische Sonderregelung der Trennung von Tisch und Bett wurde abgeschafft und jede Art gerichtlicher Ehetrennung wurde als zivilrechtlich vollwertige Auflösung der Ehe anerkannt. 13 12 Hubbard (1983: 37). 13 Hubbard (1983: 41). 9. Familienrecht und Familienpolitik 274 Preußisches Landrecht und Bürgerliches Gesetzbuch Mit dem Allgemeinen Landrecht (ALR), das für Preußen den eigentlichen Beginn der Zivilehe markiert, wurde die legale Möglichkeit der Ehescheidung geschaffen; für die Katholiken hatte es bis dahin nur die Möglichkeit der »Trennung von Tisch und Bett« gegeben. 14 Die wichtigsten Scheidungsgründe im ALR waren Ehebruch und »bösliche Verlassung«, unter gewissen Bedingungen auch »Unverträglichkeit und Zanksucht«, nämlich dann, wenn diese »zu einem solchen Grad der Bosheit steigen«, dass dadurch des anderen »Leben oder Gesundheit in Gefahr gesetzt wird«. Auch kinderlose Ehen konnten, allerdings nur bei gegenseitiger Einwilligung, geschieden werden. »Tiefe Zerrüttung« konnte, ebenfalls unter bestimmten Bedingungen, eine Scheidungsklage erfolgversprechend machen. »Trunksucht, Verschwendung oder unordentliche Wirthschaft« dagegen wurde nun nicht mehr als Scheidungsgrund anerkannt. 15 Auch wenn die Scheidungsregelung des ALR relativ liberal war - gemessen an kirchlichen, insbesondere katholischen Ansprüchen -, so galt doch: »Personen, welche wegen Ehebruchs geschieden wurden, dürfen diejenigen, mit welchen sie den Ehebruch getrieben haben, nicht heirathen« (§ 25 ALR). Auch sollten die Kinder nach einer Scheidung nicht beim schuldig gesprochenen Elternteil verbleiben. Das Eheverbot wegen Ehebruchs blieb auch im Eherecht von 1875 noch erhalten; in dieser Hinsicht waren auch die Protestanten sehr konservativ. 16 Trotz Säkularisierung und fortschrittlicher Tendenzen im materiellen Eherecht blieben christliche Normen während des 19. Jahrhunderts durchaus wichtige Einflussgrößen der Scheidungspraxis. Charakteristisch für das gesamte Jahrhundert bis zum Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) sind auf der einen Seite rechtliche Emanzipationsschübe, Liberalisierungen des materiellen Rechts (zum Beispiel bei den Scheidungsgründen), auf der anderen Seite eine Rechtspraxis, in der konservative staatliche ebenso wie kirchliche Einflüsse größer waren als im kodifizierten Recht. 17 Insbesondere in Bezug auf das Scheidungsrecht war das BGB konservativer als das preußische ALR. Das relativ großzügige Scheidungsrecht des ALR, in dem bereits die Möglichkeit der konsensuellen Scheidung vorgesehen war, wurde im BGB von 1900 zurückgenommen; künftig galt allein das Schuldprinzip. 18 Dies war vor allem für Unterhaltsansprüche nach einer Scheidung folgenreich: Konnte zum 14 Blasius (1987: 47). 15 Hubbard (1983: 51). 16 Blasius (1987: 50). 17 Blasius (1987: 81). 18 Blasius (1987: 134 ff.), Hubbard (1983: 43). 9.2 Aspekte der Rechtsentwicklung 275 Beispiel der alleinverdienende Mann der Frau die Schuld am Scheitern der Ehe gerichtlich nachweisen, sanken ihre Unterhaltsansprüche beträchtlich. Wer es sich leisten konnte, schaltete Anwälte und Privatdetektive ein, um Schuldbeweise zu sammeln. Insgesamt wurde das relativ liberale Eheverständnis, wie es am Ende des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen Preußischen Landrecht zum Ausdruck kam - Ehe als Vertrag zwischen gleichen Rechtssubjekten -, im Lauf des 19. Jahrhunderts wieder zurückgedrängt. Erstmals umfassend kodifiziert wurde das Ehe- und Familienrecht in Deutschland im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), das am 1. Januar 1900 in Kraft trat (die Vorarbeiten hatten sich über mehr als zwei Jahrzehnte hingezogen). Es enthält heute das Ehe- und Familienrecht als einen Teil des Privatrechts im 4. Buch mit den §§ 1297-1921. Die familienrechtlichen Bestimmungen im BGB waren besonders umstritten und umkämpft. Sozialdemokratie und Frauenbewegung auf der einen Seite, konservative Kräfte auf der anderen Seite hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen. Deshalb waren für manche Beobachter die Bestimmungen, die letztlich Eingang in die Gesetzestexte fanden, ähnlich zwiespältig wie schon beim ALR. 19 Marianne Weber stellte fest: »Im Eherecht unseres deutschen bürgerlichen Gesetzbuches ringen das patriarchalische und das individualistische Eheideal um die Herrschaft.« 20 Insbesondere die Unterordnung der Frau hielt sich durch in den verschiedenen Etappen der deutschen Gesetz- und Verfassungsgebung, in denen sich die Veränderungen der kulturellen Wertvorstellungen widerspiegeln. Noch 1957, im Familienanpassungsgesetz, wurde die Haushaltstätigkeit der Frau als Normalzustand definiert; erwerbstätig sollte sie nur sein dürfen, »soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist«. Erst 1977 wurde hier der Gleichberechtigungsgrundsatz angewandt und festgelegt, dass die Ehegatten die Haushaltsführung »im gegenseitigen Einvernehmen« regeln. Die Verrechtlichung von »Achtundsechzig« Die Revolte der 1960er-Jahre war nicht zuletzt ein scharfer Angriff auf überkommene Wertvorstellungen hinsichtlich Familie, Erziehungspraxis, Geschlechterbeziehungen und Sexualität. Seit 1969 wurden im Ehe- und Familienrecht tiefgreifende Reformen durchgesetzt, vielleicht die »grundlegendste Neuregelung seit 19 Hubbard (1983: 41 f.). 20 Weber (1907: 413). 9. Familienrecht und Familienpolitik 276 dem 18. Jahrhundert«. 21 In den 1970er-Jahren gab es dabei eine ganze Reihe von Liberalisierungen, die sich als Anpassungen an die veränderten Wertvorstellungen verstehen lassen. So wurde etwa 1973 der Kuppeleiparagraph (§ 180 StGB) abgeschafft, der bis dahin unter Strafe gestellt hatte, wenn man ein uneheliches Paar beherbergte. Der Paragraph § 175 StGB zur Homosexualität wurde 1969 und 1973 novelliert: Sie ist seitdem nur noch strafbar bei bestimmten sexuellen Handlungen mit Minderjährigen. Endgültig abgeschafft wurde der Paragraph 175 des Strafgesetzbuchs erst 1994. Seit 2001 haben homosexuelle Paare die Möglichkeit, sich als Lebenspartnerschaft eintragen zu lassen: Sie haben dadurch ähnliche gegenseitige Rechte und Pflichten wie Eheleute. Die Abtreibungsregelungen wurden in den 1970er-Jahren in vielen westlichen Ländern deutlich liberalisiert. Nach langen und zum Teil heftigen Auseinandersetzungen wurde in Westdeutschland - im Unterschied zur DDR - allerdings nicht die Fristenregelung eingeführt (wonach Abtreibung während der ersten drei Schwangerschaftsmonate straffrei bleibt), sondern eine Indikationslösung mit Beratungspflicht. Das Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts von 1976 hob, wie bereits ausgeführt, die Regelung (von 1957) auf, dass die Ehefrau nur mit Zustimmung des Mannes berufstätig sein konnte. Seither gilt die volle formale Gleichberechtigung beider Ehegatten (§§ 1356-1364). In zahlreichen Ländern wurde das Scheidungsrecht vom Schuldprinzip auf das Zerrüttungsprinzip umgestellt, 1976 auch in Deutschland. Allerdings ist es gerade in Bezug auf diese Umstellung zu einfach, sie lediglich als »nachträgliche Verrechtlichung« bereits gewandelter kultureller Überzeugungen zu interpretieren: Das neue Scheidungsrecht wurde zunächst heftig kritisiert, und in Umfragen billigte nur eine Minderheit die Abschaffung des Schuldprinzips. Ein großer Teil vor allem der Männer missbilligte, dass eine nichterwerbstätige Ehefrau selbst dann Unterhaltsansprüche an den Ehemann hat, wenn sie diesen wegen eines anderen Mannes verlassen hatte. 22 Als Konsequenz aus dieser Kritik wurde 1986 das Unterhaltsrecht entsprechend modifiziert. Die Ehedauer spielte nun eine größere Rolle, ebenso die Frage der Kinderbetreuung nach der Scheidung. Diese Art von Kritik ist dennoch bis heute nicht verstummt. Ab 2008 wird es allerdings für Geschiedene noch schwieriger, Unterhaltsansprüche gerichtlich durchzusetzen, da im neuen Unterhaltsrecht nun Kinder und neue Partner höhere Ansprüche haben. Auch das Namensrecht wurde mehrfach geändert, um seine patriarchalen Implikationen abzuschwächen. Erst seit 1875 ist das Tragen eines Familienbzw. 21 Hubbard (1983: 44). 22 Limbach (1988: 20). 9.2 Aspekte der Rechtsentwicklung 277 Nachnamens obligatorisch. Frauen mussten nun bei der Heirat den Namen des Mannes annehmen. Erstmals 1958 gab es in der Bundesrepublik die Möglichkeit für Frauen, ihren Geburtsnamen dem Ehenamen hinzuzufügen. In der DDR konnte sich seit 1965 ein Ehepaar entweder für den Namen des Mannes oder den der Frau als Ehenamen entscheiden. Mit dem Reformgesetz von 1976/ 77 wurde in der Bundesrepublik eine Wahlmöglichkeit eingeführt: Die Ehegatten sollten einen gemeinsamen Namen wählen, das konnte der Geburtsname des Mannes oder der Frau sein. Derjenige Ehegatte, dessen Geburtsnahme nicht Ehename wurde, durfte seinen Geburtsnamen dem Ehenamen voranstellen. Wenn sich das Paar jedoch nicht einigen konnte, wurde der Geburtsname des Ehemannes zum Ehenamen. 23 In den ersten Jahren nach der Reform wählten kaum mehr als zwei oder drei Prozent der Brautpaare den Geburtsnamen der Frau als gemeinsamen Ehenamen. 24 Seit 1994 ist es in Deutschland möglich, dass Ehemann und Ehefrau verschiedene Namen tragen, jedoch ist es nicht möglich, dass beide einen gemeinsamen Doppelnamen tragen. 25 Auch die Stellung der Kinder wurde im Recht deutlich verbessert. So hieß es im ALR noch, die Kinder seien beiden Eltern »Ehrfurcht und Gehorsam schuldig« (§ 61 ALR) und »stehen unter väterlicher Gewalt« (§ 62). Sie sollten außerdem ihre Eltern »in Unglück oder Dürftigkeit« unterstützen oder im Krankheitsfalle »deren Pflege und Wartung … übernehmen« (§ 63). Der Vater hatte das primäre Erziehungsrecht und zur Erziehung sollten auch »Zwangsmittel« erlaubt sein, sofern sie der »Gesundheit unschädlich« wären. Was aus dem Sohn einmal werden sollte, war Sache des Vaters: »Die Bestimmung der künftigen Lebensart der Söhne hängt zunächst vom Ermessen des Vaters ab« (§ 109 ALR). Die väterliche Gewalt über die Kinder endete erst, wenn der Sohn ein eigenes Gewerbe betrieb oder ein öffentliches Amt bekleidete; im Fall der Tochter, wenn sie heiratete. Das BGB von 1900 war in mancher Hinsicht noch ähnlich, aber schon im Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt von 1922 war ein »Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit« für »jedes deutsche Kind« festgeschrieben (§ 1). Und im BGB wurde im Jahr 1980 der Passus aufgenommen: »Eltern und Kinder sind einander Beistand und Rücksicht pflichtig« (§ 1618a). Damit wurde die alte Auffassung, das Elternrecht sei ein Herrschaftsrecht über das Kind, endgültig abgeschafft. Der Gesetzgeber ersetzte den bisherigen Begriff der »elterlichen Gewalt« durch den der »elterlichen Sorge«. Das Kindschaftsrecht geht heute von einem »auf gegenseitiger Rücksicht und gegenseitigem Beistand beru- 23 Limbach (1988: 15). 24 Limbach (1988: 16). 25 Nave-Herz (2004: 142 f.). 9. Familienrecht und Familienpolitik 278 hendem Verhältnis zwischen Eltern und Kindern« (§§ 1618-1631) aus. Seit 2000 gilt eine neue Fassung des § 1631, Absatz 2 des BGB. Dort heißt es: »Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig«. Man spricht von einem »Recht der Kinder auf gewaltfreie Erziehung«. Mit der Abschaffung des Schuldprinzips trat auch im Scheidungsfolgenrecht das Kindeswohl in den Vordergrund. Das Familiengericht sollte bestimmen, welchem Elternteil die elterliche Sorge (Sorgerecht) zukommen sollte. Eine Übersicht wichtiger rechtlicher Änderungen 1875 Prinzip der obligatorischen Zivilehe 1900 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) 1957/ 58 26 Gleichberechtigungsgesetz 1969 Gesetz zur Gleichstellung nichtehelicher Kinder 1969 Novellierung des Paragraphen § 175 (Homosexualität) 1973 Abschaffung des Kuppeleiparagraphen (§ 180 StGB) 1973 Legalisierung der Abtreibung (Indikationslösung) 1976/ 77 Erstes Eherechtsreformgesetz (u. a. Gleichberechtigung; Scheidungsrecht: Umstellung vom Schuldauf das Zerrüttungsprinzip) 1990 Betreuungsgesetz 1993 Familiennamensrechtsgesetz 1997 Kindschaftsrechtsreformgesetz 2001 Gesetz zur Lebenspartnerschaft 9.3 Grundzüge der Familienpolitik Als Familienpolitik lassen sich »alle staatlichen Aktivitäten und Einrichtungen« fassen, »die mittels der Instrumente Recht, Geld oder Kommunikation versuchen, die Lebenslage und die vor allem kindbezogene Aufgabenerfüllung von bzw. durch die Gemeinschaften zu beeinflussen, welche dem jeweils maßgeblichen Verständnis von Familie entsprechen«. 27 Andere Bestimmungen heben vor allem die staatlich geregelte Anpassung von Familien an veränderte gesellschaftliche Bedingun- 26 Wenn zwei Jahre angegeben sind, bedeutet das in der Regel: Im ersten Jahr wurde das Gesetz verabschiedet, im zweiten Jahr (häufig: am 1.1.) trat das neue Gesetz in Kraft. 27 Münch (1990: 13). 9.3 Grundzüge der Familienpolitik 279 gen hervor. 28 Diese Definitionsbeispiele verweisen bereits auf die Schwierigkeit, den Bereich der Familienpolitik sinnvoll einzugrenzen, da auch viele andere politische Maßnahmen sich auf die Lebenssituation von Familien auswirken können. Familienpolitik ist ein verfassungsrechtlicher Auftrag, der sich aus dem bereits zitierten Artikel 6 des Grundgesetzes ergibt. Juristen sprechen in diesem Zusammenhang von einem Schutz- und Fördergebot, einem Abwehrrecht, einer Institutsgarantie und einer wertentscheidenden Grundsatznorm. 29 Der Rechtsauftrag der Familienförderung kann aber nur schwer konkretisiert bzw. eingeklagt werden, die Politik kann deshalb kaum ernsthaft gezwungen werden, Familien besser zu fördern. Ein weiteres Problem dabei ist, dass das Recht die Familie nur nach außen und als Institution schützen soll. Der Binnenraum dagegen gilt als privat - den Einzelnen wird dort »ein subjektives Recht auf den Schutz vor staatlichen Eingriffen in die Familiensphäre gewährt«. Die innere Organisation der Familie »entzieht sich dem staatlichen Einfluss und liegt in der Entscheidungsfreiheit der Betroffenen«. 30 Eine Verrechtlichung der Binnensituation der Familie ist also immer kritisch. Im weiten Feld der familien-, sozial- und bevölkerungspolitischen Aktivitäten können sich unterschiedliche Ziele in die Quere kommen. Ist zum Beispiel Geburtenförderung (»Nachwuchssicherung«) Familienpolitik? Oder geht es dabei um die Stärkung der Rechte der Kinder oder eher um die Verbesserung der Situation von Frauen? Sollen Paare mit Kindern unterstützt werden, um das Vereinbarkeitsproblem zu lösen? Und selbst, wenn über diese verschiedenen Fragen und Ziele Klarheit herrschen bzw. es eine klare Priorität geben würde, so blieben immer noch eine Fülle von Umsetzungsproblemen: Welche Maßnahmen sind erfolgversprechender, wenn man die Geburtenrate erhöhen will? Steuerliche Erleichterungen für Familien, höhere Besteuerung für Kinderlose, Verbesserung der Infrastruktur (z. B. Kindergartenplätze), Lösung der Vereinbarkeitsproblematik? Zu diesen Umsetzungsproblemen kommen noch Konflikte der Politik mit dem Recht hinzu. Schon oft haben höhere Gerichte (insbesondere das Bundesverfassungsgericht) der Familienpolitik Vorgaben gemacht. Andererseits ist es gerade die Aufgabe des Gesetzgebers, also der Politik, die rechtliche Situation zu ändern, wo sie nicht mehr angemessen erscheint. Aber welche rechtlichen Veränderungen soll Familienpolitik anstreben? Mehr Rechte für alleinerziehende Mütter? Mehr Rechte für unverheiratete Paare, für homosexuelle Paare? Abschaffung des Ehegattensplittings? Leichteres Sorgerecht für Väter nach einer Scheidung? Vaterschaftstests vor einer Entscheidung über Unterhaltsansprüche? Wir sehen also, das Gebiet der 28 Bahle (1993: 18). 29 Münch (1990: 17 ff.). 30 Münch (1990: 21). 9. Familienrecht und Familienpolitik 280 Familienpolitik ist zwangsläufig umstritten. Eine Konfliktlinie, die heute nicht im Vordergrund steht, aber grundsätzlich immer - und besonders in rechtlicher Hinsicht - ein Problem darstellt, entsteht entlang der Frage, ob er die Förderung von Familien oder die Förderung des Individuums im Vordergrund stehen soll? 31 Seit einiger Zeit hat die Förderung der Geburten und Familien wieder eine höhere Priorität, sowohl im gesellschaftlichen Wertsystem als auch in der Politik. Das Leitziel der »Nachwuchssicherung« lässt sich aber kaum erreichen, ohne gleichzeitig andere Bereiche einzuschränken - eine Umverteilung der staatlichen Zuwendungen zugunsten von Geburten, Müttern und Familien wäre unumgänglich und es steht dann die Frage im Raum, wer Einbußen hinnehmen muss: die Rentner; die voll erwerbstätigen Männer; die Kinderlosen? Es gibt also eine Reihe von Konfliktlinien, die eine Gesamtkonzeption von Familienpolitik verhindern oder zumindest erschweren. Eine ganzheitliche Familienpolitik müsste - im Sinne der Theorie funktionaler Differenzierung - so ausgerichtet sein, dass sie die Erfüllung der vielfältigen Funktionen des Familiensystems für die anderen Funktionssysteme gewährleistet. 32 Doch auch hier sind Konflikte unvermeidlich. Es ist kaum vorstellbar, dass die Politik eine umfassende Reform durchsetzen könnte, die allen Gruppen und Interessen gerecht würde. Wohlfahrtsstaat und Familienpolitik Familienpolitik lässt sich in den westlichen Demokratien nur im Zusammenhang mit den jeweiligen sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen begreifen. Der Wohlfahrtsstaat kann jedoch sehr unterschiedliche Ziele verfolgen. Deshalb steht die Ausrichtung von Familienpolitik stets im Kontext umfassender (partei-) politischer Programmatiken. Eine verbreitete Typologie von wohlfahrtsstaatlichen Systemen unterscheidet eine liberale, eine konservative und eine sozialdemokratische Ausrichtung. 33 Eine andere Typologie unterscheidet vier familienpolitische Systeme: pronatalistisch (Beispiel Frankreich), traditionell (Deutschland), egalitär (Schweden, Dänemark), liberal oder nicht-interventionistisch (Großbritannien, USA). 34 Es gibt jedoch keine eindeutigen Korrelationen zwischen dem jeweiligen 31 Nacke (2005). 32 Häufig wird die Familienpolitik kritisiert, dass sie nur »fragmentiert« und Anhängsel anderer, etwa der Sozial- oder Altenpolitik sei (Kilz 2005). Walter/ Bräuninger (2005) sprechen von »Zielverfehlungen« der Familienpolitik. 33 Esping-Andersen (1990). 34 Gauthier (1996). 9.3 Grundzüge der Familienpolitik 281 System des Wohlfahrtsstaates bzw. der Sozialpolitik und der Geburtenrate. Es kommt darauf an, welche Prioritäten die Sozialpolitik bzw. der Wohlfahrtsstaat setzt: zum Beispiel eher Geburtenförderung, eher Förderung von Familien oder eher Frauenförderung. Heute werden im europäischen Vergleich meist fünf Muster der Familienpolitik unterschieden. 35 Großbritannien und Irland sind Beispiele für eine liberale, nichtinterventionistische Politik: Hier beschränkt sich der Staat weitgehend auf die Unterstützung von armen Familien und benachteiligten Kindern. Aus anderen Gründen haben auch die südeuropäischen Länder einen eher schwach ausgeprägten Wohlfahrtsstaat und eine vergleichsweise unaufwendige Familienpolitik, weil die kulturelle Tradition dieser Länder immer noch davon ausgeht, dass die familialen Bindungen stark genug sind. Deutschland und Österreich gelten immer noch als eher familien-konservative Sozialstaats-Modelle. Frankreich und Belgien gelten als »Pioniere« der Familienpolitik, mit einer Kombination aus traditionalen und progressiven Elementen. Das heißt es werden zum einen Familien im traditionellen Sinn unterstützt, aber auch die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen wird groß geschrieben. Mit staatlichen Maßnahmen wurde hier insbesondere die öffentliche Kinderbetreuung deutlich gefördert. Frankreich hat seit dem späten 19. Jahrhundert eine familistisch-pronatalistische Tradition. Ein Bündnis zwischen katholischer Kirche und nationalem Bürgertum führte u. a. zu einem in Europa besonders dichten Netz von Kinderbetreuungseinrichtungen. Außerdem wurden Alleinerziehende und kinderreiche Familien besonders gefördert. 36 Frankreich gilt daher manchen Beobachtern als »Musterbeispiel einer erfolgreichen Familienpolitik«. 37 Die skandinavischen Länder mit ihrer sozialdemokratischen Tradition betonen das Kindeswohl sowie die Geschlechtergleichheit. In Schweden hat eine sehr frühe Ausweitung der Frauenrechte, der Gleichbehandlung der Geschlechter und der Gleichbehandlung von nichtehelichen und ehelichen Kindern mit dazu beigetragen, dass sowohl die Fertilitätsraten als auch die Frauenerwerbsquoten relativ hoch sind. Konservative Familienpolitiker bezweifeln meist, dass dies grundsätzlich möglich ist, weil sie glauben, dass Frauen weniger Kinder bekommen, wenn sie sich nicht ganz auf die Mutterschaft konzentrieren können. Man muss jedoch hinzufügen, dass sich die hohen schwedischen Frauenerwerbsquoten vor allem auf Teilzeitarbeit beziehen. Eine wirksame politische Maßnahme im Hinblick auf höhere Fertilität in Schweden waren großzügige Möglichkeiten der Arbeitszeitre- 35 Kaufmann (1993), Pfenning/ Bahle (2000: 2). 36 Schultheis (1988), Kaufmann (2003a). 37 Kaufmann (1993: 158). 9. Familienrecht und Familienpolitik 282 duzierung und der Arbeitsplatzgarantie für Frauen auch noch drei Jahre nach der Geburt eines Kindes. 38 Aspekte der Entwicklung der Familienpolitik in Deutschland Eines der wichtigsten Grundprinzipien der westdeutschen Familienpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war der sogenannte Familienlastenausgleich bzw., wie er später genannt wurde, Familienleistungsausgleich. Dessen grundlegendes Ziel war, durch Umverteilung einen Ausgleich für die finanziellen Nachteile zu schaffen, die Eltern gegenüber Nichteltern haben. Dazu gehörten in erster Linie Kindergeld, Steuerfreibeträge und Erziehungsgeld, aber auch die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung. Ferner kann man auch andere Maßnahmen dazu rechnen, etwa Ausbildungsförderung (Bafög) oder auch Wohnungsbauförderung. Auch wenn die finanziellen Mittel immer wieder erhöht wurden, war doch nicht zu übersehen, dass der Familienleistungsausgleich keineswegs die größeren finanziellen Belastungen von Familien gegenüber Kinderlosen kompensierte (erst recht nicht, wenn man die Opportunitätskosten für Frauen mitrechnet). Vor allem aber waren die finanziellen Entlastungen erst ab einer größeren Kinderzahl (drei Kinder) deutlich spürbar. Der Familienleistungsausgleich war daher kaum ein Anreiz für ein erstes und zweites Kind. 39 Ein spezielles politisches Ziel war die Unterstützung von Müttern. 1952 wurde ein Mutterschutzgesetz verabschiedet, 1968 ein Gesetz zum Schutz der erwerbstätigen Mutter. Das Bundeserziehungsgeldgesetz von 1985 regelte die Gewährung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub. Die politischen Parteien in Deutschland verfolgten damit allerdings unterschiedliche Ziele: Während die CDU/ CSU Schwangerschaftsabbrüche und die Erwerbstätigkeit von Müttern reduzieren wollte, ging es der SPD eher um die Emanzipation der Frau im Beruf; daher war das Erziehungsgeld dort umstritten, denn man befürchtete, es würde einen Anreiz für Frauen schaffen, zuhause zu bleiben. 