Literaturvermittlung
0701
2009
978-3-8385-3285-1
UTB
Literatur bedarf der Vermittlung, um beim Zielpublikum anzukommen - über Verlage und Medien, über Buchhandel und Bildungseinrichtungen, die klassischen Berufsfelder, in denen Literaturwissenschaftler/innen vorwiegend tätig sind.
Der Band beschreibt alle Aufgabengebiete der Literaturvermittlung und die kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhänge, deren Kenntnis für ihren Erfolg unabdingbar ist. Aus praktischer Perspektive führt er zugleich auch in die Literaturwissenschaft ein.
Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Köln · Weimar · Wien Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft · Stuttgart Mohr Siebeck · Tübingen Orell Füssli Verlag · Zürich Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich UTB 3285 Stefan Neuhaus Literaturvermittlung UVK Verlagsgesellschaft mbH Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8252-3285-6 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © Verlag Huter & Roth KG, Wien 2009. www.huterundroth.at Lizenznehmer: UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz Satz und Layout: Haller & Haller, Wien Einbandgestaltung : Atelier Reichert, Stuttgart Umschlagillustration aus: Paul Flora, Vergebliche Worte , Diogenes Verlag AG Zürich 1981, mit freundlicher Genehmigung Druck und Bindung : CPI - Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-21 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de Stefan Neuhaus ist Professor für Angewandte Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck und Leiter des Innsbrucker Zeitungsarchivs (IZA) Vorwort 7 E I N H E I T 1 Einführung: Literaturvermittlung in Theorie und Praxis 13 E I N H E I T 2 Literatur und Leser. Grundlagen der Rezeptionsforschung 25 E I N H E I T 3 Prädikat Wertvoll: Kanon und literarische Wertung 43 E I N H E I T 4 Literatur in Systemen, Feldern und Diskursen: Luhmann, Bourdieu, Foucault 61 E I N H E I T 5 Macht und Ohnmacht der Gate-Keeper: Literatur und Medien 95 E I N H E I T 6 Vom Büchermachen und Bücherverkaufen: Buchhandel und Verlagswesen 140 E I N H E I T 7 Emphatiker und Gnostiker: Chancen und Risiken der Literaturkritik 200 E I N H E I T 8 Literaturvermittlung in Bildungsinstitutionen 234 E I N H E I T 9 Flüchtige Zeiten: Tendenzen der Gegenwartsliteratur und ihrer Vermittlung 248 E I N H E I T 1 0 Grau ist alle Theorie: Literaturvermittlung in der Praxis Oliver Vogel, Rainer Moritz, Brigitte Schwens-Harrant, Markus Hatzer, Urs Heinz Aerni, Michael Huter 271 Schlussbemerkung 293 Weiterführende Literatur 298 Sachregister 309 Personen- und Titelregister 314 I N H A L T S V E R Z E I C H N I S V O R W O R T Weiß man nicht, daß Bücher Freunde sind, weiser als wir und treu wie Gold, in guten und erst recht in schlechten Zeiten? Erich Kästner 1 Was heißt und zu welchem Zweck studiert man Literaturvermittlung? Das Kompositum Literaturvermittlung besteht aus den Substantiven Literatur und Vermittlung. Hier beginnen die Fragen, auf die dieses Buch eine Antwort sucht: Was ist Literatur und wie kann man sie vermitteln? Bei dieser einen Frage wird es nicht bleiben. Sie wird in eine Vielzahl von Fragen ausdifferenziert werden müssen, etwa nach den Implikationen des ‚Vermittelns‘, den technischen Voraussetzungen, den Präsentationsmöglichkeiten… Diese schwierigen Fragen lassen sich vorerst zurückstellen, wenn man die Blickrichtung umkehrt und sich fragt, wer überhaupt Literatur vermittelt. Offenkundig handelt es sich um Menschen, die mit Literatur zu tun haben. Hier lässt sich zwischen Hobby-Lesern und professionellen Lesern unterscheiden, was nicht heißen soll, dass Letztere Ersteren überlegen sein müssen; ihre Professionalität besteht zunächst einmal nur darin, dass sie sich von Berufs wegen mit dem Vermitteln von Literatur befassen. Nun können Menschen auch beides zugleich sein. Wenn ich einem Freund erzähle, dass ich gerade den neuen Roman Halbschatten von Uwe Timm gelesen habe und ihn ganz großartig finde, weil er die deutsche Vergangenheit auf so differenzierte und menschliche Weise behandelt, dann erzähle ich dies als Hobby-Leser. Wenn ich diese meine Meinung aber in einer Literaturkritik näher ausführe, dann tue ich das als professioneller Leser. Natürlich gibt es dazwischen eine Grauzone, dazu gehören die boomenden Laienkritiken im Netz, etwa auf den Seiten des Online- Buchhändlers Amazon oder in Weblogs (=Internettagebüchern). Literaturvermittler von Beruf, um die es vorrangig gehen soll, sind immer professionelle Leser, und eigentlich sind professionelle Leser auch immer Literaturvermittler. Es wird sich jedoch ein engerer, gängiger Begriff von Literaturvermittlung skizzieren lassen. Bestimmte Berufe werden 1 Über das Nichtlesen von Büchern. Ein imaginärer Vortrag auf dem deutschen Büchermarkt über denselben. Nichtgehalten und mitstenographiert von Erich Kästner. Nichterlebt und mitgezeichnet von Paul Flora. Frankfurt/ Main: Börsenverein des Deutschen Buchhandels 1958, unpag. 8 damit verbunden, und zwar solche, in denen Menschen Literatur herstellen, um sie an Leser zu bringen, oder über Literatur kommunizieren, um eine größere Zahl anderer Menschen (oftmals durchaus wertend) zu informieren. Die beiden bekanntesten Berufsbezeichnungen für Literaturvermittler sind Literaturkritiker und Lektor. Auf sie konzentriert sich der Berufswunsch vieler Studierenden, der großen Nachfrage steht aber leider nur ein kleines Angebot an Stellen gegenüber. Es wird sich zeigen, dass Buchhandel, Verlagswesen und Medien mehr Tätigkeiten zu bieten haben, in denen man später arbeiten kann. Literatur vermittelt man auch als Lehrer an Schulen, an Universitäten, Volkshochschulen und anderen Bildungseinrichtungen. Ebenso kann man Theatermacher als Literaturvermittler ansehen, denn sie bringen literarische Texte auf die Bühne und versuchen, besondere Interpretationen dieser Texte herauszuarbeiten. Von großer Bedeutung ist auch die Tätigkeit des Übersetzens, denn sie macht fremdsprachige Literatur Lesern überhaupt erst zugänglich. Man könnte noch technische Berufe dazu zählen, etwa Grafiker, die Cover von Buchtiteln gestalten, oder EDV-Experten, die Bestellvorgänge im Internet optimieren. Der Begriff soll jedoch für jene reserviert werden, die immer auch inhaltlich an und mit Literatur arbeiten. An den Universitäten hat sich aus praktischen wie pragmatischen Gründen ein Begriff der Literaturvermittlung eingebürgert, der zwischen technischen bzw. herstellenden, Literatur übersetzenden oder lehrenden und Literatur vermittelnden Berufen trennt. Wer die technische Seite beherrschen will, muss entsprechende Fachliteratur lesen, und wer Lehrer werden will, kann auf eine Vielzahl didaktischer Angebote zurückgreifen. Übersetzen ist ein Praxis-, Lehr- und Forschungsfeld, das nicht nur mit sprachlichem, sondern auch viel mit kulturellem Wissen zu tun hat. Auch Theaterstücke oder Literaturverfilmungen haben nicht die Aufgabe (höchstens ergibt sich dies als Nebeneffekt), Bücher an den Leser oder die Leserin zu bringen. Die genannten Bereiche werden, auch aus Gründen des Umfangs, in diesem Buch daher weitgehend ausgeklammert. Literaturvermittlung bezeichnet hier also eine bestimmte Gruppe von Menschen, die in einer Gesellschaft und innerhalb der dafür bereit stehenden Strukturen über Literatur kommunizieren, und zwar mit der Absicht, Kenntnis von und Wissen über Literatur an andere Menschen weiterzugeben, die sich für den Kauf oder die Lektüre von literarischen Texten interessieren. Nach all dem ist aber noch nicht geklärt, was Literatur eigentlich ist. Wir können zwischen sogenannter ‚schöner‘ Literatur oder Belletristik einerseits und Literatur im Allgemeinen unterscheiden, wobei der allgemeine Literaturbegriff alles Geschriebene und Gedruckte mit einschließt, also beispielsweise auch Sachbücher. Der engere Literaturbegriff meint die fiktionale Literatur, die eine Welt erschafft, die von der beobachtbaren Reali- 9 tät zu unterscheiden ist, auch wenn sie auf diese bezogen werden kann. Die Beziehung von Realität und Fiktion kann von unterschiedlichen Lesern zu verschiedenen Zeiten ganz anders hergestellt werden. Dazu kommt, dass hier ein Literaturbegriff zugrunde gelegt wird, der vergleichsweise jung ist; die Auffassung einer ‚schönen‘ Literatur, die sich ihre eigenen Gesetze gibt, ist Mitte des 18. Jahrhunderts zur Zeit der sogenannten ‚Genieästhetik‘ der Literaturepoche des Sturm und Drang entstanden. 2 ‚Schöne‘ Literatur ist fiktionale Literatur, sie schließt mit dem Leser einen „Lektürevertrag“, 3 eine Übereinkunft, dass das Gelesene für die Dauer der Lektüre als ‚wahr‘ angenommen wird, obwohl es sich um etwas ‚Unwahres‘ handelt. Der Leser willigt ein, den Text „der geltenden Konvention entsprechend als echte fiktive Geschichte zu lesen“. 4 Dies ist die dem Lektüreprozess zugrunde liegende Ambivalenz. Sie erlaubt einerseits, sich an der Seite von Franz Biberkopf (in Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz) in das Berlin der 1920er Jahre zu imaginieren und zugleich zu wissen (oder sich zumindest in einem Moment der Reflexion bewusst machen zu können), dass das Berlin, wie es hier geschildert wird, eine Erfindung des Autors ist. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive genügt eigentlich ein Fiktionalitätssignal wie die Klassifizierung als ‚Roman‘, um eine Entsprechung der Wörter und ihrer Bedeutungen in der außersprachlichen Realität zu verneinen. Wie wir noch sehen werden, ist diese Trennung in der Lektürepraxis nicht so einfach und beschäftigt manchmal sogar die Gerichte. Wenn es um Literaturvermittlung geht, ist meistens die ‚schöne‘ Literatur gemeint, und hier sind Romane die bei weitem beliebteste Textgattung. Studierende stellen sich gern vor, Kritiker von neu erschienenen Romanen berühmter Autoren zu sein oder als Lektoren zu arbeiten, die eben solche Autoren betreuen und ihren herausragenden Geisteswerken den Weg zu den beglückten Lesern ebnen. Nachdem der Großteil der Titelproduktion aus Sachbüchern besteht, gibt es aber in diesem Bereich mehr Stellen. Man kann auch als Lektor in einem Kochbuchverlag oder als Kritiker von Reiseführern ein Auskommen finden. Eine weitere Einschränkung ist, dass viele 2 Hier irren verschiedene Theoretiker, die das Entstehen des modernen Literaturbegriffs später ansetzen, etwa Culler, wenn er meint: „Die moderne westliche Vorstellung von der Literatur als imaginationbestimmtem Schreiben lässt sich auf die Theoretiker der deutschen Frühromantik zurückführen“; vgl. Jonathan Culler: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Aus dem Engl. übers. v. Andreas Mahler. Stuttgart: Reclam 2006 (RUB 18166), S. 35. Schon Goethes Die Leiden des jungen Werther oder Schillers Die Räuber überschreiten die bisherigen, durch die Rhetorik gezogenen Grenzen und es ist nicht die ‚Imaginationsbestimmtheit‘, sondern die Festsetzung eigener Regeln für das eigene literarische Kunstwerk, die den Unterschied ausmacht. Dies ist im Unterschied zu früheren Epochen zu sehen, etwa dem Barock, der die kunstvolle Beachtung von Regeln favorisierte, oder der Frühaufklärung, in der die Literatur in den Dienst der Erziehung genommen wurde. Zweifellos gibt es aus heutiger Sicht Ausnahmen, als eine der bekanntesten sei nur Shakespeare genannt. 3 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2001 (stw 1539), S. 504. 4 Ebd., S. 507. 10 Literaturvermittler selbständig beschäftigt sind. Das heißt nichts anderes als dass sie wenig Geld für zeitintensive Arbeit bekommen, beispielsweise 50 Euro für eine Rezension, für die sie erst acht Stunden lang einen Roman gelesen und dann zwei Stunden einen Text darüber geschrieben haben. Das macht einen Stundenlohn von 5 Euro, von dem auch noch Steuern und Sozialabgaben zu zahlen sind. Damit soll niemand abgeschreckt werden, und es wird sich auch niemand, der das Zeug zum Literaturvermittler hat, wirklich abschrecken lassen, weil dieser Beruf immer auch mit der Liebe zum Buch verbunden ist. Bücher sind Waren, aber es sind keine Waren wie Tomatensuppen oder Blumentöpfe. Nun, auch Telefonbücher sind Sachbücher und man muss Telefonbücher nicht lieben, um sie herzustellen und zu vertreiben. Das ist aber ein extremes Beispiel, denn der vorliegende Band wendet sich an jene, die immer auch die Sprache lieben und sprachliche Kreativität hoch schätzen. Auch von Sachbüchern wird erwartet, dass sie nicht nur informieren, sondern zugleich unterhalten, also Informationen auf angenehme Weise präsentieren. Auch hier sind also die Literaturvermittler gefordert. Im Folgenden wird hoffentlich klarer werden, was mit dem Begriff gemeint ist. Bisher ist er kaum konturiert, er fehlt in den meisten Lexika und Nachschlagewerken. Ein verdienstvolles neueres Werk heißt Literaturbetrieb. 5 Es stammt von Bodo Plachta und sei allen Interessierten zur zusätzlichen Lektüre empfohlen. Nachdem sich Literaturvermittler im Literaturbetrieb bewegen, wird es fraglos zu Überschneidungen kommen. Dennoch sind beide Bücher sehr verschieden. Die nach fast 30 Jahren für Sommer 2009 angekündigte Neuauflage des grundlegenden Werks Literaturbetrieb in Deutschland 6 in der Münchner Edition text + kritik konnte für den vorliegenden Band nicht mehr berücksichtigt werden. Jede Literaturwissenschaftlerin und jeder Literaturwissenschaftler entwickelt im Laufe ihrer oder seiner Arbeit eine eigene Perspektive auf Literatur, die sich trotz aller Objektivierungsversuche nie ganz ausblenden lässt. Insofern schließt dieses Buch an andere meiner Arbeiten an, das Literaturverständnis an mein UTB Grundriss der Literaturwissenschaft (2009 in der überarbeiteten 3. Aufl.) und das Verständnis von Literaturkritik an den gleichnamigen Band in der UTB-Reihe. 7 Vielen Personen und Institutionen ist für ihre Hilfe bei der Entstehung des vorliegenden Buches zu danken. Vor allen anderen Michael und Monika Klein, deren Unterstützung wahrhaft grenzenlos war. Ohne sie wäre nicht 5 Vgl. Bodo Plachta: Literaturbetrieb. München: Fink 2008 (UTB 2982). 6 Vorher unter folgendem Titel: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Literaturbetrieb in der Bundesrepublik Deutschland. Ein kritisches Handbuch. 2., vollst. veränd. Aufl. München: Edition text + kritik 1981. 7 Vgl. Stefan Neuhaus: Grundriss der Literaturwissenschaft. 3., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen u. Basel: Francke 2009 (UTB 2477); ders.: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004 (UTB 2482). 11 nur dieses Buch nicht entstanden. Dann Michael Huter, der so lange nachgefragt hat, bis ich mich zu dem Projekt entschlossen habe, und der es bzw. mich ebenso freundlich wie engagiert voran getrieben hat. Einen besseren Lektor hätte ich mir für das Buch nicht wünschen können. Wertvolle Tipps haben mir Renate Giacomuzzi, Maria Hehle, Johann Holzner, Thomas Schröder, Brigitte Schwens-Harrant, Brigitta Minges, Daniela Völker und andere gegeben. (Ich bitte um Verständnis, dass ich alle Namen in diesem Buch nur ohne Titel nenne.) Dank schulde ich auch dem Team des Innsbrucker Zeitungsarchivs / IZA und dem Institut für Germanistik der Universität Innsbruck insgesamt. Die Kolleginnen und Kollegen haben mich auf Dinge aufmerksam gemacht oder wir konnten Gespräche führen, die geholfen haben, Gedanken weiter zu entwickeln. Dem Rektor der Universität, Karlheinz Töchterle, der mir für die Arbeit an dem Buch ein Freisemester gewährt hat, gebührt ebenso mein Dank wie dem Vizerektor für Forschung, Tilmann Märk, der den Forschungsschwerpunkt „Prozesse der Literaturvermittlung“ mit allen seinen Projekten stets gefördert hat. Dazu kommen viele Kolleginnen und Kollegen, Freunde und Bekannte, denen ich Dank schulde und die es mir hoffentlich nachsehen werden, wenn ich sie hier nicht einzeln erwähne. Ganz besonderer Dank gebührt natürlich den Beiträgern aus der Praxis, die eigens Texte für das vorliegende Buch geschrieben haben, um über ihre Arbeit zu informieren. Diese Texte finden sich in Einheit 10. An ihnen kann man auch lernen, wie wichtig es ist, als Literaturvermittler gut schreiben zu können - die Texte sind nicht nur informativ, sondern ebenso eine Lust zu lesen. In vorliegendem Buch wird aus Gründen des Leseflusses jeweils die geschlechtsneutrale Bezeichnung gewählt, auch wenn sie durch die sprachliche und gesellschaftliche Entwicklung männlich konnotiert ist. Ich bitte dies zu entschuldigen und stets die weibliche Form mitzudenken. Wichtige Begriffe werden durch Fettdruck hervorgehoben. Literatur wird bei der ersten Nennung in einer Fußnote vollständig nachgewiesen, dann abgekürzt zitiert. Das Literaturverzeichnis versammelt nicht die ganze benutzte Literatur (die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern nach dem subjektiven Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit ausgewählt wurde), sondern zentrale Titel zu den einzelnen Kapiteln zum Vertiefen des Stoffes. Bei Aufsätzen wird im Literaturverzeichnis nur, wenn er grundlegend ist, der ganze Band nachgewiesen. Innsbruck, im April 2009 E I N H E I T 1 Einführung: Literaturvermittlung in Theorie und Praxis Bücher sind keine Bananen. 1 Literaturvermittlung ist ein häufig gebrauchter, aber ungenauer Begriff. Im Vergleich zu ‚Angewandte Literaturwissenschaft‘ - davon war in den 1970er und 1980er Jahren öfter die Rede - ist er aber immer noch genauer und passender. In der weiteren Bedeutung lassen sich unter Literaturvermittlung alle Personen, Institutionen und Prozesse fassen, die mit literarischen Texten umgehen, von der physischen Herstellung von Büchern als Produkt bis zur Diskussion von Deutungen im Literaturunterricht. Hier könnte man noch unterscheiden zwischen einem Literaturbegriff, der alles Geschriebene einschließt, und einem, der nur fiktionale Texte meint. Auch die fiktionalen Texte lassen sich wieder aufgliedern in Höhenkammliteratur einerseits, Trivial- oder Unterhaltungsliteratur andererseits. Für das vorliegende Buch wird aus Umfanggründen ein Begriff von Literaturvermittlung favorisiert, wie er sich an vielen Universitäten insbesondere in der Germanistik eingebürgert hat - als Bezeichnung für die berufsbezogene Vermittlung von fiktionaler Literatur, mit einer besonderen Beachtung der Höhenkammliteratur, an potentielle Leser. Literaturvermittler lenken Aufmerksamkeit auf fiktionale Texte, um sie Lesern schmackhaft zu machen oder ihnen davon abzuraten, sie sorgen für die Bereitstellung von Literatur ebenso wie für ihre Einordnung und Bewertung. Dieser Begriff von Literaturvermittlung ist praxisnah, weil er sich an den möglichen Berufsfeldern von Studierenden philologischer Fächer orientiert und weil er Tätigkeiten einschließt, deren Kenntnis auch für die anderen, die im weiteren Sinn Literaturvermittlung betreiben, wichtig ist. Außerdem wirft die vorgeschlagene Auffassung theoretische Fragen auf, die für alle wichtig sind oder sein könnten, die sich - beruflich oder privat - mit Literatur beschäftigen. 