eBooks

Jürgen Habermas

Eine Einführung

0520
2009
978-3-8385-3227-1
UTB 

Der Band führt in das Werk von Jürgen Habermas und seine Theorie des kommunikativen Handelns ein. Ein einleitendes biografisches Kapitel schildert zentrale Stationen in Habermas' Leben und skizziert die Entwicklung seines Werkes. Der Autor zeichnet nach, wie Habermas in seiner Arbeit zum Strukturwandel der Öffentlichkeit, seiner kritischen Aneignung der Hermeneutik und seiner Anknüpfung an die Sprachpragmatik eine eigenständige Konzeption kritischer Theorie entfaltet und in der Theorie des kommunikativen Handelns zusammenführt. Der Autor berücksichtigt darüber hinaus auch Habermas' neuere Arbeiten. Übersichten, ein Glossar und kommentierte Literaturhinweise sollen Studierenden das Verständnis und die eigenständige Weiterarbeit erleichtern.

UTB 3227 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Köln · Weimar · Wien Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft · Stuttgart Mohr Siebeck · Tübingen Orell Füssli Verlag · Zürich Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich Jens Greve Jürgen Habermas Eine Einführung UVK Verlagsgesellschaft mbH Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8252-3227-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2009 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandfoto: Jürgen Habermas. © ullstein bild - Meller Marcovicz Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de 5 Inhalt 0. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Biographischer und bibliographischer Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 I. Rationalisierung, Öffentlichkeit und Kritik 2. Die Entfaltung der soziologischen Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3. Strukturwandel der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 4. Erkenntnis und Interesse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 II. Die zeitdiagnostische und theoretische Reformulierung des Marxismus 5. Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 6. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 7. Rekonstruktion des historischen Materialismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 III. Rationale Nachkonstruktion und diskursive Verpflichtung 8. Die Theorie der kommunikativen Kompetenz: Das Projekt der Universalpragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 9. Konsenstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 10. Die Diskursethik und ihre Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 IV. Die Theorie des kommunikativen Handelns 11. Das Hauptwerk: Theorie des kommunikativen Handelns . . . . . . . . . . . . . 99 V. Nachmetaphysisches Denken 12. Der philosophische Diskurs der Moderne und das nachmetaphysische Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 VI. Recht, Politik und Religion 13. Recht, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft: Faktizität und Geltung. . . . . 143 14. Postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie. . . . . . . . . 159 15. Postsäkulare Gesellschaft: Die Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . 162 VII. Die Zukunft der menschlichen Natur 16. Das Problem der Biowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 VIII. Schluss 17. Ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 IX. Anhänge 18. Verzeichnis der Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 19. Kommentierte Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 20. Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 21. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 7 Einleitung »In der Sprache berühren sich Erwartung und Erfüllung.« (Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 445) In einem Zeitalter der Fachwissenschaften und des Spezialistentums hat Jürgen Habermas die erstaunliche Leitung vollbracht, nicht nur die Rolle des Wissenschaftlers und die des Intellektuellen auszufüllen, sondern auch ein wissenschaftliches Werk vorzulegen, das über eine einzelne Disziplin hinaus weltweite Aufmerksamkeit und Anerkennung erlangt hat. Dies gilt vor allem für die Soziologie und die Philosophie, jene beiden Disziplinen, denen Habermas qua beruflicher Stellung zugehörig war, aber darüber hinaus hat sein Werk auch in anderen Geistes- und Sozialwissenschaften eine nicht unerhebliche Wirkung entfaltet. Er ist, wie vielfach gesagt wird, bereits ein Klassiker zu Lebzeiten. Habermas’ Werk ist dabei sowohl enorm umfangreich als auch eher schwer zu erschließen. Dies hängt nicht zuletzt mit der Form zusammen, in der Habermas seine Theorie entwickelt hat, nämlich in aller Regel in der Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung gegen andere Autoren. Das gilt für schon für frühe Schriften und erst recht für sein Hauptwerk, die Theorie des kommunikativen Handelns, einer - wie Habermas im Anschluss an Talcott Parsons sagen wird - Verbindung von »theoriegeschichtlicher Rekonstruktion« und »Begriffsanalyse« (TKH I, 7). Habermas’ Fähigkeit, eine Vielzahl anderer Ansätze einer solchen Rekonstruktion zu unterziehen, wirkt auf den Leser beeindruckend, aber häufig auch beängstigend. »Aber wir kennen Husserl, Wittgenstein, Searle und Austin doch gar nicht«, klagte einmal einer meiner Studierenden, der Befürchtung Ausdruck verleihend, ohne eine tiefere Kenntnis all dieser und weiterer Autoren sei dasjenige, was Habermas sagen will, gar nicht erschließbar. In einer gewissen Weise stimmt das natürlich, denn die eigene Gestalt des Habermas’schen Ansatzes besteht ja darin, den behandelten Autoren gegenüber etwas Neues ins Spiel zu bringen. Dennoch lassen sich zentrale Thesen von Habermas sicherlich auch ohne eine vertiefte Kenntnis aller detaillierten Debatten, die er aufnimmt, verstehen. Und wer sich einmal eingelesen hat, erkennt dann bald, wo Habermas von der Rezeption in die Konstruktion der eigenen These übergeht. Diese Einführung will und kann eine solche eingehende Lektüre nicht ersetzen. Sie komprimiert und destilliert und tut dies möglichst so, dass sie auch ohne eingehende Kenntnis von Marx, Hegel, Wittgenstein und Co. die zentralen Aspekte des Habermas’schen Werkes verständlich macht. Im Kern orientiert sich dieses Buch an einer Darstellung der Werkentwicklung. Wie sich zeigen wird, bleibt für Habermas auch bei allen Revisionen eine Frage ein wesentlicher Bezugspunkt, nämlich wie sich eine angemessene Theorie der modernen Gesellschaft formulieren lässt, die zugleich in der Lage ist, eine kritische Theorie dieser Gesellschaft zu sein. Habermas nimmt damit die Grundfrage der kritischen 8 Theorie auf, beantwortet sie aber in einer gänzlich neuen Weise. Während die frühere kritische Theorie davon ausging, dass die moderne Rationalität sich im Wesentlichen als eine von normativen Bindungen losgelöste und verselbständigte Zweckrationalität darstellt, die die Menschen nicht befreit, sondern in einer neuen Weise unter undurchschaute und unbeherrschbare Beschränkungen bringt, geht Habermas davon aus, dass es neben dieser problematischen Form eine weitere Form der Rationalität gibt: eine kommunikative Vernunft, die auf der sprachlichen Verständigung beruht und die in der Moderne erst wirklich freigesetzt wird. Dies führt ihn zu einer deutlich optimistischeren Sicht nicht nur der Vernunft, sondern auch der modernen Gesellschaft. Habermas wehrt sich daher vehement gegen Deutungen, die eine solche Vernunftgeschichte der Moderne ablehnen. Er ist vielmehr der Meinung, das mit dieser kommunikativen Vernunft bezeichnete Projekt der Moderne müsse fortgeführt, nicht aufgegeben werden. Habermas meint freilich auch, dass die gegenwärtige moderne Gesellschaft nach wie vor durch Beschränkungen dieser kommunikativen Vernunft gekennzeichnet ist. Da er zudem der Ansicht ist, dass eine vollständige Umstellung der Gesellschaft auf kommunikative Vernunft nicht geleistet werden kann, sondern dass sie auch auf der Anerkennung von instrumenteller und gegenüber der Kommunikation verselbständigter Zweckrationalität beruht, wird sich ihm auch die Frage stellen, bis zu welchem Maße für eine Gesellschaft kommunikative Rationalisierung möglich und wünschenswert ist. Für Habermas basiert die kommunikative Vernunft nicht nur auf der Annahme, dass Menschen ihrem Handeln und dem Handeln anderer gute Gründe unterstellen, sondern auch darauf, dass sie bereit sind, diese Gründe gegebenenfalls anderen gegenüber zu rechtfertigen - Habermas spricht hier vom Diskurs. Schon in der Sprache ist für ihn das Potenzial einer öffentlichen Erwägung strittiger Fragen angelegt. Seine Kommunikationstheorie verbindet sich an dieser Stelle ganz umstandslos mit seiner Annahme, dass die Öffentlichkeit die Instanz ist, von der aus die Legitimität einer politischen Ordnung nicht nur abhängt, sondern auch hinterfragt werden kann: »Aber eine Form der politischen Willensbildung gibt es, nach deren Prinzip […, J.G.] Entscheidungen von einem in herrschaftsfreier Diskussion erzielten Konsensus abhängig gemacht werden sollen - und das ist das demokratische. Das Prinzip der Öffentlichkeit soll dabei jede andere Gewalt als die des besseren Argumentes ausschließen.« (Habermas 1969: 123) Unter Soziologen ist ein Einwand gegen Habermas’ Arbeiten gängig, der sich auch hier schon jemandem aufdrängen mag. Habermas sei nicht nur schwierig, sondern auch - so der Vorwurf - »normativ«, er schildere also, wie die Welt sein soll, nicht wie sie ist. Dem »aufgeklärten« Zeitgenossen und Soziologen mag eine von kommunikativer Vernunft und öffentlicher Erörterung gekennzeichnete Gesellschaft wünschenswert scheinen, aber ist die Gesellschaft nicht auch von Diskursverweigerung, Egoismus, scheinhaften Begründungen und nicht-legitimen Machtbeziehungen etc. 9 durchsetzt? Und der Soziologe wird hinzufügen, es sei doch Aufgabe der empirischen Wissenschaften, zu bestimmen, was der Fall ist, und nicht, was der Fall sein soll. Das weiß auch Habermas und obwohl er nicht so weit gehen möchte, insbesondere philosophische Fragen gänzlich als solche der Wissenschaft zu verstehen, geht es ihm in seiner Formulierung einer »Gesellschaftstheorie, die sich bemüht, ihre kritischen Maßstäbe auszuweisen« (TKH I, 7) genau auch um die folgende These: Dass die kritische Theorie zeigen kann, inwiefern ihre normativen Maßstäbe nicht beliebige sind, sondern eine empirische Referenz haben, um damit - in den Worten von Axel Honneth - »diejenigen normativen Ideale freizulegen, die sich als Bezugspunkte einer begründeten Kritik deswegen anbieten, weil sie Verkörperungen gesellschaftlicher Vernunft darstellen.« (Honneth 2007: 66) 10 1. Biographischer und bibliographischer Abriss Jürgen Habermas wird am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren. Aufgewachsen ist er in Gummersbach, dem Familienwohnsitz. Habermas’ Mutter, Grete Habermas, geb. Köttgen (1894-1983) hatte sich jedoch aufgrund der Verbundenheit mit ihrer Heimatstadt Düsseldorf entschieden, ihre Kinder dort zur Welt zu bringen. Habermas’ Vater, Ernst Habermas (1891-1972), ist in Gummersbach als Syndikus eines Arbeitgeberverbandes und als Leiter einer Nebenstelle der Bergischen Industrie- und Handelskammer tätig (Wiggershaus 2004: 7f.). Als Jugendlicher wird Habermas, wie fast alle Zeitgenossen, Mitglied des Jungvolks, später der Hitlerjugend. Dem eigentlichen HJ- Dienst entgeht er aber dadurch, dass er als Sanitäter (im damaligen Sprachgebrauch: als »Feldscher«) und in der Sanitäterausbildung tätig ist. 1 Für kurze Zeit agiert er noch als Fronthelfer, einem Einzug zur Wehrmacht 1945 entgeht er durch Zufall. Habermas hat die auf die NS-Zeit folgende Phase immer als prägend für seine Perspektive betrachtet: »Aber erst die Zäsur von 1945 hat meine Generation um die Erfahrung bereichert, ohne die ich wohl kaum zur Philosophie und Gesellschaftstheorie gelangt wäre.« (ZNR, 21) Er stellt fest: »Ich selbst bin ein Produkt der ›reeducation‹, und ich hoffe, kein allzu negatives. Ich möchte damit sagen, daß wir damals gelernt haben, daß der bürgerliche Verfassungsstaat in seiner französischen oder amerikanischen oder englischen Ausprägung eine historische Errungenschaft ist.« (Interview mit Horster/ van Reijen, in Habermas 1981b: 513) Biographisch prägend sind für Habermas zudem die Beeinträchtigungen durch seine Gaumenoperationen. Diese haben früh sein »Bewusstsein einer tief reichenden Abhängigkeit des einen vom anderen verschärft« (ZNR, 17). Und er benennt die mit seiner Behinderung verbundenen »Kommunikationsschwierigkeiten und Kränkungen« (ZNR, 16) in seiner Jugendzeit, die auf die Dimension der Bedeutung von Anerkennung im sprachlichen Medium verweisen (ZNR, 17). Nach seinem Abitur 1949 beginnt Habermas in Göttingen zu studieren, wechselt kurz nach Zürich und ist ab dem Wintersemester 1950/ 51 als Student in Bonn eingeschrieben. Im Wesentlichen studiert er Philosophie bei Erich Rothacker, bei dem er sich 1954 mit einer Arbeit über Schelling (Das Absolute und die Geschichte. Von der Zwiespältigkeit in Schellings Denken) promoviert. Zu dieser Zeit ist der allgemeine philosophische Horizont durch die Ausläufer des Neukantianismus, die Phänomenologie und die philosophische Anthropologie bestimmt. Martin Heidegger und Arnold Gehlen sind präsent, »aber von Marx war ebensowenig die Rede wie von analytischer 1 Für eine tiefere »Verstrickung« oder Verbundenheit mit dem NS-Regime gibt es keine Hinweise. Zur Unhaltbarkeit eines entsprechenden Gerüchts, vgl. Hans-Ulrich Wehler: Habermas hat nichts verschluckt. Warum der Philosoph keinen Grund hatte, seine Zeit bei der Hitlerjugend zu vertuschen zur Genese eines perfiden Gerüchts. In: DIE ZEIT, 61. Jg., Nr. 45 (2.11.2006), S. 44. 11 Philosophie, von Freud, von Soziologie und Gesellschaftstheorie« (Habermas 1981b: 469). Zu einer Enttäuschung über Heidegger kommt es, als Karl-Otto Apel, der ebenfalls Doktorand bei Rothacker ist und später wie Habermas an einer sprachanalytisch geprägten Transformation der Philosophie (Apel 1976c, Apel 1976b) arbeiten wird, Habermas auf einen Satz aus Heideggers Einführung in die Metaphysik hinweist, in der von der »inneren Wahrheit und Größe der Bewegung« die Rede ist (Habermas 1997: 86). Zum einen erfolgt daraufhin eine Distanzierung von Heidegger, der bis dahin, »wenn auch nur aus der Entfernung, der maßgebende Lehrer gewesen« (ZNR, 23) ist. Zum anderen berühren sich jetzt für Habermas Politik und Philosophie unmittelbar: »Politik und Philosophie, diese beiden Gedankenuniversen blieben lange getrennt. Sie prallten erst an jenem Wochenende im Sommersemester 1953 aufeinander.« (ZNR, 23) Habermas verfasst daraufhin einen Artikel, der im selben Jahr in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheint. »Mit seinem Heidegger-Beitrag erregte Habermas erstmals Aufsehen. Der Artikel brach mit einem Tabu, das auf der Thematisierung oder gar kritischen Erörterung früherer oder nachwirkender Verbindungen zum Nationalsozialismus lag, und zugleich mit dem Kollegialitätsprinzip stark belasteter Berufsgruppen.« (Wiggershaus 2004: 30) 1953 liest Habermas die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno. Habermas’ Aufsatz Die Dialektik der Rationalisierung. Vom Pauperismus in Produktion und Konsum, der 1954 im Merkur veröffentlicht wird, knüpft bereits deutlich an der Perspektive der kritischen Theorie an und verweist, anders als die Dissertation, auf die kommende Entfaltung der gesellschaftstheoretischen Perspektive. Kritische Theorie Der Begriffder KritischenTheorie bezeichnet eine sozial- und kulturwissenschaftliche Strömung, die die moderne Gesellschaft mit Bezug auf Karl Marx als eine primär durch ihre kapitalistische Produktionsweise und damit einhergehende Entfremdungen deutet. Die Bezeichnung »kritische Theorie« geht auf einen Aufsatz von Max Horkheimer über traditionelle und kritische Theorie zurück (Horkheimer 2003). Neben dem Begriffder kritischen Theorie wird die Gruppe der Personen, die ihr zugehören, auch als Frankfurter Schule bezeichnet, da sie dem Frankfurter Institut für Sozialforschung angehörten oder zumindest an deren Arbeiten beteiligt waren. Zu den prominentesten Namen zählen neben Max Horkheimer Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Leo Löwenthal, Franz Neumann, Otto Kirchheimer, Friedrich Pollock und Jürgen Habermas. Das Frankfurter Institut für Sozialforschung wurde 1924 unter der Leitung von Carl Grünberg gegründet und verdankte sich dem Bestreben des Millionärssohnes und Mäzens Felix Weil, der gemeinsam mit Kurt Gerlach unter Anbindung an 12 die Universität die Ansiedlung des Instituts in Frankfurt initiiert hatte. Ab 1930 wird Max Horkheimer Leiter des Instituts. Bei aller Verschiedenheit der Personen, die der kritischen Theorie zugerechnet werden, liegen gemeinsame Annahmen in der Annahme einer Perspektive auf die Gesamtgesellschaft, also eine Zurückweisung einer lediglich fachspezifischen Sichtweise auf soziale Prozesse und ebenso die Zurückweisung eines Wissenschaftsverständnisses, das sich an den Naturwissenschaften orientiert. Weil die Gesellschaftswissenschaften immer schon Teil der Gesellschaft sind, lässt sich die wissenschaftliche Praxis der kritischen Theorie nach nicht von der Intention trennen, die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen zu kritisieren. Eine strikte Trennung von Theorie und Praxis wird daher von den Vertretern der kritischen Theorie abgelehnt. Ihren Maßstab der Kritik entnimmt die kritische Theorie zwar auch dem Marx’schen Werk, zugleich ist sie aber Marx gegenüber kritisch. Einerseits wird der Rolle des Staates mehr Aufmerksamkeit gewidmet, denn der liberale Frühkapitalismus war nicht zuletzt in Deutschland einer Form gewichen, in der der Staat Produktions- und Arbeitsbedingungen entscheidend gestaltete (vgl. auch Dubiel 2001: 23ff.). Daher rührt der Begriffdes »Spätkapitalismus« (Horkheimer 2003: 254, vgl. zur Diskussion um den Staatskapitalismus in der frühen kritischen Theorie auch Wiggershaus 1986: 314ff.). Andererseits ist die kritische Theorie durch eine Distanz gegenüber der Annahme gekennzeichnet, es sei das Proletariat als das revolutionäre Subjekt zu betrachten, das die Transformation der Gesellschaft hervorbringen würde. In welchem Maße eine radikale Transformation der Gesellschaft überhaupt wünschenswert und praktisch verwirklichbar war, darüber herrschte in der kritischen Theorie keineswegs Einigkeit. Vertrat beispielsweise Marcuse hinsichtlich einer solchen Transformation eine emphatische und optimistische Haltung, so äußerten sich Horkheimer und Adorno zurückhaltend. Einer düsteren Zeitdiagnose, die Horkheimer mit dem Begriffeiner verwalteten Welt (Horkheimer 1970) zusammenfasste und der Annahme einer im Ganzen beschädigten Lebensform, die Adorno insbesondere in der Mimina Moralia (Adorno 1951) heraufbeschwor, stand zugleich eine Skepsis gegenüber einer umfassenden Veränderung der Gesellschaft zur Seite. Dies hatte nicht nur mit der Abkehr von der Geschichtstheorie des Marxismus zu tun, die von einer durch das Proletariat getragenen Überwindung des Kapitalismus ausging, sondern auch mit der Erfahrung des Faschismus. Zudem ließen die sozialistischen Staaten die totalisierenden Gesellschaftsentwürfe fragwürdig erscheinen und machten den positiven Gehalt bürgerlicher Grundrechte deutlich. Hinzu kam darüber hinaus eine strategische bedingte Abkehr von einer Revolutionssemantik, welche der gesellschaftlichen Akzeptanz während des Exils in den USA und auch nach der Rückkehr nach Frankfurt nach dem Krieg im Wege gestanden hätte. Es hat sich eingebürgert, von einer ersten und einer zweiten Generation der Frankfurter Schule zu sprechen. Zur Letzteren wird Jürgen Habermas gerechnet. Mittlerweile existiert eine dritte Generation, ihr Hauptvertreter ist Axel Honneth, der seit 2001 Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung ist. 13 Über die Frankfurter Schule informiert grundlegend die Studie von Rolf Wiggershaus (Wiggershaus 1986), sie führt die »klassische« und immer noch lesenswerte Arbeit von Martin Jay (Jay 1976) fort. Zur Geschichte der Frankfurter Schule vgl. ebenfalls die Arbeit von Albrecht und anderen (Albrecht et al. 1999). Einen guten Überblick über die Themen und Perspektiven bieten die Beiträge in einem von Demirovic herausgegebenen Band (Demirovic 2003). Zu dieser Zeit, nach dem Abschluss seines Studiums, arbeitet Habermas als freier Journalist. Ab 1956 wird er - nicht zuletzt aufgrund seines Beitrags im Merkur zur Dialektik der Rationalisierung - Assistent von Theodor W. Adorno, der aus dem Exil nach Frankfurt zurückgekehrt war und dort als geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozialforschung und als Professor an der Universität tätig ist. Für Habermas ist dies eine Gelegenheit, sich auf der Basis der Philosophie der Soziologie zuzuwenden - einem Fach, das Habermas nicht studiert hat, aber von dem er sich einen deutlich stärkeren Beitrag zur gesellschaftlichen Aufklärung verspricht (Wiggershaus 2004: 33). Während seiner Zeit am Institut für Sozialforschung beteiligt sich Habermas an der Untersuchung zu Student und Politik (Habermas et al. 1961), für die er die Einleitung verfasst, daneben schreibt er auf eine Anfrage von Hans-Georg Gadamer einen Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus, der 1957 in der Philosophischen Rundschau erscheint (wiederabgedruckt in Habermas 1978b). Im Sommer 1959 kommt es, von Horkheimer initiiert, zu einem Bruch mit dem Frankfurter Institut. Zum einen lehnt Horkheimer eine Publikation von Student und Politik im Rahmen der Institutsveröffentlichungen ab (der Band erscheint dann außerhalb der Schriftenreihe des Instituts), zum anderen fordert er von Habermas die Beteiligung an einem weiteren Projekt des Instituts - Habermas will sich hingegen seiner Habilitationsschrift zuwenden. Horkheimer kritisiert Habermas in einem Brief an Adorno scharf. Er wirft ihm Empirieferne vor und verurteilt seine Überzeugung, die Auflösung der bürgerlichen Herrschaft stehe unmittelbar bevor - ein Gedanke, den Horkheimer für bedenklich hält: »Worum es H. [Habermas, J.G.] geht, ist die Marx’sche Theorie und Praxis. Selbst in den Jahren, während der Nationalsozialismus heraufzog, während des Dritten Reiches, wußten wir um die Vergeblichkeit des Gedankens an Rettung durch Revolution. Sie heute hier als aktuell zu verkünden, ohne Reflexion auf die Konsequenzen des ›Ausgesprochenwerdens‹, deren Fehlen H. bei Marx kritisiert, kann nur den Geschäften der Herren im Osten Vorschub leisten, denen er doch den Kampf ansagt, und denen sie in Wirklichkeit ausgeliefert wäre, oder den potentiellen Faschisten im Inneren in die Hand spielen.« (in Claussen 2003: 412) 2 Horkheimer empfiehlt Adorno daher, auf eine Trennung von Habermas zu drängen: 2 Der Briefwechsel mit Adorno ist ebenfalls abgedruckt in Horkheimer (Horkheimer 1996). 14 »Wahrscheinlich hat er als Schriftsteller eine gute, ja glänzende Karriere vor sich, dem Institut würde er einen großen Schaden bringen. Lassen Sie uns zur Aufhebung der bestehenden Lage schreiten und ihn in Güte dazu bewegen, seine Philosophie irgendwo anders aufzuheben und zu verwirklichen.« (in Claussen 2003: 415) Daraufhin kündigt Habermas am Institut und fragt bei Wolfgang Abendroth an, dem »damals wohl einzigen entschieden sozialistischen und sich offen zum Marxismus bekennenden Ordinarius an westdeutschen Universitäten« (Wiggershaus 2004: 49). Er erklärt sich einverstanden, Habermas in Marburg zu habilitieren. Die Habilitationsschrift mit dem Titel Strukturwandel der Öffentlichkeit wird 1961 abgeschlossen und 1962 veröffentlicht. Bereits 1961 wird Habermas - nicht zuletzt aufgrund der Unterstützung durch Gadamer - Professor für Philosophie in Heidelberg. In diese Zeit fällt auch Habermas’ Beteiligung am Positivismusstreit (s. Kasten in Kapitel 4). 1964 verlässt Habermas Heidelberg und wird Nachfolger Horkheimers auf dessen Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie in Frankfurt. In dieser Phase entstehen sein Werk Erkenntnis und Interesse (1968) und seine Arbeiten zu Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ (1969). In Erkenntnis und Interesse formuliert er die These, dass Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie zu entfalten sei. Diesen Zusammenhang stellt er über die Annahme her, die menschliche Gattung sei durch drei grundlegende Interessen gekennzeichnet: ein technisches an der Beherrschung der Natur, das sich in den Naturwissenschaften niederschlage, ein praktisches, das auf Verstehen gerichtet sei und sich in den Geisteswissenschaften zur Geltung bringe, sowie schließlich ein emanzipatorisches als dessen Ausdruck Habermas die Psychoanalyse deutet (s. dazu ausführlich Kapitel 4). Die Zeit in Frankfurt ist zudem durch die Auseinandersetzung mit den Schüler- und Studentenprotesten geprägt. Habermas nimmt dabei eine zwiespältige Haltung ein. Einerseits stimmt er dem Anliegen einer Transformation der Hochschule zu - die Stichworte lauten hier: Stärkung der Autonomie der Hochschule, Demokratisierung durch Auflösung des Lehrstuhlprinzips zugunsten von Arbeitsgruppen, Stärkung der Mitbestimmungsrechte aller Statusgruppen (Habermas 1969: 113f., 131, 202ff.). Andererseits richtet sich Habermas gegen einen bloßen Aktivismus (Habermas 1969: 8, 11) und spricht in diesem Zusammenhang auf einem Kongress in Hannover zur »Hochschule in der Demokratie - Bedingungen und Organisation des Widerstandes« gar vor einem »linken Faschismus«, der sich in Teilen der Protestbewegung ausmachen ließe (Habermas 1969: 148) - eine Bemerkung, für die er sich später deutlich zu rechtfertigen sucht (Habermas 1969: 149ff.). 3 Habermas’ Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung ist darüber hinaus auch im Hinblick auf seine Deutung der Proteste aufschlussreich. Im Kern interpretiert Habermas die Revolte nämlich als Ausdruck eines jugendlichen Protestes gegen eine asketisch-leistungsorientierte Lebenshaltung, die angesichts einer Wirtschaft, die in der Lage ist, einen Überschuss an Wohlstand 3 Zur Diskussion um Habermas’ Stellung zum Studentenprotest vgl. auch den Band Die Linke antwortet Jürgen Habermas (Abendroth 1968). 15 zu produzieren, überholt wirken muss. 4 Folgt man der Analyse zu den Krisentendenzen des Spätkapitalismus, die Habermas in den 1970er-Jahren ausarbeitet, so ist der Studentenprotest Ausdruck für eine Motivationskrise. Diese besteht darin, dass der Kapitalismus traditionelle Werte und Lebensformen untergräbt, aber an ihre Stelle letztlich nur Ersatzstoffe im Sinne von Kompensationsforderungen über immer höhere Einkommen und Statusgewinne setzen kann. Dies, so Habermas, ist aber keine Grundlage, die es vermag, Legitimität zu sichern (vgl. dazu Kapitel 6). Über die Hochschulreform hinaus teilt Habermas das Anliegen einer Veränderung der Gesellschaft. Aber auch hier warnt er gleichzeitig immer vor einem die gegebenen Institutionen übersehenden revolutionären Geschehen. Habermas’ Bild entspricht eher einer Transformation der Institutionen, vollzogen über eine weitere Vertiefung des Sozialstaatgedankens. Unverkennbar wirkt bei ihm die aus der reeducation gezogene Lehre des unverzichtbaren Gehalts der bürgerlichen Grundrechte nach: »Daraus habe ich eine politische Folgerung nachdrücklich gezogen: die Tendenzen zur Aushöhlung der formal rechtsstaatlichen Demokratie, die dem autoritären Wohlfahrtsstaat innewohnen, sind nur aufzufangen, wenn die geschichtliche Transformation des liberalen Rechtsstaates in eine sozialstaatliche Demokratie auf der Grundlage und unter Ausschöpfung geltender Verfassungsnormen mit Willen und Bewußtsein fortgesetzt wird.« (Habermas 1969: 43, vgl. auch 49) Habermas und der Marxismus Obwohl sich Habermas in die marxistische Tradition stellt, ist seine Anknüpfung an Marx immer mit einer kritischen Distanz versehen. So zieht sich durch seine Kritik an Teilen der studentischen Protestbewegung ein bestimmendes Motiv: »Keine sozialistische Emanzipation ohne Verwirklichung der bürgerlichen Freiheitsrechte.« (Habermas 1990: 25) Für Habermas meint daher Sozialismus eine »soziale Demokratie« (vgl. Habermas 1973: 9ff.) oder »radikale Demokratie« (Habermas 1990: 192, 200). Sicherlich ergeben sich dabei Akzentverschiebungen im Werk. Die Perspektive einer Kritik, nach der eine solche einen Bruch mit den bestehenden Gesellschaftsstrukturen bedeutet und den Habermas in seinem Vorwort zu Student und Politik deutlich hervorhebt (s. auch unten) und seine Kritik an Institutionen als Mechanismen der Macht, die er in Erkenntnis und Interesse entfaltet, werden ansatzweise in der Theorie des kommunikativen Handelns, deutlich 4 So gehören die protestierenden Studenten »zur ersten Generation, die unbefangen das Mißverhältnis wahrnimmt, das zwischen dem potentiellen Reichtum, der potentiellen Befriedigung einer industriell entfalteten Gesellschaft und dem faktischen Leben besteht, das die Massen darin führen. Sie sind die erste Generation, die nicht mehr versteht, warum das Leben des einzelnen trotz des hohen Standes der technologischen Entwicklung nach wie vor durch die Ethik des Leistungswettbewerbs, durch den Druck der Statuskonkurrenz, durch Werte der possesiven Verdinglichung und der angebotenen Surrogatbefriedigungen determiniert ist.« (Habermas 1969: 170, vgl. auch 15) 16 aber in Faktizität und Geltung zurückgenommen. Hier wird kommunikative Macht in den bestehenden Institutionen, dem Parlament und der Zivilgesellschaft, verortet - eine grundlegende Veränderung der Institutionenordnung erscheint nicht mehr notwendig. Habermas’ Fassung des Marxismus ist zudem durch eine spezifische Auffassung darüber gekennzeichnet, wo die revolutionären Potentiale zu verorten sind und die ihn zu der grundlegenden Unterscheidung von Arbeit und Interaktion führt, die er bereits in Erkenntnis und Interesse ausarbeitet und die auch seiner Rekonstruktion des Historischen Materialismus zugrundeliegt. Hatte Marx die revolutionäre Dynamik nach Habermas in der Dimension der Arbeit gesehen, so liegt sie für Habermas im Bereich der Interaktion oder - wie Habermas später sagen wird - im kommunikativen Handeln: »Statt auf die Vernunft der Produktivkräfte, letztlich also der Naturwissenschaft und der Technik, vertraue ich auf die Produktivkraft der Kommunikation.« (Habermas 1990: 85) Dieser grundlegende Gedanke seiner Marxrezeption hat früh die Kritik einer orthodox geprägten Marxauffassung evoziert (Dallmayr 1974), denn mit der Betonung der kommunikativen Dimension scheint die materialistische Grundausrichtung des Marxismus unterlaufen zu werden. Gleichwohl ist Habermas noch in der Theorie des kommunikativen Handelns - wie wir später sehen werden - der Ansicht, dass die kapitalistische Produktionsweise auf Institutionen angewiesen ist, die kommunikative Vernunft einschränken. Dieser Gedanke wird erst mit Faktizität und Geltung revidiert. »Diese kommunikative Vernunft hat sich auch in den bürgerlichen Emanzipationsbewegungen zur Geltung gebracht - in den Kämpfen für Volkssouveränität und Menschenrechte. Sedimentiert hat sie sich in den Einrichtungen des demokratischen Rechtsstaates und in den Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeit.« (Habermas 1990: 85) 1971 ist Habermas für kurze Zeit in Princeton, wo er mit seinen Christian-Gauss-Lectures eine Neubestimmung der Grundlagen seiner Auffassung der kritischen Theorie einleitet. Diese sucht Habermas nun nicht mehr in allgemeinen Gattungsinteressen, sondern in den Strukturen der Sprache. Damit verabschiedet er sich zugleich von der erkenntnistheoretischen Grundlegung der Gesellschaftstheorie, die er in Erkenntnis und Interesse verfolgt hatte. Die Grundlagen der Gesellschaftstheorie sieht er mittlerweile in der Sprachtheorie, denn diese erlaube es - so die bei Habermas seither leitende Vorstellung -, die Schwächen der Bewusstseinsphilosophie zu überwinden. Die mit Descartes beginnende Bewusstseinsphilosophie, ist zum einen durch einen erkenntnistheoretischen Zugang zur Philosophie gekennzeichnet, d. h. sie fragt, im Gegensatz zur Ontologie nicht nach dem, was ist, sondern wie unsere Erkenntnis beschaffen ist und welche Fundamente diese enthält. Descartes sieht diese Fundamente im Selbstwissen, da dieses das einzige unbezweifelbare Wissen darstellt. Nach Habermas beginnt mit der Sprachphilosophie eine entscheidende Wende (Richard Rorty bezeichnet sie im Anschluss an Gustav Bergmann als den »linguistic turn«, Karl-Otto Apel spricht von 17 der »Transformation der Philosophie«). Gehe man philosophisch nicht vom Subjekt, sondern von der Sprache aus, so werde zum einen deutlich, dass Subjekte immer im Zusammenhang mit anderen Subjekten stehen (Intersubjektivität). Gleichzeitig eröffne die Sprache den Zugang zu Dimensionen des Wissens, die über rein kognitive Weltbeziehungen hinausgingen. Insbesondere die moralische Dimension sprachlicher Verständigung wird dabei von Habermas betont. 1971 bekommt Habermas die Chance, sich in Deutschland ganz der Forschung zu widmen: Die Max-Planck-Gesellschaft ermöglicht es ihm, gemeinsam mit Carl- Friedrich von Weizsäcker das neu ins Leben gerufene »Max-Planck-Institut zur Erforschung der wissenschaftlich-technischen Welt« in Starnberg zu leiten. Mit Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus legt Habermas 1973 seine Deutung einer marxistisch inspirierten Theorie des Kapitalismus vor, die freilich nicht mehr davon ausgeht, dass der Klassenkonflikt entlang der organisierten Interessen von Kapital und Arbeit verläuft, sondern sich auf die Frage zuspitzt, in welchem Maße der Staat in der Lage ist, widersprüchlichen Ansprüchen hinreichend Rechnung zu tragen. Eine entscheidende Reformulierung der Geschichtstheorie präsentiert Habermas in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. An die Stelle der Geschichtsphilosophie setzt Habermas hier eine Theorie evolutionärer Stufen, die die Gesellschaftsentwicklung im Anschluss an die Arbeiten von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg zur kognitiven und moralischen Entwicklung von Individuen versteht. Zudem macht Habermas den Gedanken stark, dass sich Gesellschaftsumbrüche durch Veränderungen des »Überbaus« ergeben können, so dass es nicht, wie im orthodoxen Marxismus gedacht, die Umbrüche der materiellen Bedingungen der Produktion sind, die solche Gesellschaftsumbrüche erzwingen. 1981 erscheint unter dem Titel Theorie des kommunikativen Handelns das Hauptwerk von Jürgen Habermas. Darin legt er das Konzept des kommunikativen Handelns der Gesellschaftstheorie zugrunde. Gesellschaftliche Rationalisierung versteht Habermas als Freisetzung des Potentials kommunikativer Rationalität. Einer vernunftskeptischen Haltung setzt Habermas damit einerseits eine vernunftoptimistische Deutung der Gesellschaftsentwicklung entgegen. Gleichzeitig sieht er andererseits die Gefahren einer Verselbständigung des strategischen Handelns in den anonymen Subsystemen der Wirtschaft und der Verwaltung, die sich von den kommunikativ strukturierten Bereichen der Gesellschaft abzulösen und schließlich deren Operieren zu beeinträchtigen drohen. Die Ambivalenz der modernen Gesellschaft erklärt sich damit aus der Gleichzeitigkeit kommunikativer Rationalisierung und systemischer Verselbständigung (s. ausführlich dazu Kapitel 11). 1981 löst sich das Starnberger Institut auf, nachdem Habermas von seiner Direktorenposition zurücktritt - nicht zuletzt »zwingen« ihn zu diesem Schritt die verbliebenen Mitarbeiter, die sich auf eine Festanstellung einklagen wollen. In München wird Habermas schon während seiner Tätigkeit am Max-Planck-Institut eine Professur verwehrt, die eigentlich mit der Institutsposition verknüpft ist - er erhält nicht einmal die Honorarprofessur. »Seine neomarxistischen Tendenzen und seine Kritik etwa am Berufsverbot von DKP-Mitgliedern machen Habermas vielen konservativen Kollegen 18 verdächtig.« (Funken 2008: 24, vgl. zu den Hintergründen auch das Gespräch mit Essler, Essler 2008) Gerade auch der nach der Schließung des Instituts weiterhin versagte Lehrstuhl in München führt Habermas 1983 nach Frankfurt auf einen Lehrstuhl für Philosophie zurück (Habermas 1985a: 209). Seine erste Vorlesung beschäftigt sich mit dem »Diskurs der Moderne«, dem 1985 die entsprechende Buchpublikation Der philosophische Diskurs der Moderne folgt. Habermas setzt sich darin mit den zu dieser Zeit aktuellen Strömungen einer postmodernen und poststrukturalistischen Philosophie auseinander, die seines Erachtens dort zu weit gehen, wo sie das aufklärerische Projekt der Moderne verwerfen. An diesem Projekt der Moderne will Habermas weiterhin festhalten. Das Rüstzeug dafür entnimmt er seinen eigenen Überlegungen zu einer die Grenzen der Bewusstseinsphilosophie überschreitenden Konzeption des kommunikativen Handelns. Im Grunde genommen diagnostiziert Habermas die von ihm kritisierten Strömungen mittels der Diagnose, die bereits seine Lektüre der Dialektik der Aufklärung bestimmt hatte: Die berechtigte Kritik an einer auf die instrumentelle Dimension der Vernunft begrenzte Auffassung der Vernunft darf nicht dahin führen, das Vernunftprojekt im Ganzen zu verwerfen. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1994 bleibt Habermas Inhaber des Lehrstuhls. Seine Publikationstätigkeit setzt er auch nach dem Ausscheiden aus dem Universitätsbetrieb unvermindert fort. 1994 erscheint Faktizität und Geltung, eine Publikation, die im Zusammenhang mit der Verleihung des Förderpreises des Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Programms 1986 stand, das die Finanzierung einer fünf Jahre bestehenden Forschergruppe erlaubte. In dieser Arbeit entfaltet Habermas die Idee einer deliberativen, also auf öffentlicher Erwägung beruhenden, Demokratie. In den folgenden Jahren wird eine Reihe von weiteren Arbeiten publiziert. Manche setzen Überlegungen fort, die auf kritische Diskussionen früherer Positionen verweisen (Wahrheit und Rechtfertigung, Kommunikatives Handeln und Detranszendentalisierte Vernunft), andere wenden sich der globalen Konstellation zu (Die postnationale Konstellation) und in jüngerer Zeit dem Streit um die Bioethik (Die Zukunft der menschlichen Natur) und der Frage der Religion (Zwischen Naturalismus und Religion). Neben seinen wissenschaftlichen Publikationen hat Habermas immer wieder zu politischen Geschehnissen Stellung genommen, so zum Kosovo-Konflikt, zum Irak- Krieg, zur deutschen Wiedervereinigung und zur europäischen Einigung. Eine prominente Rolle spielt Habermas im »Historikerstreit«, der durch einen Aufsatz aus seiner Feder in der ZEIT vom 11.7.1986 ausgelöst wird und in dem Habermas den Historikern Ernst Nolte, Michael Stürmer und Andreas Hillgruber vorwirft, die deutschen Verbrechen durch das nationalsozialistische Regime zu relativieren (die Debatte ist dokumentiert in Augstein/ et al. 1995, Habermas’ Beiträge zur Debatte finden sich auch in Habermas 1987). Habermas’ zeitpolitische Äußerungen und seine Wahrnehmung als maßgeblicher Intellektueller haben dazu geführt, dass manche Begriffe zu Leitbegriffen zeitdiagnostischer Beschreibungen geworden sind. Dies gilt für den Begriffdes Verfassungspatriotismus, der ursprünglich auf Dolf Sternberger zurückgeht, aber auch 19 die Formel von der »Neuen Unübersichtlichkeit«. 5 Dabei hat Habermas beide Rollen, die des Wissenschaftlers und die des Staatsbürgers, der zu aktuellen Themen Stellung nimmt, immer getrennt. Obwohl er die Annahme einer strikten Trennung von wissenschaftlicher Beobachtung und wertender Stellungnahme, wie sie Max Weber deutlich formuliert hatte, nicht ganz folgen will, bleibt er bei der strikten Rollentrennung: „Die Rollen des Forschers und des akademischen Lehrers sind mit guten Gründen aus dem Alltag ausdifferenziert; sie müssen verschieden bleiben von der Rolle des politisch unmittelbar engagierten Staatsbürgers oder Publizisten.« (Habermas 1985a: 212) 6 Im Laufe seiner Karriere hat Jürgen Habermas eine Reihe von Ehrendoktor-Titeln, Mitgliedschaften und Preisen erhalten. Zu den wichtigsten gehören: Hegel-Preis der Stadt Stuttgart (1974), Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (1976), Adorno-Preis der Stadt Frankfurt (1980), Geschwister-Scholl-Preis der Stadt München (1985), Förderpreis für deutsche Wissenschaftler im Gottfried Wilhelm Leibniz-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1986), Sonning-Preis, Kopenhagen (1987), Karl-Jaspers-Preis der Ruprecht-Karls-Universität und der Stadt Heidelberg (1995), Theodor-Heuss-Preis und Hessischer Kulturpreis (1999), Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2001), Kyoto-Preis (2004), Holberg-Preis (2005), der Bruno-Kreisky-Preis und der Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen (2006), Europapreis für politische Kultur (2008). (Eine vollständige Übersicht ist auf der Homepage des Suhrkamp-Verlages zu finden.) 5 Manchem geht Habermas’ Wortführerschaft zu weit, vgl. so die Polemik von Peter Sloterdjik in der ZEIT, 37, 1999. Ähnlich auch Bolz (Bolz 2008) 6 Das spiegelt sich auch der Publikationspolitik. So erscheinen die Arbeiten zu Zeitthemen als Kleine Politische Schriften und heben sich so von den wissenschaftlichen Beiträgen ab. In jüngerer Zeit - Stichworte: Europa, Konstitutionalisierung des Völkerrechts, Gentechnik und Religion - werden die Grenzen freilich etwas fließender. 21 I. Rationalisierung, Öffentlichkeit und Kritik 2. Die Entfaltung der soziologischen Perspektive In seiner Zeit als freier Journalist hat Habermas den oben erwähnten Aufsatz über Die Dialektik der Rationalisierung verfasst. Er nimmt bereits Themen auf, die Habermas in der Zukunft ausführlicher darlegen wird. Schon mit dem Titel knüpft Habermas an einen klassischen Text der kritischen Theorie an - die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno. Darin untersuchten die beiden den Prozess der Aufklärung unter dem Gesichtspunkt der immer weitergehenden rationalen Durchdringung der Welt - einen Prozess, in dem bereits Max Weber eine Entzauberung der Welt entdeckt hatte. Wie schon Weber dieses Phänomen nicht einfachhin begrüßte, sondern als einen Prozess betrachtete, in dem für die ihm unterworfenen Menschen zugleich, wie Habermas später sagen wird, »Freiheits- und Sinnverluste« zu befürchten sind (s. Kapitel 11), so betrachten Horkheimer und Adorno all dies noch negativer: Mit der Naturbeherrschung geht für Horkheimer und Adorno eine Entfremdung des Menschen einher, der zusehends selbst unter die Herrschaft der Natur gerät, von der die Vernunft ihn eigentlich befreien sollte: »Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur umso tiefer in den Naturzwang hinein.« (Horkheimer/ Adorno 1986: 19) In diesem Sinne führt der Prozess der Aufklärung für Horkheimer und Adorno zugleich in die Mythologie zurück: »Je mehr die Denkmaschinerie das Seiende sich unterwirft, um so blinder bescheidet sie sich bei dessen Reproduktion. Damit schlägt Aufklärung in die Mythologie zurück, der sie nie zu entrinnen wußte.« (Horkheimer/ Adorno 1986: 33) Horkheimer und Adorno nehmen damit einen Gedanken auf, den Marx unter dem Begriffder Entfremdung formuliert hatte. Nach Marx’ Auffassung war der Arbeiter unter modernen Bedingungen nicht mehr in der Lage, sich in seinem Produkt zu erkennen. Horkheimer und Adorno radikalisieren diesen Befund. Dieser Prozess einer Entfremdung betrifft nach ihrer Überzeugung nicht nur das Proletariat, sondern alle, die dem Prozess der Aufklärung unterliegen. Die Kategorie der Herrschaft wird damit universell und meint nicht nur einen klar beschreibbaren Machtunterschied zwischen sozialen Klassen, sondern die Herrschaft eines rationalen Prinzips, das sich auch in der Ökonomie Bahn bricht: »Ökonomische Rationalität […] formt unablässig noch die letzten Einheiten der Wirtschaft um: den Betrieb wie den Menschen.« (Horkheimer/ Adorno 1986: 212) Daraus folgt dann aber auch, dass bei Weitem nicht mehr klar ist, worin die Therapie bestehen könnte, die es vermag, diesen Zustand aufzuheben. Horkheimer und Adorno beschreiben dieses Problem als Aporie, also als einen Widerspruch, bei dem jeder Lösungsansatz wieder in einen Widerspruch führt: 22 »Wir hegen keinen Zweifel […], daß die Freiheit in unserer Gesellschaft vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist. Jedoch glauben wir, genauso deutlich erkannt zu haben, daß der Begriffeben dieses Denkens, nicht weniger als die konkreten historischen Formen, die Institutionen der Gesellschaft, in die es verflochten ist, schon den Keim zu jenem Rückschritt enthalten, der heute überall sich ereignet.« (Horkheimer/ Adorno 1986: 3) Mit anderen Worten: Wenn die Vernunft notwendig zu einem problematischen sozialen Zustand zu führen droht, dann ist nicht klar, wie eine vernünftige Einsicht aussehen sollte, die dies zu verhindern in der Lage wäre oder wie vernünftige Maßstäbe eines guten gesellschaftlichen Zustandes aussehen könnten. Während Adorno deutlich skeptisch bleibt, was die Explikation eines solchen Maßstabes angeht, stattdessen Kritik vielmehr als einen Prozess der Spurensuche des durch Vernunft Verdrängten und nicht Einholbaren versteht 1 und hier insbesondere die ästhetische Erfahrung betont (vgl. dazu auch Habermas’ Nachwort zur Dialektik der Aufklärung sowie RHM, 65f. und PDM, 130ff.), sieht Horkheimer in der kritischen Theorie durchaus einen Ausweg, der selbst Vernunft in Anspruch nehmen sollte - in einer klaren Abgrenzung gegen eine instrumentelle Vernunftkonzeption, ein Thema, das Habermas unter den Stichworten Arbeit, zweckrationales und strategisches Handeln aufnimmt. Horkheimer unterscheidet von der instrumentellen eine objektive Vernunftkonzeption - sein Verhältnis zu dieser bleibt gleichwohl ebenfalls zwiespältig, denn sie geht mit einem Anspruch auf eine umfassende Auffassung des guten Lebens einher, wie sie das Denken Platons geprägt habe. Ein solcher umfassender Vernunftbegriffkann aber unter modernen Bedingungen keinen Bestand mehr haben (vgl. insbesondere Horkheimer 1985). Der Maßstab, an dem die moderne Vernunft kritisiert werden kann, bleibt daher unausgeführt. Habermas wird dieser Linie folgen und wie Horkheimer auf den notwendigen Grenzen einer einseitigen Vernunftkonzeption bestehen. Es kennzeichnet den Ansatz von Habermas grundlegend, dass er den Versuch unternimmt, einen Maßstab der Kritik zu entwickeln, der genau diesen »Horkheimer’schen« Anspruch einlöst: Er besteht darin, mit den Mitteln der Vernunft einen kritischen Maßstab zu bestimmen, an dem die soziale Wirklichkeit gemessen werden kann. Zweifelsohne ist hier das Zentrum des Habermas’schen Werkes zu verorten und man kann vorgreifend sagen, dass es relativ bald die Sprache ist, in der Habermas den Schlüssel zur Lösung der in der Dialektik der Aufklärung bestimmten Aporie sehen wird. So heißt es bereits in seiner Frankfurter Antrittsrede von 1964 programmatisch: »Das Interesse an Mündigkeit schwebt nicht bloß vor, es kann a priori eingesehen werden. Das, was uns aus der Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache.« (TWI, 163) 1 »Was aber an Wahrheit über ihren abstrakten Umfang hinaus getroffen wird, kann keinen anderen Schauplatz haben als das von Begriffen Unterdrückte, Mißachtete und Weggeworfene. Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begrifflose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzutun.« (Adorno 1975: 21) 23 Schon in Die Dialektik der Rationalisierung beschäftigt Habermas das Verhältnis einer technischen und einer sozialen Rationalität. Es ist ein Thema, das er dann in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ aufnehmen und das in verwandelter Form auch in der Theorie des kommunikativen Handelns wieder auftauchen wird. Habermas früher Text geht dabei von einer »düsteren« Zeitdiagnose aus, die unmittelbar an die zeitdiagnostischen Arbeiten der älteren kritischen Theorie anknüpft. Die Moderne ist durch eine Entfremdung gekennzeichnet, die sich vor allem im standardisierten Produktionsprozess findet. Diesem entspricht andererseits keine ausgleichende Befriedigung im Konsum oder im Freizeitverhalten. Habermas wendet sich gegen eine Sicht, die davon ausgeht, dass die Monotonie des Produktionsprozesses durch eine erfüllte Freizeit und den Konsum kompensiert werden kann. Diese Diagnose trifft sich mit der Sicht, die auch Horkheimer und Adorno unter dem Stichwort der Kulturindustrie entfaltet haben und der zufolge sich das Freizeitverhalten aufgrund der Produkte der Kulturindustrie als eine Verlängerung des Arbeitsalltags darstellt (Horkheimer/ Adorno 1986: 128ff.). Habermas’ Erklärung knüpft freilich weniger an der Produzentenseite an, sondern vielmehr daran, dass die Zerlegung des Arbeitsproduktes dazu führt, dass Menschen den Umgang mit den Dingen verlernen - ein Gedanke, den neuerdings z. B. Richard Sennett in seinem Buch Handwerk (Sennett 2008) wieder betont. Habermas’ Schlussfolgerungen fügen sich, wie er selbst sieht, in die lange Reihe einer gegenwartskritischen Deutung, in der der Marxismus, aber auch die konservative Kulturkritik (z. B. Hans Freyer, Arnold Gehlen, Martin Heidegger) übereinstimmen. Habermas’ Hoffnungen, diesen Zustand zu überwinden, ruhen in seinem Text im Wesentlichen in den Prozessen einer - wie es in den 1960er- und 1970er-Jahren heißen wird - »Humanisierung« der Arbeit, deren Befürworter Habermas rezipiert, und die auf eine Auflösung der Fließbandarbeit zugunsten von Gruppenarbeit und auf die Beteiligung der Arbeiter am ganzen Produktionsablauf abzielt. Habermas sieht, dass sich solche Bemühungen auch aus technisch-ökonomischen Gründen vollziehen können, aber dies hält er nicht für hinreichend. Habermas geht vielmehr bereits hier von einer Diagnose aus, die auch in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ leitend sein wird, nämlich dass es zwei unzureichende Antworten auf die Frage gibt, wie sich das Verhältnis der »technischen« zur »sozialen« (wie Habermas hier sagt) Rationalität gestaltet: »Zu dieser Kategorie gehört sowohl die fahrlässige Hoffnung, daß der technische Fortschritt automatisch sein soziales Defizit ausgleichen und Segnung auf Segnung häufen wird, wie auch die resignierende oder mehr forcierte Empfehlung, durch die ›Überwindung‹ der Technik den vortechnischen Zustand, wie auch immer, zu restaurieren.« (Habermas 1954: 704) Habermas formuliert schon früh drei Grundüberzeugungen, die sein Werk durchziehen. Erstens: Technische und soziale Rationalität (er wird später von kommunikativer Rationalität sprechen) fallen nicht zusammen. Beide stehen in einer gewissen Spannung, müssen aber zweitens nicht notwendig unvereinbar sein. Abzuwenden ist 24 drittens ein Verhältnis, in dem die ökonomisch-technische Rationalität allein über die Gestaltung der sozialen Verhältnisse entscheidet (Habermas 1954: 709). In ähnlicher Weise wie der Aufsatz zur Dialektik der Rationalisierung werden in Habermas’ Vorwort zur Studie Student und Politik Motive der in der Folge verfeinerten Habermas’schen Gesellschaftskritik bereits angesprochen. Habermas sieht dort die Gesamtkonstellation durch die zentrale Alternative bestimmt, »daß der bürgerliche Rechtsstaat entweder den liberalen zu einem sozialen Rechtsstaat entfaltet und Demokratie als eine soziale verwirklicht - oder am Ende wiederum in die Formen eines autoritären Regimes zurückfällt« (Habermas 1973: 14). Horkheimers Bedenken, Habermas’ Überlegungen legten eine bald zu vollziehende Gesellschaftstransformation nahe, soll eine Rückkehr zum Autoritarismus vermieden werden, ist angesichts des Tonfalls des Textes nicht von der Hand zu weisen - in dieser Dramatik wird Habermas in der Folge die Zeitdiagnosen nicht mehr formulieren. Der Text nimmt aber eine These vorweg, die Habermas im Strukturwandel, in den Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus, in der Theorie des kommunikativen Handelns und auch in Faktizität und Geltung beibehält, nämlich die Annahme, Konflikte könnten im Zuge einer wachsenden Staatstätigkeit stillgestellt, wenn auch gerade dadurch nicht gelöst, sondern nur verschoben werden - erstens durch eine wachsende Übermacht der Verwaltung und der Parteien, zweitens durch die Transformation der Staatsbürgerrolle in die eines vom Staat zu betreuenden Klienten sowie drittens durch einen Verlust der Öffentlichkeit (Habermas 1973: 21f., 31, 49). Dass dieser Verlust eines emanzipatorischen Gehaltes der Öffentlichkeit die Gegenwart prägt, zu diesem Schluss kommt Habermas in seiner Habilitationsschrift zum Strukturwandel der Öffentlichkeit. 25 3. Strukturwandel der Öffentlichkeit Habermas’ 1961 erscheinende Habilitationsschrift zum Strukturwandel der Öffentlichkeit behandelt das Entstehen und die Veränderung von bürgerlicher Öffentlichkeit. 2 Diese entwickelt sich im Zuge der bürgerlichen Transformation der ständischen Gesellschaft. Habermas’ These lautet, dass mit der Transformation zugleich ein neuer Typus von Öffentlichkeit entsteht. Neu ist diese gegenüber der Form der Öffentlichkeit, welche die griechische Polis kennzeichnet, neu ist sie aber auch gegenüber dem Typus einer ständische Verhältnisse kennzeichnenden »repräsentativen« Öffentlichkeit. Von dieser unterscheidet sich die bürgerliche Öffentlichkeit in vielerlei Hinsicht: Erstens ist die bürgerliche Öffentlichkeit nicht durch die Darstellung von Herrschaft gekennzeichnet (SÖ, 60). Vielmehr geht es ihr weder um Repräsentation eines Herrschaftsanspruchs, noch wird sie überhaupt durch die »herrschende« Klasse getragen, denn das Bürgertum ist zur Zeit der Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit erst dabei, sich als neue Klasse zu konstituieren (SÖ, 87). Dabei sieht der Verkehr der Privatleute vom unterschiedlichen Status - also Besitz, Macht und Einfluss - ab. Zugleich ist von der »prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Publikums« auszugehen, »denn stets schon befand es sich inmitten eines größeren Publikums all der Privatleute, die als Leser, Hörer und Zuschauer, Besitz und Bildung vorausgesetzt, über den Markt der Diskussionsgegenstände sich bemächtigen konnten« (SÖ, 98; 156). Zweitens ist die bürgerliche Öffentlichkeit ihrem Wesen nach zunächst nicht unmittelbar politisch, sondern durch ein breites Spektrum an Themen gekennzeichnet. Drittens verhalten sich in der bürgerlichen Öffentlichkeit das Private und das Öffentliche in einer neuen Weise zueinander. Während die repräsentative Öffentlichkeit das private Leben und die öffentliche Repräsentation trennt, besteht das Charakteristikum der bürgerlichen Öffentlichkeit darin, das Private gleichsam zum Gegenstand des Öffentlichen zu machen. Dies unterscheidet die bürgerliche Öffentlichkeit auch von der Form der klassischen Öffentlichkeit, die sich in der griechischen Polis fand und die unmittelbar politisch ist (SÖ, 116). In der bürgerlichen Öffentlichkeit sieht Habermas vielmehr, im Anschluss an Hannah Arendt, eine »öffentlich relevant gewordene Privatsphäre der Gesellschaft« (SÖ, 76). Exemplarisch für die bürgerliche Öffentlichkeit steht das, was in Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther zum Ausdruck gebracht wird. Das Buch behandelt ein sehr privates Thema - die Liebe - gleichzeitig stellt es diese in den Kontext einer Kritik an einer als starr und einengend empfundenen ständischen Gesellschaftsordnung. Dasselbe gilt auch für Schillers Theaterstück Kabale und Liebe. An diesen Beispielen zeigt sich sehr gut, wie sich in der bürgerlichen Öffentlichkeit, obwohl sie nicht genuin politisch ist, politische Meinungen bilden können. Nach Habermas entsteht diese bürgerliche Öffentlichkeit im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert. Insbesondere in Letzterem vollzieht sich ihr Aufschwung - wobei sich Aufkommen und Konsolidierung der bürgerlichen Öffentlichkeit innerhalb 2 Für eine knappe Übersicht vgl. auch den Aufsatz Öffentlichkeit von 1964, wieder abgedruckt in Habermas (Habermas 1973: 61-69). 26 Europas zu unterschiedlichen Zeitpunkten beobachten lassen - ganz parallel mit der Herausbildung einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichen Ländern konsolidiert: früh in England und den Niederlanden, im Anschluss daran in Frankreich und relativ spät erst in Deutschland. Auch kristallisieren sich je nach Staat unterschiedliche Orte heraus, an denen sich das Bürgertum versammelt und die Infrastruktur der bürgerlichen Gesellschaft ausbildet. In England sind es die Kaffeehäuser, in Frankreich die Salons und in Deutschland zunächst die gelehrten Tischgesellschaften (SÖ, 90ff.). Entscheidend für das Entstehen der bürgerlichen Öffentlichkeit ist aber vor allem die Durchsetzung einer entsprechenden Pressekultur. Dabei sind weniger die technischen Veränderungen relevant - der Buchdruck ist bereits deutlich zuvor erfunden worden - sondern neben dem steigenden Bildungsgrad des aufkommenden Bürgertums auch der Bedarf verlässlicher Wirtschaftsnachrichten (SÖ, 77ff.). Hinzu kommt ein pädagogisches Interesse der herrschenden Stände nicht nur an Informationsvermittlung, sondern auch an Unterrichtung der Unterworfenen, die von den bürgerlichen Autoren alsbald genutzt wird, um auch herrschaftskritische Überlegungen anzustellen (SÖ, 83). Welche herrschaftsbegründende Funktion kann die bürgerliche Öffentlichkeit einnehmen? Habermas diskutiert drei Modelle, die später in Faktizität und Geltung wieder als grundlegende Optionen darüber zu verstehen sind, wie sich Öffentlichkeit und Legitimation zueinander verhalten können. Das erste Modell ist dasjenige von Jean-Jacques Rousseau: »Die Idee des Dauerplebiszits stellt sich Rousseau im Bilde der griechischen Polis dar: das Volk war dort gleichsam ohne Unterbrechung auf dem Platz versammelt.« (SÖ, 173) Während hier die permanente Zustimmung durch die Öffentlichkeit (freilich sofern diese Ausdruck des volonté générale, nicht nur des volonté de tous ist) legitimitätsstiftende Kraft hat, stellt sich dies für Immanuel Kant ähnlich dar: Ihre Legitimität erhalten die Gesetze nicht nur dadurch, dass sie als Folge einer ursprünglich vernünftigen Selbstgesetzgebung verstanden werden müssen, sondern auf dadurch, dass einer öffentlichen Zustimmung fähig und bedürftig sind. Eine der öffentlichen Meinung gegenüber skeptische Haltung vertritt Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Für ihn liegt die Vernünftigkeit einer politischen Ordnung im Staat. Die Idee, dass der Staat als Garant der Vernünftigkeit einer politischen Ordnung dienen kann, ist Hegel häufig als eine problematisch autoritäre Fassung vorgeworfen worden, denn er scheint damit letztlich den preußischen Absolutismus als vernünftigste Form der politischen Herrschaft zu legitimieren. Obwohl eine solche Kritik nicht unzutreffend ist, übersieht sie zu leicht eine plausible Pointe des Hegelschen Gedankens, nämlich dass es die Institutionen sein können, in denen sich die die Vernünftigkeit einer sozialen Ordnung niederschlägt. Hier wird es sinnvoll sein, sich klarzumachen, dass bloße Öffentlichkeit allein Vernünftigkeit noch nicht gewährleisten muss. Habermas identifiziert nun zwar nicht Öffentlichkeit direkt mit Vernünftigkeit, aber er steht eher auf der Seite Rousseaus und Kants 3 , da für ihn Öffentlichkeit eine durchaus vernunftbe- 3 Der den Gedanken eines öffentlichen Räsonnements in seiner »Beantwortung der Frage: Was ist Auf- 27 gründende Rolle spielt, mindestens in dem Sinne, dass Öffentlichkeit die Möglichkeit einer vernünftigen Erwägung schafft: »Öffentlichkeit war, ihrer eigenen Idee zufolge, ein Prinzip der Demokratie nicht schon darum, weil in ihr prinzipiell jeder mit der gleichen Chance seine persönlichen Neigungen, Wünsche und Gesinnungen vorbringen durfte - opinions; sie war nur in dem Sinne zu verwirklichen, in dem diese persönlichen Meinungen im Räsonnement eines Publikums zur öffentlichen Meinung sich ausbilden konnten - zur opinion publique.« (SÖ, 323) Hier besteht ein ganz klarer Zusammenhang zu der von Habermas später entfalteten Diskurstheorie der Wahrheit und der Richtigkeit, denn dieser zufolge ist es auch das tatsächliche Zusammenstimmen aller Betroffenen, das die Legitimität von Normen begründet (s. Kapitel 10). Habermas sieht natürlich, dass diesem Ideal eines auf gleichen Teilhabemöglichkeiten beruhenden Publikums die soziale Wirklichkeit nicht entsprach. Die Teilnahmechancen sind abhängig von der sozialen Lage, Frauen und Besitzlose sind gänzlich von dieser bürgerlichen Öffentlichkeit ausgeschlossen (SÖ, 121). Dies entwerte aber nicht den emanzipatorischen Gehalt des Gedankens der Öffentlichkeit. Habermas nimmt hier einen Gedanken von Marx auf, dass nämlich die Einheit von bourgeois und homme eine Fiktion der Bürger sein muss. Für Marx gilt aber, dass deren Interessen im Grunde genommen partikular (also auf die Gruppe selbst bezogen) bleiben, auch wenn das Bürgertum die eigenen Interessen als universell (also als auf die Interessen aller bezogen) bewertet. Habermas’ Bewertung ist hier tendenziell positiver, die Idee der Öffentlichkeit ist für Habermas nämlich nicht nur ein Partikularinteressen zur Geltung bringendes, sondern auch ein herrschaftsbegrenzendes Prinzip: »Das Klasseninteresse ist die Basis der öffentlichen Meinung. Es muß sich jedoch während jener Phase auch objektiv mit dem Allgemeininteresse so weit wenigstens gedeckt haben, daß diese Meinung als die öffentliche, durchs Räsonnement des Publikums vermittelte und folglich als vernünftige hat gelten können. In Zwang wäre sie damals schon umgeschlagen, wenn das Publikum als die herrschende Klasse sich hätte abschließen, das Prinzip der Öffentlichkeit hätte fallen lassen müssen: Räsonnement wäre zu Dogma, die Einsicht einer nicht mehr öffentlichen Meinung zu Befehl geworden.« (SÖ, 159) Entsprechend geht Habermas davon aus, dass diese bürgerliche Öffentlichkeit dem Ideal einer uneingeschränkten Kommunikationsgemeinschaft folgt: »Die entfaltete bürgerliche Öffentlichkeit beruht auf der fiktiven Identität der zum Publikum versamklärung« bereits stark gemacht hatte: »Zu dieser Aufklärung wird nichts weiter erfordert als Fr e i h e i t und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken ö f f e n t l i c h e n Gebrauch zu machen.« (Kant 1983: 55) 28 melten Privatleute in ihren beiden Rollen als Eigentümer und als Menschen schlechthin.« (SÖ, 121) Der Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts sieht Habermas einen Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit. Diesen führt er darauf zurück, dass es tendenziell zu einer Angleichung von Staat und Gesellschaft kommt, die sich zuvor im Rahmen der Durchsetzung des Bürgertums auseinanderentwickelt hatten (so ist die begriffliche Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft eine Erfindung des 19. Jahrhunderts). Gemeint ist damit nicht, dass sich die politische Bedeutung des Bürgertums verliert - dieses war in der Lage, trotz mancher Rückschritte, die Ständeherrschaft immer deutlicher zu brechen. Wenn Habermas diesen Zerfallsprozess als einen der »Refeudalisierung der Öffentlichkeit« (SÖ, 225) (vgl. auch Habermas 1973: 68) bezeichnet, so meint er also nicht den Bedeutungsverlust des Bürgertums, sondern er steht für ihn für Tendenzen, die zum Modell einer repräsentativen Öffentlichkeit zurückführen. Diese Tendenzen liegen für Habermas in drei Momenten: Erstens kommt es zu einer »Vermachtung« der Öffentlichkeit. Diese Vermachtung entsteht aus zwei »gegenläufigen« Prozessen. Einerseits greifen staatliche Stellen zusehends in private Verhältnisse ein - was beispielsweise Fragen der Wirtschaftsbeziehungen (SÖ, 226), der Erziehung (wesentlich z. B. Schulpflicht) und der privaten Vermögensverhältnisse betrifft. Dies umfasst nicht nur die Besteuerung, sondern auch ein weitreichendes Sozialversicherungswesen, das die individuellen Risiken nun öffentlich absichert (SÖ, 242, 313). Andererseits kommt es gemäß Habermas auch dadurch zu einer Vermachtung der Öffentlichkeit, dass vormals private Einrichtungen staatliche Aufgaben übernehmen, etwa dergestalt, dass Großunternehmen »politische« Funktionen innehaben (SÖ, 241). Es kann aber auch meinen, dass private Vereinigungen offiziell mit staatlichen Aufgaben betraut werden - man denke an die Rolle der Handwerkskammern und anderer berufsständischer Vereinigungen. Habermas’ Verhältnis zum Sozial- und Wohlfahrtstaat ist bereits im Strukturwandel der Öffentlichkeit von einer Ambivalenz durchzogen. Auf der einen Seite hält er ihn für ein notwendiges Korrektiv eines reinen Wirtschaftsliberalismus und er schließt sich dem Gedanken Abendroths an, dass die sozialstaatlichen Garantien aus den Grundrechten verstanden werden müssen. Auf der anderen Seite sieht Habermas stets die Gefahr, dass der Sozialstaat zur Verwirklichung der »verwalteten Welt« (Horkheimer) beiträgt, die den Individuen ihre Spielräume nimmt. Wir werden diesem Gedanken eines für Habermas immer auch problematischen staatlichen Interventionismus später, im Rahmen der These von der Kolonialsierung der Lebenswelt, wieder begegnen (s. dazu Kapitel 11). Zweitens kommt es laut Habermas zu einer Verschiebung von Räsonnement zu Konsum. Zunehmend lasse sich eine Kulturindustrie beobachten, die kulturelle Inhal- 29 te fabrikationsförmig erstelle - die »Gartenlaube« ist ein frühes Beispiel für ein solches, auf Unterhaltung hin angelegtes Produkt (SÖ, 250). Drittens verliere die bürgerliche Öffentlichkeit ihren politischen Charakter. Dies lässt sich einerseits auf den Übergang zur Unterhaltungsfunktion zurückführen. Eine weitere Ursache sieht Habermas darin, dass die politische Funktion der Öffentlichkeit nun durch Verbände und Parteien übernommen wird. »Der Prozeß des politisch relevanten Machtvollzugs und Machtausgleichs spielt sich direkt zwischen den privaten Verwaltungen, den Verbänden, den Parteien und der öffentlichen Verwaltung ab; das Publikum als solches wird in diesen Kreislauf der Macht nur sporadisch und dann auch nur zu Zwecken der Akklamation einbezogen.« (SÖ, 268f., 321) Selbst für die Parlamente gelte, dass diese ihren Charakter als Stätten einer diskutierenden Öffentlichkeit einbüßen (SÖ, 272ff., 295, 305). Viertens werde die Öffentlichkeit zu einem Ort, in der kommerzielle Werbeinteressen an Bedeutung gewinnen. Ihren tiefgreifendsten Ausdruck findet diese Tendenz in den public relations, in denen Information und Werbung miteinander verquickt werden (SÖ, 290, 300). Muss damit die Idee einer kritischen Funktion der Öffentlichkeit aufgegeben werden? Habermas’ These ist, dass diese kritische Funktion sich zumindest nicht mehr in der gleichen Weise vollziehen lässt, wie dies unter Bedingungen der bürgerlichen Öffentlichkeit der Fall war. Vielmehr muss die kritische Öffentlichkeit unter den Bedingungen des Zerfalls der bürgerlichen Öffentlichkeit und der entsprechenden Transformation des liberalen zum sozialen Rechtsstaat dem Umstand Rechnung tragen, dass ihr Einfluss sich nur über Organisationen vollziehen kann. »Im Maße seiner Verwirklichung [des sozialen Rechtsstaates, J.G.] würde anstelle eines nicht mehr intakten Publikums individuell verkehrender Privatleute ein Publikum der organisierten Privatleute treten. Nur sie könnten unter heutigen Verhältnissen über die Kanäle der innerparteilichen und verbandsinternen Öffentlichkeit, und auf Grund der für den Verkehr der Organisationen mit dem Staat und untereinander in Kraft gesetzten Publizität, wirksam an einem Prozeß öffentlicher Kommunikation teilnehmen.« (SÖ, 337, 357, 359) So sehr Habermas also ein negatives Bild der Öffentlichkeit als einer nun vermachteten und »manipulierten Öffentlichkeit« (SÖ, 321) zeichnet, so sehr hält er demnach gleichzeitig an der Idee fest, dass Öffentlichkeit in ihrer kritischen Gestalt, eine legitimierende Funktion behält (SÖ, 340). Bis heute ist Strukturwandel der Öffentlichkeit ein stark rezipiertes Werk geblieben. Dies gilt trotz einer Reihe von Forschungen, die in vielen Details genauere Beschreibungen liefern als diejenigen, die Habermas zur Zeit der Abfassung möglich waren. 30 Die große Linie bleibt aber instruktiv, nicht zuletzt deswegen, weil es Habermas darum ging, zu zeigen, wie sich ein bestimmter Idealtypus der Öffentlichkeit bestimmen lässt, an den sich im Zuge der bürgerlichen Transformation der europäischen Gesellschaft die Wirklichkeit auch tatsächlich annäherte. Habermas gesteht freilich im Rückblick ein, dass er dabei ein zu idealisiertes Bild der bürgerlichen Öffentlichkeit gezeichnet habe (SÖ, 15). Einerseits sei diese nicht nur durch rationale Erwägungen gekennzeichnet gewesen, anderseits habe auch schon die Vorstellung eines bürgerlichen Publikums oder einer bürgerlichen Öffentlichkeit im Singular eine Überzeichnung dargestellt (SÖ, 15). Dem entspricht auf der anderen Seite eine in Teilen sicherlich auch zu negative Sicht auf den Charakter der transformierten Öffentlichkeit. So räumt Habermas in seiner Einleitung zur Neuauflage des Buches von 1990 ein, dass seine Analysen zu sehr unter dem Einfluss der Adorno’schen Kritik der Massenkultur gestanden hätten - auch hätten ihn die Resultate der Untersuchungen zu Student und Politik eher skeptisch gestimmt, was den kritischen Impetus des Bildungsbürgertums anging (SÖ, 29). Im Rückblick sieht Habermas hinsichtlich der »demokratietheoretischen Perspektive« noch eine weitere Schwäche des Buches. Diese Perspektive »war dem Abendrothschen Konzept einer Weiterentwicklung des demokratischen und sozialen Rechtsstaates zur sozialistischen Demokratie verpflichtet; allgemein blieb sie einem inzwischen fragwürdig gewordenen Totalitätskonzept von Gesellschaft und gesellschaftlicher Selbstorganisation verhaftet.« (SÖ, 35) Wenn das so ist, dann ergibt sich natürlich ein Problem für eine kritische Theorie der Gesellschaft: Einerseits kann die richtige Verfassung der Gesellschaft nicht über ein faktisches Zusammenstimmen aller Betroffenen gedacht, sondern muss über Institutionen vermittelt werden. Andererseits ist dieses mögliche Zusammenstimmen für Habermas weiterhin der Maßstab, an dem sich politische Ordnungen müssen messen lassen können. Habermas wird dieses Problem in Faktizität und Geltung direkt wieder aufnehmen, Elemente davon durchdringen aber durchaus alle Arbeiten von Habermas, denn sie alle lassen sich im Hinblick auf zwei Fragen lesen: (1) Was sind die Maßstäbe für eine vernünftige Form des gesellschaftlichen Lebens? (2) Wie lassen sich diese unter den Bedingungen einer modernen differenzierten Gesellschaft durchsetzen und bestimmen? Modernität meint dabei (1) nachmetaphysische Bedingungen, d. h. es gibt keinen metaphysisch oder religiös schon gesicherten Konsens über Fragen des guten und richtigen Lebens; (2) die Gesellschaft lässt sich nicht wie eine Familie oder Gruppe im Ganzen versammeln: sie muss Konsens über Organisationen und formale Regelungen herstellen; (3) viele Prozesse lassen sich erst dann effektiv gestalten, wenn sie zumindest für eine bestimmte Zeit von dem Druck entlastet werden können, dass alle von ihnen betroffenen Personen der Gestaltung der entsprechenden Prozesse immer zugleich müssen zustimmen können. 31 4. Erkenntnis und Interesse Seine 1965 gehaltene Frankfurter Antrittsvorlesung stellt Habermas unter den Titel »Erkenntnis und Interesse«. Die dort in knapper Form vorgestellte These erfährt im 1968 erschienenen gleichnamigen Buch eine differenziertere Ausarbeitung. Im Zentrum der Vorlesung und des Buches steht die Unterscheidung dreier Erkenntnisinteressen, die nach Habermas die unterschiedlichen Wissenschaften prägen: »In den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaften geht ein technisches, in den Ansatz der historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches und in den Ansatz kritisch orientierter Wissenschaften jenes emanzipatorische Erkenntnisinteresse ein.