40 Tatsächlich wurden Erziehungsgeld bzw. Erziehungsurlaub vor allem von den Frauen in Anspruch genommen (Mitte der Achtzigerjahre zum Beispiel lag der Anteil der Männer unter zwei Prozent). Das Erziehungsgeld half vor allem ärmeren Frauen, weil sie auch noch andere Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch nehmen konnten. Auch teilzeitbeschäftigten Frauen half es. 38 Hoem (1990). 39 Münch (1990: 85 ff.). 40 Münch (1990: 53 ff.). 9.3 Grundzüge der Familienpolitik 283 Auch die Funktion des Kindergeldes war zwischen den politischen Parteien umstritten. Die von der CDU/ CSU geführten Regierungen versuchten im Allgemeinen, einen Ausgleich zwischen Kinderlosen und Familien »innerhalb einer sozialen Schicht« herbeizuführen, während die SPD eher einheitliche Zahlungen an alle Eltern präferierte, »um deren gleichwertige Erziehungsleistung hervorzuheben«. 41 Das Kindergeld wurde 1954 eingeführt, zunächst nur für das dritte Kind, 1961 auch für das zweite, und 1975 schließlich auch für das erste. Später kam es zu einer Schwerpunktverlagerung der Familienpolitik von finanzpolitischen Maßnahmen im Rahmen des Familienlastenausgleichs (im weitesten Sinn) auf übergreifende sozialpolitische Konfliktfelder, von denen auch Familien betroffen waren. Damit war die gesellschaftspolitische Bedeutung der Familienpolitik gewachsen. Seit den 1980er-Jahren befasste sich auch die Familienpolitik stärker mit den allgemeinen Fragen, die die familiensoziologische Forschung der letzten Jahrzehnte geprägt haben: Individualisierung, Frauenerwerbsarbeit und Pluralisierung der Lebensformen. Damit stand die Familienpolitik zunehmend im Spannungsfeld zentraler Konflikte - zwischen den Generationen, zwischen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, zwischen Frauen-, Ehe- und Kinderförderung. Ein Teil der Probleme, denen sich die Familienpolitik nun zunehmend stellen musste, resultierte aus den Spannungen im Verhältnis zwischen Familien- und Erwerbssystem, in dem die alten Zuordnungen nicht mehr stimmten, die früher die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen in Beruf und Privatleben reguliert hatten. Die Familie, wie sie auch von der Familienpolitik noch bis in die Achtzigerjahre gesehen wurde, hatte die Funktion, die anderen Systeme der Sozialpolitik und das Erwerbssystem zu entlasten. Mit zunehmender Erwerbstätigkeit von Frauen und der Verabschiedung des Modells der Alleinverdienerfamilie als Normalfall wurde dies schwieriger. Die Handlungsmöglichkeiten der Politik sind hier begrenzt. 9.4 Umstrittene Felder der Sozial- und Familienpolitik Familienpolitik wird seit etwa Mitte der 1990er-Jahre zunehmend gleichgesetzt mit den Fragen: Was kann man tun, um die Fertilität anzukurbeln? Was kann man tun, um die demografische Katastrophe - Überalterung, Bevölkerungs- 41 Münch (1990: 74). 9. Familienrecht und Familienpolitik 284 schrumpfung, soziale Konflikte in der Folge der Finanzkrise des Sozialstaates - zu verhindern? Ökonomen machen sich vor allem Sorgen, weil fehlende Kinder auch fehlendes Humankapital, also Arbeitskräftemangel, bedeuten. 42 Eine pronatalistische Politik im engeren Sinn würde sich ganz auf die Erhöhung der Geburtenrate konzentrieren und dort ansetzen, wo dies am leichtesten möglich ist, unabhängig von Lebens- und Familienformen. Es ginge dann in erster Linie darum, die »Geburtenlücke« (Franz-Xaver Kaufmann) zu schließen. Eine großzügige finanzielle Unterstützung junger lediger Mütter könnte dann zum Beispiel eine wirksame Maßnahme sein. Eine pronatalistisch-familistische Politik dagegen würde gleichzeitig auch darauf achten, dass die zur Welt gebrachten Kinder in günstigen Familienverhältnissen aufwachsen. Das würde eine Stärkung der Elternrolle und eine Verbesserung der Bedingungen für Eltern, ihre Kinder aufzuziehen und zu erziehen, voraussetzen; unter Umständen auch eine Stärkung der Ehebeziehung zwischen den Eltern. In Deutschland ist letzteres allerdings umstritten, wie am Beispiel des steuerlichen Ehegatten-Splittings zu sehen ist, das Ehepaare, unabhängig davon, ob sie Kinder haben, deutlich bevorzugt. Manchen Vertretern einer pronatalistischen Familienpolitik geht es nicht nur um die demografische Krise, sondern auch um soziale Gerechtigkeit. Das bezieht sich zunächst auf Generationengerechtigkeit - ein Begriff, der von der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen verwendet wird, um auf die aktuelle Privilegierung der Älteren auf Kosten der Jüngeren hinzuweisen. 43 Je weniger Kinder geboren werden, desto ungünstiger wird die Altersstruktur und desto schwieriger wird es, Gerechtigkeit zwischen Jung und Alt herzustellen. Die Verteilungskonflikte zwischen jüngeren Beitragszahlern und Rentnern könnten an Schärfe zunehmen. Es geht aber auch um Gerechtigkeit zwischen Familien und Kinderlosen. Für einige Verfechter einer pronatalistisch-familistischen Politik werden Familien im Vergleich zu Alleinstehenden oder kinderlosen Paaren in Deutschland systematisch benachteiligt. Für die These der Benachteiligung der Familien spricht, dass Erziehungsarbeit fast unbezahlt ist (Kindergeld ist nur ein symbolisches Honorar) und zusätzlich noch die entsprechende Zeit für Erwerbsarbeit fehlt. Dadurch entgeht insbesondere gut ausgebildeten Eltern nicht nur Einkommen, sie verlieren auch Rentenansprüche. Von anderer Seite wird allerdings darauf verwiesen, dass man Kinder immer noch freiwillig bekomme und die finanziellen Kosten, die durch Kinder entstehen, durch »symbolische Gewinne« (Glück, Lebensfreude) mehr als ausgeglichen würden. 42 Nacke/ Jünemann (2005). 43 Kaufmann (2005b: 50). 9.4 Umstrittene Felder der Sozial- und Familienpolitik 285 Öffentliche Altersversorgung und private Nachwuchssicherung Ein Hauptkonflikt der Zukunft könnte jedenfalls ein Verteilungskonflikt zwischen Eltern und Kinderlosen sein. 44 Der Grund dafür wird darin gesehen, dass Kinderlosigkeit von der Gesetzgebung und vom Umverteilungsstaat bisher nicht als Problem erkannt wurde und Kinderlose daher im Vergleich zu Eltern begünstigt worden seien: »Strukturelle Rücksichtslosigkeiten gegenüber Menschen, die Elternverantwortung übernehmen«. 45 Der Sozialstaat habe, so Kaufmann, große Leistungen vollbracht hinsichtlich Rechtssicherheit, sozialer Sicherheit und Alterssicherung. Aber die Nachwuchssicherung habe bisher nicht auf der Agenda des Sozialstaates gestanden. Das Problem wird durch den wachsenden Anteil von Kinderlosen verschärft, weil sie keine Beitragszahler für die Rentenversicherung mehr »produzieren« und die Jüngeren durch ihre Erwerbsarbeit nicht nur die Rente der eigenen Eltern, sondern auch noch jene der kinderlos Gebliebenen mitfinanzieren müssen. Deshalb wird immer stärker gefordert, jenen, die keine Kinder haben wollen, eine zusätzliche Belastung aufzubürden: So wurde beispielsweise erwogen, die Rentenhöhe von der Zahl der Kinder abhängig zu machen und eine volle Rente nur noch an Personen mit drei Kindern zu zahlen. 46 Begründet wurde dieser politische Vorschlag damit, dass Kinder zu einem »öffentlichen Gut« geworden seien, das heißt, es liegt im Interesse der Gesamtheit, dass es »genug« Kinder gibt. Auch die Kinderlosen profitieren von Kindern, spätestens im Alter. Für viele Beobachter liegt der Grund für die relative Benachteiligung von jungen Familien und der Elternschaft darin, dass mit der Rentenreform von 1957 die Altersversorgung zur öffentlichen Aufgabe gemacht wurde, während die Nachwuchssicherung weiterhin Privatsache geblieben sei. Das Rentensystem wurde damals auf das Umlageverfahren umgestellt; das heißt, die Erwerbstätigen zahlen einen bestimmten Beitrag in den Topf der Rentenversicherung ein, aus dem dann die Rentner anteilig ihrer geleisteten Einzahlungen und Arbeitszeiten bezahlt werden. Etwas Entsprechendes gibt es für die Versorgung von Kindern oder Eltern nicht. Was als private Leistung gilt - nämlich die Erziehungsarbeit, die nicht »für den Staat« oder »für die Gesellschaft« geleistet wird, auch wenn sie vielleicht einen entsprechenden Nebeneffekt hat - gilt eben auch nicht als Leistung, die von der Allgemeinheit (vom Staat) bezahlt werden sollte. Das war kein Problem, solange mehr oder weniger alle mitmachten und Kinder bekamen. 44 Kaufmann (2005b: 60). 45 Kaufmann (1988, 2005b: 61). 46 Nacke/ Jünemann (2005: 182). Die rot-grüne Regierung beschloss, ab 2005 für Kinderlose einen erhöhten Beitragssatz für die Pflegeversicherung einzuführen. 9. Familienrecht und Familienpolitik 286 Die Situation von Familien, so die Kritiker, habe sich seit der Rentenreform von 1957 ständig verschlechtert und auch die deutlichen Anstrengungen zur Verbesserung dieser Situation seit Beginn der 1990er-Jahre seien »wirkungslos verpufft«. 47 Die Rentenversicherung, so die Kritiker, begünstige vor allem die ältere Generation (auf Kosten der Jüngeren), die Männer (auf Kosten der Frauen), die Singles bzw. Kinderlosen (auf Kosten der Familien) und die Besserverdienenden (u. a. deshalb, weil die Abstände zwischen den Renten höher seien als die zwischen den früheren Nettoeinkommen). 48 Insbesondere die »Alterslastigkeit« des Sozialstaates - die relativ bessere Unterstützung für die Rentnergenerationen - wird häufig kritisiert und gleichzeitig eine stärkere Nachwuchssicherung durch den Sozialstaat gefordert. Auch international wurde mehrfach festgestellt, dass die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums seit den 1970er-Jahren in den Wohlfahrtsstaaten des Westens zu Lasten der jüngeren Generationen ging. 49 Dabei hatte es im Vorfeld der deutschen Rentenreform von 1957 durchaus Ideen zu einer Art Kinderrente gegeben, doch wurden sie nicht verwirklicht - auch, weil damals niemand damit rechnete, dass der Anteil freiwillig Kinderloser einmal sehr hoch sein würde. Im ursprünglichen Plan von Wilfrid Schreiber war ein zweifacher Generationenvertrag vorgesehen: Neben dem staatlich vermittelten Solidarvertrag zwischen den Erwerbstätigen und den älteren Generationen - also der Rentenversicherung - sollte noch ein zweiter Solidarvertrag zwischen den erwerbstätigen und den nachwachsenden Generationen in Form einer Kinder- und Jugendrente eingeführt werden. Schreibers Grundgedanke war, dass ein Solidarpakt zwischen drei Generationen errichtet werden sollte: der Kinder- und Jugendgeneration, den Erwerbstätigen und den Ruheständlern. Die Kinder- und Jugendrente sollte als Darlehen an den Nachwuchs verstanden werden. Sie sollte ebenso wie die Altersrente durch die Erwerbstätigen finanziert werden. Das schien damals noch eine zumutbare Belastung, denn die Beiträge zur Rentenversicherung waren noch sehr niedrig. Das Darlehen sollte von den Begünstigten ab dem 35. Lebensjahr zurückgezahlt werden bzw. an die dann nachfolgende Generation weitergegeben werden, in Abhängigkeit von der eigenen Kinderzahl. Das heißt, wer selbst eigene Kinder hatte, sollte gar nichts oder wenig - je nach Kinderzahl - von dem früher erhaltenen Darlehen zurückzahlen; wer dagegen kinderlos blieb, sollte mehr zahlen. 50 Um zu begründen, warum dieser Plan damals nicht verwirklicht 47 Borchert (2003: 88). 48 Borchert (2003: 85). Zu den Benachteiligungen der Frauen in der Rentenversicherung vgl. Allmendinger (1994). 49 Ringen (1997). 50 Kaufmann (2005b: 52). 9.4 Umstrittene Felder der Sozial- und Familienpolitik 287 wurde, wird gern auf einen Spruch des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer verwiesen: »Kinder haben die Leute immer.« 51 Man überließ daher die Finanzierung des Nachwuchses den Eltern als Privatsache. Heute werden die Schreiberschen Vorschläge wieder aufgegriffen, nachdem Adenauers Spruch nicht mehr uneingeschränkt gilt. Einwände gegen eine pronatalistische Familienpolitik Trotz ihrer gegenwärtigen Dominanz ist auch eine pronatalistisch-familistische Politik nicht unumstritten. Es gibt grundsätzliche Einwände gegen die Selbstverständlichkeit einer Förderung von Familien, weil damit andere wichtige Werte vernachlässigt würden. So wurde zum Beispiel der »Wiesbadener Entwurf«, der sich vehement für eine Familienförderungs-Politik und eine deutliche Belastung von Kinderlosen einsetzte, als »fundamentalistisch« und anti-individualistisch kritisiert: Er konzentriere sich einseitig auf Familie, und alle anderen Werte - etwa der Individualismus oder die Emanzipation der Frauen - würden vernachlässigt. 52 Die Umverteilung zugunsten von Familien bringe neue Probleme und Konfliktlagen mit sich. Eine staatliche Umverteilung von der Altersversorgung zugunsten der Förderung der Fertilität und der jungen Familien könne zu Lasten der Generationensolidarität gehen, wird befürchtet. Zwar herrscht weitgehend Konsens darüber, dass die Rentner nicht mehr weiterhin so gut bedacht werden können wie in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Aber, so geben andere zu bedenken: »Geht nicht die kostbare Generationensolidarität innerhalb der Familien verloren, wenn der Staat massive Umverteilungen vornimmt? « In der Tat konnte die Generationsforschung zeigen, dass enorme freiwillige Geldströme von den Älteren zu den Jüngeren fließen und die Älteren viele unbezahlte Dienstleistungen für die Jüngeren verrichten. Generationengerechtigkeit lasse sich eben nicht einfach durch staatliche Umverteilung vornehmen, als ob Generationen nur einfache Verwaltungsgrößen seien. Generationensolidarität zeige sich innerhalb von Familien und staatliche Eingriffe könnten hier kontraproduktiv sein. Zwar werde in Familien, in 51 Ob diese Äußerung tatsächlich so fiel und vor allem, ob der damit gemeinte Sachverhalt tatsächlich zur Begründung des Verzichts auf die Schreibersche Kindheits- und Jugendrente diente, bleibt unklar. Zumindest, so Kaufmann (2005b: 54), sei die Geschichte gut erfunden. 52 Vgl. zum »Wiesbadener Entwurf«: Hessische Staatskanzlei (2003), Borchert (2003); zur Kritik zum Beispiel Rürup/ Gruescu (2003). 9. Familienrecht und Familienpolitik 288 denen ein Paar kinderlos bleibe, die Generationsfolge abgebrochen; aber warum sollten ältere Kinderlose nicht in der Lage und willens sein, für die Kinder anderer Leute etwas zu tun: zum Beispiel in der ehrenamtlichen Kinderbetreuung. Ein anderer Einwand ist, dass Familienförderung zwangsläufig zu Lasten von Frauenförderung gehe. Familienpolitik jedenfalls behindere die Emanzipation, wenn sie nichts dagegen tue, dass Frauen, wenn sie Mütter werden, häufig auf Erwerbsarbeit verzichten müssten. 53 In der Tat hatte die traditionelle Ehe- und Familienförderung die Frauen auf die häusliche Rolle festgelegt: Diese Meinung wird heute, wenn überhaupt, selbst in der CSU nur noch vorsichtig vertreten. Es herrscht weitgehend Konsens, dass das Vereinbarkeitsproblem gelöst werden muss. Das heißt, es werden Maßnahmen als notwendig angesehen, die begünstigen, dass Frauen Kinder bekommen - ob mit oder ohne Ehe - und trotzdem, wenn sie wollen, beruflich erfolgreich sein können. Dies wiederum könnte zu Lasten der Männer gehen; zumindest verlangt es die Bereitschaft der Männer, auf bisherige Erwerbschancen zu verzichten, wenn sie Väter werden. Die Gerechtigkeits- und Verteilungsprobleme sind also in komplizierter Weise verschränkt: Es gibt heute immer mehr Konflikte zwischen verschiedenen Sparten der Sozialpolitik für Familien, für Eltern oder Kinder, für Frauen, für Alleinerziehende, für Alte, für Kranke oder für Arbeitslose. Ein konstatiertes Problem zu lösen - etwa die Benachteiligung der Frauen -, bedeutet nicht zwangsläufig, andere Probleme gleich mit zu lösen - etwa die fehlende Anerkennung des produktiven Charakters von Familientätigkeit. Deshalb wäre es wichtig, klare Prioritäten bei den Zielen der Politik zu setzen und dabei auch klar zu sagen, dass damit andere Ziele vernachlässigt werden müssen. Aber das machen Politiker nicht allzu gern. Ein Fallbeispiel für den Konflikt zwischen Familienpolitik und Frauenförderung: Betreuungsgutscheine oder Elterngeld? Das Spannungsverhältnis zwischen Familienförderung und Politik für Frauen lässt sich am Streit der Parteien um das neue Elterngeld und ein Betreuungsgeld im Jahr 2007 ablesen. Die Konservativen - in erster Linie die CSU - wollten ein Betreuungsgeld einführen, das jene Eltern bekommen sollten, die ihre Kleinkinder nach dem ersten Lebensjahr - also nach dem Bezug des Elterngeldes - nicht in eine öffentliche Betreuungsinstitution geben, sondern ihre Kinder selbst zuhause betreuen wollten. Für eine feministische Familienpolitik ist dies nicht attraktiv, da 53 Zum komplizierten Verhältnis von Frauen-, Familien- und Sozialpolitik vgl. etwa Ostner (2006). 9.4 Umstrittene Felder der Sozial- und Familienpolitik 289 es die Hausfrauenehe favorisiert. Das Betreuungsgeld wurde deshalb polemisch als »Herdprämie« kritisiert. Man könnte allerdings auch sagen, dass damit eine alte feministische Forderung nach Bezahlung der Hausarbeit bzw. der häuslich-mütterlichen Kinderbetreuung eingelöst würde. Als Alternative zum Betreuungsgeld favorisierten manche Politiker - darunter auch die Familienministerien von der Leyen - Betreuungsgutscheine; denn das Geld, so die Vermutung, könnte von manchen Eltern »für ihren eigenen Konsum« verwendet werden und käme nicht den Kleinkindern zugute: In diesem Sinne soll der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, gesagt haben, das Geld könnte von manchen Eltern »etwa zum Kauf von Alkohol und Zigaretten« missbraucht werden. 54 Dieses Thema bleibt jedenfalls umstritten. Die Konservativen warfen den Liberalen, auch der Ministerin, aber besonders den Feministinnen vor, Mütter gering zu schätzen, die während der ersten Lebensjahre ihrer Kinder nicht berufstätig sein wollen. Mütter, die in den ersten Jahren ihrer Kinder zuhause blieben, würden aber einen »riesigen Beitrag zur Entwicklung der Gesellschaft« leisten. 55 Ist dies ein verstecktes Plädoyer gegen die Erwerbstätigkeit von jungen Müttern? Auch der Siebte Familienbericht weist darauf hin, dass die Toleranz gegenüber erwerbstätigen Müttern von Kleinkindern noch immer prekär ist und durchaus leicht in erneute Missbilligung umschlagen könnte. 56 Und auch im Feminismus gibt es einen Konflikt zwischen der Orientierung an Erwerbstätigkeit und der Orientierung an Mutterschaft - »eigene Selbstverwirklichung« und »Aufopferung« sind entsprechende Kampfbegriffe. Ein wichtiges Ziel bei der Einführung des Elterngeldes war, einen Beitrag zum Abbau der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu leisten, indem für die Väter ein größerer Anreiz geschaffen werde, sich in gleicher Weise wie die Mütter an der Betreuung der Kleinkinder zu beteiligen. Schon ein halbes Jahr nach seiner Einführung wurde im August 2007 in den Zeitungen gemeldet, das Elterngeld sei in diesem Sinne ein großer Erfolg: 8,5 Prozent der Anträge seien von Männern gestellt worden (sogar 11,1 Prozent in Berlin, und auch Hamburg und Bayern lagen mit jeweils 9,7 Prozent über dem Durchschnitt). Demgegenüber lag der Männeranteil früher beim sogenannten Erziehungsurlaub nur bei drei bis vier Prozent. Auf den ersten Blick hat die emanzipatorische Politik mit dem Erziehungsgeld einen Erfolg erzielt: Aber auch in diesem Fall muss wieder vor den Tücken der Statistik gewarnt werden. Die zitierten Zahlen bedeuten nämlich keineswegs, dass jetzt in 8,5 Prozent aller Fälle die Väter die ganze Zeit zuhause bleiben und die 54 Der Tagesspiegel, 5.8.2007, S. 4. 55 Der Tagesspiegel, 5.8.2007, S. 4. 56 BMFSFJ (2006). 9. Familienrecht und Familienpolitik 290 Mütter arbeiten gehen (wie früher beim Erziehungsurlaub von einem Jahr). Bei einer differenzierten Betrachtung der Daten ergibt sich ein deutlich traditionelleres Bild. Das liegt daran, dass das neue Elterngeld eine Kombination ermöglicht: Stellt nur einer der Partner einen Antrag, kann sie oder er maximal zwölf Monate Elterngeld bekommen. Stellt auch der andere Partner einen Antrag, erhöht sich die maximale Laufzeit auf 14 Monate. Nun sind beliebige Kombinationen möglich, zum Beispiel der Mann sieben Monate und die Frau auch sieben Monate. Doch die tatsächlich am meisten gewählten Kombinationen waren zwölf Monate für die Frau und zwei Monate für den Mann (73 Prozent bewilligte Anträge von Frauen und 54 Prozent bewilligte Anträge von Männern). Bewilligte Anträge der Männer für zwölf Monate machten dagegen nur 2,1 Prozent aus. Bezieht man nur diese »vollen« Anträge von den Männern auf die Gesamtzahl aller Anträge, sind es nicht mehr 8,5 Prozent, die von Vätern gestellt und bewilligt wurden, sondern nur noch 1,8 Prozent. 57 Fazit: Zwar nahmen früher deutlich weniger Väter Erziehungsurlaub als jetzt die Väter (seit 2007) Elterngeld in Anspruch nehmen; aber sie nahmen damals länger Erziehungsurlaub (ein Jahr), während sie seit 2007 meist nur zwei Monate in Anspruch nehmen. 58 Familienförderung und soziale Gerechtigkeit Ein weiterer Einwand gegen eine profamilistische Politik könnte sein: »Familienförderung ist sozial ungerecht«. In sozialstruktureller Perspektive gibt es nicht einfach nur »Familien«, sondern soziale Ungleichheit in den Lebenslagen von Familien. Seit den 1980er-Jahren haben sich in vielen Ländern der westlichkapitalistischen Welt die Ungleichheiten sogar erhöht; das aber heißt: Vom Wirtschaftsaufschwung seit 2006, den man in Deutschland auch den Agenda- 2010-Reformen zuschrieb, profitierten zunächst vor allem die wohlhabenden Schichten. Es gibt privilegierte Familien und es gibt arme Familien. Es gibt kinderlose Paare mit zwei hohen Einkommen und es gibt arme Kinderlose. Ein Teil der bisherigen Familienförderung - insbesondere jene, die mit der Steuerabgabe verknüpft ist - habe keineswegs die unteren Schichten gefördert, betonen die Kri- 57 Die Kombination 12+2 Monate (w/ m) machte 71 Prozent aller Anträge aus. Die nächsthäufigen Kombinationen waren 11+3 mit 8 Prozent und 10+4 mit 7 Prozent. Unter dem Gleichheitsgesichtspunkt wäre die Variante 7+7 zu favorisieren. Sie kam aber nur auf 1 Prozent. Die Kombination 12+2 (m/ w) erreichte 2,5 Prozent. Bei den Alleinerziehenden lag der Anteil der bewilligten Anträge von Vätern bei 6 Prozent. 58 Daten des Statistischen Bundesamtes. Vgl. iwd 34/ 2007, S. 6. 9.4 Umstrittene Felder der Sozial- und Familienpolitik 291 tiker, sondern eher die Mittelschichten, etwa beim Ehegatten-Splitting. 59 Auch die Pflegeversicherung wurde als sozial ungerecht kritisiert. 60 Ebenso wurde das neue Elterngeld bei seiner Einführung 2007 entsprechend kritisiert. Kritik wurde auch an anderen Sparten der Politik geübt: So habe die Bildungspolitik häufig nicht einfach »die Familie« gefördert, sondern eher die Familien der Mittel- und Oberschichten. 