1 Kapitelüberschrift in: Michael Schnepf (Hg.): Verlagsführer Österreich. 5. Aufl. Wien: Buchkultur 2008, S. 12. 14 Einheit 1 Probleme der Begriffsdefinition Literaturvermittlung ist ein häufig gebrauchter Begriff, aber erstaunlicherweise hat sich bisher kaum jemand die Mühe gemacht, ihn zu definieren. In dem lange Zeit maßgeblichen Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte findet er sich ebensowenig wie in der Neuausgabe, dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, oder im weit verbreiteten Metzler Literatur Lexikon (in der 2. Auflage). Ein Lehrbuch „Literaturvermittlung“ erscheint hiermit zum ersten Mal. Dass Bedarf vorhanden ist, zeigen die aus dem Boden sprießenden Literaturvermittlungs-Akzente an den Universitäten, für einen ersten Überblick genügt es, den Begriff zu ‚googeln‘. Dabei erfährt man beispielsweise, dass es ein Promotionskolleg „Wertung und Kanon. Theorie und Praxis der Literaturvermittlung in der ‚nachbürgerlichen‘ Wissensgesellschaft“ an der Universität Göttingen gibt, gefördert von der Volkswagen-Stiftung. An der Universität Marburg existiert das „TransMIT-Zentrum für Literaturvermittlung in den Medien“, bestehend aus der Internet-Rezensionszeitschrift literaturkritik.de, einem Verlag und einer Internet-Buchhandlung, alles eingebunden in das Forschungs- und Lehrangebot der dortigen Germanistik. In Bamberg kann man Literaturvermittlung studieren, ebenso in Innsbruck, dort arbeitet man in einem fakultätseigenen Forschungsschwerpunkt „Prozesse der Literaturvermittlung“ und es gibt das Innsbrucker Zeitungsarchiv-/ IZA mit seiner umfangreichen Sammlung an Zeitungsartikeln über Literatur, Literaturzeitschriften sowie Audio-/ und Videomitschnitten von Literatursendungen. In Freiburg hat sich ein Literaturbüro der Literaturvermittlung verschrieben, im Regierungsbezirk Tübingen bemühen sich die regionalen öffentlichen Bibliotheken darum. Das Literaturmuseum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs Marbach betreibt ein LiMoLab, ein „Experimentierfeld für neue Formen der musealen Vermittlung von Literatur“. Offenbar kann man das alles und noch mehr unter Literaturvermittlung verstehen - aber was ist Literaturvermittlung denn genau? Gibt es so etwas wie eine gemeinsame Schnittmenge? Wer sucht, wird schließlich doch noch fündig. Im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie gibt es einen kleinen, aber hilfreichen Eintrag, der wie folgt beginnt: Literaturvermittlung, allg. jede direkt oder indirekt zwischen Autor und Leser vermittelnde Einrichtung, Unternehmung oder Instanz wie Veranstalter von Lesungen, Verlage (Lektorierung, mediale Realisierung, Distribution, Marketing), Buchhandel, Bibliotheken, Lit.unterricht in den Schulen, Textpräsentation im Internet usw. 2 2 Gebhard Rusch: Literaturvermittlung. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Stuttgart u. Weimar: Metzler 1998, S. 328f. 15 Einheit 1 Damit sind wichtige Stichworte genannt, auch wenn noch nicht der ganze Bereich der Literaturvermittlung umrissen ist. Mit Literaturvermittlung wird zunächst einmal allgemein das Tätigkeitsfeld professioneller Leser bezeichnet. Damit soll keine Bewertung, sondern eine funktionale Differenzierung vorgenommen werden. Professionelle Leser sind solche, die sich beruflich mit Literatur beschäftigen, sei es als Autoren, in Verlagen, in Buchhandlungen, in Büchereien, in Bildungs- und Kulturorganisationen, in Literaturhäusern, in Archiven, in Schulen oder an Universitäten. Professionelle Leser lesen, um die Ergebnisse ihrer Lektüre an eine kleinere oder größere Öffentlichkeit zu vermitteln. Das reicht von der face-to-face-Kommunikation in einer Buchhandlung bis zum Aufmacher des Feuilletons zur Frankfurter Buchmesse. Diese kommunikativen Akte im Vermittlungsprozess sind Bestandteil der Kommunikation über Literatur und können dann als erfolgreich gelten, wenn sie den beabsichtigten Zweck erfüllen. Der besteht eigentlich aus einem Bündel von Absichten in unterschiedlichem Mischungsverhältnis. Offensichtlich ist, dass eine bestimmte, möglicherweise eine Bewertung des Gegenstands mit einschließende Information transportiert werden soll. Dazu kommt zweifellos, dass der Verfasser durch seine Expertise seine Stellung als Literaturvermittler festigen möchte. Außerdem kann es sein, dass er die Diskussion über seinen Gegenstand in einer bestimmten Hinsicht beeinflussen möchte. Bei Literaturvermittlern in einem engeren Sinn, und nur darauf kann sich aus Umfangsgründen das vorliegende Lehrbuch konzentrieren, handelt es sich um professionelle Leser, die ihr Wissen über Literatur kommunizieren, um Bücher an den Leser zu bringen. Diese Literaturvermittler stellen Bücher her, vermarkten und verkaufen sie oder informieren über Inhalt und mögliche Deutungen. Ihre Tätigkeit ist grundlegend, denn ohne sie gäbe es keine Literatur und kein Gespräch über Literatur. Nach der Sprechakttheorie, die auf John L. Austin und John R. Searle zurückgeht, ist Kommunizieren auch Handeln. Insofern er als Äußerung sprachliche Gestalt annimmt, ist jeder Kommunikationsbeitrag ein lokutionärer Akt. Er ist daneben auch ein illokutionärer Akt, denn mit der Äußerung wird eine bestimmte Handlung in einem Kontext vollzogen. Wenn ein Richter einen Angeklagten für „schuldig“ befindet, enthält die Aussage auch die Handlung, sie vollzieht das Schuldigsein des Angeklagten mit allen bevorstehenden Folgen. Zudem ist ein Kommunikationsbeitrag oft ein perlokutionärer Akt, das heißt er drückt etwas aus, was über den direkten, unmittelbar erschließbaren illokutionären Akt hinausgeht. Wenn der Sprecher jemandem sagt, er sei hässlich, dann ist das nicht nur die Feststellung physischer oder physiognomischer Eigenschaften, es ist zugleich auch eine Beleidigung. 3 3 Vgl. einführend Ute Berns: Sprechakt / Sprechakttheorie. In: Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 497-500. 16 Einheit 1 Wichtig ist festzuhalten, dass sprachliche Äußerungen als Handlungen anzusehen sind und dass sie mehrere, nicht sofort erschließbare Absichten verfolgen können. Dabei kann es zahlreiche Unschärfen geben, etwa durch nicht oder nur schwer beantwortbare Fragen wie: Hat der Sprecher das wirklich gemeint? Selbst eine Auskunft darüber mag nicht ausreichen, denn es ist zwischen den Aussagen zu unterscheiden, die Autor oder Leser einem Text zuschreiben, außerdem lässt sich darüber diskutieren, welche dieser Bedeutungen in einem Text tatsächlich enthalten sind. Autor, Text und Leser stehen in einem komplexen Beziehungsgeflecht zueinander, und sie tun dies nicht im luftleeren Raum, sondern in einem zeitlich fixierbaren, beständigen Veränderungen unterworfenen Kontext. Der reicht von der Situation, in der eine Aussage getätigt wird, bis hin zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Zusammenleben und damit auch die Kommunikation der Menschen regeln. Es gibt eine Vielzahl geschriebener Gesetze (etwa die in Artikel 5 des deutschen Grundgesetzes verbriefte Meinungsfreiheit) ebenso wie zahlreiche ungeschriebene, die wir als Konventionen bezeichnen können und die Vorbedingung für jede konkrete Kommunikationssituation sind. Natürlich sind auch solche Konventionen beständigen Veränderungen unterworfen, und sie sind gruppenspezifisch. Jeder Literaturvermittler will Aufmerksamkeit Der Erfolg literaturvermittelnder Kommunikation bemisst sich an der Anschlusskommunikation und damit auch den Anschlusshandlungen. Autoren hätten gern begeisterte Lektoren und positive Literaturkritiken ihrer Bücher, dazu möglichst hohe Verkaufszahlen. Lektoren möchten, dass der von ihnen produzierte Titel ein ökonomischer Erfolg wird und dass er positiv auf das Prestige des Verlags, aber auch auf ihre eigene Stellung als Lektor ausstrahlt. Buchhändler möchten viele verkaufte Bücher und mit der von ihnen präsentierten Auswahl zufriedene Kunden. Büchereimitarbeitern geht es ebenso, nur dass sie nicht an Verkaufs-, sondern an Verleihzahlen interessiert sind. In Bildungs- und Kulturorganisationen oder in Literaturhäusern möchte man, dass die Adressaten der Tätigkeit mit dem Angebot zufrieden sind und möglichst auch etwas dabei lernen. In Archiven wünscht man sich Akzeptanz der eigenen Arbeit etwa durch kooperative Verlage, großzügige finanzielle Förderung, mediale Berichterstattung, zufriedene Benutzer des Archivs und der im Archiv erarbeiteten Produkte, beispielsweise Kritische Ausgaben als wichtig eingestufter Autoren. In Schulen oder in Universitäten möchte man zufriedene Schüler und Studenten, deren Bildungsniveau im vorgesehenen Rahmen erhöht wird und die ebenfalls lernen, selbständig mit ihren Gegenständen umzugehen. 17 Einheit 1 Literaturvermittler wünschen sich also (positive) Aufmerksamkeit für ihre Tätigkeit, und da ihre Tätigkeit ein wichtiger Bestandteil ihrer Identität ist, damit natürlich indirekt auch für sich selbst. Sie treten aber nicht nur in Konkurrenz zueinander, sondern auch in einen Wettbewerb mit zahlreichen anderen Kommunikationsangeboten: Wir leben im Informationszeitalter und merken es daran, daß wir uns vor Information nicht mehr retten können. Nicht der überwältigende Nutzen der Information, sondern ihre nicht mehr zu bewältigende Flut charakterisiert die Epoche. Wir sind einem immer gewaltiger anwachsenden Schwall von Reizen ausgesetzt, die eigens dazu hergerichtet sind, unsere Aufmerksamkeit in Beschlag zu nehmen. Information ist nichts Festes und Fertiges, sondern der Neuigkeitswert, den wir aus Reizen ziehen. Das Besondere an den Reizen, die auf unsere Aufmerksamkeit angesetzt sind, ist, daß ihr Neuigkeitswert bewußte Zuwendung erheischt. Die Kapazität unserer Aufmerksamkeit zur Informationsverarbeitung ist [aber] organisch begrenzt. 4 Literaturvermittler haben darauf Rücksicht zu nehmen, in mehrfacher Hinsicht. Sie müssen Strategien entwickeln, wie sie in ihrem Beruf möglichst viel Aufmerksamkeit erregen können. Zugleich darf es sich nicht um Aufmerksamkeit um jeden Preis handeln. Nur die ist positiv zu bewerten, die den Konventionen des Berufs entsprechenden, aber auch zu einem wichtigen Teil individuellen Absichten entgegenkommt. Zugleich sollten Literaturvermittler ein Verständnis dafür haben, dass nicht nur sie, sondern auch ihre Adressaten mit ihrer Zeit ökonomisch umgehen müssen. Einerseits gilt, was der Schriftsteller Jurek Becker voller Sarkasmus festgestellt hat: In der freien Marktwirtschaft ist ein Buch ein Produkt wie jedes andere, es unterliegt keinen besonderen ethischen Regelungen. Die Ware hat möglichst profitabel zu sein, ob sie nun Leberwurst oder Panzerfaust oder Buch heißt. 5 Und doch hat Literatur eine besondere Qualität, die sie von Leberwürsten und Panzerfäusten unterscheidet: Stellung zu nehmen, Meinungen auszudrücken, zur Reflexion anzuregen. 6 Der Schriftsteller Wolfgang Hilbig meint sogar: „[…] die Literatur kann es sein, die der Gesellschaft ihre noch ungelösten Aufgaben stellt.“ 7 Das Produktive der Literatur ist gerade, dass 4 Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. Ungek. Ausg. München: dtv 2007, S. 49. 5 Jurek Becker: Warnung vor dem Schriftsteller. Drei Vorlesungen in Frankfurt. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1990 (edition suhrkamp 1601), S. 51. 6 Vgl. ebd., S. 13 u. 51. 7 Wolfgang Hilbig: Abriss der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt/ Main: Fischer 1995 (Collection S. Fischer 83), S. 110. 18 Einheit 1 sie nicht rezeptartig vorgefertigte Antworten verteilt, sondern das Selbstverständliche in Frage stellt, zum Nachdenken über das bisher Undenkbare anregt. Und dabei sollten Literaturvermittler die Literatur produktiv begleiten. Man muss also im Blick behalten, dass literaturvermittelnde Tätigkeiten in einem Kontext stattfinden, der durch ökonomische und eben auch zeitökonomische Aufmerksamkeit reguliert wird. Die beiden Bereiche der Aufmerksamkeit der Adressaten und des wirtschaftlichen Erfolgs sind in einer Zeit, die von Verkaufszahlen, Evaluierungen und sonstigen erhobenen Parametern bestimmt wird, immer weniger zu trennen. Auch an der Universität können Fächer wie Latein oder Griechisch nur überleben, weil man sich bewusst dagegen entscheidet, hier die Prinzipien der Ökonomie so anzuwenden wie in anderen Fächern. Verlage machen bestimmte Titel, die sich nicht rechnen, vor allem deshalb, weil sie das Prestige des Verlags erhöhen und damit auch die Verkaufszahlen des Hauses insgesamt positiv beeinflussen. Ob man es will oder nicht - die Ökonomie ist aber immer dabei, man sollte das kritisch sehen wie Becker oder Hilbig, aber man muss es so weit akzeptieren, dass man damit als Literaturvermittler auch arbeiten kann. Übergänge zur Angewandten Literaturwissenschaft Historisch gesehen ist der Begriff der Literaturvermittlung von dem der Angewandten Literaturwissenschaft kaum zu trennen. Aber was ist nun Angewandte Literaturwissenschaft? 8 Im Unterschied zur Literaturvermittlung hat dieser Begriff den Vorzug, dass ihn mehrere ältere Lehrbücher verwenden. Allerdings verstehen diese Lehrbücher darunter jeweils etwas ganz anderes. Hans-Georg Kemper adressiert angehende Lehrer und gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass „Theorie und Praxis der Literatur ein symbiotisches Verhältnis eingehen mögen“. Und weiter: „Vielleicht läßt sich mithilfe von Fallstudien sogar längerfristig die Theoriefeindlichkeit vieler Praktiker abbauen, weil die Theorie in ihrem Bezug zur Praxis erscheint und manche didaktischen Fragestellungen erst aus der Praxis entwickelt werden.“ 9 Kemper wünscht sich „Fachwissenschaftliche Seminare, die den Komplex der Trivialliteratur oder des Spracherwerbs thematisieren“, denn sie „können für die Berufspraxis des angehenden Lehrers wichtiger sein 8 Vgl. ausführlicher: Stefan Neuhaus: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Perspektiven einer Angewandten Literaturwissenschaft. In: Svjetlan Lacko Vidulic, Doris Moser u. Sladan Turkovic (Hg.): Germanistik im Kontakt. Tagung österreichischer und kroatischer Germanist/ inn/ en, Opatija, 29.9.-1.10.2005. Zagreb: Universität Zagreb 2006 (Zagreber Germanistische Beiträge, Beiheft 9), S. 325-337. 9 Hans-Georg Kemper: Angewandte Germanistik. Materialien zu einer kasuistischen Didaktik. München: Fink 1974 (UTB 252), S. 12. 19 Einheit 1 als fachdidaktische Übungen, die z.B. spezielle Kapitel aus der Geschichte des Deutschunterrichts im 19. Jahrhundert thematisieren“. 10 Norbert Mecklenburg hingegen denkt bei einem Anwendungsbezug der Germanistik weniger an Deutschlehrer als an Rezensenten: Dazu könnte auch hierzulande Literaturkritik in Form einer praktischen oder ‚angewandten‘ Disziplin der Literaturwissenschaft ebenso beitragen wie in einer journalistischen Gestalt, die im Gegensatz zur bestehenden nicht dem Interesse des Marktes an Reklame, sondern des Lesers an Aufklärung dient. Eine solche wissenschaftlich fundierte Literaturkritik hätte vielfältige Aufgaben wahrzunehmen [...]. 11 Nun kann man das allgemeiner fassen und den ganzen Anwendungsbereich von Literatur in den Blick nehmen, wie dies Ingrid Kerkhoff getan hat. Sie meint: Unter einer angewandten Wissenschaft wird eine Disziplin verstanden, deren Aufgaben aus der literarischen Situation erwachsen. Die Grundlagen der im folgenden demonstrierten Textwissenschaft sind also die allgemeine Sozialhermeneutik und die Rhetorik als spezifische hermeneutische Verhaltensweise. Es geht darum, den literarischen Informations- und Kommunikationsprozeß [...] zu analysieren und in seinen Erkenntniswerten aufzuweisen. 12 Stärker (system-)theoretisch orientierte Köpfe sehen die Anwendbarkeit aber nur dann gegeben, wenn sich die Germanistik zu einer empirischen Wissenschaft wandelt. So scheint sich die „Arbeitsgruppe NIKOL“ explizit gegen die zitierten Auffassungen zu wenden, wenn sie apodiktisch formuliert: Akademische Literaturkritik hat anscheinend eine Begutachtungs- oder Schiedsrichterfunktion inne, von der in unserer Gesellschaft reichhaltig Gebrauch gemacht wird. Sie aber deshalb ‚Angewandte Literaturwissenschaft‘ zu nennen, scheint dennoch wenig plausibel. [...] Um Literaturdidaktik als Angewandte Literaturwissenschaft scheint es prima facie nicht besser bestellt [...]. Eine Angewandte Literaturwissenschaft gibt es demnach bislang nicht, wohl aber Bestrebungen und Absichtserklärungen, eine solche Wissenschaft zu entwickeln. 13 10 Ebd., S. 14. 11 Norbert Mecklenburg: Wertung und Kritik als praktische Aufgaben der Literaturwissenschaft. In: Peter Gebhardt: Literaturwissenschaft und literarische Wertung. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1980 (Wege der Forschung 334), S. 388-411, hier S. 395. 12 Ingrid Kerkhoff: Angewandte Textwissenschaft. Literatur unter sozialwissenschaftlichem Aspekt. Düsseldorf: Bertelsmann Universitätsverlag 1973 (Studienbücher Literaturwissenschaft), S. 7. 13 Arbeitsgruppe NIKOL: Angewandte Literaturwissenschaft. Braunschweig u. Wiesbaden: Vieweg 1986 (Konzeption Empirische Literaturwissenschaft 7), Vorwort S. 3. 20 Einheit 1 Die Konsequenzen haben Helmut Hauptmeier und Siegfried J. Schmidt mit ihrer - weitgehend folgenlosen - Konzeption einer Empirischen Literaturwissenschaft gezogen, auf ihr Buch wird auch im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie verwiesen. So schließt sich der Kreis. Derweil hat die Praxis die Theorie überholt. Das deutsche Arbeitsamt hat vor Jahren einmal einen berufsqualifizierenden Studiengang definiert, ohne zu sagen, wo es ihn gibt; vermutlich ist die Seite deshalb auch wieder aus dem Netz genommen worden. Der Text ist aber aufschlussreich für ein allgemeines Grundverständnis: Master der Angewandten Literaturwissenschaft vereinen in ihrer Qualifikation literaturwissenschaftliche Fachkenntnisse, besonders der zeitgenössischen Literatur, mit anwendungsbezogenen Fähigkeiten auf den Gebieten der Betriebswirtschaftslehre, der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie der EDV. Beschäftigungsmöglichkeiten finden sie vor allem dort, wo Literatur vermittelt und gefördert wird, insbesondere in Verlagen, Medien und im Literaturmanagement [...]. 14 An der Freien Universität Berlin kann man einen solchen Master machen, der Studiengang wird wie folgt beschrieben: Die Studierenden sollen in die Lage versetzt werden, ihr literaturwissenschaftliches Fachwissen in verschiedenen Tätigkeitsbereichen des Literaturbetriebes anzuwenden. Durch seine Praxisorientierung soll der Masterstudiengang zur beruflichen Orientierung beitragen und den Einstieg in ein Volontariat oder in den Beruf erleichtern. Um den Studierenden ein möglichst breites Spektrum beruflicher Perspektiven zu eröffnen, wird keine Spezialisierung auf einen bestimmten anwendungsbezogenen Bereich (Verlag, Medien, Literaturmanagement etc.) angestrebt. 