« (TWI, 155) 4 Diese Überlegung prägt nicht nur die zentrale These von Erkenntnis und Interesse, dass Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie entfaltet werden muss, sondern auch die Kritik an der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik, die Habermas gegen Hans- Georg Gadamer ins Feld führt. Darüber hinaus entwickelt Habermas im Rahmen von Erkenntnis und Interesse die Unterscheidung von Arbeit und Interaktion bzw. von instrumentellem und kommunikativem Handeln, die seiner Kritik an Marx zugrunde liegen und zur »Leitunterscheidung« der von Habermas entwickelten Handlungstheorie avancieren wird. In Erkenntnis und Interesse entwickelt Habermas zunächst die gerade erwähnte Grundthese, dass Erkenntniskritik als Gesellschaftstheorie durchzuführen sei - anschließend folgt eine Auseinandersetzung mit dem Positivismus, dem Pragmatismus und der Hermeneutik. Systematisch geht es um einen Nachweis der These, dass in den empirischen Wissenschaften und der Hermeneutik jeweils konstitutive Interessen gegeben sind. Das Buch schließt mit einer Ausarbeitung des emanzipatorischen Interesses - dieses liege, so Habermas, der Psychoanalyse zugrunde. Habermas entwickelt seine Thesen, indem er sich mit einer Reihe von Autoren auseinandersetzt. Diese Vorgehensweise - die eigene Position in Absetzung zu »traditionellen« Ansätzen herauszuarbeiten - prägt auch spätere Arbeiten von Habermas und erschwert häufig leider die Lektüre, weil sowohl der systematische Gehalt als auch die Rekonstruktion und Kritik anderer Autoren gemeinsam entfaltet werden. Mit seiner oben erwähnten Grundthese, Erkenntnistheorie sei als Gesellschaftstheorie zu entwickeln, knüpft Habermas an Hegels Kantkritik und an die Marx’sche Hegelkritik an. Hegel hatte gegen Kant eingewendet, dieser berücksichtige nicht, dass die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung nicht unabhängig von einer sich erst als Bildungsgeschichte beschreibbaren Geschichte der Vernunft entwickeln lassen. Ein sicheres Fundament der Erkenntnis lasse sich erst dann gewinnen, wenn die Philosophie den Weg nachzeichnet, in dem die vermuteten Fundamente des Wissens durch 4 Parallelen finden sich in Schelers Wissenformen der Gesellschaft (Scheler 1926). Keulartz vertritt die These, auch Rothackers Arbeiten stünden im Hintergrund (Keulartz 1995). 32 eine Reflexion der Bildungsgeschichte des Geistes rekonstruiert werden können (Hegel 1952). Hegel meint demnach, dass die Erkenntnistheorie Kants den Fehler begehe, »unhistorisch« vorzugehen. Vielmehr liegt, so die These Hegels, im Nachvollzug der Reflexionsgeschichte der Vernunft ein unverzichtbarer Beitrag zur Fundierung des Wissens. Hier knüpft nun Marx an, der Hegel »vom Kopf auf die Füße« stellen wollte, indem er die Geschichtlichkeit, die Hegel als eine des Denkens versteht, als tatsächliche Geschichtlichkeit zu verstehen trachtet. Für Marx ist damit die Grundkategorie nicht mehr das Denken, sondern die Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert.« (Marx 1975: 192) An diese materialistische Wende knüpft Habermas an. Kants Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung ließen sich nach der von Marx vollzogenen materialistischen Wende als Resultat einer in der Gattungsgeschichte verankerten Interessenstruktur deuten: »Die Bedingungen instrumentalen Handelns sind in der natürlichen Evolution der Menschengattung kontingent entstanden; aber zugleich binden sie unsere Erkenntnis der Natur transzendental notwendig an das Interesse möglicher technischer Verfügung über Naturprozesse.« (EI, 49, vgl. auch 162) Habermas wendet die Fragestellung der Erkenntnistheorie damit materialistisch. Er bindet sie im Gegensatz zu Kant und Hegel an praktische Interessen und spricht daher auch von einer transformierten Transzendentalphilosophie. Kant hatte unter einer transzendentalen Erkenntnis eine solche verstanden, »die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese apriori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.« (Kant 1990b: B25) Unter einer Erkenntnis a priori verstand Kant dabei eine Erkenntnis, die von Erfahrung unabhängig ist. Kants Kritik der Metaphysik bestand nun darin, dass eine solche Erkenntnis nur dann als Erkenntnis gerechtfertigt werden kann, wenn sich zeigen lässt, dass die apriorischen Erkenntnisse dadurch gerechtfertigt werden können, dass nur unter ihrer Voraussetzung Erkenntnis und damit auch Erfahrung überhaupt möglich ist. Er fragt also nach Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung (Kant 1990b: B80), deren Erkenntnis dann transzendental genannt wird. Obwohl Habermas wie ausgeführt mit einer materialistischen Deutung der transzendentalen Fragestellung an Marx anknüpft, verbindet er dies aber bereits in Erkenntnis und Interesse mit einer Kritik, die er systematisch in der Rekonstruktion des Historischen Materialismus entfalten wird. Marx, so Habermas, rechne zur Kategorie der Arbeit zwar im Grunde genommen auch die Kategorie »symbolisch vermittelte Interaktion«, vernachlässige diese letztlich aber doch zugunsten eines auf instrumentelles Handeln verkürzten Arbeitsbegriffs. Lediglich in den materialen Studien rechne Marx »mit einer gesellschaftlichen Praxis, die Arbeit und Interaktion umfaßt« (EI, 71). Habermas führt mit der Unterscheidung von Arbeit und Interaktion auch die von instrumentalem und kommunikativem Handeln ein: 33 »Während das instrumentale Handeln dem Zwang der äußeren Natur korrespondiert und der Stand der Produktivkräfte das Maß der technischen Verfügung über Gewalten der Natur bestimmt, steht das kommunikative Handeln in Korrespondenz zur Unterdrückung der eigenen Natur: der institutionelle Rahmen bestimmt das Maß einer Repression durch die naturwüchsige Gewalt sozialer Abhängigkeit und politischer Herrschaft. Die Emanzipation von äußerer Naturgewalt verdankt eine Gesellschaft den Arbeitsprozessen, nämlich der Erzeugung technisch verwertbaren Wissens […, J.G.]; die Emanzipation vom Zwang der inneren Natur gelingt im Maße der Ablösung gewalthabender Institutionen durch eine Organisation des gesellschaftlichen Verkehrs, die einzig an herrschaftsfreie Kommunikation gebunden ist. Das geschieht nicht unmittelbar durch produktive Tätigkeit, sondern durch die revolutionäre Tätigkeit kämpfender Klassen (einschließlich der kritischen Tätigkeit reflektierender Wissenschaften).« (EI, 71f.) Die gesellschaftliche Emanzipation vollzieht sich demnach im Bereich des kommunikativen Handelns und sie ist gebunden an herrschaftsfreie Kommunikation. Beides wird Habermas später ausführlicher entwickeln und darlegen (zur herrschaftsfreien Kommunikation, s. Kapitel 9). Der Auseinandersetzung mit Marx folgt in Erkenntnis und Interesse eine Auseinandersetzung mit dem Positivismus von Auguste Comte und Ernst Mach. Diesem hält Habermas vor, Wissenschaft auf die Vorstellung einer Abbildung einer objektiv gegebenen Wirklichkeit zu reduzieren. Was der Positivismus übersehe, sei der Umstand, dass in den Begriffsapparat und die Messungen Deutungen eingehen (EI, 114), die sich letztlich auch dem Interesse an technischer Verfügung verdanken 5 - eine These, die Habermas in seinem Beitrag zum Positivismusstreit aufnimmt. Positivismusstreit Der Begriff »Positivismusstreit« steht für eine Kontroverse, die im Wesentlichen zwischen Theodor W. Adorno auf der einen Seite und Vertretern des kritischen Rationalismus (Karl R. Popper und Hans Albert) ausgetragen wird (Adorno et al. 1972). Die Bezeichnung »Positivismusstreit« ist eigentlich eine Fehlbenennung, denn der kritische Rationalismus, den Adorno als Positivismus versteht, grenzt sich vom Positivismus durch zwei Annahmen deutlich ab. Erstens zeigt Popper, dass jede Erkenntnis bereits theorieimprägniert ist. Einen unmittelbaren Zugang zur Realität auf der Basis der sinnlichen Wahrnehmung kann es daher nicht geben. Damit 5 »Technische Verwertung des Wissens ist im Forschungsprozeß natürlich gar nicht intendiert; in vielen Fällen ist sie sogar faktisch ausgeschlossen. Gleichwohl ist über die technische Verwertbarkeit erfahrungswissenschaftlicher Informationen methodisch mit der Struktur der Aussagen (bedingte Prognosen über beobachtbares Verhalten) und mit dem Typus der Prüfungsbedingungen (Nachahmung einer in Systemen gesellschaftlicher Arbeit naturwüchsig eingebauten Kontrolle von Handlungserfolgen) ebenso vorentschieden, wie damit auch die Region möglicher Erfahrung präjudiziert ist, auf die sich die Annahmen beziehen und an denen sie scheitern können.« (LSW, 57) 34 hängt dann zweitens zusammen, dass es kein letztes, unbestreitbares Fundament des Wissens geben kann. Wissenschaftlicher Fortschritt vollzieht sich daher auf dem Wege einer kritischen Überprüfung bestehender Annahmen, die aber nie im Gesamten oder endgültig überprüft werden können. Der kritische Rationalismus geht gleichzeitig davon aus, dass sich Begründungsfragen von praktischen Interessen unterscheiden lassen (Begründungszusammenhang vs. Entdeckungs- und Verwertungszusammenhang). Anders gesagt: In unsere wissenschaftliche Praxis gehen praktische Interessen ein, in dem diese bestimmen, was als Gegenstand der Forschung interessiert und diese nicht zuletzt deswegen, weil die Resultate der Forschung praktischen Interessen dienen können. Diese Interessen spielen aber für die Rolle der Begründung der wissenschaftlichen Aussagen keine Rolle. Popper und Albert akzeptieren damit die Annahme, dass sich die Wissenschaft praktischen Werturteilen (also solche darüber, was sein soll) enthalten kann und muss. Aus der Sicht der kritischen Theorie ist dieses Prinzip der Werturteilsfreiheit falsch. Zudem leugne ein Auseinanderziehen von Begründungsfragen und praktischen Verwendungen die Totalität des gesellschaftlichen Zusammenhangs (vgl. dazu auch die Einleitung von Adorno in Adorno et al. 1972). Habermas stellt sich in dieser Kontroverse auf die Seite Adornos, der am kritischen Rationalismus von Karl R. Popper und Hans Albert diese strikte Trennung zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Fragen kritisiert hatte. Habermas argumentiert in seinen Aufsätzen zum Positivismusstreit (abgedruckt in LSW, 15ff.) mit Popper gegen Popper. So hatte Popper in seinem Buch zur Logik der Forschung den Gedanken verworfen, dass es einen unmittelbaren - nicht durch Sprache oder Kategorien - vermittelten Zugang zu Realität geben könne (Popper 2005). Habermas nutzt nun dieses Argument: Wenn die Kategorien, mit denen wir die Wirklichkeit bestimmen, durch diese Realität nicht vollständig bestimmt sein können, dann bedarf es häufig einer Entscheidung darüber, unter welche Kategorie etwas überhaupt fällt. An dieser Stelle sieht Popper die Forschergemeinschaft als Instanz, die strittige Fragen klären muss (LSW, 36f.). Habermas nimmt diesen Gedanken auf, um zu zeigen, an welcher Stelle Wertfragen (also solche, die in der Sicht von Popper und Albert nicht Gegenstand der Erfahrungswissenschaft sind) in die Wissenschaft hineinspielen können. Aus Habermas’ Sicht unterläuft dies die strikte Trennung von Fragen des wissenschaftlichen Begründungszusammenhangs und der praktischen Interessen. »In letzter Instanz ist […, J.G.] die Triftigkeit von Gesetzeshypothesen und erfahrungswissenschaftlichen Theorien im ganzen auf Kriterien einer Art von Handlungserfolg bezogen, der sich in dem von Anbeginn intersubjektiven Zusammenhang arbeitender Gruppen sozial eingespielt hat.« (LSW, 38, vgl. auch 55) Den Positivismus sieht Habermas bei Charles Sanders Peirce als überwunden an. Er beruft sich auf dessen Pragmatismus - Peirce mache die Wahrheit von wissenschaftlichen Resultaten abhängig, von der stabilisierenden Funktion, die der Wahrheitsbe- 35 grifferbringe. 6 Gleichzeitig hält er Peirce vor, nicht recht gesehen zu haben, dass die Kommunikation der Forscher über ihre Resultate sich nicht nach dem Muster der Beziehungen zur Natur analysieren lassen. In diesem Zusammenhang trifft Habermas eine Zuordnung, die seine Deutung des Verhältnisses von instrumentellem und kommunikativen Handeln durchgängig bestimmt: »Soweit die Verwendung von Symbolen für den Funktionskreis instrumentalen Handelns konstitutiv ist, handelt es sich um monologischen [d.h., prinzipiell von einem einzelnen Subjekt durchführen, J.G.] Sprachgebrauch. Die Kommunikation der Forschenden erfordert aber einen Sprachgebrauch, der nicht in die Schranken technischer Verfügung über vergegenständlichte Naturprozesse gebannt ist. Er entfaltet sich aus symbolisch vermittelten Interaktionen zwischen vergesellschafteten Individuen, die sich reziprok als unverwechselbare Individuen erkennen und anerkennen. Dieses kommunikative Handeln ist ein Bezugssystem, das sich auf den Rahmen instrumentalen Handelns nicht zurückführen läßt.« (EI, 176) Instrumentelles Handeln ist demnach monologisch verständlich - im Gegensatz zum kommunikativen Handeln. Daher erfordert der Zugang zu ihm auch einen anderen Typus von Wissenschaft. Für Habermas sind dies die hermeneutischen Wissenschaften. Während für die Gegenstände der Naturwissenschaft gilt, dass sie auf einem Sprachgebrauch mit einer formalisierten Sprache, einer klaren Unterscheidung von beschreibenden Sätzen und beschriebenen Gegenständen sowie dem Absehen von der Individualität des jeweils Beschriebenen beruhen, kennzeichne es die hermeneutischen Wissenschaften, dass sie an die Umgangssprache gebunden und daher auf allgemeine Regeln nicht zurückführbar sind 7 , dass sie die Beschreibung nicht völlig vom Beschriebenen trennen können und sich am Individuellen orientieren (EI, 204, 218). Während schließlich die Objektivität in den empirisch-analytischen Wissenschaften durch die Wiederholbarkeit des Experiments sichergestellt werde, sei es in den hermeneutischen Wissenschaften die Bewährung im Dialog: »Verstehen ist kommunikative Erfahrung. Deren Objektivität ist mithin von beiden Seiten bedroht: durch den Einfluß des Interpreten […] nicht weniger als durch die Reaktionen des Gegenüber.« (EI, 227) Das Scheitern bemesse sich hierbei an der »Störung eines Konsensus« (EI, 220). Warum bedarf es neben Interessen an technischer Verfügung und Interessen an Verständigung noch einer dritten Form des Interesses und entsprechend einer dritten Form von Wissenschaften? Nach Habermas liegt dem der Umstand zugrunde, dass 6 So »ergibt sich für Peirce dieser Wahrheitsbegriffnicht schon aus den logischen Regeln des Forschungsprozesses, sondern erst aus dem objektiven Lebenszusammenhang, in dem der Forschungsprozeß angebbare Funktionen erfüllt: nämlich die Stabilisierung von Meinungen, die Eliminierung von Ungewißheiten, die Gewinnung unproblematischer Überzeugungen« (EI, 153). 7 »Die symbolischen Zusammenhänge, auf die sich hermeneutisches Verstehen richtet, lassen sich nicht auf Bestandteile einer reinen, durch metasprachliche Konstitutionsregeln vollständig definierten Sprache zurückführen. Deshalb kann ihre Interpretation nicht die Form einer analytisch zwingenden Rekonstruktion durch Anwendung allgemeiner Regeln annehmen.« (EI, 217f.) 36 die Wissenschaften, die sich mit dem kommunikativen Handeln befassen, nicht hinreichend in der Lage sind, die Verzerrungen der Kommunikation zu beschreiben und aufzulösen, die sich aus Herrschaftszusammenhängen jeweils ergeben: »Die Entstellung des dialogischen Verhältnisses steht unter der Kausalität abgespaltener Symbole und vergegenständlichter, d. h. der öffentlichen Kommunikation entzogener, nur mehr hinter dem Rücken der Subjekte geltender und so zugleich empirisch zwingender grammatischer Beziehungen.« (EI, 81) Die kritischen Wissenschaften werden im Gegensatz zu den beiden anderen Wissenschaftstypen entsprechend durch das Interesse an Emanzipation konstituiert. Habermas entwickelt dies, indem er die Logik der psychoanalytischen Forschung rekonstruiert. Er geht dabei von einer Interpretation der Freud’schen Theorie aus, die an Alfred Lorenzers sprachtheoretischer Deutung von Psychopathologien anknüpft. 8 Diese seien als Deformationen des Sprachgebrauchs zu verstehen, in denen die öffentlichen Bedeutungen von Symbolen von den Betroffenen durch private Bedeutungen ersetzt werden. Dieser Prozess sei auf lebensgeschichtliche Erfahrungen zurückzuführen, die den Betroffenen nicht bewusst werden dürfen. Die psychoanalytische Praxis besteht darin, diese Verdrängung rückgängig zu machen, indem die Erfahrung erinnert wird, die zur Abspaltung geführt hat (vgl. Lorenzer 1970, 1977). Die Psychoanalyse fragt entsprechend nicht nur nach der Bedeutung von Symbolen, sondern zugleich danach, warum diese für die Betroffenen eine solche Bedeutung angenommen haben, und sie führt schließlich zu einer Bewusstmachung des Zusammenhangs für die Betroffenen. Psychoanalyse ist demnach Hermeneutik, Kausalanalyse und Therapie in einem. Die Psychoanalyse zielt auf allgemeine Interpretationen. Auch diese erlaubten kausale Erklärungen und bedingte Prognosen, aber gleichwohl bestehen für Habermas vier Unterschiede zwischen allgemeinen Interpretationen und den Gesetzesannahmen der empirisch-analytischen Wissenschaften. So gelte erstens, dass die psychoanalytischen Interpretationen der Umgangssprache verhaftet bleiben, also nicht wie Interpretationen in den Naturwissenschaften formalisierbar sind. Zweitens sei bei allgemeinen Interpretationen die Frage anders zu beantworten, wann ein bestimmter Fall unter diese fällt und wann nicht. Auch im Falle allgemeiner Gesetzeshypothesen muss geprüft werden, ob die Bedingungen erfüllt sind, die es überhaupt erlauben, ein Gesetz zur Erklärung zu verwenden. Möchte man beispielsweise ein beobachtetes aggressives Verhalten durch das Gesetz erklären, dass Frustration Aggression erzeugt, dann ist dies nur unter der Voraussetzung möglich, dass das beobachtete Verhalten als aggressiv und eine vorhergehende Erfahrung als frustrierend beschrieben werden können. Dieses 8 Habermas vertritt in seiner Freudinterpretation die These, Freud sei, indem er seine klinischen Hypothesen in den metapsychologischen Rahmen des Strukturmodells (Ich, Es, Über-Ich sowie die Trieblehre als Energiemodell) eingefügt habe, einem »szientistischen Selbstmißverständnis« unterlegen, d. h. er habe geglaubt, auf diesem Wege die Psychoanalyse als eine Wissenschaft im Sinne der Naturwissenschaften zu begründen (EI, 300ff.). 37 »Anwendungsproblem« stellt sich Habermas zufolge in der Psychoanalyse anders dar als in den empirisch-analytischen Wissenschaften, da es im Falle der Psychoanalyse allein die Patienten sein können, welche die Frage nach der Anwendbarkeit und der Gültigkeit der Interpretationen zu beantworten vermögen (EI, 318f., 325, 342, vgl. auch LSW, 320). Drittens sei bei allgemeinen Interpretationen das Ziel der Kausalanalyse ein anderes als in den empirisch-analytischen Wissenschaften. Sie ziele nämlich auf die »Aufhebung der Kausalzusammenhänge selber« (EI, 330, vgl. auch 314), da im Falle der Psychopathologien die zugrunde liegende Kausalität »nicht naturgesetzlich verankert ist in einer Invarianz der Natur, sondern nur naturwüchsig in einer, durch den Wiederholungszwang repräsentierten, aber durch die Kraft der Reflexion auflösbaren Invarianz der Lebensgeschichte.« (EI, 330) Viertens, schließlich, erlaubten allgemeine Interpretationen keine kontextfreien Erklärungen, d. h. ihre Erklärungen sind immer abhängig von den besonderen Bedingungen der einzelnen Fälle (EI, 332). Habermas kann daher auch sagen, dass im Falle des emanzipatorischen Interesses Erkenntnis und Interesse zusammenfallen (EI, 234ff, 348) und damit im emanzipatorischen Interesse zugleich die Auflösung des Gegensatzes von Theorie und Praxis sehen (TWI, 164). Die Psychoanalyse geht, indem sie Verdrängtes ins Bewusstsein bringt, für Habermas über die Hermeneutik in ihrer klassischen Gestalt hinaus: »Die Tiefenhermeneutik, die Freud der philologischen Diltheys entgegensetzt, bezieht sich auf Texte, die Selbsttäuschungen des Autors anzeigen.« (EI, 267) Habermas nutzt dieses Modell freilich in einer Erweiterung, die sich auf gesellschaftliche Verhältnisse bezieht. In diesem Sinne tritt das emanzipatorische Interesse an die Stelle, an der in der Marx’schen Tradition die Ideologiekritik verortet ist. Das Modell des kommunikativen Handelns, »in dem Handlungsmotive und sprachlich ausgedrückte Intentionen zusammenfallen, […, J.G.] könnte freilich nur unter Bedingungen einer nicht repressiven Gesellschaft allgemeine Anwendung finden; Abweichungen von dem Modell sind daher unter allen bekannten gesellschaftlichen Bedingungen der Normalfall.« (EI, 277, vgl. auch 337, 340ff., 400) Habermas sieht hier einen Zusammenhang zwischen Neurosenbildung und Institutionenbildung: »Dieselben Konstellationen, die den Einzelnen in die Neurose treiben, bewegen die Gesellschaft zur Einrichtung von Institutionen. Das, was die Institutionen auszeichnet, macht zugleich ihre Ähnlichkeit mit pathologischen Formen aus. Wie der Wiederholungszwang von innen, so bewirkt der institutionelle Zwang von außen eine der Kritik entzogene und verhältnismäßig starre Reproduktion gleichförmigen Verhaltens.« (EI, 335) Habermas hält diese Parallelisierung später für falsch: »So hätte ich sehen müssen, daß der Versuch, das Freudsche Neurosenmodell von der Pathogenese einzelner Individuen auf die Entstehung und Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen zu übertragen, zum Scheitern verurteilt ist.« (Habermas 2000: 14) Damit zusammenhängend verwirft er die Idee einer »Gattungsgeschichte«, die Erkenntnis und Interesse zugrundelag. 38 Sie »gehört noch zum Begriffshaushalt der Subjektphilosophie.« (Habermas 2000: 13) Auch die damit zusammenhängende Bindung an die Erkenntnistheorie (die ein erkennendes Subjekt voraussetzt) hält Habermas daher für unangemessen. Dieses Unbehagen äußert er schon 1973 in einem Nachwort zu einer neuen Auflage von Erkenntnis und Interesse (EI, 411ff.)(vgl. auch Habermas 1985a: 217). Habermas hat zu dieser Zeit bereits damit begonnen, einen fundamentalen Wechsel der Grundorientierung zu vollziehen. Nicht mehr die Erkenntnistheorie prägt die Entfaltung der Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft, sondern die Sprachanalyse. Sie präsentiert sich als eine Alternative, weil es in ihr darum geht, die Regeln zu rekonstruieren, die zur Hervorbringung »der Sprache, der Kognition und des Handelns beitragen« (EI, 412). Dieser Zugang prägt Habermas’ Projekt einer Universalbzw. Formalpragmatik, er fließt aber auch in seinen Anschluss an Kohlberg und dessen Rekonstruktion der Moralentwicklung ein. Habermas verändert mit diesem Wandel nicht nur den Zugang zu den Grundlagen der kritischen Theorie, sondern auch die Ansprüche an die Rolle der Kritik werden - gemessen am Programm von Erkenntnis und Interesse - reduziert. Ging es in Erkenntnis und Interesse zum einen darum, die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung über die Gattungsinteressen zu identifizieren, und gleichzeitig auch noch darum, zu zeigen, warum es zu einer systematischen Einschränkung von Kommunikation kommt, so bezweifelt Habermas nun zwar nicht, dass es systematisch verzerrte Kommunikation gibt, aber die Frage, warum eine solche entsteht, kann sich erst stellen, nachdem die erste Frage beantwortet ist, nämlich wie die »normalen« Fälle des Handelns und Kommunizierens hervorgebracht werden: »Mir ist erst nachträglich klar geworden, daß der traditionelle, auf den deutschen Idealismus zurückgehende Sprachgebrauch von ›Reflexion‹ beides deckt (und vermengt): einerseits die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit von Kompetenzen des erkennenden, sprechenden und handelnden Subjekts überhaupt, und andererseits die Reflexion auf die unbewußt produzierten Eingrenzungen, denen sich ein jeweils bestimmtes Subjekt (oder eine bestimmte Gruppe von Subjekten oder ein bestimmtes Gattungssubjekt) in seinem Bildungsprozeß selbst unterwirft.« (EI, 411) Die Methode, die Habermas nach Erkenntnis und Interesse verwenden wird, setzt an der ersten der beiden Bedutungen von Reflexion an. »Kritik unterscheidet sich« - wie Habermas in seinem Nachwort feststellt - »von Nachkonstruktionen dadurch, - daß sie auf Erfahrungsgegenstände gerichtet ist, die in ihrer Pseudogegenständlichkeit erst aufgedeckt werden, während die Datenbasis von Nachkonstruktionen aus Gegenständen besteht, die, wie Sätze, Handlungen, kognitive Leistungen usw. als Hervorbringungen eines Subjektes von vorneherein bewußt sind; - daß sie sich ferner auf Partikulares, nämlich auf den besonderen Bildungsprozeß einer Ich- oder Gruppenidentität erstreckt, während Nachkonstruktionen anonyme Regelsysteme erfassen, denen beliebige Subjekte mit entsprechenden Kompetenzen folgen können; 39 - daß sie schließlich Unbewußtes praktisch folgenreich bewußt macht und die Determinanten eines falschen Bewußtseins verändert, während Nachkonstruktionen ein durchaus richtiges know how, also das intuitive Wissen, das mit einer Regelkompetenz erworben wird, ohne praktische Folgen explizieren.« (EI, 412f.)(vgl. auch Habermas 1978b: 28) 9 Habermas’ Kritik der Hermeneutik In Erkenntnis und Interesse hatte sich Habermas unter Berufung auf Dilthey der Hermeneutik zugewandt. Eine ausführlichere Würdigung erfährt diese in Habermas’ Literaturbericht Zur Logik der Sozialwissenschaften von 1967 (wiederabgedruckt in LSW, 89-330). In diesem Kontext formuliert Habermas dann auch eine Kritik an Gadamer, die zu einer Kontroverse zwischen beiden geführt hat. Habermas diskutiert in seinem Aufsatz drei verschiedene Strömungen eines sinnverstehenden Zugangs in den Sozialwissenschaften - die Sozialphänomenologie, die Wittgenstein’sche Sprachanalyse sowie die Hermeneutik - und stellt deren Stärken und Schwächen heraus. Aus der Sicht der von Edmund Husserl ausgehenden phänomenologischen Tradition, die von Alfred Schütz sozialtheoretisch (vgl. Schütz 1971f., Schütz/ Luckmann 1988, Schütz/ Luckmann 1990) ausgearbeitet und in der Ethnomethodologie (vgl. Garfinkel 1967) fortentwickelt worden ist, ist Handlungsverstehen an die Strukturen einer in der Alltagswelt verkörperten Lebenswelt gebunden. Für Habermas besteht der positive Beitrag der phänomenologischen Soziologie darin, dass sie auf die Bedeutung eines lebensweltlich eingespielten Hintergrundes an selbstverständlichen Überzeugungen verweist und er wird diesen Gedanken in die Theorie des kommunikativen Handelns übernehmen, indem er das Konzept des kommunikativen Handelns an ein solches Hintergrundwissen anbindet (s. dazu Kapitel 11). Aber Habermas sieht auch eine Reihe von Schwächen in dieser Tradition. Vor allem habe die Sozialphänomenologie die Lebensweltanalyse nicht hinreichend mit einer Theorie der Sprache verbunden (LSW, 239). Die zweite Tradition einer sinnverstehenden Zugangsweise zum Sozialen, mit der sich Habermas auseinandersetzt, ist die sprachanalytische Philosophie in Gestalt der Wittgenstein’schen Spätphilosophie (vgl. v. a. Wittgenstein 1984a) und die daran anknüpfende Position von Peter Winch (1974). Gegenüber der Sozialphänomenologie sieht Habermas in Wittgensteins Philosophie eine Überwindung der bewusstseinsphilosophischen Grundlegung einer sinnverstehenden Soziologie. Die zentralen Einsichten des späteren Wittgenstein, bestehen in der Gebrauchstheorie der Bedeutung, der Anbindung des Sprechens an Lebensformen und die Annahme, dass die Bedeutungsanalyse über ein Regelkonzept zu explizieren sei (Wittgenstein 1984b: 132, vgl. 9 Letzteres hat McCarthy kritisiert, denn offensichtlich gibt Habermas für die rationalen Rekonstruktionen damit den Anspruch auf, Theorie und Praxis unmittelbar zu verbinden (vgl. McCarthy 1989: 121f.). 40 Wittgenstein 1984a: § 23, 43, 198ff.). 10 Wittgensteins Perspektive bleibe dabei aber immer auf den Zusammenhang zwischen der eigenen Sprache und der Sozialisation der Sprecher in diese Sprache bezogen. An dieser Stelle sieht Habermas den Perspektivengewinn, der sich in der philosophischen Hermeneutik Gadamers findet. Sie fragt nämlich danach, wie es möglich ist, dass schon sprachfähige Personen den Sinn von etwas verstehen, das sie bisher noch nicht verstanden haben (LSW, 264f.). Zunächst einmal knüpft Gadamer an Heideggers Überlegung an, dass die Frage der Hermeneutik keine ist, die sich lediglich auf ein Übersetzungsproblem oder das Verstehen eines Textes reduzieren lässt (vgl. bereits Heidegger 1986). Vielmehr ist die Fragestellung der Hermeneutik in dem Sinne universell, dass jedes Verstehen Gegenstand der Hermeneutik ist (vgl. Gadamer 1986: 478, Gadamer 1999: 444f.). Die prototypische Form, nach der sich Verstehen begreifen lässt, ist dabei für Gadamer nicht das Textverstehen, sondern das Gespräch. Zweitens bezieht sich Gadamer auf Heideggers Überlegung zum hermeneutischen Zirkel (vgl. Heidegger 1986: § 36). Dieser bezeichnet die notwendig zirkuläre Struktur jedes Verstehens, die darin besteht, dass es nicht möglich ist, das jeweilige Vorverständnis von etwas bei dessen Verstehen zu suspendieren. In diesem Sinne bleibt für Gadamer Verstehen immer notwendig an den eigenen Horizont des Interpreten gebunden. Freilich ist für Gadamer wie für Heidegger dieser Zirkel kein vitiöser (schlechter) Zirkel, sondern die unvermeidliche und produktive Bedingung jedes Verstehens. Gadamers »Rehabilitierung des Vorurteils« richtet sich entsprechend auch gegen die Tradition der Aufklärung, welche im Absehen von Vorurteilen die Quelle des richtigen Urteils sah (vgl. Gadamer 1986: 276ff.). Hierin liegt nach Gadamer die unrealistische Vorstellung, es könnte möglich sein, sich außerhalb einer Tradition im Ganzen aufzustellen (vgl. Gadamer 1986: 281ff.). 11 Die Bindung an ein eigenes Vorverständnis lässt sich nicht aufheben, sie führt aber auch nicht dazu, dass Verstehen immer an einen unveränderlichen Horizont gebunden ist. Verstehen ist vielmehr der Prozess, in dem die Horizonte der Gesprächspartner miteinander verschmelzen (»Horizontverschmelzung«) (vgl. Gadamer 1986: 311). Zu den häufig diskutierten Überlegungen Gadamers gehört die weitere These, dass dieses Verstehen als ein Einrücken in das Überlieferungsgeschehen zu verstehen ist. Gegenüber Gadamer bringt Habermas im Wesentlichen zwei Einwände vor. 12 Erstens sei es problematisch, den Universalitätsanspruch der Hermeneutik zu behaupten, weil dieser es nicht erlaube, den Einfluss von zunächst Unbegriffenem auf die sprach- 10 Habermas knüpft an diese Elemente an, interpretiert sie dabei aber auch neu. Den Impetus der Gebrauchstheorie der Bedeutung nimmt er in seiner Fassung der formalen Pragmatik auf (s. unten Kapitel 8), den Zusammenhang zwischen Sprache und Lebensform betont Habermas im Lebensweltkonzept, kritisiert aber den bei Wittgenstein damit verbundenen Sprachspielpluralismus (Habermas 1975). 11 Auch Gadamer denkt Verstehen nicht lediglich als rückgebunden an die Tradition, sondern es steht zugleich unter einem »Vorgriffder Vollkommenheit«. Nur ist es eben für ihn nicht denkbar, diesen Vorgriffunabhängig von jeweils historisch mitbestimmten Inhalten zu denken (vgl. Gadamer 1986: 298f.). 12 Darüber hinaus sei Gadamers Hermeneutik nicht in der Lage, zu einer Theorie der Sprache vorzustoßen, da »hermeneutisches Verstehen stets ad hoc verfahren muß und sich nicht zu einer wissenschaftlichen Methode ausbilden (allenfalls zu einer Kunst disziplinieren) läßt.« (LSW, 341) Dies soll durch die Universalpragmatik überwunden werden (LSW, 342). 41 liche Verständigung zu erfassen (LSW, 344). Systematischen Verzerrungen der sprachlichen Verständigung, die sich aus nicht-sprachlichen Zwängen ergäben, könnte Gadamer daher nicht Rechnung tragen (LSW, 343f.). Damit hängt sein zweiter Einwand zusammen: Um diese Zwänge überhaupt in den Blick zu nehmen, müsse es möglich sein, sich gegenüber dem Traditionszusammenhang kritisch zu verhalten, denn erst dann könne ein erzieltes Einverständnis als ein verzerrtes Einverständnis durchschaut werden. Der behauptete Universalitätsanspruch der Hermeneutik erlaube daher keine ideologiekritische Perspektive (LSW, 342). 13 Beide Einwände treffen nach Habermas nicht nur die Hermeneutik Gadamers, sondern bezeichnen die generelle Grenze der phänomenologischen, sprachanalytischen und hermeneutischen Betrachtungsweise (diese These wird Habermas in seiner Kritik der Sozialphänomenologie in der Theorie des kommunikativen Handelns wieder aufnehmen): »Die Grenzen der sprachverstehenden Soziologie sind die Grenzen ihres Motivationsbegriffs: sie erklärt soziales Handeln aus Motiven, die mit Situationsdeutungen des Handelnden selber, also mit dem sprachlich artikulierten Sinn, an dem sie sich orientieren, zusammenfallen.« (LSW, 313) Gadamer hat diese Kritiken zurückgewiesen. Erstens sei es falsch, nur dasjenige, was bewusst und intendiert ist, mit demjenigen zu identifizieren, was der Hermeneutik zugänglich ist: »Ist doch das hermeneutische Problem nur deshalb so universal und für alle menschliche Erfahrung grundlegend, weil auch dort Sinn erfahren werden kann, wo er nicht als intendierter vollzogen wird.« (Gadamer 1971: 70) Zweitens - und damit zusammenhängend - folgt für Gadamer auch, dass sich der Universalitätsanspruch der Hermeneutik nicht durch den Verweis auf Realfaktoren gesellschaftlicher Reproduktion abweisen lasse: »Es verkürzt die Universalität der hermeneutischen Dimension, wenn ein Bereich des verständlichen Sinnes (›kulturelle Überlieferung‹) gegen andere, lediglich als Realfaktoren erkennbare Determinanten der gesellschaftlichen Realität abgegrenzt wird. Als ob nicht gerade jede Ideologie, als ein falsches sprachliches Bewußtsein, sich nicht nur als verständlicher Sinn gäbe, sondern gerade auch in ihrem ›wahren‹ Sinn, z. B. dem des Interesses der Herrschaft, verstanden werden 13 »Wir wären nur dann legitimiert, das tragende Einverständnis […, J.G.] mit dem faktischen Verständigtsein gleichzusetzen, wenn wir sicher sein dürften, daß jeder im Medium der sprachlichen Überlieferung eingespielte Konsensus zwanglos und unverzerrt zustande gekommen ist. Nun lehrt aber die Tiefenhermeneutik [also die an Freud anschließende, J.G.], daß sich in der Dogmatik des Überlieferungszusammenhangs nicht nur die Objektivität der Sprache überhaupt, sondern die Repressivität von Gewaltverhältnissen durchsetzt, die die Intersubjektivität der Verständigung als solche deformieren und die umgangssprachliche Kommunikation systematisch verzerren. Deshalb steht jeder Konsensus, in dem Sinnverstehen terminiert, grundsätzlich unter dem Verdacht, pseudokommunikativ erzwungen zu sein.« (LSW, 361) 42 kann. Gleiches gilt für die unbewußten Motive, die der Psychoanalytiker zum Bewußtsein bringt.« (Gadamer 1971: 70, vgl. auch 75) Drittens bezweifelt Gadamer, dass die Psychoanalyse als Muster einer Ideologiekritik dienen könne, da die asymmetrische Beziehung zwischen Arzt und Patient auf die Gesellschaft und ihre Deutung durch den Sozialwissenschaftler nicht übertragbar sei (vgl. Gadamer 1971: 81f., vgl. auch Giegel 1971). Was Gadamer im Blick hat, ist die Überlegung, dass Verständigung im Regelfall an die gleichberechtigte Beziehung von Gesprächspartnern gebunden ist. Wenn aber die Ausnahme zur Regel werde, breche die Basis, auf der Verständigung beruht, zusammen. 14 Tab.1: Die Architektonik der Erkenntnisinteressen Interesse Wissenschaftstyp Methode Handlungszusammenhang Technisches Empirisch-analytisch Kausales Erklären Monologisch Kontextunabhängig Interesse am Allgemeinen Allgemeine Gesetzeshypothesen Instrumentelles Handeln (Medium: Arbeit) Praktisches Historisch-hermeneutisch Bedeutungsverstehen Dialogisch Kontextgebunden Interesse am Besonderen Kommunikatives Handeln (Medium: Sprache) Emanzipatorisches Kritische Wissenschaften Selbstreflexion Bedeutungsverstehen und kausales Erklären Kontextgebunden Allgemeine Interpretationen Emanzipation (Medium: Herrschaft) Habermas’ Werkentwicklung nach Erkenntnis und Interesse ist einerseits durch die Entwicklung einer sprachtheoretischen Grundlegung der Soziologie und durch die Entwicklung der Konsenstheorie geprägt (s. dazu die Kapitel 8 und 9). Der andere Schwerpunkt - Thema der nun folgenden Kapitel - liegt in einer zeitgenössischen Anwendung der Marx’schen Perspektive auf die moderne Gesellschaft und der entsprechenden Neuformulierung der entsprechenden Theoriegrundlagen. 14 Zur Gadamer-Habermas-Kontroverse vgl. auch Ricœuer (Ricœuer 1981), Harrington (Harrington 2001) und How (How 1995). Ricœur hat im Hinblick auf einen zentralen Punkt der Gadamer-Habermas Kontoverse, die Frage danach, ob und wie es möglich ist, eine kritische Haltung gegenüber der Tradition zu gewinnen, eine mittlere Position eingenommen (vgl. Ricœur 1981). Während Gadamer das Verstehen zu sehr an einen in der Vergangenheit liegenden Konsens binde, begehe Habermas den umgekehrten Fehler und binde das Verstehen zu sehr an den zukünftigen Konsens, der in der idealen Sprechsituation erzielt werden würde (Ricœur 1981: 97) (siehe dazu auch Kapitel 9). 43 II. Die zeitdiagnostische und theoretische Reformulierung des Marxismus 5. Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ ist der Titel eines längeren Aufsatzes, der in gekürzter Form bereits im Merkur erschienen war und bei Suhrkamp in einer Textsammlung unter demselben Titel wie der Aufsatz publiziert wird. 1 In diesem Werk setzt sich Habermas mit Marcuses Technikdeutung auseinander, um in Abgrenzung dazu eine eigene Position zu formulieren. Sie knüpft an die durch die ältere kritische Theorie aufgeworfene Frage an, wie gesellschaftliche Rationalisierung zu verstehen sei. Habermas geht von Marcuses Beobachtung aus, dass technische Rationalisierung und die Durchsetzung politischer Herrschaft in der Moderne immer mehr zusammenfallen. Technik und Wissenschaft bieten sich als Ideologie an, da sie einen sozialtechnologischen Umgang mit politischen Fragen nahe legen. Marcuse ist der Ansicht, dieser Zusammenhang ließe sich dadurch aufheben, dass sich eine »neue Technik« entwickelt, was den Sinn des Naturobjekts ändern würde: »Statt Natur als Gegenstand möglicher technischer Verfügung zu behandeln, können wir ihr als Gegenspieler einer möglichen Interaktion begegnen.« (TWI, 57) Unschwer ist hier das Thema zu erkennen, das auch die Autoren der Dialektik der Aufklärung beschäftigte. Die Rationalisierung der Technik geht mit einer wachsenden Herrschaft über den Menschen einher. Habermas steht der von Marcuse vorgeschlagenen Lösung einer neuen, herrschaftsfreien Technik skeptisch gegenüber. Dennoch ergibt sich für ihn nicht zwingend, dass Naturbeherrschung und politische Herrschaft einander ergänzen. Vielmehr unterscheidet Habermas wie bereits Emile Durkheim (Durkheim 1985: 92ff.) zwischen technischen und normativen Regeln (vgl. TWI: 62f.). Ob entweder die eine oder die andere Form vorliegt, hängt davon ab, in welcher Form es zu einer Sanktion (also einer Bestrafung für Regelabweichung oder einer Belohnung für Regelbefolgung) kommt. Im Falle von technischen Regeln wird entweder »belohnt« oder »bestraft«, wenn das Handeln mit den Strukturen der Realität im Einklang ist oder nicht. Im Falle von normativen Regeln kommt es zu Sanktionen, wenn eine andere Person auf die Regelverletzung reagiert - die Sanktion ist also nicht »automatisch« mit der Handlung verknüpft, sondern vollzieht sich über soziale Normen. An dieser Stelle greift Habermas seine bereits in Erkenntnis und Interesse vorgenomme- 1 Vgl. auch den Text einer Vorlesung mit dem Titel »Über einige Bedingungen der Revolutionierung spätkapitalistischer Gesellschaften« von 1968 (in Habermas 1973: 70-86), in dem Habermas’ zentrale Thesen aus Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ aufnimmt. Auch der Text Praktische Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts ebenfalls aus dem Jahr 1968 enthält Elemente der in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ vorgetragenen Argumentation (in Habermas 1978b: 336-375). 44 ne Unterscheidung von Arbeit und Interaktion bzw. »zweckrationalem Handeln« und »kommunikativem Handeln« auf: »Unter ›Arbeit‹ oder zweckrationalem Handeln verstehe ich entweder instrumentales Handeln oder rationale Wahl oder eine Kombination von beidem […] während instrumentales Handeln Mittel organisiert, die angemessen oder unangemessen sind nach Kriterien einer wirksamen Kontrolle der Wirklichkeit, hängt das strategische Handeln nur von einer korrekten Bewertung möglicher Verhaltensalternativen ab, die sich allein aus einer Deduktion unter Zuhilfenahme von Werten und Maximen ergibt.« (TWI, 62) 2 In beiden Fällen, dem instrumentellen und dem rationalen Wahlhandeln, geht es um die Bestimmung der Handlung, mit der der Akteur seinen Nutzen in der besten Weise verwirklicht. Dies hängt davon ab, die Wirklichkeit richtig einzuschätzen (instrumenteller Aspekt), aber auch davon, welche Ziele ein Handelnder jeweils verfolgt - oder in der Sprache der Theorien rationaler Wahl: wie seine Präferenzen bestimmt sind. Dazu ein Beispiel: Jemand, der die Sonne liebt, wird nicht Irland als Reiseziel wählen. »Unter kommunikativem Handeln verstehe ich andererseits eine symbolisch vermittelte Interaktion. Sie richtet sich nach obligatorisch geltenden Normen, die reziproke Verhaltenserwartungen definieren und von mindestens zwei handelnden Subjekten verstanden und anerkannt werden müssen. Gesellschaftliche Normen sind durch Sanktionen bekräftigt. Ihr Sinn objektiviert sich in umgangssprachlicher Kommunikation.« (TWI, 62f.) 3 2 McCarthy weist darauf hin, dass die Annahme, instrumentales Handeln und rationale Wahl ließen sich als zwei Handlungstypen beschreiben, irreführend ist. Zweckrationales Handeln umfasst immer beide Aspekte, da die Mittelwahl nicht unabhängig von Zielvorstellungen als instrumentell betrachtet werden kann (McCarthy 1989: 37). Zudem darf die Unterscheidung von Interaktion nicht so verstanden werden, dass in das soziale Handeln (nach Weber solches, das sich am Verhalten anderer orientiert) nicht auch instrumentelle Aspekte eingehen (McCarthy 1989: 41ff.). Habermas’ spätere Klassifikation trägt diesem Umstand Rechnung, indem er zwischen instrumentellem Handeln und strategischem Handeln als Unterformen des zweckrationalen Handelns unterscheidet. Instrumentelles Handeln ist zweckrationales Handeln, das sich nicht am Verhalten anderer orientiert, sondern an natürlichen Zuständen, wohingegen sich das strategische Handeln an anderen Akteuren orientiert (TKH I, 385; s. auch Kapitel 11). 3 Mit dem Begriffdes zweckrationalen Handelns knüpft Habermas auch begrifflich an der Bestimmung des zweckrationalen Handelns bei Weber an. Das kommunikative Handeln lässt sich mit Weber als wertrationales verstehen: »Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. z w e c k r a t i o n a l: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von andren Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ›Bedingungen‹ oder als ›Mittel‹ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke, — 2. w e r t r a t i o n a l: durch bewußten Glauben an den — ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden — unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg, — 3. a f f e k t u e l l, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen, — 4. t r a d i t i o n a l: durch eingelebte Gewohnheit.« (Weber 1980: 12) 45 Neu ist, dass Habermas auf der Basis dieser Handlungstypen zugleich »gesellschaftliche Systeme«, d. h. Teilsysteme der Gesellschaft unterscheidet: »Wir können anhand der beiden Handlungstypen gesellschaftliche Systeme danach unterscheiden, ob in ihnen zweckrationales Handeln oder Interaktion überwiegt. Der institutionelle Rahmen einer Gesellschaft besteht aus Normen, die sprachlich vermittelte Interaktionen leiten. Aber es gibt Sub-Systeme, wie um bei Max Webers Beispielen zu bleiben, das Wirtschaftssystem oder der Staatsapparat, in denen hauptsächlich Sätze von zweckrationalen Handlungen institutionalisiert sind. Auf der Gegenseite stehen Sub-Systeme wie Familie und Verwandtschaft, die gewiß mit einer Fülle von Aufgaben und Fertigkeiten verknüpft sind, aber hauptsächlich auf moralischen Regeln der Interaktion beruhen. So möchte ich auf analytischer Ebene allgemein unterscheiden zwischen 1. dem institutionellen Rahmen einer Gesellschaft oder der soziokulturellen Lebenswelt und 2. den Sub- Systemen zweckrationalen Handelns, die darin eingebettet sind.« (TWI: 63ff.) (vgl. auch Habermas 1978b: 350) Dies wird Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns ausführlicher entfalten. Erkennbar wird aber bereits, dass er durch die Unterscheidung der Handlungstypen und die Unterscheidung entsprechend strukturierter Handlungsbereiche nun zwei grundsätzlich verschiedene Dimensionen der Handlungsbzw. der Gesellschaftsdifferenzierung und -rationalisierung ausmachen kann: Rationalisierungen, die am kommunikativen Handeln bzw. der Lebenswelt anknüpfen, auf der einen Seite und Rationalisierungen, die am zweckrationalen Handeln und der systemischen Bereichen der Gesellschaft anknüpfen, auf der anderen Seite: »… daß zwei Begriffe von Rationalisierung auseinandergehalten werden müssen. Auf der Ebene der Sub-Systeme zweckrationalen Handelns hat der wissenschaftlich-technische Fortschritt die Reorganisation gesellschaftlicher Institutionen und Teilbereiche schon erzwungen, und er macht sie in noch größerem Maßstab erforderlich. Aber dieser Prozeß der Entfaltung von Produktivkräften kann nur dann und nur dann ein Potential der Befreiung sein, wenn er Rationalisierung auf der anderen Ebene nicht ersetzt. Rationalisierung auf der Ebene des institutionellen Rahmens kann sich nur im Medium der sprachlich vermittelten Interaktion selber, nämlich durch eine Entschränkung der Kommunikation vollziehen. Die öffentliche, uneingeschränkte und herrschaftsfreie Diskussion über die Angemessenheit und Wünschbarkeit von handlungsorientierenden Grundsätzen und Normen […, J.G.] ist das einzige Medium, in dem so etwas wie ›Rationalisierung‹ möglich ist.« (TWI, 98) Technische Rationalisierung schließt also nicht zwingend eine Technisierung des normativ-politischen Rahmens der Gesellschaft ein. 46 Habermas beschreibt die Rationalisierung der Gesellschaft im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft entsprechend nicht nur als eine, die sich aus Revolutionierungen im Bereich der Technik ergibt, sondern auch - und dies im Anschluss an Weber - als Rationalisierung von Weltbildern: »Die traditionellen Weltbilder und Objektivationen verlieren 1. als Mythos, als eingelebte Religion, als eingewöhnter Ritus, als rechtfertigende Metaphysik, als fraglose Tradition ihre Macht und ihre Geltung. Sie werden statt dessen 2. in subjektive Glaubensmächte und Ethiken umgebildet, die die private Verbindlichkeit der modernen Wertorientierungen sichern (›Protestantische Ethik‹); und sie werden 3. zu Konstruktionen umgearbeitet, die beides zugleich leisten: eine Kritik der Überlieferung und eine Reorganisation des freigewordenen Materials der Überlieferung nach Prinzipien des formalen Rechtsverkehrs und des Äquivalententausches (Rationales Naturrecht).« (TWI, 72) Erst hier entsteht der Raum für Ideologien. Nach Habermas nimmt dabei die Technik eine mehrdeutige Position zur Ideologie ein: Einerseits erscheint Technik selbst als Ideologiekritik, weil sie keine umfassenden Weltbilder mehr zulässt, andererseits kann sie, und hierin sieht Habermas ihre Gefahr, als die einzig legitime Weise erscheinen, Fragen der politischen Gestaltung überhaupt zu beantworten. Sie wird dann zu einer problematischen Ersatzprogrammatik für Ideologien: »Die heute herrschende Ersatzprogrammatik bezieht sich nur noch auf das Funktionieren eines gesteuerten Systems. Sie schaltet praktische Fragen aus, und damit die Diskussion über die Annahme von Standards, die allein der demokratischen Willensbildung zugänglich wären. Die Lösung technischer Fragen ist auf öffentliche Diskussion nicht angewiesen.« (TWI, 78) Dieses Bild einer nur noch über wissenschaftlich-technische Rationalisierung zu steuernden Gesellschaft habe ihren Niederschlag in der »Systemforschung« gefunden: »Wenn man dieser Intention einer instinktanalogen Selbststabilisierung gesellschaftlicher Systeme folgt, ergibt sich die eigentümliche Perspektive, daß die Struktur des einen der beiden Handlungstypen, nämlich der Funktionskreis zweckrationalen Handelns, nicht nur gegenüber dem institutionellen Zusammenhang ein Übergewicht erhält, sondern kommunikatives Handeln nach und nach als solches absorbiert.« (TWI, 82) Zwar glaubt Habermas nicht, dass »diese technokratische Intention« bereits »auch nur in Ansätzen verwirklicht sei«, aber er sieht bereits »Entwicklungstendenzen« (TWI, 83). Seine Krisendiagnose, die er in der Theorie des kommunikativen Handelns entwickeln wird, ist damit bereits vorgezeichnet: Das kommunikative Handeln bildet 47 den Rahmen des instrumentellen, dieses droht aber unter Umständen diesen Rahmen selbst zu zerstören. Auch die Einbindung der Systemtheorie in diese Diagnose ist damit bereits umrissen. Diese könne zwar angemessen das Operieren der technischen Subsysteme beschreiben, aber gelange nicht zu einer Analyse des kommunikativen Handelns und der soziokulturellen Lebenswelt. 4 Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ liefert also bereits zentrale Thesen, die Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns ausbuchstabieren wird und die tragend für seine Handlungstheorie und seine Theorie der Gesellschaft sind: die Unterscheidung zweier grundlegender Handlungstypen (Interaktion und • Arbeit oder kommunikatives und zweckrationales Handeln) die damit verbundene Unterscheidung zweier Formen gesellschaftlicher Diffe- • renzierung (in eine Lebenswelt und in Subsysteme zweckrationalen Handelns) die These, dass die Lebenswelt und ihre Institutionen den Rahmen bilden, in • dem sich instrumentelles Handeln vollzieht aber die Befürchtung, die Verselbständigung der technischen Subsysteme könne • zu einer Beschädigung des lebensweltlichen Rahmens führen und dies finde sich nicht nur in sozialtechnologischen Phantasien, sondern sei- • nen theoretischen Ausdruck auch in der Systemtheorie, welche die notwendig kommunikative Integration der Gesellschaft übersehe die Annahme, gesellschaftliche Entwicklung könne durch zwei Weisen der Ra- • tionalisierung beschrieben werden. Die Befürchtung der älteren Frankfurter Schule, Rationalisierung führe notwendig wieder in Unterdrückung, wird damit überwunden mit dem Übergang zur Moderne werden bisherige Weltbilder brüchig und dies • eröffne einen Spielraum für kommunikative Rationalisierung diese stellt sich aber nicht zwangsläufig ein. • 4 Diese Entgegensetzung motiviert auch den Titel einer Kontroverse zwischen Habermas und Luhmann: »Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung« von 1971. Aus der Sicht von Habermas stellt die Systemtheorie »sozusagen die Hochform eines technokratischen Bewußtseins dar, das heute praktische Fragen als technische von vornherein zu definieren und damit öffentlicher und ungezwungener Diskussion zu entziehen gestattet.« (TGS, 145) Dass diese These wie schon der Titel des Bandes eine unangemessene Gleichsetzung von Sozialtechnologie und Systemtheorie nahe legt, dürfte heute unstrittig sein. Mit der Sozialtechnologiethese knüpft Habermas grundlegend bei anderen Autoren an, nämlich bei Gehlen, Ellul und Schelsky (vgl. die Verweise in TWI, 81), nicht an »genuin« systemtheoretischen Autoren. Auch lässt sich die Dichotomie von Kommunikation und Zwecktätigkeit in die Systemtheorie nicht hineinlesen denn die systemtheoretische Kritik am gängigen Handlungsverständnis läuft ja nicht darauf hinaus, technologische Fragen als einzig zulässige zu verstehen, sondern basiert auf der These, dass ein Handlungsverständnis, das an einzelnen Subjekten ansetzt, unzulässig verkürzend ist. Ertragreicher als die Frage, ob Luhmann (auch gegen seine Intention) gezwungen sei, Systemtheorie als Sozialtechnologie zu verstehen, war die Diskussion um die Anwendungsbedingungen funktionaler Analysen. Luhmann akzeptiert, dass der Versuch, funktionale Analyse an den Komplexitätsbegriffzu binden, zu Differenzierungen im Begriffder Komplexität zwingt (TGS, 299ff.). 48 Damit wird nun die Zeitdiagnose ein Thema, denn sie soll eine Antwort auf die Frage gestatten, warum eine solche »Entschränkung« der Kommunikation sich nicht vollzieht. Habermas Antwort darauf lautet, es sei »der Spätkapitalismus«, der »auf eine entpolitisierte Öffentlichkeit strukturell angewiesen« sei (TWI, 100). Damit knüpft er erkennbar an seine Diagnose aus dem Strukturwandel der Öffentlichkeit an. Das Gesamtbild der Zeitdiagnose wird in Kapitel 6 ausführlich dargestellt. In Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ wiederholt Habermas zudem eine Überlegung, die er in Erkenntnis und Interesse im Hinblick auf Marx formuliert hatte: Marx’ Analyse müsse im Rahmen der Unterscheidung von Interaktion und Arbeit neu gelesen werden. Diese These wird von Habermas umfassend in der Rekonstruktion des Historischen Materialismus entfaltet (s. dazu Kapitel 7). Tab. 2: Interaktion und Arbeit Institutioneller Rahmen: symbolisch vermittelte Interaktion Systeme zweckrationalen (instrumentalen und strategischen Handelns) Handlungsorientierende Regeln gesellschaftliche Normen technische Regeln Ebene der Definition intersubjektiv geteilte Umgangssprache kontextfreie Sprache Art der Definition reziproke Verhaltenserwartungen bedingte Prognosen, bedingte Imperative Mechanismen des Erwerbs Internalisierung von Rollen Lernen von Fertigkeiten und Qualifikationen Funktion des Handlungstyps Aufrechterhaltung von Institutionen (Normenkonformität auf der Grundlage reziproker Verstärkung) Problemlösung (Zielerreichung, definiert in Zweck-Mittel-Relationen) Sanktionen bei Regelverletzung Bestrafung aufgrund konventioneller Sanktionen; Scheitern an Autorität Erfolglosigkeit: Scheitern an der Realität »Rationalisierung« Emanzipation, Individuierung; Ausdehnung herrschaftsfreier Kommunikation Steigerung der Produktivkräfte; Ausdehnung der technischen Verfügungsgewalt. Aus: TWI, 64 49 6. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus 1973 erscheint Habermas’ Werk Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus. Es enthält Überlegungen, die sich in vielem mit der Diagnose von Claus Offe, Habermas’ Assistenten in Frankfurt, decken - dieser hat sich ebenfalls eingehend mit den Strukturproblemen des kapitalistischen Staates (Offe 2006, urspr. 1972) befasst. 5 Unter dem Begriffdes »Spätkapitalismus« oder auch des »organisierten Kapitalismus« verstehen Offe und Habermas jene Form, die nicht mehr allein auf dem Gegensatz von Kapitalisten und Proletariern beruht, wie er die Phase des »Liberalkapitalismus« bestimmte, sondern dieses Verhältnis wird um einen vermittelnden und regulierenden Staat ergänzt (LSK, 50). 6 Der Klassengegensatz verschiebt sich damit aus der Sphäre des Ökonomischen in die des Politischen (LSK, 44). Folglich verlagert sich für Habermas auch das Legitimationsproblem. Dieses Legitimationsproblem entsteht - und diese Analyse ist grundlegend für Habermas’ Einschätzung des Kapitalismus bis hin zur Theorie des kommunikativen Handelns - daraus, dass sich schon mit der bürgerlichen Revolution die traditionellen Legitimationen von Klassenherrschaft auflösen - eine Analyse, die bereits Marx’ Lesart der bürgerlichen Transformation bestimmte: »Alles Stehende und Ständische verdampft, alles Heilige wird entweiht« (Marx/ Engels 1980: 465). Marx sah an dieser Stelle eine bürgerliche Ideologie als Nachfolge religiöser Legitimationen entstehen, die die freie Entfaltung des Handels zum Kern ihrer Legitimation gemacht hat: »Unter Freiheit versteht man innerhalb der jetzigen bürgerlichen Produktionsverhältnisse den freien Handel, den freien Kauf und Verkauf.« (Marx/ Engels 1980: 476) Ideologisch war aus der Sicht von Marx und Engels der Rekurs auf Freiheitsrechte, denn in diesem Zusammenhang verstand man Partialinteressen als allgemeine. An dieser Stelle nimmt nun der Staat eine entscheidende Position ein. Habermas weist jedoch eine einfache Lesart des Staates als Agentur bürgerlicher Interessendurchsetzung zurück, wie sie von Marx und Engels im Manifest der kommunistischen Partei formuliert wurde (»Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisieklasse verwaltet.« Marx/ Engels 1980: 464). Vielmehr knüpft Habermas an der »raffinierteren« Staatsauffassung an, die sich ebenfalls bei Marx findet und derzufolge der Staat vor der Aufgabe steht, die Einzelinteressen in ein Allgemeines aufzuheben, ohne dies tatsächlich bewerkstelligen zu können: »Und eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit.« (Marx/ Engels 1962: 33) Habermas lässt keinen Zweifel daran, dass die Auflösung des Klassengegensatzes durch staatliches Handeln nicht gelingen kann. Vielmehr ist er der Meinung, dass 5 Die Themen des Buches nimmt Habermas auch in Aufsätzen in RHM, 271ff. auf. Eine gute Zusammenfassung der zentralen Thesen gibt insbesondere: Was heißt heute Krise? Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (RHM, 304ff.). 6 Vgl. dazu auch Offe (Offe 2006: 51ff.) und bereits Habermas (Habermas 1978b: 228ff.) 50 der Klassengegensatz, wenn er nicht aufgehoben wird, sich durch staatliches Handeln lediglich in der Latenz halten lässt. 7 An die Stelle legitimierender Weltbilder tritt nach Habermas daher ein staatliches Handeln, das gezwungen ist, an die Stelle einer »materialen Demokratie«, die »den Widerspruch zwischen der administrativ vergesellschafteten Produktion und einer nach wie vor privaten Aneignung und Verwendung des Mehrwerts zu Bewußtsein bringen« würde (LSK, 55), eine »lediglich« formale Demokratie aufrechtzuerhalten: »Der Zuschnitt formaldemokratischer Einrichtungen und Prozeduren sorgt dafür, daß die Entscheidungen der Administration weitgehend unabhängig von bestimmten Motiven der Staatsbürger gefällt werden können. Dies geschieht durch einen Legitimationsprozeß, der generalisierte Motive, d. h. inhaltlich diffuse Massenloyalität beschafft, aber echte Partizipation vermeidet.« (LSK, 55) Dafür seien ein »staatsbürgerlicher Privatismus« und eine »entpolitisierte Öffentlichkeit« »bestandswichtig« (LSK, 106, 55) - eine Analyse, die direkt an den Strukturwandel der Öffentlichkeit anknüpft - ebenso wie die Gewährleistung »systemkonforme[r] Entschädigungen (in Form von Geld, arbeitsfreier Zeit und Sicherheit).« (LSK, 55) Habermas ist nun nicht der Meinung, dass sich der Spätkapitalismus unmittelbar in einer Krise befindet, aber er sieht vier unterschiedliche mögliche Krisenpunkte, die jeweils an verschiedenen Aspekten der so umrissenen Struktur des Spätkapitalismus ansetzen: Der erste Krisenpunkt ist ökonomischer Natur und ergibt sich, wenn es dem Wirtschaftssystem nicht gelingt, hinreichende Gütermengen zu produzieren. Hier knüpft Habermas an die Marx’sche Diagnose von Überlegungen zu notwendigen ökonomischen Krisen im Kapitalismus an. Allerdings erinnert Habermas in seiner Auseinandersetzung mit ökonomischen Krisentheorien daran, dass die Preisbildung und Wachstumsbedingungen im Spätkapitalismus unter Berücksichtigung der Effekte staatlichen Handelns erfolgt; das betrifft insbesondere die Rolle von Wissenschaft und Bildung, die Regulierung des Tarifkonflikts und die entsprechende Bindung der Lohnpreisbildung an politische Bedingungen, aber auch die Staatstätigkeit in ihrer Verwiesenheit auf Legitimitätszufuhren aus dem politischen System. Gravierender sind für Habermas die Krisen, die auf den politisch-administrativen Sektor verweisen, als jene, die im Bereich des Ökonomischen im engeren Sinne anzutreffen sind. Im politischadministrativen Bereich drohe als zweites Krisenmoment eine Rationalitätskrise, die 7 »In Klassengesellschaften ist mit dem privaten Eigentum an Produktionsmitteln ein Gewaltverhältnis institutionalisiert, das auf Dauer die soziale Integration bedroht. Denn der im Klassenverhältnis etablierte Gegensatz der Interessen stellt ein Konfliktpotenzial dar. Freilich kann der Interessengegensatz zwischen sozialen Klassen im Rahmen einer legitimen Herrschaftsordnung latent gehalten und auf Zeit integriert werden. Dies ist die Leistung von legitimierenden Weltbildern oder Ideologien: sie entziehen die kontrafaktischen Geltungsansprüche normativer Strukturen der öffentlichen Thematisierung und Nachprüfung.« (LSK, 34) 51 dann entstehe, wenn der Staat nicht mehr in der Lage ist, die widerstreitenden Interessen miteinander zu vermitteln: »Das Krisentheorem beruht nun auf der Überlegung, daß die wachsende Vergesellschaftung einer nach wie vor an privaten Zielen ausgerichteten Produktion für den Staat unerfüllbare, weil paradoxe Forderungen mit sich bringt. Einerseits soll der Staat die Funktionen eines Gesamtkapitalisten übernehmen, andererseits dürfen die konkurrierenden Einzelkapitale, solange die Investitionsfreiheit nicht beseitigt wird, keinen kollektiven Willen bilden oder gar durchsetzen.« (LSK, 89) Wie bereits erwähnt, lehnt Habermas die Auffassung ab, der Staat sei lediglich eine Interessenagentur. Folglich muss der Staat den Konflikt zwischen den Einzelinteressen aufnehmen. Trotz dieser scharfen Problemformulierung ergibt sich für Habermas daraus aber keine gänzliche Unlösbarkeit des Rationalitätsproblems So bestehe »keine logisch zwingende Unvereinbarkeit zwischen den Interessen an gesamtkapitalistischer Planung und Investitionsfreiheit, Planungsbedarf und Interventionsverzicht, Verselbständigung des Staatsapparates und Abhängigkeit von Einzelinteressen. Die Möglichkeit, daß sich das administrative System zwischen den konkurrierenden Ansprüchen einen Kompromißpfad bahnt, der immer noch ein ausreichendes Maß an Organisationsrationalität erlaubt, kann nicht schon aus logischen Gründen ausgeschlossen werden.« (LSK, 92) Die dritte Krisentendenz ist die legitimatorische. Sie basiert auf dem Bedarf des politischen Systems an generalisierter Folgebereitschaft oder »Massenloyalität«. Habermas sieht eine Reihe von Mechanismen, die der Herstellung dieser Massenloyalität dienen. Zentral ist neben der Bereitstellung der schon angeführten »systemkonformen« Entschädigungen der Versuch des administrativen Systems, sich selbst von starken Anforderungen an Legitimation zu entlasten, indem diese Techniken »symbolischer Politik« nutzt. Hier greift Habermas ebenfalls auf seine Überlegungen zum Strukturwandel der Öffentlichkeit zurück: »Bekannte Strategien dieser Art sind die Personalisierung von Sachfragen, der symbolische Gebrauch von Anhörungsverfahren, Expertenurteilen, juristischen Beschwörungsformeln usw., aber auch die […, J.G.] Reklametechniken, die bestehende Vorurteilsstrukturen zugleich bestätigen und exploitieren […, J.G.]. Die legitimationswirksam hergestellte Öffentlichkeit hat vor allem die Funktion, die Aufmerksamkeit durch Themenbereiche zu strukturieren, d. h. andere Themen, Probleme und Argumente unter die Aufmerksamkeitsschwelle herunterzuspielen und dadurch der Meinungsbildung zu entziehen.« (LSK, 99; vgl. auch RHM, 318) 52 Unter welchen Bedingungen kann dies nicht gelingen? Zum einen sieht Habermas, dass der Manipulationsgrad der Öffentlichkeit begrenzt ist. Legitimatorischen Sinn könne das administrative System daher nur in Grenzen bereitstellen (LSK, 99). Zudem kann die Legitimation hinsichtlich der Erwartungen an Entschädigungen scheitern, und zwar in zweifacher Hinsicht: »Eine Legitimationskrise entsteht, sobald die Ansprüche auf systemkonforme Entschädigungen schneller steigen als die disponible Wertmasse, oder wenn Erwartungen entstehen, die mit systemkonformen Entschädigungen nicht befriedigt werden können.« (LSK, 104) An dieser Stelle verweist die Legitimationskrise auf eine vierte Form der Krisentendenz: die Motivationskrise. Sie stellt sich ein, wenn der Bedarf an einem legitimationswirksamen Sinn nicht mehr gedeckt werden kann. Dies geschieht durch die Herausforderung des staatsbürgerlichen Privatismus, der mit einer entpolitisierten Öffentlichkeit zusammenfällt. Zunächst einmal sieht Habermas notwendige Grenzen der bürgerlichen Ideologien, die diesem Privatismus zugrunde liegen. Sie können eine Reihe von Leistungen nicht erbringen, denn diese Ideologien: »bieten gegenüber den Grundrisiken der persönlichen Existenz (Schuld, Krank- • heit, Tod) keine Hilfe für kontingenzüberwindende Deutungen (sie sind angesichts individueller Heilsbedürfnisse trostlos) 8 sie ermöglichen keinen humanen Umgang mit der grundsätzlich objektivierten • Natur, weder mit der äußeren Natur, noch mit der des eigenen Leibes; sie gestatten keinen intuitiven Zugang zu solidarischen Beziehungen in Gruppen • und zwischen Individuen; sie erlauben keine eigentlich politische Ethik.« (LSK, 110) • Lediglich die bürgerliche Kunst biete noch ein Reservat »für eine, sei es auch nur virtuelle, Befriedigung jener Bedürfnisse […, J.G.], die im materiellen Lebensprozeß der bürgerlichen Gesellschaft gleichsam illegal geworden sind.« (LSK, 110) Es sind nicht nur diese Schwächen, die nach Habermas zu einer Skepsis darüber berechtigen, ob der Privatismus eine hinreichende motivationale Stütze liefern kann. Für diese Skepsis findet Habermas verschiedene Argumente. So verlören erstens zentrale Elemente der bürgerlichen Ideologie ihre Plausibilität: Die Leistungsideologie wirke vor dem Hintergrund von Marktverzerrungen durch Machtungleichgewichte nicht mehr plausibel - hierher gehörten auch die ungleichen Bildungschancen und das Entstehen von größeren Bevölkerungsgruppen, die dem Markt direkt gar nicht mehr unterliegen. Zweitens bildeten sich neue kulturelle Elemente, die mit der bürgerlichen Ideologie nicht verträglich seien: »Die heute dominierenden Bestandteile der 8 Eine Überlegung, die Habermas später wiederholen wird, dann aber nicht mehr bezogen auf bürgerliche Ideologien, sondern auf eine säkulare, allein auf Gerechtigkeitsfragen bezogene Moral (s. unten; vgl. auch LSK, 165). 53 kulturellen Überlieferung kristallieren sich um Szientismus, nachauratische Kunst und universalistische Moral.« (LSK, 117) Habermas’ Einschätzung des Szientismus wurde bereits in Kapitel 5 dargestellt. Habermas sieht hier die Gefahr, dass die Sozialtechnologie als Ersatzideologie an die Stelle der bürgerlichen Ideologien tritt und die Entpolitisierung der Öffentlichkeit daher anders zu fundieren vermag - eine wirkliche Herausforderung des Spätkapitalismus ergibt sich daraus eigentlich nicht. Anders verhält es sich mit der modernen Kunst: »Mit ihr zeichnet sich erstmals eine aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft selbst entstehende Gegenkultur gegen den besitzindividualistischen, leistungs- und nutzenorientierten Lebensstil des Bürgertums ab.« (LSK, 118f.) Die universalistische Moral ist der dritte Aspekt einer Herausforderung der bürgerlichen Ideologie - Habermas greift hier Gedanken auf, die er in dieser Phase seiner Werkentwicklung unter den Begriffen der Konsenstheorie und der Diskursethik entwickelt (s. ausführlicher Kapitel 9 und 10). Im Zentrum steht der Gedanke, dass moralische Normen sich nur dann rechtfertigen können, wenn sie in einem Diskurs auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin überprüft werden: »Erst die kommunikative Ethik sichert die Allgemeinheit der zulässigen Normen und die Autonomie der handelnden Subjekte allein durch die diskursive Einlösbarkeit der Geltungsansprüche, mit denen Normen auftreten, d. h. dadurch, daß nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, mit denen Normen auftreten, auf die sich alle Betroffenen als Teilnehmer eines Diskurses (zwanglos) einigen (oder einigen würden), wenn sie in eine diskursive Willensbildung eintreten (oder eintreten würden).« (LSK, 125) Habermas vertritt die Ansicht, dass die zentralen Elemente der bürgerlichen Ideologie einen verallgemeinernden Charakter bereits zwar besitzen, dass sie aber im Lichte einer solchen Ethik nicht mehr verallgemeinerungsfähig sind. Vor allem aber würde eine solche Ethik den Privatismus unterlaufen, weil sie Normen unter einen öffentlichen Rechtfertigungszwang stellen würde (LSK, 125). Hiermit gewinnt Habermas einen neuen Gesichtspunkt der Kritik. Nicht nur kann die Krise des Spätkapitalismus sich als eine Unterversorgungskrise äußern und sie kann sich motivational als unangemessen erweisen, weil neue Bedürfnisse entstehen, die der Spätkapitalismus nicht befriedigen kann, sondern sie kann sich auch im Lichte des Rechtfertigungsanspruchs der moralischen Normen als nicht mehr hinreichend legitimiert herausstellen. Habermas’ Überlegungen sind, wie beispielsweise David Held feststellt, nicht nur reichlich abstrakt, sondern sie lassen auch die Frage offen, wer nun eigentlich der Träger einer möglichen Umgestaltung der Gesellschaft sein könnte (Held 1982: 195). 9 Dass das Proletariat diese Rolle gerade nicht einnimmt - diese Ansicht der früheren kriti- 9 Held bezweifelt zudem, dass Gesellschaften tatsächlich durch das von Habermas unterstellte Maß von Konsens integriert werden müssen (Held 1982: 192). 54 schen Theorie teilt Habermas (Habermas 1978b: 229). Die Gruppe, die jene neuen Bedürfnisse transportiert, die sich nicht als »Entschädigungen« darstellen lassen, lässt sich empirisch schon eher als Träger eines Projekts einer Gesellschaftstransformation begreifen - die Studentenrevolten konnten und wurden von Habermas in diesem Sinne gedeutet, als revolutionäres Subjekt versteht er sie aber nicht. 10 Habermas’ Analyse nötigt ihn zwar nicht dazu, ein revolutionäres Subjekt zu benennen, weil sie - obwohl er keinen Zweifel an der inhärenten Widerspruchshaftigkeit des Spätkapitalismus lässt - dennoch nicht davon ausgeht, dass diese Krisenanfälligkeit notwendig zu einer radikalen Transformation der Gesellschaft führen muss. Dennoch beschränkt Habermas die kritische Theorie nicht nur auf die Funktion, den Zustand der Gesellschaft zu diagnostizieren, sondern er schreibt ihr eine »advokatorische Rolle« zu (LSK, 161). Diese besteht darin, einen »stellvertretend simulierten Diskurs« zu führen (LSK, 161). Da ein Diskurs nach Habermas streng genommen nur als ein realer Diskurs zwischen Betroffenen möglich ist, kann es sich nur um eine Simulation handeln. Für Habermas hat diese stellvertretend durchgeführte Kritik einen klaren Gegenstand, nämlich eine Kritik von Kompromissen. Habermas ist durchaus der Meinung, dass Kompromisse gerechtfertigt sein können, auch wenn das auf den ersten Blick im Gegensatz zum starken Rechtfertigungsanspruch der Diskursethik zu stehen scheint: »Indem wir einen praktischen Diskurs aufnehmen, unterstellen wir unvermeidlich eine ideale Sprechsituation, die kraft der formalen Eigenschaften einen Konsensus ohnehin nur über verallgemeinerungsfähige Interessen zuläßt.« (LSK, 152) Das Problem, das Habermas in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus anspricht, bezieht sich auf nicht-verallgemeinerungsfähigen Interessen, die die Brisanz moralischer und gesellschaftlicher Konflikte ausmachen. 11 Konflikte zwischen nicht-verallge- 10 Dies galt auch für Marcuse, der mit seinen Arbeiten über Triebstruktur und Gesellschaft (Marcuse 1995) und Konterrevolution und Revolte (Marcuse 1973) den Gedanken des Triebverzichts gesellschaftskritisch wendet, indem er den von Freud hergestellten Zusammenhang von Triebversagung und Kultur als überwindbar deutete und für die protestierenden Studierenden damit zu einer Leitfigur ihres Protestes wurde. Aber auch Marcuse »enttäuschte« die Studierenden, als er 1967 auf einer vom SDS organisierten Veranstaltung den protestierenden Studenten »unmißverständlich« sagte, »daß sie nicht das Subjekt der historischen Umwälzung seien. Er sprach ihnen ab, eine unterdrückte Minderheit zu sein, und er sprach ihnen ab, eine unmittelbar revolutionäre Kraft zu sein.« (Wiggershaus 1986: 690) 11 Die Unterscheidung verallgemeinerungs- und nichtverallgemeinerungsfähiger Interessen ist im Übrigen nicht leicht zu treffen, da die bloße Allgemeinheit des Interesses Konflikte nicht ausschließt. Dass Menschen Interessen haben, die allgemein geteilt werden (wie das Interesse an körperlicher Unversehrtheit oder einem gewissen Maß an materiellem Wohlstand), macht diese noch nicht zu verallgemeinerungsfähigen Interessen, denn sie schließen ja nicht notwendig das Interesse an der Rücksichtnahme auf die Interessen anderer ein. Häufig führt die Gleichheit der Interessen vielmehr gerade zum Konflikt (Kant 1990a: 32). Für Kant kann die Verallgemeinerungsfähigkeit der Maximen (der subjektiven Grundsätze des Handelns) nicht aus der Materie des Wollens (also den individuellen Bedürfnissen, Zwecken etc.) folgen, sondern aus einem Verallgemeinerungstest, der nur formal sein kann: »Nun bleibt aber von einem Gesetze, wenn man alle Materie, d.i. jeden Gegenstand des Willens (als Bestimmungsgrund) davon absondert, nichts übrig als die bloße Form einer allgemeinen Gesetz- 55 meinerungsfähigen Interessen lassen sich nun durch Kompromisse auflösen, vorausgesetzt, es tritt eine Situation ein, in der es sich als positiv erweist, zu einer Übereinkunft zu kommen, ohne dass es dafür verallgemeinerungsfähige Gründe gibt. Das jedem Zeitungsleser vertraute Beispiel sind Tarifabschlüsse. So werden die Arbeitgeber in der Regel das Argument vortragen, dass geringere Lohnsteigerungen langfristig höhere Gewinne auch für die Arbeitnehmer versprechen. Das »Gesparte« könnte in Investitionen fließen, die das Wirtschaftsniveau im Ganzen heben. Die Arbeitnehmer hingegen werden geltend machen, dass Kaufkraftsteigerungen eine bessere wirtschaftliche Entwicklung versprechen. Auf beiden Seiten wirken sich zudem unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen darüber aus, wie Gewinne, Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft verteilt werden sollten. Die Anerkennung des Kompromisses verdankt sich also keiner Übereinkunft hinsichtlich der zugrunde liegenden Argumente 12 und keiner Auflösung des zugrunde liegenden Interessengegensatzes, gleichzeitig ist es vernünftig, die Regelung anzuerkennen, weil die bestehenden Machtverhältnisse keine andere Entscheidung zulassen und die Notwendigkeit, weiter zu produzieren, es unmöglich macht, die Verhandlungen bis zu einem Punkt fortzusetzen, an dem die Qualität der Argumente geklärt ist. Habermas stellt sich die Frage, worin die Legitimität eines Kompromisses bestehen kann und nennt dafür zwei Bedingungen: »Ein Kompromiß kann als Kompromiß nur gerechtfertigt werden, wenn beide Bedingungen erfüllt sind: ein Machtgleichgewicht der beteiligten Parteien und die Nicht-Verallgemeinerungsfähigkeit der verhandelten Interessen. Wenn mindestens eine dieser allgemeinen Bedingungen der Kompromißbildung nicht erfüllt ist, handelt es sich um einen Scheinkompromiß.