61 Familienförderung kann also in Konflikt geraten mit bestimmten Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit im klassischen Sinn: Eine Förderung von Elternschaft, die die soziale Gerechtigkeit berücksichtigt, müsste gestaffelt werden. Für die klassische Sozialpolitik war dieser Punkt klar: Arme Eltern und Familien müssen stärker gefördert werden. Allerdings sieht sich heute die Politik mit der Frage konfrontiert, welche politischen (finanziellen) Anreize höher qualifizierten, akademisch gebildeten Frauen gemacht werden können, damit sich Familie für sie (wieder) lohnt. Die in Zukunft wohl unumgängliche Teil-Privatisierung der Altersversorgung könnte ebenfalls dazu führen, dass soziale Ungleichheit wieder ansteigt. Reiche Eltern können leichter private Zusatzversicherungen abschließen, reiche Großeltern können ihre Kinder und Enkel leichter zusätzlich unterstützen. Arme Familien sind demgegenüber aber weiterhin allein auf die staatliche Rente angewiesen, so dass man durchaus fragen kann: Braucht derjenige, der eine große Erbschaft zu erwarten hat und ein hohes Einkommen hat, überhaupt eine staatliche Rente? 59 Zur Steuerpolitik als sozial ungerecht vgl. Borchert (2003) sowie Lang (2003). Mit dem Ehegatten-Splitting, so wurde polemisch angemerkt, habe man oftmals vor allem erreicht, dass reiche Gattinnen sich mit der Steuerersparnis des Mannes einen zusätzlichen Wellness- Urlaub finanzieren konnten. 60 Die Einführung der Pflegeversicherung habe den öffentlichen Pflegeaufwand von etwa 5,6 Mrd. auf über 20 Mrd. Euro erhöht, vor allem, weil das Vermögen der Senioren nicht berücksichtigt worden sei und somit »Mitnahme-Effekte« entstanden seien (Borchert 2003). Stattdessen, so Borchert, finanzierten die jungen Familien mit ihren indirekten Steuern die Pflege der Alten. 61 Die Bevorzugung von Mittel- und Oberschichten durch die Politik ist bei der Bildungspolitik wahrscheinlich noch deutlicher als bei der Familienpolitik. Das in Deutschland bisher weitgehend kostenlose Hochschulstudium wird über Steuergelder aller Erwerbstätigen finanziert, genutzt wird es aber vor allem von Kindern der Mittel- und Oberschichten (das wäre ein sozialpolitisches Argument für allgemeine Studiengebühren und Stipendien für sozial Schwache). Inzwischen dringt - etwa dank der PISA-Studien - auch immer stärker ins öffentliche Bewusstsein, dass für den Bildungs- und Lebenserfolg eines Menschen die Frage der sozialen Herkunft in den letzten Jahren durch die Bildungspolitik nicht etwa unwichtiger, sondern eher wichtiger wurde (Hartmann 2002). 9. Familienrecht und Familienpolitik 292 Strategien zur Aufwertung der Elternschaft und zur Lösung des Vereinbarkeitsproblems Darüber hinaus gibt es Zweifel, ob die Familie noch leistungsfähig genug ist: So wurde etwa im Zweiten Familienbericht in Frage gestellt, ob die Familien überhaupt in der Lage seien, ihre Funktionen zu erfüllen, insbesondere jene der Sozialisation und der Werttradierung. 62 Das wirft die Frage auf, ob sich die Politik - statt den Familien einfach Geld zu geben - lieber um die »Ausbildung« der Eltern kümmern und zur Professionalisierung der Elternschaft beitragen sollte. Auch mit der Forderung nach einer »Sozialpolitik für das Kind« an Stelle einer Familienpolitik betrachtet man die Eltern-Kompetenz mit Skepsis und rückt das Kindeswohl in den Mittelpunkt der politischen Bemühungen. 63 Es gibt zwei Möglichkeiten, mit der wachsenden Kinderlosigkeit umzugehen: Entweder man akzeptiert sie, weil man einsieht, dass ihre Ursachen mit politischen Maßnahmen kaum wirkungsvoll zu beeinflussen sind. Die Elternschaft müsste dann als eine Sonderleistung angesehen und entsprechend honoriert werden. Oder man versucht, die hohe Kinderlosigkeit zu reduzieren, indem man stärkere Anreize für mehr Geburten schafft. In beiden Fällen wäre die Konsequenz dieselbe: Es käme zu einer Aufwertung der Elternschaft; allerdings auf unterschiedliche Weise: Im ersten Fall - akzeptierte Kinderlosigkeit - würde die Elternschaft tendenziell professionalisiert, im zweiten Fall nicht. Außerdem würde sich das Vereinbarkeitsproblem nur noch im zweiten Fall ernsthaft stellen. Eine Aufwertung der Elternschaft lässt sich mit politischen Maßnahmen allein jedoch nicht erreichen. Dagegen ist eine Lösung der Vereinbarkeitsproblematik mit Familienpolitik eher zu erreichen. Generell sind zwei Grundtypen zu unterscheiden: erstens die Eltern machen nach der Geburt eines Kindes nur eine relativ kurze Pause von der Erwerbsarbeit. Das setzt gute öffentliche Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder voraus, wie etwa in Frankreich oder früher in der DDR. Auch partnerschaftliche Arrangements, etwa Teilzeitarbeit für beide Partner, könnten helfen. Im zweiten Modell wird die Erwerbsarbeit nach dem Übergang in die Elternschaft relativ lange unterbrochen, damit die Eltern die Kinder weitgehend selbst betreuen können. Diese Unterbrechung ist aber mit einer Art Arbeitsplatzgarantie verbunden, wie in Schweden. Dies ist allerdings in stärker liberalen Marktgesellschaften kaum durchzusetzen (erst recht im Zeichen der Globalisierung), so dass der Wiedereinstieg in den Beruf bzw. in den Arbeitsmarkt ein Problem bleiben wird. 62 BMJFG (1975). 63 Lüscher (1984). 9.4 Umstrittene Felder der Sozial- und Familienpolitik 293 Grundsätzlich wäre es für die Politik in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft - Stichwort »familienfreundliche Unternehmen« - relativ leicht, die Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder zu verbessern. Es wäre aber auch wichtig, die Vereinbarkeit von Kindern und Karriere im kollektiven Bewusstsein stärker zu verankern. Ein wirkungsvoller Schritt in diese Richtung könnte sein, Studierende zu ermutigen, schon während des Studiums Kinder zu bekommen, und sie dabei großzügig zu unterstützen, einschließlich spezieller Studienangebote für junge Eltern. 64 Allerdings sind Zweifel angebracht, ob deutsche Frauen und Männer mehr Kinder bekommen würden, wenn die Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf besser möglich wäre. Denn im internationalen Vergleich steht Deutschland, was die Indikatoren für gute Vereinbarkeit betrifft, gar nicht so schlecht da und trotzdem gehört die Geburtenrate zu den niedrigsten auf der Welt. 65 Es gibt dennoch Hinweise darauf, dass politische Anstrengungen, dieses Problem zu lösen, wirksam sein können. Das zeigt sich etwa im Vergleich zwischen Italien und Frankreich: Während Italien das Vereinbarkeitsproblem mehr oder weniger den Frauen überlässt, hat Frankreich große Anstrengungen unternommen, sowohl die öffentliche Betreuung als auch die Frauenerwerbsarbeit zu fördern. 66 In Ländern wie Frankreich oder Schweden ist die Geburtenrate nicht so stark gesunken wie in Italien; sie ist sogar wieder leicht angestiegen, obwohl die Frauenerwerbsquoten ebenfalls zugenommen haben. Betrachtet man das Vereinbarkeitsproblem auf einer allgemeineren Ebene, ist gegenüber konkreten Maßnahmen Skepsis angebracht, da die Wurzel des Problems in kulturellen Grundeinstellungen zu suchen ist. Vermutlich liegt der Hauptgrund für die niedrigen Geburtenraten in Deutschland und katholischen Ländern wie Spanien und Italien darin, dass in diesen Ländern eine starke Spannung besteht zwischen einerseits einem hohen Emanzipationsgrad und andererseits einer starken Geltung des traditionalen Familienmodells, in dem Frauen primär nur Mütter sein sollten. So ist es kein Wunder, dass in diesen Ländern die politischen Anstrengungen zur Verbesserung der Vereinbarkeit oft nur halbherzig sind; und dass der Konflikt für die Frauen besonders schwierig ist, weil die Strukturen und das Wertesystem - bei aller oberflächlichen Toleranz und Akzeptanz von Emanzipation - immer noch starke Widerstände gegen die Erwerbstätigkeit von Müttern darstellen. 64 Dieser Punkt wird im letzten Kapitel noch einmal aufgegriffen. 65 iwd 29/ 03. 66 Jenson/ Sineau (2001). 9. Familienrecht und Familienpolitik 294 Nachhaltige Familienpolitik Das Leitbild der Nachhaltigkeit, das sich in der Umweltdebatte durchgesetzt hat, wird zunehmend auch im Bereich der Familienpolitik verwendet. In Deutschland hat die Kommission, die von der Bundesregierung eingesetzt war, um den Siebten Familienbericht zu erstellen, die Leitlinien einer nachhaltigen Familienpolitik formuliert. Nachhaltigkeit soll bedeuten, Familien kontinuierlich zu unterstützen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf dauerhaft zu fördern sowie Bedingungen zu schaffen, damit die Lebensentwürfe der Kinder realisierbar sind. »Familien brauchen vor allem drei Dinge: Zeit, eine unterstützende Infrastruktur und Einkommen.« 67 Eine nachhaltige Familienpolitik - wie sie sowohl von der Bundesregierung als auch von der Kommission verstanden wird - bestehe aus einem »Dreiklang von Zeitpolitiken, Infrastrukturförderung und monetärer Unterstützung neuen Zuschnitts«. 68 Infrastrukturen müssten »den Rhythmen der Lebensläufe von Familienmitgliedern angepasst werden und einen verlässlichen Rahmen für Fürsorge und Beziehungen zu anderen bieten«. 69 Es gehe um die Schaffung von Rahmenbedingungen für Lebenslaufmodelle, in die sich das Familienleben besser einfügen lässt als heute. Für die Bundesregierung sei Familienpolitik vom Rand ins Zentrum gerückt; und durch eine nachhaltige Familienpolitik wolle Deutschland bis zum Jahr 2010 »zu den familienfreundlichsten Ländern Europas aufschließen«. 70 Zwar handelt es sich hier offensichtlich um eine Reihe von programmatischen Aussagen, deren Umsetzungsmöglichkeiten in die Praxis an vielen Stellen zweifelhaft erscheinen. Aber die Berichtskommission hat eine Reihe von grundlegenden Problemen klar analysiert, so dass die Politik damit nun auf die Suche nach praktischen Lösungen gehen kann. So stellt die Kommission etwa zur Zeitproblematik fest, dass besonders in Deutschland der Lebenslauf noch stark am klassischen Modell orientiert sei und die mittlere Phase als Erwerbsphase überbetont werde. Das aber führe zu einem Aufschub der Familiengründung und zu einer Orientierung an unterschiedlichen Lebensläufen und Vereinbarkeitsmustern für Frauen und Männer. Deshalb müsse ein »Wunschzeitenmodell« gefördert werden. Eine Entzerrung der »rush hour« des Lebens sei dringend notwendig. »Keine Zeit für Kinder zu haben«, sei eines der größten Probleme, das durch inflexible Strukturen im Erwerbssystem und im herrschenden Lebenslaufregime zustande komme. Die 67 BMFSFJ (2006: XXIV); vgl. auch Bertram (2006). 68 BMFSFJ (2006: XXV). 69 ebd. 70 BMFSFJ (2006: XXV). 9.4 Umstrittene Felder der Sozial- und Familienpolitik 295 »Allianz für Familie« (seit 2003) soll hier ansetzen und Verbesserungen in der Work-Life-Balance herbeiführen. Familienfreundliche Unternehmen und »lokale Bündnisse für Familie« sollen gefördert werden. Überhaupt wird die Bedeutung der Kommunalpolitik für die Lösung dieser Probleme hervorgehoben: Familienpolitik ist also nicht nur Sache der Bundespolitik. Zusammenfassende Thesen Auch wenn der Binnenraum der Familie nur ansatzweise verrechtlicht ist, so haben die modernen Rechtssysteme doch in vielfältiger Weise versucht, Konflikte, die sich innerhalb von Familien oder im Verhältnis von Familie und anderen gesellschaftlichen Bereichen ergeben, über gesetzliche Regelungen zu entschärfen und zu lösen. In der modernen Rechtsentwicklung kommt außerdem der erfolgreiche Kampf des modernen Rechtsstaates zum Ausdruck, den Einfluss von Religion und Kirche auf das Familienleben zurückzudrängen. In der Rechtsentwicklung spiegeln sich auch die öffentlichen Auseinandersetzungen über Wertvorstellungen und Ideale des privaten Lebens. Dies zeigt sich insbesondere an den vielfältigen Rechtsreformen im Anschluss an die 1960er- Jahre. Die Familienpolitik ist der zweite Bereich, durch den der moderne Staat Einfluss auf das Familienleben und die Regulierung von Wertekonflikten nimmt. Als Gesetzgeber setzt die staatliche Politik auch immer wieder Rechtsnormen durch. Außerdem kann sie versuchen, durch familienpolitische Grundsatzentscheidungen Einfluss auf verschiedene gesellschaftliche Bereiche zu nehmen. Die Familienpolitik steht dabei im Kontext umfassender sozialpolitischer Konzeptionen und hat es grundsätzlich mit Zielkonflikten zu tun. Sie kann sich zum Beispiel auf den Versuch konzentrieren, mit bestimmten Maßnahmen die Geburtenrate zu erhöhen; oder sie kann ihren Schwerpunkt auf die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen legen. 9. Familienrecht und Familienpolitik 296 Übungsfragen - Welche Bedeutung haben rechtliche Regelungen für das Familienleben? - Wie hat sich die »Kulturrevolution« der 1960er-Jahre auf das Ehe- und Familienrecht ausgewirkt? - Was sind die grundlegenden Konfliktlinien für jede Familien- und Sozialpolitik? - Wie müsste eine erfolgreiche pronatalistische Politik aussehen? - Durch welche politischen Strategien könnte das Vereinbarkeitsproblem gelöst werden? Basisliteratur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg., 2006): Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Siebter Familienbericht. Berlin: BMFSFJ Familienrecht (2000): Die Gesetzestexte des »Deutschen Bundesrechts«. Frankfurt/ M.: Suhrkamp/ Nomos Kaufmann, Franz-Xaver (2003): Varianten des Wohlfahrtsstaats: Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich. Frankfurt/ M.: Suhrkamp Ramm, Thilo (1985): Familienrecht, Band I, Recht der Ehe. München: dtv 9.4 Umstrittene Felder der Sozial- und Familienpolitik 297 10. Die Zukunft der Familie Hat die Familie noch Zukunft? Diese Frage wird seit den späten Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts immer wieder gestellt, ihr Untergang wurde mehrfach verkündet. Angesichts der langen Geschichte der Familie und ihrer welthistorischen Universalität kann die Frage allerdings von der seriösen Familienforschung nicht ganz ernst genommen werden. Durchaus berechtigt aber ist die Frage, welche Zukunft die Familie hat. Man würde gern wissen, wie es weitergeht, ob bestimmte Krisentendenzen sich verschärfen, ob es zu ganz neuen Entwicklungen kommen könnte. Bei all diesen Fragen bewegen wir uns notgedrungen auf unsicherem Terrain, niemand kann wissen, was die Zukunft bringt. Es ist deshalb angebracht, zunächst einmal über Sinn und Nutzen von Zukunftsforschung bezüglich der Familie nachzudenken (? 10.1). Wenn die Individualisierungstheorie, die in den letzten Jahrzehnten auch in der Familienforschung stark diskutiert wurde, in die Zukunft verlängert wird, entsteht das Szenario einer singularisierten Gesellschaft mit dem vollmobilen, flexiblen Single als Zentralfigur, der die Familie zurückdrängt. Auch die Theorie der postmodernen Familie kommt zu ähnlichen Prognosen. Zurzeit würde kaum jemand eine Renaissance der alten Familienstrukturen prognostizieren; eine einfache Rückkehr zu alten Verhältnissen kommt ohnehin selten vor. Dennoch lassen sich einige Aspekte eines Szenarios benennen, in dem die Familie wieder an Bedeutung gewinnt (? 10.2). Eine wichtige Rahmenbedingung für die Zukunft der Familie ist die Bevölkerungsstruktur. Manche Demografen fürchten, dass selbst ein deutlicher Anstieg der Geburtenrate die demografische Krise nicht verhindern wird, die sich durch ein zunehmendes Ungleichgewicht zwischen Jungen und Alten bereits ergeben hat. Wird sich dieses Problem in Zukunft noch verschärfen oder ist nach einer Übergangsphase wieder eine ausgewogene Bevölkerungsstruktur zu erwarten? (? 10.3). Vieles wird davon abhängen, wie sich das Geschlechterverhältnis entwickelt. Deshalb werden drei Szenarien zum Verhältnis von Mann und Frau skizziert. Zieht man auch die Strukturen sozialer Ungleichheit hinzu, insbesondere bezüglich der Bildung, ergeben sich drei weitere Szenarien. Dabei könnte es zu einer Polarisierung zwischen kinderlosen Akademikern und nichtakademischen Familienpaaren kommen. Zu Ende gedacht, verweisen diese Szenarien auf eine Professionalisierung der Familienarbeit und sogar der Elternschaft (? 10.4). 299 Abschließend wird gefragt, ob eine zukünftige Gesellschaft vorstellbar ist, die ohne Familie auskommt. Fortschritte der Biotechnologie lassen die Vermutung zu, dass eines Tages die Geburt eines Kindes weitgehend von seiner biologisch-sozialen Herkunftsfamilie gelöst sein könnte (? 10.5). 10.1 Zukunftsforschung: Prognosen und Szenarien Über gesellschaftliche Entwicklungen und die Zukunft ist immer wieder nachgedacht worden. Utopien und geschichtsphilosophische Spekulationen gibt es schon lange. Aber erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gab es einen deutlichen Aufschwung sowohl an Science-Fiction (Jules Verne, H. G. Wells) als auch an wissenschaftlich bemühten Prognosen. Häufig ging es dabei um teleologische Entwürfe, um das Ideal einer guten Welt. Man dachte darüber nach, was sich in der wirklichen Welt ändern müsste, um dieses Ziel zu erreichen. Demgegenüber hat sich die Soziologie mit ihrer Etablierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts von teleologischen Entwürfen des Ideals einer guten Welt weitgehend verabschiedet und sich auf die Diagnose aktueller Probleme konzentriert. Die »Zukunftsforschung« hat ohnehin das Problem, Anerkennung in der Wissenschaft zu finden. Dies wird verständlich, wenn man sich klar macht, dass es bei Zukunftsforschung nicht wirklich um die Zukunft geht, jedenfalls nicht im Sinne eines zutreffenden Blicks in die Zukunft. Es geht nicht darum, durch Vorhersagen unsere Neugierde zu befriedigen, wie die Welt einmal aussehen wird, sondern eher darum, aktuelle Hoffnungen oder Wünsche, aber auch Befürchtungen und entsprechende Warnungen zum Ausdruck zu bringen. Diese Warnungen oder Wünsche bleiben oft implizit und verborgen, wie bei manchen Krisen-Diagnosen und Untergangs-Szenarien zur Familie, bei denen man sich fragt, ob hinter einer scheinbar nüchternen Zerfallsprognose nicht der heimliche Wunsch nach heiler Familie stecken könnte. Zukunft ist also nicht das, was kommt, sondern das, was wir jetzt als Zukunft denken. 1 Es geht bei der Zukunft immer um die Gegenwart (oder die nahe Zukunft): Die Zukunft existiert sozusagen nur in der Gegenwart. Deshalb hält man ältere Prognosen über eine inzwischen bereits vergangene Zukunft oft für naiv. Zukunftsprognosen werden von den Zeitgenossen in der Regel nicht ernst genommen, wenn es ihnen nicht gelingt, Befürchtungen zu aktualisieren. Dazu 1 Uerz (2006). 10. Die Zukunft der Familie 300 gibt es zahlreiche Beispiele aus den letzten Jahrzehnten im Zusammenhang mit der ökologischen Krise. Nicht jeder Warnruf (»Klimakatastrophe«, »Baumsterben«, »Ozonloch«) wurde gleich ernst genommen, auch wenn die Analyse wissenschaftlich gut begründet war. Auch in der demografischen Debatte gab es schon frühzeitig Warnungen, die jedoch keine öffentliche Besorgnis auslösten: So konnte man zum Beispiel schon mindestens seit den 1980er-Jahren sehen, dass es zu einem »Altern der Gesellschaft« mit schwerwiegenden Folgeproblemen für die Finanzierung der Rente und des Sozialstaates kommen würde. Doch erst in jüngster Zeit wurde das Problem von der Politik aufgegriffen. 2 In der Zukunftsforschung dominierte lange Zeit die technologische und ökonomische Prognose-Forschung. Sie bestand oft in der einfachen Extrapolation von Datenreihen: Das Ansteigen einer Kurve beispielsweise wurde entsprechend in die Zukunft verlängert. In den 1970er-Jahren führte das vielfache Scheitern von Prognosen allmählich zu einem Wechsel in Richtung Szenarien. Während Prognosen häufig als Versuch einer genauen Wirklichkeits-Voraussage missverstanden werden, stellen Szenarien deutlicher nur Möglichkeiten dar. Als Wild Cards schließlich gelten Ereignisse, deren Eintreten zwar ziemlich unsicher ist, die aber, wenn sie einträten, schwerwiegende und weitreichende Konsequenzen haben würden. So veröffentlichte zum Beispiel das Kopenhagener Institut für Zukunftsforschung in den 1990er-Jahren eine Studie mit den Wild Cards: »Frauen verlassen den Arbeitsmarkt« oder »Das Ende der Solidarität zwischen den Generationen«. 3 Weitere Methoden sind mathematische Modelle und Simulationsmodelle, die auch in der Demografie wichtig geworden sind. Besonders die französische Zukunftsforschung hat sich von der Vorstellung verabschiedet, die Zukunft sei etwas, das man erkennen könne; etwas, das schon gewissermaßen feststünde und nur noch enthüllt werden müsse. Vielmehr geht man hier davon aus, dass die Zukunft erst noch gemacht werden muss, und die Zukunftsforschung richtet deshalb ihren Blick auf dieses Machen (pouvoir). 4 Die Zukunft könne deshalb »für die Menschheit als handelnde Subjekte das Reich der Freiheit und der Macht« (pouvoir) sein. 5 Gerade bei Szenarien geht es also darum, mögliche Zukünfte zu erahnen und aktiv an der Verwirklichung einer möglichen Zukunft zu arbeiten. 2 Höhn (2007). 3 Ågerup (2000: 112). 4 Jouvenel (2000). 5 Pouvoir bedeutet im Französischen sowohl »können« als auch »Macht«. 10.1 Zukunftsforschung: Prognosen und Szenarien 301 10.2 Niedergang oder Renaissance der Familie? Im Jahr 1983 begann die Erfolgsgeschichte der Individualisierungstheorie. In diesem Jahr und in den Folgejahren erschienen mehrere Aufsätze, die sich alle darin einig waren, dass dem Individuum bzw. dem Subjekt mehr Bedeutung zukäme als die soziologische Theorie ihm bis dahin zugestanden hatte. 6 Damit verbunden war die neue Zeitdiagnose der Individualisierung. Damit war unter anderem gemeint: eine größere Optionsbreite und damit mehr Entscheidungsmöglichkeiten für das Individuum; weniger soziale Einbindungen in Gemeinschaften und Sozialverbände; eine stärkere individuelle Zuschreibung. Was mit dem Einzelnen geschieht, wird stärker als früher als Folge seiner Entscheidungen betrachtet (höheres Maß an Selbstreflexion und vieles mehr). 7 Aus der Individualisierungsdebatte ergibt sich unter anderem das Zukunftsszenario, dass der Anteil der Singles zunehmen wird. Das ungebundene, mobile, flexible Individuum scheint für die neue Zeit besser gerüstet als das in feste Strukturen eingebundene Individuum: Man »verzichtet darauf, lebenslang ein einziges Projekt (eine Berufung, einen Beruf, eine Ehe etc.) zu verfolgen«, man ist mobil, ungebunden und immer offen für neue Kontakte. 8 In einer vernetzten Welt besteht das Sozialleben aus temporären Kontakten. Am Ende steht die Vision einer Netzwerkgesellschaft, in der flexible, mobile Individuen locker miteinander verknüpft sind, aber keine festen, stabilen Beziehungen mehr eingehen. Ein Indikator hierfür ist der große Erfolg des Mobiltelefons, das quasi für diesen Trend steht, feste Bindungen durch flexible, temporäre Kontakte zu ersetzen. 9 Individualisierung in diesem Sinne bedeutet also: eine Abnahme von klassischen Familien und Familienhaushalten, eine Zunahme von Single-Haushalten, von nichtehelichen Lebensgemeinschaften, von Kinderlosigkeit, von Scheidungen, von Alleinerziehenden. Diese Entwicklungen sind bereits in Gang: Es stellt sich die Frage, ob es in dieser Richtung weiter geht bzw. wie weit. Bei einer einfachen Extrapolation wäre man im Jahr 2030 etwa bei einer Scheidungsrate von 50 Prozent, einer Kinderlosigkeit von 35 Prozent, einem Single-Anteil (Anteil Alleinlebender) von 50 Prozent, einer Alleinerziehendenquote von 30 Prozent. 6 Beck (1983), Beck-Gernsheim 1983), Hurrelmann (1983) oder Kohli (1985). 7 Vgl. 8. Kapitel. Die Debatten, was mit diesem Begriff gemeint oder nicht gemeint sein sollte, waren ziemlich ausufernd, und wie immer bei solchen Debatten, bezog sich ein Großteil der Diskussionsbeiträge auf Missverständnisse, die man bei den Beiträgen anderer Autoren entdeckt zu haben glaubte (Beck/ Beck-Gernsheim 1993, Burkart 1993). 