15 Darüber hinaus gibt es viele andere Angebote zur Literaturvermittlung, ihre Zahl nimmt ständig zu. Dieses breite Angebot ist die thematische wie ökonomische Rechtfertigung für das vorliegende Buch. Es hat nicht die Absicht, das bunte Feld zu beschränken, es wird auch keine Bewertungen abgeben, wie Literaturvermittlung richtig oder falsch betrieben wird. Vorliegendes Buch möchte einen allgemeinen Überblick über das geben, was Literaturvermittlung ausmacht und was sie leisten kann. Da es das erste seiner Art ist, mag es stellenweise falsch gewichten oder Wichtiges vergessen. Weil es sich aber als Beitrag zu einem Diskurs über Literaturvermittlung versteht und als solcher mit seinen Lesern in einen Dialog eintreten möchte, sind alle Leser herzlich eingeladen, Vorschläge zur Verbesserung zu machen, die - sollte es eine solche geben - bei einer Neuauflage berücksichtigt werden könnten. 14 http: / / berufenet.arbeitsamt.de/ bnet2/ M/ kurz_B8823158.html, abgerufen am 23.5.05. 15 Vgl. http: / / www.fu-berlin.de/ agwlit/ , abgerufen am 21.1.08. 21 Einheit 1 Bunt ist alle Theorie: Basismodelle der Literaturvermittlung Auch wenn sie oft als abschreckend angesehen und als Gegenbegriff zur Praxis gebraucht wird: Ohne Theorie geht es nicht. Theorien sind Modelle, die Wahrnehmungen, Handlungen und Interaktionen strukturieren oder zumindest eine strukturierte Darstellung ermöglichen. Insofern könnte man die Organisation eines Busfahrplans als Theorie bezeichnen, als Fundament, auf dem die Praxis, das Fahren mit Bussen, aufruht - ohne Plan funktioniert das Busfahren nun einmal nicht. Mit der Organisation eines Fahrplans hängt sehr viel zusammen, worüber sich die Busfahrer nicht selbst Gedanken machen müssen: Welche Busse sollen zum Einsatz kommen (Größe, Kosten, Umwelt etc.)? Wie oft sollen sie wohin fahren? Wie viele Fahrer werden benötigt, wie lassen sie sich auf die Busse aufteilen? Aber auch grundsätzlicher: Macht der Busverkehr auf bestimmten Strecken überhaupt Sinn? Ist er vielleicht defizitär und nur politisch gewollt? Wie lässt sich der Individualverkehr eingrenzen, um mehr Menschen in die umweltverträglicheren Busse zu bringen? Zur Theorie gehört, dass sie versucht, etwas zu klären und zu erklären: Eine Theorie muss mehr sein als eine bloße Hypothese; sie darf nicht von vornherein offensichtlich sein; sie besteht aus komplexen Beziehungen mehr oder weniger systematischer Art zwischen einer Anzahl von Faktoren; und sie ist weder leicht zu bestätigen noch leicht zu widerlegen. 16 Natürlich kann man auch engere und genauere Theoriebegriffe konzipieren, aber hier geht es vor allem darum, den Begriff versteh- und handhabbar zu machen. Wer als Literaturvermittler arbeitet, muss sich also zunächst mit der Theorie der Literaturvermittlung vertraut machen. Das Problem ist nur, dass es bisher keine Theorie der Literaturvermittlung gibt, oder genauer gesagt: dass es lediglich Theoriebausteine gibt. Um zu verstehen, wie eine Theorie der Literaturvermittlung aussehen könnte, noch einmal zurück zur grundsätzlichen Frage, wie Theorien Wissensbereiche organisieren. So gibt es beispielsweise für die Medien den verdienstvollen, ebenfalls in der UTB-Reihe erschienen Band Theorien der Medien, 17 er ist untergliedert in: „Techniktheorien der Medien“, „Ökonomische Theorien der Medien“, „Kritische Medientheorien“, „Zeichentheorien der Medien“, „Kulturtheorien der Medien“, „Konstruktivistische Medientheorien“, „Systemtheorien der Medien“, „Feministische Medientheorien“, „Psychoanalytische Medientheorien“, „Poststrukturalistische 16 Jonathan Culler: Literaturtheorie. Eine kurze Einführung. Aus dem Engl. übers. v. Andreas Mahler. Stuttgart: Reclam 2006 (RUB 18166), S. 11. 17 Vgl. Stefan Weber (Hg.): Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus. Konstanz: UVK 2003 (UTB 2424). 22 Einheit 1 Medientheorien“, „Medienphilosophische Theorien“ und „Komparatistik: Theorie-Raum der Medienwissenschaft“. Dass auch die hier vorgeführten Theoriemodelle keineswegs in sich geschlossen sind, signalisiert bereits der durchgängige Gebrauch des Plurals. Ist daher der Versuch, Theorien für einen Forschungsbereich im Überblick darzustellen, bereits zum Scheitern verurteilt? Herausgeber Stefan Weber erläutert zunächst einmal ganz richtig, dass es nur darum gehen kann, eine „Orientierungshilfe anzubieten“. 18 Anders als in anderen Fächern sind gerade die Philologen stolz darauf, dass sie niemandem vorschreiben, wie er oder sie zu denken hat. Gerade die Pluralität der Möglichkeiten, die unterschiedlichen Wege zu einem Gegenstand machen einen großen Teil des Reizes aus, sich mit dem Gegenstand zu beschäftigen. Wer diese Auffassung nicht teilt, ist bei den Naturwissenschaften (über Naturgesetze kann man in der Regel nicht streiten) oder bei Lehrbüchern, die so auftreten, dass sie eine bestimmte Menge an Informationen als verbindlich und ausschließlich grundlegend für einen Wissensbereich präsentieren, besser aufgehoben. Mit Weber wird für das vorliegende Buch der „viel beschworene Theorien-Pluralismus in den Wissenschaften […] nicht als Nachteil gesehen […], sondern als produktiver Vorteil“. 19 Weber differenziert den Begriff der Theorie weiter aus in Paradigmen, Supertheorien, Basistheorien und Theorien mittlerer Reichweite. Ein Paradigma wäre „ein transdisziplinäres, übergeordnetes Weltbild“, 20 damit nahe an der Ideologie (Kommunismus o.ä.), die eine bestimmte Wahrnehmung vorschreibt und daraus Handlungsanweisungen ableitet. Supertheorien sind Theorien, die den Anspruch erheben, „über anderen Theorien“ zu stehen, man könnte auch von Metatheorien sprechen. 21 Anders als Weber bin ich aber nicht der Meinung, dass es für die Klassifizierung als Supertheorie ausschlaggebend ist, ob die Theorie von sich selbst behauptet, „eine Supertheorie zu sein“. 22 Vielmehr erweist sich in der Anwendung, ob eine Theorie das Potential zur Supertheorie hat - so wird man neben der Systemtheorie als umfassender Gesellschaftstheorie z.B. auch die Dekonstruktion (mit ihrem herausragenden Vertreter Derrida) als Supertheorie bezeichnen können, da sie nicht mit den meisten anderen, konsistenten Theoriemodellen kompatibel ist und eine bestimmte Weltsicht vorgibt. Als Basistheorien begreift Weber Modelle, die „einen Pool an Begriffen zur Verfügung“ stellen, um „Wirklichkeit in irgendeiner Form strukturiert zu erfassen“. 23 Theorien mittlerer Reichweite sind Erklärungsmodelle be- 18 Stefan Weber: Einführung: (Basis-)Theorien für die Medienwissenschaft. In: ebd., S. 11- 48, hier S. 11. 19 Ebd., S. 11f. 20 Ebd., S. 17. 21 Vgl. ebd., S. 18. 22 Ebd. 23 Ebd., S. 19. 23 Einheit 1 stimmter Phänomene in einem Forschungsbereich, Weber verweist hier beispielsweise auf die Gatekeeper- oder die Agenda-Setting-Forschung, 24 auf die im vorliegenden Band im Medien-Kapitel eingegangen wird. Insbesondere die Trennung zwischen Super- und Basistheorien ist schwierig, auch Supertheorien haben ein Set von Begriffen und geben eine bestimmte Strukturierung vor, auch Basistheorien können in der wissenschaftlichen Praxis, was meist implizit geschieht, als der wichtigste Zugang zum Erfassen von Wirklichkeit (bzw. eines Ausschnitts davon) präsentiert werden. Im vorliegenden Band soll der Begriff der Basistheorie oder des Basismodells verwendet werden, verbunden mit der Auffassung, dass es Paradigmen wie Supertheorien nach dem heutigen Verständnis von Wissenschaft nicht gibt. Natürlich können Forscher bestimmte Theoriemodelle als allein seligmachend präsentieren und sich darauf beschränken, Wirklichkeit mit diesem einen Modell erklären zu wollen. Doch die angesprochene Pluralität von Erklärungsmodellen entlarvt dies als umzulässigen Versuch, eine dafür viel zu komplexe Wirklichkeitsstruktur auf einen Nenner bringen zu wollen. Nun ist streng genommen die hier skizzierte Auffassung bereits wieder ein Paradigma - wenn man eine Lanze für die Pluralität bricht, postuliert man, dass es keine einheitliche Auffassung von Wirklichkeit geben kann. Wer diesen Schritt nicht mitgehen kann, ist, wie gesagt, bei anderen Lehrbüchern oder Wissenschaftlern sicher besser aufgehoben. Es wird ja niemand gezwungen, dieses Buch zu lesen! Als Basismodelle werden zwei unterschiedliche Gruppen gesehen, einerseits Theorieschulen wie die Rezeptionsästhetik und andererseits theoretische Ansätze, die sich jeweils mit einem herausragenden Namen verbinden lassen, das sind die Systemtheorie nach Niklas Luhmann, die Feldforschung nach Pierre Bourdieu und die Diskursanalyse nach Michel Foucault (die interessanterweise bei Weber fehlt). Die genannten drei bieten die Möglichkeit, Gesellschaft auf eine bestimmte Weise zu strukturieren und das Funktionieren von Literatur innerhalb der Gesellschaft (innerhalb der Grenzen des Modells) zu erklären. Die Beschränkung auf Bourdieu, Luhmann und Foucault ist notwendig, um nicht zu sehr zu verwirren; es gibt andere Theorieangebote, die sich an die genannten Autoren anschließen oder, indem sie sich in irgendeiner Weise different zu ihnen verhalten, von ihnen abgrenzen. Das auch noch darzustellen würde hier aber zu weit führen. Ebenfalls der besseren Lern- und Nachprüfbarkeit dient der Fokus auf die für die genannten Autoren zentralen Werke, das sind vor allem Luhmanns Die Kunst der Gesellschaft und Bourdieus Die Regeln der Kunst. Bei Foucault ist die Lage nicht ganz so einfach, er hat keine Archäologie des Literatur- oder Kunstdiskurses geschrieben, allerdings immer wieder auf 24 Vgl. ebd., S. 22. 24 Einheit 1 Kunst und Literatur Bezug genommen; hier werden mehrere Referenzwerke heranzuziehen und Analogien zu bilden sein. In der Darstellung wird aber hoffentlich klar werden, weshalb gerade der diskursanalytische Zugriff als besonders erkenntnisbringend gesehen wird. Die weiteren Kapitel behandeln Theorie-Bündel, wobei dahingestellt sei, ob sie homogen genug sind, um den Anspruch zu erheben, als Basistheorien zu gelten. Verschiedene Autoren haben auf dem jeweiligen Gebiet Herausragendes geleistet und ihre Überlegungen sind viel stärker darauf bezogen, ganz konkrete beobachtbare Strukturen zu ermitteln und zu erklären. Hier können die Erklärungsmodelle also stärker mit der Praxis verzahnt werden. Die Schwerpunktsetzungen Rezeption, Medien, Literaturkritik, Buchhandel und Verlagswesen ergeben sich aus der vermuteten Relevanz für den Arbeitsbereich Literaturvermittlung. Die Klärung des Rezeptionsprozesses steht am Anfang - Literaturvermittlung liegt zuallerst die Frage zugrunde, welche Rolle Autor, Text und Leser spielen. Die Vokabel des ‚Spielens‘ kann hier durchaus Ernst genommen werden. Mit der eingenommenen konstruktivistischen Perspektive lässt sich (analog zu entsprechenden Vorstellungen, wie sie sich bei vielen Theoretikern der Postmoderne finden) das Funktionieren von Gesellschaft auf Regeln zurückführen und im Bild des Spielens konkretisieren. Bourdieu beispielsweise hat die Ambivalenz von unhinterfragt geltenden Regeln und deren Konstruktionscharakter so beschrieben: Zu den allgemeinen Merkmalen von Feldern gehört, daß in ihnen der Wettstreit um den Spieleinsatz verschleiert [wird], daß hinsichtlich der Grundregeln des Spiels bestes Einverständnis besteht. 25 Im Anschluss an Wittgensteins Begriff der Sprachspiele stellt Jean-Franςois Lyotard fest, dass „Aussagekategorien durch Regeln“ bestimmt sind, „die ihre Eigenschaften und ihren möglichen Gebrauch spezifizieren [...], genauso wie sich das Schachspiel durch einen Komplex von Regeln definiert, der die Eigenschaften der Figuren oder auch die erlaubte Art, sie zu bewegen, bestimmt.“ 26 Welche Spielregeln im Feld der Literaturvermittlung gelten, davon handelt nun das vorliegende Buch. 25 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2001 (stw 1539), S. 270. 26 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. v. Peter Engelmann. 5. Aufl. Wien: Passagen 2005 (edition passagen 7), S. 39. E I N H E I T 2 Literatur und Leser. Grundlagen der Rezeptionsforschung Es kommt vielmehr darauf an, der Leserschaft begreifbar zu machen, von welchen Faktoren das Bücherangebot abhängt. Peter Uwe Hohendahl 1 Leser erwarten etwas, wenn sie Literatur lesen, und es kann Literaturvermittlern nicht gleichgültig sein, wie diese Erwartungen aussehen oder zumindest aussehen könnten. Ohne begründete Vermutungen lässt sich in Verlagen kaum entscheiden, welche Bücher für welches Publikum gemacht werden sollen, und Kritiker brauchen Anhaltspunkte, welche Bücher für ihre Leser aus welchen Gründen interessant sein könnten. Nun sind Geschmäcker bekanntlich verschieden, es gibt unterschiedliche Literatur für unterschiedliche Publika. Um diese Unterschiede besser verstehen zu können, muss das spezifisch Literarische von Texten in den Blick genommen werden. Sie konstruieren fiktionale Realitäten, die mehr oder weniger Ähnlichkeit mit der beobachtbaren Realität haben können. Und sie konstruieren solche fiktionalen Realitäten durch Sprache. Damit verschiedene Leser zu verschiedenen Zeiten mit den Texten etwas anfangen können, müssen diese bis zu einem gewissen Grad deutungsoffen sein. Der größte Teil der Literatur, die gelesen wird, ist sprachlich und inhaltlich weniger komplex und dient der Unterhaltung. Unterhalten zu werden, ist ein legitimes Bedürfnis. Langfristig bedeutsam sind allerdings die schwierigeren, anspielungsreicheren Texte. Literatur als Prozess Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde, von einigen bedeutenden Vorläufern der Leserforschung abgesehen, 2 Literaturgeschichte als Geistesgeschichte 1 Peter Uwe Hohendahl: Literaturkritik und Öffentlichkeit. München: Piper 1974 (Serie Piper 84), S. 234. 2 Hier wären Walter Benjamin, Siegfried Kracauer oder der Kunsthistoriker Leo Balet zu nennen. Aus Platzgründen kann auf diese frühe Beschäftigung mit dem Rezipienten und dem Akt der Rezeption nicht näher eingegangen werden. 26 Einheit 2 geschrieben. Dichtung war Ergebnis und Beweis genialer Begabung. Doch das ‚Führer‘-Prinzip des Nationalsozialismus, das ja auch ideologisch korrekte Autoren auf den Schild hob und ihnen seherhafte Fähigkeiten zuschrieb, scheiterte bekanntlich. Dieses Scheitern diskreditierte den Glauben daran, dass Dichter Genies und überhaupt bessere Menschen sind. Aber erst in den 1960er Jahren entwickelte sich eine breitere Perspektive auf den Text, auf den Leser und auf den Kontext, in dem Literatur entsteht. Die vergleichsweise frühe Konzentration auf den Text bedeutete nicht, dass damit die gesellschaftliche Relevanz von Literatur ausgeblendet wurde. Die Frage, wie Texte überhaupt verfasst sind, konnte wegen der früher üblichen Instrumentalisierung von Literatur auch politische Implikationen haben. Der Russische Formalismus beispielsweise entstand um 1915 nicht zuletzt unter dem Eindruck der autoritären Strukturen des zaristischen Russland und er wurde „1930 aus ideologischen Gründen unterbunden […]. Die Lehre und Methodik des russischen Formalismus kann als frühe Ausprägung des von Ferdinand de Saussure begründeten Strukturalismus bezeichnet werden.“ 3 Nach Strukturalismus, Werkimmanenz und anderen textzentrierten Interpretationsverfahren kam es im Laufe der 1960er Jahre zur Entdeckung des Lesers. Die für literarische Texte konstitutive Deutungsoffenheit fordert die interpretatorische Leistung des Rezipienten. Kontextualisierende Fragen schlossen sich an: Welchen Einflüssen sind Autoren, überlieferte Texte und Leser ausgesetzt und wie wirken sich solche Einflüsse auf den Entstehungs- und Rezeptionsprozess aus? Heute geht man davon aus, dass Literatur Bestandteil eines Prozesses ist, den beispielsweise der Forschungsschwerpunkt „Prozesse der Literaturvermittlung“ an der Universität Innsbruck untersucht: Literatur wird als Prozess begriffen, von der Produktion über die Vermittlung hin zu Rezeption und Verarbeitung. Es handelt sich um ein komplexes, nicht-lineares Geflecht von Kommunikation und Interaktion […]. Von der Edition über die Literaturkritik bis zur theoretischen Reflexion (die wiederum wichtige Voraussetzung für die Edition ist) handelt es sich um einen Prozess der Vermittlung von Literatur - innerhalb eines relativ homogenen, professionalisierten Literaturbetriebs und von diesem Literaturbetrieb in die Gesellschaft. Literatur wird dabei immer medial vermittelt […]. Prozesscharakter trägt […] bereits die Erarbeitung von Texten durch Autoren und Verlage, im Anschluss daran die Vermittlung der Texte seitens der Verlage an die Leser, hierfür werden Instrumente der Pressearbeit, der Buchgestaltung, des Marketings und der Werbung eingesetzt. Bei einem weiteren Textbegriff sind auch andere Vermittlungsformen in den Blick zu nehmen, also Theateraufführungen, Hörfunk-, Fernseh- und Filmproduktionen, Verbreitung von Texten im Internet uvm. 4 3 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Russischer_Formalismus (abgerufen am 18.09.08). 4 Vgl. http: / / www.uibk.ac.at/ literaturvermittlung/ grundlagen.html (abgerufen am 18.09.08). 27 Einheit 2 Für die Frage nach dem Leser hat sich eine - alles andere als homogene - Theorieschule als zuständig erklärt, die man als Rezeptionsästhetik oder Rezeptionsforschung bezeichnet. Diese ist eng mit der sogenannten Sozialgeschichtsschreibung der Literatur verknüpft und hat - für die konkrete Leserforschung - gelegentlich empirische Verfahrensweisen adaptiert. Einige Entwicklungsschritte und Grundlagen sollen nachfolgend skizziert werden. Der Erwartungshorizont Studierende, Lektoren, Literaturkritiker, auch Autoren - sie alle sind zunächst Leser. Und der literarische Text entsteht - wie jeder Text - erst im Akt des Lesens. Diese Erkenntnis hat sich seit Ende der 1960er Jahre durchgesetzt und wird mit der sogenannten Konstanzer Schule verbunden, zu der Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß gehörten. Üblicherweise wird, nach Jauß, 5 diese Herangehensweise an Literatur ‚Rezeptionsästhetik‘ genannt. Jede Interpretation eines literarischen Texts muss die Kategorie des Lesers berücksichtigen. Durch die für Literatur konstitutive Deutungsoffenheit des literarischen Texts entsteht dann möglicherweise ein polyphones Konzert der Aussagen, die Leser einem Text zuschreiben. Jeder Leser liest anders, denn jeder Leser hat eine andere (Lese-)Sozialisation absolviert, bei jedem Leser handelt es sich um ein einzigartiges Individuum, das so nur ein einziges Mal auf der Welt exisitiert. Hans Robert Jauß hat argumentiert, dass die Literaturgeschichte nicht, wie es früher weitgehend als Konsens galt, den Sinn hat, „an der Geschichte der Dichtwerke die Idee der nationalen Individualität auf ihrem Weg zu sich selbst darzustellen“. 