« (LSK, 155) An dieser Stelle kommt nun die advokatorische Kritik ins Spiel: »Die advokatorische Rolle der kritischen Gesellschaftstheorie bestünde […, J.G.] darin, in einem stellvertretend simulierten Diskurs zwischen den Gruppen, die sich durch einen artikulierten oder zumindest virtuellen Gegensatz der Interessen gebung.« (Kant 1990a: 31) Dies bringt dann der kategorische Imperativ zum Ausdruck: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« (Kant 1990a: 36) Verallgemeinerungsfähig wären daher Maximen, die zu einem allgemeinen Gesetz taugen würden. So erfüllt beispielsweise die Maxime: »Du sollst nicht stehlen« diesen Anspruch. Bei Habermas bemisst sich die Verallgemeinerungsfähigkeit daran, ob diese Interessen mit Normen verbunden sind, die in einem praktischen Diskurs gerechtfertigt werden können. Der Begriffdes Interesses ist hierbei in gewisser Weise irreführend, denn es ist ja nicht das Interesse (bei Kant: die Materie des Wollens) selbst, das verallgemeinerungsfähig ist oder nicht, sondern es sind eher die Grundsätze des Handelns, die der Handelnde bei der Verfolgung dieser Interessen zugrunde legt. 12 »Während sich ein rational motiviertes Einverständnis auf Gründe stützt, die alle Parteien in derselben Weise überzeugen, kann ein Kompromiß von verschiedenen Parteien aus jeweils verschiedenen Gründen akzeptiert werden.« (FG, 204f.) 56 voneinander abgrenzen […, J.G.], verallgemeinerungsfähige und gleichwohl unterdrückte Interessen festzustellen.« (LSK, 161) Habermas weist darauf hin, dass eine solche Simulation nur zu »hypothetischen« Resultaten führen kann (LSK, 161f.). Das ergibt sich aus seinem Diskursmodell, das eine reale Diskussion über Interessen erfordert (s. dazu Kapitel 10.). Hieraus erklärt sich wohl auch, warum Habermas dieses Projekt eines advokatorischen Diskurses nicht weitergeführt hat. 13 Das Modell der kritischen Theorie der Gesellschaft wird vielmehr darin bestehen, auf die mangelnde Durchsetzung zwanglos geführter Diskurse hinzuweisen - das Kriterium der Kritik ist damit kein materiales, sondern liegt im Verfahren einer diskursiven Verständigung. Warum sollte aber gerade dieses den »richtigen« Maßstab der Gesellschaftskritik liefern? Das zentrale Argument wird Habermas im Rahmen der Kommunikationstheorie ausarbeiten: Eine auf Konsens beruhende Handlungskoordination legt bereits die Struktur jeder sprachlichen Handlung fest und sofern dieser Konsens nicht mehr ideologisch fundiert wird, muss er sich auf das Verfahren einer diskursiven Prüfung von Geltungsansprüchen verlassen. 13 Ein realer Diskurs scheint auch deswegen unverzichtbar, weil die Aufhebung von Unterdrückung in der Regel damit verbunden ist, dass die Interessen der Unterdrücker verletzt werden. Ohne eine Veränderung der Interessenstruktur wird daher eine Verallgemeinerung gar nicht möglich sein - aber wie sollte sich diese Veränderung simulieren lassen? 57 7. Rekonstruktion des historischen Materialismus In Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus geht es primär um eine zeitdiagnostische Analyse mittels eines reformulierten Marx’schen Konzeptes. Dagegen verfolgen die meisten der in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus versammelten Aufsätze die Reformulierung einer auf Marx aufbauenden Analyse unter einer theoretisch verallgemeinerten Perspektive weiter. Dies geschieht unter drei Gesichtspunkten. Erstens klärt Habermas die in Erkenntnis und Interesse bereits vertretene These, dass die Marx’sche Theorie mittels der Unterscheidung von Interaktion und Arbeit neu gefasst werden müsse, zweitens formuliert Habermas auf der Basis dieser Unterscheidung das Konzept der historischen Entwicklung in anderer Weise und drittens verbindet er diese Rekonstruktion mit einer Analyse der Moralentwicklung. Zwei wesentliche Elemente kennzeichnen die kritische Anknüpfung an Marx. Erstens geht Habermas mit Marx zwar weiterhin davon aus, dass die geschichtliche Entwicklung immer auf den Prozess der Reproduktion der materiellen Basis der Gesellschaft bezogen werden muss. Aus der Sicht von Habermas hat Marx aber übersehen, dass die Entwicklungsdynamik in der Geschichte nicht ohne die Dimension des moralischen Lernens zu denken ist. An dieser Stelle nimmt Habermas die Unterscheidung von Interaktion und Arbeit wieder auf. Die Überlegung, dass Marx die Dimension der Interaktion zwar gesehen, aber nicht hinreichend entwickelt habe, formuliert Habermas nun auf der Basis der Marx’schen Unterscheidung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Unter Produktivkräften versteht Marx die verfügbaren Arbeitskräfte, aber auch die technischen Innovationen, die den Produktionsprozess bestimmen. Die Produktionsverhältnisse hingegen bezeichnen die institutionelle Struktur, insbesondere die Rechtsordnung (Marx/ Engels 1980: 466)(vgl. auch TGS, 277f.). Für Marx liegt die die Geschichte antreibende Dynamik im Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Habermas will sich zwar nicht von der These verabschieden, dass die Produktivkraftentwicklung den Auslöser für eine neue Stufe der Entwicklung von Produktionsverhältnissen bildet. Aber er formuliert diese These um, indem er davon ausgeht, dass die Produktivkraftentwicklung einen Lernprozess im Bereich der Produktionsverhältnisse erfordert, der durch die Veränderung der materiellen Basis zwar erst ermöglicht, aber nicht determiniert wird: »Die Gattung lernt nicht nur in der für die Produktivkraftentwicklung entscheidenden Dimension des technisch verwertbaren Wissens, sondern auch in der für die Interaktionsstrukturen ausschlaggebenden Dimension des moralisch-praktischen Bewußtseins. Die Regeln kommunikativen Handelns entwickeln sich wohl in Reaktion auf Veränderungen im Bereich des instrumentellen und strategischen Handelns, aber sie folgen einer eigenen Logik.« (RHM, 162f., vgl. auch 36f.) 58 Sie schlagen sich im Bereich der Institutionen nieder, die nach Habermas die »soziale Integration« der Gesellschaft bestimmen: »Dabei verstehe ich mit Durkheim unter sozialer Integration die Sicherung der Einheit einer sozialen Lebenswelt über Werte und Normen. Wenn nun Systemprobleme nicht in Übereinstimmung mit der herrschenden Form der Sozialintegration gelöst werden können, wenn diese selbst revolutioniert werden muß, gerät die Identität der Gesellschaft in Gefahr.« (RHM 159) Mit der Unterscheidung zwischen System- und Sozialintegration knüpft Habermas an die von ihm in TWI eigeführte Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System an. 14 Habermas wendet sich also gegen zwei vereinfachende Annahmen: Erstens verneint er, dass die Produktivkräfte die allein bestimmenden Kräfte der historischen Entwicklung sind sowie die von Marx und Engels in Die Deutschen Ideologie (Marx/ Engels 1962) vertretene These, diese Veränderung bestimme zugleich die Strukturen der Wissens (»Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.«, Marx/ Engels 1962: 27). Habermas erkennt sehr wohl an, dass Marx’ Position an vielen Stellen komplexer ist - dennoch sind die Thesen eines Vorrangs der Produktion vor den Institutionen in vielen Schriften deutlich ausgesprochen - so v. a. in den Überlegungen zur Ideologiekritik. Die zweite Korrektur bezieht sich auf die Frage, wie die geschichtliche Entwicklung zu verstehen ist, d. h. es geht um die historische Dimension von Entwicklung und Evolution (Entwicklungslogik) und um die Unterscheidung der jeweiligen Entwicklungsstufen. Gemäß der marxistischen Geschichtsauffassung verläuft die Entwicklung der Gesellschaft in unabdingbaren Schritten und läuft auf ein sich mit Sicherheit einstellendes historisches Endstadium (im Marxismus: Überwindung der Klassengesellschaft) hinaus. Diese Annahme eines im Voraus festgelegten Geschichtsverlaufes ist vielfach kritisiert worden: Man könne nicht vorab wissen, wie sich die Geschichte entwickelt, denn dazu müsste man historische Gesetze kennen. Solche sind aber bisher nicht gefunden worden. Zwar erscheint es im Nachhinein »logisch«, dass auf die Ständegesellschaft eine kapitalistische Gesellschaftsformation folgt, aber wer hätte das vorher prognostizieren können? Vielfach hat die Kritik an der Geschichtsphilosophie dazu geführt, die Annahme von notwendigen Abfolgen oder Entwicklungen in der Geschichte ganz zu verwerfen. 14 »Die beiden Ausdrücke ›Sozialintegration‹ und ›Systemintegration‹ stammen aus verschiedenen Theorietraditionen. Von sozialer Integration sprechen wir im Hinblick auf Institutionensysteme, in denen sprechende und handelnde Subjekte vergesellschaftetet sind; Gesellschaftssysteme erscheinen hier unter dem Gesichtspunkt einer Lebenswelt, die symbolisch strukturiert ist. Von Systemintegration sprechen wir im Hinblick auf die spezifischen Steuerungsleistungen eines selbstgeregelten Systems.« (LSK, 14) Zu dieser für die Theorie des kommunikativen Handelns dann tragenden Unterscheidung s. auch unten Kapitel 11. 59 Habermas sucht in seinen Studien einen Weg zwischen beiden Extremen - einerseits verneint er die geschichtsphilosophische These vom Herrschen historischer Gesetze, andererseits glaubt er zeigen zu können, dass es bestimmte Weichenstellungen gibt, die, sobald sie einmal gegeben sind, Strukturen schaffen, hinter die man nicht zurück kann und die mit einer gewissen Folgerichtigkeit aus vorherigen Stufen folgen. Zwar geht eine solche Rekonstruktion von Entwicklungsprozessen nicht von historischen Gesetzmäßigkeiten aus, aber die Stufenthese ist durchaus mit einigen Annahmen über die Notwendigkeit von Entwicklungsverläufen verbunden. Die Kennzeichen des Stufenmodells, auf das sich Habermas beruft, hatte bereits Jean Piaget (Piaget 1983, Piaget/ Inhelder 1993, Piaget 2003) formuliert, Lawrence Kohlberg knüpfte in seinen Arbeiten zur Moralentwicklung daran an. So sind Entwicklungsstufen dadurch gekennzeichnet, dass sie »deutliche oder qualitative Unterschiede in Strukturen« darstellen, dass sie in »invarianter [also unveränderlicher, J.G.] Reihe« aufeinander folgen, dass sie jeweils in sich schlüssige Gesamtkonzepte darstellen und schließlich in dem Sinne »hierarchisch integriert« sind, dass »höhere Stufen die Strukturen, die auf niedrigeren Stufen gefunden werden«, verdrängen (Kohlberg 1996: 85, vgl. auch 259). Dieses Stufenkonzept - von Piaget und Kohlberg für die individuelle Entwicklung formuliert - macht sich Habermas in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus zu eigen und überträgt das Modell der Entwicklungslogik in den Bereich der Gesellschaftsentwicklung. Damit geht eine dem Marx’schen Entwicklungsschema gegenüber veränderte Konstruktion der Entwicklungsstufen einher. Während bei Marx das Entwicklungsschema an die Produktionsweisen gekoppelt war (urgemeinschaftliche, antike, feudale und kapitalistische Produktionsweise, RHM 153), schlägt Habermas ein Stufenmodell vor, das nach Organisationsprinzipien strukturiert ist. Diese verweisen jeweils auf Lernschritte: »Unter Organisationsprinzipien verstehe ich diejenigen Innovationen, die durch entwicklungslogisch nachkonstruierbare Lernschritte möglich werden und die ein jeweils neues Lernniveau der Gesellschaft institutionalisieren.« (RHM, 168). In Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus präsentiert Habermas nun ein solches evolutionäres Stufenschema, das er als tentativ bezeichnet, weil es eingehenderer empirischer Analysen noch bedürfte. Im Kern behält Habermas das Schema aber in den folgenden Arbeiten und auch in der Theorie des kommunikativen Handelns bei. 15 Es weist drei Dimensionen auf: die Handlungsstrukturen, die Weltbildstrukturen und die institutionalisierten Rechts- und Moralvorstellungen. Hier greift Habermas auf das Modell der Moralstufen nach Kohlberg zurück. Zwar ist sich Habermas bewusst, dass eine Übertragung individueller auf kollektive Lernvorgänge mit Vorsicht zu verwenden ist (RHM, 16f.), der Zusammenhang zwischen individuellem und gesellschaftlichem Lernen berechtigt aber seiner Auffassung nach gemeinsam mit historischen Evidenzen 16 zur Behauptung einer Parallele: 15 Auch wenn die Bezeichnungen der einzelnen Stufen an verschiedenen Orten leicht variieren. 16 Habermas verweist auf Arbeiten seiner Mitarbeiter Rainer Döbert (Döbert 1973a, Döbert 1973b) und Klaus Eder (Eder 1976, Eder 1973), die eine solche historische Vertiefung liefern. 60 »Natürlich dürfen wir aus der Ontogenese keine voreiligen Schlüsse für die Entwicklungsniveaus von Gesellschaften ziehen. […, J.G.] Wohl trägt das Persönlichkeitssystem den Lernvorgang der Ontogenese; und in gewisser Weise sind es allein die vergesellschafteten Individuen, die lernen. Aber Gesellschaftssysteme können unter Ausschöpfung der Lernkapazitäten vergesellschafteter Subjekte neue Strukturen bilden, um bestandsgefährdende Steuerungsprobleme zu lösen.« (RHM, 169) Habermas verwendet nicht nur das Modell der Entwicklungslogik von Kohlberg, sondern bezieht sich auch inhaltlich, also in Bezug auf die unterschiedenen Entwicklungsstufen, darauf, indem er die Unterscheidung von präkonventionellen, konventionellen und postkonventionellen Stufen übernimmt. 17 Kohlberg hat die Entwicklung von moralischen Urteilen empirisch untersucht und ordnet seine Ergebnisse drei Niveaus zu, die sich jeweils noch einmal in zwei Stufen aufgliedern, so dass sich im Ganzen eine Abfolge von sechs Stufen ergibt. Diese beschreibt Kohlberg wie folgt: »1. Präkonventionelles Niveau Auf diesem Niveau reagiert das Kind auf kulturelle Regeln und Kategorisierungen von ›gut‹ und ›schlecht‹, ›richtig‹ oder ›falsch‹, interpretiert diese Begriffe jedoch anhand der materiellen oder hedonistischen Folgen von Handlungen (Strafe, Belohnung, Austausch von Gefälligkeiten); die Kategorien erhalten ihre Bedeutung durch die physische macht derjenigen, die die Regeln aufstellen. Dieses Niveau ist in zwei Stufen unterteilt: Stufe 1: Orientierung an Strafe und Gehorsam: Die materiellen Folgen der Handlung bestimmen, ob sie gut oder schlecht ist, ungeachtet der Bedeutung oder des Wertes dieser Folgen für den Menschen. Vermeiden von Strafe und fraglose Unterwerfung unter die Macht sind um ihrer selbst willen wichtig und entspringen nicht der Achtung vor einer zugrundeliegenden moralischen Ordnung, die zu ihrer Aufrechterhaltung Autorität und Strafe notwendig macht (das taucht erst auf Stufe 4 auf ). Stufe 2: Instrumentell-relativistische Orientierung: Die richtige Handlung ist die, die instrumentell zur Befriedigung eigener Bedürfnisse und - bei Gelegenheit - auch der anderer dient. Menschliche Beziehungen sind Handelsgeschäften vergleichbar. Vorstellungen von Fairneß, Gegenseitigkeit und Gleichverteilung sind in Ansätzen vorhanden, werden aber immer materiell-pragmatisch ausgelegt. Reziprozität wird im Sinne von ›Wie du mir, so ich dir‹ verstanden, nicht im Sinne von Loyalität, Dankbarkeit oder Gerechtigkeit. 17 Ein ähnliches Schema findet sich bereits bei Mead - wie bei Habermas wird es auch von Mead auf die Gesellschaftsentwicklung bezogen (Mead 1973: 300ff.). 61 2. Konventionelles Niveau Auf diesem Niveau wird es als wertvoll verstanden, den Erwartungen der eigenen Familie, der Gruppe oder Nation zu entsprechen, ungeachtet der sich unmittelbar ergebenden Konsequenzen. Die Haltung entspringt nicht allein einer Konformität mit den Erwartungen der sozialen Ordnung, sondern spiegelt die beiden gegenüber bestehende Loyalität und das aktive Bemühen wider, diese Ordnung zu erhalten, zu unterstützen, zu rechtfertigen und sich mit den entsprechenden Personen oder der Gruppe zu identifizieren. Auf diesem Niveau bestehen die beiden folgenden Stufen: Stufe 3: Orientierung an zwischenmenschlicher Harmonie oder am Bilde des ›guten Jungen‹ bzw. ›netten Mädchens‹. Gutes Verhalten ist das, was anderen gefällt oder hilft und deren Zustimmung findet. Beherrschend sind stereotype Vorstellungen davon, was mehrheitliches oder ›natürliches‹ Verhalten ist. Verhalten wird häufig nach der zugrundeliegenden Absicht beurteilt - ›es gut meinen‹ taucht zum ersten Mal als wichtige Überlegung auf. Mit ›Nettigkeit‹ erntet man Anerkennung. Stufe 4: Orientierung an Gesetz und Ordnung: Autorität, feste Regeln und die Erhaltung der sozialen Ordnung sind die wesentlichen Orientierungspunkte. Richtiges Verhalten besteht darin, seine Pflicht zu tun, Respekt vor Autorität zu zeigen und die bestehende Sozialordnung um ihrer selbst willen zu erhalten. 3. Postkonventionelles, autonomes oder prinzipienorientiertes Niveau Auf diesem Niveau besteht ein deutliches Bemühen, moralische Werte und Normen zu bestimmen, die unabhängig von der Autorität der Gruppen oder Personen, die diese Prinzipien vertreten, und unabhängig von der eigene Identifikation mit diesen Gruppen Gültigkeit besitzen und anwendbar sind. Auch dieses Niveau ist in zwei Stufen unterteilt: Stufe 5: legalistische Sozialvertrags-Orientierung, im allgemeinen mit utilitaristischer Färbung. Richtige Handlungen werden meist im Hinblick auf allgemeine Individualrechte und auf Standards definiert, die von der gesamten Gesellschaft kritisch geprüft und vereinbart worden sind. Der Relativismus persönlicher Werte und Meinungen wird klar erkannt, und dementsprechend wird Wert auf Verfahrensregeln für die Herstellung von Konsens gelegt. Außerhalb dessen, was verfassungsmäßig gilt, auf das man sich demokratisch geeinigt hat, ist das Richtige eine Angelegenheit persönlicher ›Werte‹ und ›Meinungen‹. Folglich wird der ›legale Standpunkt‹ betont, dabei aber immer die Möglichkeit im Auge behalten, das Gesetz aufgrund rationaler sozialer Nützlichkeitserwägungen ändern zu können (statt es, wie auf der an ›Gesetz‹ und ›Ordnung‹ orientierten Stufe 4, als unveränderbar zu akzeptieren). In den Fällen, in denen man sich nicht auf ein Gesetz stützen kann, wird man durch freie Übereinkunft und Verträge bindend in die Pflicht genommen. Dieser Haltung entspricht die ›offizielle‹ Moral der amerikanischen Regierung und Verfassung. 62 Stufe 6: Orientierung an universellen ethischen Prinzipien. Was richtig ist, wird durch Gewissensentscheidungen im Einklang mit selbstgewählten ethischen Prinzipien festgelegt, die sich darauf berufen, logisch umfassend, universell und konsistent zu sein. Dabei handelt es sich um abstrakte, moralphilosophische Prinzipien (Goldene Regel, Kategorischer Imperativ), nicht um konkrete Regeln wie die Zehn Gebote. Im Mittelpunkt stehen die universellen Prinzipien der Gerechtigkeit, der Gegenseitigkeit und der Gleichheit der Menschenrechte sowie der Achtung vor der Würde menschlicher Wesen als individueller Personen.« (Kohlberg 1996: 51ff.) Dieses Schema nutzt Habermas zur Charakterisierung von Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung. Ihm gemäß weisen sie jeweils unterschiedliche Organisationsprinzipien auf, die sich im Hinblick auf einen institutionellen Kern kennzeichnen lassen. Damit gehen die eben bereits benannten Differenzierungen der Handlungsstrukturen, der Weltbildstrukturen und der institutionalisierten Rechts- und Moralvorstellungen einher, die Habermas mittels der Unterscheidung von präkonventionellen, konventionellen und postkonventionellen Handlungs-, Moral- und Rechtsvorstellungen kennzeichnet. Tab. 3: Formen der Sozialintegration institutioneller Kern Handlungssystem Weltbildstrukturen Strukturen des institutionalisierten Rechts und der bindenden Moralvorstellungen archaische/ neolithische Gesellschaften Verwandtschaft konventionell mythisches (direkt mit Handlungssystem verknüpft) präkonventionell (Moralische und rechtliche Bewertung abhängig von Handlungsfolgen und Wiedergutmachung von Schaden) frühe Hochkulturen Staat / Rangdifferenzierung konventionell mythisches (mit Legitimationsfunktion für Herrschaft) konventionell (gebunden an in Herrscherfigur gebundenes Recht/ Gerechtigkeit) entwickelte Hochkulturen Staat konventionell Bruch mit mythologischen Weltbildern/ Ausbildung postkonventioneller Rechts- und Moralvorstellungen/ Ideologien konventionell (konventionelle Moral, die sich vom Herrscher ablöst) Moderne Komplementärverhältnis von ausdifferenziertem Staat und ausdifferenziertem Wirtschaftssystem postkonventionell universalistisch Trennung von Moralität und Legalität, formales und durchrationalisiertes Recht Nach: RHM, 26ff, 97ff., 135, 172f., TKH II, 253ff. 18 18 In der Theorie des kommunikativen Handelns finden sich die Bezeichnungen »egalitäre Stammesgesellschaften, hierarchisierte Stammesgesellschaften, politisch stratifizierte Klassengesellschaften und ökonomisch konstituierte Klassengesellschaften« (TKH, 249) Eine »Vorform« dieser Schematisierung findet sich in LSK, 30ff. 63 Wie an diesem Entwicklungsschema sichtbar wird, geht Habermas davon aus, dass sich im Laufe der sozialen Evolution zusehends postkonventionelle Handlungs-, Rechts- und Moralvorstellungen durchsetzen. Für ihn ist dabei die Moderne in sich nicht widerspruchsfrei, denn - wie wir oben gesehen haben - halten seiner Ansicht nach die in der frühen Moderne ausgebildeten Strukturen nicht notwendig dem universalistischen Rechtfertigungsmodell stand, das die Moderne prägt, weil die universalistischen und postkonventionellen Strukturen erst teilweise ausgebildet sind. Die Demokratisierung der Gesellschaft sei laut Habermas erst in Ansätzen vollzogen. (RHM, 173) Dennoch zeichne sich eine Entwicklung zu einer Überwindung nicht nur der traditionalen Legitimationen, sondern auch der bürgerlichen Ideologien ab: »Ich behaupte nun, daß Weltbildstrukturen nicht beliebig variieren, sondern einer nachkonstruierbaren Entwicklungslogik folgen; und zwar so, daß heute in Gesellschaften unseres Typs Geltungsansprüche und Normen mit hoher Wahrscheinlichkeit nur Anerkennung finden, wenn sie die Vermutung für sich haben, daß sie einem universalistischen Rechtfertigungsmodus, letztlich also einer diskursiven Willensbildung der Betroffenen standhalten würden.« (RHM, 330) 19 Zum Abschluss dieses Kapitels soll es um einige Anfragen an Habermas’ Rekonstruktion des Marxismus gehen - mit der Konzentration auf zentrale Aspekte. Wie bereits erwähnt, hat Habermas selbst darauf hingewiesen, dass Marx’ Position an vielen Stellen mehrdeutiger ist, als die Position, die er seiner Marxkritik zugrunde legt. Entsprechend haben viele Autoren in Abgrenzung von Habermas diesen »anderen« Marx stark gemacht. Eine kritische Position bezieht sich auf das Verhältnis von Interaktion und Arbeit und hat systematische Relevanz über die Frage hinaus, wie Marx das Verhältnis von Interaktion und Arbeit verstanden wissen wollte. Eine Reihe von Autoren bemängelt, dass Habermas mit der Gleichsetzung von Arbeit und zweckrationalem Handeln den emanzipatorischen Gehalt, der bei Marx im Begriffder Arbeit enthalten ist, übersehen habe. In diesem Sinne argumentieren beispielsweise Heller (Heller 1982), Márkus (Márkus 1980: 74), Arnason (Arnason 1980: 147ff.), Honneth (Honneth 1980: 185ff.) und Zimmermann, der diesen Einwand auf den Punkt bringt, dass »an Habermas kritisiert werden« könne, »daß er durch die Gleichsetzung von Arbeit und instrumentalem Handeln dem Marxschen Arbeitsbegriffseine interaktive Dimension entzieht, die ihn für einen Leitbegriffder Emanzipation allein tauglich macht. Hieraus muß sich zwangsläufig die Konsequenz ergeben, die gesellschaftliche Emanzipationsperspektive vom Begriffder Arbeit abzulösen.« (Zimmermann 1985: 260) Dass Habermas’ Rekonstruktion dazu führt, den Entfremdungsbegriffnicht mehr am Maßstab unentfremdeter Arbeit festzumachen, ist eine deutliche Konsequenz: 19 »Die Alternative, die sich abzeichnet, ist die Demokratisierung aller für die Gesamtgesellschaft folgenreichen Entscheidungsprozesse, die zum erstenmal in der Weltgeschichte an die Stelle von Legitimation in Sinne scheinhafter Rechtfertigung treten […, J.G.] würde.« (TGS, 265f.) 64 »I explain the alienation phenomena specific to modern societies by the fact that spheres of the communicatively structured life-world have increasingly been subjected to imperatives of adaptation to autonomous sub-systems […, J.G.] and which represent fragments of norm-free sociality.« (Habermas 1982: 226) Ein zweites kritisches Augenmerk richtet sich auf die Dynamik des Verhältnisses von Systemkrisen und kognitiv-moralischen Lernfortschritten. Für Arnason ist Habermas’ Analyse hier zweideutig. Einerseits wolle Habermas Marx in dem Sinne treu bleiben, dass er die Auslöser von Lernprozessen in Systemkrisen verortet, gleichzeitig solle das Lernen, das sich im Bereich der Sozialintegration vollzieht, autonom sein. Arnason weist darauf hin, dass dies noch zu marxistisch gedacht sei: Die Sozialintegration werde auf die Rolle eines Problemlösers für systemintegrative Probleme herabgestuft. »So wird die Sozialintegration zwar nicht auf die Systemintegration reduziert, aber ihr doch in einer Weise untergeordnet, die mit dem an anderen Stellen behaupteten Primat der Sozialintegration schwer zu vereinbaren ist.« (Arnason 1980: 165) 20 Dies berührt die Frage nach dem Verhältnis von Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik. Wie genau die Entwicklungsstufen des Lernens zustande kommen, ist eine Frage der Entwicklungsdynamik. Diese müsste geklärt werden und sie müsste sich auch auf die Systemprobleme beziehen, wenn man zu einer hinreichenden Theorie der sozialen Evolution kommen will. Die Beschreibung der Entwicklungsstufen enthält aber, wie Habermas selbst klar herausstellt, noch keine Erklärung der Entwicklungsdynamik: »Diese Strukturmuster [von Weltbildern, Rationalitäts- und Moralvorstellungen, J.G.] beschreiben eine den kulturellen Überlieferungen und dem Institutionenwandel innewohnende Entwicklungslogik. Diese sagt nichts über die Entwicklungsmechanismen; sie sagt nur etwas über den Variationsspielraum, innerhalb dessen kulturelle Werte, Moralvorstellungen, Normen usw. auf einem gegebenen Organisationsniveau der Gesellschaft verändert werden und verschiedene historische Ausprägungen finden können. In seiner Entwicklungsdynamik bleibt dieser Wandel normativer Strukturen abhängig von den evolutionären Herausforderungen ungelöster, ökonomisch bedingter Systemprobleme, und von Lernprozessen, die darauf antworten.« (RHM, 12) 20 Luhmann hält Habermas vor, er übernehme von Marx letztlich die Idee eines zentralen Widerspruchs, der dazu führt, die Pluralität von Konfliktlagen auf diesen hin zu reduzieren: »daß Marx und Habermas in Abhängigkeit von ihrem Produktionsbegriffein allenfalls partielles Strukturproblem zentral ansetzen, nämlich die disproportionale Entwicklung von Produktivkräften im ›Unterbau‹ und Verkehrsformen und Ideologien im ›Überbau‹. Auf dieser Grundlage kann der Gedanke entstehen, im Überbau repressive Herrschaft durch das offenere Konzept diskursiv gesteuerter Umgangssprache zu ersetzen. Alle anderen strukturell gelagerten Konfliktslagen der modernen Gesellschaft […, J.G.], all dies wird auf eine zentrale Konfliktsdimension eingeebnet, auf das Herrschaftsproblem« (TGS, 374f.) 65 Die zu schließende Kluft zwischen Entwicklungslogik und Entwicklungsdynamik ist also nicht unerheblich. Nicht nur müssten die Umweltbedingungen bekannt sein, sondern auch die Mechanismen des Lernens, die dazu führen, dass eine neue Stufe entsteht (vgl. auch die darauf basierende Kritik von Schmid 1982). Habermas sieht hier eine noch zu füllende Lücke: »Eine grundsätzliche Schwierigkeit sehe ich […, J.G.] darin, daß es der Biochemie in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, den Mutationsvorgang zu analysieren, während der Lernmechanismus, der einer so komplexen Erscheinung wie der kulturellen Überlieferung zugrunde liegt, nahezu unbekannt ist.« (RHM, 188) Nun ergeben sich daraus keine grundsätzlichen Einwände gegen das Projekt einer Theorie der sozialen Evolution, denn diese kann natürlich auch vorläufige Hypothesen enthalten (vgl. auch McCarthy 1989: 288), aber angesichts einer noch nicht vorhandenen Theorie des Lernens ist der Zusammenhang zwischen Systemkrisen und der Evolution der Sozialintegration noch ungeklärt. Denkbar wäre beispielsweise, dass sich kulturelle Lernprozesse unabhängig von Systemproblemen einstellen und sich als eine eigenlogische und eigendynamische kulturelle Entwicklung beschreiben lassen. Probleme mit einer Theorie der Entwicklungsstufen ergeben sich noch in weiteren Hinsichten. So sind Kohlbergs eigene Untersuchungen in vielerlei Weise kritisiert worden (vgl. Kohlberg 1996: 217ff., vgl. auch die Hinweise bei McCarthy 1989: 297). Hier soll es nur um einen herausgehobenen Punkt gehen, der mit der Frage verbunden ist, welchen Status ein Modell der Entwicklungsstufen hat. »Auch wenn man evolutionären Prozessen keine Notwendigkeit und Irreversibilität zugrundelegt, scheint der Gedanke der Gerichtetheit oder der hierarchischen Ordnung doch Kriterien eines geschichtlichen Fortschritts zu implizieren.« (McCarthy 1989: 273) 21 Lässt sich also daraus, dass sich neue Stufen ergeben, auch ableiten, dass sie in einem präzisierbaren Sinne besser oder schlechter als vorangegangene Stufen sind? Oder beispielhaft gefragt: 21 Dieses Problem verschärft sich in dem Moment, in dem Kohlberg nach erneuten empirischen Überprüfungen seiner Stufentheorie zu dem Schluss kommt, dass die Existenz der sechsten Stufe nicht empirisch behauptet werden kann: »Wir behaupten nicht länger, daß es uns gelungen sei, empirisch das Wesen einer 6. und höchsten Stufe des moralischen Urteilens zu beschreiben.« (Kohlberg 1996: 233) (vgl. zu diesem Wandel auch MKH, 182ff.) Dann greifen zwingend die Bedenken, die sich gegen die Teleologie - also die Vermutung der Gerichtetheit - von jeher erhoben haben: Was berechtigt dazu, davon auszugehen, dass eine Entwicklungssequenz in einem Zustand enden wird, der noch gar nicht erreicht worden ist? Angesichts einer offenen Forschung ist noch nicht entschieden, ob das Programm einer Stufentheorie der Moralentwicklung mit einem solch unbequemen Einwand wird weiter leben müssen. Andere Revisionen betreffen die Einführung einer Zwischenstufe zwischen Niveau vier und fünf (Kohlberg 1996: 100ff.) Daneben postuliert Kohlberg neuerdings eine weitere Stufe 7, in der moralische Urteile in einen umfassenden ethisch, religiösen Komplex eingelassen sind. Zudem hat sich Kohlberg bemüht, existenziell-ethische Dimensionen aufzunehmen, was ihn auch dazu führt, von der These abzurücken, moralische Urteile seien in jedem Fall an die strikte Stufenfolge gebunden. Vielmehr sieht er jetzt Varianten (weiche Stufen), in denen Personen neben dem strikten Gerechtigkeitsdenken (das dem Stufenmodell zugrunde liegt) andere Kriterien der Urteilsbildung hinzuzunehmen (Kohlberg 1996: 217ff.). 66 Können wir sagen, dass eine Person, die etwa auf der vierten Moralstufe »hängenbleibt«, moralisch weniger fortgeschritten ist, als eine, die die fünfte oder sechste Stufe erreicht? Aus der Tatsache allein, dass Menschen eine höhere Stufe erklommen haben, lässt sich dies offensichtlich nicht begründen - zumindest dann nicht, wenn man die Prämisse akzeptiert, dass aus einem Sein kein Sollen abgeleitet werden kann. Habermas will diesen Fehler nicht begehen: »Im übrigen kann eine Analyse von Entwicklungslogiken nur dann naturalistischen Fehlschlüssen entgehen [also solchen, die vom Sein aufs Sollen schließen, J.G.], wenn sie die hierarchisch geordneten Strukturmuster nicht induktiv aufliest, sondern sie systematisch rechtfertigt, daß das jeweils höhere Lernniveau dem vorangegangenen überlegen ist. Diese systematische Einstufung von Problemlösungsfähigkeiten ist möglich, wenn sich die Leistungen, wie in den Dimensionen objektivierender Erkenntnis und moralisch praktischer Einsicht, an universalen Geltungsansprüchen […, J.G.] bemessen.« (RHM, 249) Wie McCarthy kritisch anmerkt (McCarthy 1989: 301f.), gerät dies freilich in einen Gegensatz zum Modell der rationalen Nachkonstruktion, das Habermas in seinem Nachwort zu Erkenntnis und Interesse bereits als Nachfolgeprogramm seiner dort verfolgten erkenntnistheoretischen Zugangsweise herausgestellt hatte (s. dazu Kapitel 4.). »Entwicklungssequenzen lassen sich nur für solche Kompetenzen nachkonstruieren, die die für uns, auf dem jeweiligen zeitgenössischen Entwicklungsniveau unserer Gesellschaft, objektiv zugänglich sind.« (RHM, 248) Im Lichte dieser These kann man folgendermaßen resümieren: Die Rekonstruktion der sozialen Evolution besitzt den Status eines Nachweises, dass sich die historische Entwicklung einem andernorts zu rechtfertigenden Maßstab der Vernünftigkeit annähert, dass die soziale Evolution aber nicht den Nachweis eines Maßstabes einer kritischen Theorie der Gesellschaft leisten kann. Aus der Sicht von McCarthy wäre das zu wenig 22 , aber die Frage lautet, ob man mehr erhalten kann, wenn man naturalistische Fehlschlüsse vermeiden möchte. Vielleicht hilft an dieser Stelle ein anderer Zugang zur Frage nach den normativen Grundlagen einer kritischen Theorie, mit dessen Ausarbeitung Habermas in den siebziger Jahren ebenfalls beginnt. Dieser Zugang besteht auch in einem rekonstruktiven Verfahren, aber einem, das nicht an historischen Entwicklungen ansetzt, sondern den Maßstab der Gesellschaftskritik in den Grundstrukturen der sprachlichen Verständigung verortet. 22 »Die kritische Gesellschaftstheorie erschöpft sich nicht in der Konstruktion einer Theorie der sozialen Evolution (die Rekonstruktion des Historische Materialismus): ihre Hauptabsicht bleibt die historisch gerichtete, in praktischer Absicht entwickelte Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft.« (McCarthy 1989: 302) 67 III. Rationale Nachkonstruktion und diskursive Verpflichtung 8. Die Theorie der kommunikativen Kompetenz: Das Projekt der Universalpragmatik Den rekonstruktiven Ansatz, der den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt aus Erkenntnis und Interesse ablöst - wendet Habermas beginnend mit seinen Christian- Gauss-Lectures an der Universität Princeton auf die Sprache an. 1 Die Universalpragmatik macht einen Kern des Konzepts des kommunikativen Handelns aus, sie ist zugleich der Ansatzpunkt, der es Habermas erlauben soll, die These zu entfalten, die er programmatisch in seinem Vortrag zu Erkenntnis und Interesse formuliert hatte: »Das Interesse an Mündigkeit schwebt nicht bloß vor, es kann apriori eingesehen werden. Das, was uns aus der Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache. Mit ihrer Struktur ist Mündigkeit für uns gesetzt. Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausgesprochen.« (TWI, 163) Die Grundlagen der Gesellschaftstheorie sucht Habermas jetzt im Sinne eines linguistic turn - ein Begriff, der von Gustav Bergmann (Bergmann 1952) stammt und den Richard Rorty mit einer seiner entsprechend benannten Sammlung sprachphilosophischer Arbeiten populär gemacht hat (Rorty 1967) - in den Grundstrukturen des sprachlichen Handelns zu verorten. Dabei tritt für Habermas die Rekonstruktion von Regeln in den Vordergrund, die erklären können, wie Menschen fähig sind, verständliche Äußerungen hervorzubringen. Methodisch orientiert sich Habermas dabei an der generativen Grammatik Noam Chomskys - sie geht davon aus, dass allen Sprachen universelle syntaktische Strukturen zugrunde liegen (vgl. Chomsky 1957, 1965). 2 Analog zu Chomskys Theorie zielt Habermas auf eine Theorie kommunikativer Kompe- 1 Habermas begründete diese Abkehr im Wesentlichen dadurch, dass Erkenntnistheorie erstens an die Bewusstseinsphilosophie gebunden sei und zweitens die Annahme eines sie fundierenden Gattungssubjektes problematisch sei. Der linguistic turn ermöglicht eine Abkehr von diesen Prämissen. Der zentrale Aufsatz Was heißt Universalpragmatik? von 1976 findet sich in den VE - die Grundzüge sind bereits entwickelt in Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz in TGS. In der TKH nimmt Habermas diese Themen in der Ersten Zwischenbetrachtung auf. 2 Chomskys Universalgrammatik ist nicht das einzige, wenn auch das wichtigste Vorbild, an dem Habermas die Logik einer rationalen Rekonstruktion entwickelt. Daneben sind es noch die Entwicklungstheorien von Piaget und Kohlberg, die für ihn diesen Wissenschaftstypus verkörpern (s.oben Kapitel 7). 68 tenz, die zeigen soll, welche Regeln pragmatisch sinnvolle Äußerungen ermöglichen. Diesen Ansatz bezeichnet er zunächst als Theorie der kommunikativen Kompetenz, später auch als Universal- und Formalpragmatik, wobei Habermas in seinen jüngeren Arbeiten diesen Begriffvorzieht. Da Habermas das Konzept unter dem Begriffder Universalpragmatik am umfassendsten entwickelt hat, soll hier dieser Begriffbeibehalten werden. Er knüpft vor allem an zwei Autoren an, welche die sprachanalytische Pragmatik maßgeblich geprägt haben: John L. Austin (Austin 1979) und John R. Searle (Searle 1990). Ziel der Universalpragmatik ist es, »das fundamentale Regelsystem [zu] beschreiben, das erwachsene Sprecher beherrschen, soweit sie die Bedingungen für eine glückliche Verwendung von Sätzen in Äußerungen erfüllen können - gleichviel welcher Einzelsprache die Sätze angehören und in welche zufälligen Kontexte die Äußerungen jeweils eingebettet sind« (VE, 387). 3 Die Universalpragmatik verbindet eine Reihe von grundlegenden Annahmen, die in der Folge ausführlicher entwickelt werden: (1) dass Äußerungen immer eine Doppelstruktur aufweisen, die einen Inhalts- und einen Handlungsaspekt umfasst; (2) dass dieser Handlungsaspekt auf Geltungsansprüche verweist, die der Sprecher mit seiner Äußerung erhebt; wobei Sprechakte jeweils einen Geltungsaspekt in den Vordergrund stellen, aber mit jedem Sprechakt gleichzeitig alle Geltungsansprüche verbunden sind; (3) dass mit dem Erheben des Geltungsanspruchs das Angebot verbunden ist, diesen im Falle einer Kritik an diesem Geltungsanspruch einer diskursiven oder kritischen Prüfung zu unterziehen. 3 Die »rationale Rekonstruktion« soll sich einerseits von einem »empirisch-analytischen« Vorgehen und andererseits auch von einem transzendentalphilosophischen Unternehmen unterscheiden (VE, 384) (vgl. auch McCarthy 1989: 120, 314ff.). Die Differenz zu einer transzendentalphilosophischen Theorie im Sinne Kants ergibt sich für Habermas durch den Verzicht auf den Apriorismus. Dennoch bleibt auch dessen Sinn in bestimmter Weise in der Auffassung der konstitutiven Regeln präsent, die die Universalpragmatik untersucht: »Einerseits ist das Regelbewußtsein kompetenter Sprecher für diese selbst ein Wissen a priori; andererseits verlangt die Rekonstruktion dieses Wissens Ermittlungen, die mit empirischen Sprechern vorgenommen werden, der Linguist beschafft sich ein Wissen a posteriori.« (VE, 384) In diesem Sinne kann auch das universalpragmatische Programm als eine schwache Fassung von Transzendentalphilosophie verstanden werden: »›Transzendental‹ nennen wir die in allen kohärenten Erfahrungen wiederkehrende begriffliche Struktur, solange die Behauptung ihrer Notwendigkeit und Universalität nicht widerlegt ist. In dieser schwächeren Version wird der Anspruch fallen gelassen, daß man dafür einen Beweis a priori antreten kann.« (VE, 380) Hinsichtlich der Kontextfreiheit hat Habermas in der TKH eine schwächere These vertreten. Dort ist es das lebensweltliche Hintergrundverständnis, das nach Habermas das Verständnis auch der wörtlichen Bedeutung bestimmt. »Wenn die sozio-, ethno- und psycholinguistische Untersuchungen des letzten Jahrzehnts in einem konvergieren, dann ist es die vielfältig demonstrierte Erkenntnis, daß das kollektive Hintergrund- und Kontextwissen von Sprechern und Hörern die Deutung ihrer expliziten Äußerungen in außerordentlich hohem Maße determiniert.« (TKH I, 449) Wörtliche Bedeutung ist auch für Searle immer erst vor einem Hintergrund von Annahmen und Praktiken verständlich (Searle 1982: 11, 139ff.). Zur Diskussion um die Bedeutung dieser Kontextualität von Verstehen vgl. Wenzel und Hochmuth (Wenzel/ Hochmuth 1989). 69 Bevor es um die Details dieser Annahmen geht, soll noch kurz darauf eingegangen werden, warum für Habermas die linguistische Wende und dabei insbesondere die pragmatische Fassung dieser Wende eine zentrale Bedeutung besitzen. Die Sprachpragmatik hat in einem doppelten Sinne zu einer Neuorientierung in der Philosophie geführt - diese wird von Habermas aufgenommen. Dabei geht er von einer dreiphasigen Entwicklung der Philosophie aus. Die erste Wende ist diejenige zur Bewusstseinsphilosophie. Ihre Grundfrage lautet: Was sind die grundlegenden Strukturen unserer Erkenntnis? Folgt man einer idealtypischen Charakterisierung der Philosophiegeschichte (Schnädelbach 1985), so ist bereits mit dieser Fragestellung ein grundlegender Wandel vollzogen und eine »zweite« Phase der Philosophie eingeläutet, die die »erste« Phase der Philosophie (die ontologische) ablöst - jene hatte nicht nach Erkenntnis, sondern nach dem Seienden gefragt. Die Bewusstseinsphilosophie gibt diese Frage nicht auf, aber sie setzt an der Seite des diese Wirklichkeit erkennenden Subjekts an. Die Wende zur Sprache zur Sprache distanziert auch diesen Standpunkt, weil der Gehalt des Wissens in der Sprache situiert wird, nicht mehr im Bewusstsein erkennender Subjekte. Dieser Übergang von der Bewusstseinszur Sprachphilosophie, also zur dritten Phase, vollzieht sich »historisch« im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Folgt man Michael Dummetts Charakterisierung, so ist dieser Übergang mit Gottlob Frege verbunden, der Gedankliches nicht als einen Bewusstseinsinhalt verstanden wissen wollte (Dummett 1992), und wird von Ludwig Wittgenstein im Tractatus dann deutlich vollzogen: »Der Gedanke ist der sinnvolle Satz.« (Wittgenstein 1963: Satz 4, S. 32) Typisch für diese erste Phase des linguistic turn ist die von Wittgenstein vertretene Ansicht, dass das Satzverstehen das Verstehen der Bedeutung ist und dieses auf die mögliche Wahrheit des Satzes verweist: »Einen Satz verstehen, heißt, wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist.« (Wittgenstein 1963: Satz 4.024, S. 36) Sprachanalyse ist also Bedeutungsanalyse und diese verweist auf eine Theorie der Wahrheit. Wittgenstein hat sich nun von dieser Auffassung in den Philosophischen Untersuchungen verabschiedet und läutet damit eine Wendung innerhalb des linguistic turn ein. Die zentrale und häufig zitierte Äußerung dazu lautet: »Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes ›Bedeutung‹ - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« (Wittgenstein 1984a: § 43, 262) An die Stelle einer Wahrheitstheorie der Bedeutung tritt jetzt eine Gebrauchstheorie der Bedeutung. In seiner Abkehr von der Bewusstseinsphilosophie knüpft Habermas an diese Variante des linguistic turn an. Aufgegeben wird damit nämlich nicht nur die Bindung an ein erkennendes Subjekt, sondern auch die Beschränkung der Sprachanalyse an eine Wahrheitstheorie und damit auch an eine Theorie, die den Darstellungsaspekt der Sprache in den Mittelpunkt rückt. An deren Stelle tritt eine Theorie, die von der Sprachverwendung ausgeht, also den pragmatischen Aspekt der Sprache betont. Damit ließen sich eine semantische Abstraktion (eine Beschränkung auf Sätze - unter Absehung vom Äußerungszusammenhang), eine kognitivistische Abstraktion (eine Beschränkung auf behauptende Aussagen) und eine empiristische Abstraktion (eine Beschränkung auf die objektive Welt) vermeiden (E, 354f., PDM, 365, vgl. auch ND, 105ff.). 70 Innerhalb der Sprachphilosophie vollzieht sich erst »in einem zweiten Anlauf« eine pragmatische Wende - was wiederum verständlich macht, weshalb der Verwendungsaspekt der Sprache erst »spät« eine solche Relevanz gewinnt. An diese Beobachtung, dass Sprache nicht nur einen Inhaltsaspekt, sondern auch einen Handlungsaspekt besitzt, knüpft die These der Doppelstruktur sprachlicher Äußerungen an. Die Doppelstruktur sprachlicher Äußerungen Die These, dass Äußerungen nicht nur einen Inhaltsaspekt, sondern auch einen Mitteilungssinn haben, ist vor Habermas bereits von einigen Autoren aufgestellt worden. So hatte Karl Bühler 1934 in seiner Sprachtheorie (Bühler 1982) drei mit einer Äußerung verbundene Aspekte unterschieden: Äußerungen stellen nicht nur Sachverhalte dar (Darstellungsaspekt), sondern sie bringen auch eine Absicht und/ oder Einstellung des Sprechers zum Ausdruck (Ausdrucksaspekt) und sie nehmen einen Einfluss auf den Hörer (Appellfunktion) (vgl. auch ND, 105ff.). Gewissermaßen den Ausdrucks- und den Appellaspekt zusammenziehend, hatten Watzlawick, Beavin und Jackson davon gesprochen, dass jede Äußerung einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt beinhaltet (Watzlawick et al. 2007: 54). 4 Habermas formuliert diesen Gedanken der Doppelstruktur im Anschluss an die Sprechakttheorie, die Austin begründet hatte und die von Searle weiterentwickelt worden ist. Grundlegend ist dabei die begriffliche Unterscheidung zwischen einem »propositionalen« und einem »performativen«, »illokutiven« oder »illokutionären« Bestandteil von Äußerungen. Performativ oder illokutionär meint dabei, dass der Sprecher eine Äußerung mit einer bestimmten Rolle versieht, etwa mit der Rolle einer Warnung, Aufforderung, Behauptung, eines Versprechens etc. (Austin 1979: 117) (zu diesen Begriffen s. auch Kapitel 11): »Ich möchte unterscheiden a) die Ebene der Intersubjektivität, auf der der Sprecher und Hörer durch illokutive Akte die Beziehungen herstellen, die ihnen erlauben, sich miteinander zu verständigen, und b) die Ebene der Erfahrungen und Sachverhalte, über die sie sich in der durch a) festgelegten kommunikativen Funktion verständigen möchten. Dem Beziehungs- und dem Inhaltsaspekt, unter dem sich jede Äußerung analysieren läßt, entsprechen in der Standardform der illokutive und der propositionale Bestandteil des Sprechaktes.« (VE, 406) Zur Verdeutlichung des gemeinten führt Habermas die folgenden Beispiele an: 4 Auch Luhmanns Kommunikationsbegriffknüpft an einer ähnlichen Schematisierung an. Für ihn ist Kommunikation die Synthese dreier Selektionen (Information, Mitteilung und Verstehen). Im Gegensatz zur Sprechakttheorie von Austin, Searle und Habermas möchte er Kommunikation aber nicht als handlungstheoretisch fundiert verstehen (Luhmann 2005). Für einen Überblick über soziologische Kommunikationstheorien vgl. auch Schützeichel (Schützeichel 2004). 71 »›Ich ..... dir, daß .... .‹ Verb Satz z. B.: ›Ich verspreche dir (hiermit), daß ich morgen kommen werde.‹ ›Es ist (bzw. wird) ..... .... .‹ Verb (2. Partizip) Satz z. B.: ›Es wird gebeten, das Rauchen einzustellen.‹ ›Ich ..... dich ...... , daß ..... .‹ Hilfsverb Verb Satz z. B.: ›Ich kann dir versichern, daß ich es nicht gewesen bin.‹« (VE, 398) Die Unterscheidung zwischen illokutionärem und propositionalem Bestandteil spiegelt sich also in der Struktur von Sätzen. Der erste Teilsatz kennzeichnet jeweils den illokutionären Sinn der Äußerung, wohingegen der zweite Teilsatz den Inhaltsaspekt oder auch den propositionalen Gehalt bezeichnet: »Ich verspreche dir (hiermit) [illokutionärer Bestandteil], daß ich morgen kommen werde [propositionaler Bestandteil].« Was leistet nun eine formale Pragmatik? Erstens liefert sie eine Klassifikation unterschiedlicher Sprechhandlungen, die mit Äußerungen vollzogen werden können und sie dient damit zweitens der Bestimmung von Regeln, die der regelgerechten Erzeugung von Sprechakten zugrunde liegen. Sprechaktklassifikation und Geltungsansprüche Klassifikationen von Sprechhandlungen finden sich bereits bei Austin (Austin 1979) und Searle (vgl. insbesondere Searle 1982, Searle 1990). Habermas macht einen eigenen Vorschlag, wie unterschiedliche Sprechhandlungen klassifiziert werden können. Seine Sprechaktklassifikation umfasst im Wesentlichen drei verschiedene Sprechakttypen: konstative, regulative und expressive Sprechhandlungen (s. dazu auch unten). 5 Der Klassifikation liegen die mit einer Äußerung jeweils erhobenen Geltungsansprüche zugrunde, die sich auf unterschiedliche »Welten« beziehen. Was meinen die Begriffe Geltungsanspruch und Weltbezug? Geltungsansprüche lassen sich als die mit Sprechhandlungen verbundenen Ansprüche auf Gültigkeit des Behaupteten verstehen: »Ein Geltungsanspruch besagt, daß die jeweiligen Bedingungen der Gültigkeit einer Äußerung - einer Behauptung oder eines moralischen Gebots - erfüllt sind. Daß sie erfüllt sind, läßt sich freilich nicht in direktem Zugriffauf schlagende Evidenzen, sondern nur auf dem Wege einer diskursiven Einlösung des Anspruchs 5 Daneben unterscheidet Habermas an verschiedenen Orten noch Operative und Kommunikative, die evaluativen Äußerungen und die Imperative (s. dazu unten). 72 - auf propositionale Wahrheit oder normative Richtigkeit - zeigen.« (ED, 130; vgl. auch VE, 135, TKH I, 65) Dasjenige, was Gegenstand der Behauptung werden kann, bezeichnet Habermas als »Welten«. Habermas unterscheidet drei solcher Weltbezüge, nämlich eine objektive Welt, eine subjektive und eine soziale Welt (s. auch Kapitel 11): »Die objektive Welt wird gemeinsam als die Gesamtheit der Tatsachen unterstellt, wobei Tatsache bedeutet, daß die Aussage über die Existenz eines entsprechenden Sachverhalts >p< als wahr gelten darf. Und eine soziale Welt wird gemeinsam als die Gesamtheit aller interpersonalen Beziehungen unterstellt, die von den Angehörigen als legitim anerkannt werden. Demgegenüber gilt die subjektive Welt als die Gesamtheit der Erlebnisse, zu denen jeweils nur ein Individuum einen privilegierten Zugang hat« (TKH I, 84). Entsprechend lassen sich Sprechhandlungen danach unterscheiden, welchen Weltbezug sie hervorheben und welcher Geltungsanspruch mit ihnen erhoben wird: »... - mit konstativen Sprechhandlungen bezieht sich der Sprecher auf etwas in der objektiven Welt, und zwar in der Weise, daß er einen Sachverhalt wiedergeben möchte. Die Negation einer solchen Äußerung bedeutet, daß H den von S für die behauptete Proposition erhobenen Wahrheitsanspruch bestreitet. - mit regulativen Sprechhandlungen bezieht sich der Sprecher auf etwas in der gemeinsamen sozialen Welt, und zwar in der Weise, daß er eine als legitim anerkannte interpersonale Beziehung herstellen möchte. Die Negation einer solchen Äußerung bedeutet, daß H die von S für seine Handlung beanspruchte normative Richtigkeit bestreitet. - mit expressiven Sprechhandlungen bezieht sich der Sprecher auf etwas in seiner subjektiven Welt, und zwar in der Weise, daß er ein ihm privilegiert zugängliches Erlebnis vor einem Publikum enthüllen möchte. Die Negation einer solchen Äußerung bedeutet, daß H den von S erhobenen Anspruch auf die Wahrhaftigkeit der Selbstrepräsentation bezweifelt.« (TKH I, 435f., vgl. auch TGS, 111ff.) Exemplarisch für konstative Sprechhandlungen sind Äußerungen wie: »Ich behaupte hiermit, dass …«; für regulative Sprachhandlungen solche wie: »Ich empfehle Ihnen, dass …« und für expressive: »Ich gestehe, dass …«. Als Indikator für den jeweils erhobenen Geltungsanspruch können Verben gelten 6 , die den illokutionären Bestandteil eines Satzes kennzeichnen. 6 Für Konstative: behaupten, beschreiben, berichten, mitteilen, erzählen, erläutern etc.; für Regulativa: befehlen, auffordern, bitten, verlangen, ermahnen, verbieten, erlauben etc.; für Expressiva: offenbaren, enthüllen, preisgeben, gestehen, zum Ausdruck bringen, verbergen, verhüllen etc. (vgl. TGS, 111f.). 73 Tab. 4: Weltbezug und Geltungsbezug von Sprechhandlungen Sprechaktklassen Weltbezug Geltungsanspruch Konstative objektive Welt Wahrheit Regulative soziale Welt Richtigkeit Expressive subjektive Welt Wahrhaftigkeit (und Angemessenheit) Nach TKH 439, 448, VE 427, 440 Bei den angegebenen Beispielen handelt es sich um »explizite Sprechhandlungen«, also solche, in denen der Verwendungssinn der Äußerungen im Sprachakt selbst explizit gemacht wird. Natürlich hat nicht jede tatsächliche vollzogene sprachliche Äußerung diesen expliziten Charakter - im Normalfall werden die Bestandteile, die den Verwendungssinn kennzeichnen, gar nicht expliziert. 7 Statt: »Ich behaupte, dass die Straße nicht mehr befahrbar ist«, wird der Sprecher in der Regel sagen: »Die Straße ist nicht mehr befahrbar.« Dennoch geht die Universalpragmatik von Sprechhandlungen aus, die diese explizite Form haben. Habermas und Searle meinen natürlich nicht, dass nur solche Sprechakte vorkommen, oder dass nur solche Sprechakte Gegenstand der Universalpragmatik sein können. Ihrer Meinung nach ist es aber gerechtfertigt, basierend auf solchen idealisierten Fällen Aussagen über sprachliche Äußerungen überhaupt zu treffen. 8 Wie bereits erwähnt, geht Habermas davon aus, dass Sprechhandlungen jeweils einen Geltungsanspruch hervorheben. Gleichzeitig vertritt er die These, dass trotz des thematischen Vorrangs eines Geltungsanspruchs in jeder Äußerung alle drei Geltungsansprüche erhoben werden. Habermas verdeutlicht diese These an einem Beispiel (TKH I, 411f.): So kann ein Seminarteilnehmer, auf »die an ihn gerichtete Aufforderung des Professors«. »Bitte, bringen Sie mir ein Glas Wasser« reagieren, indem er die Sprachhandlung unter dem Gesichtspunkt der drei Geltungsansprüche kritisiert. Denkbar sind die folgenden Reaktionen: »Nein, Sie können mich nicht wie einen Ihrer Angestellten behandeln« (hier wird die normative Richtigkeit bestritten); »Nein, eigentlich haben Sie ja nur die Absicht, mich vor anderen Seminarteilnehmern in ein schiefes Licht zu bringen« (hier steht der Wahrhaftigkeitsanspruch zur Diskussion) oder »Nein, die nächste Wasserleitung ist so weit entfernt, dass ich vor Ende der Sitzung nicht zurück sein könnte« (hier wird der Wahrheitsanspruch zum Thema). 7 Viele kommunikative Äußerungen weichen nicht nur in dieser Weise von der »Standardform« (VE, 398) einer expliziten Verwendung ab, sondern in einer Reihe weiterer Hinsichten sind Abweichungen möglich. Habermas führt hier an: nicht-sprachliche Äußerungen, nicht propositional-ausdifferenzierte Äußerungen (also solche, in denen der propositionale Teil gar nicht expliziert wird (wie in Äußerungen wie »Hallo«, »Guten Tag«, »Schön! « usw.), solche Äußerungen, die nur im Kontext einer bestimmten Institution verständlich sind (»Ich taufe Dich hiermit auf den Namen«), implizite Äußerungen (solche, in denen der Handlungssinn nicht direkt explizit gemacht wird, wie im Falle von Aufforderungen, die in der Form einer Frage auftreten: »Kommst Du an das Salzfass ran? «) und in denen allein der Kontext weitgehend die Äußerungsbedeutung festlegt. 8 Searle und Habermas rechtfertigen dies über das »Prinzip der Ausdrückbarkeit«, das besagt, dass alles, was gemeint, auch gesagt werden kann (Searle 1990: 34ff.) (VE, 404), dann lassen sich alle Sprechakte, die nicht die Standardform aufweisen, nach deren Muster analysieren. Zur Diskussion um dieses Prinzip vgl. Röska-Hardy (Röska-Hardy 1988) und Burkhardt (Burkhardt 1990). 74 Sprechhandlungen und konstitutive Regeln Ebenfalls von Austin und Searle übernimmt Habermas die Idee, dass sich für die jeweiligen Sprechhandlungen die Regeln untersuchen lassen, die es dem Sprecher ermöglichen, einen bestimmten Sprechakt in regelgerechter Weise hervorzubringen. Hier schließt die Universalpragmatik an Chomskys Idee einer Tiefengrammatik an. Sprechhandlungen basieren auf Regeln, die erfüllt sein müssen, damit der Sprecher mit einer Äußerung eine bestimmte Handlung vollziehen kann - die Rekonstruktion der Kompetenz bezieht sich auf solche Regeln - diese bezeichnet Searle auch als konstitutive Regeln. Es handelt sich also wie bei Chomskys generativer Grammatik um die Beschreibungen von Tiefenstrukturen, die der regelgerechten Hervorbringung von Sätzen und den damit vollzogenen Handlungen zugrunde liegen. Unter »konstitutiven Regeln« versteht Searle solche, die im Gegensatz zu »regulativen Regeln« ein bestehendes Verhalten nicht lediglich regulieren, sondern ein neues Verhalten allererst hervorbringen. Als Beispiel wählt Searle Spielregeln, welche Searle zufolge die folgende Form aufweisen: »X gilt als Y im Kontext C« (Searle 1990: 57). So zählen etwa im Schach bestimmte Züge als Schachgeben, im Fußball gilt eine bestimmte Stellung der Spieler, relativ zur Ballabgabe, als Abseits. Um nun eine bestimmte Sprechhandlung zu vollziehen, müssen nach Searle ebenfalls bestimmte Regeln erfüllt werden, damit die Handlung als bestimmter Sprechakt, z. B. eine Behauptung, Frage, Aufforderung, Warnungen etc. gelten kann: »Für jeden Typ eines illokutionären Aktes gibt es Bedingungen, die für den erfolgreichen und geglückten Vollzug des Akts notwendig sind.« (Searle 1982: 64) Searle analysiert eine Reihe von Typen illokutionärer Akte, in der Tabelle ist exemplarisch seine Analyse des Aufforderns und des Behauptens wiedergegeben (Searle 1990: 100). Tab. 5: Typen illokutionärer Akte nach Searle Auffordern Behaupten, Feststellen (daß), Bestätigen Regeln des propositionalen Gehaltes Zukünftige Handlung A von H. [Hörer, J.G.] Jede Proposition p. Einleitungsregeln 1. H ist in der Lage, A zu tun. S [Sprecher, J.G.] glaubt, daß H in der Lage ist, A zu tun. 2. Es ist sowohl für S als auch für H offensichtlich, daß H bei normalem Verlauf der Ereignisse A nicht aus eigenem Antrieb tun wird. 1. S hat Beweismittel (Gründe usw.) für die Wahrheit von p. 2. Es ist nicht offensichtlich für S als auch für H, daß H p weiß (nicht daran erinnert werden muß usw.). Regeln der Aufrichtigkeit S wünscht, daß H A tut. S glaubt p. Wesentliche Regeln Gilt als ein Versuch, H dazu zu bringen, A zu tun. Gilt als eine Versicherung des Inhalts, daß p eine wirkliche Sachlage darstellt. 75 Habermas’ Analyse schließt hier an. Er unterscheidet die Sprechaktklassen entlang ihrer Erfüllungsbedingungen und ihrer Geltungsbedingungen. Erfüllungsbedingungen bezeichnen die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit der Sprechakt erfolgreich ausgeführt werden kann, die Geltungsbedingungen erläutern die Erfüllungsbedingungen. Tab. 6: Differenzierung der Erfüllungs- und Geltungsbedingungen nach Sprechaktklassen Sprechaktklassen Erfüllungsbedingungen Geltungsbedingungen Konstative (z. B. Behauptungen) Bedingungen, unter denen die Äußerung wahr ist Bedingungen, unter denen S überzeugende Gründe haben kann, den Inhalt der Äußerung für wahr zu halten. Expressive (z. B. Geständnisse) Bedingungen, unter denen S die Haltung X gegenüber (p) einnehmen kann Bedingungen, unter denen S sagt, was er meint, und die Gewähr übernimmt, dass sein weiteres Verhalten damit konsistent sein wird. Regulative (z. B. Bitten) Bedingungen, unter denen S den gewünschten Zustand herbeiführen kann Bedingungen, unter denen S gute (sprechaktimmanente) Gründe hat, zu erwarten, dass H den Willen von S anerkennt. Imperative (Aufforderungen) Bedingungen, unter denen S den gewünschten Zustand herbeiführen kann Bedingungen, unter denen S gute (sprechaktexterne) Gründe hat, zu erwarten, dass H den Willen von S anerkennt. Nach TKH I, 404ff. Der Mechanismus, über den Sprechhandlungen in der Lage sind, erfolgreich ausgeführt zu werden, liegt Habermas zufolge in der Bereitschaft, die Geltungsbedingungen des Sprechaktes anzuerkennen. Wenn diese Anerkennung der Geltungsbedingungen das Anschlusshandeln motiviert, spricht Habermas von einer »rationalen Motivation«: »Ein Sprecher kann einen Hörer zur Annahme seines Sprechaktangebotes [..., J.G.] rational motivieren, weil er aufgrund eines internen Zusammenhangs zwischen Gültigkeit, Geltungsanspruch und Einlösung des Geltungsanspruchs die Gewähr dafür übernehmen kann, erforderlichenfalls überzeugende Gründe anzugeben, die einer Kritik des Hörers am Geltungsanspruch standhalten. So verdankt ein Sprecher die bindende Kraft seines illokutionären Erfolges nicht der Gültigkeit des Gesagten, sondern dem Koordinationseffekt der Gewähr, die er dafür bietet, den mit seiner Sprechhandlung erhobenen Geltungsanspruch gegebenenfalls einzulösen. An die Stelle der empirisch motivierenden Kraft eines mit Sprechhandlungen kontingent verknüpften Sanktionspotentials tritt die rational motivierende Kraft der Gewährleistung von Geltungsansprüchen in allen Fällen, wo die illokutionäre Rolle keinen Macht-, sondern einen Geltungsanspruch zum Ausdruck bringt.« (TKH I, 406, vgl. auch VE, 161, 433, MKH, 68) 76 Habermas’ pragmatische Interpretation des Äußerungsverstehens geht demnach in mehrfacher Hinsicht über die von Wittgenstein im Tractatus formuliert Auffassung hinaus. 9 Zum einen basiert geht die Universalpragmatik darauf, dass Sprechhandlungen nicht allein mittels des Wahrheitsanspruchs geklärt werden können, vielmehr kommen Richtigkeit und Aufrichtigkeit hinzu. Wittgensteins Satz würde daher nur für eine bestimmte Klasse von Äußerungen zutreffen, nämlich für solche, die den Wahrheitsanspruch beinhalten. Zweitens werden die Bedingungen, unter denen ein Satz wahr und richtig ist, nicht (allein) auf Weltzustände bezogen, sondern auf mögliche Gründe, die der Sprecher für seine Äußerung hat. Bis hierhin stimmen Searle und Habermas überein. Habermas geht freilich noch einen Schritt weiter als Searle. Für ihn bemisst sich die Akzeptabilität des Sprechaktes nicht nur daran, dass der Hörer glaubt, der Sprecher habe gute Gründe für seine Behauptung, sondern auch daran, dass der Hörer darauf vertraut, der Sprecher würde gegebenenfalls gute Gründe für seine Behauptungen, Aufforderungen etc. anführen. (Hier ergibt sich allerdings eine Asymmetrie zwischen konstativen und regulativen Sprechhandlungen auf der einen Seite und expressiven Sprechhandlungen auf der anderen Seite. Die Geltungsbedingungen bestehen im expessiven Fall darin, dass das weitere Verhalten des Sprechers mit dem Gesagten konsistent ist. Expressive Sprechhandlungen sind daher auch nicht in dem Sinne mit einem argumentativ einlösbaren Geltungsanspruch verbunden, wie das bei konstativen und regulativen der Fall ist. 10 ) Habermas resümiert: »Die wesentliche Voraussetzung für das Gelingen eines illokutiven Aktes besteht darin, daß der Sprecher jeweils ein bestimmtes Engagement eingeht, so daß sich der Hörer auf ihn verlassen kann. Eine Äußerung kann dann und nur dann als ein Versprechen, eine Behauptung, Aufforderung oder Frage ›zählen‹, wenn der Sprecher ein Angebot macht, das er, sofern der Hörer es akzeptiert, ›wahrzumachen‹ bereit ist« (VE, 430f.). Für Habermas tritt dieses Engagement zum Wahrheits-, Richtigkeits- und Wahrhaftigkeitsanspruch nicht einfach hinzu, sondern - und das ist die Pointe seiner Konsenstheorie - es ergibt sich aus diesen Ansprüchen selbst, die nämlich in letzter Instanz nur durch eine diskursive Klärung über die Berechtigung des Anspruchs eingelöst werden können (s. Kapitel 9). Nun wird die Überprüfung des Geltungsanspruchs nicht jedesmal erforderlich, sondern erst dann, wenn der Hörer den erhobenen Geltungsanspruch bezweifelt. Je nach Reaktion des Hörers auf eine Äußerung verzweigt sich der Anschluss an die Äußerung. 9 »Einen Satz verstehen, heißt, wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist.« (Wittgenstein 1963: 4.024, S. 36) 10 Habermas ordnet dem Geltungsanspruch daher auch eine spezifische Reflexionsform zu: die Kritik (TKH I, 41ff.). »Der Umstand, daß es keine anderen Evidenzen für einen Wahrhaftigkeitsanspruch gibt jenseits des folgenden Verhaltens, gründet sich darauf, daß es sich um privilegiert zugängliche Ereignisse handelt, auf die sich der Wahrhaftigkeitsanspruch richtet.« (TKH I, 407) 77 »Aus der Perspektive des Hörers, an den eine Äußerung adressiert wird, können wir drei Ebenen von Reaktionen auf eine (korrekt wahrgenommene) Sprechhandlung unterscheiden: »...der Hörer versteht die Äußerung, d. h. er erfaßt die Bedeutung des Gesagten; der Hörer nimmt zu einem mit dem Sprechakt erhobenen Anspruch mit ›Ja‹ oder ›Nein‹ Stellung, d. h. er akzeptiert das Sprechaktangebot oder lehnt es ab; und in der Konsequenz eines erzielten Einverständnisses richtet der Hörer sein Handeln nach den konventionell festgelegten Handlungsverpflichtungen.« (TKH I, 399) Im Falle einer Nein-Stellungnahme schließt sich eine diskursive Überprüfung des Anspruchs an. Habermas kennt nun aber auch Fälle, in denen der Mechanismus der Handlungskoordination nicht auf der Anerkennung von Geltungsansprüchen beruht, sondern auf einer »empirischen Motivation«, bei der »die illokutionäre Rolle« einen »Machtanspruch« und keinen »Geltungsanspruch« zum Ausdruck bringt (TKH I, 406). Dies sind die Imperative, sofern sie nicht in normative Kontexte eingebettet sind. Habermas spricht in ihrem Fall von »normativ autorisierten Aufforderungen« (TKH I, 404). 11 Tab. 7: Formen der Handlungsmotivation Motivation Handlungskoordination über Empirisch Macht Rational Geltung Handeln und Diskurs Im Falle eines kommunikativen Handelns, in dem die in der Sprechhandlung erhobenen Geltungsansprüche vom Hörer zurückgewiesen werden, kommt er zu einer diskursiven Prüfung des erhobenen Geltungsanspruchs. Diskurse unterscheiden sich vom kommunikativen Handeln in zwei entscheidenden Hinsichten. Der erste Unterschied besteht in der »Virtualisierung der Handlungszwänge«, der zweite in der »Virtualisierung der Geltungsansprüche« (TGS, 117). Unter Handlungszwängen versteht Habermas den Umstand, dass unser Handeln gewöhnlich unter zeitlichen und sachlichen Restriktionen steht. Sie ergeben sich daraus, dass wir Ziele mit unserem Handeln verbinden. So hat der Professor aus dem eben angeführten Beispiel nicht die Zeit, seinen Vortrag zu halten und gleichzeitig ein Glas Wasser zu holen - zu- 11 Wie sich unten zeigen wird, stellen die Imperative Habermas’ Konzept vor eine Herausforderung, denn von ihnen aus stellt sich die Frage, ob die Sprache die Sprachverwender tatsächlich stets dazu nötigt, eine performative Einstellung einzunehmen. 78 dem wirken hier sachliche Beschränkungen. Diese können sich aus der »natürlichen« Verfassung der Situation ergeben (es gibt im Raum keinen Wasseranschluss) oder auch aus der »sozialen« Struktur der Situation (er ist verpflichtet, das Seminar anzubieten). Der Diskurs setzt diese Bindung an die unmittelbaren Handlungsziele und Situationsmerkmale außer Kraft, denn im Diskurs geht es nun darum, die Geltungsansprüche selbst auf ihre Berechtigung zu überprüfen. Diese werden virtualisiert, indem die sonst mehr oder weniger fraglose Gegebenheit der Geltungsansprüche aufgehoben wird (TGS, 117, vgl. auch VE, 135, EI, 386). Der Diskurs dispensiert also Momente, die im kommunikativen Handeln sonst eine Rolle spielen - im Diskurs kommen Idealisierungen zum Tragen, die Habermas unter dem Begriffder »idealen Sprechsituation« genauer bestimmen wird. Je nach problematisiertem Geltungsanspruch unterscheidet Habermas verschiedene Formen des Diskurses. Zentral ist hierbei wieder das Dreierschema, das schon die Klassifikation der Geltungsansprüche und der Sprechhandlungen bestimmte. Tragend, aber nicht ganz vollständig sind das Dreierschema der Weltbezüge und die entsprechende Unterscheidung von Sprechaktklassen. In der Theorie des kommunikativen Handelns führte Habermas zunächst noch die Klasse der »evaluativen Äußerungen« ein, die mit dem nicht »klargeschnittenen Geltungsanspruch« auf die Angemessenheit bestimmter Wertstandards verbunden sind (TKH I, 36f.). In der Sprechakttaxonomie in der Theorie des kommunikativen Handelns werden sie nicht mehr berücksichtigt. Später ordnet Habermas ästhetischen Fragen allerdings doch wieder einer eigenständigen Klasse von Geltungsansprüchen, denjenigen auf »ästhetische Stimmigkeit«, zu (PDM, 366), so dass wir von vier Diskurstypen ausgehen können, die sich auf Geltungsansprüche beziehen. Ein weiterer Diskurstyp, der explikative Diskurs, richtet sich auf Verständlichkeit von Äußerungen, ihm wird also kein eigener Geltungsanspruch zugeordnet. 12 Da Rechtfertigungen evaluativer Äußerungen den Allgemeinheitsan- 12 Die Sprechhandlungen, die ihm zugeordnet werden können, sind die Kommunikative und Operative. »Kommunikative« sind solche Sprechhandlungen, die der »reflexiven Bezugnahme auf den Kommu- Tab. 8: Diskurstypen Bezugsgrößen: Formen der Argumentation Problematische Äußerungen Kontroverse Geltungsansprüche theoretischer Diskurs kognitiv-instrumentell Wahrheit von Propositionen; Wirksamkeit teleologischer Handlungen praktischer Diskurs moralisch-praktisch Richtigkeit von Handlungsnormen ästhetische Kritik evaluativ Angemessenheit von Wertstandards therapeutische Kritik expressiv Wahrhaftigkeit von Expressionen explikativer Diskurs - - - - - - - - - - - Verständlichkeit bzw. Wohlgeformtheit symbolischer Konstrukte Aus: TKH I, 45 79 spruch nicht beinhalten (TKH I, 41; vgl. auch 36f.), und Rechtfertigungen expressiver Äußerungen in der therapeutischen Situation nicht die symmetrische Rollenverteilung umfassen (TKH I, 42f.), handelt es sich bei ihnen für Habermas nicht um Diskurse, sondern um (ästhetische und therapeutische) Kritik. Ausführlich ausgearbeitet hat Habermas seine Überlegungen zum theoretischen Diskurs (Wahrheit) und zum praktischen Diskurs (s. dazu Kapitel 10). Weniger im Mittelpunkt stehen die evaluative und therapeutische Kritik sowie der explikative Diskurs. Zum Abschluss des Kapitels soll noch einmal zusammengefasst werden, worin der Beitrag der Universalpragmatik zu den normativen Grundlagen der Gesellschaftstheorie besteht Erstens zeigt die Universalpragmatik, dass die sprachliche Verständigung eine • rationale Grundlage besitzt, weil sie auf dem Erheben von Geltungsansprüchen beruht, wobei Habermas im Wesentlichen Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit unterscheidet. Zweitens liegt dem kommunikativen Handeln eine konsensuelle Basis zugrun- • de, weil die Handlungskoordination über sprachliche Verständigung darauf beruht, dass der Hörer diese Geltungsansprüche anerkennt. Drittens ist die Geltungsdimension selbst dadurch bestimmt, dass Geltungsan- • sprüche einer diskursiven Einlösung bedürftig sind und fähig werden, sobald diese vom Hörer bestritten werden. Die Universalpragmatik geht also von einem internen Zusammenhang zwischen Geltung und Akzeptabilität aus. (Dass Geltungsansprüche letztlich auf diskursive Einlösung hin zu verstehen sind, klärt Habermas in der Diskurstheorie, s. Kapitel 9 und 10). Eine kompakte Formulierung fasst diese drei Aspekte zusammen: »Wer immer sich einer natürlichen Sprache bedient, um sich mit einem Adressaten über etwas in der Welt zu verständigen, sieht sich genötigt, eine performative Einstellung einzunehmen und sich auf bestimmte Präsuppositionen einzulassen. Er muß unter anderem davon ausgehen, daß die Beteiligten ihre illokutionären Ziele ohne Vorbehalte verfolgen, in Einverständnis an die intersubjektive Anerkennung von kritisierbaren Geltungsansprüchen binden und die Bereitschaft zeigen, interaktionsfolgenrelevante Verbindlichkeiten, die sich aus einem Konsens ergeben, zu übernehmen. Was derart in die Geltungsbasis der Rede eingelassen ist, teilt sich auch den übers kommunikative Handeln reproduzierten Lebensformen mit.« (FG, 18) Die Universalpragmatik umfasst eine Reihe von Annahmen, die allesamt nicht unstrittig sind, u. a. deswegen, weil es eine Reihe konkurrierender Ansätze gibt. Diskussionen nikationsvorgang« dienen. Hierbei handelt es sich um Sprechhandlungen wie Bejahungen, Verneinungen, Versicherungen, Bestätigungen, Begründungen, Rechtfertigungen, Beweise etc. »Operative« sind hingegen solche »Sprechhandlungen, die (wie schließen, identifizieren, rechnen, klassifizieren, abzählen, prädizieren usw.) die Anwendung konstruktiver Regeln (der Logik, Grammatik, Mathematik usw.) bezeichnen.« (TKH I, 436; vgl. auch TGS, 111) 80 beziehen sich so auf die Bedeutungstheorie, die mit der Universalpragmatik verbunden sind. Strittig ist hier vor allem, ob sich Bedeutungsfragen auf dem Wege einer pragmatischen Analyse überhaupt hinreichend klären lassen. 