8 Boltanski/ Chiapello (2003: 169). 9 Burkart (2007a). 10. Die Zukunft der Familie 302 Postmoderne Familie Ähnliche Überlegungen finden sich auch unter dem Stichwort der »Postmoderne«. Der Historiker Edward Shorter veröffentlichte 1975 ein Buch über die Geschichte der Familie, das zahlreiche Diskussionen auslöste, weil es manche provokative These enthielt. Es ging um die »Geburt der modernen Familie«, um Sexualität und die Entstehung von Liebe. Besonders seine Thesen zur Gefühlsbasis des Familienlebens waren umstritten. 10 Shorters Buch bezog sich vor allem auf das 18. Jahrhundert. Doch er fügte seinem Werk noch ein Abschlusskapitel hinzu. Die moderne Familie, die im 18. Jahrhundert entstanden war, sei nun dabei, unterzugehen, und am Horizont tauchten die Konturen einer postmodernen Familie auf. Shorter gab dem Kapitel den Titel »Towards the Postmodern Family (or, Setting the Course for the Heart of the Sun)«. Die Textzeile in Klammern bezog sich auf ein Stück der Gruppe Pink Floyd, die damals sehr experimentelle Rockmusik machte. 11 Das sollte uns eine Ahnung davon geben, wohin die Reise der modernen Familie geht: nämlich ins Unbekannte. In der Sonnen-Metapher kommt dabei die ganze Ambivalenz dieser Reise zum Ausdruck: Sie führt entweder ins Zentrum der Sehnsüchte (Selbstverwirklichung, Glück) oder aber in den Untergang. In einer anderen Publikation hob Shorter drei Aspekte des modernen Familienlebens hervor, für die es keine historischen Vorläufer gebe: Erstens würden die Bindungen zwischen den Generationen zerschnitten; zweitens würde die Instabilität der Paarbeziehung, die permanent von Trennung und Scheidung bedroht sei, zunehmen; und drittens sei die Zerstörung des »Nestes«, der familiären Geborgenheit, zu befürchten. Shorter hob besonders den Wertwandel hervor: der zunehmende Individualismus und die damit verknüpfte Bedeutungssteigerung von Selbstverwirklichung. 12 Philippe Ariès verwendete zwar nicht den Begriff Postmoderne, aber seine Erklärung für den Geburtenrückgang nach dem Zweiten Weltkrieg stimmt mit vielen Überlegungen Shorters überein. 13 Während der erste Geburtenrückgang im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts verständlich werde vor dem Hintergrund des Übergangs von einem Familientypus mit Wirtschaftsorientierung hin zu einem Typus der kindzentrierten konjugalen Familie, gehe es nun, im späten 20. Jahrhundert, nicht mehr um das Kind, sondern um die Selbstverwirklichung 10 Dülmen (1990). 11 Set the Controls for the Heart of the Sun war der Titel des Stücks auf der Platte A Saucerful of Secrets von 1968. 12 Shorter (1989). 13 Ariès (1980). 10.2 Niedergang oder Renaissance der Familie? 303 der Erwachsenen. »König Kind« sei entthront worden, und sogar vom »Verschwinden der Kindheit« war die Rede. 14 Auch Shorter meinte, man brauche keine Kinder mehr zum Lebensglück; oder allenfalls ein Kind: »Das ist der Kern der Postmoderne«. Shorter verwies in diesem Zusammenhang auf das Geburtserlebnis als Ausdruck der »körperlichen Selbstverwirklichung« von Frauen und bezog sich dabei auf Feministinnen, die das Geburtserlebnis als »totalen weiblichen Selbstverwirklichungsprozess« betrachteten. Die Diagnose Shorters ist umstritten, sowohl hinsichtlich der Brüchigkeit der Generationsbeziehungen als auch bezogen auf die behauptete Abkehr vom Kind. Die Konzeption der postmodernen Familie (Selbstverwirklichung als Schlüsselwert) wurde an der kalifornisch-alternativen Subkultur der Sechzigerjahre abgelesen. Betrachtet man die Entwicklung seit damals, so ist es fraglich, ob eine Dethronisation des Kindes eingesetzt hat. Vieles spricht für eine immer noch starke - vielleicht sogar stärker werdende - Bedeutung der Persönlichkeit des einzelnen Kindes für seine Eltern. Manches deutet auf eine Polarisierung hin: Auf der einen Seite ist ein weiterer Anstieg von Kinderlosigkeit zu erwarten, da es für viele Erwachsene immer schwerer wird, »Selbstverwirklichungs«-Interessen und Elternschaft biographisch zu integrieren. Auf der anderen Seite aber gibt es eine ungebrochene Aufmerksamkeit gegenüber dem individuellen Kind. Die These vom Aufkommen postmoderner Familienverhältnisse wurde auch auf die (amerikanische) Arbeiterklasse ausgeweitet. 15 In der deutschen Familiensoziologie hat vor allem Kurt Lüscher den Begriff der postmodernen Familie aufgegriffen und sich um weitere Klärungen bemüht. 16 In einer schematischen Darstellung lassen sich die Kennzeichen der postmodernen Familie von der modernen und der vormodernen Familie in mehreren Dimensionen unterscheiden (Abb. 10.1). Eine Befürchtung, die an die These von der »Zerstörung des Nestes« anschließt, lässt sich im Zusammenhang mit Überlegungen zu den Folgen der Globalisierung formulieren. Der Strukturwandel der Arbeit durch Globalisierung erzeugt zunächst einen erheblichen Flexibilisierungsdruck, was wiederum einen Rationalisierungsdruck auf Familien erzeugen könnte. Es käme dann zu einer Aushöhlung familialer Strukturen, einer Schwächung der Versorgungsbindungen, der unbezahlten Liebes- und Versorgungsdienste sowie zu einer Kommerzialisierung dieser Dienste durch Haushaltspersonal und Pflegedienste. Folgt man Hochschild, führt dies zu einer Rationalisierung der Familie nach dem Muster der Rationalisierung 14 Postman (1983). 15 Stacey (1991). 16 Lüscher et al. (1988). 10. Die Zukunft der Familie 304 Abbildung 10.1: Traditionale, moderne und postmoderne Familie Tradition Moderne Postmoderne Dominante Lebensform Häusliche Gemeinschaft Konjugale Familie (Kinderloses) Paar - Single Dominantes Bezugssystem Verwandtschaft Produktionsgemeinschaft Kleinfamilie Paar Individuum Generationen im Haushalt Mehrere Zwei Eine Geschlechterverhältnis Patriarchale Herrschaft Komplementarität und Sphärentrennung Egalität Ehe- und Beziehungsmodell Sachehe im Rahmen der häuslichen Produktionsgemeinschaft Liebesehe Versorgungsehe Partnerschaft »Beziehung« Rolle der Frau Kooperation im Rahmen der Geschlechterhierarchie Hausfrau und Mutter (»Gefühlsspezialistin«) Partnerin Verhältnis von Liebe und Ehe Ehe ohne Liebe - außereheliche Liebe Liebe führt zur Ehe; Ehe setzt Liebe voraus Liebe ohne Ehe; ohne Liebe endet die Ehe Zweck der Bindung für das Individuum Eingebundenheit in die Gemeinschaft (Versorgung) Persönliches Glück innerhalb der Familie Teilhabe am Familienglück Persönliches Glück in der »Beziehung« Kindheit Kindheit ist noch keine eigenständige Lebensphase »König Kind« Kindzentrierte Familie »Verschwinden der Kindheit« Generationsverhältnis Starke Bindungen in der Generationslinie im Rahmen der Hausgemeinschaft Starke Bindungen zwischen Eltern und Kindern Schwache Bindungen zwischen den Generationen Einige idealtypische Unterschiede zwischen den Modellen der traditionalen, der modernen und der postmodernen Familie. 10.2 Niedergang oder Renaissance der Familie? 305 der Arbeit. Vor allem das Zeitregime des Arbeitslebens könnte immer stärker in die Familie eindringen: When home becomes work, and work becomes home. 17 Zurück zur Familie Die zuletzt genannten Ansätze gehen mit großer Selbstverständlichkeit davon aus, dass der Zusammenhalt von Verwandtschaftsverbänden und Familien geringer wird und der Einzelne stärker im Mittelpunkt steht, auch für sich selbst (Selbstverwirklichung, Selbstthematisierung, Marktorientierung). 18 Diese Perspektive wurde oft kritisiert, wie bereits mehrfach gezeigt. Hier geht es jedoch nicht um eine Kritik dieser Theorien in dem Sinn, dass sie die Wirksamkeit traditionaler Elemente unterschätzten, sondern um Überlegungen, was sich in der Zukunft ändern müsste, damit der Individualisierungstrend gestoppt wird und eine Renaissance der Familie erwartet werden kann. Das muss nicht, aber kann heißen: mehr Kinder. Ein Anstieg der Kinderzahl in den Familien würde sicher als ein deutliches Zeichen eines Wiedererstarkens der Familie angesehen (also ein Wiederanstieg der Zahl von Familien mit drei, vier oder noch mehr Kindern). Eine mögliche Entwicklung dazu wäre eine weitere Verstärkung der seit einiger Zeit konstatierten Renaissance des Religiösen. 19 Gläubige Menschen hatten meist eine höhere Geburtenrate. 20 Es ist durchaus vorstellbar, dass auch in der westlichen Welt Religiosität wieder zunimmt und damit auch die Neigung zur Familiengründung. Für die USA gibt es schon deutliche Anzeichen in diese Richtung. Ein anderer Punkt, der für eine Renaissance der Familienorientierung wichtig sein könnte, ist das Wiedererstarken des Glaubens, dass Familie eine »natürliche« Angelegenheit sei. In absehbarer Zeit könnte durch weitere Erkenntnisse der Genforschung und einer immer stärker gewordenen Definitionsmacht der Biologie und der Lebenswissenschaften die Öffentlichkeit allmählich davon überzeugt werden, dass Familie und Verwandtensolidarität stärker biologisch-genetisch vor- 17 Hochschild (1997, 2003). 18 Zur Bedeutungssteigerung von Selbstthematisierung im Rahmen einer Bekenntniskultur vgl. Burkart (2006a). 19 Das Buch von Huntington (1996) über den grundlegenden Wertkonflikt zwischen verschiedenen Kulturkreisen, vor allem dem Islam und dem »Westen«, sowie die Diskussionen im Gefolge der Terroranschläge von 2001 haben erneut die Frage nach einer religiösen Fundierung der kulturellen Wertsysteme aufgeworfen. 20 Brose (2006). 10. Die Zukunft der Familie 306 bestimmt sind als die soziologisch geschulte Bildungselite bisher glaubte. Das gilt auch für die Geschlechterdifferenz und die Heterosexualität. So könnte es zu einer Renaissance der Familie und zu einer Restabilisierung der biologischen Fundierung von Familie und der Geschlechterdifferenz kommen. Und vielleicht wird man sich im Jahr 2030 wundern, dass um die Jahrtausendwende in familiensoziologischen Standardwerken die Geschlechter-Differenz und die Vateranwesenheit aus der Definition von Familie getilgt worden waren. Als Grund dafür wird man vielleicht annehmen, dass es in erster Linie darum gegangen war, Einelternfamilien oder homosexuelle Paare mit Kindern als vollwertige Familien zu legitimieren - aus Gründen politischer Korrektheit. Im Augenblick scheint zwar offen, ob es zu einer Re-Biologisierung der Geschlechtsrollen durch Hirnforschung, Genetik und Evolutionsbiologie kommt, aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass der sozio-kulturelle Konstruktivismus weiter zurückgedrängt wird und die frühkindliche Mutterbindung wieder als so wichtig angesehen wird, dass zum Beispiel die Toleranz gegenüber erwerbstätigen Müttern wieder sinkt. 10.3 Die Zukunft der demografischen Krise Es ist naheliegend und in den öffentlichen Debatten inzwischen üblich, die demografische Entwicklung zum Ausgangspunkt von Zukunftsbetrachtungen zu Familie und Generationsbeziehungen zu machen - naheliegend, weil hier zur Zeit eine echte »Krise« vorzuliegen scheint (die »demografische Krise«): Auf der einen Seite gibt es immer weniger Kinder (»Geburtenlücke«), auf der anderen Seite immer mehr Ältere. Das führt zu einem wachsenden Ungleichgewicht in der Belastung zwischen den Generationen, zu einer Krise des »Generationenvertrags« und der Generationengerechtigkeit. 21 Damit sind erhebliche Belastungen für den Sozialstaat und die sozialen Sicherungssysteme verbunden, vor allem die Finanzierung der Altersrente wirft fast unlösbare Probleme auf. Der familiendemografisch orientierte Blick auf die Zukunft bietet sich auch deshalb an, weil auf diesem Gebiet halbwegs verlässliche Prognosen möglich scheinen. Zwar gibt es größere Unwägbarkeiten in der Zukunft, etwa was die Migra- 21 Kaufmann (2005b: 50) weist zu Recht darauf hin, dass die Metapher vom Generationenvertrag irreführend ist, wenn es um die zukünftigen Generationen geht. Dabei sei besser von Generationengerechtigkeit die Rede. 10.3 Die Zukunft der demografischen Krise 307 tionsströme, die Arbeit in der globalisierten Welt oder die Beteiligung von Frauen an der Erwerbsarbeit betrifft. Aber über die Entwicklung der Altersstruktur, so scheint es jedenfalls, kann man relativ sichere Voraussagen machen, da bezüglich Mortalität und Lebenserwartung kaum größere Überraschungen zu erwarten sind. Auch Prognosen hinsichtlich der Entwicklung der Geburtenrate scheinen vergleichsweise risikolos. Aber jede Prognose kann falsch sein und wenn verschiedene Varianten berechnet werden, kann nur eine davon richtig sein. In der »11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung« des Statistischen Bundesamtes (2006) wird in einer der Varianten prognostiziert, dass der Bevölkerungsanteil in der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen (bis 19 Jahren) bis zum Jahr 2050 um fast 30 Prozent und jener der 20bis 59-Jährigen um über 20 Prozent abnehmen werde. Demgegenüber würden die Anteile der Über-60-Jährigen deutlich zunehmen. Am stärksten werde der Anteil der »Hochbetagten« - über 80 Jahre - zunehmen, nämlich um über 164 Prozent. 22 Der Altersquotient werde sich dramatisch verschieben, von jetzt etwa 30 auf deutlich über 60. 23 Im Jahr 2050 wären dann über 30 Prozent der Menschen 65 Jahre oder älter, nur noch 15 Prozent unter 20 Jahren, noch etwa die Hälfte der Bevölkerung wäre im Erwerbsalter (20 bis unter 65 Jahre). Auch in der Erwerbsbevölkerung würden die Älteren überwiegen, also die 45bis 65-Jährigen. Manche Demografen befürchten eine noch stärkere Überalterung. 24 Wie auch immer sich die Varianten der Prognosen im Einzelnen unterscheiden: Es scheint jedenfalls ziemlich sicher, dass es in den nächsten Jahrzehnten zu einer weiteren Alterung unserer Gesellschaft kommt. Und so haben wir heute das zukünftige Bild einer völlig überalterten Gesellschaft, in der die Zahl der Menschen im Erwerbsalter (zwischen 20 und 65 Jahren) etwa gleich hoch ist wie die Zahl der Rentner, Kinder und Jugendlichen zusammengenommen (wobei es doppelt so viele Ältere als Kinder und Jugendliche sind). Es wäre eine Sozialordnung, in der zwei Erwerbstätige eine Rente finanzieren müssten. Das würde bedeuten, dass vom Erwerbseinkommen vielleicht 30 oder 40 Prozent allein für die Rentenversicherung zu zahlen wären, je nachdem, wie hoch in Zukunft die Rente noch sein 22 BiB-Mitteilungen (4/ 2005: 18) Das Geschlechterverhältnis der Hochbetagten wird nach dieser Prognose weiterhin schief sein: auf 100 Männer im Alter von 80 Jahren und darüber würden 153 hochbetagte Frauen kommen (BiB-Mitteilungen 4/ 2005: 21). 23 Der Altersquotient sagt aus, wie viele über 65-Jährige auf 100 15bis 64-Jährige kommen (oder: 65-Jährige in Prozent der 15bis 64-Jährigen). Schon heute liegt der Anteil der 5bis 29-Jährigen an der Bevölkerung in Deutschland inzwischen bei unter 30 Prozent und ist damit unter den 20 wichtigsten Industrieländern am niedrigsten (iwd 32/ 2003). 24 Birg (2000, 2003). 10. Die Zukunft der Familie 308 soll und wie die Finanzierung im Einzelnen geregelt ist. Die Rede von der »Sandwich«-Generation für die Erwerbsbevölkerung wäre dann durchaus angemessen. Nachhaltiger Geburtenrückgang und anhaltende Steigerung der Lebenserwartung: Das sind die zwei Basispunkte jeglicher demografischer Prognosen für Deutschland und vergleichbare Länder, egal, ob sie sich auf Sozialpolitik, Arbeitsmarkt- oder Bildungsentwicklung beziehen. Das einzige, was man dagegen tun könnte, wären Maßnahmen zur deutlichen Erhöhung der Fertilität. Doch diese müssten sehr drastisch sein, um zu greifen. Die früher häufig gehörte Beschwichtigung, man könne das Problem durch Einwanderung lösen, ist heute immer weniger konsensfähig, weil die Integrationsproblematik nicht zu übersehen ist. Bisher wird häufig so getan, als sei das Altern der Gesellschaft ein Dauerproblem der Zukunft. 25 Aus einer distanzierten Perspektive, die sich nicht um die praktischen Probleme der nächsten Jahre und Jahrzehnte kümmern muss, lässt sich aber durchaus Entwarnung geben: Die demografische Krise kann als Übergangsproblem betrachtet werden, als eine Art demografische Transition, die bereits um das Jahr 2030 ihren Höhepunkt erreicht haben könnte. Ab 2030 kommen die Geburtsjahrgänge nach dem Baby-Boom der 1960er-Jahre ins Rentenalter (wie es bisher definiert ist, also mit 65), und die Altersstruktur beginnt allmählich, sich wieder zu normalisieren, denn von Jahr zu Jahr sinkt dann die Zahl der Neu-Rentner. In den Jahren um 2030 wird es besonders viele Personen um 70 Jahre geben, und wahrscheinlich 2040 noch besonders viele Personen um 80. Aber im Jahr 2050 wird es wahrscheinlich schon merklich weniger 70-Jährige geben als in den Jahrzehnten davor. Allerdings wird die Gesamtzahl der Rentner langsamer sinken, da die Lebenserwartung allen Prognosen zufolge weiter ansteigen wird. 10.4 Szenarien zum Verhältnis von Mann und Frau Ein Großteil des Wandels der privaten Lebensführung seit den späten 1960er-Jahren ist auf die Frauenbewegung und Veränderungen im Geschlechterverhältnis zurückzuführen. Die Art und die Richtung der Veränderung des Geschlechterverhältnisses stellen daher wesentliche Bedingungen für die zukünftige Situation der Familie dar. Grundsätzlich sind drei Szenarien denkbar, wenn nur das Geschlech- 25 So wurde manchen Demografen zufolge immer noch nicht genug gewarnt, und bisherige Warnungen wurden nicht ernst genug genommen, so dass es nun ratsam erschien, schärfere Töne anzuschlagen (Birg 2001, Kaufmann 2005a). 10.4 Szenarien zum Verhältnis von Mann und Frau 309 terverhältnis betrachtet wird; drei weitere Szenarien, wenn das Geschlechterverhältnis mit sozialer Ungleichheit verknüpft wird. 26 Im ersten Szenario gehört das alte Familienmodell mit der männlichen Ernährerrolle endgültig der Vergangenheit an - und zwischen Mann und Frau in Paarbeziehungen ist Gleichheit hergestellt, die sich sowohl auf Gleichverteilung von Familienarbeit als auch von Erwerbs- und Karrierechancen bezieht. Dieses Szenario ist das im öffentlichen Diskurs heute weithin anerkannte Zielmodell. Allerdings ist erkennbar, dass es sich häufig eher um eine normative Setzung und eine politische Zielformulierung als um eine empirisch fundierte Prognose handelt. 27 Aus empirischer Perspektive müsste man stärker auf die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Gleichheitsidee eingehen. In der Forschungsliteratur finden sich Hinweise auf zwei andere Szenarien, die eine jeweils unterschiedliche Asymmetrie zwischen den Geschlechtern annehmen. Manches deutet auf ein Wiedererstarken patriarchaler Strukturen oder männlicher Dominanz hin - zumindest auf ein Weiterbestehen der klassischen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und der männlichen Führungsrolle. Das zweite Szenario geht daher von einer Modernisierung des Patriarchats mit einer Restabilisierung der Geschlechterdifferenz aus. Die seit den 1970er-Jahren gestiegenen Erziehungsansprüche könnten in Kombination mit der schon erwähnten Re- Biologisierung der letzten Jahrzehnte wieder das Argument stärken, es läge in der Natur der Frau, die Familienarbeit - Hausarbeit, Kindererziehung und Altenpflege - zu übernehmen. In den 1970er-Jahren setzten sich nicht nur Tendenzen der Liberalisierung und Feminisierung durch, sondern auch Entwicklungen, die unfreiwillig zur Stabilisierung der Versorger-Ehe beitrugen. Neben der Steigerung der Erziehungsansprüche und deren Feminisierung lässt sich auch eine Steigerung der »Verfügungsansprüche« der Kinder gegenüber ihren Müttern feststellen. 28 Auch die immer wieder festgestellten Retraditionalisierungstendenzen beim Übergang in die Elternschaft, die sich auch in neuesten Untersuchungen finden, lassen eine Restaurierung des Patriarchats als möglich erscheinen. 29 Darüber hinaus scheint eine neue Tendenz einer allgemeinen Retraditionalisierung in der jüngeren Generation im Ansatz sichtbar. Auch sie könnte mit der Re-Biologisierung der Geschlechtsunterschiede zusammenhängen. In der neueren Sozialisationsforschung gibt es Hinweise, dass bei Kindern keine wirkliche Neudefinition 26 Dieser Abschnitt greift auf die Überlegungen zurück, die in einem Kommentar zum Siebten Familienbericht formuliert wurden (Burkart 2007d). 27 So auch im Siebten Familienbericht (BMFSFJ 2006). 28 BMFSFJ (2006: 76 ff.). 29 BMFSFJ (2006: 106 ff.). 10. Die Zukunft der Familie 310 der Geschlechtsrollen in Gang gekommen ist. Bei Daten zur Zeitverwendung im Haushalt zeigt sich, dass im Verlauf der 1990er-Jahre der Anteil junger Männer angestiegen ist, die sich von Frauen - zuerst von der Mutter, dann von Freundin oder Ehefrau - versorgen lassen. 30 Und deutlich wird auch, dass weder Eltern noch junge Paare das allzu schlimm finden. Anders gesagt: Die strikte Gleichheitsnorm ist doch nicht so weit verbreitet und wird nur in der Bildungselite stärker beachtet. 31 Doch es gibt auch Hinweise für eine ganz andere Tendenz: Die Frauen holen weiter auf, nicht nur im Bildungssystem, sondern zunehmend auch im Dienstleistungssektor 32 - und irgendwann überholen sie die Männer. Das dritte Szenario nimmt daher eine Feminisierung im Sinne einer Übernahme der Führungsrolle durch die Frauen an, eine Umkehr der bisherigen Geschlechterasymmetrie. Bekanntlich profitierten von der Bildungsexpansion seit den 1970er-Jahren besonders die Frauen der Mittelschichten, und die Frauen gehören auch zu den Umstrukturierungsgewinnern beim Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft. Zwar spricht gegen eine Entwicklung zugunsten der Frauen, dass ihr Aufholen im Erwerbsbereich bisher noch eher die niederen Ränge der Dienstleistungsgesellschaft betrifft. Aber das könnte sich bald ändern. Warum sollten nicht allmählich Frauen zu Haupt- oder gar Alleinverdienern werden, wenn sie Spitzenleistungen in Studium und während der Berufseingangsphase erbringen? Wenn das Erfolgsmodell »Kanzlerin Merkel« weiter Schule macht, werden bald deutlich mehr Frauen in Führungspositionen sein. Eine wichtige zusätzliche Voraussetzung dafür, dass Frauen zu Hauptverdienern in Familien werden, wäre eine Veränderung des dominanten Paarbildungsmusters. Karrierefrauen könnten auf die Idee kommen, sich einen etwas weniger karriereorientierten Mann zu suchen, einen »neuen Mann«, der sich gut als Vater und Hausmann eignet. Amerikanische Studien dokumentieren bereits solche Strategien. 33 Und in der Diskussion um Kinderlosigkeit in Deutschland gewinnt das Argument an Boden, dass viele Frauen, auch Akademikerinnen, zur Familiengründung bereit wären, wenn ein Partner zur Verfügung stünde, der auch eine Bereitschaft zur aktiven Vollzeitvaterschaft mitbringt. Ob Männer zugunsten der Frau 30 BMFSFJ (2006: 217). 31 Das wird in Milieuvergleichsstudien immer wieder deutlich (Burkart/ Kohli 1992, Koppetsch/ Burkart 1999, Hopf/ Hartwig 2001). 32 BMFSFJ (2006: 83ff ). 33 BMFSFJ (2006: 131). Auch in Deutschland gibt es inzwischen eine leichte Tendenz, dass Abiturientinnen häufiger eine Beziehung zu einem Mann eingehen, der kein Abitur hat (BMFSFJ 2007). 