6 Das wäre gleich in mehrfacher Hinsicht falsch. Erstens gibt es keine Teleologie, keine Entwicklung, die auf ein bestimmtes Ziel hinführen würde. So etwas lässt sich nur konstruieren, um - wie schon vorher und dann bis zur Pervertierung im Nationalsozialismus geschehen - die nationale Identität zu stärken. Zweitens lässt sich Literaturgeschichte nicht auf eine Nation oder, dies wäre der präzisere Begriff, auf einen Staat eingrenzen, nicht einmal auf eine Sprache. Autoren haben schon immer über Staats- und Sprachgrenzen hinaus gewirkt, die bedeutenden Autoren ohnehin. Drittens rechnet die kritisierte Auffassung eben nicht mit dem Leser, um den es Jauß hier vor allem geht. Die Bedeutung eines literarischen Texts liege, so Jauß, „notwendig auch in seiner Wirkung“. Man habe also den „geschichtliche[n] Zusammen- 5 Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Ders.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1970 (edition suhrkamp 418), S. 144-207, hier S. 169f. 6 Ebd., S. 144. 28 Einheit 2 hang der Werke untereinander in den Interrelationen von Produktion und Rezeption“ zu sehen. 7 Zentral sei das „dialogische Verhältnis“ 8 von Text und Leser. Und weiter: Geschichte der Literatur ist ein Prozeß ästhetischer Rezeption und Produktion, der sich in der Aktualisierung literarischer Texte durch den aufnehmenden Leser, den reflektierenden Kritiker und den selbst wieder produzierenden Schriftsteller vollzieht. 9 Jauß führt noch einen wichtigen Begriff ein, der den Prozess des Abgleichens zwischen Text und Leser auf den Punkt bringt: Der Ereigniszusammenhang der Literatur wird primär im Erwartungshorizont der literarischen Erfahrung zeitgenössischer und späterer Leser, Kritiker und Autoren vermittelt. Von der Objektivierbarkeit dieses Erwartungshorizontes hängt es darum ab, ob es möglich sein wird, Geschichte der Literatur in der ihr eigenen Geschichtlichkeit zu begreifen und darzustellen. 10 Der Erwartungshorizont wird aber nicht nur durch vorherige Leseerfahrungen konstituiert: Das neue literarische Werk wird sowohl gegen den Hintergrund anderer Kunstformen als auch vor dem Hintergrund der alltäglichen Lebenserfahrung aufgenommen und beurteilt. 11 Das heißt andererseits nicht, dass die Deutung eines Texts freigegeben ist, dass also potentiell jede Interpretationsmöglichkeit durch jeden Text gedeckt wäre. Vielmehr ist die Qualität des Texts als System von bestimmte Bedeutungen ermöglichenden und andere ausschließenden Zeichen zu berücksichtigen. Es ist auf die eine Interpretation stimulierenden Textsignale zu achten. Wolfgang Iser hat die Konsequenzen der neuen Blickrichtung auf Text und Leser für die Interpretation wie folgt formuliert: Wenn es sich die Interpretation lange Zeit zur Aufgabe gemacht hat, die Bedeutung eines literarischen Textes zu ermitteln, so setzt dies voraus, daß der Text seine Bedeutung nicht formuliert. Wie aber kommt es dann überhaupt zur Erfahrung einer Textbedeutung, die von der hier diskutierten Interpretationsnorm als so selbstverständlich angenommen wird, daß sie sich nur noch mit ihrer diskursiven Erklärung befassen zu 7 Ebd., S. 163. 8 Ebd., S. 171. 9 Ebd., S. 172. 10 Ebd., S. 173. 11 Ebd., S. 203. 29 Einheit 2 müssen glaubt? Der Vorgang, in dessen Verlauf eine solche Bedeutung zum Vorschein kommt, liegt daher allen Bemühungen voraus. Folglich sollte die Konstitution von Sinn und nicht ein bestimmter, durch Interpretation vermittelter Sinn von vorrangigem Interesse sein. Rückt dieser Sachverhalt in den Blick, dann kann sich die Interpretation nicht mehr darin erschöpfen, ihren Lesern zu sagen, welchen Inhalts der Sinn des Textes sei; vielmehr muß sie dann die Bedingung der Sinnkonstitution selbst zu ihrem Gegenstand machen. Sie hört dann auf, ein Werk zu erklären, und legt statt dessen die Bedingung seiner möglichen Wirkung frei. Verdeutlicht sie das Wirkungspotential eines Textes, so verschwindet die fatale Konkurrenz, in die sie dadurch geraten ist, daß sie dem Leser die von ihr ermittelte Bedeutung als die richtige oder bessere aufzudrängen versuchte. 12 Das „Wirkungspotential“ eines Texts gerät in den Blick, es geht um die Deutungsmöglichkeiten, die ein Text eröffnet oder nicht eröffnet. Jauß spricht hier auch von „einem Prozeß gelenkter Wahrnehmung“. 13 Wie Jauß hervorgehoben hat, entscheidet über die Qualität eines Texts vor allem sein Innovationspotential: Die Art und Weise, in der ein literarisches Werk im historischen Augenblick seines Erscheinens die Erwartungen seines ersten Publikums einlöst, übertrifft, enttäuscht oder widerlegt, gibt offensichtlich ein Kriterium für die Bestimmung seines ästhetischen Wertes her. 14 Je näher sich ein Werk am Erwartungshorizont orientiert, desto weniger Ansprüche stellt es an den Leser und desto eher nähert es sich „dem Bereich der ‚kulinarischen‘ oder Unterhaltungskunst“. 15 Allerdings ist es schwierig, den Innovationsgehalt zu erkennen: Denn ein bedeutendes Werk, das im literarischen Prozeß eine neue Richtung anzeigt, ist von einer nicht übersehbaren Produktion von Werken umgeben, die traditionellen Erwartungen oder Vorstellungen über die Wirklichkeit entsprechen, in ihrem gesellschaftlichen Index also nicht geringer zu veranschlagen sind als die einsame, oft erst später begriffene Neuheit des großen Werkes. 16 Werke, die „den vertrauten Horizont literarischer Erwartungen so völlig durchbrechen“, 17 haben in der Regel beim Lesepublikum keine Chance, 12 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 4. Aufl. München: Fink 1994 (UTB 636), S. 36. 13 Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 175. 14 Ebd., S. 178. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 159. 17 Ebd., S. 180. 30 Einheit 2 weil aufgrund fehlender Vergleichsmöglichkeiten ihre spezifische Qualität gar nicht erkannt werden kann. Dies ändert sich möglicherweise im Laufe der Zeit, so wie Georg Büchner erst Jahrzehnte nach seinem Tod als Autor entdeckt und richtungsweisend für den Naturalismus wurde. Jurij Lotman hat die beiden Positionen - das Erwartete gegen das radikal Andere - mit der Rolle von Leser und Autor identifiziert. Der Leser sei „daran interessiert, die notwendige Information mit dem geringsten Aufwand an Mühe zu erlangen“, der Autor hingegen versuche, „die Anzahl der Kodesysteme und die Kompliziertheit ihrer Struktur zu erhöhen“. 18 So einfach ist das sicher nicht, denn Autoren beziehen durchaus auch Lesererwartungen mit ein. Und viele Leser von fiktionaler Literatur erwarten, dass sie nach der Lektüre die Welt mit anderen Augen sehen oder doch zumindest einen Teil dieser Welt aus einem etwas anderen Blickwinkel betrachten können. Für die sogenannten professionellen Leser (also jene, die beruflich mit Literatur zu tun haben) gilt ohnehin, dass dieser Wunsch ein wichtiger Bestandteil ihres Erwartungshorizontes ist; im Unterschied zu den Komsumenten sogenannter Trivial- und Unterhaltungsliteratur. Dazu später mehr. Leer- und Unbestimmtheitsstellen Leser reagieren auf spezifische Weise auf einen literarischen Text: Nun aber legt jeder Text, den wir lesen, einen anderen Schnitt innerhalb der kontrapunktischen Struktur unserer Person, und d.h. die von ihm organisierte Beziehung zwischen seinem Thema und unserem Erfahrungshorizont gewinnt eine jeweils unterschiedliche Ausprägung. Das einzelne Thema ruft nicht alle unsere Orientierungen und Dispositionen auf, sondern nur bestimmte Ausschnitte daraus, weshalb von Text zu Text der beanspruchte Umfang unserer Orientierungen jeweils anders konstituiert ist. 19 Umgekehrt muss der Text Reaktionen stimulieren und zugleich so organisiert sein, dass Leser unterschiedlich auf ihn reagieren können. Wolfgang Iser hat hierfür den Begriff der Leerstellen eingeführt, „die als bestimmte Aussparungen Enklaven im Text markieren und sich so der Besetzung durch den Leser anbieten“. Weiter schreibt er: „Leerstellen regulieren daher die Vorstellungstätigkeit des Lesers, die nun zu Bedingungen des Textes in Anspruch genommen wird.“ 20 18 Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. 4., unveränd. Aufl. München: Fink 1993 (UTB 103), S. 418. 19 Iser: Der Akt des Lesens, S. 252. 20 Ebd., S. 266. 31 Einheit 2 Mit dem Begriff der Leerstellen schließt Iser an den von Roman Ingarden geprägten Begriff der „Unbestimmtheitsstellen“ an, der eine Unterscheidung zwischen dem ermöglicht, was der Text ‚bestimmt‘ aussagt, und dem, was deutungsabhängig ist. 21 Die Unbestimmtheitsstellen werden während der Lektüre mit bestimmten Bedeutungen gefüllt, Ingarden spricht hier von der „Konkretisation des Werkes“. 22 Iser meint allerdings, dass dieses Konzept selbst zu unbestimmt ist, dass es noch nicht konkret genug macht, wie der ‚Akt des Lesens‘ durch den Text reguliert wird. 23 Um dem Text genauer auf die Spur zu kommen, hat er den Begriff der „Appellstruktur“ geprägt, der allerdings auch offen lässt, was genau nun diese Appelle auslöst und wodurch sie begrenzt werden. 24 Die Diskussion über die Begrifflichkeit muss an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Festzuhalten sind (mindestens) zwei Probleme, die durch die Rezeptionsästhetik aufgeworfen werden: ▶ Erstens wird nicht klar, ob sich ein Textsinn aus der Summe möglicher Bedeutungen rekonstruieren lässt. Der Text ruft bestimmte Bedeutungen hervor und schließt andere aus, abhängig von der Disposition des Lesers. Jauß spricht immerhin von „einem Prozeß gelenkter Wahrnehmung“ und einem „rekonstruierbare[n] Erwartungshorizont“. 25 Wenn man nun alle diese Bedeutungen sammelt, wie es schon Roland Barthes vorgeschlagen hatte, 26 ist man dann wieder auf dem festen, d.h. empirischen Boden der Wissenschaft? Oder ist Wahrnehmung grundsätzlich subjektiv (abgesehen davon, dass sie gruppenabhängig und historisch ist) und eine vollständige Ausdeutung von Texten nicht möglich? ▶ Zweitens bleibt offen, wie man sich die Leer- oder Unbestimmtheitsstellen konkret vorzustellen hat - als bestimmte Wörter, als Wortketten oder Sätze, als Sinneinheiten, als Metaphern, als Symbole ... In der Frage nach dem literarischen Code und dessen bedeutungstragenden Zeichen hat die Semiotik ein konkreteres Angebot. Auf beide Probleme soll nun näher eingegangen werden, auf das erste, indem der Leser noch etwas genauer in den Blick genommen wird. Der Leser, das (un)bekannte Wesen Es kursieren verschiedene Lesertypen, Wolfgang Iser hat dem von ihm so genannten impliziten Leser sogar ein ganzes Buch gewidmet. 27 Gunter 21 Vgl. ebd., S. 267f. - Vgl. hierzu auch Roman Ingarden: Konkretisation und Rekonstruktion. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. 2. Aufl. München: Fink 1979 (UTB 303), S. 42-70. 22 Vgl. Iser: Der Akt des Lesens, S. 170. 23 Vgl. ebd., S. 274f. 24 Vgl. Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. In: Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik, S. 228-252. 25 Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, S. 175 u. 177. 26 Roland Barthes: Kritik und Wahrheit. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1967 (edition suhrkamp 218), S. 68. 27 Vgl. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München: Fink 1972 (UTB 163). 32 Einheit 2 Grimm hat das Isersche Modell noch weiter ausdifferenziert und er unterscheidet folgende Lesertypen: 1. Der reale Leser. Er ist Bestandteil des literarischen Publikums und Gegenstand der literatursoziologischen wie der leserpsychologischen Forschung. 2. Der imaginierte oder intentionale Leser spiegelt die Lesererwartung eines Autors. Häufig entspricht er nicht dem realen, sondern einem Idealbild vom Leser. Die Vorstellung, die der Autor von seinem Leser hat, schlägt sich im Kunstwerk selbst nieder. 3. Der implizite, konzeptionelle oder fiktive Leser ist im Text selbst enthalten (werkintern), einerseits als Ausfluß der Leservorstellung seines Verfassers, andererseits als Lektüreanweisungsmuster, als Leserrolle für den realen Leser selbst. Dieser letzte Typus hat mannigfache Bezeichnungen erhalten. 28 Blickt man auf diese kleine Liste, dann ist festzustellen, dass zunächst einmal zwischen dem empirischen Leser, also dem Individuum, das gerade einen Text liest, und dem vorgestellten Leser zu unterscheiden ist. In der Mitte steht jedoch immer der Text, dem von der Rezeptionsästhetik sogar so etwas wie ein eigener Wille zugestanden wird. Was ist in ihm angelegt, das eine solche Variationsbreite von Lesertypen ermöglicht? Wir müssen hier noch einmal einen Schritt vom Leser zurück zum Text gehen und nach dem Potential fragen, das dieser für die Lektüre bereithält. Hierfür liefert ein grundlegendes Erklärungsmodell die erwähnte Semiotik, die Lehre vom sprachlichen Zeichen. Das sprachliche Zeichen Die Gesellschaft ist, wie es Umberto Eco bündig festgestellt hat, „nichts anderes [...] als ein komplexes System von Zeichensystemen“. 29 Menschen sind ‚symbolische Wesen‘, 30 ihr Menschsein, also das, was sie von anderen Lebewesen unterscheidet, ist an Kommunikation gebunden, die über den Austausch klar geregelter Botschaften hinausgeht. „Sobald eine beobachtbare und interpersonale Form sichtbaren Zeichenverhaltens zustande kommt, ist eine Sprache da.“ 31 Der Straßenverkehr wird durch eine solche ‚Sprache‘ geregelt, er ist ebenso ein Zeichensystem (eine rote Ampel heißt ‚Stop‘) wie die Archi- 28 Gunter Grimm: Einführung in die Rezeptionsforschung. In: Ders. (Hg.): Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Stuttgart: Reclam 1975, S. 11-84, hier S. 75. 29 Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1977 (edition suhrkamp 895), S. 14. 30 Vgl. ebd., S. 108. 31 Ebd., S. 109. 33 Einheit 2 tektur (barocke Paläste sollen genauso den Reichtum ihrer Bewohner repräsentieren wie große Vorortvillen) oder die Kleidung (wer als Mann in einer Bank arbeitet, trägt einen Anzug mit Krawatte, das signalisiert Seriosität). Um die Bedeutung von Zeichen voraussetzen und erkennen zu können, muss „ein beiden gemeinsamer Kode existieren, d.h. eine Reihe von Regeln, die dem Zeichen eine Bedeutung zuordnen“. 32 Für schriftliche oder gesprochene Sprachen werden solche Zuordnungen in Wörterbüchern niedergelegt, damit sie jeder rekonstruieren kann. Offenkundig ist dabei, dass das sprachliche Zeichen durch diese Zuordnung etwas repräsentiert, das außerhalb der Sprache steht, also das Wort ‚Tisch‘ einen Tisch, wobei damit noch nicht gesagt ist, ob es sich um einen Ess-, Couch- oder Stehtisch handelt, wie viele Beine er hat, aus welchem Material er ist usw. Wenn jemand den Tisch nicht kennt, von dem die Rede ist, wird er sich irgendeinen vorstellen, vielleicht den, der bei ihm zuhause in der Küche steht. Vom sprachlichen Zeichen und dem, was es bezeichnet, ist also noch die Vorstellung dessen zu unterscheiden, was bezeichnet werden soll. Man kann also unterscheiden zwischen Signifikant (das Bezeichnende; das sprachliche Zeichen), Signifikat (das Bezeichnete, und zwar die Vorstellung, die beim Dekodieren des Zeichens im Kopf entsteht) und Referent (die Entsprechung des Zeichens in der ‚wirklichen‘ Welt). 33 Die Zuordnung von Signifikant und Signifikat ist zwar geregelt, doch ist der Sinn dieser Zuordung selten einsichtig, außer bei lautmalerischen Wörtern wie ‚Kukuck‘, denn hier ahmt das Wort den Ruf des Vogels nach. Ansonsten ist die Verbindung arbiträr, d.h. willkürlich. Wie ließe sich sonst erklären, dass Pferd im Englischen ‚horse‘ heißt, aber jeder Engländer weiß, dass mit ‚horse‘ ein Pferd gemeint ist? Weil der Kommunikationsprozess über das Signifikat läuft, ist die Verbindung von Signifikant und Referent sogar noch schwächer ausgeprägt. Oftmals gibt es gar keinen Referenten, Eco nennt hier das Beispiel ‚Einhorn‘ als ein Fabelwesen, das nur in unserer Vorstellung existiert. 34 Man könnte sagen, dass jeder fiktionale Text ein Einhorn ist. Ein solcher Text hat keine Entsprechung in der Außenwelt, deshalb ist er ja fiktional. Auch wenn in dem 1929 erschienenen Roman Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin die Stadt Berlin mit bestimmten Plätzen und Straßen vorkommt, so ist es doch eine fiktive Stadt, die über ihren Namen lediglich mit der realen Stadt Berlin in Verbindung gebracht wird. Franz Biberkopf hat nie gelebt, er hat nie die Plätze und Straßen aufgesucht, die beschrieben werden, die ganze erzählte Geschichte ist, mit Ausnahme einmontierter Zeitungsausschnitte (die dadurch aber fiktionalisiert werden), erfunden. Ein Sonderproblem sind Abstrakta wie ‚Freiheit‘. Wer vermag zu sagen, 32 Ebd., S. 26. 33 Vgl. ebd., S. 28. 34 Vgl. ebd., S. 30. 34 Einheit 2 welches Signifikat oder gar (in der Realisierung) welcher Referent diesem Signifikanten entspricht? Mit Eco kann man zwischen einfachen und komplexen sprachlichen Zeichen unterscheiden. 35 Man könnte auch sagen, dass ein literarischer Text ein außerordentlich komplexes sprachliches Zeichen ist, da alle Zeichen, die ihn ausmachen, aufeinander verweisen und gemeinsam eine Bedeutung konstituieren, die wir als ‚Aussage‘ eines Textes bezeichnen. Eco trifft noch viele weitere Unterscheidungen, um Licht ins, mit Barthes gesprochen, Reich der Zeichen zu bringen. Gerade mit Blick auf die fiktionale Literatur ist das aber gar nicht so einfach. Ein ‚univokes Zeichen‘, 36 das nur eine einzige Bedeutung hat, gibt es darin vermutlich gar nicht, selbst wenn von so selbstverständlichen Dingen wie Stühlen, Tischen und Kaffeetassen die Rede ist. Denn fiktionale Texte haben keine(n) Referenten. Wichtig ist noch festzuhalten, dass die Beziehungen der kleinsten bedeutungstragenden Einheiten sprachlicher Zeichen, also z.B. ‚Tisch‘ in dem Satz „Die Kaffeetasse stand auf dem Tisch“, auf syntagmatischer und paradigmatischer Achse angeordnet sind. 37 Syntagmatisch heißt, dass bedeutungstragende Zeichen nebeneinander stehen - also als Satzglied, dann als Satz, als Absatz, Abschnitt, Kapitel und schließlich als Text. Die paradigmatische Achse ist die nicht sichtbare nach oben und unten, es ist die Achse der Wahlmöglichkeiten bestimmter sprachlicher Zeichen. Warum ‚Kaffeetasse‘ und nicht ‚Teetasse‘ oder ‚Teekanne‘, warum ‚Tisch‘ und nicht ‚Esstisch‘ oder ‚Schrank‘? Sprachliche Zeichen treten so in ein System von Oppositionen und Äquivalenzen ein, 38 sie strukturieren dadurch einen Text. ‚Kaffeetasse‘ und ‚Tisch‘ sind insofern äquivalent, als dass Kaffeetassen normalerweise auf Tischen stehen, wenn sie gebraucht werden. „Die Kaffeetasse stand auf der Lampe“ hingegen würde als Opposition aufgefasst, denn Tassen stehen nicht auf Lampen. Was hätten sie da zu suchen? Hier stellt sich die Frage von Denotation und Konnotation. 39 Die Denotation entspricht der Wörterbuchbedeutung - es ist das, was das sprachliche Zeichen für alle aussagt, soweit man das überhaupt so sagen kann. Die Konnotation ist eine weitere Bedeutung, die dem Zeichen zugewiesen werden kann, diese Bedeutung kann mehr oder weniger spekulativ sein - bei ‚Kaffeetasse‘ zum Beispiel ‚koffeinfreier Kaffee‘ oder ‚Bluthochdruck‘. Wie man bereits an diesem sehr einfachen Beispiel sieht, hängt die konnotative Bedeutung stark vom (zunächst einmal: textuellen) Kontext des Zeichens und vom Leser ab. Es spricht viel dafür, die Leer- oder Unbestimmtheitsstelle in der Konnotation zu sehen. Freilich kann man noch 35 Vgl. ebd., S. 34. 