13 Eine weitere Diskussion kreist um die in der Sprechakttheorie ausdauernd diskutierte Frage nach der Klassifikation von Sprechakten sowie der Vollständigkeit und Abgrenzbarkeit von Sprechaktklassen und Geltungsansprüchen (vgl. Thompson 1982, Cooke 1994, Wellmer 1989)(vgl. dazu auch TKH I, 416ff.). Die Kernfrage lautet, ob sich die Vielfalt dessen, was handelnd mit der Sprache vollzogen werden kann, hinreichend unter klar abgrenzbare Kategorien bringen und damit auf klar differenzierbare Tiefenstrukturen und Regeln zurückführen lässt. 14 Die These von der Standardform, die der universalpragmatischen These zugrunde liegt, und die Auffassung, jeder Sprecher erhebe mit seiner Sprechhandlung drei Geltungsansprüche, stehen in einer inneren Spannung (vgl. insbesondere Leist 1977). 15 Wie sind - geht man von der Standardform aus - die anderen Geltungsansprüche in der Struktur des Sprechaktes repräsentiert? Wenn der Geltungsanspruch und der Weltbezug durch den illokutionären Bestandteil festgelegt werden, wie können dann in dem Satz »Ich behaupte, dass die Straßen unbefahrbar sind« Richtigkeits- und Wahrhaftigkeitsansprüche repräsentiert sein oder in der Äußerung »Ich fordere Sie auf, das Rauchen einzustellen« Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsansprüche? Wie Leist zudem betont, gefährdet die These über die Standardform die These von der »Universalität« des Wahrheitsanspruchs, die Habermas in Was heißt Universalpragmatik? behauptet hatte: »Wahrheitsansprüche sind mithin Geltungsansprüche, eines Typs, 13 Habermas versteht die Universalpragmatik auch als These mit einer bedeutungstheoretischen Pointe: »Wir verstehen einen Sprechakt, wenn wir wissen, was ihn akzeptabel macht.« (TKH I, 400). »Insofern gehört die Orientierung an der möglichen Gültigkeit von Äußerungen zu den pragmatischen Bedingungen nicht erst der Verständigung, sondern schon des Sprachverstehens selber.« (ND, 76, vgl. auch Habermas ND,124, 128 und 148, E, 358). Habermas beansprucht damit auf der Basis der Sprechakttheorie eine Alternative zur intentionalistischen Semantik, die Bedeutung auf Sprecherabsichten zurückführt, sowie zu einer formalen Semantik, die Bedeutung über eine Wahrheitstheorie klärt, zu formulieren (vgl. insbesondere ND, 105ff., sowie schon VE 332ff.). Vgl. dazu auch Greve (Greve 2002, Greve 2003) und Wellmer (Wellmer 1989). Kritisch dazu auch Searle: «we cannot analyze meaning, communication and speech acts in terms of the attempt to achieve consensus because unless there is actual understanding of a meaningful speech act in successful communication there is nothing for the consensus to be about, there is no way to specify the terms of the consensus. If for example I say ›Bush is doing a good job‹, before you can agree or disagree you have to understand me.« (Searle 1991: 92) 14 Eine solche Taxonomie hat nicht nur eine linguistische, sondern auch eine sprachphilosophische Bedeutung. Wie Searle betont, widerspricht die These, es gebe eine begrenzte Anzahl von Formen illokutionärer Akte, der Wittgensteinschen Behauptung, es gebe keine finite Liste der Weisen, in der Sprache gebraucht werden könne (Searle 1982: 7). Auch Habermas sieht hierin einen wesentlichen Fehler der Wittgensteinschen Spätphilosophie (Habermas 1975). 15 Der Rekurs auf die Standardform ist noch in anderer Hinsicht strittig. Diskutiert wird, ob es tatsächlich gelingt, Äußerungen, die von ihr abweichen - also fiktionale, ironische, nicht-wörtliche, verkürzte Sprechhandlungen -, auf der Basis der Standardform verständlich zu machen. Hierum kreist auch eine Diskussion zwischen Searle und Derrida (Searle 1977, Derrida 1977, Derrida 2001, Culler 1988). Vgl. dazu auch PDM, 224ff. 81 die in die Strukturen möglicher Rede überhaupt eingebaut sind.« (VE, 420). Diese Einwände von Leist diskutiert Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns (TKH, 417ff.) Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Habermas’ Überlegung, die formalpragmatische Analyse könne einen Anschluss an die empirische Pragmatik finden, indem sie »die starken Idealisierungen, denen sich der Begriffdes kommunikativen Handelns verdankt, kontrolliert rückgängig« machen. Habermas zählt eine Reihe solcher Schritte auf, zu denen auch der folgende gehört: »Neben den objektivierenden, normenkonformen und expressiven Grundeinstellungen wird eine übergreifende, performative Einstellung zugelassen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß sich Kommunikationsteilnehmer mit jedem Sprechakt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen.« (TKH I, 442) Wenn also die Formalpragmatik die konstitutiven Regeln klärt, die einen Sprechakt verständlich machen, dann gehört der dreifache Weltbezug zunächst nicht dazu. Im Hinblick auf Habermas’ Klassifikation hat Wellmer auf ein weiteres Problem hingewiesen, das sich aus Habermas’ These ergibt, mit dem performativen Bestandteil der Äußerung lege der Sprecher zugleich fest, welchen Geltungsanspruch die Äußerung erhebt. Nach Wellmer ist dies zu eng. Sein Einwand macht sich an Äußerungen wie denen fest, auf die Habermas sich in seinem Beispiel bezog. Wenn der protestierende Student beispielsweise sagt: »Ich behaupte, Sie haben kein Recht, mich zum Wasser holen aufzufordern«, dann bezieht er sich auf einen normativen Geltungsanspruch, auch wenn das Gesagte seinem Indikator nach auf eine Behauptung, also eine den Wahrheitsanspruch bezogene Äußerung schließen lässt. Wellmer folgert aus solchen Beispielen: »Mit anderen Worten: normative Geltungsansprüche, so eng sie auch mit regulativen Sprechakten verknüpft sein mögen, treten nicht immer in der Form regulativer Sprechakte auf, und sie können nicht immer in dieser Form auftreten, wenn ein praktischer Diskurs möglich sein soll.« (Wellmer 1989: 355) 82 9. Konsenstheorie Die Entwicklung der Universal- oder auch Formalpragmatik steht für Habermas in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit der Entwicklung einer Konsenstheorie der Wahrheit (und der Richtigkeit, s. Kapitel 10). Der sachliche Zusammenhang besteht darin, dass sprachliche Verständigung nach Habermas erstens auf einen Konsens abzielt und zweitens auf notwendig in der Kommunikation vollzogenen Unterstellungen basiert. Dieser Konsens bezieht sich ihm zufolge auf die Berechtigung oder Nichtberechtigung von in der Kommunikation erhobenen Geltungsansprüchen. Die Einlösung der Geltungsansprüche hängt für Habermas aber wiederum von den Bedingungen ab, unter denen ihre Einlösung sich diskursiv vollzieht. Anders gesagt: Ob eine Aussage wahr oder eine normative Forderung richtig ist, ergibt sich nicht aus Gründen, die außerhalb des Diskurses liegen, sondern der Diskurs selbst ist geltungsbegründend. Diese Habermas’sche These ist insofern bemerkenswert, da wir gewöhnlich davon ausgehen, dass die Wahrheit von Aussagen sich daran bemisst, dass sie mit einer von der Sprache unabhängigen Realität übereinstimmen. Diese Auffassung wird in der Philosophie als Korrespondenztheorie der Wahrheit bezeichnet. 16 Sie hat bis heute viele Anhänger (nicht nur weil sie dem allgemeinen Alltagsverständnis von Wahrheit nahe kommt), aber Habermas ist bei weitem nicht der einzige Autor, der davon abrückt. Die grundlegende Kritik an der Korrespondenztheorie der Wahrheit besagt, dass wir keinen Zugang zur Wirklichkeit jenseits der Sprache haben, der nicht über etwas wie begriffliche Kategorien vermittelt ist. Wenn es einen solchen unvermittelten Zugang zur Wirklichkeit nicht gibt, dann können wir gar nicht die »Wirklichkeit« mit unserem sprachlichen Abbild der Wirklichkeit vergleichen. Nicht nur aus diesem Grund finden sich in der Philosophie eine Reihe anderer Wahrheitskonzepte. Eine erste Alternative wird als Kohärenztheorie der Wahrheit bezeichnet. Sie geht davon aus, dass Aussagen dann wahr sind, wenn sie mit anderen Aussagen übereinstimmen. Das Relat der Aussagen ist hier also nicht mehr die Wirklichkeit, sondern es sind andere Sätze. Eine zweite prominente Alternative ist eine pragmatische oder auch instrumentalistische Wahrheitsauffassung. Sie geht davon aus, dass Aussagen dann wahr sind, wenn sie nützlich sind, das heißt, sich im Hinblick auf praktische Zwecke bewähren. Wahrheit meint hier demnach Bewährung. 17 Sie ist von William James (James 1994) vertreten worden, aber auch von Charles Sanders Peirce (vgl. Apel 1975). Bei Peirce findet sich freilich eine spezifische Interpretation dieser pragmatischen Auffassung. Wahr wären 16 Eine sehr gute Übersicht über die verschiedenen Ansätze gibt Kirkham (Kirkham 1995). 17 Prominent sind neben der Korrespondenz-, der Kohärenz- und der instrumentalistischen Wahrheitskonzeption eine auf Ramsey zurückgehende Redundanztheorie der Wahrheit, die davon ausgeht, dass die Behauptung »p ist wahr« der Behauptung »p« nichts hinzufügt, so dass das Wahrheitsprädikat redundant und folglich verzichtbar ist, und die ›zitattilgende‹ Auffassung, die Tarski begründet hat und die auf der Intuition beruht, dass Wahrheit auf der Basis von Sätzen definiert werden kann, die eine Übersetzung vollziehen, in denen der als wahr behauptete Satz durch den zitierten Satz selbst ersetzt werden kann (»›Schnee ist weiß‹ ist genau dann wahr, wenn Schnee weiß ist.« ) 83 dieser Interpretation zufolge Aussagen, die in einer unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft als wahr gerechtfertigt werden können. 18 Es ist diese Wahrheitsauffassung, an die Habermas anknüpft und die er als Konsenstheorie der Wahrheit bezeichnet. Auf den ersten Blick wirkt Peirces Konzept relativ unschuldig, denn es ließe sich sagen, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass man unter optimalsten Bedingungen auch die Wahrheit von Aussagen erkennen könnte. Aber diese Bedingungen sind aus der Sicht der Konsenstheorie der Wahrheit nicht deswegen optimal, weil wir einen unverstellten Blick auf die Wirklichkeit einnehmen können, sondern weil sich die Aussagen in einer unbegrenzten Diskussion in dieser Diskussion bewähren. Das Wahrheitskriterium ist hier epistemisch, d. h. es wird durch das Feststellen der Wahrheit bestimmt. Diese Bewährung ist einerseits von der pragmatischen Auffassung in ihrer einfachen Variante unterschieden, denn die Bewährung vollzieht sich nicht an praktischen Zwecken (wie der Konstruktion technischer Apparaturen, die auf diesen Aussagen aufbauen). Andererseits bleibt sie in dem Sinne pragmatisch, dass sie auf Bewährung basiert, nämlich einer Bewährung in der Diskussion. So wie Peirce die Einlösung eines Wahrheitsanspruchs von einer idealen Situation abhängig macht, nämlich der unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft, verfährt in ähnlicher Weise auch Habermas. Diese ideale Situation bezeichnet er als »ideale Sprechsituation«. Habermas gibt hierfür die folgenden vier Bedingungen an. 1. »Alle potentiellen Teilnehmer eines Diskurses müssen die gleiche Chance haben, kommunikative Sprechakte zu verwenden, so daß sie jederzeit Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort perpetuieren können. 2. Alle Diskursteilnehmer müssen die gleich Chance haben, Deutungen, Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen aufzustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen oder zu widerlegen, so daß keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und der Kritik entzogen bleibt. [..., Ausl., J.G.] 3. Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde gleiche Chancen haben, repräsentative Sprechakte zu verwenden, d. h. ihre Einstellungen, Gefühle und Wünsche zum Ausdruck zu bringen. […, Ausl., J.G.] 4. Zum Diskurs sind nur Sprecher zugelassen, die als Handelnde die gleiche Chance haben, regulative Sprechakte zu verwenden, d. h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft abzulegen und zu verlangen usf.« (VE, 177f.) Habermas geht davon aus, dass diese Bedingungen auch dann unterstellt werden müssen, wenn sie faktisch nicht erfüllt sind. Dies bezeichnet er als ihre kontrafaktische Unterstellung: »Es gehört zu den Argumentationsvoraussetzungen, daß wir im Vollzug 18 »Truth is that concordance of an abstract statement with the ideal limit towards which endless investigation would tend to bring scientific belief.« (Peirce: Collected Papers, Abschnitt 5.565, zitiert nach Kirkham 1995: 81) 84 der Sprechakte kontrafaktisch so tun, als sei die ideale Sprechsituation nicht bloß fiktiv, sondern wirklich - eben das nennen wir eine Unterstellung.« (VE, 181) 19 Der Status der idealen Sprechsituation ist demnach so bestimmt, dass es Abweichungen geben kann und muss. Diese Abweichungen resultieren daraus, dass ein Diskurs unter raum-zeitlichen Restriktionen steht - die Sprechsituation kann daher nicht unendlich währen und sie kann nie alle potentiellen Teilnehmer einschließen (vgl. auch Kapitel 10). In einer ironischen Wendung wurde Habermas daher auch vorgeworfen, sein Konzept laufe auf eine »Diktatur des Sitzfleisches« hinaus: Es bekommen die Recht, die am längsten bleiben (Weinrich 1975). Das ist insofern dem Vorschlag von Habermas gegenüber ungerecht, als er selbst sieht, dass die Bedingungen der idealen Sprechsituation faktisch nicht einlösbar sind. 20 Allerdings lässt sich dies nur mit einem gewissen Vorbehalt sagen, denn Habermas hatte zunächst die Bedingungen der idealen Sprechsituation als Vorschein einer möglichen Lebensform gekennzeichnet 21 , dann aber rasch eingeräumt, dass ebendiese Bedingungen faktisch nicht eingelöst werden können (vgl. VE, 126) (vgl. auch Habermas 1981b: 529). Dennoch geht Habermas weiterhin davon aus, dass die Bedingungen der idealen Sprechsituation zu den notwendigen Unterstellungen eines Diskurses gehören, d. h. dass die Argumente, die wir in realen Diskussionen anführen, auch dann noch Bestand hätten, wenn die Diskussion unter idealen Bedingungen stattfinden würde. In welchem Maße sind wir aber gezwungen, diese Bedingungen zu unterstellen? In seiner stärksten Fassung vertritt Habermas die These, dass wir diese Bedingungen immer schon unterstellen müssen, wenn wir kommunizieren, d. h. auch derjenige, der sich gar nicht auf die Bedingungen der idealen Sprechsituation einlassen möchte, ist - sofern er kommuniziert - darauf angewiesen, zumindest den Eindruck zu hinterlassen, dass er die Bedingungen einer idealen Sprechsituation akzeptiert, auch wenn das nicht der Fall ist, weil die ideale Sprechsituation ihrer Form nach Verletzungen der Symmetriebedingungen des Diskurses nicht zulässt. Weiter unten wird ausgeführt, dass Habermas sich um die Begründung dieser These dadurch bemüht, indem er zu zeigen versucht, dass Handelnde, die sich in Wirklichkeit gar nicht auf den zwanglosen Zwang des besseren Argumentes verlassen wollen, sondern beispielsweise auf ihre Macht oder auf Manipulationen, den anderen notwendig über ihre eigentlichen Absichten täuschen müssen - eine starke These, auf die unten genauer einzugehen sein wird (siehe dazu Kapitel 11). Habermas hat im Laufe der Diskussion um die Konsenstheorie eine Reihe von Abstrichen vorgenommen - dazu 19 »Im Diskurs unterstellen wir nämlich kontrafaktisch, daß die Bedingungen uneingeschränkter und zwangloser Kommunikation erfüllt sind. Alle vernünftigen Subjekte, die je gelebt haben oder leben werden, haben als virtuelle Zeitgenossen Zugang zur Kommunikation; und alle, die Zugang haben, gelten als vernünftige Subjekte, die keinem externen Zwang unterworfen sind.« (TGS, 214; vgl. auch RHM, 333) 20 »Jede empirische Rede ist sowohl durch die raumzeitlichen Begrenzungen des Kommunikationsvorgangs wie auch durch die psychischen Belastungsgrenzen der Diskursteilnehmer grundsätzlich Restriktionen unterworfen, die eine vollständige Erfüllung der idealen Bedingungen ausschließen.« (VE, 179) 21 »Der Vorgriffauf die ideale Sprechsituation hat für jede mögliche Kommunikation die Bedeutung eines konstitutiven Scheins, der zugleich Vorschein einer Lebensform ist.« (VE, 181) 85 gehört, wie bereits erwähnt, die Aufgabe der These, die ideale Sprechsituation könne faktisch realisiert werden. 22 Eine erste grundlegende Revision betraf die These, die ideale Sprechsituation könne als notwendige Bedingung für einen gültigen Konsens gelten. So hatte Habermas zunächst postuliert, dass sich das Vorliegen eines falschen Konsenses daran bemisst, ob die Bedingungen der idealen Sprechsituation erfüllt sind oder nicht: »Ein vernünftiger Konsensus kann von einem trügerischen in letzter Instanz allein durch die Bezugnahme auf eine ideale Sprechsituation unterschieden werden.« (VE, 179; vgl. auch TGS, 134) Habermas rückt aber von der These ab, dass die ideale Sprechsituation als notwendige Bedingung für die Erzielung eines vernünftigen Konsenses gelten kann: »Ich behaupte nicht, daß ein gültiger Konsens nur unter Bedingungen der idealen Sprechsituation zustandekommen kann.« (VE, 553) Ebenso hat sich Habermas von der These distanziert, der Konsens unter den Bedingungen der idealen Sprechsituation könnte als Wahrheitskriterium gelten (TGS, 224, VE 137). »Die Rede von Wahrheitskriterium ist irreführend. Die Konsenstheorie erklärt die Bedeutung des Wahrheitsbegriffs, allerdings mit Bezugnahme auf eine Prozedur - nicht zwar der Wahrheitsfindung, aber der Einlösung von Wahrheitsansprüchen.« (VE, 160; vgl. auch VE, 554) (vgl. auch Habermas 1985a: 228) Eine gemessen an der Ausgangsthese erstaunliche Revision vollzieht Habermas schließlich in seinem Aufsatz Wahrheit und Rechtfertigung. Zu Richard Rortys pragmatischer Wende von 1996 (Deutsche Zeitschrift für Philosophie; wiederabgedruckt in WR). Hatte Habermas bis dahin daran festgehalten, dass die Konsenstheorie der Wahrheit als eine Explikation der Bedeutung des Wahrheitsbegriffs (Habermas 1985a: 228) dienen könne, lässt Habermas nun auch diese These fallen: »Wahrheit darf weder an Handlungsgewißheit noch an gerechtfertigte Behauptbarkeit assimiliert werden.« (WR, 255) Vielmehr versteht er Wahrheit jetzt als einen Begriff, der gerade darauf verweist, dass unbedingte Ansprüche im Spiel sind, die nicht nur jeden möglichen Kontext, sondern auch jede mögliche Rechtfertigungssituation transzendieren. Welche Gründe führt Habermas dafür an? Zum einen akzeptiert er die Einwände von Lafont (Lafont 1994) und Wellmer (Wellmer 1986: 91, Wellmer 1989: 340f.), dass der Rekurs auf die ideale Sprechsituation einen letztlich undenkbaren Zustand formuliert: »Paradox ist auch die Idee eines letzten Konsenses oder einer definitiven Sprache, die jede weitere Kommunikation oder jede weitere Interpretation stillstellen würden.« (WR, 256) Entscheidend ist aber zweitens, dass Habermas einem Einwand zustimmt, der gegen jede epistemische Fassung des Wahrheitsbegriffs geltend gemacht wird (so von Davidson, auf den Habermas sich hier beruft, vgl. Davidson 1990: 307): »Wie immer auch die epistemischen Bedingungen idealisierend aufgewertet werden, entweder genügen sie dem unbedingten Charakter von Wahrheitsansprüchen durch Anforderungen, die den Anschluß an die uns bekannten Rechtfertigung- 22 Eine gute Darstellung und Entwicklung von Einwänden gegen die ursprüngliche Fassung der Konsenstheorie findet sich bei Alexy (Alexy 1995: 109ff.) Wellmer (Wellmer 1986: 69ff.) und Tietz (Tietz 1993). 86 spraktiken abschneiden; oder sie wahren die Verbindung zu einer uns bekannten Praxis um den Preis, daß die rationale Akzeptabilität auch unter diesen idealen Umständen Irrtum nicht ausschließt, also keine ›unverlierbare‹ Eigenschaft simuliert.« (WR, 257) Habermas gibt demnach die Konsenstheorie der Wahrheit auf. Zwar hält er an der These fest, dass es eine »interne Beziehung zwischen Wahrheit und Rechtfertigung geben« muss (WR, 247) 23 , aber die Rechtfertigungsbedingungen bestimmen nicht mehr die Wahrheit, sondern »lediglich« die Bedingungen sinnvoller Behauptbarkeit: »Die Formeigenschaften der Argumentation gewinnen in Anbetracht der Differenz zwischen Behauptbarkeit und Wahrheit Relevanz. Weil ›in letzter Instanz‹ schlagende Evidenzen und zwingende Argumente fehlen und noch so gut begründete Behauptungen falsch sein können, begründet allein die Qualität des Verfahrens der diskursiven Wahrheitsvergewisserung die vernünftige Erwartung, dass die besten der jeweils erreichbaren Informationen und Gründe im Diskurs tatsächlich verfügbar sind und am Ende auch ›zählen‹.« (Habermas 2001b: 47f.) Habermas verwirft zwar die ursprüngliche Konsenstheorie der Wahrheit, hält gleichzeitig aber an der strikten Konsenstheorie der Richtigkeit fest, d. h. einer solchen, der es darum geht, moralische Normen zu rechtfertigen (WR, 271ff.). Er hatte die Konsenstheorie so angelegt, dass sie für beide Fragen - Wahrheitsfragen und Richtigkeitsfragen - gelten sollte. Dabei ging es ihm nicht um eine Angleichung moralischer Fragen an solche der Wahrheit, aber um die Idee, dass sich moralische Fragen zumindest »wahrheitsanalog« behandeln lassen (ED, 11). Die Konsenstheorie der Richtigkeit wird von ihm beibehalten, weil praktische Fragen auf die faktische Anerkennungsfähigkeit durch Personen verweisen, so dass hier der Rekurs auf die Rechtfertigungspraxis in anderer Weise relevant ist als im Falle der Wahrheit. 24 Wie diese Rechtfertigungsbedingungen beschrieben werden, hat Habermas in der Diskursethik ausgearbeitet. 23 Dass auch dieser Gedanke nicht so leicht zu formulieren ist, darum kreist eine der gegenwärtigen Diskussionen um die Wahrheitstheorien, die Habermas in WR ausführlich dokumentiert. Eine nichtepistemische Wahrheitsauffassung kann auf den ersten Blick eine regulative Funktion im Hinblick auf jede Rechtfertigung besitzen (Lafont 1994: 1017, Wellmer 1989: 340), weil sie die Differenz zwischen Wahrheit und jeder möglichen Rechtfertigung ausdrückt. Wenn aber diese regulative Rolle eine Konsequenz für das Rechtfertigungsverfahren besitzen soll, müssten die epistemischen Konsequenzen des Wahrheitsbegriffs geklärt werden - diese sind aber angesichts der nicht-epistemischen Fassung gerade nicht mehr leicht zu entfalten. 24 So Habermas bereits in einer früheren Formulierung: »Da wir in praktischen Diskursen nicht, wie bei der Überprüfung von Wahrheitsansprüchen, auf Erfahrungen mit einer äußeren, objektivierten Wirklichkeit rekurrieren und gar nicht erst den Versuch machen können, den mit Geboten verknüpften Geltungsanspruch als eine Relation zwischen Sprache und äußerer Natur aufzufassen, begegnet eine Konsenstheorie der Richtigkeit nicht den gleichen Einwänden wie eine Konsenstheorie der Wahrheit. Es scheint auf der Hand zu liegen, daß praktische Fragen ... nur durch einen Konsensus unter allen Beteiligten und allen potentiell Betroffenen entschieden werden können.« (VE, 172) 87 10. Die Diskursethik und ihre Begründung Habermas kennzeichnet die Moralkonzeption der Diskursethik durch vier Aspekte: 25 1. Die Diskursethik ist deontologisch, da sie die Frage nach dem Gerechten, nicht diejenige nach dem Guten stellt. 2. Die Diskursethik ist universalistisch, da sie ein Moralprinzip auszeichnet, das nicht nur für eine bestimmte Kultur oder eine bestimmte Epoche, sondern allgemein gilt. 3. Die Diskursethik ist kognitivistisch, da sie von der rationalen Entscheidbarkeit moralischer Fragen ausgeht, die der Entscheidung über Wahrheitsfragen ähnlich ist (MKH, 78). Habermas geht daher davon aus, dass moralische Fragen im selben Sinne wie Wahrheitsfragen einer diskursiven Klärung zugänglich sind. 4. Die Diskursethik ist formalistisch, da sie kein materiales Prinzip für die Entscheidung moralischer Fragen angibt, sondern ein Verfahren, durch das diese Fragen beantwortet werden können. Das spezifische Verständnis des Formalismus unterscheidet Habermas’ Ansatz von Kants Ethikkonzept oder auch von John Rawls Gerechtigkeitskonzept (Rawls 1979), denn der Formalismus schließt einen Prozeduralismus ein, der beinhaltet: 1. dass das Moralprinzip dialogisch und nicht monologisch ist, d. h. das Moralprinzip erlaubt es nicht, dass Individuen je für sich allein die eigenen Handlungsmaximen im Lichte eines Moralprinzips prüfen, um gültige moralische Entscheidungen zu treffen, wie dies im Modell von Kant der Fall ist. Daraus ergibt sich: 2. dass das Verfahren einen realen Dialog zwischen Individuen über die Gültigkeit bzw. Nichtgültigkeit von Handlungsnormen fordert. 26 Aus dieser zweiten Annahme resultiert konsequent, dass Habermas die Rolle der Philosophie als die eines »Platzhalters« und nicht die eines Platzanweisers oder eines Richters zusprechen will (MKH, 9ff.). Der Philosophie und den Philosophen kommt nämlich unter dieser Prämisse, dass die Stimmen aller Beteiligten wesentlich sind, zwangsläufig kein privilegierter Ort zu. Habermas zufolge sind diese Diskurse durch einen Universalisierungsgrundsatz »U« gekennzeichnet. Dieser soll für die Entscheidung über moralische Fragen eine ähnliche Rolle spielen wie der Grundsatz der Induktion für theoretische Fragen. U soll es auch erlauben, wie Habermas sagt, »Einverständnis in moralischen Fragen grundsätzlich herbeizuführen«. U lautet: 25 Das Konzept der Diskursethik und zentrale Aspekte nimmt Habermas von Apel auf. Vgl. insbesondere Apel: »Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik« (Apel 1976c: 358-435). 26 »Tatsächlich zielt die […, J.G.] Formulierung des Verallgemeinerungsgrundsatzes [der Diskursethik, J.G.] auf eine kooperative Durchführung der jeweiligen Argumentation.« (MKH, 77) 88 »So muß jede gültige Norm der Bedingung genügen, daß die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den Auswirkungen der bekannten alternativen Regelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können.« (MKH, 75f.) U wird von Habermas als Argumentationsregel und Moralprinzip bezeichnet. Universalisierung bezeichnet für Habermas nicht nur Generalisierung, d. h. die Gleichbehandlung gleicher Fälle, und Inklusion, d. h. die Beteiligung aller Betroffenen, sondern auch Reversibilität der Standpunkte, d. h. dass jeder Teilnehmer am Diskurs zugleich die Perspektive aller anderen einnimmt. Neben U führt Habermas noch das Diskursprinzip »D« ein: »Eine Norm [darf ] nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), daß diese Norm gilt.« (MKH, 76) Das Verhältnis von D zu U bleibt freilich in der Theorieanlage etwas unklar. Habermas spricht davon, dass D die Begründbarkeit von U voraussetze (MKH, 76) - man kann D daher auch als eine sparsamere Formulierung der Diskursethik verstehen. Er beansprucht, U mithilfe von Argumentationsvoraussetzungen ableiten zu können (sie entsprechen den Bedingungen, durch die Habermas die ideale Sprechsituation gekennzeichnet hat). Ihm zufolge lassen sich dabei die folgenden Argumentationsvoraussetzungen unterscheiden, die Habermas in Form der Regeln angibt, die Alexy aus den Bedingungen der idealen Sprechsituation abgeleitet hat. Diese lassen sich drei Ebenen zuordnen: - einer logisch-semantische Ebene: (1.1.) Der Sprecher darf sich nicht widersprechen. (1.2.+ 1.3.) Die Sprecher verwenden Ausdrücke bedeutungsgleich. - einer prozeduralen Ebene: (2.1.) Jeder Sprecher darf nur behaupten, was er glaubt. (2.2.) Behauptungen können nur durch Angabe von Gründen kritisiert werden. - den Diskursregeln im engeren Sinne: (3.1.) Jeder darf an Diskursen teilnehmen. (3.2.) Jeder darf jede Behauptung problematisieren, jeder darf eine Behauptung in den Diskurs einführen, jeder darf seine Einstellungen, Wünsche und Bedürfnisse äußern. (3.3.) Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses herrschenden Zwang an der Wahrnehmung von 3.1. und 3.2. gehindert werden. (verkürzte Zusammenstellung nach MKH, 97ff.) 89 Habermas will diese Diskursregeln als unausweichliche Präsuppositionen rechtfertigen, d. h. er will zeigen, dass es sich nicht um bloße Konventionen handelt, denen Argumentierende folgen. Zu diesem Zweck orientiert sich Habermas an der von Apel eingeführten Figur des »performativen Widerspruchs« (Apel 1976a). Ein solcher tritt ein, sobald ein Sprecher mit seiner Äußerung Voraussetzungen verbindet, die dem Inhalt dessen widersprechen, was er äußert (z. B. »Ich existiere nicht«, weil das Äußern die Existenz voraussetzt). Bedingungen, deren Bestreitung in einen solchen performativen Widerspruch führen, können nach Apel als unausweichliche Bedingungen der Argumentation (transzendental-)pragmatisch gerechtfertigt werden. Apel beansprucht damit zugleich ein Problem zu lösen, das Hans Albert als »Münchhausen-Trilemma« jedes Versuchs einer Letztbegründung bezeichnet hat: »Wenn man für alles eine Begründung verlangt, muß man auch für die Erkenntnisse, auf die man jeweils die zu begründende Auffassung […, J.G.] zurückgeführt hat, wieder eine Begründung verlangen. Das führt zu einer Situation mit drei Alternativen, die alle drei unakzeptabel erscheinen, also zu einem Trilemma. […, J.G.] Man hat hier offenbar nur die Wahl zwischen: 1. einem infiniten Regreß, der durch die Notwendigkeit gegeben erscheint, in der Suche immer weiter zurückzugehen, der aber praktisch nicht durchzuführen ist und daher keine sichere Grundlage liefert; 2. einem logischen Zirkel in der Deduktion, der dadurch entsteht, daß man im Begründungsverfahren auf Aussagen zurückgreift, die vorher schon als begründungsbedürftig aufgetreten waren, und der ebenfalls zu keiner sicheren Grundlage führt; und schließlich: 3. einem Abbruch des Verfahrens an einem bestimmten Punkt, der zwar prinzipiell durchführbar erscheint, aber eine willkürliche Suspendierung des Prinzips der zureichenden Begründung involvieren würde.« (Albert 1991: 15) Apel spricht von einer transzendentalen Begründung, da sein Argument eine Kantische Figur in Anspruch nimmt: Sie fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit des Argumentierens überhaupt 27 , denn Apel beansprucht, zeigen zu können, dass der 27 Bei Kant wird der Versuch einer Letztbegründung transzendentaler Prinzipien für die reine theoretische Vernunft in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe unternommen. Eine Letztbegründung des moralischen Gesetzes hat Kant aber, nachdem er ihn in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten noch für möglich gehalten hatte (Kant 1994: 71ff.), in der Kritik der praktischen Vernunft aufgegeben: »Auch ist das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktum der reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußt sind... Also kann die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion, durch keine Anstrengung der theoretischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft bewiesen ... werden.« (Kant 1990a: 47, vgl. auch 31) Mit der Lehre vom Faktum der reinen Vernunft ändert sich auch die Beweisstrategie, die Kant verfolgt; da eine Begründung der Moral aus reiner Vernunft nicht mehr direkt möglich ist, kann dieser Nachweis nur noch indirekt erbracht werden durch die Abwehr solcher Erklärungsversuche, die Moralität aus der »empirisch bedingte[n] Vernunft« ableiten (Kant 1990a: 16, vgl. auch Henrich 1975: 62). 90 performative Widerspruch auf Bedingungen der Argumentation verweist, deren Verletzung die Argumentation selbst unmöglich machen würde (Apel 1976c: 406). 28 Habermas verbindet mit dem Nachweis des performativen Widerspruchs einen schwächeren Anspruch als Apel. Dieser vertritt die These, es sei möglich, Argumentationsvoraussetzungen transzendental als Prinzipien letztzubegründen, die nicht verletzt werden dürfen, wenn Argumentationen überhaupt möglich sein sollen. Habermas bezweifelt, dass eine solche Letztbegründung möglich ist. Die indirekt über den Test möglicher Selbstwidersprüchlichkeit abgeleiteten Argumentationsvoraussetzungen bleiben für ihn fallibel, also prinzipiell korrigierbar (MKH, 129f.). 29 Im Hinblick auf die Begründung der Argumentationsvoraussetzungen besteht zwischen Apel und Habermas eine weitere Differenz. Habermas glaubt nämlich, die Argumentationsvoraussetzungen zugleich als Kommunikationsvoraussetzungen nachweisen zu können 30 , wobei Apel diesen Nachweis nicht für möglich hält. Apel kritisiert diesen Versuch in zweierlei Hinsicht (vgl. Apel 1983, Apel 1989). Erstens würden Untersuchungen des Moralbewusstseins Habermas’ These widersprechen, denn dieses erreicht nicht notwendig die Stufe einer post-konventionellen Moral (s. dazu Kapitel 7), die sich nach Habermas in der Diskursethik zum Ausdruck bringt (Habermas beruft sich zur Begründung der Diskursethik zwar auch auf Kohlbergs Untersuchungen zur Entwicklung des Moralbewusstseins, aber er betrachtet dies allerdings nur als eine indirekte Bestätigung, die eine philosophische Rechtfertigung nicht ersetzen kann, MKH, 127). Zweitens mache sich Habermas mit dem Ansatz bei einer lebensweltlichen Gewissheit als Begründung der Argumentationsvoraussetzungen eines naturalistischen Fehlschlusses schuldig, der darin besteht, von einem Sein auf ein Sollen zu schließen. 28 »Damit haben wir m. E. durch transzendentale Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit des Verstehens so etwas wie einen kartesischen Punkt der Letztbegründung von Philosophie erreicht.« (Apel 1976b: 62) Vgl. zu Apels Projekt der Tranzendentalpragmatik auch den von Dorschel und anderen herausgegebenen Band (Dorschel et al. 1993). 29 Das lässt sich an einem von Habermas angeführten Beispiel zeigen: So soll die Behauptung »Ich habe H schließlich durch eine Lüge davon überzeugt, daß p.« (MKH, 100) in einen Widerspruch führen, weil Überzeugtsein auf gute Gründe verweist. Nach Habermas verletzt eine solche Äußerung den Grundsatz (2.1). Nur hängt der Widerspruch an begrifflichen Voraussetzungen, die ihrerseits begründet werden müssen. Das spricht natürlich dafür, hier keinen strikten Zusammenhang zwischen Widersprüchlichkeit und den Nachweis unhintergehbarer Diskursvoraussetzungen anzunehmen, sondern dafür, hier prinzipiell diskussionsfähige Zwischenstufen anzunehmen. In diesem Sinne argumentiert auch Rorty: »Stellen Sie sich beispielsweise vor, ein Zeuge hat in einem Gericht einen Schwur abgelegt, und dann wird entdeckt, daß er ein Atheist ist. Das Gericht könnte sagen, er hätte es nicht zulassen sollen, eingeschworen zu werden, da ein Schwur einen Glauben an über-menschliche Sanktionen voraussetzt. Der Atheist könnte schlicht bestreiten, daß dem so ist. Beide Seiten haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein Schwur ist.« (Rorty 1994: 978) Vgl. dazu auch Lumer (Lumer 1997). 30 »Nur wenn wir auf die Ebene der Handlungstheorie zurückgehen und den Diskurs als eine Fortsetzung kommunikativen Handelns mit anderen Mitteln auffassen, verstehen wir die eigentliche Pointe der Diskursethik: in den Kommunikationsvoraussetzungen der Argumentation können wir den Gehalt von ›U‹ darum auffinden, weil Argumentationen eine reflektierte Form kommunikativen Handelns darstellen, und weil in den Strukturen verständigungsorientierten Handelns jene Reziprozitäten und Anerkennungsverhältnisse immer schon vorausgesetzt sind, um die alle moralischen Ideen kreisen - im Alltag wie in den philosophischen Ethiken.« (MKH, 141) 91 Für die Theorie von Apel und Habermas stellt darüber hinaus der »Diskursverweigerer« eine entscheidende Herausforderung dar. Die Frage, die durch ihn aufgeworfen wird, ist zunächst, warum überhaupt Argumentation stattfinden soll. Wenn moralische Verpflichtungen auf Handlungsverpflichtungen verweisen, dann wäre derjenige, der nicht in den moralischen Diskurs eintritt, auch gar nicht verpflichtet, moralisch zu handeln. Apel und Habermas können diese Motivation zur Moral nicht begründen, denn derjenige, der sich gar nicht auf die Argumentation einlässt, kann sich auch nicht in einen performativen Widerspruch verstricken. 31 Damit hängt eine weitere Frage zusammen, nämlich wie sich die Verbindlichkeit innerhalb des Diskurses aufs Handeln überträgt. »Jene Nötigung [durch die Diskursregeln, J.G.] überträgt sich nicht unmittelbar vom Diskurs aufs Handeln.« (MKH, 96) (vgl. auch Habermas 1996: 51) Habermas’ Diskursethik ist nicht unumstritten geblieben. Wellmer kritisiert, dass der Ausgangspunkt der Moral bei Habermas an der falschen Stelle verortet wird: »Es ist eine Forderung der Rationalität, auch die Argumente meines Feindes anzuerkennen, wenn sie gut sind; es ist eine Forderung der Moral, auch diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die noch nicht gut argumentieren können. Überspitzt gesagt: Rationalitäts-Verpflichtungen beziehen sich auf Argumente ohne Ansehen der Person; moralische Verpflichtungen beziehen sich auf Personen ohne Ansehen ihrer Argumente.« (Wellmer 1986: 108) Die grundlegende Anerkennung der Person wird Axel Honneth dann zur Grundlage seiner Fassung der kritischen Theorie machen (Honneth 1994, zu Habermas’ und Honneths Varianten kritischer Theorie vgl. auch Iser 2008). Ein ähnliches Problem ergibt sich aus der Frage, wie in Habermas’ Entwurf der Standpunkt der Unparteilichkeit gesichert werden soll. Habermas löst das Problem folgendermaßen: Zu den Bedingungen einer idealen Sprechsituation rechnet er hinzu, dass zum Diskurs nur Handelnde zugelassen sind, die die gleiche Chance haben, zu befehlen, sich zu widersetzen, zu erlauben oder zu verbieten. Dies schließt nach Tugendhat zwar die Rechtfertigung ungerechter Regelungen aus, aber um den Preis, dass ein Gespräch über moralische Fragen zwischen ungleich gestellten Personen nicht möglich sei. Lasse man aber diese Bedingung fallen, dann ist nicht zu sehen, wie der Diskurs zwangsläufig zu unparteilichen Regelungen führen soll, denn es lassen sich dann durchaus Fälle denken, in denen Regelungen allgemein zugestimmt wird, ohne dass diese als unparteilich bewertet werden müssten - etwa wenn es aufgrund von sozialen Ungleichheiten oder askriptiven Differenzen zu Regelungen kommt, denen die Benachteiligten zustimmen, weil es für sie jeweils rational ist, mit den Privilegierten zu einer Lösung zu kommen, die für sie immer noch besser ist als gar keine. So mag ein Sklave die Rechtlosigkeit, eine Witwe die Verbrennung dem Hungertod vorziehen. Tugendhat schlussfolgert daraus, dass der Versuch, die Moralität von Normen 31 Ob es aber überhaupt eine ableitbare Begründung für den »Zwang« zur Moral geben kann, ist umstritten (vgl. Tugendhat 1994). 92 durch die Angabe von Bedingungen des Diskurses zu sichern, nicht gelingt. Habermas müsse also einen Maßstab der Unparteilichkeit bereits voraussetzen (Tugendhat 1994: 164). 32 Tugendhat äußert ein weiteres, damit durchaus zusammenhängendes Bedenken. Seines Erachtens muss das Begründungsverhältnis zwischen Argumentationen und moralischen Prinzipien eher in umgekehrter Weise bestimmt werden, als dies bei Habermas der Fall ist. Nicht erst die symmetrische Anerkennung, die den Strukturen der Sprechsituation zugrundeliegt, begründe moralische Normen, sondern es sei vielmehr davon auszugehen, dass der moralische Standpunkt bereits die Berücksichtigung der Interessen der anderen fordere. 33 Ähnlich wie Wellmer macht Tugendhat folglich geltend, dass die symmetrische Anerkennung, die Habermas unter die Diskursvoraussetzungen rechnet, selbst schon ein moralisches Gebot ist und Moralität entsprechend nicht die Folge dieser Struktur. Schließlich ergibt sich eine Anfrage an die diskursethische Begründung auch aus Habermas’ Abkehr von der Konsenstheorie der Wahrheit. Zu Recht hatte Habermas darauf hingewiesen, dass moralische Fragen die Berücksichtigung der Interessen der Personen erfordert, so dass der Sinn moralischer Prinzipien nicht von der Praxis der Gewinnung der moralischen Einsichten entkoppelt werden kann. Dennoch stellt sich formal aber dasselbe Problem für moralische Normen, wie es sich für wahre Aussagen gestellt hatte. Auch moralische Diskurse finden faktisch immer unter Umständen statt, die von den Bedingungen einer idealen Rechtfertigungssituation weit entfernt sind. Nicht nur unterliegen diese Diskurse notwendig raum-zeitlichen Beschränkungen, sondern es ist auch nicht möglich, alle potentiell von einer Norm Betroffenen am Diskurs zu beteiligen. Man denke hier beispielsweise an das Problem der genetischen Eingriffe ins Erbgut, die vorgenommen werden, bevor die Betroffenen überhaupt eine Chance haben, an Diskursen über die Berechtigung dieser Eingriffe teilzunehmen. Wenn sich demnach universell-gültige Normen erst unter den Bedingungen eines idealen Diskurses rechtfertigen lassen, stehen wir angesichts ihrer vor demselben Problem wie im Hinblick auf wahre Aussagen. Entweder wir erkennen an, dass die von uns für moralisch universell gehaltenen Aussagen überhaupt nicht hinreichend begründet sind, weil die idealen Bedingungen ihrer Einlösung nicht erfüllt sind - ja weiter noch, wir wissen, dass eine solche Begründung unmöglich ist, weil die Bedingungen der Rechtfertigung nicht realisierbar sind - oder wir reduzieren die Anforderungen an 32 Eine genuine moralische Verpflichtung, in einen realen Diskurs einzutreten, sieht Tugendhat insbesondere im Bereich des Politischen, hier sei der reale Diskurs moralisch gefordert. Eine konsensuelle Einigung sei hier aber in der Regel nicht möglich, sondern lediglich eine durch Mehrheitsentscheidungen oder ähnliche Verfahren gelingende Kompromissbildung (Tugendhat 1994: 170f.). Ähnlich argumentiert Wellmer (Wellmer 1986: 121f.). 33 »Ich meine also: erst wenn man sieht, daß der pragmatisch-kommunikative Sinn des geforderten moralischen Konsenses überhaupt nicht in der Begründungsstruktur der moralischen Sätze, sondern in der Anerkennung der kollektiven Autonomie der moralischen Subjekte begründet ist, gewinnt das Erfordernis der kommunikativen Begründung der sozialen Normen die ihm zustehende Apodiktizität.« (Tugendhat 1992b: 310) 93 das Verfahren, so dass wir die von uns für richtig gehaltenen Prinzipien als richtige verstehen können. Im letzteren Fall schließen wir aus, dass unsere Prinzipien sich je als falsch herausstellen könnten. Im ersteren Fall, dass wir unsere Prinzipien je hinreichend begründen können. Nun gibt es keinen einfachen Ausweg aus diesem Dilemma, denn beide Alternativen scheinen nicht plausibel. Entscheidend im Hinblick auf die Diskursethik ist aber, dass ein unbedingter Begründungsanspruch leerläuft. Die von uns für richtig gehaltenen Normen könnten universell begründbar sein, aber dieser Beweis lässt sich nicht erbringen. Dieses Problem verweist auf die Debatte zwischen Rorty und Habermas über den Sinn der Universalität von Geltungsansprüchen. Während Rorty Letztbegründungsansprüche ablehnt und kontextfreie Rechtfertigungen für nicht möglich hält 34 , hat Habermas den Anspruch zwar nicht auf transzendentale Letztbegründungen, aber auf eine universelle Geltung verteidigt: »Was wir für wahr halten, muß sich mit überzeugenden Gründen nicht nur in einem anderen Kontext, sondern in allen möglichen Kontexten, also jederzeit gegen jedermann verteidigen lassen.« (WR, 259) 35 Nimmt man freilich den Gedanken ernst, dass erst ein idealer Diskurs die universelle Rechtfertigung von Normen tragen kann, dann wird man Habermas zwar zustimmen können, dass wir mit moralischen Urteilen die Intuition verbinden, dass diese über den für uns geltenden Kontext hinaus Geltung beanspruchen können, man wird aber gleichzeitig den stärkeren Anspruch, diese Prinzipien könnten sich als in jedem Kontext begründet erweisen, zurückweisen müssen. 36 Zum Schluss dieses Kapitels soll es um eine Kritik gehen, die Habermas selbst an der Diskursethik geäußert hat. Er fragt sich, ob gegen die Diskursethik nicht Einwände zutreffen könnten, die Hegel an der Kantischen Moraltheorie geäußert hat (ED, 9ff.). Habermas diskutiert sie unter vier Gesichtspunkten: Erstens hat Hegel die Frage aufgeworfen, ob das Kantische Moralprinzip aufgrund seiner Formalität nicht inhaltsleer ist, da der kategorische Imperativ - »Handle nur nach der Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Prinzip werde« (Kant 1994: 42) - keine inhaltlichen Aussagen treffe. 37 Zweitens und damit zusammenhängend sei das Kantische Moralprinzip in seinem Universalismus abstrakt 34 »Zu sagen: ›Ich werde dies gegen alle Angreifer zu verteidigen‹, ist oftmals eine lobenswerte Einstellung. Aber zu sagen: ›Ich kann dies erfolgreich gegen alle Angreifer verteidigen‹, ist unsinnig.« (Rorty 1994: 980) 35 Zur Debatte mit Rorty vgl. auch Habermas’ Replik (Habermas 1995b) zu Rorty (Rorty 1995) sowie Tietz (Tietz 1992). 36 Die Debatte zwischen Habermas und Rorty ist auch deswegen aufschlussreich, weil Habermas Rorty gegenüber einen starken Begründungsanspruch ins Spiel bringt, der gleichzeitig schlecht zu Habermas’ Kritik an Apel passt, dessen Letztbegründungsanspruch er zurückweist (s.o.). Wie Tietz (Tietz 1992) zeigt, zum Teil mit Argumenten, die denen ähnlich sind, die Rorty gegen Habermas ins Feld führt. »Wir können den Kontext, in dem wir hier und jetzt eine bestimmte Sorte von Gründen für die besten halten, doch nicht einfrieren oder apriori ausschließen, daß in anderen Kontexten andere Arten von Gründen als die besseren gelten werden.« (E, 351) Es wäre also zu klären, in welchem Sinne sich Rechtfertigungen, die jeden möglichen Kontext übersteigen, von solchen unterscheiden, die einen transzendentalen Anspruch stellen. 37 »Dieser Imperativ ist kategorisch. Er betrifft nicht die Materie der Handlung und das, was aus ihr erfolgen soll, sondern die Form und das Prinzip, woraus sie selbst folgt.« (Kant 1994: 37) 94 - es könne daher den Besonderheiten des Kontextes nicht Rechnung tragen. Drittens mache Kants Ethik nicht plausibel, worin die Motivation bestehen könne, moralische Verpflichtungen tatsächlich in Handeln umzusetzen. Kant versteht Moralität als eine Forderung reiner Vernunft, die in keiner Weise an das Bedürfnis des Menschen nach Glückseligkeit anschließt. 38 Die Frage, warum Menschen dann zur Moral motiviert sind, ist folglich bei Kant nicht hinreichend geklärt. 39 Viertens - und als Folge ihrer schon benannten Schwächen - könne die Kantische Moralkonzeption nicht den historisch gewachsenen Formen politischer und sittlicher Ordnungen gerecht werden - sie neige daher zu einem letztlich totalitären Ordnungsdenken. Habermas greift die Hegel’sche Kantkritik auch deswegen auf, weil sie von Voraussetzungen ausgeht, die andere Ethikkonzeptionen ebenfalls enthalten. Hegels Grundimpetus, eine Moral könne nicht nur formal sein, sondern müsse an Sittlichkeit anschließen, also den konkreten Lebensformen Rechnung tragen, in denen sie wirkt, findet sich in einer langen bis heute währenden Perspektive auf die Ethik, die auf das aristotelische Ethikverständnis zurückführt. Diese bindet die Moralität an Tugendhaftigkeit, nach der Menschen streben (das Sollen ergibt sich hier aus dem Wollen), die sich aber nur in bestimmten sozialen Ordnungen verwirklichen kann und nur im Kontext dieser besonderen Lebensformen ihren Sinn hat. Diese Tradition eines »strebensethischen« Ethikkonzepts steht in einer fortwährenden Spannung zur Kantischen Moralkonzeption (vgl. Krämer 1992). Die Differenzen zwischen beiden Zugängen bestimmen auch die Diskussion in der politischen Philosophie, die unter dem Begriffder Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte geführt wird (Honneth 1995). Während die liberale Position an die Kantische Linie anknüpft und in politischen Fragen Aspekte der Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt, d. h. solche die sich auf universelle Pflichten und Rechten der Menschen gegeneinander beziehen, geht die kommunitaristische Perspektive davon aus, dass es in einer politischen Ordnung immer auch um die Verwirklichung des Guten geht. Diese Gute wird aber im Gegensatz zur liberalen Position nicht als etwas Universelles verstanden, sondern bleibt seinem Sinn nach stets auf eine bestimmte Gemeinschaft bezogen, so dass der Gegensatz zwischen Liberalismus und Kommunitarismus auch als der von Universalismus und Kontextualismus beschrieben werden kann. Habermas steht, indem er an Kant anschließt, klar in der liberalen Tradition. In welchem Sinne akzeptiert er aber die Berechtigung der Einwände, die aus der aristotelischen Tradition stammen und die Hegel in seiner Kantkritik aufnimmt? Habermas’ 38 »Die Vernunft bestimmt in einem praktischen Gesetze unmittelbar den Willen, nicht vermittelst eines dazwischenkommenden Gefühls der Lust und Unlust, selbst nicht an diesem Gesetze, und nur, daß sie als reine Vernunft praktisch sein kann, macht es ihr möglich, gesetzgebend zu sein.« (Kant 1990a: A45) 39 Kants Antwort, die reine Vernunft könne unmittelbar motivierend wirken, ist häufig als unbefriedigend empfunden worden. Kant selbst bringt hier die Religion ins Spiel, die es ermöglicht, wenn auch nur als Postulat - also nicht streng beweisbar - einen Zusammenhang zwischen Moralität und Glückseligkeitsbestreben herzustellen, weil sie es erlaubt, einen Zustand zu denken, in dem das moralische Reich der Zwecke und das Erlangen von Glückseligkeit zusammenfallen können (s. auch unten Kapitel 15). 95 Bilanz fällt gemischt aus, da er für alle vier Einwände anerkennt, dass sie im kritischen Hinblick auf die Diskursethik einen Funken Wahrheit enthalten. Zwar ist der Vorwurf an die Leere des Moralprinzips falsch, da Kant und auch Habermas im kategorischen Imperativ bzw. im Diskursprinzip ein formales Verfahren formulieren. Es bezieht sich jedoch auf gegebene Inhalte und kann daher zu inhaltlichen Schlüssen gelangen, da es erstens solche Inhalte ausschließt, die dem Verallgemeinerungstest nicht standhalten (»Ich darf lügen, wenn es zu meinem Vorteil ist«, ist eine nicht-verallgemeinerungsfähige Maxime) und zweitens die Ableitung allgemein zustimmungsfähiger Prinzipen gestattet: »Menschenrechte z. B. verkörpern offensichtlich verallgemeinerungsfähige Interessen und lassen sich unter dem Gesichtspunkt, was alle wollen könnten, moralisch rechtfertigen« (ED, 22). Ernst zu nehmen sei hingegen das Bedenken, »ob es überhaupt möglich ist, Begriffe wie universale Gerechtigkeit, normative Richtigkeit, moralischer Gesichtspunkt usw. unabhängig von der Vision eines guten Lebens, vom intuitiven Entwurf einer ausgezeichneten, aber eben konkreten Lebensform zu formulieren.« (ED, 22) Auch den zweiten Einwand hält Habermas nicht in Gänze für zutreffend und das ergibt sich bereits aus seiner Antwort auf den ersten Einwand. Dennoch sieht Habermas auch hier einen Gesichtspunkt, auf den die Diskursethik Rücksicht nehmen muss und der sich aus der Frage ergibt, wie universale Prinzipien auf konkrete Fälle angewendet werden können. Habermas hält daran fest, dass sich universale Prinzipien rechtfertigen lassen, aber er erkennt an, dass die Anwendung dieser Prinzipien auf konkrete Fälle davon getrennt werden muss, weil es keine Prinzipien gibt, die für jeden Fall festlegen können, wie sie in einem konkreten Fall angewendet werden können. Man muss demnach eine Unterscheidung zwischen Begründungsfragen, in denen die universalen Prinzipien gerechtfertigt werden können, und Anwendungsfragen treffen, in denen es um die Applikation dieser Normen in konkreten Situationen geht. Klaus Günther hat diese Unterscheidung als eine zwischen Begründungsdiskursen und Anwendungsdiskursen ausgearbeitet (Günther 1988, kritisch dazu Alexy 1995: 52ff., vgl. auch die freilich etwas anders gelagerte Unterscheidung von zwei Teilen A und B der Diskursethik Apel 1988). Diese Unterscheidung ist plausibel und ihre Notwendigkeit ergibt sich insbesondere aus den Fällen der Normkollision, das heißt dann, wenn im Einzelfall verschiedene Normen Geltung beanspruchen und nicht nur darüber entschieden werden muss, ob ein Tatbestand unter die Norm fällt, sondern auch, welchem normativen Gesichtspunkt in diesem konkreten Fall der Vorzug gegeben werden muss. Akzeptiert man diese Unterscheidung, so akzeptiert man aber auch den Umstand, dass es moralische Fragen geben kann, die sich nicht mittels eines universell gültigen Verfahrens entscheiden lassen. Man kann dann immer noch zu zeigen versuchen, dass die Verfahren der Normanwendung in moralischen oder rechtlichen Diskursen so bestimmt sein können, dass sie dem Anspruch auf Unparteilichkeit Rechnung tragen (vgl. Günther 1988: 255ff.), aber einen klaren Kanon von Verfahrensregeln, der dies erlaubt, kann es in Fragen der Normanwendung nicht geben. 96 Für den dritten Einwand ist die Bilanz ebenfalls gemischt. Einerseits, so Habermas, schließe die Diskursethik an die Bedürfnisse der Individuen an, weil Diskurse solche über das Wollen der Individuen sind. Andererseits akzeptiert Habermas Hegels’ Einwand, denn die Frage der Motivation zur Moral stelle sich schließlich doch: »Moralische Einsichten müßten für die Praxis in der Tat folgenlos bleiben, wenn sie sich nicht auf die Schubkraft von Motiven und auf die anerkannte soziale Geltung von Institutionen stützen könnten. Sie müssen, wie Hegel sagt, in die konkreten Pflichten des Alltags umgesetzt werden. Soviel ist also richtig: jede universalistische Moral ist auf entgegenkommende Lebensformen angewiesen. Sie bedarf einer gewissen Übereinstimmung mit Sozialisations- und Erziehungspraktiken, welche in den Heranwachsenden stark internalisierte Gewissenskontrollen anlegen und verhältnismäßig abstrakte Ich-Identitäten fördern.« (MKH, 25, vgl. auch 29) Habermas reagiert damit ersichtlich auf das oben benannte Problem der Motivation zur Moral. Dennoch bleibt er der Kantischen Perspektive in genau dem Sinne treu, dass er Begründungsfragen von solchen Fragen der Motivation trennt. Die entgegenkommenden Lebensformen begründen nicht den Inhalt der moralischen Forderungen, sondern sie dienen der motivationalen Abstützung, wenn es darum geht, die universellen Prinzipien ins Handeln umzusetzen. Auch den vierten Einwand hält Habermas nicht für stichhaltig. Im Grunde genommen erhält er seine Plausibilität ja auch nur dann, wenn man davon ausgeht, dass moralische Fragen sich von den konkreten Lebensformen trennen ließen (vgl. den zweiten Einwand). Auch behaupte die Diskursethik nicht, dass es eine Gruppe von Personen geben könnte, die die moralischen Wahrheiten verkörperten und dann der Gesellschaft im Ganzen auferlegen könnten (MKH, 26). Desgleichen lässt sich nicht sagen, dass den nicht-verallgemeinerungsfähigen Gesichtspunkten der sozialen Wirklichkeit nicht hinreichend Rechnung getragen werden kann: »In modernen Gesellschaften wächst auch der Umfang regelungsbedürftiger Materien, die nur noch partikulare Interessen berühren und daher auf die Aushandlung von Kompromissen, nicht auf diskursiv erzielte Konsense angewiesen sind. Dabei sollten wir nicht vergessen, daß faire Kompromisse ihrerseits moralisch gerechtfertigte Verfahren der Kompromißbildung erfordern.« (MKH, 23) Einen Sinn der Hegel’schen Kritik kann Habermas nur darin sehen, dass auch sie wieder auf das Problem der Motivation zur Moral verweist, also das Gefälle zwischen »Urteil und Handeln« (MKH, 27) - und hier gilt für ihn das bereits Gesagte, dass es nämlich entgegenkommender Lebensformen bedürfe, um die Motivation zur Moral begreiflich zu machen. Habermas kommt der an Hegel orientierten kommunitaristischen Kritik demnach an zwei Punkten entgegen: erstens im Hinblick auf die Anerkennung, dass sich An- 97 wendungsfragen nicht hinreichend durch universelle Prinzipien beantworten lassen und zweitens im Hinblick auf die Frage der Motivation zur Moral. 40 An der Kernannahme der Kantischen Ethik und der Diskursethik, dass es universell gültige moralische Prinzipien gibt, über deren Geltung rational entschieden werden kann, hält Habermas fest. Als eine weitere Reaktion auf die genannten Einwände kann eine »Erweiterung« des Begriffs der praktischen Vernunft gelten, die Habermas in Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft (ED, 100ff.) vornimmt (s. ausführlich auch Kapitel 13). Hatte Habermas zwischen Normen und moralischen Normen zunächst nicht unterschieden, so differenziert er nun zwischen pragmatischen, ethischen und moralischen Normen, deren Klärung Gegenstand des praktischen Diskurses sein kann. Pragmatische Fragen richten sich auf die Auswahl von Mitteln bei gegebenen Zwecken oder die Wahl von Zwecken bei gegebenen Präferenzen, ethische Fragen hingegen auf die Wahl von Präferenzen. Hier geht es um die Frage, was jeweils als das individuell oder kollektiv Gute gelten kann. Gegenstand ethischer Fragen sind Werte, die sich von den moralischen Normen wiederum genau dadurch unterscheiden, dass mit ihnen kein universeller Anspruch verbunden ist. Moralität hingegen bleibt an verallgemeinerungsfähige Normen gebunden, also an den Bereich des »Gerechten« im Gegensatz zu dem des Guten. 41 Den Vorrang des Gerechten vor dem Guten möchte Habermas freilich verteidigen (ED, 7). In welchem Maße lässt sich - so wäre abschließend zu fragen - das Verhältnis ethisch-existentieller und moralischer Fragen in dem Sinne »entdramatisieren«, dass ethisch-existentielle Fragen sich gewissermaßen »unterhalb« verallgemeinerungsfähiger Fragen stellen oder lediglich in den Bereich der Anwendungsfragen fallen? Von einem »theoretischen« Standpunkt aus lässt sich diese Frage nicht hinreichend beantworten. Dass es sich nicht nur um eine theoretische Frage handelt, ist aber offensichtlich. Man denke beispielsweise an Diskussionen um Schwangerschaftsabbrüche oder neuerdings um die Gentechnik. Das Dilemma, vor das uns diese Fragen stellen, ergibt sich zwangsläufig, denn aus der Sicht der Befürworter des unbedingten Lebensschutzes kann dieses Grundprinzip nicht »nur« eine Frage darüber sein, wie »wir«, beispielsweise die gläubigen Katholiken und Protestanten, uns verstehen wollen, sondern es muss mit dem Anspruch verbunden werden, dass diese Prinzipien universell gelten. Für den Übergang einer Moralzu einer Theorie des demokratischen Rechtsstaates, die Habermas in Faktizität und Geltung unternimmt, ist diese Frage natürlich erheblich. Aus der Sicht der Habermas’schen Unterscheidung zwischen dem Gerechten (universell gültigen) und dem Guten (dem für mich oder uns Erstrebenswerten) ergeben sich nämlich zwei mögliche Lesarten. Entweder empfinden die Gläubigen die Rechtsordnung, die einen unbedingten Le- 40 So bereits MKH, 119: »Universalistische Moralen sind auf Lebensformen angewiesen, die ihrerseits soweit ›rationalisiert‹ sind, daß sie die kluge Applikation allgemeiner moralischer Einsichten ermöglichen und Motivationen für die Umsetzung von Einsichten in moralisches Handeln fördern.« 41 Habermas weist darauf hin, dass nach dieser Differenzierung der Titel der Diskursethik eigentlich nicht mehr angemessen ist. »Seitdem müßte genauer von einer ›Diskurstheorie der Moral‹ die Rede sein; ich halte aber an dem terminologisch eingebürgerten Sprachgebrauch ›Diskursethik‹ fest.« (ED, 7) 98 bensschutz nicht garantiert, als unmoralisch oder sie betrachten ihn als ethische Frage. (Letzteres kann in zwei Varianten geschehen: entweder durch Herabstufung zu einer Frage der privaten Entscheidung - will ich abtreiben, Embryonenforschung betreiben etc. - oder sie anerkennen, dass die Unbedingtheit des Lebensschutzes hinter anderen Werten zurücktreten muss, wie der Anerkennung des Pluralismus einer modernen Gesellschaft, die zwingend Kompromisse über ethische Fragen erfordert.) Nun ist es sicherlich nicht unplausibel anzunehmen, dass sich Menschen finden lassen, die eine »Herabstufung« der Frage des unbedingten Lebensschutzes nicht akzeptieren werden. In Kapitel 13 wird gezeigt, dass Habermas in Faktizität und Geltung versucht, beiden Positionen gerecht zu werden, indem er zu den Legitimitätsgrundlagen des modernen Rechtsstaates die Offenheit für eine Diskussion darüber fordert, wo die Grenze zwischen moralischen und ethischen Gesichtspunkten verläuft. Diese Sichtweise ist äußert plausibel, sie verweist aber noch einmal auf das Begründungsproblem. Können wir sagen, dass die grundlegenden Prinzipien dieser Rechtsordnung legitim im Sinne moralischer Prinzipien sind, die sich in jedem Kontext rechtfertigen lassen würden? Hier greifen wieder Hegels und Rortys Bedenken: Lassen sich letzte Prinzipien aufrufen, die erst sub specie aeternitatis gerechtfertigt werden können, und die zeigen, dass die bestehende Rechtsordnung diesen gerecht wird? Und gilt dies nicht umso mehr, sofern anzuerkennen ist, dass die konkrete Rechtsordnung durchsetzt ist von Konflikten um moralische Positionen und von Kompromissen, die notwendig werden, um überhaupt in einem Gemeinwesen leben zu können? Habermas folgt hier nicht der Hegel’schen Auflösung dieses Problems, die darin bestand, den Staat als diejenige Größe zu verstehen, der die Besonderungen in ein Allgemeines aufhebt (Hegel 1986, vgl. auch Petersen 1992). Aber man könnte vielleicht doch sagen, dass Habermas’ Anerkennung der Pluralität der praktischen Vernunft und der damit aufgeworfenen Frage nach der Einheit der Vernunft (»Dürfen wir von der praktischen Vernunft noch im Singular sprechen, nachdem sie unter Aspekten des Zweckmäßigen, des Guten und des Gerechten in verschiedene Formen der Argumentation zerfallen ist? « ED, 117) sowie seine Annahme, diese Frage müsse »an die Rechtsphilosophie« weitergereicht werden (ED, 118) vermuten lässt, dass er näher bei Hegel steht, als dies zunächst den Anschein hatte. 99 IV. Die Theorie des kommunikativen Handelns 11. Das Hauptwerk: Theorie des kommunikativen Handelns »Die Theorie des kommunikativen Handelns soll ein in der kommunikativen Alltagspraxis selbst angelegtes Vernunftpotential freilegen.« (SÖ, 34) »Verständigung wohnt als Telos der menschlichen Sprache inne.« (TKH 1, 387) Die Theorie des kommunikativen Handelns ist bis heute das Hauptwerk von Jürgen Habermas. Es ist nicht leicht zu erschließen, da er auch hier seine Thesen entwickelt, indem er sich mit einer Reihe von anderen Autoren auseinandersetzt und deren Arbeiten zum Teil einer ausführlichen Rekonstruktion unterzieht. 1 Diese Form der Theorieentwicklung, eine Theoriegeschichte in systematischer Absicht (Habermas 1985a: 231), hat ihr Vorbild in Talcott Parsons’ The Structure of Social Action (Parsons 1949a, Parsons 1949b). So wie es Parsons in seinem Buch darum ging, Gegensätze aufzuheben, die sich zwischen verschiedenen soziologischen Ansätzen finden lassen, so liegt Habermas an einer Überwindung einseitiger Positionen innerhalb der unterschiedlichen soziologischen Traditionen. Die Theorie des kommunikativen Handelns ist somit als eine Synthese gedacht, die falsche Vereinseitigungen in einer umfassenden Theorie aufhebt. Worin bestehen diese Vereinseitigungen? Zwei von ihnen lassen sich identifizieren, wenn man die Untertitel der beiden Bände der Theorie des kommunikativen Handelns betrachtet. So geht es im ersten Band um eine Kritik der instrumentellen Vernunft und im zweiten Band um eine Kritik der funktionalistischen Vernunft. Was ist damit gemeint? Unter einer instrumentellen Vernunftauffassung ist eine Auffassung zu verstehen, die davon ausgeht, dass Vernunft nichts anderes beinhaltet als die Bestimmung geeigneter Mittel zur Erreichung eigener Ziele. Ihrer Grundform nach besagt dies also: Wenn das Ziel Y (möglichst effektiv) erreicht werden soll, dann ist es vernünftig, X zu tun. Ein Beispiel: Wenn man du möglichst lange leben möchte, dann ist es vernünftig, Sport zu treiben und nicht zu rauchen. Dieses Verständnis von Vernunft hat eine lange Tradition. Es wird zum Zentrum des Vernunftverständnisses in den sozialphilosophischen Traditionen des Utilitarismus und prägt heute in der Soziologie die Ansätze der Theorien rationaler Wahl. Max Weber hatte diese Form der Rationalität als Zweckrationalität bezeichnet. Nun ist Habermas nicht der erste Autor, der diese Form, Vernunft 1 In zwei Zwischenbetrachtungen entfaltet Habermas die eigenen Grundbegrifflichkeiten, so dass sich die eigene Theoriekonstruktion und die Rekonstruktion in Ansätzen voneinander unterscheiden lassen. 100 zu verstehen, für problematisch hält, stattdessen deckt sich seine Auffassung mit der Meinung einer Reihe von bedeutenden Philosophen und Soziologen. So hatte Kant dieser Form der Rationalität eine moralische Vernunft gegenübergestellt, Emile Durkheim hatte daran angeknüpft und nach einer moralischen Quelle sozialer Solidarität gefragt, Max Weber stellte der Zweckrationalität die Wertrationalität gegenüber und Talcott Parsons bezog sich darauf, indem er ein normatives Handlungsmodell zum Zentrum der Handlungstheorie erhob. All diese Autoren waren nicht der Ansicht, dass das instrumentelle Verständnis von Rationalität falsch ist. Ihrer Meinung nach reichte es aber nicht aus, um Rationalität im Ganzen zu erfassen. Rationalität hat demnach immer Aspekte, die in der instrumentellen Dimension von Vernunft nicht vollständig aufgehen. Diese Ansicht vertritt auch Habermas. Dennoch ist er der Meinung, dass die bisherigen Kritiken an einer instrumentellen Auffassung von Rationalität nicht hinreichend waren. Warum nicht? Habermas stellt in der Theorie des kommunikativen Handelns die These auf, dass eine Kritik am instrumentellen Rationalitätsverständnis erst dann hinreichend entwickelt werden kann, wenn man von einem Modell ausgeht, demzufolge Rationalität nicht im individuellen Bewusstsein, sondern in der sprachlichen Kommunikation verankert ist - also eine Abkehr von den Prämissen der Bewusstseinsphilosophie vollzogen ist, die dem Subjekt immer nur ein Objekt gegenüberstellen kann. Der einzige soziologische Autor, der für Habermas dieses Moment bereits weitgehend gesehen hat, ist George Herbert Mead (unter den Philosophen sind es Ludwig Wittgenstein sowie die Sprachpragmatiker John L. Austin und John R. Searle). Bezogen auf die anderen Autoren, mit denen sich Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns auseinandersetzt, gilt für ihn vielmehr, dass sie nicht in der Lage waren, die Beschränkung auf instrumentelle Rationalität hinreichend zu überwinden, weil sie allesamt noch in der Tradition der Bewusstseinsphilosophie verhaftet sind. Habermas knüpft hier an seine Überlegungen zur Universalpragmatik an, um zu zeigen, wie eine hinreichende Kritik an einem instrumentellen Rationalitätskonzept bestimmt werden kann. Die zweite Vereinseitigung, die Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns kritisiert, besteht in der Auffassung der Vernunft als einer funktionalistischen. Die funktionale Betrachtung von etwas basiert auf der Frage, welchen Beitrag es zur Aufrechterhaltung von etwas anderem leistet. Dieses ist in der Regel ein Ganzes, das durch die einzelnen Prozesse aufrechterhalten wird. Die funktionalistische Auffassung der Vernunft unterscheidet sich von der instrumentellen dadurch, dass die Frage der Vernünftigkeit nicht auf die Ziele von einzelnen Akteuren bezogen ist, sondern soziale Gebilde den Bezugspunkt der Analyse bilden. Aus dieser Perspektive kommen Phänomene der Selbststeuerung und Selbstorganisation in den Blick, die einer an den einzelnen Handlungsorientierungen ansetzenden Perspektive entgehen. Auch hier vertritt Habermas nicht die Meinung, dass es solche Prozesse, die mittels einer funktionalistischen Betrachtung erfasst werden könne, nicht gibt. Ähnlich wie im Falle der Kritik der instrumentellen Vernunft ist Habermas der Ansicht, dass es falsch wäre, diese Analyseperspektive zu verwerfen. Er hält es vielmehr für angemessen, diese Perspektive in 101 einen breiteren Analyserahmen zu stellen. Dies geschieht, indem er die Gesellschaft zweistufig begreift, nämlich als System und als Lebenswelt. Habermas stellt beide Überlegungen - zur Kritik der instrumentellen und zur Kritik der funktionalistischen Vernunft - in den Zusammenhang einer Theorie über die Gesellschaftsentwicklung. Diese begreift Habermas - und hierin folgt er der Rationalisierungsannahme, die sich bei Weber findet - als einen Prozess der gesellschaftlichen Rationalisierung. Da für Habermas Rationalisierung aber ein Prozess ist, der sich auf kommunikative Strukturen richtet, lässt sich seiner Ansicht nach der Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung angemessener beschreiben als dies Weber, Marx und die kritische Theorie vermocht hatten. Gemäß Habermas vollzieht sich erstens mit der Umstellung der gesellschaftlichen Integration auf Kommunikation eine Freisetzung einer konsensorientierten Integration der Gesellschaft, die von einem vorgängig und wesentlich über mythische Weltbilder getragenen Konsens zu einem auf der Erhebung von Geltungsansprüchen basierten Konsens verläuft. Zweitens geht dieser Prozess gleichzeitig mit einer Freisetzung von systemischen, dem Konsens mehr oder weniger entzogenen Mechanismen einher. Drittens ist dies für Habermas nur solange unproblematisch, sofern von dieser systemischen Integration nur solche Bereiche der Gesellschaft betroffen sind, die nicht genuin auf eine Integration über Konsens angewiesen sind. Durch die Unterscheidung von Sozial- und Systemintegration meint Habermas daher schließlich auch, Kriterien dafür gewonnen zu haben, wann die Entwicklung der Gesellschaft durch die Rationalisierung pathologische Züge anzunehmen droht. Zur Kritik eines instrumentalistischen Handlungsverständnisses Habermas entwickelt das Konzept kommunikativen Handelns im Gegensatz zu drei anderen Handlungsmodellen: den Modellen des teleologischen, des normenregulierten und des dramaturgischen Handelns. In allen drei sieht er verkürzte Handlungsbegriffe, die zwar Aspekte von Handlung treffen, aber den Fehler begehen, diese zu verabsolutieren. Das teleologische Handlungsmodell geht von einem einsamen Subjekt aus, d. h. es konzipiert das Handeln immer nur aus der Perspektive eines Einzelnen. Auch da, wo andere Personen in der Kalkulation eines teleologisch Handelnden auftauchen (in diesem Fall spricht Habermas von strategischem Handeln), wird der andere wie ein Gegenstand der natürlichen Umwelt betrachtet. Dieses Modell liegt dem Utilitarismus und den Theorien rationaler Wahl zugrunde. Gänzlich anders verhält es sich mit dem normativen Handlungsmodell. Es kennt nicht nur eine objektive Welt, sondern auch eine soziale, da die Akteure sich hier an gemeinsamen Normen orientieren. Der konsequenteste Anhänger dieser Perspektive ist Talcott Parsons, der den Utilitarismus einer vehementen Kritik unterzogen hatte. Seines Erachtens scheitert das entsprechende Handlungsmodell aus zwei Gründen: Zum einen, weil der Utilitarismus nicht zeigen kann, warum Menschen überhaupt eine Wahl haben, wenn ihnen ihre Ziele immer schon von Natur aus vorgegeben wä- 102 ren. Sie wären dann gleichsam bloße Automaten, die lediglich die Freiheit haben, zwischen den sich jeweils bietenden Mitteln zu wählen. Zweitens kann der Utilitarismus laut Parsons nicht erklären, wie die Existenz einer sozialen Ordnung überhaupt möglich ist. Parsons greift hier auf Thomas Hobbes zurück. Hobbes wollte zeigen, wie es möglich ist, dass Menschen einen Zustand überwinden können, in der alle Krieg gegen alle führen. Seiner Meinung nach gelingt dies dann, wenn alle einsehen, dass es in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse ist, einen gemeinsamen Gesellschaftsvertrag zu schließen. Parsons argumentierte dahingehend, dass rationale Egoisten einem solchen Vertrag niemals zustimmen würden. Vielmehr wäre es für jeden einzelnen von Vorteil, wenn die anderen einen Vertrag abschließen und ihn einhalten würden, er aber daran nicht gebunden wäre. Dieses Problem wird in der Theorie der rationalen Wahl als »Trittbrettfahren« bezeichnet -für rationale Egoisten ist es am besten, wenn die anderen kooperieren (also sich beispielsweise an Verträge halten), sie selbst sich aber davon ausnehmen können. Da aber alle eine solche Einstellung haben, kommt der Vertrag niemals zustande: Alle wünschen sich, dass die anderen ihn schließen, sie sind selbst aber nicht bereit, am Vertragsschluss teilzuhaben. Nach Parsons setzt der Vertragsschluss also voraus, dass die Beteiligten nicht nur rationale Egoisten sind, sondern sich grundsätzlich an Normen gebunden fühlen müssen (ein ähnliches Argument findet sich schon bei Emile Durkheim, der von den nicht-vertraglichen Bedingungen des Vertrages gesprochen hatte). Parsons folgerte entsprechend, dass sich in jedem Handeln eine normative Orientierung geltend macht (Parsons 1949a: Kapitel III). Obgleich Habermas mit der Kritik am Utilitarismus übereinstimmt und das normative Modell aufnimmt, hält er den normativen Ansatz in zweierlei Hinsicht für zu eng: Erstens trage er den anderen Weltbezügen, die im Handeln auch immer gegeben sind, nur unzureichend Rechnung. Zweitens berücksichtige er nicht, dass die Normen das Resultat von kommunikativen Verständigungsprozessen sind (vgl. Habermas’ entsprechende Überlegungen zur Konsenstheorie und zur Diskursethik, Kapitel 9 und 10). Das Modell des dramaturgischen Handelns betont demgegenüber die Rolle des einzelnen Akteurs, der seine inneren Zustände zum Ausdruck bringt (vgl. TKH I: 128, 138). Als Handlungsmodell ist dies in der Soziologie insbesondere von Erving Goffman ausgearbeitet worden. Er hat untersucht, welche Formen diese Selbstdarstellung in Interaktionen annimmt (Goffman 1969, Goffman 1986). Den drei von Habermas unterschiedenen Handlungsmodellen korrespondieren die oben bereits angeführten drei »Welt«-Konzepte bzw. -Bezüge: »Die objektive Welt wird gemeinsam als die Gesamtheit der Tatsachen unterstellt, wobei Tatsache bedeutet, daß die Aussage über die Existenz eines entsprechenden Sachverhalts >p< als wahr gelten darf. Und eine soziale Welt wird gemeinsam als die Gesamtheit aller interpersonalen Beziehungen unterstellt, die von den Angehörigen als legitim anerkannt werden. Demgegenüber gilt die subjektive Welt als die Gesamtheit der Erlebnisse, zu denen jeweils nur ein Individuum einen privilegierten Zugang hat.