10.4 Szenarien zum Verhältnis von Mann und Frau 311 auf Karriere verzichten und sich stärker um ihre Kinder kümmern, ist sicher auch eine Frage kultureller Wertigkeit; aber eben auch eine Frage der unterschiedlichen Karriere-Chancen in einer Partnerschaft. Wenn immer mehr hochqualifizierte Frauen sich einen Mann suchen würden, der nicht ganz so hoch die Bildungsleiter hinaufgeklettert ist und gleichzeitig erkennen lässt, dass er nicht abgeneigt wäre, die Vaterrolle aktiv zu verstehen, hätten sie die besseren Chancen auf höheren Verdienst und könnten zum Hauptverdiener einer Familie werden. 34 Geschlechterverhältnis, Bildung und Sozialstruktur Ökonomisch gesehen ist es keine Frage, dass es besser ist, das weibliche Arbeitsvermögen zu nutzen, erst recht in einer Dienstleistungsgesellschaft. Aber vielleicht wichtiger noch ist es, die Bildungsqualifikationen aller Personen zu nutzen, unabhängig vom Geschlecht oder sonstiger askriptiver Merkmale. Je besser Frauen ausgebildet sind, desto attraktiver werden sie für den Arbeitsmarkt. Aber das gilt natürlich weiterhin auch für die gut ausgebildeten Männer. Aus Sicht der Wirtschaft wäre es besser, wenn sowohl gut ausgebildete Männer als auch hochqualifizierte Frauen in Vollzeit erwerbstätig wären. Es geht also nicht nur um Gleichheit zwischen den Geschlechtern, sondern auch um Ungleichheit zwischen Bildungsschichten. Erweitert man daher die Perspektive und bezieht Strukturen sozialer Ungleichheit mit ein, kommt eine Spannung zwischen den Paaren der Bildungselite und solchen aus bildungsfernen Schichten in den Blick; und das Problem verschiebt sich von der Frage, welches Geschlecht für die Familienarbeit zuständig ist, hin zur Frage: Welche Paare machen die Familienarbeit weitgehend selbst und welche delegieren sie bzw. Teile davon? Daraus lassen sich drei weiteren Szenarien konstruieren: Das vierte Szenario geht davon aus, dass hochgebildete Paare einen erheblichen Teil der Familienarbeit an Paare bzw. Familien mit wenig Bildung und geringen Einkommensaussichten delegieren. Damit wird die Professionalisierung der Familienarbeit und der Elternrollen forciert. Das wird besonders deutlich, wenn man - im fünften Szenario - von einer anhaltenden Kinderlosigkeit von Akademikern ausgeht. Denkt man dies radikal zu Ende, kommt man zu einem sechsten Szenario: Elternschaft als Beruf. Es sind Tendenzen der Auslagerung, Technisierung und Professionalisierung von Familien- und Pflegearbeit erkennbar, die sich zum vierten Szenario verdichten lassen, in dem es zu einer Segmentierung oder Polarisierung kommt: Auf der 34 Burkart (2007c). 10. Die Zukunft der Familie 312 einen Seite gibt es hochqualifizierte Paare, die einen Teil der Familienarbeit auf kommerzielle Dienste oder auf private Dienstleistungen durch weniger qualifizierte Paare oder Frauen verlagern. 35 Wohlhabende Doppelkarriere-Paare der Bildungselite haben heute vielfach zum Beispiel eine Putzfrau und ein Kindermädchen, nicht selten aus dem Ausland. Weitere Familienarbeiten werden vielleicht fallweise delegiert, etwa für Einkäufe, Reparaturen, Nachhilfestunden für das Kind, Gartenarbeiten und so weiter. Den verbleibenden Rest der Familienarbeit teilen sie sich partnerschaftlich. Auf der anderen Seite haben wir Paare, die weiterhin den Großteil der Familienarbeit selbst übernehmen und dabei der Frau den Hauptanteil zuweisen - und darüber hinaus zum Teil in Akademikerhaushalten Putzarbeiten, Altenpflege und Kinderbetreuung machen. Ein erheblicher Teil der Familienarbeit ist für hochqualifizierte Paare ungleich weniger attraktiv als für Paare mit geringen Qualifikationsniveaus beider Partner. Die »Haus- und Sorgearbeit« hat unterschiedliche Wertigkeit für diese beiden Extremgruppen. Deshalb wird zumindest der Teil der Haus- und Familienarbeit ausgelagert, der dem eigenen Qualifikationsniveau am wenigsten entspricht. In den Arbeiten Arlie Hochschilds finden sich manche Hinweise für die Auslagerung (outsourcing) einzelner Tätigkeiten im Rahmen der Elternschaft, besonders bei Akademikerpaaren -, und eben auch für die Tendenz, dass die Bildungselite Personal aus anderen sozialen Schichten im Haushalt beschäftigt. Hochschild geht es dabei gleichzeitig um die Auswirkungen der Globalisierung auf diese Entwicklung. Sie spricht deshalb von einer global chain of caring, einer globalen Kette der Kinderbetreuung, und führt dazu u. a. folgendes Beispiel an. 36 Die Kinder einer armen Familie auf den Philippinnen werden von ihrer ältesten Schwester betreut, denn ihre Mutter lebt in den USA, wo sie Babysitter ist - und zwar für eine andere philippinische Immigrantin, die für eine reiche amerikanische Doppel-Verdiener-Familie den Haushalt und die Kinderbetreuung macht. Eine ironische Wendung bekommt dieses Beispiel noch dadurch, dass die amerikanischen Dual-Career-Paare glauben, das philippinische Kindermädchen habe eine Art »natürliche« Mutter-Kompetenz, die ihnen selbst fehlt. So können sie ihr schlechtes Gewissen beruhigen, dass sie vielleicht zu viel arbeiten und sich zu wenig um ihre Kinder kümmern. 35 Die Rolle des Staates als Umverteiler bzw. die Möglichkeit einer »sozialistischen« Familienpolitik lassen wir hier außer Acht, ebenso die Möglichkeit kostenloser oder sehr kostengünstiger öffentlicher Kinderbetreuung. 36 Hochschild (2001, 2003: 185 f.). 10.4 Szenarien zum Verhältnis von Mann und Frau 313 Professionalisierung der Familienarbeit Neben der schon lange etablierten öffentlichen Übernahme von Kinderbetreuung, Erziehung und Altenpflege gibt es also neue Tendenzen der Professionalisierung der Familienarbeit in zwei Ausprägungen: a) Auslagerung von Familienarbeit an professionelle Dienste; b) Übernahme der Familien- und Hausarbeit bei Wohlhabenden und Hochqualifizierten durch Personal aus anderen sozialen Schichten. Nun ist es aber nicht unwahrscheinlich, dass trotz dieser Möglichkeiten der Auslagerung von Haus- und Familienarbeit die Bildungselite weiterhin weniger Kinder bekommt und weiterhin zu einem hohen Anteil kinderlos bleibt. Dies führt uns zu einem fünften Szenario, bei dem es zu einer Polarisierung zwischen kinderloser Bildungselite und nichtakademischen Elternpaaren kommt. In der Logik funktionaler Differenzierung und aus der Perspektive der Ökonomie ließe sich nun durchaus die Frage und der Gedanke entwickeln: Warum sollten sich nicht die einen auf die Karriere konzentrieren - und die anderen aufs Kinderkriegen? Spezialisierung und - letztlich: Professionalisierung - war schon immer ein Mittel zur Lösung der Folgeprobleme von zuviel Komplexität. Und das Vereinbarkeitsproblem ist in erster Linie ein Problem der Überkomplexität von Lebensaufgaben. Für Haushaltsökonomen, die in Opportunitätskosten denken, wäre das eine sinnvolle Lösung: Für hochgebildete Frauen und Männer ist die Lebenszeit viel zu teuer, um sie mit einer so schlecht bezahlten Tätigkeit wie Mutter und Hausfrau oder Vater und Hausmann auszufüllen. Es ist also - in letzter Konsequenz - denkbar, dass die zukünftige Generation der Führungselite in den westlichen Ländern keine eigenen Kinder mehr bekommt. Sie wäre von der Reproduktionsaufgabe entlastet, die von anderen wahrgenommen würde. Man kann sich kaum jemanden vorstellen, dem ein solches Szenario gefallen würde, und vielleicht sind seine Realisierungschancen auch nicht allzu hoch. Es ist aber nicht ganz aus der Luft gegriffen: Es wird schon länger als sozialpolitisches Problem gesehen, dass viele Akademiker häufiger kinderlos bleiben als Paare mit einfachen Schulabschlüssen, die weiterhin in der Regel zwei oder auch drei Kinder bekommen. Die deutsche Familienpolitik hat schon begonnen zu reagieren, etwa mit neuen steuerlichen Absetzmöglichkeiten für Kinderbetreuung im eigenen Haushalt oder dem vor kurzem eingeführten Elterngeld. Beide Maßnahmen lassen sich interpretieren als Anreiz für die Bildungselite, (mehr) Kinder zu bekommen - und auch als Versuch, das fünfte Szenario zu verhindern. Das Elterngeld ist ausdrücklich als »Lohnersatzleistung« deklariert. Allerdings wird hier ein grundsätzlicher Konflikt sichtbar zwischen einer Familienpolitik, der es um soziale Umverteilung zugunsten der Unterprivilegierten geht (z. B. Unterstützung kinderreicher Familien mit geringem Einkommen), und 10. Die Zukunft der Familie 314 einer, die auf den Abbau der Kinderlosigkeit bei Akademikern zielt. Eine Familienpolitik, die noch deutlicher als bisher finanzielle Anreize für Besserverdienende bietet, wäre zurzeit nur schwer durchsetzbar. Das Elterngeld wurde bei seiner Einführung Anfang 2007 in diesem Sinn kritisiert. Im Unterschied zu anderen Maßnahmen wie dem Kindergeld unterstützt es die Besserverdienenden stärker als Eltern mit geringem Einkommen, da es zwei Drittel des bisherigen Netto-Einkommens ausmacht. Aus sozialen Gründen wurden allerdings eine Obergrenze von 1.800 Euro und ein Mindestbetrag von 300 Euro festgelegt. Wenn das Elterngeld nicht in gewünschtem Maße die Fertilitätsrate von Besserverdienenden erhöht, wird man vielleicht über eine Erhöhung der Obergrenze nachdenken. Auf jeden Fall verstärken familienpolitische Maßnahmen, die dem hohen Anteil von Kinderlosen unter den Akademikerpaaren entgegenarbeiten sollen, nebenbei auch die soziale Ungleichheit zwischen Hochqualifizierten und Einfachqualifizierten. Noch konfliktträchtiger wird die Problematik, wenn man die hohen Erziehungsansprüche mit in Betracht zieht. Wir haben im 8. Kapitel gesehen, dass die hohe Kinderlosigkeit in Deutschland viel mit überhöhten Erziehungsansprüchen zu tun hat und mit dem dadurch weit verbreiteten Zweifel bei jungen Paaren, ob sie die Kompetenz zur Elternschaft besitzen. In der Stellungnahme der Bundesregierung zum Siebten Familienbericht wird die Notwendigkeit betont, die »Erziehungskompetenz« von Eltern zu stärken, damit Kinder gute Entwicklungschancen haben. 37 Dahinter stecken Annahmen, die Konfliktstoff bergen, etwa die Überzeugung, dass es bestimmte Milieus gibt, in denen Eltern eine mangelhafte »Erziehungskompetenz« und unzureichende Übernahme elterlicher »Erziehungsverantwortung« zugeschrieben wird. Aber man muss gar nicht an besondere Problemfamilien denken. Ganz generell wird heute die kompetente Ausübung der elterlichen Verantwortung als schwierig betrachtet. Daher werden Elemente der Elternbildung für notwendig erachtet. Eine Vielzahl von Kursen und Nachhilfeangeboten für Eltern existiert bereits. All das läuft auf eine Professionalisierung der Elternrolle hinaus. Am Ende stünde, in einem sechsten Szenario, Elternschaft als hochqualifizierter Beruf. Wenn einerseits weiterhin Akademikerpaare weniger Kinder bekommen und häufiger kinderlos bleiben (oder: wenn überhaupt die Kinderlosigkeit hoch bleibt), und andererseits die Ansprüche an Elternkompetenz immer weiter hochgeschraubt werden, wird sich allmählich ein Ausbildungssystem für Eltern durchsetzen; und schließlich wird Elternschaft zu einem zertifizierten Beruf. Man könnte sich auch ein arbeitsteilig differenziertes, professionalisiertes Berufsfeld vorstellen: genetisch 37 BMFSFJ (2006: XXVff.). 10.4 Szenarien zum Verhältnis von Mann und Frau 315 getestete Spezialistinnen fürs Gebären (»Leih-Mütter« und »pränatale Ammen« 38 ), pädagogisch examinierte Spezialistinnen und Spezialisten für die Betreuung und Erziehung in Kinderkrippe, Kindergarten und Vorschule, in Zeitmanagement-Seminaren geschulte (»gecoachte«) Expertinnen und Experten für die Zeitorganisation in Familien. Am Ende doch ein Triumph der Lebenspraxis? Aber es gibt auch ein einfaches Argument gegen solche Horrorszenarien: die Autonomie der Lebenspraxis. 39 Seit Jahrmillionen wird Nachwuchs gezeugt, seit Jahrtausenden wird er erfolgreich großgezogen, seit Jahrhunderten wird er sozialisiert und erzogen. Warum soll das plötzlich nicht mehr gehen? Eine Maßnahme wäre also, den potentiellen Eltern wieder Mut zu machen: »Ihr müsst nicht erst Entwicklungspsychologie, Ernährungswissenschaft und Kleinkindpädagogik studieren, wenn ihr Kinder haben wollt! « Und die junge Bildungselite könnte man ermutigen: »Bekommt doch gleich am Anfang des Studiums Kinder, dann seid ihr aus dem Gröbsten raus, wenn ihr ins Erwerbssystem kommt! « Die »familienfreundliche Hochschule« steht ja schon auf der Agenda. Zwar sieht es bei der gegenwärtigen Verschulung des Studiums durch die Umstellung auf Bachelor-Studiengänge nicht danach aus. Aber im neuen differenzierten Hochschulsystem sind auch Spezialhochschulen für junge Eltern vorstellbar. Auch andere Maßnahmen - etwa das »Bündnis für Erziehung« oder die Idee der Mehrgenerationenhäuser - lassen sich verstehen als Stärkung der elterlichen Kompetenz im Rahmen der Lebenspraxis, ohne dass gleich überall Experten die elterliche Praxis überwachen und evaluieren müssten. Überwachung und Evaluation erscheint nur dann notwendig, wenn überzogene Ansprüche aus einer einstmals lebenspraktischen Kompetenz eine verwissenschaftlichte Spezialaufgabe machen wollen. 38 Peuckert (2008: 226). 39 Im Sinne von Oevermann (1996). 10. Die Zukunft der Familie 316 10.5 Eine Zukunft, in der die Familie überflüssig ist? Es hat in der Familienforschung der letzten Jahre immer wieder Diskussionen um den Familienbegriff gegeben. Seit Aufkommen der Individualisierungsdiskussion wurde die Familiensoziologie kritisiert, sie halte an einem überholten Familienbegriff fest. Eine radikalere Kritik forderte, den Familienbegriff überhaupt aufzugeben. Solche Forderungen werfen die Frage auf: Ist eine Gesellschaft ohne Familie denkbar? Gewiss kann man sich die Abfolge von Generationen auch ohne Familie vorstellen. Wir haben bereits das Zukunftsszenario der Professionalisierung der Elternschaft dargestellt. Auch die Kollektivierung der Erziehung, ein Modell, das in sozialistischen Ländern bereits praktiziert wurde, könnte langfristig zu einer Abschaffung der Familie führen (obwohl dies im »real existierenden Sozialismus« nicht geschah und auch nicht beabsichtigt war). 40 Der Einwand, der Sozialismus sei als Idee diskreditiert, lässt sich leicht entkräften: Das Modell der Kollektivierung der Erziehung ist durchaus auch für den Kapitalismus denkbar. Arlie Hochschild etwa konstatiert, dass es nun der Kapitalismus selbst ist, der die Erziehung kollektiviert, sozusagen in Kooperation mit dem Feminismus: Um die kostbare Arbeitskraft der Frauen nicht zu vergeuden (für einfache Hausarbeit) und auch die Frauen besser in die Arbeit integrieren zu können, stellen Betriebe zunehmend Kinderhorte zur Verfügung. 41 Beide Modelle - Professionalisierung und Kollektivierung - könnten Familie in der heutigen Form in der Tat überflüssig machen. Sie sind aber auch, das gilt besonders für das Modell der Professionalisierung der Elternschaft, aus heutiger Sicht ziemlich utopisch. Um dahin zu gelangen, müssten grundlegende soziale und kulturelle Strukturen zusammenbrechen, denn - wie wir betont haben - in der bisherigen Geschichte und auch in allen bestehenden Kulturen gab und gibt es »Familien« (im Sinne eines institutionell geregelten Zusammenhangs von Generationsfolge, Filiation und Konjugalität). Auch das moderne Individuum ist familial gebunden. Mit seinem Lebenslauf steht es in der Linie seiner Herkunftsfamilie, auch wenn es diese - im Extremfall - nicht kennt, wie im Fall von Waisen- oder Findelkindern. Solchen Kindern wird im Allgemeinen durch Adoption eine 40 In der marxistischen Diskussion gab es jedoch - im Anschluss an Friedrich Engels (1884) - immer wieder Forderungen, die Familie abzuschaffen zugunsten einer Kollektiverziehung. 41 Hochschild (1997). 10.5 Eine Zukunft, in der die Familie überflüssig ist? 317 Ersatzfamilie zugewiesen. Solange es also für jedes Individuum - abgesehen von diesen Ausnahmen - eine Herkunftsfamilie gibt, ist eine Gesellschaft ohne Familie nicht vorstellbar. Biotechnologische Aussichten Die Loslösung der individuellen Entwicklung von der Herkunftsfamilie ist jedoch als eine mögliche Entwicklung denkbar, wenn man an die Fortschritte der Genetik und der Biotechnologie denkt. »Ist Sex notwendig? « lautete schon in den 1960er- Jahren die Frage eines Zukunftsforschers, der sich mit den Möglichkeiten der ungeschlechtlichen Fortpflanzung, mit »Retortenbabys«, »vollautomatischen Babyfabriken« (wie sie bereits Aldous Huxley 1931 in Brave New World beschrieben hatte) sowie dem Klonen befasste. 42 Heute könnte man die Entwicklung in der Formel komprimieren: »Vom Sex ohne Zeugung zur Zeugung ohne Sex«. Das bedeutet aber, in letzter Konsequenz, auch: Zeugung ohne Familien. Zumindest die Funktion der biologischen Reproduktion könnte dann von der Familie abgezogen werden. Geburten könnten sich durch professionelle Leihmutterschaft vollständig von der bisherigen Elternschaft, verstanden als biologisch-soziale Einheit, lösen. Vielleicht würde eine staatliche Instanz prüfen und kontrollieren, wer als Austragemutter tätig werden darf und welcher männliche Samen am besten geeignet wäre. Es käme zu einem gesetzlichen Verbot der unkontrollierten Zeugung. Schon heute ist die Tendenz zu erkennen, dass der Mann - genauer: die männliche Sexualität - zur Zeugung eines Kindes nicht mehr benötigt wird. Frauen können sich im Prinzip schon heute bei einer Samenbank bedienen, wenn sie zum Beispiel keinen Sex mit einem Mann, aber dennoch ein Kind haben wollen. Die biologische Zeugungsfunktion ist dann von der sozialen Vaterschaft abgekoppelt, es kommt zu einer Fragmentierung der Vaterschaft. 43 Die Männer könnten so immer stärker auf eine reine Samenspender-Rolle reduziert werden. Entscheiden würden entweder die Frauen allein, ob und wann sie ein Kind bekämen und ob sie es »technisch« selbst bekommen wollen oder nicht. Oder - wie oben angesprochen - eine staatliche Instanz würde über Mutterschaften entscheiden: Dann wäre schließlich ein gesellschaftlicher Zustand erreicht, bei dem nicht mehr jede Frau nach eigener Entscheidung Mutter werden darf. Die Sexualität wäre dann endgültig von der Nachwuchserzeugung abgelöst. 42 Taylor (1969: 25 ff.). 43 Vaskovics (2002). 10. Die Zukunft der Familie 318 Noch begnügt sich der überwiegende Teil der Reproduktionsmedizin damit, Paaren zu helfen, damit deren Kinderwunsch in Erfüllung geht. Noch begnügt sie sich meist damit, natürliche Ei- und Samenzellen zusammenzubringen, wenn der Versuch der Fortpflanzung durch Geschlechtsverkehr nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Ei- und Samenzellen sind dabei in der Regel noch nicht genetisch manipuliert. Die bisherige Reproduktionsmedizin hat im Allgemeinen, auch wenn dies in manchen Beiträgen zur öffentlichen Debatte suggeriert wird, noch wenig mit Klonen und Genmanipulation zu tun. Aber das wird sich wahrscheinlich bald ändern, hier liegt ein großes Anwendungsfeld für die Gentechnologie der Zukunft. Je besser die Pränataldiagnostik (PND) funktioniert, und je besser die Möglichkeiten werden, Keimzellen genetisch zu manipulieren, desto größer wird der Konflikt für Frauen, ob sie ein Kind zur Welt bringen oder besser abtreiben sollen; und schließlich: ob sie ein genetisch manipuliertes Kind bekommen wollen. Neben der Genmanipulation wird auch das Thema pränatale Therapie wichtiger werden. Vielleicht gelingt es eines Tages, nicht nur viele spätere Störungen eines werdenden Menschen zu erkennen, sondern diese bereits erfolgreich auf embryonaler Stufe zu therapieren. Darin liegt das große Legitimationspotential für diese Techniken. Die Entwicklung der Genetik und der genetischen Manipulation seit über 100 Jahren wird begleitet sowohl von der Skepsis gegenüber ethisch äußerst fragwürdiger Folgen - wie zum Beispiel bei der Eugenik -, als auch von Hoffnungen, die genetischen Ursachen von Krankheiten zu finden und erfolgreich bekämpfen zu können. 44 Wir werden wohl bald entscheiden müssen, bei welchen genetischen Risiken wir eine Geburt noch zulassen wollen und bei welchen nicht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in der Zukunft die Zeugung von Nachwuchs unter Kontrolle einer medizinisch-staatlichen Instanz steht, die die entsprechenden Kriterien festlegt. Wo jetzt noch Präimplantationsdiagnostik ausreicht, bei der nach einer In-Vitro- Befruchtung Embryonen vor der Einpflanzung in den Mutterleib untersucht werden, wäre dann eine genetische Vorselektion zwingend vorgeschrieben. Die alte Utopie der Menschenzüchtung - schon Platon machte sich Gedanken um eine Selektion der Besten - stünde vor ihrer Verwirklichung. Spätestens mit dem ersten Klon eines größeren Säugetiers im Jahr 1997, dem Schaf Dolly, stehen noch zwei andere Visionen am Horizont, die großes Unbehagen auslösen: Das Klonen von Menschen und die genetische Vermischung von Mensch und Tier. Schon Ende 1998 gab es in den USA den ersten erfolgreichen Versuch dieser Art: Menschliche embryonale Stammzellen wurden in die entkernte Eizelle einer Kuh übertragen. Die Methoden der Stammzellenforschung 44 Keller (2001). 10.5 Eine Zukunft, in der die Familie überflüssig ist? 319 lassen es schon heute möglich erscheinen, dass ein Embryo auf der Grundlage von tierischen Stammzellen zum Menschen heranreifen darf. Seit dem Jahr 2002 kursieren Gerüchte, dass bereits die ersten geklonten Kinder zur Welt gekommen seien - klare wissenschaftliche Belege gibt es dafür bisher noch nicht. Seit kurzem gibt es Erfolge bei einer weniger beunruhigenden Methode des therapeutischen Klonens durch die »Verjüngung« von menschlichen Hautzellen zu Stammzellen. Auch hinsichtlich der Partnerwahl könnte es mit den weiteren Fortschritten der genetischen Forschung zu einer neuen Entwicklung kommen. Wenn wir immer besser Bescheid über genetische Dispositionen wissen, wird man vielleicht eines Tages seinen Lebenspartner nur dann heiraten oder nur dann Kinder mit ihm zeugen, wenn man seinen genetischen Code kennt. Was wird dann aus Personen, deren genetischer Code hohe Krankheitsrisiken anzeigt? Craig Venter, der sich mit seiner privaten Firma Celera mit dem ungleich finanzstärkeren öffentlich geförderten internationalen Genom-Projekt einen Wettlauf um die Entzifferung des genetischen Codes lieferte, gilt seit September 2007 als erster Mensch, dessen Erbgut komplett entziffert ist. Es wird als wahrscheinlich angesehen, dass bald für jede Person eine relativ preiswerte Information über das vollständige eigene Genom verfügbar sein wird. Ab 2014, so meldeten in diesem Zusammenhang Zeitungen, soll es vielleicht möglich sein, das eigene Erbgut für gerade mal 1000 Dollar entziffern zu lassen. Alle diese Überlegungen beruhen auf gegenwärtigen Erkenntnissen, die - in die Zukunft verlängert - Anlass zu großen Hoffnungen, aber auch zu großen Befürchtungen geben. Gerade die Geschichte der Genetik hat immer wieder solche ambivalenten Zukunftsvisionen hervorgebracht oder ältere Visionen in den Horizont des bald Realisierbaren gebracht. Doch wahrscheinlich hält die Zukunft noch ein paar Überraschungen bereit: Entwicklungen, an die bisher keiner dachte. Bis dahin - und wahrscheinlich auch darüber hinaus - wird sich das menschliche Leben weiterhin ganz unspektakulär in Familien abspielen, werden Paare sich lieben und miteinander Sex haben, werden neue Erdenbürger aus dieser geschlechtlichen Vereinigung hervorgehen und in den alten Kreislauf des Lebens eintreten. Zusammenfassende Thesen Abgesehen von der grundlegenden Schwierigkeit, die Zukunft zu erkennen, steht die Frage nach der Zukunft der Familie im Schnittpunkt zweier Perspektiven. Zum einen scheint die Frage angesichts einer langen Geschichte der Familie und ihrer welthistorischen Universalität fast überflüssig. Zum andern gibt es aber immer wieder Diagnosen, die den Untergang der Familie konstatieren. 