36 Vgl. ebd., S. 53. 37 Vgl. ebd., S. 79ff. 38 Vgl. ebd., S. 81ff. 39 Vgl. ebd., S. 99ff. 35 Einheit 2 zwischen solchen Konnotationen unterscheiden, denen jeder oder doch der größte Teil der Leser eine bestimmte Bedeutung zuweisen wird, wir könnten hier von intersubjektiv nachvollziehbaren Konnotationen sprechen, und jenen, die ausschließlich subjektiv sind. Bei unserem Beispielsatz lässt sich unter ‚Tisch‘ wohl ein Stehtisch in einem Café, ein Esstisch in einer Küche o.ä. vorstellen, aber ohne weitere Informationen, die eine solche Konnotation stützen würden, wohl nicht konkret ein dreibeiniger Nierentisch aus den 1950er Jahren. Man kann sich einen solchen Tisch vorstellen - die Vorstellung ist aber weit hergeholt und assoziativ. Je komplexer und deutungsoffener ein Text ist, desto hochwertiger ist er, meint auch Eco. Er stellt sogar - im Anschluss an philosophische Traditionen von Aristoteles bis Heidegger - fest, dass „die metaphorische (also poetische) Sprache als einziges Werkzeug wahrer Erkenntnis und wesenhafter Kommunikation anzusehen“ ist. 40 Menschen konstruieren ihre Wirklichkeit Nicht nur Sprache ist Ergebnis eines Konstruktionsprozesses (Menschen konstruieren Sprachen, um mit ihnen zu kommunizieren, dann konstruieren sie aus bestimmten Zeichen Bedeutungen), auch die menschliche Wahrnehmung ist subjektabhängig und konstruiert. Eco sagt, jedes „Wahrnehmungsobjekt“ sei „ein (semiotisches) Konstrukt“. 41 Wie Wahrnehmung konstruiert wird, regeln intersubjektiv feststellbare „Konventionen“ 42 ebenso wie subjektive Prägungen. Auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit haben erstmals Peter L. Berger und Thomas Luckmann nachdrücklich hingewiesen. Sie haben interessanterweise auch das Irritationspotenzial von symbolischen Ordnungen außerhalb der gewohnten vermerkt, folgende Festellung kann man auf literarische Kommunikation übertragen: „Das Auftauchen einer alternativen symbolischen Sinnwelt ist eine Gefahr, weil ihr bloßes Vorhandensein empirisch demonstriert, daß die eigene Sinnwelt nicht wirklich zwingend ist.“ 43 Eine Gefahr ist sie allerdings nur aus der Perspektive der Empiriker oder derjenigen, die sich weigern zu sehen, dass Wahrnehmung grundsätzlich etwas Konstruiertes ist. Literarische Texte schaffen eine zweite Realität, die mit der beobachtbaren Realität abgeglichen werden kann. So kommen produktive Verstehensprozesse in beiden Richtungen zustande. Der Prozess des Abgleichens wiederum erfolgt auf 40 Vgl. ebd., S. 114. 41 Ebd., S. 146. 42 Ebd., S. 147. 43 Peter L. Berger / Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausg. v. Helmuth Plessner. Übers. v. Monika Plessner. 16. Aufl. Frankfurt/ Main: Fischer 1999 (Fischer-TB 6623), S. 116. 36 Einheit 2 der Basis der Sozialisation und der Individualität der Kommunizierenden. Man muss dabei nicht so weit gehen, in „Kenner“, „Leser“ und „Ignoranten“ zu unterscheiden. 44 Eher schon kann man, wie vorgeschlagen, zwischen professionellen Lesern und nicht-professionellen Lesern trennen, also jenen, die beruflich mit dem Lesen zu tun haben, und solchen, die aus Vergnügen oder Zeitvertreib lesen. Dass Erkenntnis wahrnehmungsabhängig ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Durchgesetzt haben diese Erkenntnis die sogenannten (radikalen) Konstruktivisten. Heinz von Foerster hat dies auf die Formel gebracht: „Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist unsere Erfindung.“ 45 Eine Überzeugung, die übrigens durch die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung vollkommen gedeckt wird. 46 Welche Konsequenzen hat die Wahrnehmungsabhängigkeit von Erkenntnis, die ja auch eine Subjektabhängigkeit von Wahrnehmung bedeutet? Ernst von Glasersfeld hat konstatiert: Da Wissen für den Konstruktivisten nie Bild oder Widerspiegelung der ontischen Wirklichkeit darstellt, sondern stets nur einen möglichen Weg, um zwischen den „Gegenständen“ durchzukommen, schließt das Finden eines befriedigenden Wegs nie aus, daß da andere befriedigende Wege gefunden werden können. 47 Dennoch kann oder wird es in der Regel so etwas wie den ‚üblichen‘ Weg geben: Was wir zumeist als „objektive“ Wirklichkeit betrachten, entsteht in der Regel dadurch, daß unser eigenes Erleben von anderen bestätigt wird. Dinge, die nicht nur von uns, sondern auch von anderen wahrgenommen werden, gelten ganz allgemein, d.h. im Alltagsleben wie auch in der Epistemologie, als real. Intersubjektive Wiederholung von Erlebnissen liefert die sicherste Garantie der „objektiven“ Wirklichkeit. 48 ... die dennoch Ergebnis eines subjektiven Konstruktionsprozesses ist. Siegfried J. Schmidt geht sogar so weit, die Möglichkeit intersubjektiver Erkenntnis zu leugnen, zumindest für die Literatur: 44 Vgl. die Unterteilung in: Arbeitsgruppe: Böll in Reutlingen. Eine demoskopische Untersuchung zur Verbreitung eines erfolgreichen Autors. In: Grimm (Hg.): Literatur und Leser, S. 240-271, hier S. 264. 45 Heinz von Foerster: Das Konstruieren einer Wirklichkeit. In: Paul Watzlawick (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus. Mit 31 Abb. 18. Aufl. München u. Zürich: Piper 2006 (Serie Piper 373), S. 39-60, hier S. 40. 46 Vgl. z.B. Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C. H. Beck 2005 (Beck’sche Reihe 1669). 47 Ernst von Glasersfeld: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität. In: Heinz von Foerster u.a.: Einführung in den Konstruktivismus. Mit 15 Abb. 4. Aufl. München u. Zürich: Piper 1998 (Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung 5), S. 9 -39, hier S. 32. 48 Ebd., S. 33. 37 Einheit 2 Die konstruktivistische Position hat natürlich direkte Auswirkungen auf das bisherige Zentralthema der Literaturwissenschaft: auf die Werkinterpretation. Sowohl die Unterscheidung zwischen Text und Kommunikat als auch die Annahme einer strikten Subjektdependenz von Bedeutungen macht eine Vorstellung von Interpretation als Ermittlung der „richtigen“ Bedeutung eines literarischen Texts oder als Ermittlung der Autorintention unsinnig: „richtige“ Bedeutungen könnte man nur ermitteln, wenn es einen objektiven Maßstab gäbe, der außerhalb subjektiver Kognitionsbereiche läge [...]. 49 An der Stelle könnte dieses Buch abbrechen, ebenso wie jede Beschäftigung mit Literatur oder überhaupt jeder Versuch zu kommunizieren. Denn wenn nichts intersubjektiv aushandelbar ist, warum dann überhaupt noch Kommunikation? Es ist ratsam, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Es handelt sich bei der inhaltlichen Beschäftigung mit Büchern eben um einen Prozess, um ein polyphones Gespräch über Literatur, um ein Aushandeln von Bedeutungen. Mehr ist angesichts der konstitutiven Mehrdeutigkeit gar nicht möglich, aber genau das ist ja das Spannende für alle, die mit Literatur zu tun haben. Was Leser lesen Schon früh werden Schüler mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass es keinen größeren deutschsprachigen Dichter als Goethe geben kann. Mit dem literarischen Kanon wird sich zwar ein eigenes Kapitel beschäftigen, aber hier sei schon einmal festgestellt, dass das, was Leser allgemein so lesen, größtenteils stark von dem abweicht, was professionelle Leser lesen oder für gut befinden. In den 1970er Jahren gab es beachtliche Ansätze der sogenannten historischen Leserforschung, deren wichtigster Vertreter Rudolf Schenda war. Er verwendet nicht die üblichen Begriffe Trivialliteratur oder Unterhaltungsliteratur, sondern spricht von ‚populären Lesestoffen‘, zu denen er in seiner berühmten Studie Volk ohne Buch feststellt: Deutschland besaß nicht nur tausend „Dichter“, sondern mindestens 100000 Männer und Frauen der Feder. Mindestens 99% dieser Schriftsteller fallen für die Literaturgeschichtsschreibung aus. Da die Œuvrekataloge dieser Produzenten oftmals nicht dünner, manchmal eher dicker sind als die der kanonisierten „Dichter“, bleibt ein ebenso hoher Prozentsatz des literarischen Materials im toten Winkel der Literaturbetrachtung. [...] 49 Siegfried J. Schmidt: Vom Text zum Literatursystem. Skizze einer konstruktivistischen (empirischen) Literaturwissenschaft. In: von Foerster u.a.: Einführung in den Konstruktivismus, S. 147-166, hier S. 160. 38 Einheit 2 Erschreckender als die Menge der Druckwerke des 19. Jahrhunderts ist die Tatsache, daß sie nur noch zum geringsten Teil greifbar und erfaßbar sind. 50 Als wichtigste Autoren des 19. Jahrhunderts nach Klassik und Romantik gelten heute, neben anderen, Heinrich Heine, Eduard Mörike, Georg Büchner, Gottfried Keller, Adalbert Stifter, Theodor Fontane oder Theodor Storm. Doch das waren in der Regel nicht die Autoren, die auch am meisten gelesen wurden. In der mit 600.000 Bänden um 1900 größten deutschen Leihbibliothek mit Sitz in Berlin waren, mit einer Ausnahme, andere Autoren und Titel in höheren Zahlen vorrätig, um den Lesehunger zu befriedigen: Bei Borstell waren bis 1898 folgende Romane die Spitzenreiter: Gustav Freytags „Soll und Haben“ mit 2315 Umlaufexemplaren, Felix Dahns „Ein Kampf um Rom“ mit 1688, Freytags „Verlorene Handschrift“ mit 1584, Scheffels „Ekkehard“ mit 1317, die „Goldelse“ der Marlitt mit 1285 Exemplaren, „Eine ägyptische Königstochter“ von Georg Ebers mit 1180, Paul Heyses „Kinder der Welt“ mit 1067 - und immerhin noch 630 Exemplare von Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“ und 758 seiner „Leute von Seldwyla“. 51 Paul Heyse (1830-1914) erhielt sogar 1910 als erster deutschsprachiger Schriftsteller den Literaturnobelpreis. 52 Reinhard Wittmann ist der Auffassung, dass es das oft zitierte Bildungsbürgertum nie gegeben hat. 53 Bücher wurden in der Regel nicht gekauft, sondern ausgeliehen; dabei handelte es sich vor allem um Unterhaltungsliteratur. Bildungsbürgerlicher Literatur kam eine eher dekorative Funktion zu: Zahlreiche Beschreibungen der typischen gutbürgerlichen Hausbibliothek zur Gründerzeit ergeben ein übereinstimmendes Bild: Das unentbehrliche Konversationslexikon, einige fachwissenschaftliche Schriften, unberührte Goethe- und Schillerausgaben, ein paar illustrierte Prachtwerke und gebundene Jahrgänge von Familienblättern stellten den gesamten Buchbestand dar. 54 Eine Statistik der „Longseller des deutschen Publikums“ von 1938 weist folgende Titel aus, wobei allerdings zu beachten ist, dass sie in der NS-Zeit 50 Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. München: dtv 1975 (dtv Wissenschaftliche Reihe), S. 35. 51 Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Durchges. u. erw. Aufl. München: C. H. Beck 1999 (Beck’sche Reihe 1304), S. 277. 52 Nach dem Historiker (aber eben nicht Autor belletristischer Werke) Theodor Mommsen (1817-1903), der ihn 1902 erhielt. 53 Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 288 u. 290. 54 Ebd., S. 291. 39 Einheit 2 angefertigt wurde; in Klammern die Auflagenhöhe (hier nur die ersten fünf): Richard Voß: „Zwei Menschen“ (860000) Waldemar Bonsels: „Biene Maja“ (770000) Ludwig Ganghofer: „Schloß Hubertus“ (677000) Felix Dahn: „Ein Kampf um Rom“ (615000) Rudolf Herzog: „Die Wiskottens“ (583000) 55 Bonsels und Dahns Romane fristen noch als Jugendbücher ihr Dasein, aber von qualitätvoller Literatur kann man auch bei ihnen nicht sprechen. Freilich dürften die Werke der exilierten oder verbotenen Autoren hier bewusst ausgegrenzt worden sein. Jost Schneider, dessen umfassende Studie zur Sozialgeschichte des Lesens auf den Ergbnissen Schendas und anderer aufbaut und der die Leserforschung mit neuerer theoretischer Fundierung fortsetzt (u.a. mit Rückgriff auf Bourdieu), kommt für die Gegenwartsliteratur zu einem ähnlichen Befund: Als letztes Beispiel für den modernen Bestsellerroman sei hier das Werk der von literaturwissenschaftlicher Seite noch weniger als Simmel und Konsalik zur Kenntnis genommenen Utta Danella (d.i. Utta Schneider) genannt. Selbst in umfangreichen Nachschlagewerken zur deutschen Literatur von deutschen Frauen wird diese erfolgreichste deutschsprachige Gegenwartsautorin mit keiner Silbe erwähnt […]. Ihre bisher in über 50 Millionen Exemplaren verkauften Werke gelten als klassische Frauenromane, in denen es hauptsächlich um die Selbstbehauptung der Frau in Familie und Gesellschaft geht. 56 Doch wie kommt es zu der Asymmetrie zwischen Lektürewunsch der professionellen Leser und Lektürepraxis der Leser allgemein? Schenda hatte ketzerische Ideen, wozu die Fokussierung von Literatur, die nur wenige lesen, im Bildungsbereich dienen könnte: Eine solche Exklusivität erfüllt für den Philologen-Clan systemimmanent eine stabilisierende Funktion. Gesamtgesellschaftlich wird sie von der politischen Elite geduldet, da sie nationale Ideologeme von „geistigem Leben“, vom „Erbe“ oder von der „Kulturnation“ bereitstellt. Die Aufdeckung solcher elitärer Machtpositionen und solcher Kulturideologien ist folglich unerwünscht, weil unbequem, weil beunruhigend. 57 55 Ebd., S. 378. 56 Jost Schneider: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literatischen Kommunikation in Deutschland. Berlin u. New York: de Gruyter 2004, S. 320. 57 Rudolf Schenda: Die Lesestoffe der kleinen Leute. Studien zur populären Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. München: C. H. Beck 1976 (Beck’sche Schwarze Reihe 146), S. 31. 40 Einheit 2 Zwar mag man Schenda unterstellen, hier noch aus der Perspektive der sogenannten Studentenbewegung der 1960er Jahre zu polemisieren; andererseits sind seine Argumente nicht ganz von der Hand zu weisen. Selbst Niklas Luhmann hat festgestellt, „das Festhalten an objektiven Kriterien“ der Bewertung literarischer Texte habe „den fatalen Nebeneffekt, auf sehr fragwürdigen Grundlagen Kenner und Nichtkenner sozial zu differenzieren“. 58 Peter Nusser hat versucht, etwas Sachlichkeit in den Diskurs zu bringen, und vorgeschlagen, nach den unterschiedlichen Bedürfnissen zu fragen, die durch Trivial- oder Unterhaltungsliteratur befriedigt werden. Als mögliche Erklärung der Abwertung von Trivialliteratur hält er (in der Terminologie der Rezeptionsästhetik und im Anschluss an deren Überlegungen) fest, […] daß triviale Texte in der Regel eher das Bekannte und Gewohnte reproduzieren und den Erwartungshorizont der Leser bestätigen, als daß sie die Wirklichkeit durch innovative Zugriffe aufschlössen und den Erwartungshorizont der Leser erweiterten. 59 Wie sich der Literaturbetrieb entwickelt hat und welche Erklärungsmöglichkeiten es für die unterschiedlichen Interessen von Lesern und professionellen Lesern geben könnte, wird uns auch in anderen Teilen dieses Buches beschäftigen. Weshalb Leser lesen Peter Nusser hat sich um eine Erklärung des Bedürfnisses nach Trivialliteratur bemüht. Die Wiederkehr des Bekannten oder die Voraussehbarkeit des Geschehens sieht er als Teil einer „Strategie der Bestätigung“. 60 Identifikationsmöglichkeiten, klare ‚bipolare‘ Figurenanordnung (z.B. gut / böse), stereotype Muster und Verfahrensweisen werden dafür eingesetzt, 61 Spannung wird vor allem durch Wechsel in der Handlung erzeugt. Dies ist etwa bei der beliebten Gattung des Kriminalromans der Fall. In der Lektüre scheinbar entsetzlichen Geschehens kann „Angst mit Lust genossen werden, weil man gewiß sein darf, die Gefahr durchzustehen und die sichere Geborgenheit bald wieder zu erreichen“, 62 wobei der Leser diese Geborgenheit ja besitzt, da er vom Geschehen nicht direkt betroffen ist. Eine ähnliche Wirkung kommt Nachrichten z.B. über Katastrophen zu, 58 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997 (stw 1303), S. 265. 59 Peter Nusser: Trivialliteratur. Stuttgart: Metzler 1991 (Sammlung Metzler 262), S. 7. 60 Ebd., S. 120. 61 Vgl. ebd., S. 127. 62 Ebd., S. 119. 41 Einheit 2 die beim Leser, Hörer oder Zuschauer neben Mitleid das (verständliche) Gefühl der Erleichterung darüber erzeugen, dass es ihm vergleichsweise gut geht. Problematisch kann die „Bestätigung von Werturteilen und Verhaltensweisen“ 63 werden, wenn sie nicht nur zur Erzeugung eines (Gruppen-)Zugehörigkeitsgefühls, sondern auch zur „Manipulation“ 64 eingesetzt wird, etwa um das Buch als (inhaltsleere) Ware nur um des Profits wegen zu verkaufen oder um bestimmte, vor allem konservative Werthaltungen in einer Gesellschaft vor Veränderung zu bewahren; Nusser nennt als Beispiele „geschlechtsspezifische Rollenfixierungen“ oder „voreilige politische Gleichsetzungen“, etwa wenn „Gastarbeiter und Asylanten“ die Rolle der Bösen spielen. 65 Thomas Anz hat, unter Rückgriff auf Kategorien psychoanalytischer Textinterpretation, weiter aufgefächert, weshalb Leser eigentlich lesen - zunächst einmal aus ganz unterschiedlichen Gründen, die es nicht erlauben, pauschale Bewertungen vorzunehmen: Wer lieber King als Kafka liest, die amerikanische Gegenwartsliteratur der deutschen vorzieht oder den Krimi im Fernsehen dem im Buch, der soll sich davon nicht abhalten lassen. Die Vielfalt des Buch- und Medienangebots entspricht der Pluralität von Bedürfnissen. Und diese unterscheiden sich nach Geschlecht, Charakter oder Lebensverhältnissen ganz erheblich. 66 Was Anz zu Sigmund Freuds und seiner eigenen Motivation sagt, professionell mit Büchern umzugehen, dürfte intersubjektive Gültigkeit für die meisten Literaturvermittler beanspruchen können: „Vielleicht ist Freuds aufklärerischer Impuls sogar ein hedonistischer und geht aus dem Wunsch hervor, ästhetisches Vergnügen durch Reflexion darüber zu verstärken.“ 67 Denn zunächst einmal ist, ob man will oder nicht, das „Lesen von Literatur generell ein hochgradig emotionaler Vorgang“. 68 Ebenso wie das Spiel steht die Literatur „für die lustvolle Befreiung von unlustvollen Zwängen“, 69 wenn auch zunächst vielleicht ‚nur‘ durch Identifikation mit bestimmten Figuren oder durch Ablenkung von der eigenen Realität. Darüber hinaus kann das intellektuelle Spiel, etwa beim Produzieren (als Autor) oder Identifizieren (als Leser) intertextueller Anspielungen, lustvoll sein. 70 „Auch die textanalytische Arbeit professioneller Leser, der Literaturwissenschaftler 63 Ebd., S. 145. 64 Ebd., S. 143. 65 Vgl. ebd., S. 145. 66 Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München: C. H. Beck 1998, S. 8. 67 Ebd., S. 10. 68 Ebd., S. 23. 69 Ebd., S. 37. 70 Vgl. ebd., S. 43. 42 Einheit 2 also, kann in diesem Sinn als Spiel begriffen werden.“ 71 Schließlich ist der Unterschied zwischen Ernst und Spiel - man bedenke den Konstruktionscharakter von Wahrnehmung - kleiner, als man zunächst glauben möchte. Das gilt besonders für die Literaturrezeption, denn Literatur ist ja simulierte, also spielerisch konstruierte Wirklichkeit. Lustgefühle beim Lesen sind vom Leser abhängig: „Wer von dem Komplexitätsgrad einer Reizkonfiguration in seiner Kompetenz überfordert oder unterfordert wird, reagiert auf die Schwierigkeiten mit Unlust.“ 72 Wenn (so argumentiert Anz mit Freud) ein Text oder einzelne seiner Formulierungen es ermöglichen, „komplexe Sachverhalte überraschend leicht und mühelos zu erfassen“, dann ist mit geringem „Kraftaufwand“ ein erwünschtes Ziel erreicht worden und die Aufwandsersparnis „mit einem befreiten Lustgefühl verbunden“. 