« (TKH I: 84) 103 Im strategischen Handlungsmodell wird Handeln lediglich im Hinblick auf den Bezug zur objektiven Welt vorgestellt. Diesem Handlungsmodell zufolge lässt sich die Rationalität von Handlungen unter dem Aspekt der Wirksamkeit, dem Gesichtspunkt der geeigneten Mittelwahl und dem zugrundeliegenden Aspekt der Wahrheit beurteilen (vgl. TKH I: 130). Dem teleologischen Handlungsmodell gegenüber bedarf das normative Handlungsmodell neben der Voraussetzung der objektiven Welt noch der einer sozialen Welt. 2 »Der einzelne Aktor befolgt eine Norm (oder verstößt gegen sie), sobald in einer gegebenen Situation die Bedingungen vorliegen, auf die die Norm Anwendung findet.« (TKH I: 127) Auch das dramaturgische Handlungsmodell bedarf zweier Welten, wobei an die Stelle der sozialen die subjektive Welt tritt: »Demgegenüber gilt die subjektive Welt als die Gesamtheit der Erlebnisse, zu denen jeweils nur ein Individuum einen privilegierten Zugang hat.« (TKH I: 84) Als viertes Handlungsmodell führt Habermas schließlich den Begriffdes kommunikativen Handelns ein: »Der Begriffdes kommunikativen Handelns schließlich bezieht sich auf die Interaktion von mindestens zwei sprach- und handlungsfähigen Subjekten, die (sei es mit verbalen oder extraverbalen Mitteln) eine interpersonale Beziehung eingehen. Die Aktoren suchen eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren.« (TKH I: 128) Das kommunikative Handlungsmodell unterscheidet sich von den drei anderen Handlungsmodellen dadurch, dass es die reichsten ontologischen Voraussetzungen aufweist: In ihm beziehen sich die Akteure auf alle drei Welten zugleich (vgl. TKH I: 142). Zudem ist das kommunikative Handeln durch einen reflexiven Modus des Geltungsbezugs gekennzeichnet. Reflexivität bedeutet, dass Sprecher mit ihrem Sprechakt einen Weltbezug hervorheben und ihn zugleich in die anderen Weltbezüge integrieren (vgl. TKH I: 412f., VE, 427f.). Kommunikatives und strategisches Handeln als Handlungstypen Habermas begreift kommunikatives und strategisches Handeln nicht nur als zwei verschiedene Handlungsmodelle, sondern zugleich als zwei konkret unterscheidbare soziale Handlungstypen. 3 Diese führt er anhand der Unterscheidung zwischen zwei 2 »Der einzelne Aktor befolgt eine Norm (oder verstößt gegen sie), sobald in einer gegebenen Situation die Bedingungen vorliegen, auf die die Norm Anwendung findet. Normen drücken ein in einer sozialen Gruppe bestehendes Einverständnis aus.« (TKH I: 127; vgl. auch: 135) 3 »Ich möchte mit ›strategisch‹ und ›kommunikativ‹ nicht nur zwei analytische Aspekte bezeichnen, unter denen sich dieselbe Handlung einmal als die wechselseitige Beeinflussung von zweckrational handelnden Gegenspielern, und zum anderen als Prozeß der Verständigung zwischen Angehörigen einer Lebenswelt beschreiben lassen. Vielmehr lassen sich soziale Handlungen danach unterscheiden, ob die 104 Handlungsorientierungen ein: der Erfolgsorientierung und der Verständigungsorientierung. Ihnen korrespondieren jeweils eine über »Interessenlage« oder über »normatives Einverständnis« vermittelte Handlungskoordination (TKH I: 384). 4 Neben dem strategischen Handeln unterscheidet Habermas noch den Typus des instrumentellen Handelns als den Fall, in dem sich das Handeln nicht auf eine andere Person bezieht. Tab. 10: Handlungstypen Handlungsorientierung Handlungssituation erfolgsorientiert verständigungsorientiert nicht-sozial instrumentelles Handeln - sozial strategisches Handeln kommunikatives Handeln Aus: TKH I: 384 Beteiligten entweder eine erfolgs- oder eine verständigungsorientierte Einstellung einnehmen.« (TKH I: 385f.; vgl. auch ND, 132f.) Habermas bezieht sich mit der Unterscheidung eines analytischen und eines konkreten Gebrauchs auf eine von Parsons getroffene Unterscheidung (Parsons 1949a: 43ff. und 731ff.). 4 Es stellt sich die Frage, warum Habermas das dramaturgische und das normative Handlungsmodell nicht dem teleologischen entsprechend als Handlungstypen ausweist, und ob mit dieser Entscheidung nicht Engpässe im Hinblick auf die Beschreibung gesellschaftlicher Rationalisierung verbunden sind, da auch dramaturgische und normative Handlungsorientierungen tendenziell im Konflikt mit einer kommunikativen Orientierung stehen (Joas 1986: 148f.). Tab. 9: Handlungskonzepte Handlungsbegriff Akteurskonzept Weltbezug Rationalität typische Theorie Teleologisch einsames Subjekt (kognitiver Komplex: Meinungen; Absichten) objektive Welt Wahrheit Wirksamkeit Utilitarismus, Spiel- und Entscheidungstheorie normenreguliertes Handeln Akteur als Mitglied sozialer Gruppe (kognitiver und motivationaler Komplex: Internalisierung) objektive und soziale Übereinstimmung mit Norm und Frage nach der Gültigkeit der Norm Rollentheorie (Parsons) dramaturgisches Handeln Akteur als Darsteller vor einem Publikum (Wünsche und Gefühle) objektive und subjektive Wahrhaftigkeit Phänomenologische Beschreibung von Interaktionen (Goffman) kommunikatives Handeln mindestens zwei Akteure, die Verständigung über Situation suchen alle drei alle drei Bezugsautoren: Mead, Wittgenstein, Austin, Gadamer Nach: TKH I, 114ff. 105 Kommunikatives und strategisches Handeln unterscheiden sich danach, in welcher Weise Handelnde jeweils an ihrem Erfolg orientiert sind. Erfolgsorientierung als definierender Begrifffür das strategische Handeln wirkt leicht irreführend, weil er nahelegt, dass das verständigungsorientierte Handeln nicht erfolgsorientiert sei. Die Differenz zwischen erfolgsorientiertem und verständigungsorientiertem Handeln ergibt sich aber nicht durch die Erfolgsorientierung, sondern durch die jeweiligen Bedingungen, denen diese Orientierung unterliegt. Diese bestehen in einer egozentrischen und in einer nicht-egozentrischen Verfolgung der eigenen Zwecke. Im kommunikativen Handeln werden »die Handlungspläne der beteiligten Aktoren nicht über egozentrische Erfolgskalküle [wie im strategischen Handeln, J.G.], sondern über Akte der Verständigung koordiniert« (TKH I: 385). Eine ähnliche Überlegung gilt für die Beziehung zur objektiven Welt. Versteht man die Erfolgsorientierung als Entsprechung zum teleologischen Handlungsmodell, die Verständigungsorientierung als Entsprechung zum kommunikativen Handlungsmodell, so muss die Differenz beider Orientierungen als diejenige zwischen einer vollständigen bzw. unvollständigen sprachlichen Bezugnahme auf Welten aufgefasst werden. Erst mit dem Bezug auf das Vollständigkeitskriterium lassen sich beide Orientierungen klar trennen, da auch das kommunikative Handeln den Bezug auf die objektive Welt einschließt. 5 Im gleichen Maße ist auf den Begriffdes teleologischen Handelns zu verweisen, den Habermas zum Teil synonym mit dem instrumentellen und dem strategischen Handeln gebraucht. Von diesem engeren Begrifflässt sich aber ein weiterer Begriffunterscheiden, der meint, dass Handeln immer dann teleologisch ist, wenn Handelnde mit ihrem Handeln Zwecke verfolgen. Auch hier gilt dann, dass das kommunikative Handeln teleologisch im weiten Sinne ist, da kommunikativ handelnde Personen ebenfalls Zwecke verfolgen, dies geschieht aber unter dem Vorbehalt einer Zustimmung durch die anderen Handelnden (TKH II: 193f.). Zusammenfassend lassen sich das kommunikative und das strategische Handeln dadurch unterscheiden, dass erstens das kommunikative Handeln umfassender ist, weil es alle drei Weltbezüge aufweist, und zweitens dadurch, dass mit dieser umfassenderen Perspektive ein anderer Modus der Verfolgung von Zwecken verbunden ist. Im strategischen Handeln besteht er darin, dass Handelnde ausschließlich am eigenen Erfolg orientiert sind, wohingegen kommunikativ Handelnde neben den eigenen Zwecken zugleich an der dazu abgegebenen Zustimmung ihrer Interaktionspartner orientiert bleiben. 6 5 »Zwecktätigkeit bildet ebenso eine Komponente des verständigungsorientierten wie des erfolgsorientierten Handelns; in beiden Fällen implizieren die Handlungen Eingriffe in die objektive Welt.« (VE: 602, vgl. auch 131f.) 6 Aus Habermas’ Sicht lässt sich Webers Handlungstheorie als eine verstehen, die einer instrumentellen Vorstellung von Handlungsrationalität folgt. Dass Weber ebenfalls den Typus des wertrationalen Handelns kennt, bürdet Habermas eine Argumentationslast auf. Er greift auf einen Interpretationsvorschlag zurück, den Wolfgang Schluchter gemacht hatte und der tatsächlich ein Rationalitätsgefälle zwischen zweck- und wertrationalem handeln beinhaltete. Schluchter hatte diesen Vorschlag aber bereits wieder 106 Exkurs zu Verstehen und Wertfreiheit In der Theorie des kommunikativen Handelns nimmt Habermas Giddens’ Begriffder doppelten Hermeneutik auf. 7 Der Begriffeiner doppelten Hermeneutik wird notwendig, weil sich in der Diskussion um das Erklärungsmodell gerade der Naturwissenschaften gezeigt hatte, dass auch dort Erklärungsprozesse durchgehend auf Deutungen angewiesen sind. Auf den ersten Blick lassen sich dann die Wissenschaften nicht mehr mittels dieser Zugangsweisen voneinander unterscheiden. Der Begriffder doppelten Hermeneutik soll darauf hinweisen, dass gleichwohl eine Differenz zwischen den Wissenschaften vorliegt, weil für manche gilt, dass ihr Gegenstand selbst in Deutungen besteht. Nach Habermas schlägt sich dies darin nieder, dass »sich eine Verstehensproblematik bereits unterhalb der Schwelle der Theoriebildung, nämlich bei der Gewinnung der Daten und nicht erst bei der theoretischen Beschreibung der Daten« ergebe (TKH I, 162). Die Gewinnung der Daten sei nur dann möglich, wenn die Sozialwissenschaftler gegenüber ihrem Gegenstand immer auch eine »performative Einstellung« einnehmen und nicht lediglich eine »objektivierende«. 8 Da sich die Sozialwissenschaftler im Gegensatz zu den beforschten Personen »am Prozeß der Verständigung um des Verstehens« willen beteiligten und nicht, um weitere Handlungsabsichten zu verfolgen (TKH I, 167), handle es sich bei ihnen gleichwohl lediglich um »virtuelle Teilnehmer« (TKH I, 168). Die Wissenschaften sortieren sich demnach nach den methodischen Zugängen, die sie zu ihrem Gegenstand aufnehmen müssen. Mit dieser Unterscheidung möchte Habermas »keinen ontologischen Dualismus zwischen bestimmten Realitätsbereichen« behaupten (MKH, 51), d. h. er will nicht sagen, dass dasjenige, was wir mittels einer objektivierenden und mittels einer performativen Einstellung wahrnehmen, zwei verschiedene Gegenstände sind (MKH, 31). Stattdessen meint er, dass Soziologen darauf angewiesen sind, ihren Gegenstand immer auch in einer performativen Einstellung wahrzunehmen, da von einem objektivierenden Beobachterstatus aus »interne Sinnzusammenhänge überhaupt unzugänglich« seien (TKH I, 170). Entscheidend ist für Habermas, dass jede Analyse in den Sozialwissenschaften notwendig mit einer Beurteilung des Beschriebenen einhergeht: »Wenn […] der Interpret, um eine Äußerung zu verstehen, die Gründe vergegenwärtigen muß, mit denen ein Sprecher erforderlichenfalls und unter geeigneten Umständen die Gültigkeit einer Äußerung verteidigen würde, wird er selbst in revidiert (Schluchter 2007: 176). Zudem greift Habermas, um die These zu begründen, Weber habe Rationalität auf Zweckrationalität begrenzt, auf eine Interpretation des Kategorienaufsatzes von Weber zurück. Sie ist ebenfalls nicht hinreichend, um diesen Nachweis zu führen (Greve 2006). 7 Habermas übernimmt diese Formel, der Idee nach hatte er diese Ansicht schon zuvor vertreten. Vgl. z. B. Habermas (Habermas 1978b: 18) (s. auch oben). 8 »Wer in der Rolle der dritten Person etwas in der Welt beobachtet oder eine Aussage über etwas in der Welt macht, nimmt eine objektivierende Einstellung ein. Wer hingegen an einer Kommunikation teilnimmt und in der Rolle der ersten Person (Ego) mit der zweiten Person […] eine intersubjektive Beziehung eingeht, nimmt eine […] performative Einstellung ein.« (TKH I, 164) 107 den Prozeß der Beurteilung von Geltungsansprüchen hereingezogen. Gründe sind nämlich aus einem solchen Stoff, daß sie sich in der Einstellung einer dritten Person, d. h. ohne eine entweder zustimmende, ablehnende oder enthaltende Reaktion, gar nicht beschreiben lassen.« (TKH I, 169) Damit kommt Habermas zu einer der Weber’schen These von der Werturteilsfreiheit der Forschung entgegengesetzten Einschätzung. 9 Habermas hat für diese These vom Zusammenhang zwischen Beschreibung und Bewertung eine Begründung, die sich aus seinem Konzept des Verstehens als kommunikativer Erfahrung ergibt, d. h. als eines Geschehens, das sich innerhalb eines Gesprächs vollzieht (LSW, 208). Bedeutung und Begründung lassen sich für ihn hierbei nicht trennen, da die Bedeutung durch die Akzeptabilität von Geltungsansprüchen bestimmt wird, diese aber wiederum durch die Anerkennung zwischen Gesprächsteilnehmern (ED, 130, VE, 127ff., TKH I, 65). 10 Wie Schnädelbach betont, steckt in der »enthaltenden Reaktion« freilich auch ein Zugeständnis an Weber: »Im übrigen läßt Habermas ausdrücklich auch eine ›enthaltsame Reaktion‹ des Beobachters auf die Gründe des Beobachteten zu, und genau diese Reaktion ist das Prinzip der Wertfreiheit in der Weberschen Fassung« (Schnädelbach 1986: 24). Sprachanalyse und die Kritik der instrumentellen Vernunft Das strategische Handeln begreift Habermas - wie bereits gesagt - neben dem kommunikativen Handeln als eine weitere Form der sprachlichen Vermittlung von Interaktionen. 11 Dies steht im Spannungsverhältnis zu der These, es sei für die sprachliche Vermittlung von Interaktionen konstitutiv, dass Sprecher und Hörer sich auf drei Welten beziehen und eine verständigungsorientierte Haltung einnehmen. Dieses Spannungsverhältnis will Habermas durch den Nachweis auflösen, dass es sich beim kommunikativen Handeln um den Originalmodus der Verständigung und beim strategischen Handeln um eine »parasitäre« Form der Verständigung handelt: 9 »Nur unter der Voraussetzung des Glaubens an Werte […] hat der Versuch Sinn, Werturteile nach außen zu vertreten. A b e r : die G e l t u n g solcher Werte zu b e u r t e i l e n , ist Sache des Glaubens, daneben v i e l l e i c h t eine Aufgabe spekulativer Betrachtung und Deutung des Lebens und der Welt auf ihren Sinn hin, sicherlich aber nicht Gegenstand einer Erfahrungswissenschaft…« (Weber 1988: 152). 10 Da Habermas mittlerweile von der These abgerückt ist, dass Wahrheit durch einen Konsens unter idealen Bedingungen bestimmt wird, ist die Basis, auf der er die These vom notwendigen Zusammenhang von Beschreibung und Bewertung auf der Grundlage der eigenen Theorie rechtfertigen kann, wesentlich geschwächt worden. 11 Sprachlich vermittelte Interaktion bzw. sprachlich vermitteltes Handeln bezeichnet jenen Bereich, in dem Sprache und Handlung dadurch verknüpft sind, dass Sprache der Koordination von Handlungen dient. Weder ist jedes Sprechen zugleich Handeln, noch jedes Handeln zugleich Sprechen (vgl. ND, 64ff.; TKH I, 150). Beim Sprachgebrauch, der nicht zugleich Handeln ist, handelt es sich um Fälle des monologischen Sprachgebrauchs (TKH II, 106) sowie den durch »Handlungsentlastung« gekennzeichneten Diskurs (TGS, 115ff., VE, 135, EI, 386). 108 »Andererseits bietet aber nicht jede sprachlich vermittelte Interaktion ein Beispiel für verständigungsorientiertes Handeln. Zweifellos gibt es zahllose Fälle indirekter Verständigung […, Ausl., J.G.]. Beispiele eines solchen konsequenzenorientierten Sprachgebrauchs scheinen die Sprechhandlung als Modell für verständigungsorientiertes Handeln zu entwerten. Das ist nur dann nicht der Fall, wenn sich zeigen läßt, daß der verständigungsorientierte Sprachgebrauch der Originalmodus ist, zu dem sich die indirekte Verständigung, das Zu-verstehen-geben oder das Verstehen-lassen, parasitär verhalten. Genau dies leistet, wie ich meine, Austins Unterscheidung zwischen Illokutionen und Perlokutionen.« (TKH I: 388) Erst diese »Originalmodus«-These erlaubt es Habermas, trotz der strategischen Formen sprachlich vermittelter Interaktion an der Behauptung eines konstitutiven Zusammenhangs von Sprache, kommunikativem Handeln und Verständigung festzuhalten. Er muss demnach zeigen können, dass die Bedingungen des kommunikativen Handelns eine konstitutive Bedeutung für alle Äußerungen besitzen, selbst für solche, die die Bedingungen des kommunikativen Handelns verletzen. Nur dadurch kann Habermas einem Einwand entgehen, den McCarthy schon früh vorgetragen hat: »Wenn ... das, was er [Habermas, J.G.] volles Einverständnis nennt, kein Normalzustand ist, wie kann man dann zu dem Ergebnis kommen, daß die vier Geltungsansprüche universelle, d. h. allgemeine und unvermeidliche Bedingungen der möglichen Verständigung sind? Hat Habermas nicht eher eine universalpragmatische Begriffsexplikation eines von ihm ausgezeichneten Typs von Handlungen unternommen? Und wenn ja, aus welchen Gründen kann diese als die Geltungsbasis der Rede überhaupt gelten? « (in Oelmüller 1978: 136) Misslingt der Nachweis der Originalmodus-These, so ließe sich zudem nicht zeigen, dass mit der Inanspruchnahme der Sprache eine Nötigung von Akteuren einhergeht, eine verständigungsorientierte Haltung einzunehmen: »Die kommunikative Schaltung über vorbehaltlos ausgeführte Sprechakte setzt die egozentrisch auf den jeweiligen Aktor zugeschnittenen Handlungsorientierungen und -verläufe unter die strukturellen Beschränkungen einer intersubjektiv geteilten Sprache. Diese erzwingen von den Handelnden einen Perspektivenwechsel: die Aktoren müssen von der objektivierenden Einstellung eines erfolgsorientiert Handelnden, der etwas in der Welt bewirken will, übergehen zur performativen Einstellung eines Sprechers, der sich mit einer zweiten Person über etwas in der Welt verständigen will.« (ND, 72) 12 12 Vgl. auch ND, 82, 131. Die Tatsache, daß Handelnde eine erfolgsorientierte Haltung einnehmen können, ist kein Gegenargument, wenn auch erfolgsorientierte Akteure im Sprechakt die Geltung der Präsuppositionen des kommunikativen Handelns anerkennen müssen. Die Unterstellung des Gegebenseins der Präsuppositionen des verständigungsorientierten Handelns hat hier eine konstitutive 109 Die These vom parasitären Charakter des strategischen Handelns lässt sich Habermas zufolge mittels der Unterscheidung von illokutionären und perlokutionären Akten belegen. Erstens seien diese dadurch zu unterscheiden, dass illokutionäre Akte selbstidentifizierend seien, d. h., dass im kommunikativen Handeln die Handlungsabsicht des Sprechers eine Funktion der Bedeutung der Äußerung darstelle, wohingegen dies im strategischen Handeln nicht der Fall sei: »Wie für illokutionäre Akte die Bedeutung des Gesagten konstitutiv ist, so für teleologische Handlungen die Intention des Handelnden.« (TKH I: 389, vgl. auch TKH I: 371) Zweitens ließen sich illokutionäre und perlokutionäre Akte durch die mit ihnen verbundenen Ziele unterscheiden. Während den illokutionären Akten offen deklarierbare Ziele entsprächen, seien perlokutionäre Akte mit Zielen verbunden, die nur dann erreicht werden können, wenn der Adressat sie nicht durchschaue. Habermas versucht demnach zu zeigen, dass das strategische Handeln in dem Sinne ein parasitärer Modus der Kommunikation ist, da es dem strategisch Handelnden nur dann gelingen kann seine Absichten umzusetzen, wenn der Sprecher den Hörer über seine tatsächlichen Vorhaben täuscht. Dieser Nachweis ist Habermas nicht gelungen (s. dazu ausführlicher unten). Zum einen muss er anerkennen, dass es strategisches Handeln gibt, dass nicht auf Täuschungen basiert. Zum anderen setzt sein Argument eine Umdeutung des Begriffs der Perlokution voraus, die sich bei Austin gar nicht finden ließ. Lokution, Illokution und Perlokution bei John Langshaw Austin Austin unterscheidet drei sprachliche Akte: die lokutionären, die illokutionären und die perlokutionären Akte. Er bezeichnet den lokutionären Akt als Vollzug der Handlung, »daß man etwas sagt« (Austin 1979: 117). Dieser Vollzug besteht darin, einen Satz mit einer bestimmten Bedeutung zu äußern (Austin 1979: 115f.), wohingegen illokutionäre Akte, die man vollzieht, »indem man etwas sagt«, darin bestehen, eine Äußerung mit einer bestimmten Rolle (»force«) zu versehen; also z. B. mit der Rolle einer Warnung, Aufforderung, Behauptung, eines Versprechens etc. (Austin 1979: 117). Neben den Klassen der lokutionären und der illokutionären Akte führt Austin die Klasse der perlokutionären Akte ein: »Wer einen lokutionären und damit einen illokutionären Akt vollzieht, kann in einem dritten Sinne ... auch noch eine weitere Handlung vollziehen. Wenn etwas gesagt wird, dann wird das oft, ja gewöhnlich, gewisse Wirkungen auf die Gefühle, Gedanken oder Handlungen des oder der Hörer, des Sprechers oder anderer Personen haben; und die Äußerung kann mit dem Plan, in der Absicht, zu dem Zweck getan worden sein, die Wirkungen hervorzurufen. (...) Das Vollziehen einer solchen Handlung wollen Funktion, die der Unterstellung der idealen Sprechsituation in Diskursen entspricht (TGS, 140, VE, 180ff.). In diesem Sinne hängt vom Parasitarismusargument auch die Frage ab, ob und wie es möglich ist, mit den Mitteln der Sprachphilosophie ein Äquivalent für die transzendentale Deduktion des Sittengesetzes zu finden (vgl. TKH I: 64, 199, 590, MKH, 127, 140f.; ED, 21; EI, 416f., VE, 498) Dazu auch Apel (Apel 1976c, Apel 1983) und Kapitel 10. 110 wir das Vollziehen eines perlokutionären Aktes nennen« (Austin 1979: 118f.). Für Austin ist der Begriffdes Perlokutionären also nicht nur auf täuschende Sprechakte begrenzt. Tab. 11: Soziale Handlungen soziale Handlungen kommunikatives Handeln strategisches Handeln verdeckt strategisches Handeln offen strategisches Handeln Täuschung unbewußt (systematisch verzerrte Kommunikation) Täuschung bewußt (Manipulation) Aus: TKH I: 446 Eine weitere Schwierigkeit, die These vom notwendigen Zusammenhang von sprachlichen Handeln und den Kennzeichen des kommunikativen Handelns nachzuweisen, ergibt sich aus den offen strategischen Handlungen, die in Imperativen gegeben sein können. Imperative rechnet Habermas dem strategischen Handeln zu, gleichzeitig betrachtet er sie als illokutionäre Akte - und dies zu Recht, denn es handelt sich ja nicht um Äußerungen, in denen der Sprecher den Hörer über seine Absichten täuscht und gleichwohl strategisch handelt, weil mit ihnen keine kritisierbaren Geltungsansprüche erhoben werden, da »der Sprecher mit Imperativen keinen Geltungsanspruch, d. h. keinen Anspruch verbindet, der kritisiert und mit Gründen verteidigt werden könnte« (TKH II: 45f., 51, vgl. auch TKH I: 65). Da Imperative nicht wie Perlokutionen auf die Inanspruchnahme der Präsuppositionen kommunikativen Handelns angewiesen sind, sondern »der Sprecher das Ziel der Einflußnahme auf die Entscheidungen seines Gegenübers offen deklariert« (TKH I: 410), verdankt sich ihre Anschlussfähigkeit einem illokutionären Effekt. Unproblematisch ist der Zusammenhang im Falle der »normativ-autorisierten Imperative«, d. h. solcher, die in gegebene Institutionen eingebettet sind. Habermas nennt als Beispiel die Äußerung: »Ich gebe Ihnen (hiermit) die Anweisung, das Rauchen einzustellen.« (TKH I: 404) »Die Äußerung setzt anerkannte Normen voraus, z. B. die Sicherheitsvorschriften, des internationalen Flugverkehrs, und einen institutionellen Rahmen, der die Inhaber bestimmter Positionen, z. B. Stewardessen, befugt, in bestimmten Situationen, beim Ansetzen zur Landung, einem bestimmten Kreis von Personen, hier also den Passagieren, mit Berufung auf bestimmte Vorschriften, die Anweisung zu geben, das Rauchen einzustellen.« (TKH I: 404) 111 Probleme bereiten aber die »einfachen Imperative«, also solche, die nicht normativ eingebettet sind. Dazu zählen Äußerungen wie: »Ich fordere Dich (hiermit) auf, das Rauchen einzustellen.« (TKH I: 402) Hier fallen, worauf Skjei Habermas hingewiesen hat, strategisches Handeln und Illokution nun aber zusammen. Habermas hat hierauf mit einer Revision reagiert, die weiter unten dargestellt wird. Mead und der Vorrang der Intersubjektivität Neben der sprachphilosophischen Tradition, auf die Habermas zurückgreift, um zu zeigen, wie die an die Bewusstseinsphilosophie gebundene Auffassung des Handelns als durch Zweckrationalität gekennzeichnete, überwunden werden kann, knüpft Habermas an das Werk von George Herbert Mead an. Dieser war bereits davon ausgegangen, dass die zentralen Errungenschaften des menschlichen Geistes in einer intersubjektiven Struktur gründen (Mead 1973, für eine vorzügliche Übersicht vgl. das Kapitel zu Mead in Schneider 2002). Entsprechend hatte sich Mead darum bemüht, die These zu belegen, dass es menschliches Bewusstsein und Selbstbewusstsein nur geben könne, wenn man symbolische Interaktion voraussetzt. Dies zeigte Mead anhand einer Überlegung zum Übergang der Gestenkommunikation zur symbolischen Kommunikation. Gestenkommunikation findet sich schon bei Tieren. Im Zuge eines Austauschs von Gesten zwischen Organismen kommt es zu einer »Anzeige« von Verhaltensreaktionen. Das Brüllen eines Löwen zeigt so dem anderen an, dass ein Angriffzu erwarten ist. In der einfachen gestenvermittelten Kommunikation ist damit noch nicht gemeint, dass Tab. 12: Reine Typen sprachlich vermittelter Interaktionen Formal-pragmatische Merkmale Handlungstypen kennzeichnende Sprechakte Sprachfunktionen Handlungsorientierungen Grundeinstellungen Geltungsansprüche Weltbezüge strategisches Handeln Perlokutionen, Imperative Beeinflussung des Gegenspielers erfolgsorientiert objektivierend [Wirksamkeit] objektive Welt Konversationen Konstative Darstellung von Sachverhalten verständigungsorientiert objektivierend Wahrheit objektive Welt normen-reguliertes Handeln Regulative Herstellung interpersonaler Beziehungen verständigungsorientiert normenkonform Richtigkeit soziale Welt dramaturgisches Handeln Expressive Selbstpräsentation verständigungsorientiert expressiv Wahrhaftigkeit subjektive Welt Aus: TKH I: 439 112 den beteiligten Tieren bewusst ist, was die jeweilige Geste bedeutet. Der zweite Löwe reagiert auf das Brüllen in einer bestimmten Weise und diese Verhaltensreaktionen stellen Phasen des Vollzugs einer Handlungssequenz des Angreifens dar. Nach Mead wird ein bestimmtes Verhalten zu einer Geste, sobald die mit der Sequenz verbundenen Handlungstendenzen den einzelnen Tieren in dem lediglich minimalen Sinne »bewusst« werden, dass durch die Geste die verbundenen Handlungssequenzen als Dispositionen auf beiden Seiten wirksam werden. Für den zweiten Löwen löst das Brüllen die Disposition aus, die Flucht zu ergreifen. Einen entscheidenden Übergang zu einer symbolischen Kommunikation, in der die Geste für beide Organismen dieselbe Bedeutung gewinnt, sieht Mead in der Lautgeste. Indem die Geste lautlich wird, löst das Brüllen in dem brüllenden Löwen dieselbe Verhaltenstendenz aus, wie in dem zweiten Löwen. Dies schafft die Basis für gemeinsame Bedeutungen und den Prozess, den Mead als Rollenübernahme versteht: das Einnehmen einer Haltung eines signifikanten Anderen, der dann nach Mead die Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins ausmacht. Entscheidend ist, dass Mead mit seiner genetischen Herleitung von Bedeutungen und dem darauf basierenden Selbstbewusstsein erstens eine pragmatische Perspektive auf Sprache begründet, d. h. sie in den Zusammenhang mit praktischen Verhaltensweisen stellt. Zweitens wird damit gezeigt, dass die Entwicklung des Selbstbewusstseins kein Prozess ist, der »monologisch«, also in jedem einzelnen Bewusstsein unabhängig von Interaktion abläuft. Habermas’ betont diese Leistungen Meads, will aber dennoch an drei Punkten über ihn hinausgehen (TKH II: 28ff.). Erstens kritisiert er (hierbei anknüpfend an Tugendhat 1979: 255), dass die gemeinsame Verwendung eines Symbols noch nicht sichert, dass beide dieses Symbol verwendende Teilnehmer sich darüber bewusst sind, dass es sich um dieselbe Bedeutung handelt, die sie dem Symbol zusprechen. 13 Habermas meint, dass dies erst dann möglich wird, wenn man auf einen Gedanken von Wittgenstein zurückgreift, demzufolge Bedeutungsverstehen an Regelverstehen gebunden ist (Wittgenstein 1984a). Die Bedeutungseinheit, so Habermas, ließe sich erst dann verständlich machen, wenn beide Teilnehmer dazu kommen, zu erkennen, dass sie bei der Verwendung der Sprache derselben Regel folgen. Damit hängt gemäß Habermas ein zweiter Erweiterungsgesichtspunkt zusammen. Mead habe nicht hinreichend berücksichtigt, dass die sprachliche Interaktion gegenüber der symbolischen durch eine grammatische Struktur gekennzeichnet ist, die für Habermas im Anschluss an seine Universalpragmatik an die Ausdifferenzierung von Sprechaktmodi und Weltbezügen gebunden ist. Drittens könne Mead mit seiner Überlegung zum Entstehen der symbolischen Interaktion noch nicht zeigen, wie sich dem Einzelnen gegenüber die Haltung einer Gesellschaft bemerkbar macht. Mead ging zwar genau davon aus, dass eine solche Haltung die Struktur des menschlichen Selbst bestimmt, aber, so Habermas, dies wird bei ihm nicht auf dem Wege seiner sprachpragmatischen Überlegungen begründet, sondern von Mead unabhängig davon eingeführt. 13 »Eine identische Bedeutung liegt dann vor, wenn Ego weiß, wie Alter auf eine signifikante Geste reagieren müßte; es genügt nicht zu erwarten, daß Alter in einer bestimmten Weise reagieren wird.« (TKH II: 28) 113 Habermas will beide Defizite dadurch lösen, dass er auf einen weiteren Klassiker der Soziologie zurückgreift, nämlich Emile Durkheim. Auch in diesem Fall ist die Anknüpfung gleichzeitig mit einer Kritik verbunden. Habermas macht sich einen Gedanken von Durkheim zu Eigen, den dieser insbesondere in seiner Religionssoziologie entwickelt hatte. Durkheim geht davon aus, dass sich ein gemeinsames, kollektives Bewusstsein zunächst in religiösen Ritualen bildet. Diese würden daher eine »vorsprachliche Wurzel kommunikativen Handelns« (TKH II: 74) aufweisen. Damit hat Habermas einen Hinweis auf eine schon vorsprachliche Gegebenheitsweise des Intersubjektiven gefunden, die noch nicht wie die Sprache in Weltbezüge ausdifferenziert ist. Der Übergang zur Sprache sei dann durch genau diese Ausdifferenzierung zu verstehen, in dem sich objektive, soziale und subjektive Momente voneinander trennten, die zunächst im religiösen Ritual miteinander verbunden gewesen seien (TKH II: 96ff.). Habermas spricht hier von einer »Versprachlichung des Sakralen« (TKH II: 74). Damit geht die Ausdifferenzierung der Geltungsdimensionen einher (TKH II: 164) sowie eine Transformation der gesellschaftlichen Bindekraft in eine Kommunikationsethik: »Soweit der sakrale Bereich für die Gesellschaft konstitutiv gewesen ist, treten freilich weder Wissenschaft noch Kunst das Erbe der Religion an; allein die zur Diskursethik entfaltete, kommunikativ verflüssigte Moral kann in dieser Hinsicht die Autorität des Heiligen substituieren.« (TKH II: 140) Beides bezeichnet Momente der gesellschaftlichen Differenzierung: »Je weiter die strukturellen Komponenten der Lebenswelt und die Prozesse, die zu deren Erhaltung beitragen, ausdifferenziert werden, umso mehr treten die Interaktionszusammenhänge unter Bedingungen einer rational motivierten Verständigung, also einer Konsensbildung, die sich letztlich auf die Autorität des besseren Argumentes stützt.« (TKH II: 218) Sozial- und Systemintegration - Lebenswelt und System Nachdem Habermas im ersten Band der Theorie des kommunikativen Handelns das Kommunikationsmodell in der Auseinandersetzung mit anderen Handlungsmodellen entwickelt hat, besteht das vordringliche Ziel des zweiten Bandes darin, eine Kritik der funktionalistischen Vernunft auszuarbeiten. Habermas wechselt hier zugleich den Analysefokus, denn nun geht es ihm um eine Gesellschaftsanalyse. In der heute häufig verwendeten Terminologie vollzieht er einen Wechsel von der Mikrozur Makro- Ebene der Analyse. Habermas führt die Unterscheidung zwischen System und Lebenswelt mittels einer Unterscheidung ein, die auf David Lockwood zurückgeht: Es ist die Unterscheidung 114 zwischen Sozial- und Systemintegration (Lockwood 1964). Lockwood ging es dabei um die Integration zweier auf die moderne Gesellschaft bezogener Perspektiven. Auf der einen Seite steht diejenige Perspektive, die auf Talcott Parsons zurückgeht und derzufolge gesellschaftliche Integration auf geteilten Werten und Normen beruht (das bezeichnet für Lockwood die Sozialintegration), auf der anderen Seite findet sich die Marx’sche Analyse, die Gesellschaft mittels ihrer materiellen Reproduktion versteht (Systemintegration). Habermas gibt dieser Unterscheidung die folgende Fassung: »Die Integration eines Handlungssystems wird im einen Fall durch einen normativ gesicherten oder kommunikativ erzielten Konsens, im anderen Fall durch eine über das Bewußtsein der Aktoren hinausreichende nicht-normative Regelung von Einzelentscheidungen hergestellt. Die Unterscheidung zwischen einer sozialen, an den Handlungsorientierungen ansetzenden, und der systemischen, durch die Handlungsorientierungen hindurchgreifenden Integration der Gesellschaft nötigt zu einer entsprechenden Differenzierung der Gesellschaft selber.« (TKH II, 179, vgl. auch 226, 348) Basierend auf dieser Definition lassen sich Lebenswelt und System unterscheiden. Auch hier greift Habermas auf soziologische Klassiker zurück, um die entsprechenden Konzepte zu erhellen. So hatte Edmund Husserl den Begriffder Lebenswelt in der Philosophie und im Anschluss an ihn Alfred Schütz in der Soziologie eingeführt. Das Lebensweltkonzept beinhaltet die Annahme, dass es die Bezüge des Handelnden kennzeichnet, die für die Handelnden naiv gegeben sind. Damit ist gemeint, dass es in der Lebenswelt unproblematisierte Annahmen gibt, die dem Handelnden aber gleichwohl selbstverständlich sind (dass z. B. ein Stuhl etwas ist, worauf man sitzen kann, dass die Sonne wieder aufgehen wird etc.). »Die Lebenswelt bildet das intuitiv gegenwärtige, insofern vertraute und transparente, zugleich unübersehbare Netz der Präsuppositionen, die erfüllt sein müssen, damit eine aktuelle Äußerung überhaupt sinnvoll ist, d. h. gültig oder ungültig sein kann.« (TKH II: 199) Es handelt sich also um ein »Kontextwissen«, das als solches nicht problematisiert wird und in seiner Gesamtheit gar nicht problematisiert werden kann, weil jede Problematisierung wieder in ein Netz von Hintergrundüberzeugungen eingebunden ist. Die Lebenswelt stellt den Hintergrund des Wissens dar und bestimmt damit auch, was überhaupt in den Blick geraten kann. Dies wird als die »Horizonthaftigkeit« der Lebenswelt verstanden. Hinzu kommt, dass in der Lebenswelt die Unterstellung gilt, dass es sich bei ihr um eine geteilte Welt handelt, dass heißt jeder nimmt an, dass seine Gewissheiten auch mit den Gewissheiten der anderen Personen übereinstimmen (vgl. für eine ausführliche Schilderung TKH II: 199ff.). Habermas versteht die Lebenswelt als einen Komplementärbegriffzum kommunikativen Handeln (vgl. TKH I: 107, 452, TKH II: 198, 304). Was genau meint Habermas mit dem komplementären Verhältnis? Einerseits ist der Begriffkomplementär, weil sich die Lebenswelt in seinen Augen durch das kommunikative Han- 115 deln hindurch reproduziert (TKH I: 533), andererseits fällt die Lebenswelt mit dem kommunikativen Handeln nicht zusammen, weil sie den Hintergrund des Handelns ausmacht, selbst also kein Handeln darstellt. Vielmehr bildet sie eine Ressource des Handelns, die als Ganze aber nie thematisiert werden kann. Für sie gilt, was Habermas auch für die Sprache betont: »Die Kommunikationsteilnehmer bewegen sich, indem sie eine Sprechhandlung ausführen, so sehr innerhalb ihrer eigenen Sprache, daß sie eine aktuelle Äußerung nicht […, J.G.] in der Weise vor sich bringen können, wie sie ein Ereignis als etwas Objektives erfahren, wie sie einer Verhaltenserwartung als etwas Normativem begegnen oder einen Wunsch, ein Gefühl als etwas Subjektives erleben bzw. zuschreiben. Das Medium der Verständigung verharrt in einer eigentümlichen Halbtranszendenz.« (TKH II: 190) Habermas setzt sich in der Theorie des kommunikativen Handelns mit dem klassischen Lebensweltkonzept bei Alfred Schütz, Peter L. Berger und Thomas Luckmann auseinander (siehe detailliert auch Dietz 1993, Matthiesen o.J.). Seine Kritik an der Tradition der Lebensweltforschung besteht im Wesentlichen darin, dass diese mit einer Verkürzung auf den kognitiven Gehalt der Lebenswelt einhergehe, was Habermas wiederum darauf zurückführt, dass die entsprechenden Autoren einer bewusstseinsphilosophischen Tradition verhaftet blieben. Demgegenüber muss das Lebensweltkonzept aus der Sicht von Habermas dreidimensional gefasst werden: »Unter dem funktionalen Aspekt der Verständigung dient kommunikatives Handeln der Tradition und Erneuerung kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der sozialen Integration und der Herstellung von Solidarität; unter dem Aspekt der Sozialisation schließlich dient kommunikatives Handeln der Ausbildung von personalen Identitäten.« (TKH II: 208f.) Diesen »Vorgängen der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation« entsprächen drei strukturelle »Komponenten der Lebenswelt«, nämlich »Kultur, Gesellschaft und Person.« (TKH II: 209) Schließlich müsse der »Idealismus« der Lebensweltperspektive durch die Beachtung der materiellen Reproduktion der Lebenswelt ergänzt werden: »Diese Reproduktionsvorgänge [von Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit, J.G.] erstrecken sich auf die symbolischen Strukturen der Lebenswelt. Davon müssen wir die Erhaltung des materiellen Substrats der Lebenswelt unterscheiden. Die materielle Reproduktion vollzieht sich durch das Medium der Zwecktätigkeit, mit der die vergesellschafteten Individuen in die Welt intervenieren, um ihre Ziele zu verwirklichen.« (TKH II: 209) 116 Von der lebensweltlichen Perspektive auf die Gesellschaft unterscheidet Habermas die systemische Sicht. Während erstere die Perspektive auf die Gesellschaft aus der Sicht der Akteure bezeichne, d. h. Gesellschaft »aus der Teilnehmerperspektive handelnder Subjekte als Lebenswelt einer sozialen Gruppe konzipiert«, »kann die Gesellschaft aus der Beobachterperspektive eines Unbeteiligten nur als System von Handlungen begriffen werden« (TKH II: 179). Und je mehr sich die gesellschaftliche Integration systemischen Mechanismen verdanke, umso mehr sei eine Beobachterperspektive nötig, um die aus der Sicht der Teilnehmer »kontraintuitiven Aspekte« der Vergesellschaftung sichtbar zu machen (TKH II: 447; 461). Um zu beschreiben, was es heißt, die Gesellschaft aus der Sicht der systemischen Integration zu betrachten, knüpft Habermas an seine Überlegungen zur Sicht der Systemtheorie auf die moderne Gesellschaft an. Sie geht davon aus, dass sich soziale Systeme als Systeme in Umwelten begreifen lassen. Allerdings bezieht sich Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns weniger auf Luhmann, sondern vor allem auf die Arbeiten von Talcott Parsons zur Differenzierung der Gesellschaft. Aus Habermas’ Analyse - dem »zweistufigen« Gesellschaftskonzept, das Lebenswelt und System umfasst - ergibt sich damit ein mehrdeutiger Gesellschaftsbegriff. Erstens meint Gesellschaft nun aus der Sicht der Teilnehmer die Lebenswelt 14 , zweitens stellt sich die Gesellschaft für den Beobachter als das Gesamt von Lebenswelt und systemisch integrierten Subsystemen dar (TKH II, 188). Zudem bezeichnet Gesellschaft für Habermas drittens (wie angeführt) noch eine strukturelle Komponente der Lebenswelt (TKH II, 209, 212f.), so dass sich im Ganzen schließlich sogar ein dreifacher Gesellschaftsbegriffergibt. Habermas nimmt diese Doppeldeutigkeit bewusst in Kauf (vgl. seine Gesellschaftsformel, »daß Gesellschaften systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen darstellen«, TKH II: 228), denn er verbindet sie zugleich mit einer sachlichen These, nämlich dass es die Lebenswelt ist, die trotz ihrer Differenzierung von der systemischen Realität den grundlegenden Bestand der Gesellschaft definiert. »Die bestandswichtigen Strukturen, mit denen die Identität einer Gesellschaft steht und fällt, sind […, J.G.] Strukturen der Lebenswelt«. (TKH II: 227) Die Differenzierung von System und Lebenswelt Habermas geht nun davon aus, dass sich im Zuge der gesellschaftlichen Evolution System und Lebenswelt voneinander differenzieren. Auf der einen Seite kommt es zur Rationalisierung der Lebenswelt im Sinne einer Freisetzung des Potentials kommunikativer Verständigung, »daß die Lebenswelt ihre präjudizierende Gewalt über die kommunikative Alltagspraxis in dem Maße verliert, wie die Aktoren ihre Verständigung eigenen Interpretationsleistungen verdanken.« (TKH II: 203; vgl. auch TKH II: 14 »Die Lebenswelt, die die Angehörigen aus einer gemeinsamen kulturellen Überlieferung konstruieren, ist mit Gesellschaft koextensiv.« (TKH II, 224) 117 232) Damit drifteten auch die strukturellen Komponenten der Lebenswelt - Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit - immer deutlicher auseinander. Zudem vollziehe sich ein Formwandel der Ethik und des Rechts - wobei Habermas mit dieser These an seine oben dargestellten Überlegungen zur gesellschaftlichen Evolution anknüpfen kann. Habermas nimmt in der Theorie des kommunikativen Handelns entsprechend seine in der Rekonstruktion des historischen Materialismus entwickelte Stufenthese auf, dass die Moderne durch einen Übergang von der magischen Ethik (präkonventionelle Stufe) und der Gesetzesethik (konventionelle Stufe) zu einer Gesinnungs- und Verantwortungsethik (postkonventionelle Stufe) gekennzeichnet ist. Das Recht wandelt sich vom offenbarten (präkonventionelle Stufe) und traditionalen Recht (konventionelle Stufe) zu einem formalen Recht (postkonventionelle Stufe) (TKH II: 259ff.). Im Grunde genommen denkt Habermas das Verhältnis von Lebenswelt und System dabei im Sinne eines Dreischritts. In einfachen, archaischen Gesellschaften seien die Bedingungen der materiellen Reproduktion und die Lebenswelt koextensiv, d. h. sie sie sind aus der Sicht der Lebenswelt verfügbar (TKH II: 230, 244). In den Hochkulturen kommt es zu einer allmählichen Ablösung - die materiellen Bedingungen bleiben aber per Ideologien an lebensweltliche Bestände gebunden. Erst im Zuge der Moderne treten beide auseinander (s. dazu auch unten). Eine zentrale Rolle bei dieser Differenzierung zwischen System und Lebenswelt spielen für Habermas »symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien«, welche gesellschaftliche Interaktionen steuern. Den Begriff und die Idee, dass die Differenzierung der Gesellschaft mit sozialen Steuerungsmedien einhergeht, übernimmt Habermas von Talcott Parsons (Parsons 1980). Wie die Sprache sind sie für Parsons symbolisch realisiert. Gegenüber der Alltagssprache sind sie aber zugleich generalisiert, weil sie sich auf eine große Klasse von Fällen anwenden lassen. Das ist sich sehr gut am Beispiel des Geldes zu verdeutlichen: Geld kann verwendet werden, um ganz unterschiedliche Güter zu tauschen und dies in einer Reihe von sehr unterschiedlichen Situationen: in Geschäften als Bargeld oder elektronisch als Überweisung etc. Die Generalisierungsleistung bezieht sich dabei zugleich auf die Motivation, die mit Geld verbunden ist. Der Geldbesitz kann zu einer eigenständigen Quelle der Motivation werden und dies wiederum in generalisierter Weise, z. B. als Motiv, in eine Tauschbeziehung einzutreten. Gleichzeitig ging Parsons davon aus, dass die Medien aber auch weniger leisten als die Alltagssprache, denn im Gegensatz dazu können Medien nicht in allen Situationen angewendet werden. Die Alltagssprache kennzeichnet sich hingegen dadurch, dass sie in der Lage ist, Beliebiges zu thematisieren. Parsons unterscheidet vier Medien: Geld, Macht, Einfluss und Wertbindungen (commitments) und verbindet dies mit seinen Überlegungen zur Differenzierung der Gesellschaft. Diese zerfällt für ihn in vier Teilsysteme, die jeweils bestimmte soziale Funktionen erfüllen: die Wirtschaft (Anpassung an die natürliche Umwelt durch Güterversorgung), die Politik (Festlegung kollektiver Ziele), die gesellschaftliche Gemeinschaft (Herstellung von gesellschaftlicher Solidarität) und das gesellschaftliche Treuhändersystem (Wahrung kultureller Bestände). Diesen entspricht jeweils ein Me- 118 dium: Geld entspricht der Wirtschaft, Macht der Politik, Einfluss der gesellschaftlichen Gemeinschaft und Wertbindungen dem Treuhändersystem. Habermas knüpft an dieses Schema an, lediglich die Wertbindungen bezeichnet er anders, nämlich als Ansehen. Und wie Parsons bezieht er das Entstehen von Medien auf den wachsenden Koordinationsbedarf, der sich in modernen Gesellschaften ergibt: »Für die Befriedigung dieses wachsenden Koordinationsbedarfs stehen entweder sprachliche Verständigung oder aber Entlastungsmedien zur Verfügung, die Kommunikationsaufwand und Dissensrisiken verringern.« (TKH II: 269). Im Gegensatz zu Parsons unterscheidet Habermas diese Medien aber danach, an welcher Handlungsorientierung sie ansetzen - entweder an erfolgs- oder an verständigungsorientierten Motivationen, oder, wie Habermas auch sagt, an einer empirischen oder einer rationalen Motivation: »Medien wie Geld und Macht setzen an empirisch motivierten Bindungen an, während sich jene generalisierten Formen der Kommunikation wie etwa fachliche Reputation oder ›Wertbindung‹, also moralisch-praktische Führerschaft, auf bestimmte Sorten grundsätzlich rational motivierten Vertrauens stützen.« (TKH II: 272) Tab. 13: Medien und Motivationstypen Motivation empirische Motivation rationale Motivation Medien Geld Einfluss Macht Ansehen Habermas geht nun davon aus, dass sich mit der Durchsetzung von Geld und Macht (nicht aber von Einfluss und Ansehen, die lediglich der Erleichterung der sprachlichen Verständigung dienen) als Steuerungsmedien eine Ablösung von der lebensweltlichen Handlungskoordination vollzieht: »Medien wie Geld und Macht setzen an den empirisch motivierten Bindungen an; sie codieren einen zweckrationalen Umgang mit kalkulierbaren Wertmengen und ermöglichen eine generalisierte strategische Einflußnahme auf die Entscheidungen anderer Interaktionsteilnehmer unter Umgehung sprachlicher Konsensbildungsprozesse. Indem sie die sprachliche Kommunikation nicht nur erleichtern, sondern durch eine symbolische Generalisierung von Schädigungen und Entschädigungen ersetzen, wird der lebensweltliche Kontext, in den Verständigungsprozesse stets eingebettet sind, für mediengesteuerte Interaktionen entwertet: die Lebenswelt wird für die Koordinierung von Handlungen nicht länger benötigt.« (TKH II: 273) Geld und Macht sind also die Mechanismen, die zu einer Entkoppelung von System und Lebenswelt führen. Einfluss und Ansehen sind hingegen für Habermas solche 119 Medien, die von sprachlichen Konsensbildungen nicht gelöst werden können (TKH II: 391, 411, 412, 418, 461). Tab. 14: Grundlegende Unterscheidungen, die mit der Differenz von Lebenswelt und System verbunden sind. Lebenswelt System Integrationstyp Sozialintegration Systemintegration Perspektive Teilnehmerperspektive (performativ) Beobachterperspektive (objektivierend) Theorie Handlungstheorie Systemtheorie Handlungsbereiche Privatsphäre, Öffentlichkeit Wirtschaft, Bürokratie Medien Einfluss, Ansehen Geld, Macht Rechtsform Recht als Institution Recht als Medium Diese Entkopplung von Lebenswelt und System durch die Steuerungsmedien bezeichnet Habermas auch als »Technisierung der Lebenswelt« - begrifflich lehnt er sich dabei an Luhmann an (TKH II: 394). Diese ist für Habermas aber nicht notwendig problematisch. Er ist vielmehr der Ansicht, dass es Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion gibt, die man einer systemischen Integration überlassen kann, ohne dass dadurch die gleichzeitig notwendige soziale Integration beschädigt wird. Zugleich erzeugt die Ausdifferenzierung von Lebenswelt und System aber das Risiko, dass die systemischen Mechanismen in die Sozialintegration eingreifen. Dort wo diese Eingriffe stattfinden, werden sie nach Habermas zunächst getarnt erscheinen. 15 Diesen über die systematische Verzerrung von Kommunikation laufenden Prozess der Instrumentalisierung der Lebenswelt bezeichnet Habermas als ihre »Mediatisierung« (TKH II: 277). Er knüpft damit an seinen Überlegungen zur Ideologiekritik an, nach der sich die Zwänge der materiellen Produktion und der Herrschaft in den Formen der Kommunikation selbst niederschlagen. Habermas spricht hier im Anschluss an Georg Lukács von Verständigungsformen, die eine ideologische Funktion übernehmen (TKH II: 278), indem sie die der Kommunikation strukturelle Grenzen auferlegen (TKH II: 282). Zugleich greift Habermas hier auf seine früheren Überlegungen zurück (s. oben Kapitel 6 und 7) und kommt zu einer bereits als Dreischritt skizzierten Einschätzung. Während archaische Gesellschaften Legitimationen in Form von Mythen bereitstellten, seien es laut Habermas in den Hochkulturen insbesondere religiöse Deutungs- 15 »Reproduktionszwänge, die eine Lebenswelt instrumentalisieren, ohne den Schein der Autarkie der Lebenswelt zu beeinträchtigen, müssen sich gleichsam in den Poren des kommunikativen Handelns verstecken. Daraus entsteht eine strukturelle Gewalt, die sich, ohne als solche manifest zu werden, der Form der Intersubjektivität möglicher Verständigung bemächtigt. Strukturelle Gewalt wird über eine systematische Einschränkung von Kommunikation ausgeübt.« (TKH II, 278) 120 muster. Systematische Einschränkungen ergeben sich daher in der Form von sakralen Bereichen und Symbolen, die von einer Thematisierung ausgeschlossen werden. Diese zeigen sich im Zuge der Modernisierung allerdings als fragwürdig. Vielmehr treten an ihre Stelle die »bürgerlichen« Ideale, »Autonomie und Wissenschaftlichkeit, individuelle Freiheit und Universalismus« (TKH II: 517). Da Habermas der Meinung ist, dass diese Ideale tatsächlich den emanzipatorischen Gehalt des Projekts der Moderne ausmachen (TKH II: 485), löst sich damit die zunächst sakral gedeckte Legitimation von Herrschaftsbeziehungen auf. 16 Das Ende der Ideologie fordert demnach eine andersartige Form der Legitimation: »An die Stelle der positiv zu erfüllenden Aufgabe, einen bestimmten Interpretationsbedarf ideologisch zu decken, tritt die negative Forderung, Interpretationsleistungen auf dem Integrationsniveau von Ideologien gar nicht erst aufkommen zu lassen.« (TKH II: 521) Dies vollziehe sich in der Form einer Fragmentierung des Alltagsbewusstseins, die wesentlich darüber zustande komme, dass sich »Expertenkulturen« niederschlagen. (TKH II: 522). Damit gelte: »An die Stelle des ›falschen‹ tritt heute das fragmentierte Bewußtsein.« (TKH II: 522) Darin sieht Habermas dann auch die Bedingungen gegeben, die eine »Kolonialisierung der Lebenswelt« herbeiführen können: »Die Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen, sobald sie ihres ideologischen Schleiers entkleidet sind, von außen in die Lebenswelt - wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft - ein und erzwingen die Assimilation.« (TKH II: 522) Im Gegensatz zur Mediatisierung bezeichnet diese Kolonialisierung einen Zustand, in dem die Strukturen der Lebenswelt nicht nur eingeschränkt, sondern in ihrer Funktionsweise selbst beeinträchtigt werden (TKH II, 452, 488). Unter lebensweltlichen Bereichen fasst Habermas dabei die Privatsphäre, aber auch die Öffentlichkeit: »In der bürgerlichen Gesellschaft formieren sich die sozial integrierten Handlungsbereiche gegenüber den systemisch integrierten Handlungsbereichen von Wirtschaft und Staat als Privatsphäre und Öffentlichkeit.« (TKH II: 471) Habermas illustriert diese Kolonialisierung in der Theorie des kommunikativen Handelns am Beispiel von Verrechtlichungsprozessen, die dazu führen, dass es zu staatlichen Interventionen in lebensweltliche Bereiche kommt. Habermas folgt in der Entfaltung dieser These der von Thomas Marshall rekonstruiertem Entwicklung der Verrechtlichung (Marshall 1992 [1949]). Am Anfang steht dabei die Entwicklung des bürgerlichen Rechtsstaates, der private Eigentumsrechte und Schutzrechte des Individuums gegenüber dem Staat durchsetzt. Dem folgt eine Weiterentwicklung zum sozialen und demokratischen Rechtsstaat. Am Sozialstaat lasse sich nun, so Habermas, eine »Ambivalenz von Freiheitsverbürgung und Freiheitsentzug« feststellen (TKH II: 531). Einerseits schafft der Sozialstaat Möglichkeiten zum selbstbestimmten Leben, andererseits greift er mittels Geldzahlungen und sozialen Diensten in die Strukturen von Familien und die individuellen Lebensverläufe ein. 16 Für Marx waren in ähnlicher Weise diese Selbstbeschreibungen der bürgerlichen Gesellschaft in dem Maße Ideologie, da sie so formuliert waren, als kennzeichneten sie faktisch schon die bestehende Gesellschaft im Ganzen und nicht nur die Realität einer bestimmten Klasse (s. auch Kapitel 3 und 6). 121 Entsprechend führen jene Verrechtlichungsprozesse, die mit dem Entstehen des Sozialstaates verbunden sind, für Habermas zu einer paradoxen Situation: »Die dilemmatische Struktur dieses Verrechtlichungstyps besteht darin, daß die sozialstaatlichen Verbürgungen dem Ziel der sozialen Integration dienen sollen und gleichwohl die Desintegration derjenigen Lebenszusammenhänge fördern, die durch eine rechtsförmige Sozialintervention vom handlungskoordinierenden Mechanismus abgelöst und auf Medien wie Macht und Geld umgestellt werden.« (TKH II, 534) Habermas meint also, dass es soziale Bereiche gibt, in denen Macht und Geld sinnvolle Steuerungsmedien sind, ja mehr noch: die ohne solche Steuerungsmedien gar nicht auskommen können, dass es aber andererseits Bereiche gibt, in denen eine solche Steuerung dem Wesen der sozialen Beziehungen in den gesteuerten Bereichen nicht entspricht und daher negative Folgen eintreten, wenn solche Medien in diese Bereiche eindringen (auch NU: 241). So können die Funktionsweisen von Familien weder mittels Geld noch mittels einer »Therapeutokratie« (TKH II: 533) gesteuert werden, vielmehr behindern Eingriffe des Staates schnell die Selbststeuerungsfähigkeit von Familien. Dies gilt auch für die Schulen, die durch zu viele Eingriffe seitens der Verwaltungsbürokratie nicht mehr in der Lage sind, ein angemessenes Lernumfeld zu schaffen. Verrechtlichung ist nach Habermas nicht an sich ein negativ zu bewertender Tatbestand. Vielmehr wird Recht einerseits benötigt, um die systemischen Teilsysteme zu steuern, andererseits dient Recht der Vermittlung von teilsystemischen und lebensweltlichen Prozessen. Beide Funktionen lassen sich nach Habermas begrifflich unterscheiden: Recht als Medium ist jenes Recht, das »als Organisationsmittel für mediengesteuerte Subsysteme dient« (TKH II: 536), wohingegen unter Recht als Institution solche Rechtsnormen zu verstehen sind, »die durch den positivistischen Hinweis auf Verfahren nicht hinreichend legitimiert werden können. Dafür sind die Grundlagen des Verfassungsrechts, die Prinzipien des Straf- und Strafverfahrensrechts, sowie alle Regelungen moralnaher Straftatbestände (wie Mord, Abtreibung, Vergewaltigung usw.) typisch.« (TKH II: 536) In vielen Fällen des Rechts als Medium (hier nennt Habermas insbesondere das Wirtschafts-, Handels-, Unternehmens- und Verwaltungsrecht; TKH II: 536) gilt, dass dieses »mit dem Recht als Institution verknüpft« bleiben könne (TKH II: 536) (vgl. auch seine Überlegungen zu formalen Organisationen, TKH II: 457ff.). Im Falle der Verrechtlichung von Familien und Schulen gelte dies nun aber nicht, weil diese Bereiche grundlegend nicht formal organisierbar sind: »Familie und Schule sind keineswegs formal organisierte Handlungsbereiche. Wären sie bereits von Haus aus rechtsförmig konstituiert, könnte eine Verdichtung rechtlicher Normen ohne Umstellung auf ein anderes Prinzip der Vergesellschaf- 122 tung zu einer Umverteilung von Geld und Macht führen.[…, J.G.] Die Verrechtlichung dieser Sphären bedeutet daher nicht die Verdichtung eines ohnehin bestehenden Netzes formeller Regelungen, sondern die rechtliche Ergänzung und Überformung eines kommunikativen Handlungszusammenhangs, dies allerdings nicht durch Rechtsinstitutionen, sondern durch Recht als Medium.« (TKH II: 541) Entsprechend wären hier aus der Sicht von Habermas andere Formen der Konfliktregelung notwendig: »An die Stelle des als Medium benutzten Rechts müssten Verfahren der Konfliktregelung treten, die den Strukturen verständigungsorientierten Handelns angemessen sind - diskursive Willensbildungsprozesse und konsensorientierte Verhandlungs- und Entscheidungsverfahren.« (TKH II: 544) Aus Habermas’ Sicht kann demnach erst ein die Lebenswelt- und die Systemperspektive verbindender Ansatz verständlich machen, in welcher Weise der Prozess der Modernisierung ein paradoxer Prozess ist, der einerseits zu einer Entbindung des Rationalitätspotentials, andererseits zu einer Gefährdung der Sozialintegration führt. Mit der doppelten, sowohl an die Lebenswelt- und die Systemtheorie anknüpfenden Perspektive meint Habermas zu einer Gegenwartsdiagnose gelangen zu können. Sie bezieht sich auf Überlegungen der älteren kritischen Theorie sowie auf Webers Befürchtung, die Rationalisierung könne zu einem Freiheits- und Sinnverlust führen. Der Freiheitsverlust würde dann eintreten, wenn es zu einer Kolonialisierung der Lebenswelt käme. Erst dann könne aber die Gesellschaft tatsächlich nach dem Muster der systemtheoretischen Analyse beschrieben werden, wie Habermas schon in seiner Kritik an Luhmann geltend gemacht hatte (RHM: 114): »Ich sehe die methodische Schwäche eines absolut gesetzten Systemfunktionalismus gerade darin, daß er die theoretischen Grundbegriffe so wählt, als sei jener Prozeß, dessen Anfänge Weber wahrgenommen hat, schon abgeschlossen, als hätte eine total gewordene Bürokratisierung die Gesellschaft im ganzen dehumansiert, nämlich zu einem System zusammengeschlossen, das sich von der Verankerung in einer kommunikativ strukturierten Lebenswelt losgerissen hat, während diese ihrerseits auf den Status eines Subsystems neben anderen herabgesetzt worden sei.« (TKH II: 462; vgl. auch 499) Habermas kann damit Bedingungen angeben, unter denen dies der Fall ist, während Weber dafür kein Instrumentarium besessen hatte. Den drohenden Sinnverlust machte Weber am Auseinandertreten von Wertsphären fest, also an dem Phänomen, was Habermas als das Auseinandertreten der Momente der Vernunft begreift. Ist aber dies nicht auch für Habermas ein unausweichliches Schicksal der Moderne? Er glaubt dies 123 insofern nicht, als die sprachliche Verständigung diese Momente nicht nur differenziert, sondern auch erlaubt, sie gemeinsam zu thematisieren. Hinzu kommt der drohende Sinnverlust (TKH II: 447), der sich aus der Fragmentierung des Alltagsbewusstseins ergibt. Aber ist dieser nicht notwendig, wenn es im Zuge der Modernisierung zu einer Ausdifferenzierung der Geltungsdimensionen kommt? Habermas ist nicht dieser Ansicht, denn es gibt auch Mechanismen, die die »Einheit der Vernunft in der Vielfalt ihrer Stimmen« (so der Titel eines Aufsatzes in Nachmetaphysisches Denken) herstellen. »Gerade auf der formalen Ebene der argumentativen Einlösung von Geltungsansprüchen ist die Einheit der Rationalität in der Mannigfaltigkeit der eigensinnig rationalisierten Wertsphären gesichert.« (TKH I: 339; vgl. auch TKH II: 483, 585) Dementsprechend verweise auch das kulturelle Projekt der Moderne auf eine die bürgerliche Ideologie übersteigenden »Vorschein einer posttraditionalen Alltagskommunikation, die auf eigenen Füßen steht, die der Eigendynamik verselbständigter Subsysteme Schranke setzt, die die eingekapselten Expertenkulturen aufsprengt und damit den kombinierten Gefahren der Verdinglichung wie der Verödung entgeht.« (TKH II: 486) Einige Autoren sahen in der Theorie des kommunikativen Handelns eine Abkehr von einer letztlich marxistisch inspirierten Analyse und Kritik, weil Habermas die Problemlagen der modernen Gesellschaft nicht im Bereich ihrer materiellen Reproduktion verortet. »Zielt Habermas […, J.G.] 1973 noch auf eine Überwindung des Kapitalismus, so 1981 nur noch auf dessen demokratische Zähmung.« (Iser 2008: 156) Habermas hat hingegen bestritten, eine marxistisch inspirierte Analyse verlassen zu haben: »Der Paradigmenwechsel von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln bedeutet aber nicht, daß ich die materielle Reproduktion der Lebenswelt als privilegierten Bezugspunkt der Analyse aufgeben müßte. Das selektive Muster der kapitalistischen Modernisierung und die entsprechenden Pathologien einseitig rationalisierter Lebenswelten erkläre ich nach wie vor mit Hilfe eines kapitalistischen, von Gebrauchswertorientierungen weitgehend entkoppelten Akkumulationsprozesses.« (NU: 244) Auch geht Habermas noch in der Theorie des kommunikativen Handelns davon aus, dass ein Widerspruch zwischen Kapitalismus und Demokratie existiert: »Zwischen Kapitalismus und Demokratie besteht ein unauflösliches Spannungsverhältnis.« (TKH II: 507) Betrachtet man zudem die Schaltstellen der entsprechenden Argumentation, so liegt Habermas’ Begründung für das Auftreten der Kolonialisierung nicht zuletzt darin, dass es zu einer Fragmentierung des Bewusstseins kommen muss, weil eine ideologische Rechtfertigung von Machtbeziehungen unter den Bedingungen der Moderne nicht mehr möglich ist. Die Krisensymptome, die sich daraus ergeben, sind freilich solche, die sich nicht mehr auf das Kapitalverhältnis beziehen, sondern sich anderswo auswirken: »Der Prozeß der Verdinglichung kann sich ebensogut in öffentli- 124 chen wie in privaten Lebensbereichen manifestieren, und hier ebensogut an der Konsumentenrolle wie an der Beschäftigtenrolle ansetzen.« (TKH II: 503) Für Habermas sind es entsprechend weniger die Spannungen und Auseinandersetzungen, die sich in der Sphäre der Produktion geltend machen, sondern die Konflikte, die zwischen System und Lebenswelt bestehen (TKH II: 581), aber diese folgen aus einer Form der materiellen Reproduktion, die zwangsläufig zu einem Unterlaufen der Einheit der lebensweltlichen Reproduktion führt. Und ganz im Sinne der Diagnose in den Legitimationsproblemen geht er davon aus, dass die Beschränkung der Öffentlichkeit die Funktion eines bürokratischen Handelns ist, welches Massenloyalität »durch Aussicht auf Einlösung sozialstaatlicher Programmatiken« und »durch Ausschluß von Themen aus der öffentlichen Diskussion« herzustellen sucht. In diesem Sinne betrachtet er auch die in den 1980er-Jahren virulent werdenden Protestbewegungen als Ausdruck dieser Krise. Er weist auf die »Jugend- und Alternativbewegung« hin, »für die eine an Ökologie und Friedensthemen entfachte Wachstumskritik den gemeinsamen Fokus bildet« (TKH II: 579): »Die alternative Praxis richtet sich gegen die gewinnabhängige Instrumentalisierung der Berufsarbeit, gegen die marktabhängige Mobilisierung der der Arbeitskraft, gegen die Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule. Sie zielt auch gegen die Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Zeiten, gegen de konsumistische Umdefinition von privaten Lebensbereichen und persönlichen Lebensstilen. Weiterhin soll das Verhältnis zu den Klienten zu den öffentlichen Dienstleistungsbetrieben aufgebrochen und partizipatorisch, nach den Vorbild von Selbsthilfeorganisationen umfunktioniert werden.« (TKH II: 581) Kritik an der Theorie des kommunikativen Handelns In der Folge werden einige Einwände dargestellt, welche sich für die Diskussion um die Theorie des kommunikativen Handelns als einflussreich erwiesen haben. Erstens stellt sich die Frage, ob es Habermas gelungen ist, seine zentrale These vom notwendig verständigungsorientierten Charakter der Sprache zu belegen. Hier ergeben sich zwei gravierende Schwierigkeiten, die sowohl aus der Behandlung der Imperative, als auch aus dem Begriffder Perlokution resultieren. Wie Zimmermann und Skjei herausarbeiten konnten, hat sich Habermas damit in einen Widerspruch verwickelt (Skjei 1985: 95f., Zimmermann 1985: 375f.). Einerseits sollen für das kommunikative Handeln illokutionäre Akte konstitutiv sein, andererseits ist nicht jeder Vollzug eines illokutionären Aktes auch der Vollzug einer kommunikativen Handlung. Dass sich dieses Problem nicht vermeiden lässt, kann man an solchen Sprechakten ablesen, die wie z. B. das »Hände hoch« des Bankräubers vermuten lassen, dass der Sprecher nicht bereit ist, die Erfüllung seiner Aufforderung abhängig zu machen von einer Ja/ Nein- Stellungnahme des Hörers (ND: 135), und darüber hinaus an solchen Sprechakten, in 125 denen Sprecher sogar explizit verneinen, dass sie eine solche Stellungnahme erwarten. Äußerungen wie »Ich verbitte mir hiermit jede weitere Äußerung ihrerseits (jeden weiteren Kommentar, jede weitere Stellungnahme etc.)« sind vollkommen regelgerecht gebildete illokutionäre Akte. Zudem ergibt sich auch für die verdeckten strategischen Handlungen eine Schwierigkeit. Der Begriffder Perlokution, so wie ihn Austin eingeführt hatte, ist weiter als der der Täuschungen. So geht es auch kommunikativ Handelnden um einen perlokutionären Erfolg, denn sie möchten einen über den Sprechakt hinausgehenden Effekt erzielen. Nach Tugendhat sind daher viele kommunikative Akte ganz direkt mit perlokutionären Zielen verbunden. 17 Habermas hatte dies dadurch einzufangen versucht, dass er zu den illokutionären Akten solche gezählt hatte, in denen die Absicht in der Äußerung des Sprechers bereits enthalten ist. Wood wies aber darauf hin, dass es viele Beispiele eines verständigungsorientierten Handelns gibt, in denen dies nicht der Fall ist. So ist eine Aussage wie: »Ich überzeuge Sie damit, dass ich sage …« nicht sinnvoll formulierbar. Wir gehen zwar davon aus, dass jemand, wenn er etwas behauptet, das Ziel hat, den anderen zu überzeugen, aber das Überzeugen ist wiederum eine Folge und damit streng genommen perlokutionär. 18 Habermas hat auf beide Kritiken mit Revisionen geantwortet (s. dazu unten ausführlicher). Zweitens wurde die Frage nach Habermas’ Gebrauch der Unterscheidung von Lebenswelt und System als Kennzeichnung konkreter gesellschaftlicher Bereiche aufgeworfen. Axel Honneth formuliert dazu: »Wenn kapitalistische Gesellschaften ... als soziale Ordnungen konzipiert werden, in der sich System und Lebenswelt als autonom gewordene Handlungssphären gegenübertreten, entstehen zwei komplementäre Fiktionen; wir unterstellen dann die Existenz von (1) normfreien Handlungsorganisationen und von (2) machtfreien Kommunikationssphären.« (Honneth 1989: 328) (vgl. auch die entsprechende Formulierung bei Habermas, PDM: 404) Hier sehen viele Kritiker einen unbefriedigenden Dualismus (vgl. u.a. Baxter 1987, Berger 1986, McCarthy 1989, Mouzelis 1991, Joas 1986), denn es lässt sich empirisch kaum behaupten, dass in Wirtschaftsorganisationen und staatlichen Bürokratien keine normativen Elemente gegeben sind. Erschwerend kommt hinzu, dass Habermas’ Unterscheidung beider Bereiche mit seiner These, dass die lebensweltlichen Bereiche be- 17 »Now the normal way of speaking of perlocutionary actions is to say that any effect whatsoever that is aimed at in speaking beyond that of understanding is called perlocutionary. ... Many such aims can perfectly well be acknowledged in the open, and there are some perlocutionary actions which don’t even need to be acknowledged since they seem to be analytically connected with the illocutionary act, such as trying to induce an intention to act in him when I tell him something in the imperative.« (Tugendhat 1992a: 437) 18 »The distinction between illocutionary and perlocutionary acts, in fact, looks unsuitable to Habermas’ purpose in that the aim of reaching understanding itself looks more like a perlocutionary aim than an illocutionary one.« (Wood 1985: 162) 126 standswichtige Strukturen der Gesellschaft ausmachen, in Einklang gebracht werden müsste. Dann müssen sie aber auch in die systemischen Bereiche vermittelt werden. Baxter und Schluchter machen hier zu Recht darauf aufmerksam (Baxter 1987: 76ff., 72, Schluchter 2007: 203ff.), dass der Dualismus zwischen lebensweltlichen und systemischen Medien an der Stelle problematisch wird, an der Habermas die Austauschbeziehungen zwischen den Systemen analysiert (vgl. TKH II: 472ff.), denn wenn die lebensweltlichen Bereiche in systemischen Austauschbeziehungen gesehen werden, dann müssten die lebensweltlichen Medien ebenso in Austauschbeziehungen mit den systemischen Bereichen stehen. Folglich würden dann aber auch Entlastungsmedien in den Systemen wirken. Tatsächlich erweisen sich Habermas’ Bemühungen hier aus dem Grunde als zweischneidig, weil er ja nicht nur von einer Trennung der Bereiche, sondern auch von ihrer Integration ausgeht und ausgehen muss. Nur so lässt sich die normative These, dass die bestandsichernden Strukturen solche der Lebenswelt sind, aufrecht erhalten (Baxter 1987: 64). Eine »Lösung«, die Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns anbietet, liegt in der Betonung der Rechte als vermittelnder Strukturen, diese mussten dann aber - wie wir gesehen haben - wiederum in zwei Formen der Rechte eingeteilt werden (Recht als Medium und Recht als Institution), um der Trennung von Lebenswelt und System Rechnung zu tragen. Diese Differenzierung von Recht als Medium und Institution wird in Faktizität und Geltung von Habermas aufgegeben (s. dazu Kapitel 13). Habermas hat auf die Kritik an der Unterscheidung beider Bereiche mit zwei Klarstellungen geantwortet. Erstens handele es sich bei den Integrationstypen um analytische Begriffe (E, 379) und zweitens träten auch in der Lebenswelt strategische Interaktionen auf (E, 383). Die Unterscheidung der beiden Integrationsformen bezeichnet folglich streng genommen lediglich unterschiedliche Perspektiven der Beobachtung sozialer Phänomene. Gleichwohl hält Habermas an zweierlei fest: Zum einen, dass für die Medien Macht und Geld gilt, dass sie in besonderer Weise auf eine zweckrationale Motivation verweisen (E, 388) und zum anderen, dass sich soziale Phänomene in unterschiedlicher Weise angemessen durch einen der beiden Typen beschreiben lassen: »Wie eine Lebenswelt ihre materiellen Bestandsvoraussetzungen reproduziert, ist immer auch aus deren eigener Perspektive zugänglich. Es hängt freilich vom Grad der Differenzierung einer Gesellschaft ab, ob diese Prozesse so unübersichtlich geworden sind, daß sie aus dieser Perspektive unzulässig verkürzt werden und unter dem Systemaspekt besser erklärt werden können.« (E, 381) Drittens wurde diskutiert, ob sich Handlungs- und Systemtheorie überhaupt miteinander verbinden lassen. In der Soziologie sind viele Autoren gegenteiliger Ansicht (Schwinn 2006, Schluchter 2007). Aus ihrer Sicht scheint Habermas’ Synthesevorschlag problematisch - und dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Analyse, die Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns hinsichtlich der Theorieentwicklung von Parsons selbst vornimmt. Dieser nehme, so Habermas, an einem ge- 127 wissen Punkt einen Wandel von der handlungstheoretischen zur systemtheoretischen Analyse vor und vermeide damit die Vermittlungsschwierigkeiten, die sich zwischen beiden Analyseformen ergeben (vgl. TKH II: 349f.). In der Diskussion um die Theorie des kommunikativen Handelns wurde auch die Frage aufgeworfen, ob es überhaupt zwingend ist, aus dem Umstand, dass Handeln nicht-intendierte Folgen hat, von einer handlungstheoretischen zu einer systemtheoretisch-funktionalistischen Erklärung überzugehen. So gibt es, wie Bohnen (Bohnen 1984) und Joas betonen (Joas 1986: 155f.), eine Reihe von Ansätzen in der Soziologie - wie etwa bei Weber, Blau, Mayntz, Boudon, Giddens, Coleman und Esser -, die den nicht-intendierten Folgen Rechnung tragen, ohne dabei den handlungstheoretischen Rahmen zu verlassen (vgl. auch Mc- Carthy 1989: 599). Hinsichtlich dieser Kritik ist freilich zu fragen, ob Habermas die Differenz beider Integrationsformen mittels der Unterscheidung von intendierten und nicht-intendierten Handlungsfolgen überhaupt verstanden wissen will. In diese Richtung deutet zwar die Formulierung in der Theorie des kommunikativen Handelns 19 , in seiner Entgegnung stellt Habermas aber klar, dass die Unterscheidung dadurch nicht fundiert ist: »Während die Mechanismen der sozialen Integration an Handlungsorientierungen ansetzen, greifen die systemintegrativen Mechanismen durch die Handlungsorientierungen hindurch und integrieren Handlungsfolgen (ob diese nun als Ergebnisse intendiert waren oder sich als unbeabsichtigte Konsequenzen einstellen).