10. Die Zukunft der Familie 320 Die Individualisierungsthese und die These der postmodernen Familie gehen von einem weiteren Bedeutungsverlust der Familie und einer Stärkung von Individualität und Selbstverwirklichung aus. Die gegenwärtigen Erfolge der Biowissenschaften und die Renaissance des Religiösen sind zwei Faktoren, die auch eine Renaissance der Familie als möglich erscheinen lassen. Vieles wird von der Entwicklung des Geschlechterverhältnisses abhängen. Deshalb wurden zunächst drei Szenarien entworfen, in denen das Geschlechterverhältnis isoliert betrachtet wird. Während die Herstellung des erwünschten Szenarios, Geschlechtergleichheit, eher schwierig erscheint, gibt es sowohl Tendenzen für eine Feminisierung der Kultur mit einer zunehmenden Dominanz der Frauen als auch für eine Revitalisierung des Patriarchats. Was sich letztlich durchsetzt, könnte auch von einer Veränderung des dominanten Paarbildungsmusters abhängen, demzufolge die Frauen immer noch einen Mann präferieren, der einen etwas höheren Bildungsgrad oder Status hat. Wenn das Geschlechterverhältnis in den Kontext von Strukturen sozialer Ungleichheit gestellt wird, kommt man zu drei weiteren Szenarien, die von einer Polarisierung zwischen kinderlosen Akademikern und nichtakademischen Familienpaaren ausgehen oder sogar eine Professionalisierung der Elternschaft als möglich erscheinen lassen. Mit den Fortschritten der Biotechnologie taucht schließlich die Vision auf, dass eine zukünftige Gesellschaft ohne Familie auskommt, weil die Geburt eines Kindes von der Sexualität eines Paares ebenso abgelöst sein könnte wie von der Übernahme der biologisch-sozialen Elternschaft. Übungsfragen - Wo liegen die Schwierigkeiten von Zukunftsforschung? - Was sind die Kennzeichen der postmodernen Familie? - Wie wird sich das Geschlechterverhältnis entwickeln? - Unter welchen Bedingungen ist eine Renaissance der Familie vorstellbar? - Welche Auswirkungen auf die Familie sind von den Fortschritten der Gen- und Gehirnforschung zu erwarten? - Unter welchen Bedingungen könnte die Familie überflüssig werden? 10.5 Eine Zukunft, in der die Familie überflüssig ist? 321 Anhang Abbildungsverzeichnis Abbildung 1.1: Geburtenzahl und Geburtenrate. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Abbildung 1.2: Eheschließungen und Ehescheidungen. . . . . . . . . . . . . . . . 18 Abbildung 1.3: Haushaltsgröße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Abbildung 1.4: Alleinlebende nach Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Abbildung 1.5: Lebensformen im Lebensverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Abbildung 1.6: Kinderzahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Abbildung 1.7: Frauenanteile bei Studierenden und akademischen Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Abbildung 2.1: Lebenserwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Abbildung 2.2: Bevölkerungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Abbildung 2.3: Entwicklung der Weltbevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Abbildung 2.4: Demografischer Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Abbildung 3.1: Verwandtschaftsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 Abbildung 3.2: Verwandtschaftsterminologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Abbildung 4.1: Geschlechtsunterschiede in Konversationslexika . . . . . . . . 132 Abbildung 5.1: Binnenstruktur der Kernfamilie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Abbildung 5.2: Ein Stufenmodell der Privatheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Abbildung 7.1: Auszug aus dem Elternhaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Abbildung 7.2: Familienstand der Alleinerziehenden . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Abbildung 8.1: Typen von Singles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Abbildung 10.1: Traditionale, moderne und postmoderne Familie . . . . . . . 305 323 Datenquellen der Familienforschung Eine grundlegende Datenquelle für die Familiensoziologie ist die amtliche Statistik. Die wichtigsten Lebensereignisse (Geburten, Eheschließungen, Scheidungen, Sterbefälle) werden durch die entsprechenden Ämter in Melderegistern erfasst. Ein- und Auswanderungen sowie Umzüge sind allerdings nicht besonders zuverlässig erfasst, so dass die exakte Bevölkerungszahl Deutschlands und der einzelnen Gemeinden nicht bekannt ist. Neben den laufenden Registrierungen wird in größeren Zeitabständen - etwa alle zehn Jahre - eine Erfassung der gesamten Bevölkerung in Form einer Befragung durchgeführt, die Volkszählung oder der Zensus. Eine solche Vollerhebung ist allerdings nicht nur mit erheblichem Aufwand verbunden, sondern gerät auch manchmal in die Kritik von Datenschützern. Besonders zu Beginn der 1980er-Jahre entwickelte sich in Deutschland eine Boykott- Bewegung gegen die 1981 bzw. 1983 geplante Volkszählung. Sie wurde dann erst 1987 durchgeführt, mit einem nicht genau geklärten Anteil an Boykott-Verweigerungen (vermutlich zwischen fünf und 15 Prozent). In den Jahren danach gab es zunächst keinen weiteren Versuch, erst für das Jahr 2011 ist wieder eine Volkszählung vorgesehen, allerdings nicht als Vollerhebung durch Befragung, sondern in Form eines registergestützten Zensus. Die ursprünglich als Ergänzung zwischen Volkszählungen vorgesehenen Mikrozensus-Befragungen sind daher seit längerem die wichtigste Datenquelle für die Beschreibung von Struktur und Dynamik der Bevölkerung. »Mikrozensus« bedeutet »kleine Volkszählung«. Der Mikrozensus ist eine amtliche Repräsentativstatistik über Bevölkerung, Haushalte und Lebensformen. Es geht dabei um die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung, der Familien, Lebensgemeinschaften und Haushalte, um Erwerbstätigkeit, Aus- und Weiterbildung, Wohnverhältnisse und Gesundheit. Jährlich werden etwa ein Prozent der Haushalte befragt, also etwa 390.000 Haushalte, mit etwa 830.000 Personen. Der deutsche Mikrozensus ist damit die größte jährliche Haushaltsbefragung in Europa. Die per Zufallsstichprobe ausgewählten Haushalte bleiben vier Jahre in der Stichprobe, so dass hier auch Panel-Auswertungen möglich sind. Jährlich kommt ein Viertel der Haushalte neu dazu. Da weitgehend Auskunftspflicht besteht, ist die Ausfallquote deutlich geringer als bei sonstigen Befragungen. In Bezug auf die Familiendemografie ergab sich mit den Veränderungen seit den 1960er-Jahren das Problem, dass die Erhebungen zunehmend ungenauer wurden, weil nichteheliche und nichtfamiliale Lebensformen nur unzureichend erfasst werden konnten. Als Konsequenz wurde das Konzept der Lebensformen entwickelt (in Ergänzung zu den Konzepten Haushalt und Familie) und 1996 in die Mikrozensus-Befragung aufgenommen, so dass nun auch nichteheliche Anhang 324 Lebensgemeinschaften oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften erfasst werden können. Als »Familien« gelten seither alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, unabhängig davon, ob die Eltern verheiratet sind oder nur ein Elternteil vorhanden ist. 1 Das Statistische Bundesamt bzw. das ihm angeschlossene Bundesinstitut für Bevölkerungswissenschaften (BiB) mit Sitz in Wiesbaden berichten regelmäßig über demografische Trends, zum Beispiel in den Statistischen Jahrbüchern, in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, in den BiB-Mitteilungen. Über die Daten der amtlichen Statistik hinaus werden in Deutschland durch die empirische Forschung an Universitäten und außeruniversitären Forschungsinstituten weitere Informationen gesammelt. Schwerpunkte für die Familienforschung sind insbesondere Institute in Rostock (Max-Planck-Institut für demografische Forschung), München (Deutsches Jugendinstitut) und Bamberg (Bayrisches Staatsinstitut für Familienforschung). Weitere Schwerpunkte existieren oder existierten auch an den Universitäten Bielefeld, Konstanz, Oldenburg und Mainz. Wichtig für eine umfassende Kenntnis der privaten Lebensverhältnisse sind aber auch die zahlreichen kleineren Forschungsgruppen oder Einzelforscher, die mit qualitativen Studien oft unsere Einsichten zu wichtigen Einzelaspekten entscheidend vertiefen. In den letzten Jahrzehnten wurde eine Reihe von langfristigen Forschungsprojekten in Gang gebracht. Insbesondere wurden Datensätze angelegt, mit denen die Entwicklung über einen längeren Zeitraum beobachtet werden kann und die zum Teil genauere Daten erheben als die amtliche Statistik, vor allem hinsichtlich sozio-kultureller Merkmale, oder die Situation für bestimmte Lebensformen besser erfassen. Das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) ist zwar nicht spezifisch für den Familienbereich, liefert aber wichtige Längsschnittdaten zur Entwicklung von Haushalten und privaten Lebensformen. Das SOEP ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung privater Haushalte in Deutschland, die vom Deutschen Institut für Wirtschaft (DIW) in Berlin in Zusammenarbeit mit sozialwissenschaftlichen Universitätsinstituten durchgeführt wird. Seit 1984 in West- und seit 1990 auch in Ostdeutschland werden jährlich dieselben Personen und Haushalten befragt (Panel-Untersuchung). Im Jahr 2003 umfasste das Panel seit 1984 in Westdeutschland noch etwa 3.800 Haushalte mit etwa 7.000 Personen, in Ostdeutschland gehörten 2003 noch knapp 2.000 Haushalte mit etwa 3.460 Personen zum Panel seit 1990. Der Familiensurvey des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München wurde 1986 begründet mit dem Ziel einer regelmäßigen Sozialberichterstattung über das Familienleben in Deutschland, gestützt zum Teil auf Daten der amtlichen Statistik, vor allem aber auch eigene Erhebungen. Seit 1988 werden im Abstand von 1 Lengerer et al. (2007). Datenquellen der Familienforschung 325 vier bis sechs Jahren Primärerhebungen des DJI durchgeführt. Dabei handelt es sich um repräsentative Personenstichproben mit jeweils etwa 10.000 Befragten. Inhaltlich geht es um den Wandel und die Pluralisierung von Lebensformen, die Netzwerkstruktur von Familie und Verwandtschaft, die Dynamiken von Paarbeziehungen und andere Fragen. Zum Teil wurden auch Panel-Erhebungen durchgeführt, d. h. Wiederholungsbefragungen derselben Personen. Der Jugendsurvey des Deutschen Jugendinstituts (DJI) in München wird seit 1992 als Instrument zur Dauerbeobachtung der Lebensverhältnisse und der gesellschaftlichen und politischen Orientierungen Jugendlicher und junger Erwachsener durchgeführt. Im Abstand von fünf Jahren werden repräsentative Umfragen bei Jugendlichen im Alter von 12 (bzw. 16) bis 29 Jahren durchgeführt. Pro Erhebungswelle werden 7.000 bzw. 9.000 Jugendliche befragt. Seit 2002 werden diese regelmäßigen Befragungen durch das DJI-Kinderpanel ergänzt, bei dem etwa 2.000 Kinder mehrfach befragt werden. Zu den weiteren regelmäßigen Erhebungsinstrumenten gehört der ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften). Die ALLBUS-Erhebungen werden in zweijährigen Abständen vom ZUMA (Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen) in Mannheim und dem Zentralarchiv für empirische Sozialforschung in Köln durchgeführt. Ein wichtiger Datensatz für die Analyse der Lebens- und Familienverhältnisse von älteren Menschen sowie von Erwachsenen im mittleren Alter ist der Berliner Alters-Survey. Er wurde 1996 von einer Berliner Forschungsgruppe um Martin Kohli und Harald Künemund, unterstützt vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, mit einer großen repräsentativen Stichprobe der Menschen ab 40 Jahren begründet. Für die Analyse der Arbeitsteilung im Haushalt sind die Zeitbudget-Erhebungen des Statistischen Bundesamtes ein wertvolles Instrument. Bisher wurden zwei Erhebungen durchgeführt, 1990/ 91 und zehn Jahre später, 2001/ 02. Bei der zweiten Erhebung waren etwa 12.600 Personen in 5.400 Haushalten einbezogen. Eine Hauptmethode der Erhebungen sind Zeitbudget-Tagebücher, in denen von den Teilnehmern der Studie der Tagesablauf an zwei Wochentagen und einem Samstag oder Sonntag detailliert dargestellt wird. International greift man für Europa auf Eurostat-Daten zurück (Eurostat ist die Abkürzung für das Statistische Amt der Europäischen Gemeinschaften, mit Sitz in Luxemburg) und für den weltweiten Vergleich auf Daten der OECD oder der Vereinten Nationen (UN), die über die Mitgliedsländer gesammelt werden. Allerdings gibt es hier besonders große Probleme mit der Vergleichbarkeit, da in vielen Ländern sowohl unterschiedliche Erhebungsals auch Berechnungsverfahren angewandt werden. Anhang 326 Glossar Abstammung Genealogisch-soziale Herkunftslinie, Ahnenfolge (engl. Lineage), Eltern- Kind-Folge. In rechtlicher Hinsicht (Erbrecht, Namensrecht) kann es von Bedeutung sein, ob die Abstammung durch Eheschließung der Eltern legitimiert ist oder nicht (wie bei unehelichen Kindern); ob es sich um leibliche oder adoptierte Kinder handelt. Abstammung ist eine Dimension der Verwandtschaft, die andere ist ? Affinalverwandtschaft (durch Eheschließung). ? Deszendenz ? Genealogie ? Filiation Abstammungsregeln Verschiedene Kulturen regeln die Konsequenzen der Abstammung (etwa in der Tradierung von Familiennamen oder bei der Vererbung von Besitz) nach unterschiedlichen Regeln. Insbesondere wird häufig zwischen männlicher und weiblicher Abstammungslinie unterschieden. ? Patri-, Matrilinearität Adoption Annahme als Kind. Durch Adoption kann ein fremdes Kind in rechtlicher Hinsicht zu einem eigenen, verwandten Kind werden. Affinalverwandtschaft, Affinität Verwandtschaft, die durch Eheschließung entsteht. ? Allianz agnatisch Verwandtschaftsbeziehungen, in denen das männliche Geschlecht als strukturierendes Element gilt. ? kognatisch ? uterin agnatisch-patrilinear In männlicher Linie verwandt. Die Gruppenzugehörigkeit richtet sich nach dem Vater. Zu einer Verwandtschaftsgruppe werden z. B. die Kinder des Vaterbruders, aber nicht die der Vaterschwestern gezählt: Diese werden der Verwandtschaftsgruppe des Schwestergatten zugeordnet. Alleinerziehende Ein Elternteil (Vater oder Mutter), der mit seinem Kind oder seinen Kindern in einem Haushalt zusammen lebt, ohne den anderen Elternteil. Allgemein: eine erwachsene Person, die allein mit Kindern lebt. Allianz Verbindung zweier Familien, die durch Eheschließung der Kinder zustande kommt. Allomutter Begriff der Soziobiologie bzw. der Ethologie für eine Bezugsperson, die an Stelle der biologischen Mutter die mütterlichen Aufgaben übernimmt. Altenteil Ausgedinge, Leibgedinge; bei der Übergabe eines Bauernhofes die auf Lebenszeit vereinbarten Leistungen (Wohnrecht, Rente, Versorgung) des Übernehmers (häufig der älteste Sohn) an die Altenteiler (meist die alten Eltern). Anerbenrecht Ein Kind, meist der älteste Sohn, erbt den gesamten Besitz; in der ? Realteilung erben alle Kinder einen bestimmten Anteil. Bigamie Doppelehe. Das Eingehen einer zweiten Ehe bei Bestehen einer früheren Ehe. Im westlich-bürgerlichen Recht bzw. in monogamen Kulturen verboten (wird in Deutschland auch strafrechtlich verfolgt). Glossar 327 bilinear/ unilinear Bilinear sind Verwandtschaftsbeziehungen, bei denen beide Geschlechter gleichermaßen gelten. Unilinear sind Verwandtschaftsbeziehungen, wenn nur ein Geschlecht den Ausschlag gibt, z. B. agnatisch oder uterin bzw. patribzw. matrilinear. Blutsverwandtschaft Konsanguinität; alle leiblichen Nachkommen einer Person sind mit dieser und untereinander »blutsverwandt«, also genetisch verwandt. Conjugal succession ? Konjugale Sukzession Cousin, Cousine auch: Kusin, Kusine; früher: Vetter, Base. Die Kinder von Tanten und Onkeln. In manchen Kulturen unterscheidet man die Cousins und Cousinen nach dem dominanten Geschlecht ihrer Eltern und deren Geschwister (also zum Beispiel, ob meine Kusine die Tochter meines Vaterbruder oder meiner Mutterschwester usw. ist). ? Kreuzcousin, -cousine; ? Parallelcousin, -cousine Crow/ Omaha-Terminologie Verwandtschaftssysteme bzw. -terminologien, die für Europäer besonders schwer verständlich sind. So wird zum Beispiel der Sohn der Vaterschwester nicht zu der Klasse der Cousins gezählt, sondern gilt auch als eine Art Onkel; im Crow-System gehören die eigenen Kinder des Mannes zur selben Kategorie wie die Kinder eines Mutterbruders (spiegelbildlich im Omaha-System: hier gehören die eigenen Kinder der Frau zur selben Kategorie wie die Kinder einer Vaterschwester). Demographischer Übergang Rückgang der Sterblichkeit und anschließender Rückgang der Geburtenrate in einer bestimmten Population. Durch Verbesserung der Lebensbedingungen (Hygiene, Ernährung, Medizin) kommt es zu einem Rückgang der Sterblichkeit von Müttern, Säuglingen und Kindern, so dass für eine gewisse Zeit die Bevölkerung wächst, bevor es dann durch verstärkte Geburtenkontrolle zu einem Rückgang der Geburtenrate kommt, bis sich Geburten- und Sterberate wieder angenähert haben. Dieses theoretische Modell konnte auch empirisch beobachtet werden, etwa zwischen 1870 und 1920 in Europa oder im 20. Jahrhundert in Ländern der »Dritten Welt«. Deszendenz Abstammung; Verwandtschaft in absteigender Linie: Kinder, Enkel, Urenkel. Deszendenten sind Abkömmlinge. ? Genealogie Dispens-Ehe Rechtlich ist Dispens die Befreiung von einem Verbot in einem Einzelfall. Dispens-Ehe ist eine Ehe, bei der ein geltendes Eheverbot im Einzelfall außer Kraft gesetzt wurde. So erlaubte zum Beispiel die mittelalterliche Kirche manchen Familien der Oberschichten die eigentlich verbotene Endogamie (Verwandtenehe), allerdings nur gegen Bezahlung oder eine andere Gegenleistung. Ehe Lebensgemeinschaft (Wohn-, Wirtschafts-, Intimgemeinschaft), rechtlich und/ oder religiös-rituell gestützt, als Einehe (Monogamie) zwischen Mann und Frau, als Vielehe (Polygamie) zwischen einem Mann und mehreren Frauen oder umgekehrt. Ehefähigkeit Die Berechtigung, eine Ehe einzugehen. Dazu muss die Geschäftsfähigkeit vorhanden sein. In Deutschland ist Ehefähigkeit im Normalfall mit der Volljährigkeit gege- Anhang 328 ben. In Ausnahmefälle ist die Ehe bereits mit 16 Jahren möglich oder aber in Betreuungssituationen auch nach Volljährigkeit nicht. Eheschließung Die vor Standesbeamten und Zeugen abgegebene Erklärung, eine Ehe einzugehen. In Europa war bis zum Konzil von Trient (1563) die legitime Eheschließung von Gebiet zu Gebiet unterschiedlich geregelt. Bis 1875 wurde eine »vollgültige Ehe« durch die priesterliche Trauung vollzogen. Seither gilt, dass eine Ehe rechtsgültig nur vor dem Standesbeamten geschlossen werden kann. Eheverbote Wer geschäftsunfähig ist, ist auch nicht berechtigt, eine Ehe zu schließen. Eheverbote gibt es heute nur noch wenige. Bigamie ist verboten, auch die Verwandtenehe zwischen Großeltern und Enkeln, Eltern und Kindern (»Verwandtschaft in gerader Linie«) sowie zwischen Geschwistern. Bis ins 19. Jahrhundert hatte es noch zahlreiche Eheverbote wegen ungleichen Standes oder Religionsunterschieden oder aus wirtschaftlichen Gründen gegeben. In manchen Kulturen ist es verboten, die Parallelcousine zu heiraten. Ein-Elter(n)-Familie Die frühere Bezeichnung »unvollständige Familie« wird heute nicht mehr verwendet. Die meisten Ein-Elter(n)-Familien sind Mutter-Kind-Familien. Dabei wird in der Regel die Haushaltsbzw. Betreuungssituation zugrunde gelegt, nicht der Familienstand. Das heißt, als Ein-Eltern-Familie gilt ein Elternteil, das mit Kind(ern) zusammenlebt, unabhängig vom Familienstand. ? Alleinerziehende Eltern In der Regel zwei Erwachsene unterschiedlichen Geschlechts, die eine Lebensgemeinschaft eingegangen sind, und die die Verantwortung für das Aufwachsen eigener (leiblicher) oder adoptierter Kinder übernehmen. Sie haben damit auch das Sorge- und Erziehungsrecht gegenüber den Kindern. Elterngeld 2007 in der Bundesrepublik Deutschland neu eingeführte finanzielle Unterstützung für Eltern, die auf Erwerbsarbeit verzichten, um ihr Kind zuhause zu betreuen. Als »Lohnersatzleistung« ist das Elterngeld abhängig vom bisherigen Einkommen und beträgt mindestens 300, maximal 1.800 Euro. Es kann von einem Elternteil für maximal 12 Monate und zusätzlich vom anderen Elternteil für weitere 2 Monate beansprucht werden. Damit sollte für Väter ein Anreiz geschaffen werden, sich wenigstens zwei Monate ganz dem eigenen Kind zu widmen. Elterninvestment Begriff der Soziobiologie für den Aufwand, den Elterntiere betreiben müssen oder wollen, um ihren Nachwuchs großzuziehen. Zeit und die Energie, die für die elterlichen Aufgaben aufgewendet wird, fehlen bei anderen Aufgaben, so dass es zum Konflikt kommen kann. Für die beiden Geschlechter ist die potentielle Bereitschaft, in die Elternschaft zu investieren, unterschiedlich: Zum Beispiel sind Väter, die sich nicht sicher sind, ob es sich um den eigenen Nachwuchs handelt, weniger bereit, Zeit und Energie zu investieren als Väter in monogamen Beziehungen. Weibchen müssen bei der Partnerwahl darauf achten, ob das Männchen Bereitschaft signalisiert, sich an der Brutpflege zu beteiligen. Glossar 329 Elternschaft 1) Sozialer Status, der ein Elternpaar rechtlich und kulturell verpflichtet, seine Kinder zu versorgen und zu unterstützen. 