73 Erkenntnisgewinne können also lustvoll sein, nicht nur anstrengend - wie mancher meint, der an die Schule zurückdenkt ... Letztlich ist die Frage von Lust oder Unlust Resultat der Vermittlung, einerseits durch den Text, andererseits - wie das Beispiel Schule auch ohne ausführliche Begründung deutlich machen dürfte - durch diejenigen, die den Text an seine Leser bringen. 71 Ebd., S. 50. 72 Ebd., S. 70. 73 Ebd., S. 107. E I N H E I T 3 Prädikat Wertvoll: Kanon und literarische Wertung Was vermissen Sie an Texten am meisten? Kühnheit. Angelika Klammer im Gespräch mit Ines Meisner 1 Wenn Literaturvermittler nun also in der Lage sind, das spezifisch Bedeutsame eines fiktionalen Texts zu erkennen und über die Erwartungen der Leser nachzudenken, dann stellt sich für die Vermittler auch die Frage nach den Kriterien, nach denen Literatur üblicherweise bewertet wird. Was unterscheidet ‚gute‘ von ‚schlechter‘ Literatur - und gibt es das überhaupt, ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Literatur? Eine solche Unterscheidung zwischen bedeutsamen (das ist in der Regel mit ‚gut‘ gemeint) und wenig bedeutsamen (also ‚schlechten‘) fiktionalen Texten lässt sich historisch begründen und systematisch beschreiben. Im Laufe der Geschichte, vor allem seit dem 18. Jahrhundert, haben sich bestimmte Kriterien wie Deutungsoffenheit, Komplexität und (inhaltliche wie formale) Neuheit entwickelt. Sie haben dazu geführt, dass bestimmte Texte zu Klassikern geworden sind, die jeder kennen sollte, der als Literaturvermittler tätig ist, da sich viele neue Texte auf solche Klassiker beziehen, in der Regel, um sich von ihnen produktiv abzusetzen. So ist ein Kanon der Literatur entstanden, der allerdings, von einem Kernkanon abgesehen (doch auch dieser kann sich verändern), nach den Rändern hin alles andere als statisch ist. 1 „Ich mag gerne einen guten Anarchismus.“ Dr. Angelika Klammer, Jung und Jung Verlag Salzburg, über ihre Arbeit mit Menschen, die schreiben, die geordnete Welt zwischen Lampe und Schreibtisch und die Schwingungen der Gegenwart. Im Gespräch mit Ines Meisner. In: Martin Bruch u. Johannes Schneider (Hg.): In der Werkstatt der Lektoren. 10 Gespräche. Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Hildesheim: Universitätsverlag 2007 (Hildesheimer Universitätsschriften 18), S. 114-131, hier S. 125f. 44 Einheit 3 Begriffsklärungen „Aber Wertung ist unvermeidlich, wie ja alle Literaturkundigen tatsächlich urteilen, ob sie nun ihr Werk nach Tradition und Reputation wählen oder nach individueller Sympathie oder Begeisterung“, 2 ist René Wellek überzeugt. Jedes Leseerlebnis provoziert eine Haltung dazu, also eine Bewertung: „Jeder Leser, wenn er zu lesen versteht, macht sich nach der Lektüre eines Buches seine Gedanken. Er fragt sich, was er von ihm zu halten hat; und wenn es ihm gefiel, will er sich zumeist darüber klar werden, warum es ihm gefiel“, 3 meint Walter Müller-Seidel, vielleicht der erste, der größere Aufmerksamkeit für das Thema als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gefordert hat. Der zur Spätaufklärung zählende Gotthold Ephraim Lessing ist einer der am meisten kanonisierten Autoren nicht nur des 18. Jahrhunderts, sondern der ganzen deutschsprachigen Literaturgeschichte. Lessing hat festgestellt: Die Güte eines Werks beruhet nicht auf einzeln Schönheiten; diese einzelne Schönheiten müssen, ein schönes Ganze ausmachen, oder der Kenner kann sie nicht anders, als mit einem zürnenden Mißvergnügen lesen. Nur wenn das Ganze untadelhaft befunden wird, muß der Kunstrichter von einer nachteiligen Zergliederung abstehen, und das Werk so, wie der Philosoph die Welt, betrachten. Allein wenn das Ganze keine angenehme Wirkung macht, wenn ich offenbar sehe, der Künstler hat angefangen zu arbeiten, ohne selbst zu wissen, was er machen will, alsdenn muß man so gutherzig nicht sein, und einer schönen Hand wegen ein häßliches Gesicht, oder eines reizenden Fußes wegen einen Buckel übersehen. 4 Ganz erstaunlich ist, dass Lessings Worte immer noch Gültigkeit haben - die Kriterien literarischer Wertung haben sich in den vergangenen 250 Jahren kaum verändert. Doch was ist ein Kanon, was ist literarische Wertung? Über die Frage, was ein Kanon ist, geben Lexika erste Auskunft; ein Beispiel: Kanon, m. [gr. = Maßstab, Richtschnur, ursprüngl. Rohr], Zusammenfassung der für ein bestimmtes Sachgebiet verbindl. Werke (Regeln, Gesetze usw.) z.B. die ‚kanon.‘ (verbindl.) Texte des ATs und NTs im Ggs. Zu den Apokryphen. - Im literar. Bereich von dem Philologen D. Ruhnken 2 René Wellek: Kritik als Wertung. In: Peter Gebhardt (Hg.): Literaturkritik und literarische Wertung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980 (Wege der Forschung 334), S. 331-351, hier S. 332. 3 Walter Müller-Seidel: Probleme der literarischen Wertung. Über die Wissenschaftlichkeit eines unwissenschaftlichen Themas. Stuttgart: Metzler 1965, S. 1. 4 Gotthold Ephraim Lessing: Der Kunstrichter, die Schönheiten und die Fehler. In: Peter Gebhardt (Hg.): Literaturkritik und literarische Wertung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980 (Wege der Forschung 334), S. 7. 45 Einheit 3 (1723-98) eingeführt für die Auswahl der für eine bestimmte Zeit jeweils als wesentl., normsetzend, zeitüberdauernd, d.h. ‚klassisch‘ erachteten künstler. Werke, deren Kenntnis für eine gewisse Bildungsstufe vorausgesetzt wird (z.B. in Lehrplänen). In der Antike bez. ‚K.‘ zunächst nur (in übertragener Bedeutung) Nachahmenswertes, Exemplarisches; in der attizist. Rhetorik und hellenist. Kunsttheorie dann eine Autoren- oder Werkliste (Katalog für die Schullektüre oder als Bestandaufnahmen des Erhaltenen), vgl. z.B. den K. der drei Tragiker Aischylos, Sophokles, Euripides, von 9 Lyrikern, 10 Rednern u.a. - Trotz seiner Bestimmung, eine Kontinuität der literar. Tradition zu gewährleisten, wurde jeder K. notwendig immer wieder Änderungen unterworfen. 5 Hier gehen verschiedene Merkmale des Kanons etwas durcheinander, sie sollen im weiteren Verlauf des Kapitels anders strukturiert werden. Wichtig ist zunächst festzuhalten, dass ein Kanon der Literatur aus einer gewissen Anzahl von literarischen Texten besteht, die als besonders bedeutsam für die Literatur erachtet werden. Simone Winko hat lakonisch festgestellt: „Die allgemeinen Voraussetzungen jeder Kanonbildung sind schlicht: (1) Kein Mensch kann alle literarischen Texte lesen. (2) Menschen tendieren zu sinnbesetztem Handeln.“ 6 Doch auch bei dieser allgemeinen Feststellung und einer so basalen Definition wie der des Metzler Literatur Lexikons stellen sich gleich neue Fragen: Welche Literatur ist hier eigentlich gemeint und gibt es nur einen Kanon? Es gibt unterschiedliche Literaturen, die man beispielsweise nach sprachlichen und geographischen (Nationalliteratur), gruppenbezogenen (Literatur von Frauen, von Minderheiten) oder zeitbezogenen (Kanon des 18. Jahrhunderts, der Klassik etc.) Kriterien bilden kann; parallel dazu gibt es eine Vielzahl von Kanons oder Kanones. Letztlich hat sogar jeder Leser seinen eigenen Kanon, das sind jene Bücher, die er besonders gern gelesen hat oder liest und denen er eine besonders hohe literarische Qualität zuerkennt. Jeder Leser wird in unterschiedlichem Maß ‚seinen‘ Kanon mit dem anderer abgleichen. Er wird überhaupt erst zu einem Kanon kommen, indem er eine Auswahl von Texten kennen lernt und liest. Diese Auswahl wird durch sein persönliches Umfeld und durch Instanzen wie die Schule beeinflusst. Eine nach Handlungsrollen strukturierte Kanondefinition, die in diesem Kapitel noch weiter ausdifferenziert werden soll, haben Heydebrand / Winko vorgelegt: 5 Günther u. Irmgard Schweikle (Hg.): Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen. 2., überarb. Aufl. Stuttgart: Metzler 1990, S. 232. Dieser Definition wurde vor vielen anderen der Vorzug gegeben, weil sie relativ kompakt ist und auf die Frühphase der Kanonentwicklung eingeht. Ganz anders liest sich der Eintrag in der Neubearbeitung, aus Platzgründen kann auf diesen Eintrag, auch auf mögliche Kritikpunkte v.a. zur Entwicklung in der Gegenwart, nicht eingegangen werden. Vgl. Dieter Burdorf u.a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2007, S. 372f. 6 Simone Winko: Literatur-Kanon als invisible-hand -Phänomen. In: Heinz Ludwig Arnold u. Hermann Korte (Hg.): Literarische Kanonbildung. München: edition text + kritik 2002 (text + kritik Sonderband IX/ 02), S. 9-24, hier S. 12. 46 Einheit 3 Ein ‚literarischer Kanon‘ ist die Summe literarischer Texte (und zugehöriger Autorennamen), die in einer Gesellschaft durch folgende (Wertungs-) Handlungen tradiert werden: ▶ dauerhafte Präsenz im Druck, am Markt; Aufnahme in Klassikerreihen ▶ Gesamtausgabe(n), insbesondere Kritische Ausgaben ▶ anhaltende Pflege in literaturvermittelnden Institutionen (Schule, Universität, Literaturkritik, literarische Gesellschaften u.a.) ▶ regelmäßige und ausführliche Behandlung in Literaturgeschichten, Lexika u.a. ▶ wiederholte Verarbeitung durch nachfolgende Autoren. [...] Kanonisierung ist [...] ein Ergebnis vieler, einander stützender Wertungshandlungen, häufig nicht-sprachlicher Art. Wertungen einzelner Personen spielen dabei wohl eher eine vorbereitende Rolle. Es sind vor allem die Massenmedien und andere Institutionen der Literaturvermittlung, deren Wertungen schließlich Kanonisierung bewirken. 7 Ein Kanon ist also das Ergebnis von Wertungen. Wertungen sind 1) sprachliche Wertungen, damit auch sprachliche Handlungen - eine Aussage wird getroffen, ein literaturkritischer Text über einen literarischen Text veröffentlicht. Dazu kommen 2) nicht-sprachliche Wertungen, das sind Handlungen wie der Kauf eines Buches oder die Auswahl eines bestimmten Texts zur Lektüre. Beides hängt eng miteinander zusammen und man könnte sich auch fragen, ob es nicht nur kommunikatives Handeln gibt, da auch der Kauf eines Buches als Mitteilung verstanden werden kann - aber solche Fragen können hier nicht diskutiert werden. Wertungen, verstanden als verbales und non-verbales Handeln, teilen 1) Texten Aufmerksamkeit zu oder sprechen sie ihnen ab - dieses Buch kaufe ich, jenes nicht, über dieses Buch schreibe ich eine Rezension, über jenes nicht; 2) Texten Relevanz zu oder sprechen sie ihnen ab. Aufmerksamkeit und Relevanz sind natürlich eng verbunden, hier wird der Begriff Relevanz gemeint als Zuordnung von positiven Merkmalen, d.h. ein Text wird als relevant klassifiziert, wenn er bestimmte, als positiv begriffene Merkmale aufweist, und er gilt als nicht relevant, wenn ihm die erwarteten positiven Merkmale fehlen. Erwartet ein Rezensent einen ‚spannenden‘ Text und kritisiert, dass der Text ‚langweilig‘ ist, dann spricht er ihm Relevanz innerhalb des literarischen Feldes ab. Man kann sich über einen Text äußern, ohne ihn zu bewerten; allerdings impliziert schon die Aufmerksamkeit, die man dem Text damit zukommen lässt, dass er im Vergleich zu anderen Texten besondere Merkmale 7 Vgl. Renate v. Heydebrand u. Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik - Geschichte - Legitimation. Paderborn u.a.: Schöningh 1996 (UTB 1953), S. 222f. Der Band wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit EW und Seitenzahl. 47 Einheit 3 aufweist. Man kann darüber hinaus mit Heydebrand / Winko feststellen, dass „der Unterschied zwischen beschreibenden und bewertenden Ausdrücken fließend ist“ (EW, 64). Schon wenn man mitteilt, dass es sich um einen Krimi handelt, wird die Kommunikationssituation, also der Kontext, in dem die Äußerung stattfindet, üblicherweise eine Bewertung implizieren - die Kommunikationspartner oder das Medium halten Krimis für eine wichtige oder eine weniger wichtige Gattung. Darüber hinaus gelten Krimis als nicht besonders hochwertige Gattung der Literatur. Wenn sich der Mitteilende an den im literarischen Feld geltenden Konventionen orientiert, müsste also eine Rechtfertigung folgen, falls er den Text als positiv klassifiziert - etwa: ‚Das ist ein Krimi, aber trotzdem ein lesenswertes Buch, weil ...‘ Wieder mit Heydebrand / Winko gesprochen sind Wertungen „in hohem Maße kontextabhängig“ (EW, 65). Dies gilt freilich für jede Kommunikationssituation, wenn auch in unterschiedlichem Grad. Sprachliche Wertungen können 1) explizit oder 2) implizit erfolgen (vgl. auch EW, 68f.), sie können direkt Stellung nehmen oder die Wertung muss aus dem Gesagten erschlossen werden. Bei einer komplexeren Äußerung handelt es sich meistens um eine Mischung von beidem. Der eindeutige Verriss ist ebenso selten wie die schrankenlose Lobeshymne. Merkmalszuschreibungen durch die Teilnehmer am Wertungsprozess folgen in vielen Fällen Konventionen, wenn auch in unterschiedlichem Grad. Allerdings wird im literarischen Feld - je weniger konventionalisiert die Merkmalszuschreibungen sind, desto häufiger und intensiver - die Zuschreibung von Merkmalen ständig überprüft, durch Wertungshandlungen von der Auswahl eines Seminars durch Studierende oder der Auswahl eines Seminarthemas durch Dozenten bis hin zur Arbeit an Literaturgeschichten. Vereinfacht lässt sich ein Kanon als Kugelmodell in drei Schichten denken, wobei diese Schichten mehr oder weniger durchlässig sind und zeitabhängige Wechselbewegungen erlauben. Nehmen wir den Kanon des literarischen Feldes in der deutschsprachigen Literatur: Es gibt einen Kernkanon 8 mit Texten wie Goethes Faust, deren Zugehörigkeit zum Kanon grundsätzlich nicht in Zweifel gezogen wird bzw. gezogen werden kann, ohne Sanktionen für die eigene Position im literarischen Feld befürchten zu müssen. Ein Kernkanon besteht aus sogenannten Klassikern, aus Texten, die langfristig auf allen Ebenen des Kanonisierungsprozesses präsent sind und als unverzichtbar für einen bildungsbürgerlichen Litera- 8 Für eine Definition des Begriffs vgl. Hermann Korte: K wie Kanon und Kultur. Kleines Kanonglossar in 25 Stichwörtern. In: Heinz Ludwig Arnold u. Hermann Korte (Hg.): Literarische Kanonbildung. München: edition text + kritik 2002 (text + kritik Sonderband IX/ 02), S. 25-38, hier S. 34. 48 Einheit 3 tur-Kanon angesehen werden. Um den Kernkanon herum ist ein relativ fester Kanonring angeordnet 9 mit Texten, die in unregelmäßigen Abständen auf ihre Zugehörigkeit zum Kanon überprüft werden. Hierzu zählen beispielsweise sogenannte Nebenwerke großer Autoren, etwa Fontanes Roman Vor dem Sturm im Unterschied zu seinen kanonisierten Romanen wie Effi Briest. 10 Der nächste Ring mit stark ausfransenden Rändern ist der fluktuierende Kanon, also die Summe von Texten, die in unterschiedlichem Maß zum Literaturkanon gezählt werden. Die Zugehörigkeit bestimmter Autoren und Texte ist Gegenstand von Teildiskursen, man denke an Autoren wie Jakob Wassermann, Hermann Hesse oder Heinrich Böll, sie können sowohl im relativ festen Kanon als auch im fluktuierenden Kanon verortet werden. Insbesondere bei jüngeren Autoren lässt sich trefflich darüber streiten, ob sie zum Kanon gehören oder nicht, sie sind typische Kandidaten für den fluktuierenden Kanon - beispielsweise Walter Moers mit seinen Zamonien-Romanen. Je älter ein Text, desto statischer ist seine Zugehörigkeit zu einer dieser Schichten, desto schwieriger wird es, ihn durch Wertehandlungen von einer Schicht in die andere zu verschieben, und sei es auch nur in der Wahrnehmung einer begrenzten Gruppe von Literaturwissenschaftlern. Doch die subjektive Perspektive auf den Kanon bleibt und lässt sich nie ganz ausschließen. Dazu kommt, dass es den Kanon der germanistischen Literaturwissenschaft so nicht gibt, sondern dass man v.a. zwischen dem Kanon der Literaturgeschichte und dem der Literaturwissenschaft als literaturvermittelnder Institution zu unterscheiden hat. Klopstock beispielsweise ist wegen seines Einflusses und seiner Stellung im literarischen Feld des 18. Jahrhunderts einer der bedeutendsten Autoren der Literaturgeschichte, aber er wird an Universitäten kaum noch unterrichtet bzw. gelesen. Das heißt aber nicht, wie Heydebrand / Winko meinen, dass sich Literarhistoriker „auf Wertungsabstinenz verpflichten“ und nur versuchen würden, „den Werken durch Rekonstruktion von deren eigener Wertsprache in ihrem situativen Kontext gerecht zu werden“ (EW, 310). In Literaturgeschichten finden sich genug Beispiele für Wertungen. Abgesehen davon: Schon die Hereinnahme eines Autors oder Textes in eine Literaturgeschichte ist eine Wertungshandlung; seine (durchaus hierarchische) Stellung innerhalb der Literaturgeschichte lässt sich durch weitere, wenn auch meist implizite Wertungen begründen. Dazu kommt, dass sich eine unkritische Übernahme des historischen Selektions- und Wertungsprozesses aus verschiedenen Gründen verbietet - für das 19. Jahrhundert gelten nicht Geibel, Scheffel oder Freytag, sondern Keller, Storm oder 9 Korte (vgl. ebd.) unterscheidet lediglich zwischen Kern- und Randkanon. 10 Für den Vorschlag der Rekanonisierung solcher Nebenwerke und einen Appell für eine ständige Kanonrevision vgl. Stefan Neuhaus: Revision des literarischen Kanons. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 49 Einheit 3 Fontane als bedeutende Autoren, und zwar gegen die Literaturgeschichtsschreibung ihrer Zeit. Für die (vom jeweiligen Standpunkt aus) Texte außerhalb des Kanons hat Clemens Ruthner folgende Einteilung vorgeschlagen: So wäre denn auch bei nichtkanonischen Texten je nach stattgefundenem Prozeß generell zu unterscheiden zwischen reiner Nichtkanonisierung (ein Text wird von den Kanoninstanzen nicht wahrgenommen), Negativkanonisierung (expliziter Ausschluß von Anfang an) und Dekanonisierung (Ausschluß des früher Integrierten bei einer Kanonrevision); auf letztere kann im Zuge kultureller Prozesse mitunter eine Rekanonisierung folgen. 11 Wie kann es zu solchen Verwerfungen kommen? Eine einfache Antwort darauf wird es nicht geben. Die Voraussetzungen literarischer Wertung und der Prozess, in dem Wertungen zu einem Kanon bzw. verschiedenen Kanon(e)s führen, werden in den folgenden Abschnitten genauer in den Blick genommen. Weil es sich um ein Querschnittsthema handelt, wird es aber auch in anderen Kapiteln dieser Arbeit in anderen Kontexten um Fragen der Wertung gehen müssen. Wie bewertet man Bücher eigentlich? Literarische Texte sind per se polyvalent, also mehrdeutig bzw. deutungsoffen; für sie gilt die sogenannte Ästhetik- oder Autonomiekonvention (EW, 29), d.h. sie werden als ‚Kunstwerke‘ wahrgenommen, die eigenen Regeln folgen und Raum für Interpretation bieten. Heydebrand / Winko definieren, dass Literatur (im Sinne von Dichtung) aus Texten besteht, „die autonom-ästhetisch rezipiert werden“ (EW, 29). Man könnte auch sagen, dass eine konventionsgebundene Zuschreibung von Merkmalen durch den Leser über die Einstufung eines Texts als ‚Literatur‘ entscheidet. Insofern legen Heydebrand / Winko fest, dass „autonom-ästhetisch“ einen „Rezeptionsbzw. Verarbeitungsmodus“ bezeichnet, „der Texte in dem Sinne ‚autonom‘ setzt, daß er sie nicht unmittelbar auf Wirklichkeit, Zwecke und Handlungszusammenhänge bezieht“ (EW, 29). Wichtig ist festzuhalten, dass der Begriff - wie jede Merkmalszuschreibung überhaupt! - nicht „eine Qualität der Texte selbst“ bedeutet, sondern auf einem „Modus der Rezeption von Texten“ beruht (EW, 29) - der Begriff des Modus sei hier durch den des Prozesses ersetzt, um das Dynamische und sich 11 Clemens Ruthner: Der Literaturkanon zwischen Ästhetik und Kulturökonomie: Theorien und Definitionen. In: Friedbert Aspetsberger (Hg.): Ein Dichter-Kanon für die Gegenwart! Urteile und Vorschläge der Kritikerinnen und Kritiker. Innsbruck u.a.: StudienVerlag 2002 (Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 13), S. 15-42, hier S. 23. 