« (E, 379f.) Habermas hält demnach an der Idee einer eigenständigen Form der Handlungsregulierung aus, die sich auf die Handlungstheorie nicht reduzieren lässt. Offen bleibt - auch darauf weisen Joas (Joas 1986: 165) und McCarthy (1989: 599) hin - zudem die Frage, wie Habermas die Übernahme einer funktionalistischen Erklärungsstrategie, die ja hier greifen müsste, mit den auch von ihm geäußerten Bedenken gegen eine solche vereinbaren kann. So bleiben die technischen Fragen, die sich bei einer funktionalen Erklärung stellen, z. B. wie sie mit kausalen Erklärungen zusammenhängen, in der Theorie des kommunikativen Handelns ebenfalls weitgehend undiskutiert (vgl. Detel 2000: 183, 189). Probleme ergeben schließlich auch daraus, dass Habermas bestimmte andere Grundentscheidungen der Systemtheorie weder mittragen kann noch will. So weist er die Vorstellung zurück, das Verhältnis von Akteuren könne als System-Umwelt-Verhältnis gedacht werden. »Eine von ihren Mitgliedern durch System-Umwelt-Relationen abgetrennte Gesellschaft wäre nämlich nach Begriffen eines gesellschaftlichen Lebens, welches durch Vergesellschaftung hindurch individuiert, gestorben.« (RHM: 115; vgl. auch PDM: 442f.) 19 »… wenn wir die Mechanismen der Handlungskoordinierung, die die Handlungsorientierungen der Beteiligten aufeinander abstimmen, von Mechanismen unterscheiden, die nicht-intendierte Handlungszusammenhänge über die funktionale Vernetzung von Handlungsfolgen stabilisieren.« (TKH II, 179) 128 Viertens haben Kritiker die Frage gestellt, ob sich die Lebenswelt tatsächlich bruchlos mit dem Konzept des kommunikativen Handelns vereinbaren lässt. Habermas selbst hatte festgehalten, dass die Lebenswelt einen Kontext jeder Deutung bildet, der im Gesamten nicht gleichzeitig kommunikativ thematisiert werden kann. Dann bleiben aber in jeder Kommunikation Aspekte wirksam, für die nicht gelten kann, dass sie wie Geltungsansprüche in der Lage sind, »alle räumlichen und zeitlichen, alle provinziellen Beschränkungen des jeweiligen Kontextes« transzendieren zu können (TKH II: 586f.). Wenn lebensweltliche Kontexte jedoch immer gegeben sind, dann kann die Rationalisierung der Lebenswelt nie vollständig gelingen - die »Versprachlichung des Sakralen« stößt notwendig an Grenzen (Matthiesen (o.J.)). Fünftens blieben auch die Überlegungen zur Zeitdiagnose nicht ohne Kritik (vgl. insbesondere Maus 1986). So lässt sich zum einen die Frage stellen, ob Habermas die Verhältnisse in Familien nicht idyllisiert, denn häufig ist es ja gerade der fehlende bürokratische Eingriffvon außen, der das Leben in den privaten Beziehungen belastend werden lässt. Dass diese fehlende Einmischung sogar Katastrophen erzeugen kann, zeigt ein Blick in jede Tageszeitung. Sieht also Habermas die Durchdringung der Lebenswelt durch administratives Handeln zu negativ? Zum anderen lässt sich fragen, ob es nicht unvermeidlich ist, dass administratives Handeln in diesen Bereichen zum Zuge kommt. Schon die allgemeine Schulpflicht muss schließlich über bürokratische Erfassungen und Aktenförmigkeit abgesichert sein. Vielleicht lässt sich eine mehr oder weniger unregulierte Familie denken, kaum aber eine unregulierte Schule. Trotz dieser Einwände kann man Habermas’ Überlegungen gleichzeitig aber auch verteidigen, denn es ist nicht möglich, sich eine Familie vorzustellen, die vollständig von Regeln und staatlichem Handeln bestimmt wäre. Und häufig ist es ja sogar das Ziel staatlichen Handelns, familiäre Formen wiederherzustellen, wenn diese gescheitert sind. So schaffen Kinderdörfer beispielsweise »Ersatz«-Familien. Für die Schulen wird man sagen können, dass eine Überregulierung dazu führen kann, den unterschiedlichen Bedürfnissen von Kindern nicht angemessen Rechnung tragen zu können. Darauf weisen viele reformpädagogische Bemühungen schon lange hin. Desgleichen erweisen sich auch die Schulsysteme im internationalen Vergleich als erfolgreicher, die mehr Wert auf individuelle Förderung legen. Im Ganzen wirkt die Entgegensetzung von Selbstregulierung und bürokratischer Regulierung bei Habermas dennoch zu strikt. Wie so oft kommt es wohl auf die richtige Mischung an, insbesondere aber darauf, dass Recht und Bürokratie die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass sich in Familie und Schule Freiheit und Selbstorganisation überhaupt erst entfalten können. Revisionen im Anschluss an die Theorie des kommunikativen Handelns. Das Kapitel schließt mit der Darstellung von drei Revisionen, die Habermas am Konzept des kommunikativen Handelns vorgenommen hat und die einen direkten Zusammenhang mit den oben angeführten handlungstheoretischen Bedenken aufweisen. Die 129 erste Revision bezieht sich auf die Imperative, die zweite auf die Perlokutionen und die dritte - gravierendste - Revision zieht aus beiden Revisionen die weitreichende Konsequenz, zwei Formen des kommunikativen Handelns zu unterscheiden: eine schwache und eine starke Form. Revision des Imperativkonzeptes Habermas hat im Anschluss an die Kritiken von Skjei, Tugendhat und Zimmermann (Skjei 1985, Tugendhat 1992a, Zimmermann 1985) die These einer strikten Trennbarkeit beider Aufforderungsklassen aufgegeben. Im Vorwort zur dritten Auflage der Theorie des kommunikativen Handelns formuliert er die revidierte Perspektive folgendermaßen: »Zwar ist es richtig, daß mit einfachen Imperativen ein handlungskoordinierender Bindungseffekt über einen Macht- und nicht über einen Geltungsanspruch erzielt wird; es war aber falsch, das Funktionieren dieses Machtanspruchs nach dem Vorbild der strategischen Einflußnahme auf einen Gegenspieler zu analysieren. Nur in Grenzfällen findet eine imperativische Willensäußerung Nachachtung allein aufgrund nackter Unterwerfung unter die Gewalt angedrohter Sanktionen. Im Normalfall funktionieren einfache Imperative durchaus im Rahmen kommunikativen Handelns, weil die Machtstellung, auf die der Sprecher den mit seinem Imperativ erhobenen Anspruch stützt, von den Adressaten anerkannt wird - und selbst dann anerkannt wird, wenn sich diese Stellung auf faktisch eingewöhnte Macht, jedenfalls nicht ausdrücklich auf normative Autorität stützt. Ich will also plausibel machen, daß sich die scharfe Abgrenzung zwischen normativ autorisierten und einfachen Imperativen nicht aufrechterhalten läßt, daß vielmehr ein Kontinuum zwischen der bloß faktisch eingewöhnten und der in normative Autorität verwandelten Macht besteht. Dann lassen sich nämlich alle Imperative, denen wir eine illokutionäre Kraft zuschreiben, nach dem Muster normativ autorisierter Aufforderungen analysieren. Was ich fälschlicherweise für einen kategorialen Unterschied gehalten habe, schrumpft aus dieser Sicht zu einem graduellen.« (TKH I: 6, vgl. auch E, 361f.) sowie Habermas (Habermas 1985b: 112) Welche Folgerungen ergeben sich demnach für den Zusammenhang von Aufforderungen und kommunikativem bzw. strategischem Handeln? Im Lichte der nun vertretenen Kontinuumsthese lässt sich die Vorstellung nicht mehr aufrechterhalten, die Geltungs- oder die Machtbasiertheit von Imperativen erlaube eine eindeutige Klassifikation von Aufforderungstypen, wenn auch geltungsbasierte Aufforderungen zugleich auf Macht verweisen können. Daraus folgt dann auch, dass sich Imperative in der Regel nicht eindeutig der einen oder der anderen Handlungsmotivation zuordnen lassen. Eine Aufforderung kann demnach zugleich aufgrund des Verweises auf Macht wie 130 auch auf Geltung handlungsmotivierend sein und also sowohl mittels einer rationalen wie auch einer empirischen Motivation Nachachtung erzwingen. Tab. 15: Revidierte Fassung des Verhältnisses von einfachen und normativ autorisierten Aufforderungen zu den Interaktionstypen Interaktionstypen Kommunikativ Kommunikativ manifest-strategisch Mechanismen der Handlungskoordination Anerkennung von: Geltung Anerkennung von: Macht Macht Klasse von Aufforderungen normativ autorisierte Aufforderungen einfache Imperative einfache Imperative Kontinuum von autorisierte Macht <------------------> eingewöhnte Macht <-------------? ----> bloße Macht Revision des Perlokutionskonzepts Die zweite Revision bezieht sich auf das Konzept der Perlokutionen. In Nachmetaphysisches Denken nimmt Habermas auch hier eine Veränderung vor. Jetzt unterscheidet er drei verschiedene Formen von perlokutionären Effekten: »Das Verstehen und das Akzeptieren von Sprechhandlungen habe ich unter illokutionäre Erfolge subsumiert; ›perlokutionär‹ sollen alle darüber hinausgehenden Ziele und Effekte heißen. Von den perlokutionären Effekten 1 , die sich aus der Bedeutung des Sprechaktes ergeben, will ich perlokutionäre Effekte 2 unterscheiden, die sich nicht als grammatisch geregelte Erfolge aus dem Gesagten selbst ergeben, sondern auf kontingente Weise, jedoch bedingt durch einen illokutionären Erfolg einstellen: H versteht (illokutionärer Erfolg 1 ) und akzeptiert (illokutionärer Erfolg 2 ) die Aufforderung, dem Y etwas Geld zu geben. H gibt dem Y ›etwas Geld‹ (perlokutionärer Erfolg 1 ) und erfreut damit dessen Frau (perlokutionärer Erfolg 2 ) ... Anders verhält es sich, wenn der Sprecher den Adressaten mit seiner Aufforderung dazu veranlassen will, dem Y mit dem erhaltenen Geld die Vorbereitung zu einem Einbruch zu ermöglichen, wobei S annimmt, daß diese Straftat von H nicht gebilligt würde. In diesem Falle wäre die Ausführung der geplanten Straftat ein perlokutionärer Effekt 3 , der nicht zustande käme, wenn der Sprecher ihn von vornherein als Ziel deklarieren würde.« (ND: 71) Damit ist für das kommunikative Handeln nicht mehr konstitutiv, dass der kommunikativ Handelnde keine perlokutionären Effekte intendiert, sondern welche perlokutionären Effekte er intendiert. Mit der Klasse der perlokutionären Effekte 1 kann Habermas die Fälle perlokutionärer Ziele in das Modell integrieren, auf die Tugendhat in seiner Kritik hingewiesen hat, nämlich solche Ziele, die relativ direkt mit illokutionä- 131 ren Akten verknüpft sind, wie das Warnen mit dem Alarmieren, das Versprechen mit der Annahme des Versprechens, das Gründe anführen mit dem überzeugen wollen etc. Die Klasse der perlokutionären Effekte 2 umfasst hingegen solche Ziele, die - wie das Erfreuen, Aufmuntern, Trösten, Beleidigen, Demütigen etc. - im Gegensatz zu den perlokutionären Zielen 1 nicht direkt mit bestimmten illokutionären Akten verbunden sind. Ob diese Habermas zufolge dem kommunikativen oder dem strategischen Handeln zugerechnet werden müssen, wird aus seinen Ausführungen nicht ganz deutlich. 20 Das hängt mutmaßlich damit zusammen, dass es sich bei diesen Zielen um solche handelt, die vom Hörer durchschaut werden können (z. B. erfreuen, ärgern) oder sogar müssen (z. B. trösten, demütigen), bei denen aber gleichwohl das Eintreten des Effekts nicht notwendig davon abhängt, dass der Hörer dieses Ziel auch akzeptiert. Das führt zur dritten Klasse perlokutionärer Effekte, der Klasse der Täuschungen. Aus der Perspektive des Hörers hängt die Akzeptabilität davon ab, ob er unterstellt, dass der Sprecher mit seiner Äußerung ein Ziel verfolgt, das der Hörer akzeptieren könnte. Damit dehnen sich die Akzeptabilitätsbedingungen weit über den manifesten Gehalt der Äußerung aus, denn offensichtlich schließt die Äußerung »Ich bitte Dich um Geld« keine Aussage über das Motiv des Sprechers ein: »Die von illokutionären zunächst rein bedeutungstheoretisch abgegrenzten perlokutionären Effekte können dann handlungstheoretisch verschieden beschrieben werden, je nachdem ob sie öffentlich und konsensfähig im Rahmen gemeinsamer Situationsdeutungen auftreten oder ob sie strategisch bezweckt sind und nicht deklariert werden dürfen.« (ND: 133 - Fßn.31) Hier wird nun fragwürdig, wieweit die sprechakttheoretische Unterscheidung zwischen perlokutionären und illokutionären Akten noch etwas zur Aufklärung der handlungstheoretischen Unterscheidung beitragen kann, denn der Widerspruch, den Habermas jetzt rekonstruiert, ist einer zwischen unterstellten Handlungsmotiven. 21 In diesem Sinne ist wohl auch Habermas’ - im Anschluß an Woods (Wood 1985) Analyse - geübte Selbstkritik zu verstehen, die »bedeutungstheoretische Unterscheidung« von illokutionären und perlokutionären Akten »kurzschlüssig mit der handlungstheoretischen Unterscheidung von verständigungsorientiertem und erfolgsorientiertem Handeln zusammengebracht« zu haben (ND: 133 - Fßn.31). Offensichtlich entscheidet nun über den kommunikativen Charakter nicht der perlokutionäre Effekt, sondern die Absicht, einen bestimmten perlokutionären Effekt zu erzielen. Von der Unterscheidung zwischen Illokutionen und Perlokutionen hängt das aber nicht ab. 20 Während die Klasse nicht-deklarierter, aber deklarierbarer Sprechakte den Ausführungen in Nachmetaphysisches Denken wohl dem kommunikativen Handeln zuzuordnen ist (vgl. ND: 133 - Fßn.31), wäre sie der »Entgegnung« zufolge dem strategischen Handeln zuzurechnen (E, 363). 21 Vgl. auch den von Skjei geäußerten Verdacht: »The problem appears to me as follows: Habermas wants to explain the concept of ›communicative action‹ on the basis of a structural analysis of language, but he ends by explaining it on the basis of the speaker’s attitude.« (Skjei 1985: 93) 132 Revision des Begriffs des kommunikativen Handelns Auf das Problem einer Zuordnung von Sprechakttypen und Handlungstypen reagiert auch eine Revision, die Habermas 1996 in Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriffder kommunikativen Rationalität vorgenommen hat. Für Habermas ergeben sich jetzt vier Klassen des Sprachgebrauchs: ein nicht-kommunikativer Sprachgebrauch, • ein verständigungsorientierter Sprachgebrauch (der durch den Bezug auf Wahr- • heit und Wahrhaftigkeit gekennzeichnet ist), ein einverständnisorientierter Sprachgebrauch (der auf Wahrheit, Wahrhaftig- • keit und Richtigkeit bezogen ist) ein strategischer Sprachgebrauch. • Die erste Klasse von Sprechakten umfasst monologisch gebrauchte Sprechakte. Diese sind unabhängig von illokutionären Akten verständlich, mit den Mitteln der formalen Semantik analysierbar und beziehen sich nicht wesentlich auf eine Reaktion des Adressaten. Der zentrale Wandel in Habermas’ revidiertem Modell besteht aber in der Einführung der Klasse verständigungs-, aber nicht einverständnisorientierter Sprechakte. Hierbei handelt es sich um Absichtssätze und einfache Imperative (vgl. Habermas 1996, in WR: 128f.). Habermas reagiert mit dieser Revision auf die oben angeführte Kritik, dass Imperative illokutionäre Sprechakte sind, die gleichwohl strategisch sein können. Tab. 16: Typen des Sprachgebrauchs Äußerungen Verwendungsweise Aussage- und Absichtssätze ›in mente‹ (›reine‹ Darstellung und ›monologische‹ Handlungsplanung) nicht-kommunikativ normativ nicht-eingebettete Willensäußerungen (einfache Imperative, Ankündigungen) verständnisorientiert vollständige illokutionäre Akte (normativ, konstativ, expressiv) einverständnisorientiert Perlokutionen folgenorientiert (indirekte Verständigung) Aus: WR: 129 Mit dieser Revision erkennt Habermas demnach an, dass es kommunikatives Handeln gibt, das nicht notwendig auf Einverständnis gerichtet ist. Die starke These, es läge im Charakter sprachlicher Verständigung überhaupt, auf Einverständnis zu verweisen, wird folglich nicht mehr aufrechterhalten. Nicht in jeder sprachlichen Äußerung liegt schon der normative Maßstab einer kritischen Theorie. 133 V. Nachmetaphysisches Denken 12. Der philosophische Diskurs der Moderne und das nachmetaphysische Denken Im Philosophischen Diskurs der Moderne nimmt Habermas seine Überlegungen zum Rationalitätspotential der Moderne auf und verteidigt dieses gegen konkurrierende Deutungen. Standen in der Theorie des kommunikativen Handelns soziologische Positionen im Mittelpunkt, so sind es diesmal philosophische. Die Stoßrichtung der Argumentation ist aber insofern dieselbe, als es Habermas auch hier darum geht, zu zeigen, dass eine berechtigte Kritik an der instrumentellen Vernunft nur dann zu einer generellen Vernunftkritik führen muss, wenn man nicht anerkennt, dass in der kommunikativen Vernunft ein breiteres Potential der Vernunft angelegt ist, das die berechtigte Kritik an einer instrumentellen Verkürzung der Vernunft zu überwinden vermag: Erst, »wenn das Paradigma des Selbstbewußtseins, des Selbstbezugs des einsam erkennenden und handelnden Subjekts, durch ein anderes ersetzt wird durch das Paradigma der Verständigung, d.h. der intersubjektiven Beziehung kommunikativ vergesellschafteter und sich reziprok anerkennender Individuen [, …, J.G.] dann tritt die Kritik am verfügenden Denken der subjektzentrierten Vernunft in bestimmter Form auf […, J.G.], die nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Vernunft diagnostiziert.« (PDM, 361) Mit dem Konzept des kommunikativen Handelns, der Diskurstheorie und der Unterscheidung von Lebenswelt und System hat Habermas die Grundlagen seines Rationalitätskonzeptes erarbeitet, das ihm für sein als nachmetaphysisches Denken bezeichnetes Konzept eine hinreichende Basis zu liefern verspricht. Habermas’ Diagnosen in Der philosophische Diskurs der Moderne und in Nachmetaphysisches Denken beruhen nun auf der These, dass Metaphysik, Bewusstseinsphilosophie und Vernunftkritik dann überwunden werden können, wenn die linguistische Wende ernst genommen und in der richtigen Weise verstanden wird. Habermas entwickelt dies in Nachmetaphysisches Denken im Rahmen einer dialektisch verfahrenden Darstellung der Philosophiegeschichte. Dabei orientiert er sich an der oben (s. Kapitel 8) bereits angesprochenen Dreiteilung: auf die Phase der Ontologie folgt die Phase der Bewusstseinsphilosophie und auf diese der linguistic turn. Gemäß Habermas’ Auffassung wird die metaphysische Perspektive der Ontologie durch die Wende zur Bewusstseinsphilosophie zwar anders gefasst, im Grundsatz aber weitergeführt. Darauf folge eine Verunsicherung des metaphysischen Denkens, die zur Suche 134 nach Auswegen führe, die aber im Rahmen des bewusstseinphilosophischen Denkens nicht befriedigend geleistet werden könnten. Habermas unterscheidet drei Elemente des metaphysischen Denkens: Erstens, ein Identitätsdenken, d. h. eine Auffassung der Wirklichkeit als einer Ganzheit, die entsprechend als Einheit (des Seins und des Denkens) verstanden werden kann (ND, 36). Zweitens, ein idealistisches Denken, also eines, das Erkenntnis im Bereich des reinen Denkens verortet und die natürlichmaterialistische Kennzeichen der Wirklichkeit übersieht oder den Ideen unterordnet (ND, 37f.). Drittens, die Privilegierung der reinen Theorie, d. h. der Vorstellung, dass dem reinen Denken, nicht der praktischen Anwendung der höchste Anspruch auf Erkenntnis zukommt (ND, 39f.). Diese metaphysischen Prämissen werden nun Habermas zufolge in der Bewusstseinsphilosophie bis Hegel weitergeführt (ND, 40). Im wesentlichen vollzieht die Bewusstseinsphilosophie aus der Sicht von Habermas lediglich einen Wandel des Bezugspunktes, von dem aus Identität, Idealismus und reine Theorie als Fundamente des Philosophierens gedacht werden: An die Stelle des Seins tritt die Subjektivität: »Das Selbstbewußtsein, die Beziehung des erkennenden Subjekts zu sich, bietet seit Descartes den Schlüssel zur innerlichen und absolut gewissen Sphäre der Vorstellungen, die wir von den Gegenständen haben. So kann das metaphysische Denken im Deutschen Idealismus die Gestalt von Theorien der Subjektivität annehmen. Das Selbstbewußtsein wird entweder als spontane Quelle transzendentaler Leistungen in eine fundamentale Stellung gebracht [Kant, J.G.] oder als Geist selbst zum Absoluten erhoben [Hegel, J.G.].« (ND, 39) Habermas zufolge werden diese Annahmen des metaphysischen Denkens, die demnach in transformierter Form in der Bewusstseinsphilosophie weiterleben, nun durch vier »letztlich gesellschaftlich bedingte« (ND, 41) Entwicklungen herausgefordert, die den Übergang zu einem nachmetaphysischen Denken motivieren: - »Das totalisierende, auf das Eine und Ganze gerichtete Denken wird durch den neuen Typus der Verfahrensrationalität in Frage gestellt, der sich seit dem 17. Jahrhundert mit der erfahrungswissenschaftlichen Methode der Naturwissenschaften und seit dem 18. Jahrhundert mit dem Formalismus sowohl in der Moral- und Rechtstheorie wie auch in den Institutionen des Verfassungsstaates durchsetzt. Diese erschüttern das philosophische Erkenntnisprivileg. - Im 19. Jahrhundert entstehen die historisch-hermeneutischen Wissenschaften, welche die neuen Zeit- und Kontingenzerfahrungen in einer immer komplexer werdenden modernen Wirtschaftsgesellschaft spiegeln. Durch den Einbruch des Geschichtsbewußtseins gewinnen die Dimensionen der Endlichkeit gegenüber einer idealistisch verhimmelten, nicht-situierten Vernunft an Überzeugungskraft. Dadurch kommt eine Detranszendentalisierung der überlieferten Grundbegriffe in Gang. - Während des 19. Jahrhunderts verbreitet sich sodann die Kritik der Verdinglichung und Funktionalisierung von Verkehrs- und Lebensformen sowie am objektivisti- 135 schen Selbstverständnis von Wissenschaft und Technik. Diese Motive fördern auch die Kritik an den Grundlagen einer Philosophie, die alles in Subjekt-Objektbeziehungen preßt. In diesem Zusammenhang steht der Paradigmenwechsel von der Bewußtseinszur Sprachphilosophie. - Schließlich erhält auch der klassische Vorrang der Theorie vor der Praxis den immer deutlicher hervortretenden Interdependenzen nicht länger stand. Die Einbettung theoretischer Leistungen in ihre praktischen Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge weckt das Bewußtsein für die Relevanz der alltäglichen Kontexte des Handelns und der Kommunikation. Diese erlangen beispielsweise mit dem Konzept des lebensweltlichen Hintergrundes philosophischen Rang.« (ND, 41f.) Der historischen Situierung der Herausforderung des metaphysischen Denkens entsprechend beginnt Habermas im Philosophischen Diskurs der Moderne seine Auseinandersetzung mit der modernen Vernunftkritik mit Hegel - aus seiner Sicht steht dieser am Ende einer Philosophiegeschichte, die noch einigermaßen ungebrochen an das metaphysische Erbe anschließen konnte. Warum kommt es zum Bruch damit? Im Philosophischen Diskurs der Moderne betont Habermas neben den eben genannten Punkten das wachsende Bewusstsein für das Auseinandertreten der Vernunftmomente, also von Theoretischem, Praktischem, Politischem, Ästhetischen etc. Dies ist verbunden mit einem Gesellschaftswandel, in dem diese Momente sich (s. dazu Kapitel 11) nicht nur nach ihrem Geltungssinn ausdifferenzieren (vgl. Max Webers These vom Auseinandertreten der Wertsphären), sondern in Form von Expertenkulturen und eigenständigen Handlungsbereichen auseinander treten. Unter diesen Bedingungen versage, so Habermas, Subjektivität als Einheitsprinzip des Denkens und der Gesellschaft (PDM, 31). Hegel löse dieses Problem dadurch, dass er - der Grundidee nach ähnlich wie in Rousseaus volonté générale - einen gleichsam kollektiven Willen denkt, der den Gegensatz des Individuellen und Sozialen aufheben soll - bei Hegel in Gestalt des Staates. Das alternative Modell einer Sozialität, die aus Intersubjektivität entspringt, sei in den Frühschriften Hegels zwar vorhanden, werde aber von Hegel dann fallengelassen. Auch hier stehen für Habermas wieder die Prämissen der Bewusstseinsphilosophie im Wege: »Ein anderes Modell für die Vermittlung des Allgemeinen und des Einzelnen bietet die höherstufige Intersubjektivität der ungezwungenen Willensbildung in einer unter Kooperationszwängen stehenden Kommunikationsgemeinschaft […, J.G.]. Die Logik des sich selbst begreifenden Subjekts erzwingt hingegen den starken Institutionalismus eines starken Staates.« (PDM, 54) Ausgehend hiervon sieht Habermas drei Wege der Vernunftkritik. Die »linkshegelianische« bei Autoren wie Feuerbach, Kierkegaard und Marx, die an die Stelle des Hegelschen Geistes eine materialistische Anthropologie oder Geschichtsauffassung setzen; die Rechtshegelianer, die die Bedeutung von Staat und Religion radikalisieren; und 136 schließlich Nietzsches Position, der aus der Vernunftkritik zwei miteinander verbundene Konsequenzen zieht, die sich in Spielarten in den folgenden Formen der Vernunftkritik wieder finden lassen: zum einen eine Radikalisierung des Subjektiven, das durch keine Vernunft begrenzt oder gekennzeichnet ist und zu anderen eine Reduktion der Vernunft auf Macht (PDM, 117ff.). Die Problemlage der Dialektik der Aufklärung lässt sich von hier aus verstehen: Horkheimer und Adorno können der instrumentellen Auffassung von Macht als Vernünftigkeit keinen Maßstab mehr entgegensetzen, wenn diese Vernunft einmal total geworden ist: »Vernunft hat sich, als instrumentelle, an Macht assimiliert und dadurch ihrer kritischen Kraft begeben« (PDM, 144). Habermas attestiert auch Heidegger, dass er zu keiner befriedigenden Antwort auf die Herausforderung durch die Moderne gelangt. Wie bei Hegel sieht Habermas bei Heidegger zwar die Ansätze einer Theorie der Intersubjektivität (»Mitsein« des Daseins). Letzterer vollzieht dann aber bereits in Sein und Zeit eine Abkehr von diesen Ausgangspunkten und geht davon aus, dass das »eigentliche« Sein gerade in der Abkehr von dieser grundlegenden Intersubjektivität zu suchen sei (PDM, 176). Habermas führt dies auf Heideggers Anschluss an Husserls Begriffder Intersubjektivität zurück (PDM, 178). Unter der bei Husserl vorgenommenen Konstruktion des Intersubjektivitätsproblems als eines, das von einem prinzipiell nur sich selbst zugänglichen Subjekt ausgeht, ist das Intersubjektivitätsproblem nicht zu lösen (ND, 49f.). 1 Heidegger wählt aus Sicht von Habermas mit seiner später vollzogenen »Kehre« einen radikalen Ausweg - die Abkehr von einer überhaupt an der Subjektivität und an Begründungsansprüchen ansetzenden Philosophie. 2 Für Habermas ist Heideggers Philosophie damit am Ende wieder »Ursprungsphilosophie«, also eine solche, die an einem aller Vernunft zugrunde liegenden ursprünglichen Sein festhält. Im Sinne einer nichtgelingenden Überwindung der Ursprungsphilosophie interpretiert Habermas auch die Arbeit von Jacques Derrida (PDM, 210f.). Derridas Innovation in der Sprachphilosophie besteht in einer Radikalisierung der strukturalistischen Sprachauffassung, die Ferdinand de Saussure begründet hatte. Der Strukturalismus geht davon aus, dass sich die sprachlichen Strukturen nicht auf Strukturen einer objektiven Welt oder Sprecherabsichten zurückführen lassen, sondern auf die Beziehung zwischen den sprachlichen Zeichen selbst. Derrida verortet die dadurch markierten Differenzen in der Schrift 1 Zu diesem Schluss gelangte auch Schütz und sah die »Lösung« ähnlich wie Habermas im Rekurs auf die Lebenswelt: »Die Ergebnisse der vorstehenden Analysen nötigen die Einsicht auf, daß Husserls Versuch, die Konstitution der transzendentalen Intersubjektivität aus den Bewußtseinsleistungen des transzendentalen Ego zu begründen, nicht gelungen ist. Es steht zu vermuten, daß Intersubjektivität nicht ein innerhalb der transzendentalen Sphäre lösbares Problem der Konstitution, sondern eine Gegebenheit der Lebenswelt ist.« (Schütz 1971: 116) 2 Habermas sieht hier einen Zusammenhang mit Heideggers Engagement im Nationalsozialismus: »Ich vermute, daß Heidegger nun über seine vorübergehende Identifikation mit der Bewegung des Nationalsozialismus, der er noch 1935 innere Größe und Wahrheit attestiert hat, den Weg zur temporalisierten Ursprungsphilosophie der Spätzeit finden konnte.« (PDM, 184) Vgl. auch die später durch das Buch von Farías (Farías 1989) erneut aufgeflammte Debatte über den Zusammenhang des politischen und des philosophischen Denkens bei Heidegger. Vgl. auch Habermas’ Vorwort zum Buch von Farías (auch in Habermas 1991: 49-83). 137 und löst sich damit zugleich von der in seinen Augen auch die strukturalistische Tradition bestimmende Bindung von Sprache an lautliche Äußerungen. Indem Derrida diese Differenzen schließlich auf eine »Urschrift« zurückbezieht, folgt er in den Augen von Habermas letztlich wieder einer ursprungsphilosophischen Figur. Habermas fragt im Anschluss daran, in welchem Maße sich die fiktive und poetische Sprachverwendung von der normalen Verwendung der Sprache unterscheiden lässt. Hier bezieht er sich auf eine zwischen Derrida und Searle ausgetragene Debatte (Searle 1977, Derrida 1977, Derrida 2001, Culler 1988). Habermas nimmt sie auf, weil sie für die Frage der Universalpragmatik nicht unerheblich ist: Wenn sich die Unterscheidung zwischen einem ernsthaften und wörtlichen und einem fiktionalen und nicht-wörtlichen Gebrauch der Sprache nicht treffen lässt, dann wäre die Verständlichkeit der Sprache nicht notwendig an die Einlösung von Geltungsansprüchen gebunden. Habermas verteidigt daher diese Grenzziehung (PDM, 219ff.). Auf die Auseinandersetzung mit Derrida folgt eine mit Georges Bataille und Michel Foucault. Während Habermas bei Bataille eine Vernunftkritik vorfindet, die an das Moment des Unverfügbaren in der Erfahrung des Heiligen (bei Bataille im Erotischen verkörpert) anknüpft, folgt Foucault der bei Nietzsche bereits angelegten Konsequenz, einer Verallgemeinerung des Machtbegriffs: »Macht ist das, womit das Subjekt in erfolgreichen Handlungen auf Objekte einwirkt. Dabei hängt der Handlungserfolg von der Wahrheit der in den Handlungsplan eingehenden Urteile ab; über das Kriterium des Handlungserfolges bleibt Macht von Wahrheit abhängig. Diese Wahrheitsabhängigkeit der Macht kehrt Foucault kurzerhand in eine Machtabhängigkeit von Wahrheit um. Deshalb braucht die fundierende Macht nicht länger an die Kompetenzen handelnder und urteilender Subjekte gebunden zu sein - die Macht wird subjektlos.« (PDM, 323) (vgl. zu den Problemen des Foucaultschen Machtbegriffs auch die Kritik von Honneth 1989: 121ff.). Niklas Luhmanns Systemtheorie betrachtet Habermas (dabei an seine früheren Deutungen anschließend) ebenfalls als einen Weg, die unter modernen Bedingungen sichtbar gewordenen Schwierigkeiten der Bewusstseinsphilosophie zu überwinden und dies auf dem Wege ihrer radikalen Verabschiedung: »Die selbststeigernde Selbsterhaltung des Systems ersetzt die im Hinblick auf Sein, Denken oder Aussage bestimmte Vernunft. Mit diesem Ansatz überholt Luhmann auch eine Vernunftkritik, die die Macht der Selbstbehauptung als das latente Wesen einer aufs Subjekt zentrierten Vernunft entlarven will. Unter dem Namen der Systemrationalität bekennt sich die als unvernünftig liquidierte Vernunft zu genau dieser Funktion: sie ist das Ensemble der Ermöglichungsbedingungen für Systemerhaltung.« (PDM, 431) 138 In Der philosophische Diskurs der Moderne und Nachmetaphysisches Denken klärt Habermas, inwiefern ein Konzept des kommunikativen Handelns den oben benannten Herausforderungen durch die Moderne begegnen kann (für das Folgende, ND 41ff.): Im Hinblick auf die Herausforderungen der Wissenschaft müsse die Philosophie die Fehlbarkeit des Wissens, einen privilegierten Wahrheitszugang und den Anspruch auf eine ihr eigene Methode fallenlassen. Dennoch könne sie erstens einen eigenständigen Beitrag innerhalb des Wissenschaftssystems leisten, »nämlich« durch »ihre hartnäckig beibehaltenen universalistischen Fragestellungen und ein Verfahren rationaler Nachkonstruktion, das ans intuitive, vortheoretische Wissen kompetent sprechender, handelnder und urteilender Subjekte anknüpft«, zweitens dieses Verfahrens wegen aber auch eine vermittelnde Funktion zwischen Wissenschaft und Lebenswelt einnehmen, in »der Rolle eines Interpreten, der zwischen den Expertenkulturen von Wissenschaft und Technik, Recht und Moral einerseits, der kommunikativen Alltagspraxis andererseits vermittelt« (ND, 46). Was die Detranzentalisierung der Vernunft angeht, so beruft sich Habermas auf die Rolle der Sprache: »Die sprach- und handlungsfähigen Subjekte, die sich vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Sprache über etwas in der Welt verständigen, verhalten sich zum Medium ihrer Sprache sowohl autonom wie abhängig: sie können sich der grammatischen Regelsysteme, die ihre Praxis erst ermöglicht, auch zu eigenen Zwecken bedienen.« (ND, 51) 3 Das Subjekt-Objekt-Schema der Bewusstseinsphilosophie werde in der pragmatischen Fassung der linguistischen Wende ebenfalls überwunden. Habermas beruft sich hier auf die sprachliche Intersubjektivität, die gleichwohl das Individuelle nicht zum Verschwinden bringe: »Weil die Intersubjektivität sprachlicher Verständigung von Haus aus porös ist, und weil der sprachlich erzielte Konsens in der Übereinstimmung die Differenzen der Sprecherperspektiven nicht tilgt, sondern als unaufhebbar voraussetzt, eignet sich das verständigungsorientierte Handeln auch zum Medium von Bildungsprozessen, die beides in einem ermöglichen: Vergesellschaftung und Individuierung.« (ND, 56f.) Auch der Herausforderung nach der Frage des Vorrangs der Theorie lasse sich mit den Mitteln des Konzepts des kommunikativen Handelns begegnen: »Sie [eine Philosophie, die von der Lebensweltperspektive ausgeht, J.G.] entdeckt eine schon in der kommunikativen Alltagspraxis selbst operierende Vernunft. Hier 3 Vgl. auch die Überlegungen zum quasi-tranzendentalen Status der rationalen Rekonstruktion (s. oben). 139 verschränken sich zwar die Ansprüche auf propositionale Wahrheit, normative Richtigkeit und subjektive Wahrhaftigkeit innerhalb eines konkreten, sprachlich erschlossenen Welthorizonts; als kritisierbare Ansprüche transzendieren sie aber zugleich die Kontexte, in denen sie jeweils formuliert und geltend gemacht werden.« (ND, 59) 4 Um Habermas’ Konzept des nachmetaphysischen Denkens drehen sich viele Diskussionen - hier kann nur auf einige hingewiesen werden. Übergangen werden an dieser Stelle solche, die sich auf die Frage beziehen, in welchem Maße Habermas den von ihm kritisierten Autoren hinlänglich gerecht geworden ist (strittig ist dies insbesondere im Hinblick auf seine Deutung Derridas, vgl. dazu Blank 2006, Kimmerle 1988, Rorty 2000: 26ff.). Eine umfangreiche Diskussion kreist um den Begriffder »Welterschließung«. Diese Diskussion hat zwei verschiedene Aspekte. Für Habermas meint die welterschließende Funktion der Sprache die poetische Rolle der Sprache (PDM, 236, 243, ND, 242). Die eine Diskussion, auf die Habermas sich in Der philosophische Diskurs der Moderne bezog, kreiste um die Frage nach der Abgrenzbarkeit und Bestimmung des Fiktiven und Poetischen. Die weitergehende Frage nimmt den umfassenderen Begriffder Welterschließung im Anschluss an Heidegger auf. Habermas wehrt sich gegen Heideggers Begriffder Welterschließung, weil damit die Leistung der Sprache in einer Weise hypostatisiert werde, dass die Sprache »sich nicht mehr daran zu bewähren« brauche, »ob sie das Seiende in der Welt faktisch erhellen kann.« (PDM, 183, vgl. auch 243 im Hinblick auf Rorty und Derrida, sowie ND, 105). Die Frage, die sich hieraus für die Kritiker ergab, lautete, ob aber nicht die daraufhin von Habermas vorgenommene Unterscheidung in die poetische, welterschließende und die »innerweltlichen« Sprachfunktionen (PDM, 393, E, 344) übersieht, dass die Sprache immer auch die Funktion besitzt, ein Weltverhältnis allererst zu ermöglichen, von dem aus erst dann Geltungsansprüche geprüft werden können. Diese welterschließende Kraft lasse sich nicht allein auf fiktionale Texte beziehen, sondern reiche - so die Kritik (vgl. Seel 1993, Kompridis 1993) weiter. Habermas trägt dem später durch die Überlegung Rechnung, dass es ein kontexterweiterndes sprachliches Verhalten gibt, das mögliche Erfahrungskontexte überhaupt erst hervorbringt. Er hält aber weiterhin gegen Heidegger daran fest, dass damit die Notwendigkeit einer innerweltlichen Bewährung nicht entfällt (WR, 65ff.). Von Dieter Henrich stammt eine umfassende Kritik an Habermas’ Auffassung des Konzepts eines nachmetaphysischen Denkens. 5 Zum einen kritisiert Henrich, dass sich 4 Vgl. auch ND, 55: »was ein Sprecher hier und jetzt, in einem gegebenen Kontext als gültig behauptet, transzendiert seinem Anspruch nach alle kontextabhängigen, bloß lokalen Gültigkeitsstandards.« 5 Henrich formuliert sie in einer Replik zu einer Sammelrezension, die Habermas für den Merkur (Heft 439/ 440, 1985, S. 898-905) verfasst hatte (auch in ND, 267-279). Diese Replik ist ebenfalls zunächst im Merkur (Heft 442,1986, S. 495-508) erschienen, in erweitere Fassung dann in Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit (Henrich 1987). Insbesondere die ersten drei der in Nachmetaphysisches Denken gesammelten Texte sind vor diesem Hintergrund verfasst. Vgl. zu dieser Debatte auch die Studie von 140 metaphysische Problemstellungen nicht überwinden lassen. Henrich vermutet hier im Rekurs auf Kant vielmehr Fragen, die sich aus der menschlichen Verfassung ergeben und daher »unabweisbar« sind: »Wie denkst Du zuletzt von Dir, wenn Du im Blick auf alles, was Dir bekannt ist und was Du zu unterscheiden weißt, Dir Rechenschaft darüber gibst, was und wer Du eigentlich bist? « (Henrich 1987: 16). Nach Henrich werden diese Fragen umso dringlicher, je mehr die alltägliche Erfahrung einen notwendigen Konflikt innerhalb der Weltverhältnisse erfahrbar macht: »Denn es spricht viel dafür, daß wir Normen anerkennen müssen, für die wir keine zwingende Begründung geben können. Und die Vertrautheit, in der ein Leben an ein anderes gebunden ist, schließt es in wesentlichen Situationen aus, die Beziehung als unter die Normen strikter Allgemeinheit gestellt zu sehen. Schon diese Konflikte zwingen dazu, auf ein Umfassenderes hinzudenken, in dem die Konflikte zuletzt zu lösen wären und damit eine Selbstbeschreibung in einer Dimension gewonnen werden könnte, in der die primären Selbstbeschreibungen zusammengeführt sind.« (Henrich 1987: 17) Nach Henrich kann Habermas diese metaphysische Grundproblematik aufgrund von drei - in Henrichs Augen verfehlten - Ansichten zurückweisen. Erstens aufgrund einer Naturalisierung der Vernunft, die solche Fragen der Wissenschaft überantworte. Zweitens, weil Habermas ein unangemessenes Verständnis des Selbstbewusstseins zugrunde lege. Habermas reduziere dieses nämlich zu Unrecht auf sprachliche Interaktion. Im Rekurs auf neuere Arbeiten zur Irreduzibilität der subjektiven Perspektive (insbesondere von Thomas Nagel) betont Henrich dagegen die Gleichursprünglichkeit von Subjektivität und Sprachstruktur: »Denn es erweist sich, daß das Funktionieren der sprachlichen Kommunikation ein Selbstverhältnis der ›Sprecher‹ einschließt - als eine seiner konstitutiven Bedingungen, die in ihm ebenso ursprünglich ist wie die Form des Satzes mit Subjekt und Prädikat.« (Henrich 1987: 34f.) 6 Drittens löse Habermas die Spannungen, die sich aus dem Selbstverhältnis notwendig ergeben, in einer letztlich harmonistischen Konzeption der Lebenswelt auf: »Denn er [der Begriffder Lebenswelt, J.G.] erklärt den unhintergehbaren Ausgang aller Sprechakte zu einer im Prinzip harmonischen Totalität.« (Henrich 1987: 18) Henrich ist nicht der Einzige, der die Ansicht vertritt, Habermas bürde der Lebenswelt zuviel auf - das zeigt sich gerade dann, wenn man darauf verweist, dass die Lebenswelt von Habermas als eine differenzierte verstanden wird (s. dazu Kapitel 11). Langthaler (Langthaler 1997) und die von Henrich (Henrich 2007). 6 Habermas hat sich von dieser Kritik eher unbeeindruckt gezeigt. In einer an Henrich adressierten Antwort wiederholt Habermas die These, die pragmatische Fassung der Sprachtheorie könne zeigen, dass »die Selbstbeziehung aus einem interaktiven Zusammenhang« entstehe (ND, 32). Habermas schloss in der ursprüngliche Formulierung dieser These in der Theorie des kommunikativen Handelns auch an Tugendhat (Tugendhat 1979) an (vgl. TKH II, 25f.). Auf die Seite von Henrich stellt sich gegen Tugendhat und Habermas, vgl. Frank (Frank 1991) und Frank (Frank 2001), dort auch weitere Literaturhinweise. 141 Die Lebenswelt erscheint dann einerseits als in die Dimensionen der Vernunft zerfallende Einheit, andererseits soll sie als Einheit die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Dimensionen miteinander integrieren (vgl. auch ND, 153). Henrichs Kritik macht hier nicht zu Unrecht auf eine drohende Doppeldeutigkeit aufmerksam: Wenn man die integrierende Kraft der Lebenswelt betont, wird übersehen, dass ihre Differenzierung zugleich die Problemlage produziert, auf die sie antworten soll. Eine weitere Diskussion betrifft die Frage, ob und wie Habermas die Kontextgebundenheit der Lebenswelt und den Unbedingtheitsanspruch von Geltungsansprüchen vereinbaren kann. Auf die entsprechende Diskussion mit Rorty wurde schon in Kapitel 10 hingewiesen. Sie wird noch einmal virulent, wenn sich die Frage stellt, wie und in welchem Maße bestimmte Lebensweisen und Gesellschaften sich selbst als vernünftig ausweisen können. 143 VI. Recht, Politik und Religion 13. Recht, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft: Faktizität und Geltung Faktizität und Geltung wird gelegentlich als Habermas’ zweites Hauptwerk bezeichnet. Es knüpft durchaus an Themen an, die Habermas bereits in der Theorie des kommunikativen Handelns ausgearbeitet hat, so geht es etwa um das Recht als eines zwischen Lebenswelt und Systems vermittelnden Mediums oder auch um die Frage nach einem differenzierten Gesellschaften angemessenen Modus der Sozialintegration. Dabei rückt aber das politische System stärker in den Fokus, das in der Theorie des kommunikativen Handelns nicht im Mittelpunkt gestanden hatte - typologisch gehörte es dort zum Bereich der Macht und war als solches nicht eingehender analysiert worden. Auch in Faktizität und Geltung hält Habermas an der die kritische Theorie generell kennzeichnenden Ansicht fest, dass sich empirische und normative Fragen nicht vollständig trennen lassen. Den Fehler, keine normativen Fragen an das Recht zu stellen, sieht Habermas nicht nur im Rechtspositivismus, sondern auch in der Systemtheorie Luhmanns (FG, 71). Gemäß Habermas unterscheidet auch Max Weber zu strikt zwischen einen juristischen und einer soziologischen Rechtsbetrachtung (FG, 94). Es hatte sich bereits gezeigt, dass für Habermas dem Recht eine entscheidende Rolle in der Integration der modernen Gesellschaft zukommt. Da es die lebensweltliche und die systemische Integration der modernen Gesellschaft verbindet, bleibt es für ihn aber auch ein »ein zutiefst zweideutiges Medium der gesellschaftlichen Integration« (FG, 60). Diese Zweideutigkeit ergibt sich daraus, dass das Recht Faktizität und Geltung miteinander vereinbaren muss. Faktizität meint die gegebenen Restriktionen, die sich im Wesentlichen aus den funktionalen Erfordernissen der Stabilisierung komplexer Gesellschaften ergeben: »Denn nichts erscheint dem aufgeklärten Soziologen unwahrscheinlicher, als daß sich die Integrationsleistungen des modernen Rechts allein oder auch nur in erster Linie aus einem sei es vorgefundenen oder erzielten normativen Einverständnis, also aus Quellen der Solidarität speisen.« (FG, 52) Gleichzeitig aber, so Habermas, schließt das Recht an diese moralischen Quellen an. Habermas will nun zeigen, wie sich diese Rolle der Moral bestimmen lässt, ohne davon auszugehen, dass das Recht eine unmittelbare Folge der Moral ist. Moral und Recht unterscheiden sich nach Habermas zunächst durch ihre Form: »Unter ›Recht‹ verstehe ich das moderne gesatzte Recht, das mit dem Anspruch auf systematische Begründung sowie verbindliche Interpretation und Durchsetzung auftritt.« (FG, 106) 144 Hinzu kommt, dass das Recht für Habermas - und hier bezieht er sich unmittelbar auf Kant (vgl. Kants Metaphysik der Sitten) - die Motive der Befolgung der Rechtsregeln offen lässt (FG, 46ff.). In diesem Sinne hat das Recht auch eine Entlastungsfunktion gegenüber einer zu strikten Moralisierung der Gesellschaft: »Eine solche rechtsförmige Ordnung ist ja dazu da, legitime Spielräume strategischen Handelns zu eröffnen.« (Habermas 1993: 139, vgl. auch 128) Beide Formen von Handlungsregeln - moralische und rechtliche - lassen sich nun aber Habermas zufolge aus einem gemeinsamen Prinzip verstehen, nämlich aus dem Diskursprinzip: »Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen können.« (FG, 138) Habermas verallgemeinert hier die Überlegung, die seiner Diskusethik zugrunde lag: Es handelt sich beim Diskursprinzip nicht nur um ein moralisches, sondern um ein Normen überhaupt begründendes Prinzip. Wodurch unterscheiden sich dann aber Moral- und Rechtsnormen? Nach Habermas dadurch, dass nur Moralnormen auch gleichzeitig Handlungsnormen sind, »die allein unter dem Gesichtspunkt gleichmäßiger Interessenberücksichtigung gerechtfertigt werden können« (FG, 139), die also einen universalen Begründungsanspruch stellen. Fallen hingegen auch (neben moralischen) andere Typen von Gründen bei der Begründung der Handlungsnormen ins Gewicht, so werde das Diskursprinzip erweitert (FG, 139). Welche anderen Gründe könnten dies sein? Habermas unterscheidet ethisch-politische Gründe und solche des Interessenausgleichs von den moralischen Gründen, Den Hintergrund dieser Differenzierungen bildet Habermas’ Erweiterung der Dimensionen praktischer bzw. normativer Fragen (vgl. FG, 197 und ED, 100ff.). Praktische Fragen umfassen ihm gemäß drei Dimensionen: eine pragmatische, eine ethische und eine moralische Dimension. Deren Unterschiede lassen sich in drei Hinsichten kennzeichnen: im Hinblick auf die jeweils gestellten Fragen und gegebenen Antworten, auf die Konzepte des Sollens und schließlich im Hinblick auf die Rolle, die sie für eine Bestimmung kollektiver Ziele zu spielen vermögen. In pragmatischen Diskursen wird der Aspekt der Zweckmäßigkeit thematisiert. (vgl. ED, 101f., FG, 197) Hier bezieht sich die Frage, was man tun soll, auf »eine rationale Wahl der Mittel bei gegebenen Zwecken oder ... die rationale Abwägung der Ziele bei bestehenden Präferenzen« (ED, 102, 105; vgl. FG, 197). Pragmatische Fragen beziehen sich solchermaßen auf die »Perspektive eines Handelnden, der von seinen Zielen und Präferenzen ausgeht« (ED, 105). Die Antworten auf diese Problemstellungen bestehen in »Techniken, Strategien oder Programme[n]« (ED, 102). Ethische Fragen richten sich hingegen auf den Aspekt des Guten. In ethischen Diskursen geht es um Fragen des Selbstverständnisses bzw. um die Frage nach dem geglückten Leben (vgl. ED, 108f.). 1 Gegenstand sind hier die Präferenzen selbst, die 1 Diese Frage kann sich auf die individuelle Lebensführung beziehen, dann bezeichnet sie Habermas als »ethisch-existenziell«, oder auf die kollektiven Vorstellungen einer Gemeinschaft, dann handelt es sich um »ethisch-politische« Fragen (FG: 192). 145 in pragmatischen Diskursen vorausgesetzt werden (vgl. ED, 103). Gefragt wird nach »klinischen Ratschlägen« (ED, 109). 2 Moralische Diskurse betreffen hingegen Fragen der Gerechtigkeit. Sie zielen auf die »Klärung legitimer Verhaltenserwartungen angesichts interpersoneller Konflikte« (ED, 109). Antworten sind hier moralische Urteile, beziehungsweise die »Begründung und Anwendung von Normen, die gegenseitige Pflichten und Rechte festlegen« (ED, 109). In allen drei Dimensionen unterscheiden sich auch die Konzepte des Sollens bzw. die diesem Sollen entsprechenden Konzepte des Wollens, an die die Forderungen adressiert sind. Während bei pragmatischen Fragen das Sollen immer nur relativ im Hinblick auf die jeweiligen subjektiven Zwecke und Präferenzen erscheint (vgl. ED, 104), ist das Sollen bei ethischen Fragen relativ im Hinblick auf die Vorstellung eines gelungenen Lebens bzw. einer Lebensform, die »gut für uns« ist (ED, 104f.). Mit der Relativität des Sollens hängt zusammen, dass sowohl bei pragmatischen wie auch ethischen Fragen die Perspektive der Egozentrik nicht bzw. nicht ganz überwunden ist. Dazu kommt erst bei den moralischen Fragen, in denen entsprechend das Sollen unbedingt ist. Diesen verschiedenen Konzepten des Sollens entsprechen verschiedene Konzepte des Willens, die vorausgesetzt werden müssen, um das jeweilige Sollen verständlich zu machen: »Das an subjektiven Zwecken und Werten relativierte Sollen der pragmatischen Empfehlungen ist an die Willkür eines Subjekts gerichtet, das kluge Entscheidungen auf der Basis der Einstellungen und Präferenzen trifft, von denen es kontingenterweise ausgeht... Das am Telos des guten Lebens relativierte Sollen klinischer Ratschläge ist adressiert an das Streben nach Selbstverwirklichung, also an die Entschlußkraft eines Individuums, das sich zu einem authentischen Leben ent- 2 Insofern erinnert der ethische Diskurs an die therapeutische Kritik, s. oben Kapitel 4. Tab. 17: Dimensionen praktischer Vernunft Diskurs: Pragmatisch Ethisch Moralisch Fragen nach Zweckmäßigkeit: Abwägung von Mitteln und Zwecken bei gegebenen Präferenzen nach dem Guten: Frage nach dem geglückten Leben nach dem Gerechten: legitime Verhaltenserwartungen im Fall von Interessenkonflikten Antworten Strategien klinische Ratschläge moralische Urteile Konzept des Sollens relativ im Hinblick auf individuelle Präferenzen relativ im Hinblick auf gutes Leben unbedingt Konzept des Willens Willkür Entschlusskraft freier Wille (Autonomie) kollektive Ziele Verweis auf Kompromisse kollektive Identität Übergang von Moral zu Recht Nach: ED, 100-118 146 schließt... Das kategorische Sollen moralischer Gebote ist schließlich an dem im emphatischen Sinne freien Willen einer Person gerichtet, die nach selbstgegebenen Gesetzen handelt: einzig dieser Wille ist autonom in dem Sinne, daß er sich vollständig durch moralische Einsicht bestimmen läßt.« (ED, 109) Die drei Typen praktischer Fragen und die ihnen zugeordneten Diskurstypen lassen sich schließlich in jeweils spezifischer Weise auf die Verfolgung und Verwirklichung kollektiver Ziele beziehen: »Pragmatische Diskurse verweisen, sobald das eigene mit dem fremden Interesse in Einklang gebracht werden muß, auf die Notwendigkeit von Kompromissen. In ethisch-politischen Diskursen geht es um die Klärung einer kollektiven Identität, die Raum lassen muß für die Mannigfaltigkeit individueller Lebensentwürfe. Das Problem der Zumutbarkeit moralischer Gebote motiviert zum Übergang von der Moral zum Recht.« (ED, 117) 3 Habermas zufolge integriert das Recht alle drei Sorten von Fragen. Entsprechend verbindet sich mit der »Legitimität« von Rechtsnormen ein anderer Sinn als mit der »Legitimität« von moralischen Normen: »Gültige moralische Normen sind ›richtig‹ im diskurstheoretisch erläuterten Sinne von gerecht. Gültige Rechtsnormen stehen zwar mit moralischen Normen in Einklang; sie sind aber ›legitim‹ in dem Sinne, daß sie darüber hinaus ein authentisches Selbstverständnis der Rechtsgemeinschaft, die faire Berücksichtigung der in ihr verteilten Werte und Interessen, sowie die zweckrationale Wahl von Strategien und Mitteln zum Ausdruck bringen.« (FG, 193f., vgl. auch: 47f.) Die Differenzierung der Dimensionen normativer Fragen macht verständlich, auf welche Weise das Recht in der Lage ist, lebensweltliche Bereiche mit anderen Bereichen verbinden zu können. Habermas rechnet typologisch die moralische Kommunikation der Lebenswelt zu (vgl. FG, 108). In dem Maße, in dem die Rechtsgeltung an moralische Fragen anschließt, können sich die lebensweltlichen Forderungen über das Recht in anderen Bereichen zur Geltung bringen. Schließlich muss das Recht unter Nutzung eines pragmatischen Vernunftgebrauchs auch Kompromisse miteinbeziehen: »In komplexen Gesellschaften wird aber selbst unter idealen Bedingungen oft weder die eine noch die andere Alternative [moralischer oder ethischer Diskurs, J.G.] offenstehen, nämlich immer dann, wenn sich herausstellt, daß alle vorge- 3 Das Recht bezieht sich daneben mittels des juristischen Diskurses auf die Differenz von Begründungs- und Anwendungsfragen, die die Moral aufwirft und die in jeweils spezifischer Weise beantwortet werden müssen. (vgl. FG: 265ff.) Vgl. zur Unterscheidung von Anwendungs- und Begründungsdiskursen (Günther 1988, Günther 1989) und (Alexy 1995: 52ff.). 147 schlagenen Regelungen vielfältige Interessen auf je verschiedene Weise berühren, ohne daß sich ein verallgemeinerbares Interesse oder der eindeutige Vorrang eines bestimmten Wertes begründen ließen. In diesen Fällen bleibt die Alternative von Verhandlungen, die freilich die Kooperationsbereitschaft erfolgsorientiert handelnder Parteien erfordern. Naturwüchsige oder nicht-regulierte Verhandlungen zielen auf Kompromisse, die für die Beteiligten unter drei Bedingungen akzeptabel sind. Solche Kompromisse sehen ein Arrangement vor, das (a) für alle vorteilhafter ist als gar kein Arrangement, das (b) Trittbrettfahrer, die sich der Kooperation entziehen, und (c) Ausgebeutete, die in die Kooperation mehr hineinstecken als sie aus ihr gewinnen, ausschließt. Verhandlungsprozesse sind auf Situationen zugeschnitten, in denen soziale Machtverhältnisse nicht, wie es in rationalen Diskursen vorausgesetzt wird, neutralisiert werden können. Die in solchen Verhandlungen erzielten Kompromisse enthalten eine Vereinbarung, die entgegengesetzte Interessen zum Ausgleich bringt. Während sich ein rational motiviertes Einverständnis auf Gründe stützt, die alle Parteien in derselben Weise überzeugen, kann ein Kompromiß von verschiedenen Parteien aus jeweils verschiedenen Gründen akzeptiert werden.« (FG, 204f.) Kompromisse beruhen daher auf der Form des schwachen kommunikativen Handelns. Für Habermas ist der interne Zusammenhang von Diskursprinzip und Rechtsform konstitutiv für legitimes Recht. In Abgrenzung zum Rechtspositivismus glaubt Habermas zeigen zu können, wie sich das Recht immer aus den Quellen einer diskursiven Rationalität speisen muss (FG, 155). Er vertritt die These, dass aus diesem konstitutiven Zusammenhang und Rechtsform grundlegende Rechtsprinzipen folgen. Zunächst solche, die die Rechte von Personen bestimmen: »(1) Grundrechte, die sich aus der politisch autonomen Ausgestaltung des Rechts auf das größtmögliche Maß gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten ergeben.« »(2) Grundrechte, die sich aus der politisch autonomen Ausgestaltung des Status eines Mitglieds in einer freiwilligen Assoziation von Rechtsgenossen ergeben; (3) Grundrechte, die sich unmittelbar aus der Einklagbarkeit von Rechten und der politisch autonomen Ausgestaltung des individuellen Rechtsschutzes ergeben.« Und dann solche, die sich auf die kollektive Autorenschaft für Rechte beziehen: »(4) Grundrechte auf die chancengleiche Teilnahme an Prozessen der Meinungs- und Willensbildung, worin Bürger ihre politische Autonomie ausüben und wodurch sie legitimes Recht setzen.« »(5) Grundrechte auf die Gewährung von Lebensbedingungen, die in dem Maße sozial, technisch und ökologisch gesichert sind, wie dies für die Nutzung der (1) bis (4) genannten bürgerlichen Rechte unter gegebenen Verhältnissen jeweils notwendig ist.« (FG, 155ff.) 148 Spezifisch für Habermas’ Argumentation ist zum einen, dass er Moral und Recht gleichursprünglich anlegt, Rechtsprinzipien also nicht aus moralischen Normen entwickelt: So »dürfen wir Grundrechte, die in der positiven Gestalt von Verfassungsnormen auftreten, nicht als bloße Abbildungen moralischer Rechte verstehen, und die politische Autonomie nicht als bloßes Abbild der moralischen. Allgemeine Handlungsnormen verzweigen sich vielmehr in moralische und juridische Regeln. Unter normativen Gesichtspunkten entspricht dem die Annahme, daß die moralische und die staatsbürgerliche Autonomie gleichursprünglich sind und mit Hilfe eines sparsamen Diskursprinzips erklärt werden können, das lediglich den Sinn postkonventioneller Begründungsforderungen zum Ausdruck bringt.« (FG, 138) Zum anderen geht er davon aus, Grundrechte aus dem Prinzip der Volksouveränität und der lediglich formal bestimmten Rechtsform ableiten zu können, weil diese Grundrechte Bedingungen für die Selbstbestimmung der Bürger sind: »Mithin gäbe es ohne Grundrechte, die die private Autonomie der Bürger sichern, auch kein Medium für die rechtliche Institutionalisierung jener Bedingungen, unter denen die Bürger in ihrer Rolle als Staatsbürger von ihrer öffentlichen Autonomie Gebrauch machen können.« (Habermas 1996: 301) Daher liegen ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis und damit eine »Gleichursprünglichkeit« von Freiheitsrechten (und Menschenrechten) sowei politischen Bürgerrechten vor (Habermas 1996: 222, 300). Habermas glaubt mit dieser Ableitung der Rechte gezeigt zu haben, dass Volkssouveränität und Menschenrechte sich gemeinsam entfalten lassen, also auch die »Gleichursprünglichkeit von politischer und privater Autonomie« (FG, 161), weil die in der Volkssouveränität zum Ausdruck kommende Selbstgesetzgebung nur möglich ist, wenn man voraussetzt, dass die Bürger über Freiheitsrechte verfügen (vgl. auch Habermas 1995a: 158, Habermas 2001c: 133f.). Damit lassen sich die komplementären Einseitigkeiten der liberalen Traditionen, die den Freiheitsrechten der Individuen Vorrang einräumen, und der republikanischen Traditionen, die den Prozess der politischen Selbstgesetzgebung als rechtsbegründend betrachten, vermeiden. Habermas betrachtet seine Konzeption vielmehr als einen »Kantischen Republikanismus«, für den kennzeichnend sei, »dass die Idee der Menschenrechte dem Prozess einer vernünftigen Willensbildung selbst innewohnt« (Habermas 2001c: 140). 4 4 Habermas bezieht sich zugleich kritisch auf Rousseau, denn er gibt dessen Modell mit der Betonung der Publizität als Verfahren eine spezifische Wendung. Dabei schließt er nicht nur an Kant, sondern, wie er in »Volkssouveränität als Verfahren« (in FG, 600ff. zuerst 1989) ausführt, auch an Julius Fröbel an: »Fröbels Position zeigt, daß sich die normative Spannung zwischen Gleichheit und Freiheit auflösen läßt, sobald man auf eine konkretistische Lesart des Prinzips der Volkssouveränität verzichtet. Fröbel pflanzt die praktische Vernunft nicht wie Rousseau mit der bloßen Form des allgemeinen Gesetzes dem souveränen Willen eines Kollektivs ein, sondern verankert dies in einer Prozedur der Meinungs- 149 Es zeigt sich also, auf welche Weise Habermas dem Umstand Rechnung tragen kann, dass sich Faktizität und Geltung miteinander vermitteln lassen, denn in die Bestimmung der dann jeweils konkret spezifizierten Rechte gehen neben den moralischen über die ethischen und pragmatischen Gesichtspunkte Fragen der konkreten Rechtserfordernisse in die Rechtssetzung ein: »Die Legitimität von Rechtsnormen bemißt sich, wenn wir eine prozedurale Theorie zugrundelegen, an der Vernünftigkeit des demokratischen Verfahrens politischer Gesetzgebung. Dieses Verfahren ist, wie gezeigt, komplexer als das der moralischen Argumentation, weil sich die Legitimität der Gesetze nicht nur an der Richtigkeit moralischer Urteile bemißt, sondern unter anderen auch an der Verfügbarkeit, Triftigkeit, Relevanz und Auswahl von Informationen, an der Fruchtbarkeit von Informationsverarbeitung, an der Angemessenheit von Situationsdeutungen und Problemstellungen, an der Rationalität von Wahlentscheidungen, der Authentizität starker Wertungen, vor allem an der Fairneß von erzielten Kompromissen usw.« (FG, 286). Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft Wie aber lässt sich dies in den Prozess der tatsächlichen Rechtspraxis umsetzen? Erforderlich ist für Habermas nämlich - und dies ergibt sich aus seiner These, dass Diskurse tatsächlich geführte Diskurse sein müssen (s. dazu Kapitel 10), dass die dem Diskursprinzip entsprechenden Diskurse sich in der politischen Praxis auch finden müssen, dass also gilt, dass »für die Erzeugung legitimen Rechts die kommunikativen Freiheiten der Bürger mobilisiert werden müssen.« (FG, 182) An dieser Stelle bringt Habermas das Konzept der »kommunikativen Macht« ins Spiel, einen Begriff, den er von Hannah Arendt übernimmt: »Diese Erklärung [der notwendigen Mobilisierung, J.G.] macht die Gesetzgebung von der Generierung eines anderen Typus von Macht abhängig - nämlich von jener kommunikativen Macht, von der Hannah Arendt sagt, daß sie eigentlich niemand ›besitzen‹ könne: ›Macht entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen.‹« (FG, 182) Unter ihr sei zu verstehen: »das Potential eines in zwangloser Kommunikation gebildeten gemeinsamen Willens.« (FG, 183) 5 und Willensbildung, die festlegt, wann ein politischer Wille, der mit Vernunft nicht identisch ist, die Vermutung der Vernunft für sich hat. Das bewahrt Fröbel vor einer normativen Abwertung des Pluralismus.« (FG, 614) 5 Vgl. auch Habermas: »Hannah Arendts Begriffder Macht« (Habermas 1981a, auch in Habermas 1978a). 150 Von dieser kommunikativen Macht unterscheidet Habermas die administrative Macht und geht davon aus, dass diese an die kommunikative Macht zurückgebunden werden muss. Wie bereits in der Theorie des kommunikativen Handelns nimmt Habermas an, dass es das Recht ist, das Lebenswelt und systemische Prozesse miteinander integriert: »Soziologisch gesehen, beleuchtet die Idee des Rechtsstaates nur den politischen Aspekt der Herstellung einer Balance zwischen den drei Gewalten der gesamtgesellschaftlichen Integration: Geld, administrativer Macht und Solidarität.« (FG, 187) Neben der kommunikativen Macht (Solidarität) und der administrativen Macht kennt Habermas noch die »soziale Macht«, nämlich die »faktische[n] Durchsetzungskraft privilegierter Interessen« (FG, 187). Ganz im Einklang mit seiner Anknüpfung an Arendts Konzept der kommunikativen Macht interessiert sich Habermas insbesondere für die Frage, in welchem Maße die Öffentlichkeit Einfluss auf den Gesetzgebungsprozess nehmen kann. In der Öffentlichkeit sieht er eine Quelle der kommunikativen Macht, die notwendig die politischen Prozesse und damit indirekt den Gesetzgebungsprozess beeinflusst. Obwohl Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und kommunikative Macht für Habermas eng verknüpft sind, vertritt er nicht die Meinung, dass im institutionalisierten Rechts- und Politiksystem keine Elemente einer solchen kommunikativen Macht rechtsförmig integriert sind. Habermas spricht sich also nicht für einen einfachen Dualismus von Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und kommunikativer Macht auf der einen und institutionalisierter Macht auf der anderen Seite aus. Vielmehr finden sich Elemente einer auf rationaler Erwägung beruhenden Vernunft auch in institutionalisierten Gebilden - so in den Organen der Rechtssprechung und in den Parlamenten. Eine lebensweltliche Vernunft ist also in den Rechtsprozess und den politischen Prozess bereits eingelassen, dennoch ist für Habermas das politische System »auf Zufuhren aus den informellen Kommunikationszusammenhängen der Öffentlichkeit, des Assoziationswesens und der Privatsphäre angewiesen« (FG, 427). Wie aber differenziert sich dieser Zusammenhang aus? Habermas schließt sich, um dies zu beschreiben, einem Vorschlag von Bernhard Peters (Peters 1993: 322ff.) an, wonach das politisch-rechtliche System in Zentrum und Peripherie unterteilt ist. Im Kern dieses Modells befinden sich Verwaltung und Regierung, das Gerichtswesen und die parlamentarischen Institutionen, also Exekutive, Legislative und Judikative. Angeschlossen - gleichsam als innere Peripherie des Zentrums - sind Institutionen mit Selbstverwaltungsrechten und Steuerungsbefugnissen wie Universitäten, Versicherungsträger, Kammern, Stiftungen etc. Innerhalb des Kerns lassen sich zwei gegenläufige Prozesse beobachten. Während Verwaltung und Regierung die höchste Problemverarbeitungskompetenz aufweisen, aber die geringste Problemsensibilität, gilt für die parlamentarischen Institutionen genau das Umgekehrte (FG, 430). Die Peripherie des politischen Systems besteht aus der politischen Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft, wobei Habermas Öffentlichkeit nicht als Institution oder Organisation begreift, sondern als Netzwerk von Kommunikationen und als kommunikatives Handeln ermöglichenden sozialen Raum (FG, 436). Anders die Zivilgesell- 151 schaft: sie ist für ihn eine verdichtetere Form, die nicht nur netzwerkförmig, sondern verbandsförmig organisiert ist: »Die Zivilgesellschaft setzt sich aus jenen mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen zusammen, welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten. Den Kern der Zivilgesellschaft bildet ein Assoziationswesen, das problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten institutionalisiert.« (FG, 443f.) Bindende Entscheidungen müssen nach Peters immer durch das Zentrum hindurch vollzogen werden (Habermas spricht hier im Anschluss an Peters von einem »Schleusenmodell«, FG, 433), gleichzeitig ist aber die Richtung, von der die Impulse jeweils ausgehen, durch den Prozess nicht vorherbestimmt. Entscheidungsprozesse können so von beiden Seiten, der Peripherie und dem Zentrum ausgehen. Freilich ist dieses idealisierte Modell um die Anerkenntnis zu ergänzen, dass sich nicht alle sozialen Prozesse im Kern wiederfinden können. Vielmehr laufen in der Peripherie eine Reihe von kleinteiligen Prozessen ab, die man als Mikro- und Subpolitiken bezeichnen könnte und die sich vom Zentrum nicht kontrollieren lassen. Diese Nichtkontrollierbarkeit durch das Zentrum hat zugleich eine positive Seite, denn sie ermöglicht es, dass die Peripherie - die Zivilgesellschaft und die Öffentlichkeit - einen kontrollierenden Einfluss auf das Zentrum ausüben können: »Die illegitime Verselbständigung von administrativer und sozialer Macht gegenüber demokratisch erzeugter kommunikativer Macht wird in dem Maße verhindert, wie die Peripherie a) fähig ist und b) oft genug Anlaß hat, latente (und nur politisch bearbeitbare) gesellschaftliche Integrationsprobleme aufzuspüren, zu identifizieren, wirksam zu thematisieren und über die Schleusen des parlamentarischen Komplexes (oder der Gerichte) in das politische System so einzuführen, daß dessen Routinemodus gestört wird.« (FG, 434) Tab. 18: Gegenläufige Beziehungen im Zentrum des politischen Systems Zentrum Verwaltung und Regierung wachsende Problemverarbeitungsfähigkeit Gerichtswesen Parlamentarische Institutionen wachsende Problemsensibilität 152 An dieser Stelle liegt demnach die notwendig korrektive Funktion von Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft. 6 Aber nicht nur im Zentrum bildet sich ein Filter gegenüber den Beiträgen aus der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft. Zwischen beiden besteht selbst wiederum ein Gefälle. »Die politische Öffentlichkeit bildet zum institutionell hoch verdichteten Zentrum des Staates die lockerer strukturierte Peripherie und wurzelt ihrerseits in den noch flüchtigeren Kommunikationsnetzen der Zivilgesellschaft.« (Habermas 2008a: 164) Die Öffentlichkeit fungiert wiederum als Filter für die Beiträge aus der Zivilgesellschaft. Tab. 19: Arenen der politischen Kommunikation Aus: Habermas (Habermas 2008a: 165) Habermas betrachtet Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft als notwendige Korrektive der stärker institutionell gefestigten Formen der Politik. Hier, in »den Interaktionen zischen rechtsstaatlich institutionalisierter Willensbildung und kulturell mobilisierten Öffentlichkeiten« finde die Volkssouveränität »ihren ortlosen Ort« (Habermas 1990: 196). Ein eindeutiger Träger oder gesellschaftlicher Repräsentant gesellschaftlicher Rationalität lässt sich daher nicht ausmachen. Vielmehr liege die »Einheit der praktischen Vernunft« in der modernen Gesellschaft in einem nur noch als »Netzwerk« beschreibbaren Zusammenhang von »staatsbürgerlichen Kommunikationsformen und Praktiken« (ED: 118). Gleichzeitig unterliegen öffentliche Beiträge und die Formierung der Zivilgesellschaft aber Restriktionen, die erfüllt sein müssen, damit Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft in der Lage sind, einen positiven Beitrag zum politischen Prozess zu liefern. Im Anschluss an Cohen und Arato (Cohen/ Arato 1992) sieht Habermas hierfür die 6 In ähnlicher Weise beschreibt Luhmann die Prozesse im politischen System als Folge zweier gegenläufiger Machtkreisläufe, dem »offiziellen«: von Politik zu Verwaltung und Publikum (Volk) und gegenläufigen »inoffiziellen« Bewegungen (Luhmann 2000: 253ff.). Modi der Kommunikation Arenen der politischen Kommunikation institutionalisierte Diskurse und Verhandlungen Regierung, Verwaltung, Parlamente, Gerichte usw. politisches System (1) staatliche Institutionen mediengestützte Massenkommunikation in zerstreuten Öffentlichkeiten veröffentlichte Meinungen Publikum Mediensystem Ergebnisse von Meinungsumfragen • Politiker • Lobbyisten • zivilgesellschaftliche Akteure (2) politische Öffentlichkeit Kommunikation unter Adressen veranstaltete und informelle Beziehungen, soziale Netzwerke und Bewegungen Zivilgesellschaft 153 folgenden Bedingungen: »Erstens kann sich eine vitale Bürgergesellschaft nur im Kontext einer freiheitlichen politischen Kultur und entsprechender Sozialisationsmuster sowie auf der Basis einer unversehrten Privatsphäre herausbilden - sie kann sich nur in einer schon rationalisierten Lebenswelt entfalten.« (FG, 449, vgl. auch SÖ, 45) Nur dies könne das Aufkommen antidemokratischer populistischer Bewegungen verhindern. Zweitens erfordert der Einfluss, den die Zivilgesellschaft nimmt, eine Filterung (vgl. das Bild der Schleuse, oben) durch die »institutionalisierten Verfahren demokratischer Meinungs- und Willensbildung«, um sich in legitime Macht zu verwandeln (FG, 449). Schließlich ergibt sich »für demokratische Bewegungen, die aus der Zivilgesellschaft hervorgehen, der Verzicht auf jene Aspirationen einer sich im ganzen selbst organisierenden Gesellschaft, die u. a. den marxistischen Vorstellungen der sozialen Revolution zugrunde gelegen haben.« (FG, 450) Wie eingangs gesagt, entwickelt Habermas mit Faktizität und Geltung Fragestellungen weiter, die bereits die Theorie des kommunikativen Handelns kennzeichneten - insbesondere die Frage nach der Sozialintegration moderner Gesellschaften lässt sich hier verorten. Habermas rückt in Faktizität und Geltung das Recht allerdings in ein verändertes Licht. Hatte er in der Theorie des kommunikativen Handelns zwei Formen des Rechts unterschieden - Recht als Medium und Recht als Institution - , so entfällt diese Trennung hier. Der Umbau, der dieser Veränderung zugrunde liegt, besteht darin, den strategischen Charakter des Rechts grundlegend, d. h. für alle Bereiche, anzuerkennen, da es zur Rechtsform gehört, die Motive der Normbefolgung in rechtlich geregelten Beziehungen freizustellen. Gleichzeitig schließt das Recht an moralische Gründe an, weil die Grundrechte unter dem Vorbehalt der Konformität mit diesen stehen. Auch wird die sozialstaatliche Verrechtlichung in Faktizität und Geltung nicht mehr notwendig als Dilemma betrachtet. 7 Einen zentralen Umbau stellt auch die Differenzierung der Machtbegriffe dar. Hatte Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns Macht als Medium des Politischen begriffen und dieses wesentlich als administratives Handeln beschrieben, so zieht mit dem Begriffder kommunikativen Macht die Sozialintegration in das Politische ein - und, wie wir gesehen haben, auch in die stärker institutionalisierten Formen des Politischen. Insbesondere die Parlamente werden hier hervorgehoben, weil durch sie hindurch kommunikative Macht erst in legitimer Weise Rechtssetzung ermöglicht. Ottfried Höffe sieht daher zu Recht in Faktizität und Geltung zugleich den Wandel hin zu einer affirmativen Theorie des Rechtsstaates, zu der die kritische Theorie zuvor nicht in der Lage gewesen sei: »An die Stelle einer primär negativen Kritik tritt eine Rekonstruktion des demokratischen Rechtsstaates, die zwar da und dort für Verbesserungen plädiert, im wesentlichen aber affirmativ ausfällt« (Höffe 1993: 73). 7 »Das sozialstaatlich materialisierte Recht ist, wie sich auch am Sozialrecht zeigt, durch eine Ambivalenz von Freiheitsverbürgung und Freiheitsentzug geprägt, die sich aus der Dialektik von rechtlicher und faktischer Gleichheit ergibt und insofern aus der Struktur dieses Verrechtlichungsprozesses hervorgeht. Aber es ist voreilig, diese Struktur selbst als dilemmatisch zu beschreiben.