2) Lebensphase, in der das Paar, das eine Familie gründet, eine besondere Verantwortung gegenüber der Entwicklung der Kinder übernimmt. Elternzeit 1986 in der Bundesrepublik Deutschland unter der Bezeichnung Erziehungsurlaub zusammen mit dem Erziehungsgeld eingeführter Anspruch von Eltern auf Freistellung von der Arbeit (bis zu drei Jahren). Endogamie Heiratsregel, der zufolge innerhalb der eigenen Gruppe (Familie, Verwandtschaft, Clan) geheiratet werden darf oder geheiratet wird. Erziehungsurlaub ? Elternzeit Eskimoterminologie Verwandtschaftssystem bzw. -terminologie, die auch in Westeuropa üblich ist. Sie unterscheidet zum Beispiel - aus der Sicht der Kinder - die Geschwister der Eltern nur nach dem Geschlecht (Tanten und Onkel), aber nicht nach ihrer Stellung zu Vater oder Mutter (z. B. Vaterbruder oder Mutterbruder bzw. Onkel väterlicherseits oder mütterlicherseits). Dasselbe gilt für die Kinder der Onkel und Tanten: sie werden alle gleichermaßen als Cousins und Cousinen bezeichnet (bilinear oder undifferenziert). Ethnologie »Völkerkunde« Kulturanthropologie; Soziologie einfacher Stammesgesellschaften; auch allgemein kulturvergleichende Forschung. Ethologie Allgemein: Verhaltensforschung; speziell: Tierverhaltensforschung. European Marriage Pattern Europäisches Heiratsmuster, das sich durch hohe Ledigenquote und spätes Heiratsalter auszeichnete. Verbreitung überwiegend in Nordwest- und Mitteleuropa. Exogamie Heiratsregel, die bestimmt, dass nahe Verwandte bzw. Mitglieder der eigenen Gruppe nicht geheiratet werden dürfen. Vielmehr sollen Individuen von außerhalb der Gruppe (Verwandtschaft, Klan, Dorfgemeinschaft) geheiratet werden. Exogamie dient auch der friedlichen Vermischung von Kulturen. Familie Lebensgemeinschaft zwischen Eltern und ihren Kindern (Klein-, Kernfamilie); Minimalform: Mutter mit Kind; im weiteren Sinn die Verwandtschaftsgruppe; im Normalfall sind die Eltern verheiratet. Familienpolitik Gesamtheit staatlicher Aktivitäten und Einrichtungen, die mittels der Instrumente Recht, Geld oder Kommunikation versuchen, die Lebenslage und die vor allem kindbezogene Aufgabenerfüllung von bzw. durch die Gemeinschaften zu beeinflussen, welche dem jeweils maßgeblichen Verständnis von Familie entsprechen. Familienrecht Gesamtheit der Rechtsnormen, die Rechte und Pflichten in Ehe und Verwandtschaft regeln; Teilgebiet des Zivilrechts. Fekundität Fruchtbarkeit im Sinne der Fähigkeit zur Geburt. Anhang 330 Fertilität Fruchtbarkeit, sowohl im Sinne der Fähigkeit zur Geburt (Fekundität), als auch im Sinne der Geburtenhäufigkeit (Zahl der Geburten). Fertilitätsrate Fruchtbarkeitsrate: Zahl der Lebendgeborenen, bezogen auf die Frauen im gebärfähigen Alter. ? Total Fertility Rate Filiation [lat. filia = Tochter, filius = Sohn] Abstammung von den Eltern, Eltern-Kind-Verhältnis. Filiationsklage: Klage auf Anerkennung der Vaterschaft. Gattenfamiliensystem, offenes, multilineares Westliches Familiensystem (nach Talcott Parsons). Es gibt keine Heiratsregeln außer dem Exogamieverbot. Starke Bedeutung der Ehegatten gegenüber der Verwandtschaft. Neolokalität: Die Kinder leben nur bis zur Gründung eines eigenen Haushalts bei den Eltern. Geburtenrate Zahl der Lebendgeborenen, bezogen auf die Populationszahl. Genealogie Familienbzw. Ahnenkunde, umgangssprachlich auch »Familienforschung«. Darstellung des Abstammungsverlaufs von Familien oder der verwandtschaftlichen Herkunft eines Individuums über mehrere Generationen, möglichst bis zum »Ursprung« der Familiengeschichte. Darstellungsformen: Stammbaum, Ahnentafel, Sippschaftstafeln, Abstammungsreihen usw. Generation 1) Gleichaltrigengruppe, die durch gemeinsam erfahrene historische Ereignisse, vor allem in der Jugendphase, geprägt ist. 2) Familiengenerationen oder familiale Generationsketten innerhalb einer Abstammungslinie (z. B. Großeltern-Eltern-Kinder-Generation). Der Generationsbegriff geht zurück auf das griechische genesis und das römische generatio und verweist zunächst auf »Hervorbringen« (Generieren). ? Generativität. Generationsbeziehungen 1) Beziehungen zwischen Großgruppen von Gleichaltrigen, häufig als Generationskonflikt verstanden. 2) Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener Generationen innerhalb einer Familie (Großeltern, Eltern und Kinder), einschließlich Seitenverwandten (Großtanten, Onkel usw.). Generativität 1) Generatives Verhalten im Sinne von Fertilität, 2) etwas erzeugen, hervorbringen, in die Welt setzen. Geschlechtsrollen ? Polarisierung der Geschlechtscharaktere Geschwister Von denselben Eltern abstammende Kinder. Haben Kinder nur einen Elternteil gemeinsam, sind es halbbürtige, Stief- oder Halbgeschwister. Auch minderjährige Adoptierte sind Geschwister. Gleichgeschlechtliche Partnerschaft Homosexuelle Beziehung; (Liebes-) verhältnis zwischen Mann und Mann oder Frau und Frau. Hausfamilien Zwei Generationen oder zwei Gruppen von Verwandten, die in getrennten Haushalten, jedoch in einem Haus wohnen; typischerweise in ländlichem Zweifamilienhaus. Glossar 331 Haushalt Personen, die in einer Wohnung oder einem Haus gemeinsam wohnen und wirtschaften, bilden für die amtliche Statistik einen Haushalt, unabhängig davon, ob sie verwandt sind oder nicht. Hawaiianische Terminologie Verwandtschaftssystem bzw. -terminologie, die vorwiegend im malaiisch-polynesischen Raum, aber auch bei vielen Indianerstämmen Nordamerikas verbreitet war, bei der die Verwandten innerhalb einer Generation dieselben Verwandtschaftsbezeichnungen haben: Sowohl die eigenen Eltern als auch deren Brüder und Schwestern (die bei uns Onkel und Tanten genannt werden) werden als »Eltern« bezeichnet. Das trifft ebenso für die eigenen Geschwister und für die Kinder der Eltern-Geschwister zu (die bei uns als Cousins/ Cousinen bezeichnet werden): Sie gelten alle als »Geschwister«. Und schließlich in der Generation der eigenen Kinder: Sowohl die eigenen Kinder als auch die Kinder der Geschwister und Kusinen gelten als »Kinder«. Heiratsregeln In vielen Kulturen gibt es nach bestimmten Regeln bevorzugte oder aber zu meidende Heiratspartner (in Relation zum Verwandtschaftssystem, aber auch in anderer Hinsicht). Häufig gilt als Grundregel Exogamie: Man heiratet bevorzugt außerhalb der eigenen Gruppe. In modernen Gesellschaften sind Heiratsregeln eher Normen, die nicht bindend sind, die aber - durch Sozialisationseffekte - im Großen und Ganzen eingehalten werden. So gilt beispielsweise die Norm, dass Frauen eher größere Männer heiraten sollten, der Bildungsgrad nicht allzu stark differieren sollte oder eine ähnliche soziale Herkunft bevorzugt wird. Heterogamie/ Homogamie Wenn sich die beiden Partner einer Ehe oder Paarbeziehung in sozialer Hinsicht ähnlich sind, spricht man von Homogamie. Diese Ähnlichkeit kann sich auf verschiedene Faktoren beziehen: Alter, Religionszugehörigkeit, Bildungsgrad, soziale Herkunft usw. Bestehen größere Unterschiede in dieser Hinsicht nennt man ein Paar heterogam. In der Psychologie bedeutet Homogamie auch die Ähnlichkeit der Partner hinsichtlich bestimmter psychologischer Eigenschaften, Heterogamie verweist auf ? Komplementarität. Heterosexualität [griech.-lat. »andere Geschlechtlichkeit«] Sexuelle Orientierung, bei der eine Neigung zu Sexualpartnern des anderen Geschlechts besteht. Homosexualität [griech.-lat. »gleiche Geschlechtlichkeit«] Sexuelle Orientierung, bei der eine Neigung zu Sexualpartnern des gleichen Geschlechts besteht. »Hotel Mama« Umgangssprachlicher Begriff für das Zuhausewohnen eines bereits erwachsenen Kindes, das die elterliche/ mütterliche Fürsorge und deren Vorteile nicht aufgeben will. Hypergamie Heiratsregel, der zufolge Frauen nur in ranghöhere Gruppen heiraten dürfen. In modernen Gesellschaften: systematische Differenz zwischen Mann und Frau in Paarbeziehungen, z. B. der Mann ist im Regelfall älter und größer. Anhang 332 Inzestverbot In den meisten Kulturen gibt es ein Verbot, nahe Verwandte, vor allem Blutsverwandte, zu heiraten oder Geschlechtsverkehr mit ihnen zu haben. Man kann es auch als Exogamie-Gebot interpretieren. Irokesenterminologie Verwandtschaftssystem bzw. -terminologie, bei der es zum Beispiel verschiedene Bezeichnungen für den Bruder des Vaters (der als »Vater« gilt) und für den Bruder der Mutter (der nicht als »Vater« gilt) gibt; ebenso für die Schwestern der Mutter und des Vaters. Sie kann sowohl in patrials auch in matrilinearen Gesellschaften vorkommen. Kameradschaftsehe Konzeption der Ehe als Beziehung zweier vernünftiger Individuen, die sich über alles verständigen. Bei den Puritanern war die Idee der companionship marriage verbreitet. Die Ehe wurde als Reflexionsgemeinschaft betrachtet, die Stellung der Frau war relativ gut. Kindergeld Familienpolitische Maßnahme zur Unterstützung von Familien. Es wurde 1954 in Westdeutschland eingeführt, zunächst nur für das dritte Kind (25 DM monatlich), 1961 auch für das zweite, 1975 auch für das erste. Die Beträge wurden immer wieder erhöht. Seit 2001 beträgt das Kindergeld für das erste, zweite und dritte Kind 154 Euro, für weitere Kinder 179 Euro monatlich. Es wird bis zum 18. Lebensjahr oder - bei Auszubildenden - bis zum 27. Lebensjahr an die Eltern gezahlt. Kindheit Lebensphase im Lebenslauf, deren Dauer, Ausgestaltung und Bedeutung zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen jeweils unterschiedlich definiert ist. kognatisch Verwandtschaftsbeziehungen, bei denen das Geschlecht der Eltern keine Rolle spielt (z. B. undifferenzierte Filiation). ? agnatisch ? uterin Kohabitation 1) Zusammenleben, Zusammenwohnen. Auch Synonym für die Lebensform der nichtehelichen Lebensgemeinschaft. 2) Geschlechtsverkehr. Kollateralverwandtschaft Verwandtschaftsbeziehungen in der Seitenlinie. ? Verwandtschaftsgrade Komplementarität Ergänzungsverhältnis. 1) Paarbildung: Ergänzung der Partner, zum Beispiel ist der eine sparsam, der andere großzügig. 2) Geschlechterbeziehungen: Mit der Polarisierung der Geschlechtscharaktere kam die Vorstellung auf, dass Frau und Mann sich ergänzen - sie sei für das Gefühl, er für die Rationalität zuständig. Konjugale Familie Familie, in der die konjugale Beziehung (Gattenbeziehung) wichtiger ist als die Einbindung in die Verwandtschaft oder die Abstammung. Kleinfamilie, Kernfamilie. Konjugale Sukzession oder Sukzessive Monogamie Das Prinzip, dass im Lebensverlauf mehrere monogame Beziehungen aufeinander folgen (auch »Fortsetzungsehe«). Konjugalität Die Gattenverbindung (von lat. coniugare = verbinden). Glossar 333 Konsensprinzip Übereinstimmung von Mann und Frau bei der Eheschließung und freie Wahl des Ehepartners, unabhängig vom Willen der Eltern oder anderer Verwandter. Das Konsensprinzip wurde vom Christentum früh vertreten. Kreuzcousin,-cousine Die Kinder der Vaterschwestern oder der Mutterbrüder. In einigen Stammesgesellschaften sind sie bevorzugte Heiratspartner, während sie in anderen unter das Endogamie-Verbot fallen. Die Kinder von Bruder und Schwester sind Kreuzcousine oder Kreuzcousin, die Kinder von zwei Schwestern oder zwei Brüdern sind. ? Parallelcousinen oder -cousins Kusin, Kusine ? Cousin, Cousine Lebenserwartung Wahrscheinliche Zahl der Jahre, die Neugeborene oder Mitglieder einer Altersstufe noch zu leben haben. Die Lebenserwartung bei der Geburt gibt an, wie alt die Menschen dieses Jahrgangs im Durchschnitt vermutlich werden, altersspezifische Lebenserwartungsziffern geben die noch zu erwartenden Lebensjahre in einem bestimmten Alter an. Die Lebenserwartung von Neugeborenen ist wegen der erhöhten Wahrscheinlichkeit, als Säugling zu sterben, geringer als in späteren Jahren. Die Berechnung der Lebenserwartung erfolgt auf der Grundlage der gegebenen Sterblichkeitsverhältnisse (die in »Sterbetafeln« erfasst sind). Lebensform Lebensgemeinschaft. Es werden familiale und nichtfamiliale Lebensformen unterschieden. Weitere Unterscheidungskriterien: Art der Bindung zu anderen Menschen (z. B. sexuelle Beziehung oder Freundschaft), Form der Institutionalisierung (z. B. Ehe oder nicht), Wohnform (allein, zu zweit, zu mehreren). Lebensgemeinschaft Wohn-, Wirtschafts-, Solidar- oder Intimgemeinschaft. Lebenspartnerschaft Im deutschen Recht können sich seit 2001 homosexuelle Paare als Lebenspartnerschaft eintragen lassen. Damit sind einige rechtliche Konsequenzen verbunden, die auch für die Ehe gelten. Levirat (lat. levir = Bruder des Ehemannes) Eheform alter Kulturen (altorientalisch, afrikanisch) mit der Verpflichtung eines Mannes, die Frau eines kinderlos verstorbenen Bruders zu heiraten, mit dem Ziel der Weiterversorgung der Frau und der Zeugung eines Erben für die Frau bzw. den verstorbenen Bruder. Living apart together Lebensform von Paaren, die nicht in einer Wohnung zusammenleben. Gründe für das freiwillige Getrenntleben sind Autonomiebedürfnisse und Individualitätsansprüche. Manche Paare leben getrennt, weil sie beruflich an verschiedene Wohnorte gebunden sind und beide diese berufliche Bindung nicht aufgeben wollen. Malthusianismus Im Anschluss an Thomas Malthus (1766-1834) wird so manchmal eine Politik, Strategie oder Forderung der Geburtenkontrolle genannt. Bei Malthus ging es im engeren Sinn um Geburtenkontrolle zur Vermeidung eines Bevölkerungswachstums, Anhang 334 dem die wirtschaftliche Entwicklung nicht folgen könnte. Als Geburtenkontrolle wollte Malthus nur »natürliche« Methoden zulassen. Matriarchat Herrschaft der Mütter, Dominanz der Frauen. Matrilinearität Die mütterliche Abstammungslinie entscheidet über Verwandtschaftsbezeichnungen, Namensgebung oder Vererbung. Matrilokalität Heiratsregel, der zufolge die Jungvermählten bei den Eltern bzw. der Mutter der Ehefrau wohnen. Mehrgenerationenfamilie, multilokale Mehrere Generationen einer Familie leben in verschiedenen Haushalten. ? Neolokalität Mikrozensus Die amtliche Repräsentativstatistik über Bevölkerung, Haushalte und Lebensformen in Deutschland. Jährlich werden etwa ein Prozent der Haushalte befragt, also etwa 390.000 Haushalte, mit etwa 830.000 Personen. Der Mikrozensus ist damit die größte jährliche Haushaltsbefragung in Europa. Die per Zufallsstichprobe ausgewählten Haushalte bleiben vier Jahre in der Stichprobe, jährlich kommt ein Viertel der Haushalte neu dazu. Da weitgehend Auskunftspflicht besteht, ist die Ausfallquote deutlich geringer als bei sonstigen Befragungen. Mitgift Gaben oder Dienstleistungen, die von den Eltern der Braut oder von der Braut selber an den Ehemann oder die Familie des Ehemannes gegeben werden. Monogamie Einehe, also die Heirat mit nur einem Partner, im Unterschied zur Bigamie und Polygamie. Mortalität Sterblichkeit. Mortalitätsraten für verschiedene Gruppen (Alter, Geschlecht, Berufe) können Hinweise auf unterschiedliches Sterberisiko solcher Gruppen geben. Mutterschaft Sozialer Status, der eine Frau rechtlich und kulturell verpflichtet, ein eigenes oder adoptiertes Kind zu versorgen und zu unterstützen, verbunden mit dem Erziehungs- und Sorgerecht. Im Unterschied zur Vaterschaft ist die biologische Mutterschaft normalerweise eindeutig. Unter später erster Mutterschaft versteht man eine Erstgeburt nach dem 35. Lebensjahr. Neolokalität Heiratsregel, der zufolge die Jungvermählten an einem anderen Ort wohnen als die jeweiligen Herkunftsfamilien. Nepotismus Bevorzugung der eigenen Verwandten (etwa bei Stellenbesetzung oder Arbeitsaufträgen). Soziobiologie: Unterstützung von genetischen Verwandten (z. B. bei der Brutpflege), die dadurch ihren Fortpflanzungserfolg erhöhen können. Nettoreproduktionsrate Fertilitätsrate, die den Wert 1,0 annimmt, wenn eine Bevölkerung weder wächst noch schrumpft. Sie entspricht dann der Zahl der Mädchen, die von einer Frau unter den gegebenen Sterblichkeitsverhältnissen geboren werden müssen, damit eines von ihnen später selber wieder wenigstens ein Mädchen zur Welt bringt. Für eine Glossar 335 Nettoreproduktionsrate von 1,0 würde ein Mädchen pro Frau genügen, wenn die Sterblichkeit der Mädchen bis zur Erstgeburt eines Mädchens in der nächsten Generation gleich null wäre. Neue Väter Bezeichnung für solche Väter, die sich nicht auf die Ernährerrolle (Allein- oder Hauptverdiener) beschränken, sondern sich um die eigenen Kinder ähnlich wie die Mutter kümmern. Damit ist auch die Ablehnung der klassischen Rollentrennung zwischen Mann und Frau verbunden. Nichteheliche Lebensgemeinschaft Paarbeziehung ohne Trauschein. Meist ein zusammenlebendes Paar, manchmal aber auch ein getrennt lebendes Paar. ? living apart together Opportunitätskosten Für Ökonomen die Kosten, die Eltern indirekt entstehen, nämlich in Form von entgangenem Einkommen, wenn sie auf Erwerbsarbeit verzichten, um sich um die eigenen Kinder kümmern zu können. Die Opportunitätskosten sind umso höher, je höher das zu erwartende Einkommen wäre, auf das Mütter oder Väter verzichten. Im Allgemeinen steigen sie also auch mit höherem Bildungsgrad. Parallelcousin, -cousine Die Kinder der vaterseitigen Onkel (Vaterbrüder) oder der mutterseitigen Tanten (Mutterschwestern). In einigen Stammesgesellschaften sind sie bevorzugte Heiratspartner, während sie in anderen unter das Endogamie-Verbot fallen. Die Kinder von zwei Schwestern oder zwei Brüdern sind Parallelcousinen oder -cousins, die Kinder von Bruder und Schwester sind ? Kreuzcousine oder Kreuzcousin. Partnerschaft 1) Jede Form von Paarbeziehung; 2) Partnerschaftliche Ausgestaltung von Paarbeziehungen; 3) Nichteheliche Lebensgemeinschaft oder gleichgeschlechtliche Beziehung. patria potestas Im römischen Recht die (uneingeschränkte) Verfügungsgewalt des Hausherrn über die Familie bzw. die Haushaltsmitglieder (Frauen, Kinder, Sklaven). Patriarchat, patriarchal Herrschaft der Väter, Dominanz der Männer. patri-/ matri-lateral väterlicherbzw. mütterlicherseits. Patrilinearität Das Prinzip, dass die väterliche bzw. männliche Abstammungslinie über Verwandtschaftsbezeichnungen, Namensgebung oder Vererbung entscheidet. Patrilokalität Heiratsregel, der zufolge die Jungvermählten bei den Eltern bzw. dem Vater des Ehemannes wohnen. patrilokal-exogam Prinzip, dass der Sohn am Ort des Vaters heiratet und die Frau von außerhalb kommt. Polarisierung der Geschlechtscharaktere Bezeichnung für die gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommene Vorstellung, Frauen und Männer hätten von Natur aus einen unterschiedlichen Charakter, wie er sich zum Beispiel im Gegensatz Emotionalität/ Rationalität zeigt. Daraus wurde die Rechtfertigung für die Dualität der Geschlechtsrollen abge- Anhang 336 leitet: Die Frau ist für die Familienatmosphäre, das Gefühl und die Erziehung zuständig, der Mann für die Außenbeziehungen der Familie. Diese Aufteilung wurde immer wieder in Frage gestellt, besonders intensiv seit den 1960er-Jahren. Polyandrie Vielehe, Ehe einer Frau mit mehr als einem Mann. Polygamie Vielehe, legitime Form der Ehe einer Person mit mehreren anderen gleichzeitig. Polygynie Vielehe, Ehe eines Mannes mit mehr als einer Frau. Promiskuität [von lat. promiscuus »gemischt«] Sexuelle Praxis mit häufig wechselnden Geschlechtspartnern. Realteilung Im Unterschied zum ? Anerbenrecht wird in Gebieten mit Realteilung der (landwirtschaftliche) Besitz unter allen Erben aufgeteilt. Reproduktionsmedizin Methoden der »medizinisch assistierten Fortpflanzung«, wenn Elternschaft auf normalem Weg nicht möglich ist. Methoden sind Hormonbehandlungen, künstliche Besamung (Insemination) und künstliche Befruchtung (IVG = in vitro Fertilisation), Embryotransfer sowie »Leihmutterschaft«. Die Reproduktionsmedizin kann auch als ein Teilbereich der Humanbiotechnik verstanden werden, zu der außerdem noch Klonungstechniken und Gentechnologie zählen. »Sandwich-Generation« Metapher für die Generation, deren Mitglieder zwischen Rentner- und Kindergeneration in Familien eingeklemmt sind, also die Elterngeneration, die neben der Versorgung der eigenen Kinder auch die Pflege der eigenen Eltern oder Schwiegereltern übernehmen muss. Das betrifft in erster Linie Frauen. Scheidung Die Auflösung einer Ehe durch einen Standesbeamten. Ehescheidung war oder ist in manchen religiös dominierten Kulturen nicht oder nur eingeschränkt möglich (z. B. in Teilen der katholischen Welt, wo nur eine »Trennung von Tisch und Bett« erlaubt war). Die meisten Kulturen erlauben die Scheidung einer Ehe nach bestimmten Grundsätzen und Regeln; heute ist das ? Schuldprinzip in den meisten westlichen Kulturen zugunsten des ? Zerrüttungsprinzips aufgegeben worden. Schuldprinzip Galt in vielen Ländern im Scheidungsrecht bis in die 1970er-Jahre. Demnach konnte sich ein Ehepartner nur scheiden lassen, wenn er dem anderen ein schuldhaftes Verhalten nachweisen konnte, zum Beispiel Ehebruch. Schwägerschaft Verwandtschaftsform, die durch Heirat von Geschwistern entsteht. Heiratet meine Schwester, ist deren Mann mein Schwager; heiratet mein Bruder, ist dessen Frau meine Schwägerin. Schwippschwager/ Schwippschwägerin Allgemein: entfernte Schwägerschaft. Meist die Geschwister von Schwager und Schwägerin. Manchmal werden auch die Gattinnen von Brüdern bzw. die Gatten von Schwestern als Schwippschwägerin bzw. Schwippschwager bezeichnet. Glossar 337 Single [engl.: unverheiratet] 1. In der amerikanischen Statistik zunächst als der Unverheiratete definiert, wurde »Single« bald zum Symbol der Freiheit von Ehezwängen und von den Zwängen einer festen Partnerschaft. 2. Auf der Grundlage der Haushaltsstatistik werden die Personen in Einpersonenhaushalten unterschiedslos als »Singles« bezeichnet. Damit kommt es zu einer sehr großen Spannweite zwischen einer kleinen Zahl von Singles im engen Sinn (freiwillig partnerlos und/ oder sexuell abstinent) und einer großen Zahl von Singles im weitesten Sinn (alle Alleinlebenden, einschließlich Witwen und Witwern). Stieffamilie Familie mit einem Vater/ einer Mutter, der/ die nicht das biologische Elternteil des Kindes/ der Kinder ist. Stiefelternschaft kommt durch Wiederverheiratung eines Elternteils zustande, früher meist nach dem Tod der leiblichen Mutter oder des leiblichen Vaters, heute häufiger durch Scheidung. Total Fertility Rate Zusammengefasste Geburtenrate. Periodenmaßzahl, die zu einem gegebenen Zeitpunkt für eine bestimmte Population die Zahl der Kinder schätzt, die jede Frau im Durchschnitt in ihrem Leben zur Welt bringt. Unilinearität Verwandtschafts-, (Abstammungs-)beziehungen sind unilinear, wenn nur ein Geschlecht den Ausschlag gibt (z. B. agnatisch oder uterin bzw. patribzw. matri-linear). uterin Verwandtschaftsbeziehungen, bei denen das weibliche Geschlecht als strukturierendes Element gilt. ? agnatisch ? kognatisch Uxorilokalität Der Mann zieht bei der Eheschließung in die Wohnung der Frau. Vaterschaft Sozialer Status, der einen Mann rechtlich und kulturell verpflichtet, sich um ein von ihm gezeugtes, adoptiertes oder durch Eheschließung angenommenes Kind zu versorgen und zu unterstützen. Im Allgemeinen ist damit auch ein Erziehungs- und Sorgerecht gegenüber dem Kind verbunden. Bis vor kurzem war die biologische Vaterschaft nicht eindeutig nachweisbar (»pater semper incertus est«). Aus soziobiologischer Sicht engagieren sich Männchen, die sich ihrer Vaterschaft sicher sein können, eher als andere. Diese Sicherheit erhöht sich durch Monogamie oder Überwachungs-Polygynie (»Harem«). In den meisten Kulturen wird die soziale Vaterschaft durch die Eheschließung anerkannt. Erst in jüngster Zeit gibt es die Möglichkeit, die biologische Vaterschaft zweifelsfrei zu ermitteln. Vereinbarkeitsproblem Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gilt als wichtiges Ziel jeder Politik, die die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau (ökonomischer Versorger und Hausfrau) überwinden will. Maßnahmen zur Vereinbarkeit können sehr unterschiedlich sein: mehr öffentliche Betreuungsmöglichkeiten für Kleinkinder; Arbeitsplatzgarantie bei einer Unterbrechung durch Elternzeit; familienfreundliche Arbeitswelt. Verwandtschaft Spezielle soziale und rechtliche Beziehung, die sich entweder durch Abstammung (Deszendenz, Filiation) oder durch Eheschließung (Allianz, Affinalverwandtschaft) ergibt. Erstere ist meist Blutsverwandtschaft, kann aber auch durch Adoption entstehen. Manchmal wird Verschwägerung als eigenständige Verwandtschaftsform be- Anhang 338 trachtet, ebenso Verschwisterung. Nur Verschwisterung und Filiation haben eine biologische Basis, die Affinalverwandtschaft dagegen ist rein sozial (strikt sozial sogar insofern, als Blutsverwandtschaft in den meisten Gesellschaften mit einem Heiratsverbot belegt ist). Im deutschen Familienrecht werden Eheleute nicht als Verwandte bezeichnet, der Begriff Verwandtschaft bezieht sich hier nur auf Abstammung (direkte Linie oder Seitenlinie). Verwandtschaftsgrade Der Verwandtschaftsgrad wird nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten bestimmt. Mutter und Kind sind Verwandte ersten Grades in gerader Linie, Geschwister sind Verwandte zweiten Grades in der Seitenlinie, Onkel und Neffen im dritten Grad in der Seitenlinie, Cousin und Cousine sind Verwandte des vierten Grades in der Seitenlinie. Verwandtschaftssystem Gesamtheit der Strukturen und Regeln, mit denen die legitimen Beziehungen zwischen Verwandten und ihre Stellung zueinander festgelegt sind. Dazu gehören Abstammungsregeln, Heiratsregeln, Erbregeln sowie Regeln der Dominanz eines Geschlechts (? Unilinearität). In einfachen Gesellschaften regeln Verwandtschaftssysteme häufig auch die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen innerhalb von und zwischen Familien. Verwandtschaftsterminologien System der Verwandtschaftsbezeichnungen. Virolokalität Die Frau zieht bei der Eheschließung in die Wohnung des Mannes. Work-Life-Balance Anglizismus für das ? Vereinbarkeitsproblem. Zerrüttungsprinzip Im deutschen Scheidungsrecht wurde 1977 das Schuldprinzip durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt. Demnach kann eine Ehe geschieden werden, »wenn sie gescheitert ist«. Die Ehe gilt als gescheitert, wenn die Lebensgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht und nicht erwartet werden kann, dass die Ehegatten sie wiederherstellen. Dies wird als gegeben angenommen, wenn die Ehepartner drei Jahre getrennt leben. Auch nach einem Jahr Getrenntleben kann die Ehe geschieden werden, wenn beide Partner zustimmen. Zölibat Allgemein: Meist religiös begründete Ehelosigkeit und sexuelle Enthaltsamkeit. In der katholischen Kirche: Verpflichtung der Geistlichen (Priester, Bischöfe) zur lebenslangen Ehe- und Kinderlosigkeit. Glossar 339 Literatur In Fußnoten häufiger verwendete Abkürzungen für Periodika: BiB-Mitteilungen = BiB-Mitteilungen. Informationen aus dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung beim Statistischen Bundesamt iwd = Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln Ågerup, Martin (2000): Von Szenarien zu Wild Cards. - Das Kopenhagener Institut für Zukunftsforschung. In: Karlheinz Steinmüller/ Rolf Kreibich/ Christoph Zöpel (Hrsg., 2000): Zukunftsforschung in Europa. Ergebnisse und Perspektiven. Baden-Baden: Nomos, S. 111-114 Alber, Jens (2005): Wer ist das schwache Geschlecht? 