50 Einheit 3 zeitlich Verändernde kenntlich zu machen. Literatur wird prozessiert und ein zentraler Teil dessen ist die Zuschreibung von autonom-ästhetischen Merkmalen. 12 Als Gegenbegriff verwenden Heydebrand / Winko „heteronom“: Er bezeichnet die Modi, in denen literarische Texte vor Entstehen des Sozialsystems Literatur rezipiert worden sind und die auch noch nach 1800 eingesetzt werden: Heteronome Literaturrezeption funktionalisiert die Texte in Hinsicht auf bestimmte Zwecke, seien es kognitive, emotionale oder praktische Zwecke (EW, 30). Heteronome Wertungskriterien werden von professionellen Lesern gering geschätzt. Deshalb kann die Literatur der Frühaufklärung, die sich vor allem die Erziehung der Leser auf die Fahnen geschrieben hatte, heute nur noch literarhistorisches Interesse für sich beanspruchen (also als wichtige Station der literarischen Entwicklung), wenn nicht versucht wird, sie durch Hinweis auf autonome Rezeptionsmodi zu retten. Tatsächlich sind solche Dichotomien idealtypisch und relativ weit weg von der historischen Realität der Literatur, soweit sich diese rekonstruieren lässt. Die Klassik beispielsweise gilt als zentrale Epoche der Autonomieästhetik, obwohl Friedrich Schiller seine Literatur durchaus praktisch als Erziehungsprogramm verstanden wissen wollte. Man könnte vielleicht eher sagen, dass vor der sogenannten Genieästhetik in der Zeit des Sturm und Drang, also nach der Mitte des 18. Jahrhunderts, heteronome Verarbeitungsprozesse wichtiger waren und der autonom-ästhetische Verarbeitungsmodus seit der Genieästhetik höher angesehen ist. Damit korrespondieren die Werte, die nun über die Bewertung eines Texts und seinen Einschluss in den Kanon entscheiden, vor allem der Wert der Orginalität. 13 Für Luhmann handelt es sich dabei um das zentrale Kriterium für die Unterscheidung von Kunst / Nichtkunst. Er spricht von der „Richtung auf individuelle Einzigartigkeit“. 14 Wichtig ist hierbei festzuhalten, dass jede Bestimmung eines Wertes einer genaueren Erklärung bedarf und dass es 12 Heydebrand / Winko ergänzen noch den Begriff „formal-ästhetisch“ (EW, 29), wobei die Abgrenzung zu autonom-ästhetisch schwierig ist bzw. allein darin beruht, dass die Autonomie von Texten eine konventionalisierte Zuschreibung ist und die formale Qualität den Fokus auf die Form im Gegensatz zum Inhalt bedeutet (also auf Aufbau, Symbolik etc.). Doch auch solche formalen Merkmale sind Ergebnis von Zuschreibungen und sie werden durch die Rezipienten zugleich bewertet (z.B. gilt der Reim in der Lyrik seit Beginn des 20. Jhds. als epigonal). 13 Bei Heydebrand / Winko „Neuheit, Novität“ im Gegensatz zu „Tradition, Bewährtes“, vgl. EW, 122. Heydebrand / Winko nennen zahlreiche Werte, die sie in mehreren Gruppen sortieren (vgl. die Übersicht S. 114f.), wobei man über die einzelnen Werte und ihre Einordnung diskutieren kann. Das Merkmalspaar „Offenheit / Geschlossenheit“ beispielsweise (EW, 116) gehört nicht nur zu den formalen Werten, sondern liegt der Unterscheidung Literatur (Dichtung) / andere Literatur (Sachliteratur, Journalismus…) zugrunde. „Schönheit“ hingegen (EW, 117) ist eher eine alte Sammelbezeichnung für verschiedene Werte, die in unmittelbarer Beziehung zueinander gesehen wurden, etwa Betonung der Form in einem eher traditionellen Sinne und auf der Basis der bisherigen Konventionen relativer Originalität. 14 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997 (stw 1303), S. 272. 51 Einheit 3 sich um eine Bestimmung in einem historischen Prozess handelt, dass sich die Bedeutung der Begriffe also durch die Zeit ändert. Originalität ist zwar schon seit über 250 Jahren ein maßgebliches Wertungskriterium, doch galt sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der die Weimarer Klassik als uneinholbarer Gipfelpunkt der literarhistorischen Entwicklung gesehen wurde, nicht mehr als ausschlaggebend. 15 Mit Beginn der literarischen Moderne um 1900 änderte sich dies erneut und heute ist nur ein Text, der sich von vorhergehenden unterscheidet, ein guter Text. Wie groß diese Unterscheidung sein kann oder muss, ist von zahlreichen Faktoren abhängig und wird weitgehend konsensuell im Prozess der öffentlichen Rezeption des Textes festgelegt. Wie wir im Kapitel zur Gegenwartsliteratur sehen werden, gibt es auch in den letzten Jahrzehnten Phasen, in denen zunächst das formale Experiment hoch geschätzt wurde und dann als schlecht verkäuflich wieder geringer angesehen war. Für die Situation heute kann man sagen, dass ein idealer, also als möglichst hochwertig angesehener Text sowohl formal als auch inhaltlich etwas Neues bieten sowie gut verkäuflich sein muss; natürlich hängt die jeweilige Mischung vom Text ab und es gibt keine Regel, die bestimmen ließe, was besonders erfolgversprechend ist. Wertung ist, mit Heydebrand / Winko, „eine komplexe Handlung“ (EW, 39), die für jeden, der Literatur bewertet, eine Reihe von Funktionen erfüllt. Diese Funktionen sind einerseits individuell (Trost, Erkenntnis o.ä.) und andererseits dazu angetan, das Individuum als Bestandteil eines Kollektivs (professionelle Leser, Literaturkritiker …) zu inszenieren und ihm in diesem Kollektiv eine bestimmte Stellung zu sichern. Dies gilt auch für die Unterscheidung von Wertmaßstäben und Werten, die Heydebrand / Winko mit den Begriffen axiologische und attributive Werte bezeichnen: „Attributive Werte sind, im Gegensatz zu axiologischen, singulär, weil sie auf eine konkrete Wertungssituation beschränkt sind und an ein bestimmtes Objekt gebunden werden.“ Es „können inhaltlich gleiche, also auch gleich benannte Werte sowohl als axiologische als auch als attributive Werte auftreten“ (EW, 43). Wenn für jemand der Wert ‚Spannung‘ wichtiger ist als der Wert ‚Originalität‘, wird er womöglich lieber Henning Mankell als Thomas Mann lesen, sofern man Spannung und Originalität in ihrer üblichen Bedeutung verwendet - es kann für bestimmte Leser durchaus spannend sein, sich der ganz eigenen Logik der Texte Kafkas zu widmen, und die Behandlung der zeitgenössischen schwedischen Gesellschaft bei Mankell kann man durchaus als originell bezeichnen. Allgemein gilt, dass auch Spannung durch „die Sprache, den Stil und die ästhetische Struktur eines Textes erzeugt“ werden kann (LL, 160), hier könnte man vielleicht von ästhetischer Spannung sprechen. 15 Vgl. Thomas Homscheid: Interkontextualität. Ein Beitrag zur Literaturtheorie der Neomoderne. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007 (Film - Medium - Diskurs 21), S. 52ff. 52 Einheit 3 Für professionelle Leser ist Originalität der Wertmaßstab und Spannung im herkömmlichen Sinn, also Handlungsspannung, ein untergeordneter Wert. Professionelle Leser sind gespannt auf das, was der Text ihnen gegenüber früheren Texten an Neuem zu bieten hat. Die eigene Lesesozialisation und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe (der professionellen Leser) wird eine Hierarchie produzieren und dazu führen, dass Kafka gelesen wird und Konsalik nicht (höchstens mehr oder weniger verschämt in der Freizeit); zumindest gilt dies für die Zeit von 1945 bis heute, in der Kafkas Werk eine beispiellose Kanonisierung erfahren hat. Literatur zu bewerten, hat also nicht nur etwas mit dem Text zu tun, sondern auch mit dem, der bewertet, und mit den Gruppen, denen er sich zugehörig fühlt oder von denen er sich abgrenzen will. Da viele Menschen in unterschiedlichen Handlungsrollen Literatur bewerten und dabei mehr oder weniger interagieren, kommt ein auf einem dichten Netz von Relationen dieser Personen zueinander beruhender komplexer Wertungsprozess zustande, der in der Regel erst, auf bestimmte Autoren und Texte bezogen, im Laufe der Zeit homogenisiert wird. Wie dieser Prozess idealtypischerweise aussehen könnte, ist Thema des nächsten Abschnitts. Wie kommt ein Buch in den Kanon (oder eben nicht)? Am Entstehungsprozess von Büchern sind, wie wir gesehen haben, viele Menschen beteiligt und jede ihrer Handlungen impliziert eine Bewertung. Die erste grundlegende Entscheidung trifft der Lektor, der als ‚gate-keeper‘ fungiert und einem Text den Zugang zur Literatur (als Menge gedruckter Bücher) ermöglicht oder den Text davon ausschließt. In der Praxis ist dies natürlich nicht nur eine Frage des Zulassens oder Nichtzulassens, sondern oftmals des Zulassens unter bestimmten Voraussetzungen. Ebenso steht es im Falle des Nichtzulassens dem Autor offen, es bei anderen Verlagen zu versuchen und dort vielleicht die entscheidende Hürde der Publikation zu nehmen. Robert Schneiders Roman Schlafes Bruder von 1992 beispielsweise ist von zahlreichen Verlagen abgelehnt und nach seiner Publikation durch Reclam Leipzig dennoch zu einem der großen Erfolge der Gegenwartsliteratur geworden. 16 Die Bedingungen, unter denen ein Text oder eine Sammlung von kleineren Texten publiziert wird, werden zwischen Lektor / Verlag und Autor ausgehandelt. Je nach symbolischem Kapital des Autors kann er die Bedingungen stärker oder weniger stark beeinflussen. Ein Autor wie 16 Vgl. hierzu Rainer Moritz (Hg.): Robert Schneider: „Schlafes Bruder“. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 1999 (RUB 16015). Interessanterweise hat Schneider mit späteren Romanen keinen vergleichbare Beachtung mehr gewinnen können. Auch der Erfolg von Schlafes Bruder ist, vom Trubel um die Verfilmung durch Joseph Vilsmaier im Jahr 1995 abgesehen, im Laufe der Jahre abgeklungen. Ob der Roman die Hürde zum Klassiker nehmen wird, darf bezweifelt werden. 53 Einheit 3 Günter Grass kann weitgehend die Bedingungen diktieren, während ein gar nicht oder wenig bekannter Autor die Bedingungen, die der Verlag ihm anbietet, akzeptieren muss. Allerdings variieren diese Bedingungen je nach Verlag, die Schwelle ist unterschiedlich hoch. Verlage wie Hanser, Kiepenheuer & Witsch oder Suhrkamp werden besonders hohe Ansprüche an den Text stellen, und zwar nach den beiden ausschlaggebenden Kriterien literarische Qualität (Originalität) und Verkaufbarkeit, während ein Book-on-Demand-Verlag, der einem Autor die Druckkosten in Rechnung stellt, fast alles drucken wird, was ihm angeboten wird. Das symbolische Kapital des Verlags trägt dann erheblich mit dazu bei, wie sicht- und wahrnehmbar ein Text nach der Publikation im literarischen Feld wird. Bevor der Lektor den Text auf den Schreibtisch bekommt, sind aber schon zahlreiche Wertentscheidungen gefallen. Das beginnt beim Autor, der seine eigenen Erwartungen und Ansprüche mit denen seines erwarteten Publikums - so, wie er sich aufgrund seiner Erfahrungen sein Publikum vorstellt - abgleichen wird. Der Autor trifft die Entscheidung über Form und Inhalt seines Texts, bevor er ihn einem Verlag anbietet. Dazwischen geschaltet ist möglicherweise ein Auswahlverfahren durch Herausgeber oder Redakteure von Literaturzeitschriften, durch Juroren von Literaturpreisen o.ä. weiteren ‚gate-keepern‘, die Texten eine punktuelle, unterschiedlich große Aufmerksamkeit im literarischen Feld ermöglichen, bevor sie als selbständige Bücher auf den Markt kommen. Wie gesagt ist die Strategie des Verlags - und zwar das Zusammenspiel aller Abteilungen - dann an der Generierung der spezifischen Aufmerksamkeit beteiligt, die eine Publikation erlangt. Dabei schreiben alle Beteiligten, vom Lektor bis zum Vertreter, dem Buch spezifische Merkmale und Eigenschaften zu und bewerten es dadurch auch. Bestimmte Merkmalszuschreibungen wie spannend vs. langweilig können in Abstufungen zugewiesen werden, sie werden vermutlich durch die Kommunikation der Verlagsmitarbeiter untereinander modifiziert und zumindest teilweise einander angeglichen. Hierbei spielt die Verlagshierarchie eine wichtige Rolle - der Verleger ist, wenn er will, in seinen Entscheidungen autonom. Aber auch das symbolische Kapital, das Ansehen der Beteiligten ist wichtig und wenn ein renommierter Lektor, der sich in seinen Empfehlungen selten irrt, ein Buch für Erfolg versprechend hält, wird es schwierig sein, eine gegenteilige Meinung zu artikulieren oder gar durchzusetzen. Buchmessen und Buchwochen können ebenfalls Aufmerksamkeit generieren - oder auch nicht, je nachdem, welche Bücher die Verlage wie einstufen und dort bewerben. Hier kommen die Titel in Kontakt mit Buchhändlern und potentiellen Käufern, die sich bereits Orientierung verschaffen und über eine begrenzte Zahl von Titeln eine erste Meinung bilden können. 54 Einheit 3 Der Buchhändler bewertet das Buch und speist seine Bewertung in den Kanonisierungsprozess ein, indem er es bestellt oder nicht bestellt, besonders auffällig oder weniger auffällig in seinem Sortiment platziert. Auch er kommuniziert über das Buch, mit den Vertretern, mit Kollegen und mit Kunden. Wenn er nicht darüber kommuniziert, bekommt das Buch an dieser Stelle keine Aufmerksamkeit. Hier differenziert sich der Bewertungsprozess bereits aus, angesichts der Vielzahl von Buchhandlungen und Möglichkeiten, Bücher zu kaufen. Die Literaturkritik spielt eine entscheidende Rolle im weiteren Kanonisierungsprozess, auch wenn dies von den Akteuren im literarischen Feld nicht immer so gesehen wird. Literaturkritik, im Singular in einem weiten Sinne als Berichterstattung über Literatur verstanden, macht je nach Medium in unterschiedlicher Weise die Bücher überregional sichtbar. Sie sorgt für Aufmerksamkeit und für die Verteilung symbolischen Kapitals. Wenn sich Bücher trotz positiver Kritiken nicht verkaufen, so wirken diese Kritiken doch innerhalb des literarischen Feldes, indem sie Verlag und professionelle Leser von der relativen Bedeutung dieser Publikation überzeugen. Wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll, ist das Urteil der professionellen Leser strukturell von dem der nicht-professionellen Leser zu unterscheiden. Das literarische Feld grenzt sich von anderen Feldern der Gesellschaft ab, indem es seinen Gegenstand, die Literatur, nach eigenständigen Kriterien bewertet und spezifische Voraussetzungen für diese Bewertung macht, wie etwa die Kenntnis früherer Texte, auf die in der Publikation Bezug genommen wird. Auch die Verwendung von Texten an Schulen und Universitäten und die Aufmerksamkeit durch die literaturwissenschaftliche Forschung werden stark durch die Literaturkritik beeinflusst, besonders durch Rezensionen. Weitere Multiplikatoren sind Büchereien und Bibliotheken, die ihre Ankäufe stark nach folgenden Kriterien ausrichten: a) Welche Relevanz hat das Buch für die Benutzer der Bibliothek? b) Welches symbolische Kapital hat der Verlag oder die Reihe, in der das Buch erscheint? c) Welche Aufmerksamkeit hat das Buch bereits generiert? Mit dem Eintritt einer Publikation in eine Bibliothek sind die notwendigen Voraussetzungen für die weitere Kanonisierung gegeben. Allerdings können Bücher auch durch Ausscheiden aus dem Bestand negativ kanonisiert werden, das geschieht vor allem, wenn die Bücher nicht mehr entliehen werden und die Bibliothek Platz für Neuanschaffungen machen muss, wie die zahlreichen Bibliotheksexemplare zeigen, die über Antiquariate vertrieben werden. Über die weitere Kanonisierung entscheidet auch die Schule. Schullektüren werden als besonders bedeutende Publikationen für eine bestimmte Zeit, Epoche, Strömung, gesellschaftliche Entwicklung o.ä. angesehen. Die 55 Einheit 3 Schule ist einerseits Multiplikator, andererseits steuert sie durch ihre Auswahl und durch die Art der Vermittlung die qualitative Wahrnehmung. Hier können auch Rückkoppelungsprozesse einsetzen, denn bekanntlich kann die Schule auch Abneigung gegenüber bestimmten Texten generieren und dadurch indirekt eine Kanonisierung einleiten oder festigen. Die Texte werden zwar zu ‚Klassikern‘, aber ihre neuerliche Lektüre wird eher behindert als gefördert. Über die Kanonisierung eines Texts entscheidet letztlich die Literaturwissenschaft. Einerseits gelten Texte, die für Lehrveranstaltungen ausgewählt werden, als besonders bedeutsam, auch wenn sich in der Vermittlung unterschiedliche Abstufungen ergeben können. Texte können ausgewählt werden, weil sie zu den ‚Klassikern‘ - als den überzeitlich bedeutsamen Texten der Literatur - gezählt werden oder weil sie thematisch gut passen, etwa in einem Seminar über die DDR-Literatur. Es kann dann durchaus unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Literaturwissenschaft über den Klassiker-Status von Texten geben. Andererseits werden Texte durch die literaturwissenschaftliche Forschung kanonisiert. Weil diese Forschung Metatexte produziert, also Texte über Texte, die im literaturwissenschaftlichen Feld zirkulieren, kommt ihr eine besondere Bedeutung zu. Sie fertigt besonders kanonrelevante Publikationen an, das sind vor allem Literaturgeschichten und Literaturlexika, die als Orientierungshilfe und Medium der Selbstreflexion dienen. Nachschlagewerke können durchaus unterschiedlich ausfallen und einmal einen Autor oder Text nennen und ein anderes Mal nicht; dennoch lässt sich sagen, dass ein Autor oder Text, der keinen Eingang in Literaturgeschichten und Literaturlexika findet, nicht als kanonisiert angesehen werden kann. Die genannten Instanzen der literarischen Wertung und Kanonisierung bilden ein dichtes Netzwerk, in dem Kommunikation und Handlungen stattfinden. Dies geschieht nicht linear, sondern kann alle denkbaren Formen annehmen und die Handlungsrollen können sich dabei überschneiden. Ein Buchhändler kann einen Text schreiben und damit einen Literaturpreis gewinnen; ein vergessener oder nicht beachteter Text kann durch einen literaturkritischen Text Aufmerksamkeit erzielen - und mit ihm der Kritiker als ‚Entdecker‘ kanonrelevanter Literatur; ein Lehrer kann einen Autor in die Schule einladen und ihm so einen besonderen Status zumindest innerhalb seiner Schule oder Umgebung zuerkennen uvm. Leselust und Lesefrust Wie wir gesehen haben, ist die Frage, wie ein Text zu bewerten ist, offenbar eine andere als die, ob ein Text Lesebedürfnisse befriedigt. Deshalb stellen Heydebrand / Winko fest: „Hedonistische Werte treten im 19. und 56 Einheit 3 20. Jahrhundert nachweislich zurück“ (EW, 231). Diese Aussage ist aber zu relativieren. Die mögliche Asymmetrie zwischen dem Wert, der einem Text zugeschrieben wird, und der Lust, ihn zu lesen, hängt von den persönlichen Vorlieben und der sozialen Stellung des jeweiligen Lesers innerhalb der Hierarchie von Lesern im literarischen Feld ab. Schüler oder Studenten haben oftmals kein Mitspracherecht bei der Auswahl von Texten. Ihnen wird möglicherweise vermittelt, dass bestimmte Texte als qualitativ hochwertig gelten, ohne dass sie selbst diese Texte in ihrem persönlichen Kanon besonders hoch einstufen würden. Der Sozialisationsprozess des Lesens führt dazu, dass ein bestimmter Kanon gelernt oder für eine bestimmte Tätigkeit vorausgesetzt wird und die Frage, ob man diese Tätigkeit mit Erfolg ausübt, wird mit der Akzeptanz bestimmter Voraussetzungen verbunden. Wer Literaturwissenschaft studiert, kann es sich nicht leisten, Goethes Faust als ‚langweilig‘, ‚unoriginell‘ o.