« (FG, 502) (vgl. auch Habermas 1995a: 159) 154 Anfragen an Faktizität und Geltung Habermas’ Buch hat eine lebhafte Diskussion hervorgerufen 8 , deren Ausmaß hier nur in wenigen grundlegenden Teilen reflektiert werden kann. Eine Reihe von Anfragen bezog sich auf die These von Habermas, die Menschenrechte ließen sich erst im Zusammenspiel mit dem Prinzip der Volkssouveränität begründen. Höffe fragt dagegen an, ob man nicht anerkennen müsse, dass »Grundrechte erst innerhalb eines politischen Gemeinwesens, Menschenrechte dagegen in einem legitimationstheoretischen Sinn schon vorher« gelten (Höffe 1993: 84). Auch Larmore geht davon aus, dass Volkssouveränität nicht die Begründungslast für Rechte tragen kann: »Die Volkssouveränität, so wie sie von Habermas verstanden wird, entspringt selber der Anerkennung eines fundamentalen subjektiven Rechts.« (Larmore 1993: 326) Alexy bezweifelt ebenfalls, ob es Habermas tatsächlich gelingt, den »internen Zusammenhang von Menschenrechten und Volkssouveränität« verständlich zu machen. Seines Erachtens übersieht Habermas, dass beide auch in einem inneren Spannungsverhältnis stehen (Alexy 1994: 233, vgl. auch Weinberger 1994: 245). Frank Michelman, mit dessen Einwand sich Habermas ausführlich auseinandersetzt, wirft die Frage auf, ob in Habermas’ Ableitung nicht ein unauflösbarer Zirkel stecke, denn »die verfassungsgebende Versammlung selbst kann beispielsweise nicht die Legitimität der Regeln verbürgen, nach denen sie ihrerseits konstituiert ist. Die Kette schließt sich nicht, und der demokratische Prozess verstrickt sich auf dem Wege einer zirkulären Selbstkonstitution in einen unendlichen Regress.« (Habermas 2001c: 143) Eine damit zusammenhängende Schwierigkeit ergibt sich aus der Frage, wann ein Konsens als geltungsbegründend angenommen werden kann. Zum einen ist dieser laufend zu erneuern, wenn die Legitimität der Gesamtordnung erhalten bleiben soll, zum anderen stellt sich auch die Frage, welche Entscheidungsregeln unter diesen Bedingungen die Legitimität sichern sollen. Habermas akzeptiert die Berechtigung der Mehrheitsregel, sofern sie durch einen grundrechtlichen Minderheitenschutz eingeschränkt werden (FG, 221). Solcher kann aber dem »ursprünglichen« Konsens über die Rechtsordnung nicht als rechtliches Prinzip vorhergehen. Tatsächlich ergäbe sich daraus die strikte Anforderung an Einstimmigkeit hinsichtlich des die Gesamtordnung legitimierenden Diskurses. Diese scheint aber, geht man nicht von der Fiktion eines Urvertrages aus, unrealistisch und auch für die Legitimation des politischen Prozesses zu restriktiv zu sein (vgl. dazu auch Fuchs-Goldschmidt 2008). Wie aber lassen sich dann die faktisch erforderlichen Einschränkungen des Diskurses in eine Rechtsordnung umsetzen? Hier vermutet Luhmann, dass die Unbestimmtheit des Diskursprinzips die Frage nach der Institutionalisierung des Diskursprinzips ebenfalls offen lassen müsse: 8 Zur Diskussion um Faktizität und Geltung vgl. insbesondere die Beiträge zum »Symposium zu Jürgen Habermas« in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, 41, 1993, 321-364 sowie Habermas’ Replik zu einem Symposium an der Cardozo Law School, abgedruckt in Habermas (Habermas 1996: 309ff.); über den Stand bis 1994 berichtet die Bibliographie von Deflem (Deflem 1994); eine Reihe von aufschlussreichen Beiträgen versammelt auch der Band von Rosenfeld und Arato (Rosenfeld/ Arato 1998). 155 »Habermas weiß natürlich, daß ein Diskurs mit allen Betroffenen in keinem Rechtsverfahren möglich ist. Er fordert deshalb nicht, daß man mit der Entscheidung warten müsse, bis der letzte Betroffene geboren, aufgewachsen und gehört worden ist. Die Leitformel lautet deshalb: ›Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten.‹ Alle Begriffe dieser Maxime werden sorgfältig erläutert - mit Ausnahme des ›könnten‹, in dem Habermas das Problem versteckt. […, J.G.] Aber wer stellt dann fest und wie tut er es, was rationale Zustimmung finden könnte? Wie wird diese entscheidende Operation, auf die im ›nachmetaphysischen‹ Zeitalter alles ankommt, juridifiziert? Damit bleibt auch, und auf allen Ebenen der Argumentation unklar, wie aus dem Konjunktiv ein Indikativ, aus dem Potentialis ein Realis wird, oder zum Beispiel: wie aus der frei diskutierenden Zivilgesellschaft, die es ja gar nicht gibt, politische Macht ›hervorgeht‹.« (Luhmann 1993: 46) 9 Habermas könnte auf all diese Einwände natürlich antworten, dass sie ihrerseits nur funktionieren, wenn sie entweder einem naturrechtlichen Modell folgten oder in den Rechtspositivismus abglitten 10 - andererseits weist Luhmanns Kritik zu Recht auf eine grundlegende Schwierigkeit hin. Habermas macht Legitimität nicht nur von Konsens, sondern auch von Vernünftigkeit abhängig. Wenn aber der Maßstab der Vernünftigkeit in einem »ortlosen Ort« (Habermas 1990: 196) liegt, dann bleibt jeweils offen, was mit dem Anspruch an möglicherweise vernünftige Überzeugungen auftreten kann und was nicht und wo man über die Berechtigung der Ansprüche vernünftigerweise entscheidet. Das Modell der deliberativen Demokratie macht daraus die Tugend der Forderung, dass der politische Prozess »an seinen« Rändern offen für die Produktion neuer »vernünftiger« Forderungen sein muss. Habermas sieht hierin auch einen Vorzug seines Modells gegenüber dem Konzept von John Rawls, der Fragen politischer Gerechtigkeit auf solche eines überlappenden Konsenses beschränkt (Rawls 2002: 6. Vorlesung). Dass dies zu restriktiv ist, kritisiert auch McCarthy: »Da gesellschaftliche und politische Kritik sich häufig auf grundlegende Rechte, Prinzipien und Werte richtet, um gegebene Auffassungsweisen in Frage zu stellen und die Bürger dazu zu bewegen, Grundfragen in neuem Licht wahrzunehmen, macht gerade ein öffentlicher Vernunftgebrauch es manchmal erforderlich, einen etablierten Konsens zu überschreiten.« (McCarthy 1996: 938) 9 Dass die real existierende Öffentlichkeit hinter ihrem Idealbild tatsächlich zurückbleibt, darüber informiert Gerhards (Gerhards 1997). 10 Luhmanns eigene Position ist ein dritte, für ihn bleibt die Abschließung des politischen Systems ein Geheimnis: »Die Schließung des Systems erfolgt an der Stelle, wo das Weisungen empfangende, administrativ belästigte Publikum der Individuen, Gruppen und Organisationen zum Volk wird; an der Stelle, wo die volonté de tous zur volonte générale wird. Diese Transformation aber bleibt Geheimnis.« (Luhmann 2000: 265) 156 So seltsam Rawls’ Annahme scheint - sie hat dennoch einen deutlichen Vorzug: Die Annahme kann nämlich sichern, dass im Bereich der politischen Gerechtigkeitsfragen überhaupt nur solche auftreten, die sich mit universalisierbaren Grundsätzen vereinbaren lassen. Habermas’ Konzept ist - wie wir gesehen haben - hier offener, denn es lässt auch ethische Fragen und solche des Interessenausgleichs als Fragen der Politik zu. Gleichzeitig ist sein Gerechtigkeitsmodell in derselben Weise wie das von Rawls auf universalisierbare Gehalte zugeschnitten. Da freilich nach Habermas die Rechtsinstitutionen und die moralischen Prinzipien zusammenstimmen müssen (»Gültige Rechtsnormen stehen […, J.G.] mit moralischen Normen in Einklang«, FG 193), ergibt sich der Sache nach wohl ein geringerer Unterschied als es auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint (vgl. auch Rawls 1995), denn wenn es keine Gewähr für die zeitübergreifende Vernünftigkeit der politisch-rechtlichen Ordnung gibt, kann die Legitimität zumindest der Grundordnung nur darin bestehen, dass über sie ein hinreichend großer Konsens (worauf immer dieser auch beruht) bereits besteht. Wenn die Vernünftigkeit dieses Konsenses durch die Dauerreflexion über seine Vernünftigkeit gesichert werden könnte, würde Luhmanns Einwand an Schärfe verlieren. Allerdings ist eine solche Dauerreflexion unter den Bedingungen einer komplexen und bereits rechtlich verfassten Gesellschaft nicht möglich - sie steht vielmehr unter raum-zeitlich und bereits gegebenen institutionellen Restriktionen, die mögliche Beiträge zulässt und ausschließt und daher nicht ihrerseits einer Deliberation zugänglich sind. All dies ist kein Einwand gegen die Explikation des demokratischen Rechtsstaates wie Habermas sie vorlegt, aber unter begründungstheoretischen Gesichtspunkten ein Hinweis auf die entscheidende Differenz zwischen einer Rekonstruktion des Selbstverständnisses einer modernen demokratischen Gesellschaft und der These von der Vernünftigkeit dieser Ordnung. Dass hier eine Spannung vorliegt, lässt sich auch an der Kontroverse zwischen Habermas und Rorty nachvollziehen. Rorty wirft Habermas vor, dass dieser nicht nur unsere Form der Gesellschaftsordnung als die für uns beste darstellt, sondern dies gleichzeitig mit der These verbindet, in ihr schlügen sich universell gültige und daher vernünftige Normen nieder. Für Rorty zeichnet sich der demokratische Rechtsstaat hingegen nicht dadurch aus, dass er als universell gültig gelten kann, sondern darin, dass er die von uns bejahte Lebensform ist. 11 11 »Damit bestreite ich aber nicht, dass diese [nicht-westlichen, J.G.] Gesellschaften gegenwärtige westliche Sitten annehmen sollten, indem sie beispielsweise Sklaverei abschaffen, religiöse Toleranz üben, Frauen Bildungsmöglichkeiten eröffnen, Mischehen zulassen, Homosexuelle und Kriegsdienstverweigerer tolerieren und so weiter. Als loyaler Angehöriger der westlichen Kultur meine ich, dass sie in der Tat all diese Dinge tun sollten.« (Rorty 2000: 96) Nach Rorty liegt hier eine historische Erfahrung zugrunde, die darauf beruht, zu erkennen, dass bisher als wesentlich erachtete Differenzen zwischen Menschen weniger relevant waren, als sie zuvor erschienen sind und Rorty glaubt auch, dass mit diesem Prozess eine Befreiung von Leid einhergehen kann (Rorty 1992: 310). Für Rorty ergibt sich dieser moralische Fortschritt aber aus Erfahrungen des Umgangs miteinander und nicht durch den Rekurs auf eine gemeinsame menschliche Natur und Vernunft (Rorty 2000: 97, Rorty 1992: 310). Eine demonstrierbare Überlegenheit oder universelle Geltung einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung hält Rorty entsprechend für eine Fehlannahme (Rorty 2000: 89ff.). 157 Habermas geht diese Aufgabe des Vernunftanspruchs zu weit. 12 Gleichzeitig scheint ihm das strikte Rechtfertigungsmodell für die Vernünftigkeit in dem Sinne utopisch, dass ein realer Diskurs, in dem über die Vernünftigkeit von Normen entschieden werden kann, nicht möglich ist. Habermas’ Versuch, diese Lücke zu schließen, besteht in der Annahme erstens eines Entgegenkommens von Rechtsordnung und Lebensform (s. auch Kapitel 10) und zweitens in der Annahme einer hinreichenden Offenheit des politischen Prozesses. Die Legitimität von Rechten bemisst sich folglich nicht daran, dass diese in einem universellen Diskurs gerechtfertigt wären, sondern dass sie in maximaler Weise für die Prüfung des Anspruchs auf Vernünftigkeit offen bleiben. Aus der Sicht eines strikten Anspruchs auf Begründbarkeit ist dies aber nur die zweitbeste Lösung. Auch führt sie zu notwendigen Lücken und Unentscheidbarkeiten. Habermas selbst hat dies am Fall des zivilen Ungehorsams ausbuchstabiert: »Die Möglichkeit des berechtigten zivilen Ungehorsams ergibt sich für ihn [den Regelverletzer, J.G.] allein aus dem Umstand, daß auch im demokratischen Rechtsstaat legale Regeln illegitim sein können - illegitim freilich nicht nach Maßgabe irgendeiner Privatmoral, eines Sonderrechts oder eines privilegierten Zugangs zur Wahrheit. Maßgeblich sind allein die für alle einsichtigen moralischen Prinzipien, auf die der moderne Verfassungsstaat die Erwartung gründet, von seinen Bürgern aus freien Stücken anerkannt zu werden.« (Habermas 1985a: 87) Daraus ergibt sich, wie Habermas einräumt, für den modernen Rechtsstaat ein Paradox: »Er [der Rechtsstaat, J.G.] muß das Mißtrauen gegen ein in legalen Formen auftretendes Unrecht schützen und wachhalten, obwohl es eine institutionell gesicherte Form nicht annehmen kann. Mit dieser Idee eines nichtinstitutionalisierbaren Mißtrauens gegen sich selbst ragt der Rechtsstaat über das Ensemble seiner jeweils positiv gesatzten Ordnungen hinaus. Das Paradox findet seine Auflösung in einer politischen Kultur, die die Bürgerinnen und Bürger mit der Sensibilität, mit dem Maß an Urteilskraft und Risikobereitschaft ausstattet, welches in Übergangs- und Ausnahmesituationen nötig ist, um legale Verletzungen der Legitimität zu erkennen und um notfalls aus moralischer Einsicht auch ungesetzlich zu handeln.« (Habermas 1985a: 87) 12 Er führt gegen die kontextualistische These von Rorty den unbedingten Charakter von Argumentationen ins Feld: »Daß eine Idealisierung der Rechtfertigungsbedingungen keineswegs von den ›dichten‹ Eigenschaften der jeweils eigenen Kultur ausgehen muß, sondern an den Form und Prozeßeigenschaften von Rechtfertigungspraktiken überhaupt ansetzen kann, die ja - wenn auch keineswegs immer in institutionalisierter Gestalt - in allen Kulturen verbreitet sind.« (WR, 258) Hierzu zählen nach Habermas die Unterstellung des Erfülltseins der Bedingungen der idealen Sprechsituation und die Annahme, dass wahre Aussagen »in allen möglichen Kontexten« wahr sind. (WR, 259) (vgl. auch Habermas 2008a: 15ff.) Zur Debatte zwischen Rorty und Habermas s. auch Kapitel 10. 158 Nimmt man es genau, so lässt sich diese Paradoxie nicht auflösen. Dies wäre nur unter einer Bedingung denkbar, die Habermas selbst vehement bestreitet, nämlich dass es Personen geben könnte, die bereits im Besitz eines privilegierten Zugangs zur Antwort auf die Frage wären, worin eine legitime Ordnung besteht. Wenn es einen solchen Zugang nicht gibt, dann muss Habermas die starken Vernunftansprüche tatsächlich abschwächen. Ob man damit Rorty Recht geben muss, lässt sich an dieser Stelle nicht entscheiden. Habermas’ Intuition, dass in den Verfassungen ein Stück Vernunft steckt, werden aber viele gerne teilen - gerade auch deshalb, weil es vernünftig scheint, totalisierende Vernunft- und Gesellschaftskonzeptionen für unvernünftig zu halten. 159 14. Postnationale Konstellation und die Zukunft der Demokratie Habermas hat seine demokratietheoretischen Überlegungen zunächst am Modell des Nationalstaates entwickelt. Zugleich war ihm aber klar, dass die Weltordnung zusehends angemessener als »postnationale Konstellation« beschrieben werden muss, in der die Nation nicht länger als die politische Letzteinheit fungieren kann: »Das zeigt sich heute an den Herausforderungen des ›Multikulturalismus‹ und der ›Individualisierung‹. Beide nötigen uns dazu, die Symbiose des Verfassungsstaates mit der ›Nation‹ als einer Herkunftsgemeinschaft aufzukündigen, damit sich auf abstrakterer Ebene die staatsbürgerliche Solidarität im Sinne eines differenzempfindlichen Universalismus erneuern kann. Die Globalisierung drängt gleichsam den Nationalstaat dazu, sich im Inneren für die Vielfalt fremder und neuer kultureller Lebensweisen zu öffnen. Zugleich schränkt sie den Handlungsspielraum nationaler Regierungen in der Weise ein, daß sich der souveräne Staat nach außen, gegenüber internationalen Regimen öffnen muß.« (Habermas 1998: 128) Wenn das so ist, dann stellt sich die Frage, welche Folgerungen sich daraus für die Zukunft der Demokratie ergeben. Habermas knüpft an die schon von Kant formulierte These an, dass die Zukunft der Demokratie nicht in einer Weltregierung, einem Weltstaat, liegen kann. 13 Vielmehr gehe es um die Skizzierung »einer politisch verfassten Weltgesellschaft ohne Weltregierung« (ZNR, 329). Wie kann eine solche »Weltinnenpolitik« aussehen? Habermas geht in der Formulierung seines Vorschlags über Kants Idee eines Völkerbundes hinaus, der auf einer freiwilligen Assoziation der Staaten beruhen sollte und historisch im »Völkerbund«, später in den »Vereinten Nationen« auch einen institutionellen Niederschlag gefunden hat. 14 Habermas meint vielmehr, dass eine Weltinnenpolitik durch ein »Mehrebenensystem« (Habermas 2004: 133ff.) realisiert werden sollte, das auf den jeweiligen Ebenen unterschiedliche Akteure kenne. Neben der nationalen Ebene bestehe erstens eine supranationale Arena, in der die reformierten (insbesondere von anderen Politikfeldern zu entlastenden) Vereinten Nationen die zentrale Rolle spielen sollen - allerdings beschränkt auf Fragen der Friedenssicherung und der Durchsetzung der Menschenrechte (ZNR, 334). Habermas verbindet diesen Entwurf mit einer kritischen Einschätzung nicht nur der auf ihre Kernkompetenz zurückzuschneidenden Vereinten Nationen, sondern auch mit einer Kritik insbesondere ihrer Sonderorganisationen wie der Weltbankgruppe und des Internationalen Währungsfonds, aber auch der Welthandelskonferenz. Ihnen fehlt aus Habermas’ Sicht die erforderliche Legitimation für eine Regelungskompetenz, da sie 13 Zur Diskussion dieser These vgl. auch den von Lutz-Bachmann und Bohman herausgegebenen Band (Lutz-Bachmann/ Bohman 2002). 14 Vgl. ausführlich: »Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance? « (in: Habermas 2004). 160 in die nationalen Regelungssysteme eingreifen, ohne dafür hinreichend legitimiert zu sein (ZNR, 363). Die zweite, die transnationale Ebene, betrifft die Vernetzung staatlicher und nicht-staatlicher Organisationen. Hier sieht Habermas einen wachsenden Bedarf, Fragen der weltweiten »Energie- und Umwelt-, der Finanz- und Wirtschaftspolitik« politisch zu regulieren. Einen geeigneten Akteur, der sich dieser Fragen annehmen könnte, sieht Habermas in »regionalen Regimen«, die jeweils für Kontinente die Verhandlungen bündeln und mit anderen regionalen Regimen verbindliche Regelungen treffen könnten - abgesehen von der EU ist aber noch kein mit einem hinreichenden Mandat versehenes Regime der von Habermas gedachten Art entstanden. Habermas’ Überlegungen werden bereits rezipiert und ihnen ist weiterhin eine Aufmerksamkeit sicher, da sich die Frage nach einer postnationalen Demokratie seit einigen Jahren in der Politikwissenschaft zunehmender Beachtung erfreut (s. u.a. Archibugi 1998, Czempiel 1992, Zürn et al. 2000, Zolo 1997, Archibugi/ Held 1995, Held 1995, Held/ Köhler 1998). In jüngerer Zeit setzt sich ein im Suhrkamp Verlag erschienener Band informiert und kritisch mit Habermas’ Überlegungen auseinander (Niesen/ Herborth 2007). Eine Schwierigkeit ergibt sich, wenn man, wie Habermas dies tut, politische Legitimität immer auch an eine politische Öffentlichkeit bindet. Sowenig von einer europäischen Öffentlichkeit die Rede sein kann, sowenig ist dies möglich, wenn man die globale Ebene betrachtet. Von einer »Weltöffentlichkeit« oder »Weltzivilgesellschaft« wird man bislang kaum oder höchstens in Ansätzen sprechen können. Habermas hat das Problem einer fehlenden europäischen Öffentlichkeit (»Braucht Europa eine Verfassung? « in Habermas 2001c: 104ff.) dadurch zu beheben versucht, dass er eine Öffnung der bestehenden Öffentlichkeiten füreinander fordert, das Gleiche verlangt er für die globale Ebene. »Die Lösung ist nicht der Aufbau einer supranationalen Öffentlichkeit, sondern die Transnationalisierung der bestehenden nationalen Öffentlichkeiten.« (Habermas 2008a: 190f.) Ingeborg Maus stellt die Frage, ob es nicht nur im Rahmen des Nationalstaates plausibel ist, davon auszugehen, dass Volkssouveränität und Rechte in dem engen Zusammenhang gedacht werden können, wie es Habermas in Faktizität und Geltung betont hatte. Wenn Rechtslegitimität darauf beruht, dass die Rechtsunterworfenen sich selbst als Autoren des Rechts verstehen können müssen, dann ergibt sich eine Spannung zu diesem Postulat, wenn Rechtssetzungskompetenz an Organe abgeben wird, die nicht zugleich - wie im Falle der Staatsbürgerschaft - die allgemeine Partizipation der Bürger und ihre gleichen Möglichkeiten der Teilhabe am politischen Prozess sichert. Gravierend wird dies nicht zuletzt auf der Ebene des transnationalen Regierens. Während Menschenrechtsschutz und Friedenssicherung sicherlich auf einen weitreichenden Konsens verweisen, auch wenn über konkrete Maßnahmen Dissens besteht, ist die Ebene des transnationalen Regierens anfälliger für die Festlegung von Recht, das den Charakter von Machtdurchsetzung und Kompromissbildungen tragen wird (so auch Habermas 2004: 135). Gerade hier wäre der Bedarf an Partizipationschancen der 161 Bürger besonders dringlich, soll das transnationale Regieren demokratisch legitim bleiben. Habermas selbst erkennt das von Maus aufgeworfene Problem: »Nur innerhalb demokratischer Verfassungsstaaten bestehen organisationsrechtliche Vorkehrungen für eine gleichmäßige Inklusion der Bürger in den Prozess der Gesetzgebung.« (Habermas 2004: 140) Ähnlich wie im Falle der Öffentlichkeit dürfe aber dieser Umstand nicht dazu führen, dass man der Frage ausweicht, wie sich dieses Legitimationserfordernis auf das politische System jenseits des Nationalstaates ausdehnen lässt, wie also die »schwache entstaatlichte Konstitutionalisierung« an die »Legitimationszufuhr vonseiten staatlich zentrierter Verfassungsordnungen« angebunden werden kann (Habermas 2004: 140, vgl. auch Habermas 2007: 438ff.). 162 15. Postsäkulare Gesellschaft: Die Rolle der Religion in der modernen Gesellschaft Habermas hatte in der Theorie des kommunikativen Handelns Religion als eine Erscheinung betrachtet, die im Zuge der Modernisierung ihren Platz räumen muss und einer Privatisierung anheimfällt. 15 Dies stand im Einklang mit seiner Überlegung, dass im Zuge der Modernisierung religiöse Weltbilder ihre die Gesamtordnung legitimierende Funktion verlieren. 16 Vor diesem Hintergrund markiert Habermas’ Friedenspreisrede Glauben und Wissen (Habermas 2001a) den Übergang nicht nur zu einem ausführlicheren, sondern auch zu einem neuen Zugang zum Thema Religion. Nach Habermas’ Einschätzung grenzt sich das postmetaphysische Denken gegen zwei Seiten hin ab: einerseits gegen ein naturalistisches Denken, das Vernunft lediglich dem naturwissenschaftlich-exakten Denken zubilligen will, andererseits gegen eine religiöse Fundierung der Vernunft (ZNR, 147). Dem Szientismus wirft Habermas dabei insbesondere vor, dass eine vollständige Naturalisierung allen Geschehens den Gedanken an eine argumentative Kraft von Gründen verwerfen muss (ZNR, 159, 254f.), weil sie davon ausgeht, dass es jenseits der Kausalität der neurowissenschaftlich und physikalisch beschreibbaren Vorgänge keinen eigenständigen Bereich für die Erwägung von Gründen mehr geben kann (ZNR, 163) (s. dazu auch Kapitel 16). Obwohl Habermas an der Idee festhält, dass die moderne, »detranszendentalisierte Vernunft« nicht auf religiöse Weltbilder zurückgreifen kann und muss, sieht er in den religiösen Traditionen gleichwohl eine Ergänzung der säkularen Vernunft. Habermas spricht daher in seinen neueren Arbeiten von einer »postsäkularen Gesellschaft«, d. h. einer solchen »die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt.« (Habermas 2001a: 13) 17 Daraus ergeben sich zwei Folgerungen für die säkulare Vernunft. 15 Zur Diskussion darum vgl. Transzendenz von innen, Transzendenz ins Diesseits, in Habermas (Habermas 1991) sowie Kommunikative Freiheit und negative Theologie. Fragen an Michael Theunissen, in: Habermas (Habermas 1997). Zur früheren Habermas-Rezeption in der Theologie vgl. auch den von Arens herausgegebenen Band (Arens 1989). Zum Privatisierungstheorem der Religion vgl. auch Schluchter (Schluchter 1981, wiederabgedruckt in Schluchter 1991). 16 Diese grundlegende Einschätzung der Habermas’schen Sicht bleibt zutreffend, auch wenn sich bei ihm schon zuvor Andeutungen finden lassen, die in die Richtung seiner jetzigen Thesen zur Religion weisen. Vgl. so ND, 60: »Solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft einer philosophischen Sprache (vorerst? ) entziehen und der Übersetzung in begründende Diskurse noch harren, wird Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängen können.« 17 Der Begriffdes Postsäkularen ist, wie Wolfgang Huber anmerkt, irreführend, denn er setze »voraus, dass für eine vorausliegende Phase unterstellt wird, die Gesellschaft sei säkular gewesen in dem Sinn, dass Religion keine gesellschaftsgestaltende Kraft gehabt hätte und die Menschen sich nicht von Religion hätten bestimmen lassen.« (Huber 2008: 135) Dieses Bedenken äußert auch Reeder (Reeder 2008: 53). Die Säkularisierungsdebatte ist verzweigt. Auch sind die Begriffe der Säkularisation und Säkularisierung mehrdeutig. »Unter Säkularisation wird zum einen die Ablösung und die Emanzipation weltlicher Bereiche von religiösen Einrichtungen und Normen verstanden, zum anderen aber auch der Niedergang religiöser Überzeugungen und Verhaltensformen und drittens die Abdrängung der Religion in die Privatsphäre.« (Casanova 2004: 272) 163 Erstens muss die moderne Vernunft Religion als einen Teil ihrer eigenen Geschichte (Genealogie der Vernunft) anerkennen, denn die Religion hat Momente des modernen Denkens (Ablösung vom magischen Weltbild, Individualismus) geprägt. Zweitens kann die Religion Momente zu Bewusstsein bringen, die einer aufgeklärten Vernunft zu entgehen drohen. »Religiöse Überlieferungen leisten bis heute die Artikulation eines Bewusstseins von dem, was fehlt.« (ZNR, 13) Hierzu rechnet Habermas »hinreichend differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und Sensibilitäten für verfehltes Leben, für gesellschaftliche Pathologien, für das Misslingen individueller Lebensentwürfe und die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge.« (ZNR, 115) Habermas sieht hier einen Mangel, der sich für ihn nicht zuletzt daraus ergibt, dass sich die gesellschaftliche Integration hin zu wirtschaftlichen Imperativen verschoben habe (ZNR, 247)(vgl. auch Habermas 2005: 26). Die nachmetaphysische Philosophie könne hier keinen »Trost« spenden (ZNR, 248). Drittens kann die Religion eine Rolle bei der Begründung von politisch-ethischen Entscheidungen spielen. So muss und kann die Religion nicht aus den zivilgesellschaftlichen Kontexten gelöst werden. Dabei muss man freilich sehen, dass Habermas hier einen Vorrang solcher Begründungen sieht, die weltanschaulich neutral sind, und zwar in dem Sinne, dass religiöse Begründungen nur dann öffentliche Anerkennung finden können, wenn sie mit Urteilen übereinstimmen, die nicht einer nicht-weltanschaulichen Begründung widersprechen: »Jeder muss wissen und akzeptieren, dass jenseits der institutionellen Schwelle, die die informelle Öffentlichkeit von Parlamenten, Gerichten, Ministerien und Verwaltungen trennt, nur säkulare Gründe zählen. […, J.G.] Religiöse Bürger können diesen ›institutionellen Übersetzungsvorbehalt‹ sehr wohl anerkennen, ohne ihre Identität, sobald sie sich an öffentlichen Diskussionen beteiligen, in öffentliche und private Anteile aufspalten zu müssen. Sie sollten daher ihre Überzeugungen auch dann in religiöser Sprache ausdrücken und begründen dürfen, wenn sie dafür keine säkularen ›Übersetzungen« finden.« (ZNR, 136) (vgl. auch Habermas 2008b: 33) Habermas will also einerseits den Einfluss der Religion nicht ausschalten, setzt diese aber doch unter den Vorbehalt einer Vereinbarkeit mit den Erfordernissen einer detranszendentalisierten Vernunft. Er nimmt an, dass die säkulare Haltung nicht alleiniger Ausdruck eines bestimmten Weltbildes ist, sondern es erlaubt, zu verschiedenen Weltbildern eine kognitive Distanz zu halten. Dies macht die moderne Vernunft einerseits von sich aus mit einem Pluralismus von Lebensformen kompatibel. Andererseits ergibt sich genau hieraus eine Lücke, die durch Antworten auf Gerechtigkeitsfragen nicht geschlossen werden kann, weil diese sich auf strikt verallgemeinerungsfähige Normen beziehen (ZNR, 270). Mit der These, dass die religiösen Gehalte einem Übersetzungsvorbehalt in eine säkulare Gerechtigkeitskonzeption unterliegen, verbindet sich die Annahme, dass politisch die religiösen Überzeugungen in dem Raum eine Rolle spielen, der im Vor- 164 feld der institutionalisierten Formen der Öffentlichkeit liegt: »Allerdings bilden die institutionellen Schwellen zwischen der ›wilden‹ politischen Öffentlichkeit und den staatlichen Körperschaften Filter, die aus dem Stimmengewirr der öffentlichen Kommunikationskreisläufe nur die säkularen Beiträge durchlassen.« (ZNR, 137) Habermas’ Konzeption der Moral geht wie bereits erwähnt davon aus, dass das Kriterium für moralische Richtigkeit formal ist - es erschöpft sich also darin, zu fragen, in welchem Maße Handlungen mittels des Diskursprinzips gerechtfertigt werden können. Habermas hat von diesen moralischen Fragen solche der ethischen Natur unterschieden, die nicht notwendig verallgemeinerungsfähig sowie auf Fragen des guten Lebens zugeschnitten sind. Er folgt mit dieser Idee der Kantischen Lesart der Moral, nach der diese unabhängig von den je individuellen Konzeptionen des guten Lebens begründet werden kann, zu denen religiöse Überzeugungen zu rechnen sind. Kant hatte freilich dennoch einen Zusammenhang zwischen Moral und Religion hergestellt. Die Schwierigkeit einer reinen Prinzipienmoral besteht nach Kant darin, dass sie keine Antwort auf die Frage bereithält, in welchem Maße die Einhaltung religiöser Gebote zur individuellen Glückseligkeit beiträgt oder nicht. Es bleibt, geht man von der reinen Prinzipienmoral aus, denkbar, dass dies überhaupt nicht geschieht oder die Einhaltung der moralischen Gebote sogar der Verwirklichung der individuellen Glückseligkeit zuwiderläuft (»Der Gerechte muss viel leiden.«). Dieses Auseinanderfallen einer Gerechtigkeitsmoral und möglicher Glückseligkeit erschien Kant unbefriedigend und daher fügte er an dieser Stelle einen Verweis auf die Religion ein. Die Religion bietet gemäß Kant eine Lösung, weil sie es erlaubt, einen Ort zu projizieren, in dem das moralisch geordnete Reich der Zwecke mit dem Erlangen von Glückseligkeit zusammenfallen kann. Die praktische Vernunft erfuhr so eine Erweiterung, die zwar nicht den Inhalt des Moralprinzips berührt, aber doch auf eine Erweiterung der praktischen Vernunft (ein Postulat der praktischen Vernunft, vgl. Kritik der praktischen Vernunft, A 238ff.) drängt, nach der die moralische Motivation und die individuelle Motivation zusammenfallen können. Kants Erweiterung der praktischen Vernunft - wenn auch nur im Sinne eines Postulats, dessen sie bedürfe, das sie aber nicht beweisen könne - hat in der Moral- und Religionsphilosophie sowie der Theologie eine breite Kontroverse ausgelöst. Dabei lassen sich drei Gegenpositionen unterscheiden: Erstens kann Kants Erweiterung als ein »Rückfall« hinter die Einsicht gewertet werden, dass die Moral in der Lage ist, eine autonome Motivation hervorzubringen bzw. als Beweis dafür, dass schon die These, Moral und Glückseligkeitsbedürfnis ließen sich trennen, ein Irrtum sei (vgl. auch Kapitel 10). Zweitens kann Kants Erweiterung als eine Funktionalisierung der Religion betrachtet werden, wenn er ihre Existenznotwendigkeit aus der Moral ableitet. Dem Sinn des Religiösen im Ganzen wird damit nicht hinreichend Rechnung getragen. Drittens kann aus der Sicht einer säkularen Position der Verdacht geäußert werden, dass Kant letztlich einen religiösen Notwendigkeitsbeweis in die praktische Vernunft »hineinschmuggle«, wenn man ihn so liest, dass ohne Religion Moralität nicht möglich ist. Eine »säkulare« moralische Motivation zur Religion werde damit ausgeschlossen. 165 Wie verhalten sich dazu die Überlegungen von Habermas? Er stimmt zwar der These zu, dass die reine Vernunftmoral eine motivationale Lücke aufweise. Im Gegensatz zu Kant rechnet er aber nicht notwendig mit einer Ergänzungsbedürftigkeit der säkularen Moral oder der politischen Verfassung, die sich auf säkulare Gründe stützt. Zwar sieht Habermas Gefährdungen einer solchen säkularen Grundlegung der Motive, aber die Frage, wieweit solche hinreichen, möchte er als eine empirische Frage behandelt wissen: »Ich halte es für besser, die Frage, ob sich eine ambivalente Moderne allein aus säkularen Kräften einer kommunikativen Vernunft stabilisieren wird, nicht vernunftkritisch auf die Spitze zu treiben, sondern undramatisch als eine offene Frage zu behandeln.« (Habermas 2005: 28, vgl. auch Habermas 2008c: 98f.) 18 Einen Notwendigkeitsbeweis für die Religion enthalten Habermas’ Überlegungen folglich nicht. Gegen eine funktionalistische Lesart seiner Überlegungen wehrt er sich ebenfalls. Der Sinn der Religion erschöpft sich seines Erachtens nicht nur in ihrer gegebenenfalls auftretenden motivationalen Rolle: »Die Philosophie muss dieses Phänomen [das Fortbestehen der Religion, J.G.] auch gleichsam von innen her als eine kognitive Herausforderung ernst nehmen.« (Habermas 2005: 28) Offen bleibt aus der Sicht einiger Interpreten, in welchem Maße die Trennung zwischen einer Sphäre der säkularen und einer religiösen Begründung von Verfassungsprinzipien gelingen kann (vgl. insbesondere Cooke 2006). Habermas trägt dem Eigensinn religiöser Begründungen in dem Maße Rechnung, dass diese aus öffentlichen Erwägungen nicht ausgeschlossen werden sollen. Gleichzeitig sollen sie in das Zentrum des politischen Prozesses nur gelangen können, sobald sie mittels des Übersetzungsvorbehaltes solchermaßen umformuliert werden können, dass sie auch als säkulare Gründe zählen können. Aber lässt sich diese Forderung tatsächlich durchhalten, wenn man gleichzeitig anerkennt, dass »die Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen […] ohnehin fließend« ist und daher »die Festlegung der umstrittenen Grenze als eine kooperative Aufgabe verstanden werden« muss (Habermas 2001a: 22)? Auch ist die Grenze zwischen ethischen und moralischen Begründungen der politischen Ordnung vielleicht fließender, als es auf den ersten Blick den Anschein hat (Reeder 2008: 59). Dass Habermas diese Grenze zwischen den säkularen und religiösen Gründen dagegen relativ strikt ziehen will, hat damit zu tun, dass er die Sphäre der Moral als den Bereich derjenigen Gründe versteht, die als strikt verallgemeinerungsfähig verstanden werden können - anders als solche Festlegungen, deren allgemeine Zustimmung sich daraus ergibt, dass sie die Konsequenz eines Kompromisses darstellen können, wie dies bei ethischen Überzeugungen der Fall ist. Habermas’ Optimismus, dass der moderne Verfassungsstaat auf einer solchen säkularen Begründung allein basiert, hängt an 18 Andererseits finden sich auch Passagen, in denen Habermas doch die Analyse nahelegt, unter säkularen Bedingungen ließe sich die Lücke von Moral und Ethik notwendig nicht schließen: »Eine nachmetaphysisch ernüchterte Philosophie kann diesen Mangel nicht kompensieren - jenen Mangel, den schon Kant gespürt hat. Sie verfügt nicht mehr über die Art von Gründen, die ein einziges motivierendes Weltbild vor allen anderen auszeichnen könnten, und zwar ein Weltbild, das existentielle Erwartungen erfüllt, ein Leben im Ganzen verbindlich orientiert oder gar Trost spendet.« (ZNR, 248) (vgl. auch Habermas 2008b: 30) 166 seiner Überzeugung, dass sich Menschen- und Grundrechte einer universalistischen Begründung aus einer profanen Moral verdanken können. 19 Bei aller Anerkennung der Religion bleibt dann das Religiöse zwangsläufig unterhalb des Filters einer säkularen Moral und einer auf dieser säkularen Moral beruhenden Gesellschaft. Daher kann Habermas die Lasten, die sich für säkulare und für religiöse Bürger stellen, auch asymmetrisch bestimmen: »Bisher mutet ja der liberale Staat nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zu, ihre Identität in öffentliche und private Anteile aufzuspalten. Sie sind es, die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden. So machen heute Katholiken und Protestanten, wenn sie für die befruchtete Eizelle außerhalb des Mutterleibes den Status eines Trägers von Grundrechten reklamieren, den (vielleicht vorschnellen) Versuch, die Gottesebenbildlichkeit des Menschengeschöpfes in die säkulare Sprache des Grundgesetzes zu übersetzen.« (Habermas 2001a: 21f.) An anderer Stelle weist Habermas aber gleichzeitig darauf hin, dass auch der »religiös unmusikalische Bürger« eine Last zu tragen hat: »Das Toleranzverständnis von liberal verfassten pluralistischen Gesellschaften mutet nicht nur den Gläubigen im Umgang mit Andersgläubigen die Einsicht zu, dass sie vernünftigerweise mit dem Fortbestehen eines Dissenses zu rechnen haben. Dieselbe Einsicht wird auch Ungläubigen im Umgang mit Gläubigen zugemutet.« (ZNR, 321f., vgl. auch 142,147) Lediglich der säkularisierte Bürger ist von beiden Zumutungen befreit: »Für das Bewusstsein des säkularisierten Bürgers, der sich mit schmalem metaphysischen Gepäck auf eine moralisch ›freistehende‹ Begründung von Demokratie und Menschenrechten einlassen kann, kann das Gerechte zwanglos Vorrang vor dem substantiell Guten genießen. Unter diesen Prämissen ergeben sich aus dem Pluralismus der Lebensweisen, in denen sich jeweils verschiedene Weltbilder spiegeln, keine kognitiven Dissonanzen mit eigenen ethischen Überzeugungen.« (ZNR, 321) Religiöse Überzeugungen fallen demnach im selben Maße wie nicht-religiöse Überzeugungen durch das Raster der Verallgemeinerungstests, sofern sie beanspruchen, ein 19 »Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und Religionen verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität der Wissenschaften einstellen, die das Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen.« (Habermas 2001a: 14) 167 bestimmtes Weltbild, das mit anderen Weltbildern in Konflikt steht als umfassend zu begreifen. Religiöse Überzeugungen sind demnach mit der Grundordnung der modernen Gesellschaft vereinbar, sofern sie den Überzeugungen anderer zusammenstimmen können. Natürlich hängt die Frage, in welchem Maße dies der Fall ist, wiederum davon ab, wie strikt die Anforderung an dieses Zusammenfallen definiert wird. Fordert man, dass alle denselben Normen aus denselben Gründen zustimmen können oder reicht eine hinreichend große Übereinstimmung der Inhalte? Wenn beides nicht gegeben ist, bleibt nach Habermas zur Konfliktlösung immer noch der Rückgriffauf Kompromisse. Die Frage, die wir an Habermas’ Überlegungen zur Bioethik weiter verfolgen können, ist nun, ob es auch moralische Vernunftansprüche gibt, die sich jenseits des Verallgemeinerungstests als zwingende Gründe nachweisen lassen - diese könnten dann als Argumente einer »profanen«, nicht-weltanschaulich gebundenen Moral gelten, die nicht nur deswegen profan wäre, weil sie auf einem hinreichend überlappenden Konsens divergierender Weltbilder oder einer ethischen Entscheidung für konfliktfreie Wertgrundlagen beruhte. 20 Zu suchen wären sie in den unhintergehbaren Voraussetzungen des Diskurses (vgl. Habermas 2008c: 105). 20 »Wenn wir von einer solchen Genealogie [der Vernunft aus religiösen Überzeugungen, J.G.] ausgehen, hätten moderne Gesellschaften ihre Praktiken der Lebenswelt und der politischen Gemeinschaft auf wahrheitsfähige Prämissen der Vernunftmoral und der Menschenrechte umgestellt, weil sie ein ethisches Worumwillen im Blick hatten - nämlich das Ziel, mit einer profanen Moral der gleichen Achtung für jeden die gemeinsame Basis für ein menschenwürdiges Dasein über radikale weltanschauliche Differenzen hinweg zu schaffen.« (Habermas 2006: 382f.) 169 VII. Die Zukunft der menschlichen Natur 16. Das Problem der Biowissenschaften Habermas hat sich in den letzten Jahren nicht nur verstärkt mit der Rolle der Religion in einer modernen Gesellschafts- und Vernunftkonzeption beschäftigt, sondern auch zur Frage der Bioethik Stellung genommen. Dabei wendet er sich dezidiert gegen Eingriffe in das menschliche Genom. Allerdings sucht er dabei eine Argumentationslinie, die sich nicht auf eine naturrechtlich oder religiös begründete Würde des Menschen in jedem humanen Zellverband verlässt (ZUMN, 55) - über die zudem kein Konsens besteht (ZUMN, 58) -, sondern er versucht konsequent eine Argumentation aufzubauen, die lediglich die schwachen Voraussetzungen des nachmetaphysischen Denkens in Anspruch nimmt. Habermas hat in diesem Sinne in seiner Friedenspreisrede ein Beispiel für eine solche Übersetzung religiöser Gehalte in eine säkulare Sprache gegeben: »Beispielsweise berufen sich in der Kontroverse über den Umgang mit menschlichen Embryonen manche Stimmen auf Mose 1,27: ›Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn.‹ […, J.G.] Diese Geschöpflichkeit des Ebenbildes drückt eine Intuition aus, die in unserem Zusammenhang auch dem religiös Unmusikalischen etwas sagen kann. […, J.G.] Gott bleibt nur so lange ein ›Gott freier Menschen‹, wie wir die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht einebnen. Nur so lange bedeutet nämlich die göttliche Formgebung keine Determinierung, die der Selbstbestimmung des Menschen in den Arm fällt. […, J.G.] Nun - man muss nicht an die theologischen Prämissen glauben, um die Konsequenz zu verstehen, dass eine ganz andere als kausal vorgestellte Abhängigkeit ins Spiel käme, wenn die im Schöpfungsbegriffangenommene Differenz verschwände und ein Peer an die Stelle Gottes träte - wenn also ein Mensch nach seinen eigenen Präferenzen in die Zufallskombination von elterlichen Chromosomensätzen eingreifen würde, ohne dafür einen Konsens mit dem betroffenen Anderen wenigstens kontrafaktisch unterstellen zu dürfen.« (Habermas 2001a: 28ff.) Sein Grundgedanke ist dabei, dass Eingriffe in das menschliche Erbgut in dem Maße nicht mehr gerechtfertigt werden können, in dem diese die Voraussetzungen der »nicht hintergehbaren normativen Grundlagen der gesellschaftlichen Integration« betreffen (ZUMN, 51). Habermas sucht also eine Begründung, die nicht auf ethischen Überzeugungen beruht, sondern in den Kernbereich der von ihm davon unterschiedenen Moral gehört, d. h. »säkulare Gründe« betrifft, »die in einer weltanschaulich plu- 170 ralistischen Gesellschaft vernünftigerweise auf Akzeptanz rechnen dürfen« (ZUMN, 40). Zu diesen gehört, dass die Teilnehmer an Diskursen sich als gleichberechtigte Personen anerkennen können müssen. Habermas’ These lautet nun, dass diese Voraussetzung verletzt wird, wenn die in einen Diskurs eintretenden Personen dies mit einer Geschichte tun, in deren Verlauf ihre Erbanlage Resultat eines gezielten Eingriffs war. Unter diesen Bedingungen könnten sie sich nicht mehr als »verantwortlicher Autor eigener Handlungen« verstehen (ZNR, 209), weil ihre Autonomie im Falle eines genetischen Designs schon in ihren grundlegenden Anlagen aufgehoben worden sei (ZUMN, 31, 49, 100). Damit verliere sich die Fähigkeit, »das geplante Kind als eine zweite Person anzusprechen« (ZUMN, 107). Habermas’ Anliegen, hier eine Position zu formulieren, die keine Prämissen in Anspruch nimmt, als jene, die in der Argumentation selbst liegen, ist sehr überzeugend. Seine Argumentation ist aber keineswegs auf ungeteilte Zustimmung gestoßen (einen Bericht und Hinweise auf die Kritiken finden sich im Postskriptum zu ZUMN, 127ff.). Zum Teil sieht Habermas diese Probleme selbst. Zum einen spricht sein Argument nicht gegen eine verbrauchende Stammzellforschung, also eine, die gar nicht an Zellen vollzogen wird, aus denen sich eine Person (im Sinne eines potentiellen Argumentationsteilnehmers) entwickeln kann (ZUMN, 120). Zudem muss Habermas auch begründen, warum dem menschlichen Embryo eine besondere Schutzwürdigkeit zukommt, bevor er überhaupt als öffentlicher Interaktionspartner in Erscheinung tritt (ZUMN, 66f.). Kritiker bezweifeln darüber hinaus, dass Habermas’ Argumentation konsistent sein kann. Wenn die personale Zurechnungsfähigkeit erst im Netzwerk kommunikativer Bezüge »erzeugt und reproduziert wird«, dann - so die Kritiker - »ist aber nicht zu erkennen, wie jemand in seinem moralischen Status von der fehlenden Naturwüchsigkeit seiner genetischen Ausstattung sollte beeinträchtigt werden.« (ZUMN, 135) Was Habermas daneben übersieht, ist der Umstand, dass unter Bedingungen eines technisch denkbaren genetischen Designs die menschliche Natur als unberührte nicht mehr den fraglos akzeptierten Startpunkt der eigenen Autorenschaft über das eigene Leben bilden kann. Habermas’ Kritik beruhte ja darauf, dass im Falle einer genetischen Planung und der sich gegebenenfalls einstellenden Unzufriedenheit mit den eigenen Erbanlagen die Eltern als Autoren der eigenen Lebensgeschichte die Wahrnehmung der eigenen Autonomie unterlaufen. »Aus der Perspektive des Betroffenen erscheinen die Eltern als ungebetene Mitautoren einer Lebensgeschichte, für die jeder, um sich im Handeln frei zu fühlen, die alleinige Autorenschaft beanspruchen muss.« (ZNR, 209) Zum einen mutet schon die Idee, dass Menschen in naturwüchsig gegebenen, also von ihnen unbeeinflussten Bedingungen ihre eigene Autorenschaft erkennen können sollten, etwas befremdlich an. Ein weiteres kommt hinzu. Wenn es denkbar gewesen wäre, eine genetische Programmierung vorzunehmen, wird nicht nur die Programmierung vorwerfbar, sondern auch ihre Unterlassung (ZUMN, 111, 138). Habermas’ Argument kann also nur so lange überzeugen, solange es gar nicht denkbar ist, solche Eingriffe vorzunehmen, denn sonst wird die eigene genetische Ausstattung immer die 171 Folge einer vorgängigen Entscheidung anderer sein - eben einer Entscheidung für oder gegen eine solche Programmierung. Dieses Problem wird sich aber mit großer Wahrscheinlichkeit stellen, nämlich dann, wenn es zum Vorwurf gemacht werden kann, dass die Umsetzung von Forschungsfortschritten, die auch Habermas kommen sieht 1 , verwehrt wurde. Wie immer man die Habermas’sche Argumentation einschätzt, sie verdeutlicht, dass mit der Übersetzung des religiösen Argumentes in eine säkulare Sprache wesentliche Restriktionen, welche die religiöse Argumentation beinhaltet, verloren gehen. Gravierend ist vor allem, dass genetische Eingriffe nur insofern untersagt werden müssen, als mögliche Personen betroffen sind. Das Argument würde weder in Bezug auf Embryonen greifen, denen diese Entwicklungschance gar nicht gegeben wird, noch bezogen auf solche Menschen, denen per genetischem Eingriffüberhaupt eine Art von Personsein ermöglicht werden könnte. Für die Frage nach den säkularen Grundlagen der modernen Gesellschaft ergibt sich hier ein Dilemma: Entweder beschränkt man die genetischen Eingriffe nur auf jenen Kernbereich, der durch eine säkulare Argumentation gedeckt ist, oder man sucht auf dem Wege des Kompromisses nach einer vertretbaren Menge von Restriktionen. 1 »Die wünschenswerte Erweiterung unseres biogenetischen Wissens und gentechnologischen Könnens kann nicht in dem Sinne selektiv sein, dass beides nur für klinische Zwecke verwendbar ist.« (ZUMN, 158) 173 VIII. Schluss 17. Ein Rückblick Es ist immer irreführend, das Werk eines Autors auf einen Grundgedanken oder eine Grundfrage hin zu deuten. Dies gilt auch für das Werk von Habermas - was nicht ausschließt, dass es erhellende Grundfragen gibt, die ein Licht auf dessen zentrale Aspekte werfen. Mittels einer solchen Grundfrage - der Frage nach den normativen Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft - soll abschließend ein Rückblick auf das Habermas’sche Werk versucht werden. Ein solches Unterfangen, die Bestimmung der normativen Grundlagen der kritischen Theorie, ist naturgemäß mit beträchtlichen Anforderungen verbunden, denn es zielt aufs Ganze, nicht nur aufs Detail. Hier kommt zwangsläufig ein Problem zum Tragen, das sich aus dem Unterschied zwischen Sein und Sollen ergibt. Aus der Beschreibung der Gesellschaft allein folgt nicht, in welchen Hinsichten diese Gesellschaft richtig oder falsch eingerichtet ist. Allerdings können aus solchen Beschreibungen durchaus Empfehlungen für eine Veränderung der Gesellschaft folgen. So kann der Sozialwissenschaftler auf einen Widerspruch zwischen Wollen und bestimmten sozialen Strukturen treffen. Wenn sich beispielsweise herausstellt, dass bei allen Gesellschaftsmitgliedern ein Interesse an einem möglichst effizienten Gesundheitssystem besteht, dass das gegebene System aber im Vergleich zu anderen diesen Anspruch nicht erfüllt, so wird er empfehlen können, das System entsprechend zu ändern. 1 In diesem Fall ist der Übergang zwischen Sein und Sollen dadurch vollzogen, dass im Sein das Sollen (hier als Wollen der Betroffenen) schon enthalten und als geltend entsprechend unterstellt ist (Weber 1988: 152). Nun gibt es über die Frage, ob sich wissenschaftlich praktische Werturteile begründen lassen, eine weitreichende Diskussion und die kritische Theorie steht naheliegenderweise eher auf der Seite derjenigen, die diese strikte Trennung ablehnen. Dem wird hier nicht nachgegangen, zumal sich Habermas im Grundsatz durchaus zu dieser Unterscheidung bekennt. Dann ergibt sich, wie Honneth betont, dass eine kritische Theorie der Gesellschaft von einem Gedanken ausgehen muss, der schon der Marx’schen Ideologiekritik zugrunde lag, »daß in der sozialen Wirklichkeit selber die normativen Ideale aufzuspüren sein mußten, anhand deren sich die Realität […, J.G.] begründet kritisieren lassen konnte« (Hon- 1 Es kann sich freilich auch herausstellen, dass bestimmte soziale Strukturen mit bestimmten Aspirationen unvereinbar sind. So hat beispielsweise Luhmann auf die Probleme einer ökologischen Erneuerung der Gesellschaft angesichts ihrer Differenzierung in je eigenrational operierende Teilsystem der Gesellschaft hingewiesen (Luhmann 1988). Ganz unabhängig davon, ob diese spezielle Diagnose zutrifft, ergibt sich auch in solchen Fällen ein Zusammenhang zwischen Sein und Sollen, denn in ihnen zeigt der Sozialwissenschaftler, dass die normativen Vorstellungen unter den gegebenen Bedingungen unrealisierbar oder zumindest nicht »einfach« zu realisieren sind. 174 neth 2007: 64). Die kritische Theorie, auf die Habermas in den 1950er-Jahren stößt, hatte sich gemessen daran - wie sich an der Dialektik der Aufklärung am deutlichsten zeigte - in eine ziemlich ausweglose Situation manövriert. Adorno und Horkheimer hielten zum einen an der Diagnose eines grundlegend falschen Modus von Vergesellschaftung fest. Dieser wurde aber nicht mehr primär unter dem Titel des Kapitalismus geführt, sondern unter dem Titel einer total gewordenen (instrumentellen) Vernunft, die zu einer vollständigen Repression in einer verwalteten Welt führen musste. Zum anderen hatten Adorno und Horkheimer den Gedanken fallengelassen, das Proletariat sei das revolutionäre Subjekt und wäre in der Lage, diesen Zustand aufzuheben (vgl. Benhabib 1992: 79ff.). Habermas’ Korrektur besteht in einer zunächst einfachen Operation - auch er kehrt nicht zu Marx zurück, sondern bemüht sich, die Verengung aufzuheben, die in der Analyse von einer nur instrumentellen Vernunft lag und die insbesondere Adornos Diagnose bestimmte (s. Kapitel 2). Den ersten groß angelegten Versuch, diesen Engpass zu überwinden, unternahm Habermas in Erkenntnis und Interesse. Hier sah er ein in der Gattung angelegtes emanzipatorisches Interesse am Werke, das den repressiven Charakter von Institutionen aufzuheben gestatten sollte. Habermas hat diesen Weg - und das ist wohl die einschneidenste Richtungsänderung, die sich in seinem Werk finden lässt - dann aufgegeben (s. Kapitel 4). Die Argumente sollen hier nicht mehr wiederholt werden - das zentralste lautete, dass hier das Modell eines Großsubjekts »Gattung« im Hintergrund stand. Mit der Abkehr des Modells der Erkenntnisinteressen wandelt sich für Habermas auch die Methode der Kritik. Ins Zentrum rückt jetzt die Methode der rationalen Nachkonstruktion und damit ändert sich zugleich der Bezugspunkt der Analyse: An die Stelle des Gattungsinteresses tritt jetzt die Analyse von immer schon wirksamen Tiefenstrukturen. Sie sollten zugleich konstitutiv für die Hervorbringung der sozialen Wirklichkeit sein sowie einen Maßstab der Kritik der Wirklichkeit enthalten. Habermas hat, wie wir gesehen haben, diesen rekonstruktiven Ansatz einerseits historisch fruchtbar zu machen versucht (s. Kapitel 7), zum anderen im Hinblick auf die Regeln sprachlicher Verständigung angewendet (s. Kapitel 8). Im Rahmen der historischen Rekonstruktion überträgt Habermas Kohlbergs Schema der moralischen Entwicklung auf die Gesellschaftsentwicklung. Es zeigte sich allerdings, das dieser Zugang in zwei Hinsichten problematisch ist: Erstens bleibt trotz aller Abgrenzung von der Geschichtsphilosophie eine Stufenthese auf die Projektion eines zukünftigen Gesellschaftszustandes angewiesen. Dieser lässt sich als solcher aber nur bestimmen, wenn man am Ende doch eine Geschichtsnotwendigkeit unterstellt. Zweitens rechtfertigt der historische Verlauf allein nicht die Annahme, dass die spätere Entwicklung gegenüber der vorherigen vernünftiger ist. Aussichtsreicher schien daher der Weg über die in jede sprachliche Verständigung schon eingelassenen Unterstellungen, die zugleich konstitutiv und kontrafaktisch sein sollen. Wenn beides gilt, hat Habermas tatsächlich einen Punkt identifiziert, an dem Sein und Sollen sich berühren. Diese Unterstellungen bestehen in zwei miteinander verwobenen Idealisierungen: der Unterstellung einer idealen Sprechsituation und den Unterstellungen eines auf 175 der Anerkennung von Geltungsansprüchen basierenden kommunikativen Handelns. Beide hängen über eine weitere, das kommunikative Handeln kennzeichnende Unterstellung zusammen, nämlich dass der Sprecher im Falle einer Zurückweisung des Geltungsanspruchs bereit ist, den Übergang zu einer diskursiven (also unter den Bedingungen der idealen Sprechsituation) ablaufenden Klärung der Berechtigung der erhobenen Geltungsansprüche zu vollziehen. Es ist nun fraglich, ob diese ingeniöse Lösung des Problems einer Identifikation der normativen Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft tatsächlich trägt. Bilanziert man die Einwände, so wird man hier eher zu einer ernüchternden Einschätzung gelangen müssen. Die Gründe sind vielfältig und in den Diskussionen mit Habermas alle entwickelt worden. Hier soll es noch einmal um die zentralen Punkte gehen. Im Hinblick auf die ideale Sprechsituation ergab sich zum einen das Problem, dass Habermas selbst rasch einräumte, sie tauge nicht als Bild einer idealen Gesellschaft, weil sie unter raum-zeitlichen Bedingungen nicht realisierbar sei. Das scheint auf den ersten Blick nicht so gravierend, denn man könnte immer noch von einer Annäherung an eine ideale Sprechsituation ausgehen: Es wäre die Gesellschaft vernünftiger, die sich im höheren Maße einer idealen Sprechsituation annähert. An dieser Stelle kommt Habermas aber der institutionalistische Vorbehalt in die Quere, den er in Faktizität und Geltung deutlich anerkennt: Die Vernünftigkeit von öffentlichen Erwägungen ist selbst strittig und es gibt »vernünftige« Einschränkungen schrankenloser Kommunikation. Woran bemisst sich nun aber die Vernünftigkeit solcher Restriktionen? Sie kann sich nur an einem Konsens bemessen, der unter den Bedingungen der idealen Sprechsituation erzielt worden wäre. Aber dieses Kriterium läuft leer, d. h. es führt zu keinen inhaltlichen Bestimmungen, wenn solche Diskurse faktisch undurchführbar sind. Auch das Konzept des kommunikativen Handelns erfuhr eine Reihe von Einwänden, die daran zweifeln lassen, dass es den Maßstab einer kritischen Theorie der Gesellschaft zu garantieren vermag. Habermas erkennt an, dass es sprachliches Handeln gibt, das die Bedingungen des kommunikativen Handelns nicht erfüllt und dass er zeigen muss, weshalb dieses gleichwohl unter den konstitutiven Bedingungen des kommunikativen Handelns steht. Habermas diskutiert ein solches Handeln unter den Stichworten der Täuschungen und der Imperative. Im Falle der Täuschungen akzeptiert der Sprecher die Bedingungen des kommunikativen Handelns nicht. Diesem Problem kann Habermas durch den Hinweis beikommen, dass Täuschungen offensichtlich nur funktionieren, wenn sie als Täuschungen unerkannt bleiben (auch wenn die sprechakttheoretische Unterscheidung von Illokutionen und Perlokutionen diese These nicht stützt). Die Imperative hingegen zwingen Habermas zu einer entscheidenden Revision des kommunikativen Handelns: Es gibt dieser zufolge sprachliches Handeln, in dem der Sprecher weder moralisch-praktische Geltungsansprüche erhebt noch dazu bereit ist, im Falle eines Widerspruchs eine diskursive Prüfung des erhobenen Geltungsanspruchs zu übernehmen. Man kann an der Idee, dass das kommunikative Handeln den Maßstab einer kritischen Theorie der Gesellschaft (mit)bestimmt, natürlich festhalten, aber die Revision des Begriffs des kommunikativen Handelns macht deutlich, 176 dass diesem kein Sollen zugrunde liegt, das sich schon aus der Verwendung der Sprache oder der Struktur der sprachlichen Verständigung ergibt, sondern letztlich ein kommunikativ-Handeln-Wollen der Akteure. Wenn sprachliche Verständigung auch ohne Anerkennung der für das kommunikative Handeln konstitutiven Unterstellungen möglich ist, dann klärt der Rekurs auf sie nicht die normativen Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Habermas hat nicht nur einen anderen Maßstab der Gesellschaftskritik entwickelt als Marx, Horkheimer und Adorno, sondern mit der Neubestimmung dieses Maßstabes ändert sich auch die Gesellschaftsdiagnose. Im Vergleich zu derjenigen von Horkheimer und Adorno wird sie »optimistischer«, weil Habermas den Maßstab der Gesellschaftskritik in einer kommunikativen Rationalität sieht, die in der Lebenswelt verankert ist. Der Abstand zu Marx ist trotz aller Anleihen beträchtlich. Marx hatte den Maßstab seiner kritischen Theorie der Gesellschaft zunächst in der nicht-entfremdeten Arbeit und dann im Wertgesetz formuliert. Dieses erlaubte, die ungleiche Aneignung des gesellschaftlich erzeugten Wohlstands nachzuweisen und hat schließlich die Veränderung der Gesellschaft an die dadurch erzeugten immanenten Widersprüchlichkeiten des Kapitalismus und an ein revolutionäres Subjekt, das Proletariat, gebunden. Mit all diesen Annahmen bricht Habermas. Er verortet nicht im Bereich der Arbeit, sondern im Bereich der Interaktion den kritischen Maßstab der Gesellschaftstheorie. Die Annahme eines notwendigen inneren Widerspruchs des Kapitalismus gibt er ebenso auf wie die Annahme eines revolutionären Subjekts. Die These, Habermas sehe keine innere Widersprüchlichkeit des Kapitalismus, scheint auf den ersten Blick vielleicht zu stark, denn er betont ja stets die Gefährdungen, die von diesem ausgehen. Nur ist zu bedenken, dass dieser Widerspruch für Habermas keiner ist, der sich aus dem Kapitalismus selbst ergibt, sondern aus seiner Spannung zum institutionellen Rahmen der Gesellschaft, im Wesentlichen zur Demokratie (so noch einmal Habermas 2008d: 182). Daraus ergibt sich dann für ihn auch eine veränderte Konfliktlage, welche die moderne Gesellschaft kennzeichnet. Diese Analyse ist nicht nur bei stärker an Marx orientierten Autoren auf Kritik gestoßen. Diese Kritik macht sich fest an Habermas’ Subsumption der Produktion unter die instrumentelle Vernunft, die sich in der modernen Gesellschaft subsystemisch verselbständige. Damit wird die Konfliktlage auf einen möglichen Konflikt zwischen Lebenswelt und System zugespitzt. Gemessen an der Marx’schen Ausgangslage transformiert sich das Gesellschaftsbild nicht nur im Hinblick darauf, dass die interne Dynamik des Kapitalismus aus dem Fokus des Interesses rückt (die Theorie des kommunikativen Handelns enthält weder eine ausführliche Analyse des Kapitalismus noch seiner Dynamik), sondern das Problem wird verallgemeinert: Nicht die kapitalistische Produktionsweise allein macht die Bedrohung der Lebenswelt aus, sondern sie ist im gleichen Maße durch administrativ-bürokratisches Verhalten bedroht. Habermas zieht also die Kapitalismuskritik und die These der verwalteten Welt zusammen, ohne dass er zu den Fragestellungen zurückkehrt, die in den Legitimationsproblemen angesprochen, wenngleich nicht beantwortet wurden - wie nämlich Kapitalismus und Staatlichkeit genau zusammenwirken. Auch die internen 177 Spannungslinien zwischen den systemischen Bereichen blieben damit weitgehend ausgeblendet. Viele Kritiker haben das daraus resultierende dualistische Gesellschaftsbild kritisiert, das den Eindruck einer normfreien Sphäre der Systemreproduktion und einer von Zweckrationalität entlasteten Lebenswelt nahelegte (s. Kapitel 11). Diese Auffassung führt dazu, dass die Spannung zwischen Lebenswelt und System zum Kern gesellschaftlicher Konflikte und Pathologien wird und im gleichen Zuge die internen Spannungen innerhalb der Sphäre der »Systeme« und innerhalb der Lebenswelt von Habermas entdramatisiert wurden. Zudem warf die Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System die Frage der Vermittlung zwischen beiden auf, die Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns nicht befriedigend beantworten konnte. Hierzu führte nicht nur der zugrunde liegende Dualismus, sondern zudem der Umstand, dass Habermas das Verhältnis von Lebenswelt und System im Anschluss an die Denkfigur bei Husserl doppeldeutig anlegte: Einerseits ist das System von der Lebenswelt unterschieden, andererseits sollen gleichzeitig in der Lebenswelt die bestandsdefinierenden Strukturen der Gesellschaft im Ganzen liegen. Ein bloß paralleles Nebeneinanderher von lebensweltlicher und systemischer Reproduktion ist damit unverträglich. Habermas hatte an dieser Stelle das Recht eingesetzt, aber auch dieses wieder »zweigeteilt«, in Recht als Medium und Recht als Institution. Das Vermittlungsproblem reproduzierte sich damit noch einmal auf einer höheren Stufe, nämlich als Frage nach der Einheit des Rechts. Habermas nimmt diese Differenzierung in Faktizität und Geltung zurück. Um die Rechtstheorie soll es hier nicht noch einmal gehen, sondern um eine zentrale Veränderung, die sich in gesellschaftstheoretischer Hinsicht in diesem Buch beobachten lässt. Die Klärung der moralischen Grundlagen strategischer Eigendynamiken mittels des Rechts hat nämliche eine Kehrseite, die auch die Lebenswelt betrifft: Da das Recht legitime Freiräume strategischen Handelns nicht nur in systemischen Bereichen definiert, ist auch die Lebenswelt durch das Vorkommen legitimen strategischen Handelns gekennzeichnet. Die Tragweite dieser Überlegung zeigt sich besonders, wenn man sie im Zusammenhang mit einer weiteren Veränderung liest, die Habermas zuerst in seinen Zugeständnissen an Hegelsche Motive in der Ethik vollzogen hatte, nämlich der Anerkennung, dass es ethische Motive geben kann, die einen berechtigten Anspruch auf Anerkennung enthalten, ohne dass sie dem Anspruch strikter Verallgemeinerungsfähigkeit genügen können und müssen. Die moderne Gesellschaft ist dann von Bereichen legitimer Zweckrationalität nicht nur durchzogen, weil sie ihr Problem materieller Reproduktion zu lösen hat, sondern auch deswegen, weil sie divergierende Anschauungen vom guten Leben miteinander kompatibel machen muss. Der »Fortschritt« gegenüber der Theorie des kommunikativen Handelns liegt also in der Aufsprengung eines kompakten und harmonistischen Bildes der Lebenswelt, an dem sich Habermas’ Kritiker zu Recht gestoßen haben. Die Frage, ob die Kompaktformel Lebenswelt damit überhaupt noch einen analytischen Gewinn erbringt, schlösse sich hier unmittelbar an. Habermas sieht in der Öffentlichkeit (die freilich weit in den politischen Institutionen verkörpert ist) in letzter Instanz den Ort, an der sich eine Kritik der Gesellschaft 178 vollziehen muss. Zudem hält er an seiner Überzeugung fest, dass nur die Normen in letzter Instanz die Legitimität einer Gesamtordnung ausmachen können, die einem strikten Verallgemeinerungstest standhalten können. Auch gilt, dass erst von ihnen aus die Legitimität von Kompromissen beurteilt werden kann. Wir haben gesehen, dass Habermas sich gleichzeitig dagegen verwehrt, hier für bestimmte Normen einen Letztbegründungsanspruch anzunehmen, was freilich tendenziell im Widerspruch zu seiner These stand, die Normen, die beispielsweise in den Verfassungen in Gesellschaften westlichen Typs verankert seien, könnten durchaus mit dem Anspruch universeller Rechtfertigbarkeit verbunden sein. Diese Zurückweisung des starken Letztbegründungsanspruchs ergibt sich aus der Ablehnung transzendentaler Letztbegründungsansprüche und der diskursethischen Grundannahme, dass Normenbegründungen reale Diskurse zwischen den Beteiligten erfordern. Auch der kritische Theoretiker kann demnach die Normen nicht kennen, die in letzter Instanz die Auszeichnung »vernünftig« verdienen. Es gehört zu den Stärken von Habermas, dass er der Wissenschaft ein solches Sonderwissen nicht zugestehen will und seine Tätigkeit als Wissenschaftler und als Kritiker entsprechend trennt. Dass Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit sich unter nachmetaphysischen Bedingungen nicht notwendig decken - auch das kann man von Habermas lernen. Manchen mag das »trostlos« erscheinen. 179 IX. Anhänge 18. Verzeichnis der Siglen E: Habermas, J., 1986: Entgegnung. S. 327-405. In: A. Honneth / H. Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ›Theorie des kommunikativen Handelns’. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. ED: Habermas, J. 1991: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. EI: Habermas, J. 1973: Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. FG: Habermas, J. 1994: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. LSK: Habermas, J. 1973: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. LSW: Habermas, J. 1982: Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. MKH: Habermas, J. 1988: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. ND: Habermas, J. 1992: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. PDM: Habermas, J. 1986: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. RHM: Habermas, J. 1995: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. 6. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. TGS: Habermas, J. / Luhmann, N., (Hrsg.) 1990: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Frankfurt a.M.: Suhrkamp. TKH: Habermas, J. 1987: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. 4., durchges. Auflage Frankfurt a.M.: Suhrkamp. (zitiert als TKH I) Habermas, J. 1987: Theorie des kommunikativen Handelns. Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft. 4., durchges. Auflage Frankfurt a.M.: Suhrkamp. (zitiert als TKH II) TWI: Habermas, J. 1969: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. VE: Habermas, J. 1989: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. 3. Auflage Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 180 WR: Habermas, J. 1999: Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. ZNR: Habermas, J. 2005: Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. ZUMN: Habermas, J. 2005: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 181 19. Kommentierte Bibliographie Es ist mittlerweile mit einem beträchtlichen Aufwand verbunden, allein die von Habermas verfassten Texte vollständig zu erfassen. Bei der Primärliteratur begrenze ich mich auf die Buchpublikationen. Bei der - unübersehbaren - Sekundärliteratur beschränke ich mich auf solche Bände, die Habermas’ Arbeit nicht nur unter einem spezifischen Gesichtspunkt wahrnehmen, sondern der breiteren Orientierung dienen und auch dies bleibt zwangsläufig noch selektiv. Primärliteratur Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) Habermas’ Habilitationsschrift, in der er die Veränderung der Öffentlichkeit nachzeichnet. Auf eine ständisch geprägte, repräsentative Öffentlichkeit folgt im bürgerlichen Zeitalter (18. und 19. Jahrhundert) eine auf der Kommunikation der Privatleute gekennzeichnete Form der bürgerlichen Öffentlichkeit, die allerdings gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch eine inszenierte und vermachtete Öffentlichkeit ersetzt wird, die unter Kommerzgesichtspunkten und durch staatliche Interventionen strukturiert wird. Der normative Sinn einer nicht durch Markt und Staat regulierten Öffentlichkeit wird hier von Habermas bereits herausgestellt und prägt seine späteren Arbeiten. Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien (1963) Dieses Buch versammelt frühe Schriften von Habermas. Sie stehen unter der Leitfrage, wie sich Theorie (als wissenschaftliche Erkenntnis) und Praxis (als menschliches Handeln) zueinander verhalten. Habermas weist die geschichtsphilosophische Antwort des historischen Materialismus zurück, nach der sich geschichtliche Notwendigkeiten aus der Theorie und der bisherigen Geschichte ableiten lassen. Diese Fragen verfolgt Habermas insbesondere in seiner Rekonstruktion des Historischen Materialismus weiter. Erkenntnis und Interesse (1968; 1971 mit einem neuen Nachwort) Habermas vertritt die These, dass Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie zu entfalten ist. Darunter versteht er eine Theorie über die menschliche Gattung, die er durch drei Interessen kennzeichnet: ein technisches, ein praktisches und ein emanzipatorisches. Habermas hat dieses Projekt später zugunsten der Universalpragmatik aufgegeben. Eine Gattungstheorie schien ihm zu sehr eine Einheitsperspektive (Gattungssubjekt) zu unterstellen. Außerdem, so Habermas, bleibe die erkenntnistheoretische Position der Bewusstseinsphilosophie verhaftet. 182 Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ (1968) Enthält wichtige Aufsätze auch im Hinblick auf die weitere Theorieentwicklung. Abgedruckt ist die Frankfurter Antrittsvorlesung Erkenntnis und Interesse, die in kurzer Form zentrale Thesen des gleichnamigen Buches präsentiert. Habermas nimmt in der Vorlesung programmatisch die zentrale These seiner später vollzogenen sprachpragmatischen Formulierung der Grundlagen der kritischen Theorie vorweg: »Das Interesse an Mündigkeit schwebt nicht bloß vor, es kann apriori eingesehen werden. Das, was uns aus der Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache.« (TWI, 163). Im titelgebenden Aufsatz setzt er sich mit Marcuses Kritik der Technik und Wissenschaft auseinander. Während Marcuse eine Transformation beider fordert, sieht Habermas das Projekt der Emanzipation eher im Bereich der Interaktion (kommunikatives Handeln), die er von Arbeit unterscheidet (zweckrationales Handeln). Mit seiner Kopplung dieser Unterscheidung an die von Lebenswelt und System nimmt er zentrale Motive der Theorie des kommunikativen Handelns vorweg. Auch die Krisendiagnose ähnelt bereits derjenigen in der Theorie des kommunikativen Handelns, denn er sieht eine technokratische Utopie (Sozialtechnologie) am Werk, die die öffentliche Diskussion praktischer Fragen stillzustellen droht. Protestbewegung und Hochschulreform (1969) Versammelt Arbeiten von Habermas zur Demokratisierung der Hochschule und zum Studentenprotest. Habermas tritt für eine weitergehende Demokratisierung ein, kritisiert aber zugleich das »neonanarchistische Weltbild«, das sich in Teilen der Studentenbewegung finden lasse. Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung (gemeinsam mit Niklas Luhmann) (1971) Der Band dokumentiert die Kontroverse zwischen Luhmann und Habermas. Der Titel ist der Tendenz nach irreführend, da Luhmanns Position sich nicht der Sozialtechnologie zurechnen lässt. Einig sind sich Habermas und Luhmann darin, dass der Sinnbegrifffundamental für die Soziologie ist. Während Habermas sie an kritisierbare Geltungsansprüche binden möchte, hält Luhmann dies für eine problematische Annahme: Nicht nur seien die idealen Bedingungen nicht erfüllbar, zudem bleibe der Begriffder Vernünftigkeit vage. Luhmann akzeptiert zugleich die Kritik von Habermas, der Systembegriffsetze eine Definition von Bestandskriterien für Systeme voraus, der schwer zu gewinnen ist. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973) Der Spätkapitalismus ist nach Habermas dadurch gekennzeichnet, dass der Staat als dritte Größe zu Kapital und Arbeit hinzutritt. Neben den ökonomischen Krisentendenzen, zeichnet sich der Spätkapitalismus insbesondere dadurch aus, dass der Staat einerseits den kapitalistischen Bedürfnissen dienen müsse, andererseits aber Massenloyalität herzustellen habe und zwar in der Form von »systemkonformen« Entschädigungen. Gelinge letzteres nicht in ausreichendem Maße, drohe neben anderem eine Legitimationskrise. 183 Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze (1973) Enthält unter anderem Habermas’ Vorwort zu Student und Politik von 1958, seinen Handbuchartikel zu »Öffentlichkeit« (1964), der Motive des Strukturwandels der Öffentlichkeit aufnimmt und die »Stichworte zur Theorie der Sozialisation« von 1968, ein Manuskript, das vielfach als Raubdruck zirkulierte und das eine bis heute lesenswerte Auseinandersetzung mit dem Rollenkonzept enthält. Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (1976) Der Großteil der Aufsätze hat zum Ziel, einen Zusammenhang zwischen der Gesellschaftsentwicklung und den entwicklungspsychologischen Arbeiten von Piaget und Kohlberg herzustellen, nach denen sich die individuelle kognitive und moralische Entwicklung in Stufen vollzieht. Mit der Aneignung einer Stufentheorie versucht Habermas einen mittleren Weg zwischen der von ihm kritisierten Geschichtsphilosophie und einer bloßen Ereignisgeschichte, die keine historischen Regelmäßigkeiten kennt, zu formulieren. Vier Aufsätze behandeln darüber hinaus das Thema der Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Politik, Kunst, Religion (1978) Sammlung anderswo bereits erschienener Texte zu Bloch, Adorno, Benjamin, Marcuse, Arendts Machtbegriff und zu Gershom Scholem. Theorie des kommunikativen Handelns (1981) Habermas’ Hauptwerk, in dem er die Zweischneidigkeit des modernen Rationalisierungsprozesses behauptet. Einerseits setzt dieser eine kommunikative Vernunft frei, gleichzeitig führt er zur Ausdifferenzierung von autonomen Teilsystemen, die die soziale Integration, die sich über kommunikatives Handeln vollzieht, gefährdet. Habermas beansprucht mit dem Konzept des kommunikativen Handelns einen breiteren Rationalitätsbegriffliefern zu können, der es erlaubt, die Einseitigkeit eines instrumentellen Rationalitätskonzeptes zu überwinden. Erst dadurch werde es möglich, den positiven Ertrag und die Risiken der Modernisierung für die Gesellschaft abzuschätzen. Philosophisch-politische Profile (1981 - gegenüber der ersten Auflage von 1971 erweitert) Der Band versammelt kurze Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge zu einer Reihe von Autorinnen und Autoren wie Martin Heidegger, Karl Jaspers, Arnold Gehlen, Helmuth Plessner, Ernst Bloch, Theodor W. Adorno, Alexander Mitscherlich, Karl Löwith, Ludwig Wittgenstein, Hannah Arendt, Wolfgang Abendroth, Herbert Marcuse, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Hans Georg Gadamer, Alfred Schütz, Max Horkheimer und Leo Löwenthal. 184 Kleine politische Schriften (I-IV) (1981) Enthält Schriften zu Hochschulreform und zur Protestbewegung, die zum Teil bereits in Hochschulreform und Protestbewegung abgedruckt sind. Hinzu kommen Arbeiten zur politischen Situation in den 1970ern. Ebenfalls aufgenommen ist ein Brief, in dem sich Habermas mit der einflussreichen Kritik von Robert Spaemann (Die Utopie der Herrschaftsfreiheit. Merkur 292, 1979: 735-752) auseinandersetzt, der in Habermas’ Diskurstheorie eine Utopie im schlechten Sinne (weil ein unrealisierbares politisches Projekt) gesehen hat (auch in Kultur und Kritik). Zur Logik der Sozialwissenschaften (1982, erweitert gegenüber der ersten Auflage von 1970) Der Band enthält Habermas’ Beiträge zum Positivismusstreit und seine Auseinandersetzung mit der hermeneutischen Tradition, einschließlich seiner Kritik an der Fassung von Gadamer. Aufgenommen ist auch Habermas’ Kritik an Luhmann, die ebenfalls in TGS erschienen ist. Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1983) Enthält vier Aufsätze zur Diskursethik. Das Konzept wird im Aufsatz Diskursethik - Notizen zu einem Begründungsprogramm grundlegend entfaltet. Die anderen Aufsätze ergänzen dies insbesondere durch die Klärung des Status einer rekonstruktiven Moraltheorie, die an Kohlberg anknüpft. Im Aufsatz Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln findet sich auf den Seiten 144 bis 152 eine prägnante Zusammenfassung der grundlegenden Aspekte des Konzepts des kommunikativen Handelns. Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns (1984) Der Band enthält die zentralen Texte zur Universalpragmatik, darunter Was heißt Universalpragmatik und zur Konsenstheorie der Wahrheit, Wahrheitstheorien. Die Erläuterungen zum Begriffdes kommunikativen Handelns fassen wiederum die zentralen Aspekte des kommunikativen Handlungskonzeptes zusammen. Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V (1985) Eine Fortsetzung der politischen Schriften. Im Zentrum der Arbeiten steht eine Kritik am Neokonservatismus. Habermas setzt hingegen auf Strukturen einer autonomen Öffentlichkeit, die es erlauben sollen, das Sozialstaatsprojekt auf einer neuen Basis fortzuführen (vgl. insbesondere Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien). Einen lesenswerten Überblick über Habermas’ politische und soziologische Perspektive bietet das Interview mit der New Left Review, das hier ebenfalls abgedruckt ist. Der Philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen (1986) Habermas setzt sich mit der philosophischen Rationalitätskritik auseinander. Besonderes Augenmerk legt er dabei auf neuere Strömungen wie den Poststrukturalismus. Anknüpfend an seine schon in der Theorie des kommunikativen Handelns ausgeführte Analyse zielt Habermas darauf ab, zu zeigen, dass die philosophische Rationalitätskritik nur dann zwin- 185 gend erscheint, wenn man Rationalität einseitig als kognitive und instrumentelle Vernunft versteht, wie dies die bewusstseinsphilosophische Tradition erzwinge. Ein am kommunikativen Handeln orientiertes Vernunftkonzept könne hingegen zeigen, dass das Projekt einer auf Rationalität gegründeten Moderne weiterhin Bestand hat. Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI (1987) Enthält neben Habermas’ Beiträgen zum Historikerstreit zwei Interviews - davon eines zu Habermas’ Zustimmung zum zivilen Ungehorsam - einen längeren Aufsatz zu Heine und zu anderen deutschen Intellektuellen, einen Aufsatz zur Idee der Universität und Reden, die sich gegen ein Vergessen des Nationalsozialismus richten. Die Moderne ein unvollendetes Projekt (1990) Sammlung von Texten, die Habermas für den Reclam Verlag Leipzig zusammengestellt hat. Sie enthält bereits anderswo abgedruckte Texte, die sich mit dem Projekt der Moderne, der deutschen Geschichte und dem Wandel von Staatlichkeit beschäftigen. Die Nachholende Revolution. Kleine Politische Schriften VII (1990) Enthält Interviews, die unter anderem den Status der Diskursethik und der idealen Sprechsituation zum Gegenstand haben, aber auch politische Fragen. Habermas verteidigt den Verfassungspatriotismus und drängt auf eine Anerkennung des Multikulturalismus sowie eine Vertiefung des Europäisierungsprozesses. Er macht zudem auf möglicherweise problematische Folgen der Wiedervereinigung aufmerksam. Erläuterungen zur Diskursethik (1991) Sammlung von Aufsätzen, die an Diskussionen um die Diskursethik anknüpfen. Habermas setzt sich insbesondere mit der Frage auseinander, in welchem Verhältnis moralische Fragen, also solche der Gerechtigkeit, zu ethischen Fragen stehen. Habermas besteht dabei auf dem unabhängigen Sinn moralischer Fragen und klärt ihre Abgrenzung zu pragmatischen und ethischen Fragen (Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft). Die Auseinandersetzung mit Kohlberg kreist ebenfalls um die Frage nach der Rolle des Ethischen in der Moral und um die Frage, in welchem Sinne von der Existenz der Moralstufe 6 ausgegangen werden kann und muss. Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze (1992) Habermas klärt ausführlich den Begriffdes nachmetaphysischen Denkens und die Grundlagen der Sprachpragmatik. Die Aufsätze Handlungen, Sprechakte, sprachliche Interaktionen und Lebenswelt sowie Zur Kritik der Bedeutungstheorie fassen die zentralen Thesen der Habermas’schen Handlungs- und Sprachtheorie gut und übersichtlich zusammen. Habermas setzt sich mit dem Problem der Kontextualität des Verstehens auseinander und der Frage, wie sich die Einheit der Vernunft angesichts des Auseinandertretens objektiver, sozialer und subjektiver Weltbezüge noch behaupten lässt. 186 Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates (1992) Habermas trifft hier die Unterscheidung zwischen moralischem und rechtlichem Diskurs. Aus dem Diskursprinzip leitet er ein System der Grundrechte ab und vertritt die These, dass Volkssouveränität und Grundrechte sich erst gemeinsam entfalten lassen. Damit will er zeigen, dass das Demokratieprinzip für die Rechtsbegründung keinen nachrangigen Stellenwert einnimmt. Texte und Kontexte (1992) Sammlung von zum Teil bereits veröffentlichten Schriften zu Peirce, Husserl, Heidegger, Wittgenstein, Horkheimer, Simmel und Mitscherlich, außerdem zur Stellung der Religion sowie der Soziologie der Weimarer Republik und der Entwicklung der Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik. Vergangenheit als Zukunft. Das alte Europa im neuen Europa? Ein Gespräch mit Michael Haller (1993, um einen Vortrag um ein Nachwort ergänzte Ausgabe des 1991 zunächst bei pendo erschienenen Textes) Den Großteil des Bandes bildet ein schriftlich geführtes Interview mit Habermas. Vergangenheit als Zukunft bezeichnet Habermas’ Sorge, mit der Wiedervereinigung und der mit ihr verpassten Chance eines bewussten Aktes der Verfassungsgebung einerseits sowie dem Golfkrieg andererseits könne Deutschland in einen neuen Nationalismus verfallen, der die Idee der Staatsbürgernation unterläuft. Auch die Asyldebatte wirft für Habermas die Frage auf, »ob die erweiterte Bundesrepublik heute den Weg der politischen Zivilisierung fortsetzen wird oder ob sich das alte Sonderbewußtsein in anderer Gestalt erneuert« (176). Habermas sieht in der EU und den Vereinten Nationen Akteure einer neuen »Weltinnenpolitik«, die einer solchen Entwicklung entgegenstehen. Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII (1995) Politische Schriften, die sich insbesondere mit der Frage auseinandersetzen, in welchem Maße das wiedervereinigte Deutschland droht, im Zuge der Normalisierung des Nationalbewusstseins zu einem deutschen Sonderbewusstsein zu führen, das an die Bismarck-Epoche anschließt (vgl. Vergangenheit als Zukunft). Zudem enthält der Band ein aufschlussreiches Interview zu Faktizität und Geltung. Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie (1996) Der Band enthält einen Aufsatz zur Diskursethik und zwei Texte zu John Rawls. Habermas grenzt hierin sein in Faktizität und Geltung entwickeltes Modell gegen Rawls’ Modell politischer Gerechtigkeit ab. Weitere Beiträge setzen sich mit der Zukunft des Nationalstaates und der globalen Integration unter den Bedingungen der postnationalen Konstellation auseinander. Außerdem finden sich Beiträge zum Verhältnis von Demokratie und Rechtsstaat. Sehr hilfreich, um die Diskussion um Faktizität und Geltung nachzuvollziehen, ist eine längere Replik zu einem Symposium zu diesem Buch an der Cardozo Law School. 187 Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck (1997) Zum Teil bereits veröffentlichte Sammlung von Aufsätzen - klärend im Hinblick auf Habermas’ eigene Theorieentwicklung und den Status der »idealen Sprechsituation« ist insbesondere die Laudatio für Karl-Otto Apel. Im Lichte der neueren Relevanz der Religion für Habermas ist seine Auseinandersetzung mit Michael Theunissen lesenswert. Die postnationale Konstellation. Politische Essays (1998) Im Zentrum steht die Frage nach der Zukunft der Demokratie unter den Vorzeichen der Globalisierung, die eine politische Integration jenseits der Nationalstaaten erforderlich werden lässt. Habermas skizziert die Grundlinien einer solchen postnationalen Demokratie. Daneben erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Goldhagen-Debatte und mit der Gentechnik. Wahrheit und Rechtfertigung (1999) Enthält einen wichtigen Aufsatz zum Begriffdes kommunikativen Handels (Rationalität und Verständigung. Sprechakttheoretische Erläuterungen zum Begriffdes kommunikativen Handelns), in dem Habermas eine Unterscheidung zwischen einem schwachen und einem starken Begriffdes kommunikativen Handelns trifft. Andere Beiträge dokumentieren eine weitere Wandlung der Habermas’schen Theorie. Wahrheit versteht Habermas jetzt nicht mehr epistemisch, also anhand der Bedingungen, unter denen Aussagen als wahr gerechtfertigt werden können, sondern als eine davon unabhängige »unverlierbare« Eigenschaft. Für praktische Fragen hält Habermas hingegen daran fest, dass Gerechtigkeitsfragen ihren Sinn durch die Rechtfertigungsprozedur erhalten. Glauben und Wissen. Friedenspreis des deutschen Buchhandels (2001) Enthält Habermas’ Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels und die Laudatio von Jan Philipp Reemtsma. Habermas präsentiert darin seine Überlegungen zur »postsäkularen Gesellschaft«. Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft (auch in: Zwischen Naturalismus und Religion) (2001) Habermas geht in diesem Band der Frage nach, wie sich unter Bedingungen einer naturalisierten Philosophie ein Anspruch auf ideale Bedingungen der Rechtfertigung aufrechterhalten lässt. Diese Überlegungen stehen in einem engen Zusammenhang mit der in Wahrheit und Rechtfertigung vollzogenen Revision des Wahrheitsbegriffs. Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX (2001) Die politischen Beiträge setzen sich anknüpfend an die Befunde in der Normalität einer Berliner Republik mit der Problematik der neuen Rolle Deutschlands auseinander. Zudem rechtfertigt Habermas den Nato-Einsatz im Kosovo, hält ihn aber für einen Ausnahmefall. Für die Zukunft ist seiner Überzeugung nach eine sinnvollere Gestaltung der UNO sowie eine Fortentwicklung der Europäischen Union unverzichtbar. In Braucht Europa eine 188 Verfassung? verbindet Habermas seine Befürwortung des Verfassungsprojektes mit Überlegungen zu einer zukünftigen europäischen Bürgergesellschaft. Da diese auf eine europäische Öffentlichkeit angewiesen sei, sieht Habermas eine Öffnung der nationalen Öffentlichkeiten füreinander als notwendig an. Zudem stellt er die Vorteile eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten heraus. Eine sehr gute Zusammenfassung der Überlegungen zum Verhältnis von Volkssouveränität und Menschenrechten, die Habermas in Faktizität und Geltung entwickelt hatte, bietet der Aufsatz Der demokratische Rechtsstaat - eine paradoxe Verbindung widersprüchlicher Prinzipien? Die Zukunft der menschlichen Natur (2002, erweitert gegenüber 2001) Habermas’ ausführliche Stellungnahme zur Frage der Bioethik. Er entfaltet dort sein Argument, dass genetische Eingriffe die Autonomie des Individuums verletzen müssen (vgl. auch seine Beiträge in Die postnationale Konstellation). Zeitdiagnosen. Zwölf Essays 1980-2001 (2003) Sammlung von bereits andernorts publizierten Reden und Aufsätzen. Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X (2004) Für ein starkes Europa, gerade angesichts des Irak-Krieges plädiert ein Aufsatz, den Derrida mitunterzeichnete und der Teil einer von Habermas angestoßenen Initiative war, an der sich ebenfalls Umberto Eco, Adolf Muschg, Richard Rorty, Fernando Savater und Gianni Vatimo beteiligten. Ein weiterer Text setzt sich mit der Situation im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins auseinander. Zudem finden sich kurze Texte zu europäischen Einigung und ein Interview, in dem Habermas zum Irak-Krieg und dem Afghanistan-Einsatz Stellung nimmt und in den Kontext seines Konzeptes einer Weltinnenpolitik stellt. Systematisch wird dieses Konzept in einem längeren Aufsatz mit dem Titel Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance? entfaltet. Habermas skizziert darin seinen Vorschlag für ein Mehrebenenmodell, das neben den Nationalstaaten für regionale Verbünde und eine gestärkte, gleichzeitig in ihrem Aufgabenbereich konzentrierte UNO plädiert. Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori (gemeinsam mit Jacques Derrida) (2004) Deutsche Übersetzung eines Bandes, der ein Interview mit Habermas und eines mit Derrida enthält und um eine Einleitung und Kommentare vom Interviewer Borradori ergänzt ist. Da es sich um kein gemeinsames Gespräch handelt, kommt es kaum zu einer Kontroverse zwischen Habermas und Derrida, sondern beide ordnen den 11. September je auf ihre Weise ein. Habermas deutet den Al-Qaida-Terrorismus darin vor allem als Folge einer gestörten Kommunikation - eine neue Weltinnenpolitik sieht er als mögliche Perspektive, um diesen Zustand zu überwinden. 189 Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze (2005) Sammlung von Aufsätzen, die sich vorrangig mit der Stellung des nachmetaphysischen Denkens beschäftigen. Dieses grenzt Habermas auf der einen Seite gegen einen reinen Szientismus ab, der Wissen allein als naturwissenschaftlich gewonnenes Wissen verstehen möchte, auf der anderen Seite gegen das religiöse Denken. Dieses müsse jedoch vom nachmetaphysischen Denken in dem Sinne aufgenommen werden, dass sich das nachmetaphysische Denken seiner geschichtlichen Herkunft aus dem Religiösen vergewissert. Zwar unterscheiden sich nachmetaphysisches und religiöses Denken hinsichtlich ihres Begründungsdenkens, ein notwendiger Gegensatz zwischen nachmetaphysischem Denken und religiösem Denken hinsichtlich bestimmter konkreter ethischer Forderungen folgt daraus aber nicht. Zudem verweise das religiöse Bewusstsein auf eine Grenze des nachmetaphysischen Denkens, das auf Gerechtigkeitsprinzipien fokussiert. Hier könne die Religion den Preis für die Modernisierung und das individuelle Leiden zu Bewusstsein bringen. Der abschließende Aufsatz (Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft) beschäftigt sich mit der Frage nach den Möglichkeiten einer »Weltinnenpolitik« und der dazu erforderlichen Verfassung. Dialektik der Säkularisierung (gemeinsam mit Joseph Ratzinger) (2005) Enthält die Texte der Referate, die Habermas und Kardinal Ratzinger anlässlich eines Treffens der beiden im Jahre 2004 gehalten haben. Habermas diskutiert die Frage, wie sich Philosophie und Religion in der »postsäkularen Gesellschaft« zueinander verhalten sollten. Säkulare und religiöse Überzeugungen enthielten zwar das Potential für fortgesetzten Dissens, dennoch sollten sich beide Seiten lernbereit verhalten. Ach Europa. Kleine Politische Schriften XI (2008) Enthält kurze, an Geburtstage und Todesfälle anknüpfende Texte zu Hermann Heller, Richard Rorty, Jacques Derrida und Ronald Dworkin sowie Aufsätze zur Zukunft Europas. Habermas sieht die Zukunft Europas entscheidend dadurch bestimmt, in welchem Maße sich die nationalen europäischen Öffentlichkeiten füreinander öffnen, da eine gemeinsame europäische Öffentlichkeit nicht bestehe. Zudem plädiert Habermas für ein europaweites Bürgerreferendum, das gegebenenfalls eine abgestufte Integration (Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten) innerhalb Europas zulässt. Zwei Aufsätze zur Öffentlichkeit untersuchen zudem die Frage, in welchem Sinne das in Faktizität und Geltung entwickelte Modell einer gestuften Öffentlichkeit empirisch nachgewiesen werden kann. 190 Sekundärliteratur Bibliographien Görtzen, R., 1981: Jürgen Habermas: Eine Bibliographie seiner Schriften und der Sekundärliteratur 1952-1981. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bislang die umfassendste Bibliographie auch der Sekundärliteratur. Ergänzungen nehmen vor: Görtzen, R., 1986: Bibliographie zur Theorie des kommunikativen Handelns. S. 406-416, in: A. Honneth / H. Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ›Theorie des kommunikativen Handelns‹. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Görtzen, R., 2000: Bi(bli)ographische Bausteine. Eine Auswahl. S. 541-597, in: S. Müller- Doohm (Hrsg.), Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit ›Erkenntnis und Interesse‹. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Horster, D., o. J.: Habermas: Werk und Wirkung (Auf der Basis der Auswahlbibliographie von René Görtzen kontinuierlich weitergeführt). (http: / / detlef.horster.phil.uni-hannover. de/ lit/ litera.htm).(Zugriff: 2009, 14.3.) Über Sekundärliteratur insbesondere zur Rechtstheorie informiert: Deflem, M., 1994: Habermas, modernity and law. A bibliography. Philosophy and Social Criticism 20. S. 151-166. Das Habermas-Forum (http: / / www.habermasforum.dk/ , Zugriff 14.3.2009) bietet eine umfassende Auflistung der Primärtexte (z. T. zuzüglich von Angaben zu Übersetzungen). Sammelbände und Monographien Alexy, R., 1995: Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sammlung von Aufsätzen zur Ethik- und Rechtstheorie. Sie knüpfen teils kritisch an Habermas an. Die Probleme der Diskursethik und der Konsenstheorie werden ebenso prägnant dargestellt und diskutiert wie die Frage nach dem Verhältnis von Diskursprinzip und Menschenrechten. Benhabib, S., 1992: Kritik, Norm und Utopie. Frankfurt a.M.: Fischer. Eine von der von Hegel an der Kant’schen Ethik geäußerten Kritik ausgehende Darstellung der Entfaltung der Grundlagen einer kritischen Theorie, die den Übergang von Marx zu Horkheimer nachvollziehbar macht, die Grundlagen der Diskursethik kritisch diskutiert 191 und die Momente der Sittlichkeit auch für die Diskusethik einfordert: Die Orientierung am konkreten Anderen, die diskursive Offenheit und der Kampf um Anerkennung müssten in ihr stärker aufgenommen werden. Benhabib formuliert damit eine Perspektive, die Axel Honneth mit seinem Konzept der Anerkennung ebenfalls aufnimmt. Dubiel, H., 2001: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas. 3. Aufl. Weinheim und München: Juventa. Knappe Einführung in die Kritische Theorie. Stellt ausführlich die Diskussion um die Spätkapitalismus-These dar, die zunächst von Pollock ausgearbeitet wurde und dann innerhalb der Kritischen Theorie zu grundlegenden Differenzen hinsichtlich der Deutung des Verhältnisses von Kapitalismus und Faschismus führte. Honneth, A. / Joas H. (Hrsg.), 1986: Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ›Theorie des kommunikativen Handelns‹. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Sammlung von Texten zur Theorie des kommunikativen Handelns. Nicht zuletzt aufgrund der systematisch hoch relevanten Entgegnung von Jürgen Habermas ein Standardwerk zur Beschäftigung mit Habermas’ Hauptwerk. Honneth, A. / McCarthy, T. / Offe, C. / Wellmer, A. (Hrsg.), 1989: Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Umfangreiche Sammlung von Arbeiten. Für die Diskursethik ist insbesondere der Aufsatz von Apel aufschlussreich. Ebenfalls zu den längeren Aufsätzen gehört der instruktive Aufsatz von Wellmer zur pragmatischen Bedeutungstheorie. Keulartz, J., 1995: Die verkehrte Welt des Jürgen Habermas. Hamburg: Junius. Keulartz liest Habermas vor dem Hintergrund seiner Dissertation und den frühen Schriften. Aus Schellings Denken übernehme Habermas das Bild einer »verkehrten Welt«, das sich aus der christlichen und jüdischen Mystik herleite und demzufolge in der Welt zwei Prinzipien, das Gute und das Schlechte, im Widerstreit stehen. Auch wenn man diese Diagnose nicht teilt, stellt der Autor wichtige Quellen für Habermas’ Denken dar, die nicht zur Frankfurter Schule zu rechnen sind: Heidegger, Rothacker und Arendt. Langthaler, R. / Nagl-Docekal, H. (Hrsg.), 2007: Glauben und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Wien: Oldenbourg Akademie Verlag. Auf ein Symposium zurückgehende Sammlung von Aufsätzen zur Deutung der Religion - sie enthält zudem eine ausführliche Replik von Habermas. 192 Matthiesen, U., o. J.: Das Dickicht der Lebenswelt und die Theorie des kommunikativen Handelns. München: Wilhelm Fink Verlag. Matthiesens Buch setzt sich mit Habermas’ Lebenswelt-Konzept auseinander. Obwohl es nicht ganz einfach zu lesen ist, klärt es nicht nur das Verhältnis zu anderen Autoren und die Bedeutung, die die Lebenswelt in Habermas Theorie des kommunikativen Handelns besitzt, sondern weist auch auf die Grenzen der Rationalisierungsfähigkeit der Lebenswelt hin. McCarthy, T., 1989: Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Das Buch liefert eine umfassende, nachvollziehbare und abwägend kritische Darstellung der Arbeiten von Habermas bis hin zur Theorie des kommunikativen Handelns und dem Philosophischen Diskurs der Moderne (McCarthys Abschnitte hierzu ergänzen in der deutschen Taschenbuchausgabe den Text des ursprünglich 1978 erschienenen Buches). Müller-Doohm, S. (Hrsg.), 2000: Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit ›Erkenntnis und Interesse‹. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Der Band vereinigt Arbeiten zu Habermas, die über eine Auseinandersetzung mit Erkenntnis und Interesse hinausgehen und Habermas als Gesellschaftstheoretiker, die methodologischen Grundlagen und das Theorie-Praxis-Problem in den Vordergrund rücken. Der Beitrag von Habermas klärt noch einmal in geraffter Form, warum er das Projekt einer Begründung kritischer Theorie mittels der Analyse von Erkenntnisinteressen aufgegeben hat. Thompson, J.B. / Held, D. (Hrsg.), 1982: Habermas. Critical Debates. Cambridge, Mass.: MIT Press. Lesenswerte Beiträge zu Habermas’ Denken vor der Theorie des kommunikativen Handelns. Habermas’ Replik ist auch in deutscher Übersetzung erschienen in VE, 475-570. Wellmer, A., 1986: Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wellmers Arbeit hat die Diskussion und Habermas’ eigene Entwicklung der Diskursethik und der Konsenstheorie maßgeblich geprägt. Wiggershaus, R., 1986: Die Frankfurter Schule. München und Wien: Hanser. Nach wie vor die umfassendste Darstellung der Frankfurter Schule. Nicht nur enorm materialreich, sondern auch sehr nachvollziehbar geschrieben. Ein Standardwerk. Wingert, L. / Günther, K. (Hrsg.), 2001: Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Festschrift anlässlich des 70. Geburtstages von Jürgen Habermas. Der umfangreiche Band vereinigt Arbeiten, die sich schwerpunktmäßig mit der Frage der Objektivität (im Anschluss an die Frage nach epistemischen und nicht-epistemischen Wahrheitskonzepten), mit der Spannung von Universalismus und Kontextualismus sowie mit Recht und Öffentlichkeit befassen. 193 20. Glossar Diskurs: In Diskursen werden ( → ) Geltungsansprüche mittels einer auf der Angabe von Gründen beruhenden Diskussion dieser Geltungsansprüche überprüft. Im Gegensatz zum ( → ) kommunikativen Handeln sind Diskurse daher auch nicht an die praktischen Handlungszwecke gebunden: Sie sehen von den raum-zeitlichen und sozialen Restriktionen ab, die das Handeln gewöhnlich prägen. Diese Idealisierung verweist auf die ( → ) »ideale Sprechsituation«, deren Geltung im Diskurs unterstellt wird. Es gibt verschiedene Formen des Diskurses. Die beiden wichtigsten sind theoretische Diskurse, in dem Wahrheitsansprüche überprüft werden, und praktische Diskurse, in denen normative Geltungsansprüche thematisiert werden. Vom Diskurs unterscheidet Habermas die ästhetische und psychologisch-therapeutische Kritik, da diese nicht durch verallgemeinerungsfähige Normen bzw. nicht durch eine egalitäre Argumentationssituation kennzeichnet sind. Diskursethik: Nach Habermas sind Normen moralisch gerechtfertigt, wenn sie unter den Bedingungen der ( → ) idealen Sprechsituation gerechtfertigt werden könnten. Die Diskursethik ist als Moraltheorie auf die Fragen nach dem Gerechten zugeschnitten, nicht auf diejenigen nach dem guten Leben. Sie ist universalistisch, da sie ein Moralprinzip auszeichnet, das nicht nur für eine bestimmte Kultur oder eine bestimmte Epoche, sondern allgemein gelten soll. Sie ist zudem kognitivistisch, da sie von der rationalen Entscheidbarkeit moralischer Fragen ausgeht, die der Entscheidung über Wahrheitsfragen ähnlich ist. Die Diskursethik ist schließlich formalistisch, da sie kein materiales Prinzip für die Entscheidung moralischer Fragen angibt, sondern ein Verfahren, durch das diese Fragen beantwortet werden können. Dieses Verfahren erfordert einen realen Dialog zwischen Individuen über die Gültigkeit bzw. Nichtgültigkeit von Handlungsnormen. Neben moralischen Fragen (die in den Bereich der Diskursethik fallen), kennt Habermas auch ethische Fragen des guten Lebens, diese sind aber, anders als moralische Fragen, nicht mit dem Universalitätsanspruch verbunden. Erkenntnisinteressen: Unter Erkenntnisinteressen versteht Habermas Interessen, die in der menschlichen Gattung verankert sind. Er unterscheidet in Erkenntnis und Interesse drei solcher Erkenntnisinteressen: ein technisches, das sich auf die Verfügung über die Natur richtet, ein praktisches, das sich auf Verstehen bezieht und ein emanzipatorisches, das auf die Befreiung von Herrschaft abzielt. Geltungsansprüche: »Ein Geltungsanspruch besagt, daß die jeweiligen Bedingungen der Gültigkeit einer Äußerung - einer Behauptung oder eines moralischen Gebots - erfüllt sind.« (ED, 130) Über die Berechtigung eines Geltungsanspruchs kann Habermas zufolge nur in einem ( → ) Diskurs entschieden werden. 194 Ideale Sprechsituation: In ( → ) Diskursen als geltend unterstellte Bedingungen. Hierzu zählen beispielsweise, dass Diskurse niemanden ausschließen und dass allein der »eigentümlich zwanglose Zwang des besseren Arguments« (TGS, 137) das Resultat des Diskurses bestimmt und nicht außerhalb des Diskurses gelegene soziale Zwänge (»herrschaftsfreier Diskurs«). Die ideale Sprechsituation ist für Habermas eine notwendige Unterstellung in Diskursen, die auch dann (kontrafaktisch) vorgenommen wird, wenn die Bedingungen nicht ideal sind. Illokution und Perlokution: Unterscheidung, die auf John L. Austin zurückgeht. Während der illokutionäre Aspekt einer Sprechhandlung kennzeichnet, welche Handlung ein Sprecher mit seiner Äußerung vollzieht, meint der perlokutionäre Aspekt die Folgen, welche die Sprechhandlung gegebenenfalls besitzt. Während das ( → ) kommunikative Handeln für Habermas auf illokutionären Akten beruht, weil die Absichten des Sprechers in der Äußerung manifest gemacht werden, beruht das ( → ) strategische Handeln nach Habermas auf perlokutionären Akten, mit denen der Sprecher nicht-deklarierte Ziele verfolgt. Anders als bei Austin versteht Habermas damit unter Perlokutionen in der Theorie des kommunikativen Handelns allein täuschende Sprechhandlungen. Für Habermas verbinden sich mit der illokutiven Kraft von Äußerungen zudem die Kennzeichen des (starken) kommunikativen Handelns. Instrumentelles und strategisches Handeln: Im Gegensatz zum ( → ) kommunikativen Handeln nicht verständigungsorientiert, sondern erfolgsorientiertes Handeln, d. h. ein solches, in dem der Akteur das Erreichen seines Handlungsziels nicht von einer Zustimmung anderer abhängig macht. Von instrumentellem Handeln spricht Habermas dann, wenn in das Handlungskalkül die Handlungen anderer Akteure nicht eingehen, vom strategischen dann, wenn dies der Fall ist. Kommunikatives Handeln: sprachlich vermitteltes Handeln, in dem die Sprecher eine verständigungsorientierte Haltung einnehmen und sich auf drei ( → ) Geltungsansprüche (Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit) beziehen. Dies geschieht reflexiv, d. h. die kommunikativ Handelnden sind bereit, alle Geltungsansprüche auch in ihrem Zusammenhang einer Prüfung zu unterziehen. Werden Geltungsansprüche kritisiert, so schließt sich die Bereitschaft an, dies in einem ( → ) Diskurs zu überprüfen. Von diesem »starken« kommunikativen Handeln unterscheidet Habermas später ein »schwaches« kommunikatives Handeln, das sich nur auf den Wahrheits- und den Wahrhaftigkeitsanspruch bezieht. Kommunikatives Handeln und ( → ) Lebenswelt stehen für Habermas in einem komplementären Verhältnis, da sich die Reproduktion der Lebenswelt im Wesentlichen über kommunikatives Handeln vollzieht. Vom kommunikativen Handeln unterscheidet Habermas ( → ) instrumentelles und strategisches Handeln. Kommunikative Macht: Hierunter versteht Habermas im Anschluss an Hannah Arendt »das Potential eines in zwangloser Kommunikation gebildeten gemeinsamen Wil- 195 lens.« (FG, 183) Habermas unterscheidet hiervon die administrative Macht und die soziale Macht (d. h. die Macht privilegierter Gruppen) als den zwei konkurrierenden Formen politischer Macht. Kompromisse: Bei Kompromissen handelt es sich um gemeinsame Festlegungen, die nicht auf verallgemeinerungsfähigen Gründen beruhen, d. h. solchen, welche die Beteiligten teilen, sondern auf »akteurrelativen« Gründen. Nach Habermas können Kompromisse moralisch gerechtfertigt sein, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Es gibt keine verallgemeinerungsfähigen Gründe und zwischen den beteiligten Parteien herrscht ein Machtgleichgewicht. Konsenstheorie: Wahrheitsfragen und moralische Fragen lassen sich im Rahmen theoretischer und praktischer ( → ) Diskurse klären. Die Einlösung der ( → ) Geltungsansprüche geschieht nicht anhand von Kriterien, die außerhalb des Verfahrens der diskursiven Einlösung liegen, sondern durch das Verfahren selbst. Diese »epistemische« Auffassung von Wahrheit und moralisch-normativer Richtigkeit hat Habermas für Wahrheitsansprüche revidiert - für Richtigkeitsfragen hält er hingegen an ihr fest ( → Diskursethik). Lebenswelt: Komplementärbegriffdes ( → ) kommunikativen Handelns, da die Lebenswelt für das kommunikative Handeln eine Ressource bildet, die im kommunikativen Handeln nie vollständig thematisch werden kann. Den Lebensweltbegriffentnimmt Habermas der phänomenologischen und sozial-phänomenologischen Tradition (Husserl, Schütz und Luckmann). Im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung treten die Strukturkomponenten der Lebenswelt (Kultur, Persönlichkeit und Gesellschaft) immer deutlicher auseinander und die Lebenswelt reproduziert sich immer mehr über die rationale Anerkennung von ( → ) Geltungsansprüchen. Die Strukturen der Lebenswelt definieren den Bestand der Gesellschaft, auch wenn sich aus der Lebenswelt im Zuge gesellschaftlicher Rationalisierung Sub-Systeme zweckrationalen Handelns ausdifferenzieren. Daher spricht Habermas von einen zweistufigen Gesellschaftskonzept, dem zufolge Gesellschaft zugleich über Lebenswelt und ( → ) System reproduziert wird. Die ( → ) Systemintegration kann gleichwohl die lebensweltliche (sozialintegrative) Reproduktion der Gesellschaft beschränken oder gar gefährden. Letzteres bezeichnet Habermas als »Kolonialisierung der Lebenswelt.« Nachmetaphysisches Denken: Dieses ist durch einen Wechsel von der Bewusstseinphilosophie zur Sprachphilosophie (linguistic turn) gekennzeichnet. Damit verbunden ist eine Detranszendentalisierung der Vernunft, d. h. eine Abkehr von der Transzendentalphilosophie, die davon ausgeht, dass es eine Erkenntnis a priori (das heißt unabhängig von Erfahrung) von Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung geben kann. Ein solches apriorisches Fundament jedes Wissens kann es aus der Sicht von Habermas nicht geben, auch wenn er für die Bedingungen der sprachlichen Verständigung selbst einen quasi-transzendentalen Status beansprucht, da es sich um unvermeidliche 196 Voraussetzungen handle. Gewonnen werden sollten sie mittels des Verfahrens der ( → ) rationalen Rekonstruktion. Das nachmetaphysische Denken begrenzt sich auf Fragen der Gerechtigkeit, also solche, die es erlauben, verallgemeinerungsfähige Normen zu bestimmen ( → Diskursethik). Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft: Die Öffentlichkeit bezeichnet einen sozialen Raum, der kommunikatives Handeln und kommunikative Macht ermöglicht (FG, 436). Die öffentliche Erwägung politischer und moralischer Fragen bildet für Habermas den unverzichtbaren Bestandteil einer demokratischen Kultur und entsprechend politischer Legitimität. Die Grundzüge der modernen Öffentlichkeit bilden sich im bürgerlichen Zeitalter aus und lösen die repräsentative Öffentlichkeit der Standesgesellschaft ab. Unter modernen Bedingungen sieht Habermas die Gefährdungen der Öffentlichkeit in den Manipulationen der Öffentlichkeit durch administrative und soziale Macht. Unter der Zivilgesellschaft versteht Habermas hingegen »Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen«, die gesellschaftliche Problemlagen in die politische Öffentlichkeit weiterleiten (FG, 443f.). Rationale Nachkonstruktion: Eine Methode, die darin besteht, die unvermeidlichen Unterstellungen zu identifizieren, die der Hervorbringung von Handlungen und Äußerungen zugrunde liegen. Die Methode der Rekonstruktion unterscheidet sich von transzendentalphilosophischen Untersuchungen dadurch, dass sie nicht davon ausgeht, dass die gefundenen Strukturen für alle Zeit notwendige Bedingungen darstellen. Für die Beteiligten aber sind die in der Rekonstruktion gefundenen Regeln dennoch »ein Wissen a priori« (VE, 384). Habermas verwendet die Methode der Rekonstruktion in seiner Auseinandersetzung mit dem Historischen Materialismus, aber auch der Universal- oder Formalpragmatik. Rationalität: Rationalität bezeichnet eine »Disposition sprach- und handlungsfähiger Subjekte« (TKH I, 44). Als Handlungsrationalität äußert sie sich entweder erstens als instrumentelle und strategische Rationalität. Dann orientiert sich das Handeln zweckrational, d. h. der Akteur wägt Mittel und Zwecke unter dem Gesichtspunkt der Erfolgsorientierung ab. Davon unterscheidet Habermas zweitens den Fall eines Handelns, das sich an kommunikativer Rationalität orientiert. Hier liegen dem Handeln die Kennzeichen des kommunikativen Handelns zugrunde. Gesellschaftliche Rationalität kann sich in einer gesteigerten Zweckrationalität äußern, die sich in einer wachsenden Verfügung über die Natur und damit einer Verbesserung der materiellen Reproduktion der Gesellschaft niederschlägt, oder in einer kommunikativen Rationalisierung, in der die Reproduktion der Gesellschaft zusehends auf einen Mechanismus der Handlungskoordination zurückgreift, der im geltungsbasierten Rationalitätspotential der Sprache liegt ( → Sozial- und Systemintegration). Sozial- und Systemintegration: Unter Sozialintegration versteht Habermas eine Handlungskoordination, die an den Orientierungen der Individuen ansetzt, unter 197 Sozialintegration eine, die Handlungsfolgen jenseits der Orientierungen der Akteure und normfrei koordiniert. Sozialintegration bezeichnet den Modus der Reproduktion der ( → ) Lebenswelt, Systemintegration denjenigen von Sub-Systemen zweckrationalen Handelns. Die Systemintegration kann für die Sozialintegration unter Umständen dysfunktionale Folgen besitzen. System: Mit »System« meint Habermas die gesellschaftlichen Teilbereiche, die sich mittels der ( → ) Systemintegration reproduzieren. In der Theorie des kommunikativen Handelns versteht Habermas hierunter den Staat und die Wirtschaft. Systeme koordinieren Handlungen dabei mittels sozialer Steuerungsmedien. In der Theorie des kommunikativen Handelns unterscheidet Habermas Macht und Geld als die systemischen Steuerungsmedien. Auch in der ( → ) Lebenswelt bilden sich Medien, Einfluss und Ansehen. Sie sind solche Medien, die von sprachlichen Konsensbildungen nicht getrennt werden können, während Macht und Geld unter Umgehung sprachlicher Konsensbildungen dazu in der Lage sind, Handlungen zu motivieren. Universalpragmatik oder Formalpragmatik: Sie richtet sich auf die Rekonstruktion derjenigen Bedingungen und Regeln, die es Handelnden ermöglichen, verständliche Äußerungen hervorzubringen. Sie soll für die Pragmatik (also den Bereich der Sprachverwendung) leisten, was Noam Chomsky für die Syntax untersucht hat, nämlich die Rekonstruktion von universellen Tiefenstrukturen, die allen Sprachen zugrunde liegen. Die Universal- oder Formalpragmatik kann nach Habermas zeigen, dass jede Äußerung auf ihren Handlungssinn ( → Illokution) verweist und dass die Hervorbringung von Sprechhandlungen an die Unterstellung gebunden ist, dass die Kennzeichen des ( → ) kommunikativen Handelns anerkannt werden. 198 21. Literatur Abendroth, W., 1968: Die Linke antwortet Jürgen Habermas. Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt. Adorno, T. W., 1951: Minima Moralia. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Adorno, T. W., 1975: Negative Dialektik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Adorno, T.W. / Dahrendorf, R. / Pilot, H. / Albert, H. / Habermas, J. / Popper, K. R., 1972: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie. Darmstadt/ Neuwied: Luchterhand. Albert, H., 1991: Traktat über kritische Vernunft. 5., verbesserte und erweiterte Aufl. Tübingen: Mohr (Siebeck). Albrecht, C. / Behrmann, G.C. / Bock, M. / Homann, H. / Tenbruck, F. H., 1999: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt a.M.; New York: Campus. Alexy, R., 1994: Basic Rights and Democracy in Jürgen Habermas’s Procedural Paradigma of the Law. Ratio Juris 7: S. 227-238. Alexy, R., 1995: Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Apel, K.-O., 1975: Der Denkweg von Charles S. Peirce. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Apel, K.-O., 1976a: Das Problem der philosophischen Letztbegründung im Lichte einer transzendentalen Sprachpragmatik. S. 55-82. In: B. Kanitscheider (Hrsg.), Sprache und Erkenntnis. Innsbruck: Amoe. Apel, K.-O., 1976b: Transformation der Philosophie. Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Apel, K.-O., 1976c: Transformation der Philosophie. Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Apel, K.-O., 1983: Läßt sich ethische Vernunft von strategischer Zweckrationalität unterscheiden? Zum Problem der Rationalität sozialer Kommunikation und Interaktion. Archivio di filosofia LI: S. 375- 434 Apel, K.-O., 1988: Diskurs und Verantwortung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Apel, K.-O., 1989: Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit? S. 15-65. In: A. Honneth, et al. (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung. J. Habermas zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Archibugi, D., 1998: Principles of Cosmopolitan Democracy. S. 198-228. In: M. Köhler (Hrsg.), Reimagining Political Community. Studies in Cosmopolitan Democracy. Cambridge: Polity Press. Archibugi, D. / Held, D. (Hrsg.), 1995: Cosmopolitan Democracy: An Agenda for a New World Order. Cambridge: Polity. Arens, E. (Hrsg.), 1989: Habermas und die Theologie. Beiträge zur theologischen Rezeption, Diskussion und Kritik der Theorie kommunikativen Handelns. 2. Aufl. Düsseldorf: Patmos. Arnason, J.P., 1980: Marx und Habermas. S. 137-184. In: A. Honneth / U. Jaeggi (Hrsg.), Arbeit, Handlung, Normativität. Theorien des Historischen Materialismus 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Augstein, R. / et al., 1995: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. 9. Aufl. München; Zürich: Piper. Austin, J.L., 1979: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). 2. Aufl. Stuttgart: Reclam. Baxter, H., 1987: System and Life-World in Habermas’s »Theory of Communicative Action«. Theory and Society 16: S. 39-86. Benhabib, S., 1992: Kritik, Norm und Utopie. Frankfurt a.M.: Fischer. Berger, J., 1986: Die Versprachlichung des Sakralen und die Entsprachlichung der Ökonomie. S. 255-277. In: A. Honneth / H. Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bergmann, G., 1952: Two Types of Linguistic Philosophy. The Review of Metaphysics: S. 417-438. Blank, S., 2006: Verständigung und Versprechen. Sozialität bei Habermas und Derrida. Bielefeld: transcript. Bohnen, A., 1984: Handlung, Lebenswelt und System in der soziologischen Theoriebildung: Zur Kritik der Theorie des kommunikativen Handelns. Zeitschrift für Soziologie 13: S. 191-203. 199 Bolz, N., 2008: Habermas als der Erzieher der Deutschen. S. 150-160. In: M. Funken (Hrsg.), Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Bühler, K., 1982: Sprachtheorie. Stuttgart: G. Fischer. Burkhardt, A., 1990: Speech Act Theory the Decline of a Paradigm. S. 91-128. In: A. Burkhardt (Hrsg.), Speech acts, meaning and intentions. Critical approaches to the philosophy of John R. Searle. Berlin/ New York: de Gruyter. Casanova, J., 2004: Religion und Öffentlichkeit. Ein Ost-/ Westvergleich. S. 271-293. In: K. Gabriel / H.- R. Reuter (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Paderborn/ München/ Wien/ Zürich: Schöningh (utb). Chomsky, N., 1957: Syntactic structures. s-Gravenhage: Mouton. Chomsky, N., 1965: Aspects of the theory of syntax. 2. Aufl. Cambridge, Mass.: MIT Press. Claussen, D., 2003: Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie. Frankfurt a.M.: Fischer. Cohen, J. / Arato, A., 1992: Civil Society and Political Theory. Cambridge, Mass.: MIT Press. Cooke, M., 1994: Language and Reason. A study of Habermas’s Pragmatics. Cambridge: MIT Press Cooke, M. A., 2006: Säkulare Übersetzung oder Postsäkulare Argumentation? Habermas über Religion in der demokratischen Öffentlichkeit. S. 341-365. In: H. Nagl-Docekal (Hrsg.), Glauben und Wissen: Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Wien/ Berlin: Oldenbourg Akademie Verlag. Culler, J., 1988: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Czempiel, E.O. / James N. Rosenau (Hrsg.), 1992: Governance without Government: Order and Change in World Politics. Cambridge: Cambridge UP. Dallmayr, W., 1974: Materialien zu Habermas’ ›Erkenntnis und Interesse‹. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Davidson, D., 1990: The Structure and Content of Truth. The Journal of Philosophy 87: S. 279-328. Deflem, M., 1994: Habermas, modernity and law. A bibliography. Philosophy and Social Criticism 20: S. 151-166. Demirovic, A. (Hrsg.), 2003: Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven der kritischen Theorie. Stuttgart; Weimar: Verlag J.B. Metzler. Derrida, J., 1977: Signature, Event, Context. S. 172-197. In: S. Weber / H. Sussman (Hrsg.), Glyph I. Baltimore und London: Johns Hopkins University Press. Derrida, J., 2001: Limited Inc. Wien: Passagen. Detel, W., 2000: System und Lebenswelt bei Habermas. S. 175-197. In: S. Müller-Doohm (Hrsg.), Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit ›Erkenntnis und Interesse‹. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dietz, S., 1993: Lebenswelt und System. Widerstreitende Ansätze in der Gesellschaftstheorie von Jürgen Habermas. Würzburg: Könighausen & Neumann Döbert, R., 1973a: Systemtheorie und die Entwicklung religiöser Deutungssysteme. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Döbert, R., 1973b: Zur Logik des Übergangs von archaischen zu hochkulturellen Religionssystemen. S. 330-363. In: K. Eder (Hrsg.), Entstehung von Klassengesellschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dorschel, A. / Kettner, M. / Kuhlmann, W. / Niquet, M. (Hrsg.), 1993: Transzendentalpragmatik. Ein Symposium für Karl-Otto Apel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dubiel, H., 2001: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas. 3. Aufl. Weinheim; München: Juventa. Dummett, M., 1992: Ursprünge der analytischen Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Durkheim, E., 1985: Soziologie und Philosophie. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Eder, K., 1973: Die Reorganisation der Legitimationsformen in Klassengesellschaften. S. 288-299. In: K. Eder (Hrsg.), Entstehung von Klassengesellschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Eder, K., 1976: Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Essler, W. K., 2008: Habermas ante portas! S. 97-106. In: M. Funken (Hrsg.), Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Farías, V., 1989: Heidegger und der Nationalsozialismus. Mit einem Vorwort von Jürgen Habermas. Frankfurt a.M.: Fischer. Frank, M., 1991: Subjektivität und Intersubjektivität. S. 410-477. In: M. Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität. Stuttgart: Reclam. 200 Frank, M., 2001: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis oder über einige Schwierigkeiten bei der Reduktion von Subjektivität. S. 217-242. In: L. Wingert / K. Günther (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fuchs-Goldschmidt, I., 2008: Konsens als normatives Prinzip der Demokratie. Zur Kritik der deliberativen Theorie der Demokratie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Funken, M., 2008: Vom Außenseiter zum geachteten Intellektuellen. S. 13-34. In: M. Funken (Hrsg.), Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Gadamer, H.-G., 1971: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu ›Wahrheit und Methode‹. S. 57-82. In: K. O. Apel / u.a. (Hrsg.), Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gadamer, H.-G., 1986: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 5. Aufl. Tübingen: Mohr (Siebeck). Gadamer, H.-G., 1999: Gesammelte Werke 2: Hermeneutik II. Tübingen: Mohr Siebeck. Garfinkel, H., 1967: Studies in ethnomethodology. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall. Gerhards, J., 1997: Diskursive versus Liberale Öffentlichkeit. Eine empirische Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 49: S. 1-34. Giegel, H.J., 1971: Reflexion und Emanzipation. S. 244-282. In: K. O. Apel / u.a. (Hrsg.), Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Goffman, E., 1969: Wir alle spielen Theater. Selbstdarstellungen im Alltag. München: Piper. Goffman, E., 1986: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Greve, J., 2002: Bedeutung, Handlung und Interpretation. Zu den Grundlagen der verstehenden Soziologie. Zeitschrift für Soziologie 31: S. 373-390. Greve, J., 2003: Kommunikation und Bedeutung. Grice-Programm, Sprechakttheorie und radikale Interpretation. Würzburg: Königshausen & Neumann. Greve, J., 2006: Das Werk Max Webers und die Theorie des kommunikativen Handelns. S. 112- 149. In: K. Lichtblau (Hrsg.), Max Webers »Grundbegriffe«. Kategorien der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Günther, K., 1988: Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Günther, K., 1989: Ein normativer Begriffder Kohärenz. Für eine Theorie der juristischen Argumentation. Rechtstheorie 20: S. 163-190. Habermas, J., 1954: Die Dialektik der Rationalisierung. Vom Pauperismus in Produktion und Konsum. Merkur 8: S. 701-724. Habermas, J., 1969: Protestbewegung und Hochschulreform. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1973: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1975: Sprachspiel, Intention und Bedeutung. Zu Motiven bei Sellars und Wittgenstein. S. 319-340. In: R. Wiggershaus (Hrsg.), Sprachanalyse und Soziologie. Die sozialwissenschaftliche Relevanz von Wittgensteins Sprachphilosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1978a: Politik, Kunst, Religion. Essays über zeitgenössische Philosophen. Stuttgart: Philipp Reclam jun. Habermas, J., 1978b: Theorie und Praxis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1981a: H. Arendts Begriffder Macht. S. 228-248. In: J. Habermas, Philosophischpolitische Profile. 3., erweiterte Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1981b: Kleine Politische Schriften (I-IV). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1982: A Reply to my Critics. S. 219-283. In: J. B. Thompson / D. Held (Hrsg.), Habermas. Critical Debates. Cambridge, Mass.: MIT Press. Habermas, J., 1985a: Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1985b: Reply to Skjei. Inquiry 28: S. 105-113. Habermas, J., 1987: Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften VI. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 201 Habermas, J., 1990: Die nachholende Revolution. Kleine Politische Schriften VII. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1991: Texte und Kontexte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1993: Vergangenheit als Zukunft. Das alte Deutschland im neuen Europa? Ein Gespräch mit Michael Haller. München; Zürich: Piper. Habermas, J., 1995a: Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1995b: Replik. Revue Internationale de Philosophie 49: S. 551-565. Habermas, J., 1996: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1997: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays. 1. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 1998: Die postnationale Konstellation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 2000: Nach dreißig Jahren: Bemerkungen zu Erkenntnis und Interesse. S. 12-20. In: S. Müller-Doohm (Hrsg.), Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit ›Erkenntnis und Interesse‹. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 2001a: Glauben und Wissen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 2001b: Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte Vernunft. Stuttgart: Reclam. Habermas, J., 2001c: Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften IX. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 2004: Der gespaltene Westen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 2005: Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates. S. 15-37. In: J. Habermas / J. Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Freiburg i.Br.: Herder. Habermas, J., 2006: Replik auf Einwände, Reaktionen und Einwände. S. 366-414. In: H. Nagl-Docekal (Hrsg.), Glauben und Wissen: Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Wien/ Berlin: Oldenbourg Akademie Verlag. Habermas, J., 2007: Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik: eine Replik. S. 406- 459. In: P. Niesen / B. Herborth (Hrsg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 2008a: Ach, Europa. Kleine Politische Schriften XI. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 2008b: Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. S. 26-36. In: M. Reeder / J. Schmidt (Hrsg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 2008c: Eine Replik. S. 94-107. In: M. Reeder / J. Schmidt (Hrsg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Habermas, J., 2008d: Ich bin alt, aber nicht fromm geworden. S. 181-190. In: M. Funken (Hrsg.), Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Habermas, J. / Friedeburg, L.v. / Oehler, C. / Weltz, F., 1961: Student und Politik. Eine soziologische Untersuchung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studenten. Neuwied: Luchterhand. Harrington, A., 2001: Hermeneutic Dialogue and Social Science: A Critique of Gadamer and Habermas. London: Routledge. Hegel, G. W. F., 1952: Phänomenologie des Geistes. Hamburg: Felix Meiner. Hegel, G. W. F., 1986: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Heidegger, M., 1986: Sein und Zeit. 16. Aufl. Tübingen: Niemeyer. Held, D., 1982: , Crisis Tendencies, Legitimation and the State. S. 181-195. In: J. B. Thompson / D. Held (Hrsg.), Habermas. Critical Debates. Cambridge, Mass.: MIT Press. Held, D., 1995: Democracy and the Global Order: from the Modern State to the Cosmopolitan Governance. Cambridge: Polity Press. Held, D. / Köhler, M. (Hrsg.), 1998: Re-imagining Political Community. Studies in Cosmopolitan Democracy. Cambridge: Polity. 202 Heller, A., 1982: Habermas and Marxism. S. 21-41. In: J. B. Thompson / D. Held (Hrsg.), Habermas. Critical Debates. Cambridge, Mass.: MIT Press. Henrich, D., 1975: Die Deduktion des Sittengesetzes. S. 55-112. In: A. Schwan (Hrsg.), Denken im Schatten des Nihilismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Henrich, D., 1987: Was ist Metaphysik - was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas. S. 11-43. In: D. Henrich, Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Henrich, D. C., 2007: Zwischen Bewussteinsphilosophie und Naturalismus. Zu den metaphysischen Implikationen der Diskursethik von Jürgen Habermas. Bielefeld: transcript. Höffe, O., 1993: Eine Konversion der kritischen Theorie? Zu Habermas’ Rechts- und Staatstheorie. Rechtshistorisches Journal 12: 70-88. Honneth, A., 1980: Arbeit und instrumentales Handeln. Kategoriale Probleme einer kritischen Gesellschaftstheorie. S. 185-233. In: A. Honneth / U. Jaeggi (Hrsg.), Arbeit, Handlung, Normativität. Theorien des Historischen Materialismus 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Honneth, A., 1989: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Honneth, A., 1994: Kampf um Anerkennung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Honneth, A. (Hrsg.), 1995: Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. 3. Aufl. Frankfurt a.M./ New York: Campus. Honneth, A., 2007: Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt. Zur Idee der Kritik in der Frankfurter Schule. S. 57-69. In: A. Honneth, Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Horkheimer, M., 1970: Verwaltete Welt. Zürich: Arche. Horkheimer, M., 1985: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt a.M.: Fischer. Horkheimer, M., 1996: Gesammelte Schriften. Bd. 18. Frankfurt a.M.: Fischer. Horkheimer, M., 2003: Traditionelle und kritische Theorie. S. 205-259. In: M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. Fünf Aufsätze. 5. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer. Horkheimer, M. / Adorno, T. W., 1986: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas. Frankfurt a.M.: Fischer. How, A., 1995: The Habermas-Gadamer Debate and the Nature of the Social: Back to Bedrock. Aldershot: Avebury. Huber, W., 2008: Habermas in protestantischer Tradition. S. 130-139. In: M. Funken (Hrsg.), Über Habermas. Gespräche mit Zeitgenossen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Iser, M., 2008: Empörung und Fortschritt. Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Frankfurt a.M./ New York: Campus. James, W., 1994: Der Pragmatismus. Ein neuer Name für eine alte Denkmethode. Hamburg: Meiner. Jay, M., 1976: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950. Frankfurt a.M.: Fischer. Joas, H., 1986: Die unglückliche Ehe von Hermeneutik und Funktionalismus. S. 144-176. In: A. Honneth / H. Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ›Theorie des kommunikativen Handelns‹. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kant, I., 1983: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? S. 53-61. In: I. Kant, Werke. Band 9. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Kant, I., 1990a: Kritik der praktischen Vernunft. 10. Aufl. Hamburg: Meiner. Kant, I., 1990b: Kritik der reinen Vernunft. 3. Aufl. Hamburg: Meiner. Kant, I., 1994: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg: Meiner. Keulartz, J., 1995: Die verkehrte Welt des Jürgen Habermas. Hamburg: Junius. Kimmerle, H., 1988: Ist Derridas Denken Ursprungsphilosophie? Zu Habermas’ Deutung der philosophischen ›Postmoderne‹. S. 267-282. In: M. Frank et al. (Hrsg.), Die Frage nach dem Subjekt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kirkham, R. L., 1995: Theories of Truth. A Critical Introduction. Cambridge; London: Bradford/ MIT Press. Kohlberg, L., 1996: Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 203 Kompridis, N., 1993: Über Welterschließung: Heidegger, Habermas, Dewey. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41: S. 525-538. Krämer, H., 1992: Integrative Ethik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lafont, C., 1994: Spannungen im Wahrheitsbegriff. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42: S. 1007- 1023. Langthaler, R., 1997: Nachmetaphysisches Denken? Kritische Anfragen an Jürgen Habermas. Berlin: Duncker & Humblot. Larmore, C., 1993: Die Wurzeln radikaler Demokratie. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41: S. 321- 327. Leist, A., 1977: Was heißt Universalpragmatik. Germanistische Linguistik: S: 79-112. Lockwood, D., 1964: Social and System Integration. S. 244-257. In: G. K. Zollschan / W. Hirsch (Hrsg.), Explorations in Social Change. Boston [u.a.]: Houghton Mifflin Co. Lorenzer, A., 1970: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lorenzer, A., 1977: Sprachspiel und Interaktionsformen. Vorträge und Aufsätze zu Psychoanalyse, Sprache und Praxis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, N., 1988: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher. Luhmann, N., 1993: Quod omnes tangit ... Rechtshistorisches Journal 12: S. 36-56. Luhmann, N., 2000: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Luhmann, N., 2005: Was ist Kommunikation? S. 109-120. In: N. Luhmann, Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Lumer, C., 1997: Habermas’ Diskursethik. Zeitschrift für philosophische Forschung 51: S. 42-64. Lutz-Bachmann, M. / Bohman, J. (Hrsg.), 2002: Weltstaat oder Staatenwelt? Für und wider die Idee einer Weltrepublik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Marcuse, H., 1973: Konterrevolution und Revolte. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Marcuse, H., 1995: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. 17. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Márkus, G., 1980: Die Welt menschlicher Objekte. Zum Problem der Konstitution im Marxismus. S. 12- 136. In: A. Honneth / U. Jaeggi (Hrsg.), Arbeit, Handlung, Normativität. Theorien des Historischen Materialismus 2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Marshall, T., 1992 [1949]: Staatsbürgerrechte und soziale Klassen. S. 33-94. In: T. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt a.M./ New York: Campus. Marx, K., 1975: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. Berlin: Dietz. Marx, K. / Engels, F., 1962: Die deutsche Ideologie. S. 13-77. In: K. Marx / F. Engels, Marx-Engels- Werke, Band 3. Berlin: Dietz. Marx, K. / Engels, F., 1980: Manifest der kommunistischen Partei. S. 459-493. In: K. Marx / F. Engels, Werke. Band 4. Berlin: Dietz. Matthiesen, U. (o.J.): Das Dickicht der Lebenswelt und die Theorie des kommunikativen Handelns. München: Wilhelm Fink Verlag. Maus, I., 1986: Verrechtlichung, Entrechtlichung und der Funktionswandel von Institutionen. S. 277- 331. In: I. Maus, Rechtstheorie und Politische Theorie im Industriekapitalismus. München: Wilhelm Fink Verlag. McCarthy, T., 1989: Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen Habermas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. McCarthy, T., 1996: Kantischer Konstruktivismus und Rekonstruktivismus - Rawls und Habermas im Dialog. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44: S. 931-950. Mead, G. H., 1973: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Mouzelis, N., 1991: Social and System Integration: Habermas’ View. S. 172-193. In: N. Mouzelis, Back to Sociological Theory. The Construction of Social Orders. Houndmills u.a.: Macmillan. Niesen, P. / Herborth, B. (Hrsg.), 2007: Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 204 Oelmüller, W. (Hrsg.), 1978: Materialen zur Normendiskussion. Bd.1: Transzendentalphilosphische Normenbegründung. Paderborn: Schöningh. Offe, C., 2006: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Veränderte Neuausgabe Frankfurt a.M./ New York: Campus. Parsons, T., 1949a: The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers. Volume I: Marshall, Pareto, Durkheim. New York: Free Press. Parsons, T., 1949b: The Structure of Social Action. A Study in Social Theory with Special Reference to a Group of Recent European Writers. Volume II: Weber. New York: Free Press. Parsons, T., 1980: Zur Theorie der sozialen Interaktionsmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag. Peters, B., 1993: Die Integration moderner Gesellschaften. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Petersen, T., 1992: Subjektivität und Politik. Hegels ›Grundlinien der Philosophie des Rechts‹ als Reformulierung des ›Contrat social‹. Frankfurt a.M.: Hain. Piaget, J., 1983: Das moralische Urteil beim Kinde. 2. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. Piaget, J., 2003: Meine Theorien der geistigen Entwicklung. Weinheim: Beltz. Piaget, J. / Inhelder, B., 1993: Die Psychologie des Kindes. München: dtv. Popper, K. R., 2005: Logik der Forschung. 11. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck. Rawls, J., 1979: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rawls, J., 1995: Reply to Habermas’s ›Reconciliation through the Public Use of Reason‹. Journal of Philosophy 92: S. 132-180. Rawls, J., 2002: Politischer Liberalismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Reeder, M., 2008: Wie weit können Glaube und Vernunft unterschieden werden? Religionsphilosophische und ethische Anmerkungen. S. 51-68. In: M. Reeder / J. Schmidt (Hrsg.), Ein Bewußtsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ricoeur, P., 1981: Hermeneutics and the Critique of Ideology. S. 63-100. In: J. B. Thompson (Hrsg.), Hermeneutics and the Human Sciences. Cambridge: Cambridge University Press. Rorty, R. (Hrsg.), 1967: The linguistic turn. Recent essays in philosophical method. Chicago: University of Chicago Press. Rorty, R., 1992: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Rorty, R., 1994: Sind Aussagen universelle Geltungsansprüche? Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42: S. 975-988. Rorty, R., 1995: Habermas, Derrida, and the Functions of Philosophy. Revue Internationale de Philosophie 49: S. 437-460. Rorty, R., 2000: Philosophie & Zukunft. Frankfurt a.M.: Fischer. Rosenfeld, M. / Arato, A. (Hrsg.), 1998: Habermas on Law and Democracy. Berkeley: University of California Press. Röska-Hardy, L., 1988: Die ›Bedeutung‹ in natürlichen Sprachen. Frankfurt a.M.: Athenäum. Scheler, M., 1926: Die Wissensformen und die Gesellschaft. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen Princips in der Erkenntnis der Welt. Leipzig: Der Neue-Geist Verlag. Schluchter, W., 1981: Die Zukunft der Religionen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 33: S. 605-622. Schluchter, W., 1991: Religion und Lebensführung. Band 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schluchter, W., 2007: Grundlegungen der Soziologie. Eine Theoriegeschichte in systematischer Absicht. Band II. Tübingen: Mohr Siebeck. Schmid, M., 1982: Habermas’s Theory of Social Evolution. S. 162-180. In: J. B. Thompson / D. Held (Hrsg.), Habermas. Critical Debates. Cambridge, Mass.: MIT Press. Schnädelbach, H., 1985: Artikel Philosophie. S. 37-76. In: E. Martens / H. Schnädelbach (Hrsg.), Philosophie. Ein Grundkurs. Band 1. Reinbek: Rowohlt. Schnädelbach, H., 1986: Transformation der kritischen Theorie. S. 15-34. In: A. Honneth / H. Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schneider, W. L., 2002: Grundlagen der soziologischen Theorie. Bd 1: Weber - Parsons - Mead - Schütz. Opladen: Westdeutscher Verlag. 205 Schütz, A., 1971: Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl. S. 86-118. In: A. Schütz, Gesammelte Aufsätze III: Studien zur phänomenologischen Philosophie. Den Haag: Nijhoff. Schütz, A., 1971f.: Gesammelte Aufsätze. Den Haag: Nijhoff. Schütz, A. / Luckmann, T., 1988: Strukturen der Lebenswelt. Band 1. 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schütz, A. / Luckmann, T., 1990: Strukturen der Lebenswelt. Band 2. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schützeichel, R., 2004: Soziologische Kommunikationstheorien. Konstanz: UVK. Schwinn, T., 2006: Lassen sich Handlungs- und Systemtheorie verknüpfen? Max Weber, Talcott Parsons und Niklas Luhmann. S. 91-111. In: K. Lichtblau (Hrsg.), Max Webers »Grundbegriffe«. Kategorien der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Searle, J.R., 1977: Reiterating the Differences. S. 198-208. In: S. Weber / H. Sussman (Hrsg.), Glyph 1. Baltimore and London: Johns Hopkins University Press. Searle, J. R., 1982: Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Searle, J. R., 1990: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. 4. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Searle, J. R., 1991: Response: Meaning, Intentionality, and Speech Acts. S. 81-102. In: E. Lepore / R. v. Gulick (Hrsg.), John Searle and his Critics. Cambridge; Oxford: Blackwell. Seel, M., 1993,: Über Richtigkeit und Wahrheit. Erläuterungen zum Begriffder Welterschließung. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41: S. 509-524. Sennett, R., 2008: Handwerk. Berlin: Berlin Verlag. Skjei, E., 1985: A Comment on Performative, Subject, and Proposition in Habermas’s Theory of Communication. Inquiry 28: S. 87-105. Thompson, J. B., 1982: Universal Pragmatics. S. 116-133. In: J. B. Thompson / D. Held (Hrsg.), Habermas: Critical Debates. Cambridge, Mass.: MIT Press. Tietz, U., 1992: Transzendentale Argumente versus Conceptual Scheme. Bemerkungen zum Begündungsstreit zwischen Universalismus und Kontextualismus. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40: S. 916-936. Tietz, U., 1993: Faktizität, Geltung und Demokratie. Bemerkungen zu Habermas’ Diskurstheorie der Wahrheit und der Normbegründung. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41: S. 333-342. Tugendhat, E., 1979: Selbstbewußstein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Tugendhat, E., 1992a: Habermas on Communicative Action. S. 433-440. In: E. Tugendhat, Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Tugendhat, E., 1992b: Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Tugendhat, E., 1994: Vorlesungen über Ethik. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Watzlawick, P. / Beavin, J.H. / Jackson, D. D., 2007: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. 11. Aufl. Bern: Huber. Weber, M., 1980: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen: Mohr. Weber, M., 1988: Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. S. 146-214. In: (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 7. Aufl. Tübingen: Mohr (Siebeck). Weinberger, O., 1994: Habermas on Democracy and Justice: Limits of a Sound Conception. Ratio Juris 7: S. 239-253. Weinrich, H., 1975: System, Diskurs, Didaktik und die Diktatur des Sitzfleisches. S. 145-161. In: F. Maciejewski (Hrsg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Beiträge zur Habermas- Luhmann-Diskussion. Theorie-Diskussion: Supplement 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wellmer, A., 1986: Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wellmer, A., 1989: Was ist eine pragmatische Bedeutungstheorie? S. 318-370. In: A. Honneth (Hrsg.), Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung. J. Habermas zum 60. Geburtstag. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wenzel, H. / Hochmuth, U., 1989: Die Kontingenz von Kommunikation. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41: S. 241-269. Wiggershaus, R., 1986: Die Frankfurter Schule. München; Wien: Hanser. 206 Wiggershaus, R., 2004: Jürgen Habermas. Reinbek: Rowohlt. Winch, P.,1974: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wittgenstein, L., 1963: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wittgenstein, L., 1984a: Philosophische Untersuchungen. S. 225-580. In: Werkausgabe Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wittgenstein, L., 1984b: Über Gewißheit. S. 113-257. In: Werkausgabe Band 8. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Wood, A.W., 1985: Habermas’ Defense of Rationalism. New German Critique 35: S. 145-164. Zimmermann, R., 1985: Utopie-Rationalität-Politik. Freiburg i. Br.; München: Alber. Zolo, D., 1997: Cosmopolis: Prospects for World Government. Cambridge: Polity Press. Zürn, M. / Walter, G. / Dreher, S. / Beisheim, M., 2000: Postnationale Politik? Über den Ursprung mit den Denationalisierungs-Herausforderungen Internet, Klimawandel und Migration. Zeitschrift für internationale Beziehungen 2: S. 297-331. Daniel Šuber Émile Durkheim 2009, ca. 150 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-645-8 Dietmar J. Wetzel Maurice Halbwachs 2009, ca. 150 Seiten, broschiert ISBN 978-3-86764-106-7 Amalia Barboza Karl Mannheim 2009, ca. 150 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-661-8 Jürgen Raab Erving Goffman 2008, 138 Seiten, br. ISBN 978-3-89669-550-5 Michael Kauppert Claude Lévi-Strauss 2008, 124 Seiten, broschiert ISBN 978-3-86764-033-6 Reiner Keller Michel Foucault 2008, 154 Seiten, br. ISBN 978-3-89669-549-9 Jörg Strübing Anselm Strauss 2007, 152 Seiten, br. ISBN 978-3-89669-548-2 Gabriela Christmann Robert E. Park 2007, 136 Seiten, br. ISBN 978-3-89669-559-8 Bernt Schnettler Thomas Luckmann 2006, 158 Seiten, br. ISBN 978-3-89669-545-1 Martin Endreß Alfred Schütz 2006, 156 Seiten, br. ISBN 978-3-89669-547-5 Stephan Moebius Marcel Mauss 2006, 156 Seiten, br. ISBN 978-3-89669-546-8 Weiterlesen bei UVK Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de UVK Verlagsgesellschaft mbH Bernd Ternes Karl Marx Eine Einführung 2008, 300 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-2987-0 In dieser Einführung wird Karl Marx als philosophischer, polit-ökonomischer, klassenkampf- und gesellschaftstheoretischer Denker vorgestellt. Bernd Ternes erläutert Marx’ zentrale Begriffe und Überlegungen und bettet sie in die Diskurse seiner Zeit ein. Zugleich erschließt er dessen kulturwissenschaftliches Potenzial und seine Bedeutung für die heutige Soziologie. Ein biografisches Kapitel und ein Glossar runden den Band ab. Bernd Ternes ist Privatdozent am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin und an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich. Weiterlesen bei UTB Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de