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Alterseffekt 53 Altersgruppen 30 ff., 44, 48, 54 ff., 68, 187, 217, 252, 308 Altersstruktur 66 f., 308 f. Altruismus, biologischer 83 f. Anerbenrecht 134 f., 327 Angehörige 269 f. Anthropologie 78 f. Arbeit und Familie 153 f., 284 ? Familienfreundlichkeit ? Vereinbarkeit Arbeiterfamilie 135 f. Arbeitermilieu 46, 184, 188 Arbeitsteilung (im Haushalt) ? Geschlechtliche - Aufklärung (Epoche) 123, 126 Aufschub, biografischer (von Heirat und Elternschaft) 26 f., 39, 186, 222 f., 295 Austauschtheorien 177 Australopithecus 79 Auszug aus dem Elternhaus 183, 215 ff. Autonomie, individuelle 148 ff., 160, 173 f., 239 ff. Baby-Boom 25 f., 39 ff. Bauernfamilie 134 f. Bevölkerungsentwicklung 51 ff., 69 f. globale - 69 f. Bevölkerungsstatistik 54 Bevölkerungsstruktur 55, 66 f. Beziehungen, persönliche 152, 164, 172 Bigamie 270, 327, 329, 335 Bildungsexpansion 40 ff., 155, 179 Bildungshomogamie 176, 179 f. Bildungssystem 43, 46, 146, 153 ff., 176, 179, 247, 311 bilinear/ unilinear 328 Biografie 246 ff. Biologie ? Evolution Biologismus 92 f., 107 f., 128 f., 178, 306 f., 310 Biotechnologie 318 ff. Blutsverwandtschaft 95, 97, 113, 328 Brutpflege (bei Tieren) 86 ff. Bürgerliche Familie 121 ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) 268, 276 371 Bürgertum 122 ff. Bildungsbürgertum 136 Chancengleichheit 155 Christentum/ christliche Kirche und Familie 112 ff. Cousins, Cousinen 100 ff., 328 Crow-Terminologie 103 f., 328 De-Institutionalisierung 161 Demografie 51 ff. Demografische Entwicklung 11, 16 ff., 51 ff., 307 ff. Ost- und Westdeutschland 20 f. Europa 21 f. Demografischer Übergang 70 f., 328 zweiter demografischer Übergang 71 Deszendenz 95 ff., 328 Differenzierungstheorie, Theorie funktionaler Differenzierung 159 ff. Dispens-Ehe 113, 328 Distinktion 243 ff. Doppelverdiener-, Doppelkarriere-Paare 197 ff., 312 ff. Doppelmoral 123 Egoismus, biologisch-genetischer 83 Ehe 16 ff., 26 ff., 33 ff., 58 ff., 186 ff., 328 - als Institution 151 f., 163 f., 172 f. - als Lebensphase 186 ff. Ablehnung der - 188 Aufhebung der - 189, 271 Annulierung der - 189 f. Auflösung der - 271 Ehebruch 121, 189, 275 Ehedauer 35, 186, 188 Ehefähigkeit (rechtl.) 270, 328 Ehepaar 122, 140, 171 ff. getrenntlebend 272 ? konjugale Familie, Konjugalität, Paar Eherecht 268 ff. Ehescheidung ? Scheidung Eheschließung 18, 58 ff., 186, 329 endogame - 175 f. kindorientierte - 39 sozialer Aufstieg durch - 179 f. Ehe-, Heiratsverbote 270, 275, 329 Eheversprechen 271 Ein-Elter(n)-Familie 329 Einelternfamilien ? Alleinerziehende Einpersonenhaushalte 18 f., 30 ff., 252 Einzelkinder 234 f. Einzigartigkeit 241 ff. Eltern 140, 205 ff., 215 ff., 285 ff., 329 Elternbildung 315 Elterngeld 289 ff., 314 f., 329 Elterninvestment (biologisch) 86 ff., 329 Elternschaft 330 - als Beruf 312 ff. - als Lebensphase 218 f. Entscheidung zur - 219 ff. Professionalisierung der - 145, 167, 293, 312 ff. Übergang in die - 218 ff. Trennung von biologischer und sozialer - 40, 223 ff. verantwortete - 145, 167 Probleme der - 225 ff., 315 Elternzeit 200, 330 Eltern-Kind-Beziehung 140 Emotionalisierung der Familie 123 Emotionalität (als weibliche Eigenschaft) 123, 128 ff. Empfängnisverhütung 219 Empfindsamkeit 127 Empty-Nest-Phase ? »Leeres Nest« Endogamie 101, 113, 175, 179, 330 England (als Wiege des Individualismus) 125 f. Entkoppelung (von Sexualität, Zusammenleben, Ehe und Elternschaft) 40, 161 Register 372 Entscheidung biografische - 249 Ehe als - 188 Elternschaft als - 219 ff. Paarbildung als - 174 f. Entscheidungsautonomie 239 ff. Erben 209 f. Ergänzungsverhältnis ? Komplementarität Erwerbsarbeit ? Arbeit Erwerbstätigkeit - von Ehefrauen (rechtl.) 273, 276 f. - von Frauen 44 f., 153 f., 201, 311 ff. - von Müttern 20, 154, 227, 290, 294 Erziehung, Erziehungsarbeit 196, 198, 285 f. Erziehungsanforderungen, -ansprüche, steigende 145, 226, 315 Erziehungsgeld 283 Erziehungsrecht 278 f. Erziehungsurlaub 200, 283, 290 f. Eskimo-Terminologie 102 f., 330 Ethnologie 98, 330 Ethologie 89, 330 European Marriage Pattern 72 f., 120, 330 Evolution, biologische und kulturelle 89 ff., 106 ff. Evolutionsbiologie 82 ff., 178 Evolutionstheorie 81 ff. Exogamie 100 f., 105, 330 familia 113, 119 Familie 330 - als Funktionssystem 160 f. - als Gegenstruktur zur Gesellschaft 143 f. - als historischer Begriff 119 - als Institution 151 f., 160 f., 163 f. - als intermediäre Instanz 144 - als Ort der Ausbalancierung von privat und öffentlich 149 ff. - als Wert 38 f. Antike Wurzeln 112 ff. Funktionen der - 80, 144 ff., 152 Krise der -, Krisendiagnose 14 f., 24 ff., Ursprung und Universalität der - 77 ff., 105 ff. Zukunft der - 299 ff. Familienarbeit 201, 312 ff. Professionalisierung der - 314 ff. Familienbegriff - und normative Positionen 166 Überflüssigkeit des - 166 f. Familien- und Erwerbssystem, Spannungen 45 f. Familiendemografie 51 ff. Familienfreundliche - Hochschulen 316 - Unternehmen 153 f., 294 Familienhaushalt 28 f., 142, 205 Familienlastenausgleich 283 Familienpolitik 261, 267, 279 ff., 314 f., 330 nachhaltige - 295 f. pronatalistische - 267, 285, 288 ff. - und Wohlfahrtsstaat 281 f. Familienrecht 267 ff., 330 Familienstand 58 Fehlinterpretationen der Statistik 28 ff., 234 Fekundität 56, 330 f. Feminisierung 311 Feminismus 164 Fertilität 16 ff., 21 ff., 56 ff., 331 Fertilitätsrate(n) 56 f., 331 Filiation 95 ff., 101, 140, 331 Flexibilisierung von Arbeit und Familie 153 f. Fortpflanzungserfolg 81 ff. Fortpflanzungsmedizin ? Reproduktionsmedizin Fortsetzungsehe 173 Register 373 Fortsetzungsfamilie 143 Frau - als Gattin und Mutter 128 ff., 140 - als Karrierefrau 311 Frauenanteile - Erwerbsarbeit 153 f., 294 - Studierende 43 ff. Frauenförderung 289 Freisetzung 239 ff. Freundschaft 127 Fruchtbarkeit 56 ff. Funktionen ? Familie Funktionsverlust 144 Gattenfamilie ? Konjugalität, konjugale Familie Gattenfamiliensystem, offenes, multilineares 141, 331 Geburten nichteheliche - 20, 39, 57 Geburtenabstand 90, 107 Geburtenentwicklung 39 f. langfristige - 25 f., Geburtenkontrolle 73 Geburtenpolitik in China 23 f. Geburtenrate(n) 16 ff., 21 ff., 56 f., 331 Geburtenrückgang 16 ff., 23, 27, 39, 41 ff. erster und zweiter - 25 f. langfristiger - 25 f., 39 säkularer - 39 Gefühle (als Basis von Ehe und Familie) 123 ff. Genealogie, genealogisch 113, 119, 206, 327, 331 Generation, -en, Generationsbegriffe 52, 206, 331 Generationengerechtigkeit 285 ff., 307 Generationenvertrag 287 Generationsbeziehungen 205 ff., 307 ff., 331 Solidarität 210 Transferleistungen 209 f. Generationseffekt 42 f., 53 -konflikt 207 f. -verbund 141 -verhältnis 140 ff., 206 ff. Generativität 206, 331 Gentechnologie 319 f. Genetische Selektion 82 Genetischer Determinismus 90 Gerechtigkeit, soziale 291 f. ? Ungleichheit, soziale Geschlechterbeziehungen, -verhältnis 123, 140, 156 ff., 195 ff., 309 ff. - biologisch 85 ff. - in der Ehe: rechtl. Regelungen 273 f. Psychologisierung d. - 123, 129 ff. Geschlechterforschung 156 ff., 164 Geschlechtergleichheit 128 ff., 136, 158, 195 ff., 310 Rechtliche Regelungen 273, 276 f. Geschlechterproportion 66 f. Geschlechtscharaktere 129 ff. Geschlechtsnormen 174, 196, 202 Geschlechtsrollen, -wandel 43 ff., 196 f. historisch 123, 128 ff. Geschlechtliche Arbeitsteilung 80, 195 ff. Geschlechtsunterschiede - in Konversationslexika 131 f. Geschwister, -beziehungen 234, 331 Getrenntlebende Paare ? living apart together Gleichberechtigungsgesetz 273 Gleichgeschlechtliche Paarbeziehungen 185 f., 331 Gleichheit zw. Mann und Frau ? Geschlechtergleichheit Globalisierung 165, 313 Großeltern(schaft) 216 f., 221 Großfamilie Mythos der - 117 Habitus 155 f., 202 Register 374 Handwerkerfamilie 134 Haus, »ganzes Haus« 117, 120, 122, 134 f. - und Betrieb: historische Trennung 122, 136 Hausarbeit 195 ff., 312 ff. Hausfamilien 213 ff., 331 Hausfrauenehe 228, 233, 273, 290 Hausgemeinschaft - in der frühen Neuzeit 116 ff., 122, 134 ff. Haushalt 18 ff., 116 ff., 120, 142, 205, 213, 332 Haushaltsführung (rechtl.) 273 Haushaltsgröße 18 f., 21, 117 Haushaltsstatistik 28 ff., 54, 213 Hausindustriefamilie 135 Häuslichkeit 123 f., 148 ff. Hausmänner 199 f. Hausvater, Hausherr (in der traditionalen Familie) 118 ff. Hawaiianische Terminologie 103 f., 332 Hedonismus 259 Heimarbeiterfamilie 135 Heirat 186 ff. ? Eheschließung Heiratsalter 26 f., 59, 73, 180 f., 186, 247 spätes - 73, 120 f., 186 Heiratsmarkt 177, 179 Heiratsregeln 100 f., 174 ff., 332 Heiratsverbote Herkunft, familiäre und Bildung 46, 146, 154 ff. Herkunftsfamilie 141, 152 ff., 318 Heterogamie 175 f., 332 Heterosexualität 191, 332 Hominiden 79 Homogamie 101, 175 f., 178 ff., 332 Homosexualität 185 f., 191, 277, 332 »Hotel Mama« 215, 332 ? Auszug aus dem Elternhaus Hypergamie 175, 332 Illegitime Kinder 121 ? Geburten, nichteheliche In-vitro-Fertilisation 224 Individualisierung 41, 122 ff., 214 f., 237 f., 241 ff., 302 Individualisierte ? Paarbeziehung Individualisierungstheorie 159 ff., 165, 302 Individualismus 112, 152, 237 ff., affektiver - 123 amerikanischer - 240 f. englischer - 125 f. institutionalisierter - 242, 261 Individualität 146 f., 160 - und Liebe 127 Individuum 246 ff. - als Leitfigur der Moderne 125, 162, 302 ff. Insemination, heterologe 224 Intimität 123 f., 148 ff. Inuit-Terminologie 102 Inzestverbot 99 f., 333 Irokesen-Terminologie 103 f., 333 Jäger- und Sammlergesellschaften 105, 107 Kameradschaftsehe 115, 333 Kapitalismus 164 Kernfamilie 140 ff. strukturelle Isolation der - 142 f. erweiterte - 142 Kind, Kinder 15 ff., 56 ff., 116 ff., 140 ff., 167, 232 ff. - als Kostenfaktor 126 Rechtliche Stellung (Kindschaftsrecht) 269 f., 278 f. Kinder- und Jugendrente 287 f. Kinderbetreuung 198, 282, 289 f., 293 f., 312 ff. Kindergeld 283 f., 333 Register 375 Kinderlose, Kinderlosigkeit 20, 22 f., 37 ff., 54 f., 58, 220 f., 256 ff., 285 ff. - von Akademikern 47 f., 312 ff. ungewollte - 223, 260 f. Kinderwunsch 219 f. Kinderzahl, gewünschte 219 f. Kinderzahlen (Paritäten) 37 Kindheit 119, 123, 232 ff., 333 Verschwinden der - 304 Kleinfamilie, moderne 134, 136 kognatisch 101, 333 Kohabitation 333 - als Alternative zur Ehe 181 - als Lebensphase, als Übergangsphase 182 ff. ? Nichteheliche Lebensgemeinschaft Kohortendaten 52, 57 f. Kohorteneffekt 53 Kollateralverwandtschaft 333 Komplementarität 333 - im Geschlechterverhältnis 131, 140 - in Paarbeziehungen 177 f., 195 f. Konjugale Familie 120, 122, 125 f., 140 ff., 333 Konjugale Sukzession 333 ? Fortsetzungsehe/ -familie Konjugalität 114, 140, 171, 333 ? Ehe, Paar Konkurrenz, reproduktive 85 ff. Konsensprinzip (bei Eheschließung) 113 f., 334 Kooperation 83 ff. Kosten-Nutzen-Kalkulation 161 f., 177, 188, 219 »Kranzgeldanspruch« 271 Kreuzcousine 84, 100 ff., 334 Kreuzvetter 96 »Kulturrevolution« 41 f., 136 Kuppelei 277 Kusine ? Cousine Längsschnittdaten 52 Lebenserwartung 29 f., 35, 59, 61 ff., 207, 308 f., 334 Lebensform(en) 30 ff., 151 ff., 334 alternative - 30 ff. individualisierte - 251 ff. mobile - 69 private - 151 f. Lebensgemeinschaft 334 ? Nichteheliche - Lebenslauf 34, 66, 226, 246 ff., 295 Institutionalisierung d. - 247 f. Übergänge im - 34, 66, 181, 248 Lebenspartnerschaft, eingetragene 185, 334 Lebensphasen 34 ff., 181 ff., 186 ff. Lebensplanung 249 Lebenspraxis Autonomie der - 316 ledig, Ledige 26, 31 ff., 55 ff., 116, 182 ff., 190, 216, 218, 251 Ledigenquote 33, 187 hohe - 73, 116, 120 »Leeres Nest« 187, 216 ff. »Leihmütter«, Leihmutterschaft 97, 145, 224 f., 316, 318 Levirat 334 Liebe 124 ff., 192 f. romantische - 124, 127 f., 192 vernünftige - 126 Liebesehe, -heirat 134, 136, 172 f. - im Bürgertum 122, 126 f. - in d. Unterschichten 124 Liebespaar 172 f. Living apart together 34, 254 ff., 334 Malthusianismus 72 f., 125 f., 334 Männliche Herrschaft ? Patriarchat Marxismus 164 Matriarchat 78, 335 matrilateral 100 Register 376 Matrilinearität, matrilineal 40, 78, 100 ff., 141, 152, 166, 335 Matrilokalität, matrilokal 100, 335 Mehrgenerationenfamilie 141, 213, 217 multilokale - 212 f., 335 Migration 68 Mikrozensus 12, 55, 324, 335 Milieu-Unterschiede 46 ff., 184, 220 f., 312 ff. Milieus, sozio-kulturelle 46 individualistische/ individualisierte 47, 151, 184 familistische 47, 151 Mitgift 335 Mobile Lebensformen 69 Mobilität 68 f. Monogame Kleinfamilie 106 ff. Monogamie 89, 101, 108, 113, 335 Mortalität 335 Multilokale ? Mehrgenerationenfamilie Mutter rechtl. Definition 269 Mutter(schaft), Mütter 335 ledige - 218, 228 ff. späte erste - 221 f. biologische Basis der - 88 genetische/ soziale - 224 f. Mutterliebe 79, 123 f. Mutter-Kind-Beziehung, -Dyade 123, 140, 166 f. Nachwuchssicherung 81, 146, 166, 280 f., 286 ff. Namensrecht 277 f. Narzissmus 259 Neolithische Revolution 100 Neolokalität 100, 141 f., 213, 215, 335 Nepotismus 142, 335 Nettoreproduktionsrate 57, 335 Netzwerk 65, 94, 143, 215, 302, 326 Nichteheliche Lebensgemeinschaft 33 f., 181 ff., 336 - als Institution 172 - mit Kindern 229 ? Kohabitation, Paarbeziehung Nichteheliche ? Geburten Nichteheliche Kinder: rechtl. Stellung 269 f. »Normalfamilie« 28 f., 140 f. Normalbiographie, -lebenslauf 247 f. Auflösung d. - 250 Nuptialität 51, 59 Omaha-Terminologie 103 f., 328 Opportunitätskosten 43, 283, 314, 336 Paar, Paarbeziehung 113 ff., 120 ff., 171 ff. - als Institution 172 f. Autonomie d. - 113 ff., 120, 122 Dauerhaftigkeit 173, 192, 194 Exklusivität 193 f. getrenntlebende - 254 ff. ? Konjugalität Paarbildung 174 ff. Institutionen der - 176 Regeln der - 174 ff., 311 f. Paläoanthropologie 79 Panel-Daten 53, 325 f. Parallelcousine 100 ff., 336 Parallelvetter 96 Partnerlosigkeit 252 Partnerschaft 336 individualisierte 150, 174, 254 ff., 263 Partnerschaftlichkeit 158, 192 ff., 195, 202, 245 Partnerwahl 174 f., 320 Individualisierung der - 122, 174 ? Paarbildung »Patchwork«-Familie 231 pater familias 119 f. patria potestas 113, 336 Patriarchat, patriarchal, patriarchale Struktur 86, 91 f., 100 f., 105 f., 113 f., 118, 157 f., 167, 201, 310 f., 336 Register 377 patrilateral 100, 336 Patrilinearität, patrilineal 100 f., 336 patrilineare Abstammung 100 f., 113 f. Patrilokalität, patrilokal 100, 105 f., 214, 336 patrilokal-exogam 105, 336 Periodendaten 52 f. Periodeneffekt 53 Persönliche ? Beziehungen Pflegearbeit 312 ff. »Pillenknick« 40 Pluralisierung von Lebensformen 34 ff. Polarisierung (Familie und Kinderlosigkeit) 39, 312 ff. ? Milieu-Unterschiede Polarisierung der Geschlechtscharaktere 129 ff., 140, 336 Polyandrie 101, 108, 337 Polygamie 89, 101, 337 Polygynie 85, 89, 101, 108, 337 Postmoderne Ehe und Familie 136, 165, 208, 215, 303 ff. Pränatale Diagnostik 222, 224, 319 Praxistheorie 202 Primaten 79 f., 91, 106 Primatenforschung 106 ff. Privatheit, Privatraum 122 ff., 147 ff., 239, 241 Professionalisierung d. ? Elternschaft; Familienarbeit Proletarische Familie ? Arbeiterfamilie Promiskuität 337 Psychoanalyse 178 Psychologisierung (von Ehe und Familie) 125, 129 ff. Puritanische Ehe und Familie 115, 125 Querschnittdaten 52 Rational-Choice-Theorien 159 ff., 177, 201 Rationale Wahl 162, 175, 177 Realteilung 134 f., 337 Rentensystem 286 ff. Reproduktion, biologische 144 f., 153, 318 Reproduktion, soziale 144 ff., 153 Reproduktionsmedizin 222 ff., 261, 318 f., 337 Reproduktionsstrategien 81 ff. Ressourcentheorie ehelicher Machtverhältnisse 158, 201 Rollen, familiale 140 f. Romantische Liebe ? Liebe Säkularisierung von Ehe und Familie 115 »Sandwich«-Generation 211, 337 Säuglingssterblichkeit 62 f. Scheidung 18, 58 ff., 186 ff., 337 Scheidungsrecht 272, 275 »Scheinehe« 272 Schließung, soziale 175, 179 Schuldprinzip (Scheidungsrecht) 189, 275, 277, 337 Schwägerschaft 95 ff., 337 Schwangerschaft - ungeplante 220 Schwiegerverwandtschaft ? Schwägerschaft Schwippschwager/ -schwägerin 337 Selbstreflexion 239 ff., 249 f., 262 Selbstthematisierung 243 ff., 262 f. Selbstverwirklichung 32, 53, 72, 146, 239 ff., 262, 303 f. Selektion, genetisch-sexuelle 85 ff. sentiments approach 124 f. Sexualität 114 f., 120 f., 190 f., 194, 318 außereheliche - 121 voreheliche - 121 Single, Singles 30 ff., 251 ff., 302, 338 Sozialisation 144 ff., 153 f. Kollektivierung der - 167 Sozialpolitik ? Familienpolitik, Wohlfahrtsstaat Register 378 Soziobiologie 81 ff., 106, 108 Statuszuweisung 144, 146, 153 Sterblichkeit 61 ff. Stiefeltern 231 f. Stieffamilien 34, 231 f., 338 Strukturfunktionalismus 163 Subjektivierung (von Ehe, Familie und Geschlechterbeziehungen) 125 ff. Subjektivität 123, 133, 148, 152, 244 ff. - und Liebe 127 Symbolischer Interaktionismus 163 Synchronisationsproblem 221 Total Fertility Rate 16, 56 f., 338 Transferleistungen ? Generationsbeziehungen Trennung 188 f. ? Ehescheidungen Treue 193 ff. Übergangsphasen/ Übergänge im Lebenslauf 34 ff., 66, 181, 218 ff., 246 ff. Ungleichheit, soziale 153, 312 ff. - und Bildung 154 f. - und Familie 155 f. ? Milieu-Unterschiede Unilinearität, unilinear 101, 338 Unterhaltsrecht 277 Untreue 193 ff. uterin 101, 338 Uxorilokalität 338 Vater, Väter rechtl. Definition 269 neue(r) - 199 f., 229, 336 Rolle d. - bei der Zeugung (Trobriander) 98 Vaterlosigkeit 199 f. Vaterposition 140, 166 Vaterschaft 338 fragmentierte - 318 genetische/ soziale - 224 f. Unsicherheit der - 87, 108 Vereinbarkeitsproblem 153 f., 226 f., 289, 293 ff., 338 Vererben ? Erben Verlöbnis 271 Vernunft (als männliche Eigenschaft) 128 ff. Verschwägerung ? Schwägerschaft Versorgungsehe 16, 28, 44, 189, 201, 242, 305 Verwandtenehe, Verbot d. - 113 Verwandtenselektion (Biologie) 81 ff., 93 Verwandtensolidarität 84, 93 f. Verwandtschaft 77 ff., 338 biologische und soziale - 77 ff., 92 ff., 97 ff. - als Klassifikationssystem 98 ff. - als Maß sozialer Distanz 98 ff. - als Teil der Sozialstruktur 98 ff. - durch Eheschließung 95 ff. - im Recht 269 f. - und Familie 142 Verwandtschaftsbezeichnungen 94 ff., 99 f. Verwandtschaftsbeziehungen 77 ff., 94 ff., Verwandtschaftsgrade 269, 339 Verwandtschaftsstrukturen 94 ff. Verwandtschaftssystem(e) 96, 339 Verwandtschaftsterminologien 95 ff., 102 ff., 339 Verwitwung 190, 229 Vetter ? Cousins Virolokalität 339 Volkszählung 55, 324 Wahlverwandtschaft 143 Weltbevölkerung 70 Wertewandel 40 ff., 53 Wiederverheiratung 60 f., 186, 190, 231 Witwen, Witwer ? Verwitwung Wohlfahrtsstaat 281 f., 287 Wohnverhältnisse, flexible 215 Register 379 Work-Life-Balance 153 f., 339 ? Vereinbarkeitsproblem Zerrüttungsprinzip (Scheidungsrecht) 189, 272, 277, 339 Zeugungsfamilie Zölibat 114, 339 Zugewinngemeinschaft 273 Zusammenleben ? Nichteheliche Lebensgemeinschaft Zweierbeziehung 172 Zweigeschlechtlichkeit 167 Zweitehe 190 Register 380 Die Klassiker der Wissenssoziologie bei UVK Die Reihe »Klassiker der Wissenssoziologie« führt in die Werke von Wissenschaftlern ein, die für eine Soziologie des Wissens heute von besonderer Relevanz sind. Weitere Infos zur Reihe: www.uvk.de/ kw Bernt Schnettler Thomas Luckmann 2006, 158 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-545-1 Klassiker der Wissenssoziologie 1 Stephan Moebius Marcel Mauss 2006, 156 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-546-8 Klassiker der Wissenssoziologie 2 Martin Endreß Alfred Schütz 2006, 156 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-547-5 Klassiker der Wissenssoziologie 3 Jörg Strübing Anselm Strauss 2007, 152 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-548-2 Klassiker der Wissenssoziologie 4 Gabriela Christmann Robert E. Park 2007, 136 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-559-8 Klassiker der Wissenssoziologie 5 Jürgen Raab Erving Goffman 2007, 150 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-550-5 Klassiker der Wissenssoziologie 6 Reiner Keller Michel Foucault 2008, ca. 150 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-549-9 Klassiker der Wissenssoziologie 7 In Vorbereitung u.a.: Helmuth Plessner ... Émile Durkheim ... Karl Mannheim ... Harold Garfinkel ... Robert K. Merton ... Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Weiterlesen bei UVK Ein umfassender einführender Überblick über klassische und zeitgenössische Theorien. Nicht nach Schulen aneinander gereiht, sondern systematisch und historisch werden die einzelnen Ansätze anhand ihrer jeweiligen »Diagnose« der Moderne vorgestellt. Dadurch werden Zusammenhänge und Unterschiede deutlich. Das Buch richtet sich an Studienanfänger ohne fachspezifische Vorkenntnisse und an alle, die einen Einblick in die soziologische Theorie gewinnen wollen. 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