ä. zu klassifizieren und zuzugeben, dass er sich die Lektüre lieber gespart hätte bzw. sparen würde. Es muss also nicht sein, dass der individuelle und der kollektive Kanon unterschiedlich sind. Wie gesagt wird bereits in der Schule gelernt, dass bestimmte Texte besonders positiv einzustufen sind. Der kollektive Anreiz, diese Texte selbst positiv zu finden, um eine auf die Gruppe der professionellen Leser bezogene Identität entwickeln zu können, führt dazu, dass das Bemühen um Erkennen der positiven Eigenschaften kanonisierter Texte eher hoch ist. Simone Winko hat zu Recht festgestellt, dass Kanones dazu beitragen, „[…] die Identität einer Gruppe zu stiften, sie gegen andere Gruppen abzugrenzen und zu legitimieren, und sie bieten Orientierung, indem sie als Maßstab für Anschlusshandlungen dienen.“ 17 Jene, die sich um kanonrelevante Texte bemühen, werden positiv sanktioniert. Wer also Texte nicht nur lesen, sondern auch schätzen lernt, die im Kanon sind, wird eher in die Gruppe der professionellen Leser aufgenommen und in deren Hierarchie aufsteigen. Auch wenn dies durchaus perspektiven- und zeitabhängig ist, lässt sich nicht leugnen, dass besonders wertgeschätzte Texte bestimmte und bestimmbare positive Eigenschaften aufweisen. Wer diese Eigenschaften erkennt und schätzt, hat Genuss an der Lektüre. Um ein literarisches Feld konstituieren zu können, ist ein einigermaßen homogener Gegenstand notwendig, also ein weitgehender Konsens darüber, was als Literatur betrachtet werden kann - wobei dieser Konsens immer als zeitlich punktuelles Ergebnis eines Prozesses gedacht werden muss. Um einen solchen Konsens zu ermöglichen, ist Wissen notwendig, das nur professionelle Leser besitzen und das sie für eine durchaus auch lustbetonte, hedonistische Lektüre nutzbar machen können. Das Erkennen von auf bestimmte Konventionen rekurrierenden Strukturen (z.B. Gattungstraditionen), auf intertextuelle Verweise (frühere Bearbeitungen 17 Winko: Literatur-Kanon als invisible-hand -Phänomen, S. 20. 57 Einheit 3 von Stoffen und Motiven, direkte oder indirekte Bezugnahme auf andere Texte) und die Möglichkeit der Dechiffrierung von Symbolsystemen gehören zu den wichtigsten Gratifikationen, die als literarisch angesehene und zumindest kanonfähige Texte bereithalten. Wenn ich Gottfried Kellers Novelle Romeo und Julia auf dem Dorfe (1856) vor dem Hintergrund der Kenntnis der Novellentradtion und der Lektüre von Shakespeares Romeo und Julia (1597) lese und die ausgefeilte Symbolik des Texts erkenne, dann wird mir die Lektüre viel mehr Lust bereiten als ohne dieses Wissen. Genau deshalb kommt es oft zu gravierenden Abweichungen des Lustempfindens zwischen Lehrern, die über dieses Wissen zumindest partiell verfügen, und Schülern, die sich dieses Wissen noch nicht angeeignet haben. Auch die Relevanz für die eigene (Lese-)Biographie spielt eine wichtige Rolle. Schüler, die unglückliche Liebesgeschichten nachvollziehen können und vielleicht selbst schon mal eine erlebt haben, können auch ohne Kontextwissen die Lektüre von Kellers Novelle als lohnend empfinden. Der Kanon heute Angesichts der konkurrierenden Massenmedien und der gewandelten Stellung, die Literatur in unserer Gesellschaft einnimmt, lässt sich offenbar nicht mehr von einer großen Relevanz eines literarischen Kanons sprechen. Dazu kommt, dass in unserer im Laufe des 20. Jahrhunderts immer weiter ausdifferenzierten, diversifizierten und zunehmend plural verfassten westlichen Gesellschaft die Verbindlichkeit eines Kanons - jedes Kanons - zurückgegangen zu sein scheint: Einzig gültige Werte für Literatur, einen einzigen Kanon oder auch nur ein hierarchisches System von Kanones muß es nicht geben und gibt es in modernen pluralistischen Gesellschaften auch längst nicht mehr (EW, 325). Man kann aber auch andere Beobachtungen machen und das Argument herumdrehen: Gerade weil es in unserer Gesellschaft an Orientierung fehlt, hat der Kanon wieder Konjunktur. Es gibt dafür zahlreiche Belege, dass man sogar - was des öfteren geschehen ist - von einer Rekanonisierung sprechen kann. 18 In der Folge der sogenannten Studentenrevolution von 18 Für eine allgemeine Erläuterung des Begriffs vgl. Korte: K wie Kanon und Kultur, S. 36. Im Unterschied zu Korte würde ich von der Rekanonisierung einzelner Autoren oder Texte, auf die er eingeht, die Rekanonisierung als Phase der Literaturrezeption seit den 1980er Jahren unterscheiden und weniger eine Kanonrevision sehen, wie sie, am Beispiel der Rezeption von Harold Blooms Arbeit (vgl. dazu auch meine folgenden Ausführungen), festgestellt wird von Erk Grimm: Bloom’s Battles. Zur historischen Entfaltung der Kanon-Debatte in den USA. In: Heinz Ludwig Arnold u. Hermann Korte (Hg.): Literarische Kanonbildung. München: edition text + kritik 2002 (text + kritik Sonderband IX/ 02), S. 39-54, hier S. 47. 58 Einheit 3 1968 wurde der Kanon zunächst geöffnet. Bedeutendstes Resultat sind die Sozialgeschichten der Literatur, die Sachtexten, Randgebieten wie dem Essay oder der Reiseliteratur und vergessenen oder wenig beachteten Autoren viel Platz einräumen. Doch spätestens seit dem Ende der sozialistischen Utopie ist eine Stärkung des Kernkanons zu beobachten. Wohl bedeutendster Vorkämpfer ist der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom mit seinem Buch The Western Canon von 1994. Bloom sieht, nachdem der Kanon weitgehend freigegeben wurde, den Untergang des Abendlandes vor der Tür stehen: „Things have however fallen apart, the center has not held, and mere anarchy is in the process of being unleashed upon what used to be called ‚the learned world.‘“ 19 Hier ist zu beobachten, dass Bloom durch Inklusion (der Kanonbefürworter) und Exklusion (der Kanongegner) identitätsstiftend wirken will, wobei er ‚seiner‘ Gruppe die Möglichkeit zubilligt, das Reich der Intellektuellen zu retten, und der anderen Gruppe unterstellt, die kulturelle Identität der westlichen Gesellschaft zerstören zu wollen. Bloom verschärft diesen Prozess der Gruppenbildung durch starke Schwarz-Weiß-Zeichnung noch, indem er feststellt, dass Literatur, als Kunst (also Dichtung), immer ein ‚elitäres Phänomen‘ bleiben wird („always was and always will be an elitist phenomenon“; BW, 16). Die Begründung bleibt er schuldig, aber er ermöglicht es jenen, die seine Auffassung teilen, sich als Elite zu definieren. Was Bloom dann als Merkmale und Funktionen der als Kunst verstandenen Literatur beschreibt, ist wenig kohärent. Zentrales Merkmal literarischer Texte ist für ihn (hier steht er auf sicherem Boden) ‚Originalität‘ („originality”), daneben aber auch ‚Fremdheit‘ (“strangeness”): „their uncanniness, their ability to make you feel strange at home“ (BW, 3f.). Die Funktionen der Texte sind, ,dass wir lernen, mit uns zu sprechen und uns zu ertragen‘ (“to learn how to talk to ourselves and how to endure ourselves”), sowie ‚die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit‘ (“one’s confrontation with one’s own mortality”; BW, 28). Das klingt eher nach Psychotherapie oder nach Sekte als nach Wissenschaft. Hingegen rekurrieren ‚Vorschläge für neue Möglichkeiten der Sprache‘ („suggesting new possibilities for language”; BW, 9) und die Feststellung: ‚Die größten Autoren des Westens unterminieren alle Werte, sowohl unsere als auch ihre eigenen‘ (“The West’s greatest writers are subversive of all values, both ours and their own”; BW, 28), auf häufig genannte Merkmale, die sprachliche Qualität und das Widerständige von Literatur. Wenn Bloom feststellt: ‚Ohne den Kanon hören wir auf zu denken‘ (“Without the canon, we cease to think”; BW, 39), dann ist zu fragen, ob nicht umgekehrt der Kanon den Menschen das Denken abnimmt. Nicht zuletzt hat Jan Assmann seine Unterteilung in ‚heiße‘ und ‚kalte‘ Gesellschaften 19 Harold Bloom: The Western Canon. The books and school of the ages. New York: Riverhead Books 1994, S. 1. Das Buch wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit BW und Seitenzahl. 59 Einheit 3 am Grad der Ritualisierung innerhalb einer Gesellschaft festgemacht und als Teil dieser Ritualisierung den Kanon bestimmt: „Der kanonische Text hat die Hochverbindlichkeit eines Vertrages.“ 20 Ein statischer Kanon spricht für eine veränderungsunwillige Gesellschaft mit klarer Hierarchie- und Machtverteilung, also für ein undemokratisches System, während ein flexibler Kanon den unterschiedlichen Interessen in einer Gesellschaft Rechnung trägt, nachvollziehbare Begründungen fordert und überhaupt erst den Prozess des Aushandelns eines intersubjektiv nachvollziehbaren Kanons ermöglicht, wie begrenzt dessen Reichweite auch immer sein mag. Der von Bloom vorgeschlagene ‚westliche‘ Kanon von 26 Autoren kann dabei nicht mehr als eine Orientierungshilfe sein. Wenn man Blooms weniger ideologiekritische (so möchte er sie verstanden wissen, vgl. BW, 28) als vielmehr selbst ideologische Argumentation ansieht, wird man die Funktion als Orientierungshilfe in Zweifel ziehen und ggf. andere Kanones zu Rate ziehen müssen, um die Bedeutung der Autoren auf Blooms Liste überprüfen zu können. Interessant ist, dass das Phänomen der Rekanonisierung die Gruppe der professionellen wie der nicht-professionellen Leser gleichermaßen umtreibt. Ein Beispiel für die Reetablierung eines traditionellen Kanons ist der 2001/ 02 von Marcel Reich-Ranicki vorgeschlagene „Kanon der deutschen Literatur“, der in Gestalt von Buchpaketen, nach Gattungen geordnet, vom Suhrkamp-Verlag vertrieben wird und damit nicht zuletzt Marktinteressen des Verlags dient. 21 Ein Beispiel für einen Publikums-Kanon ist die 2004 vom Zweiten Deutschen Fernsehen veranstaltete Sendung Unsere Besten. Die Lieblingsbücher der Deutschen, 22 die ein kurioses Ergebnis zeitigte. Schon ein Blick auf die ersten zehn Plätze genügt, um zu sehen, dass die völlige Freigabe von Wertmaßstäben 23 zu einer inhomogenen Hierarchisierung führt, also zu einer Reihung von Texten, die weder formal noch inhaltlich miteinander verglichen werden können, es sei denn aufgrund des hier vorherrschenden einzigen Kriteriums der subjektiven Vorlieben: Platz 1 Der Herr der Ringe Romantrilogie von J. R. R. Tolkien Platz 2 Die Bibel Sammlung heiliger Schriften Platz 3 Die Säulen der Erde Roman von Ken Follett 20 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 4. Aufl. München: C. H. Beck 2002 (beck’sche reihe), S. 94. 21 Vgl. http: / / www.derkanon.de (abgerufen am 20.10.2008). 22 Vgl. http: / / www.zdf-jahrbuch.de/ 2004/ programmarbeit/ arens.htm und http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Unsere_Besten (beide abgerufen am 20.10.2008). 23 „Alle Genres durften gewählt werden, lediglich jugendgefährdende Schriften und reine Serviceangebote wie das Telefonbuch waren von der Wahl ausgeschlossen“, vgl. http: / / www.zdf-jahrbuch. de/ 2004/ programmarbeit/ arens.htm (abgerufen am 20.10.2008). 60 Einheit 3 Platz 4 Das Parfum Roman von Patrick Süskind Platz 5 Der kleine Prinz Märchen von Antoine de Saint-Exupéry Platz 6 Buddenbrooks Roman von Thomas Mann Platz 7 Der Medicus Roman von Noah Gordon Platz 8 Der Alchimist Roman von Paulo Coelho Platz 9 Harry Potter und der Stein der Weisen Fantasyroman von Joanne K. Rowling Platz 10 Die Päpstin Roman von Donna W. Cross Dass das Ergebnis auf einer breiten empirischen Basis aufruht (250.000 Stimmen wurden ausgezählt), macht die Sache nicht besser und demonstriert lediglich, dass empirische Untersuchungen ohne klares Erkenntnisinteresse keine nennenswerten Ergebnisse zeitigen. Dagegen gibt es auch Kanonisierungsversuche, die der gerade unter den heutigen kontextuellen Bedingungen notwendigen Offenheit Rechnung tragen und sich als Orientierungshilfe verstehen, nicht als Gebrauchsanweisung oder gar Gebotstafel. 24 Ein Kanonvorschlag ist natürlich einfacher zu machen, wenn es sich um einen eingrenzbaren Teilkanon handelt. Ein Beispiel ist Monika Osberghaus’ Was soll ich denn lesen? 50 beste Kinderbücher. Osberghaus präsentiert eine Auswahl von Texten der Kinder- und Jugendliteratur für die Altersgruppe von 8-12 Jahren. Es geht ihr um Texte, die es […] wert sind, dass möglichst möglichst viele Kinder und Erwachsene sie kennen, über sie sprechen und Elemente daraus in ihren Alltag aufnehmen. Zugleich müssen sie natürlich auch bestens zum Alleine- Lesen geeignet sein, also Selbstvergessenheit schenken können. Man kann so etwas Kanon nennen. Ich möchte es lieber anders ausdrücken: Dies sind nicht die fünfzig Titel, die jeder unbedingt kennen sollte. Aber sie nicht zu lesen hieße, die Chance auf etwas Schönes, Wichtiges und Wohltuendes zu verpassen. 25 Osberghaus betont also das Hedonistische an der Lektüre, wobei Möglichkeiten zu Identifikation und Reflexion eröffnet und genutzt werden sollten. Was vermag Literatur mehr zu leisten? 24 Vgl. den Lektürevorschlag von Wulf Segebrecht: Was sollen Germanisten lesen? 3., neu bearb. u. erw. Aufl. Berlin: Erich Schmidt 2006. 25 Monika Osberghaus: Was soll ich denn lesen? 50 beste Kinderbücher. München: dtv 2003, S. 5f.; zur Alterseinstufung, die ebenfalls nicht absolut verstanden werden soll, vgl. S. 8. E I N H E I T 4 Literatur in Systemen, Feldern und Diskursen: Luhmann, Bourdieu, Foucault Was macht es eigentlich, daß ein Kunstwerk ein Kunstwerk ist und nicht ein weltliches Ding oder ein schlichtes Gerät? Pierre Bourdieu 1 Eine Theorie der Literaturvermittlung gibt es nicht (und kann es angesichts der konstitutiven Deutungsoffenheit von Literatur auch nicht geben), aber es gibt verschiedene Basistheorien, die für die Literaturvermittlung grundlegend sind. Theorien, die sich mit dem Leser, dem Lektüreprozess und der Bewertung von Literatur beschäftigen, wurden bereits vorgestellt. Nun sollten drei Basistheorien herausgegriffen werden, die für verschiedene Disziplinen (also nicht nur für die Literaturwissenschaft) wichtig geworden sind. Sie können dazu dienen, die Rolle von Literatur im gesellschaftlichen Prozess besser zu verstehen. Niklas Luhmann hat im Rahmen seiner Ausarbeitung der Systemtheorie als Gesellschaftstheorie den Entwurf eines Teilsystems Literatur vorgelegt und dabei die spezifische Regelhaftigkeit von Literatur beschrieben. Pierre Bourdieu hat das literarische Feld von dem die Gesellschaft strukturierenden ökonomischen Feld unterschieden und so auf Unterschiede wie Analogien zu anderen, nicht Literatur vermittelnden Tätigkeiten aufmerksam gemacht. Michel Foucault hat sich nicht eigens mit Literatur oder Kunst befasst, aber er ist immer wieder auf sie zu sprechen gekommen, um die gesellschaftliche Entwicklung historisch besser beschreiben zu können. Seine Diskurstheorie erlaubt es, die vor allem auf Macht basierenden Beziehungen zwischen Akteuren der Literaturvermittlung besser verstehen zu lernen. 1 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2001 (stw 1539), S. 456. 62 Einheit 4 Literatur als System: Niklas Luhmann Die konstruktivistische Perspektive ‚Die‘ Systemtheorie gibt es nicht, das derzeit bekannteste Modell scheint aber alle anderen vorherigen Modellentwürfe zu überlagern. Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann hat es entwickelt. Luhmanns Modellierung von Systemtheorie ist in den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen zu einer der einflussreichsten Basistheorien überhaupt geworden. Ein Grund ist sicher, 1) dass sich Luhmann mit verschiedensten Bereichen - ‚Systemen‘ - der Gesellschaft auseinandergesetzt und das Funktionieren dieser Systeme oder Teilsysteme in einer klaren, schnörkellosen Wissenschaftssprache in sich schlüssig erklärt hat, und dass 2) Luhmanns Theorie vorgibt, auf die beiden wichtigsten Säulen von Wissenschaft gebaut zu sein, auf Logik und Empirie. Damit gibt es aber ein Problem: Zwar verweist Luhmann immer wieder auf die empirische Überprüfbarkeit, doch ist er diese weitgehend schuldig geblieben. Der empirische Boden ist am ehesten noch, wie bei Bourdieu und Foucault auch, die Auswertung von früheren Studien zu spezifischen Entwicklungen in gesellschaftlichen Teilbereichen. Umgekehrt gibt es viele Wissenschaftler, die empirische Sozialforschung betreiben und Luhmanns Modell wegen seiner Plausibilität als Rahmen für ihre eigene Forschung verwenden bzw. es so adaptieren, dass es als Rahmen verwendet werden kann. Erst durch die Anwendung wird die Theorie also empirisch. Die Empirie kommt - ein scheinbares Paradox - auch in der für Luhmann grundlegendenden konstruktivistischen Perspektive vor, denn Philosophie und Wissenschaftstheorien haben in den letzten 200 Jahren gezeigt, dass Wahrnehmung subjektabhängig ist. Doch gerade weil die Wahrnehmung jedes Einzelnen Ergebnis eines Konstruktionsprozesses ist, scheint es umso wichtiger, wissenschaftliche Erkenntnis auf quantifizierbaren, aussagekräftigen Daten aufzubauen. Luhmann würde in diesem Buch wohl nicht vorkommen, wenn er nicht auch das ‚System‘ der Kunst einer Analyse unterzogen und dabei besonderes Gewicht auf die Literatur (als Teilsystem des Kunstsystems) gelegt hätte. Seine Studie Die Kunst der Gesellschaft ist zweifellos einer der umfangreichsten und mutigsten Erklärungsversuche für das Funktionieren von Kunst und Literatur innerhalb der Gesellschaft. Zunächst zu der den meisten seit den 1970er Jahren zirkulierenden Basistheorien in allen Wissenschaften und auch der Systemtheorie unterlegten konstruktivistischen Perspektive. Luhmann ist überzeugt, dass die „[…] Außenwelt eine eigene Konstruktion des Gehirns ist und nur durch das Bewußtsein so behandelt wird, als ob sie eine ‚Realität‘ draußen wäre. […] Das Gehirn unterdrückt, wenn man so sagen darf, seine Eigenleistung, 63 Einheit 4 um die Welt als Welt erscheinen zu lassen.“ 2 Die vom Gehirn konstruierte Wahrnehmung der Außenwelt wird durch Kommunikation und damit durch Sprache strukturiert. Man könnte sagen, dass die wahrgenommene Welt immer eine imaginierte ist. Allerdings ist es nicht sinnvoll, dies zu sagen, sonst würde man sich für immer selbst blockieren: Man kann schließlich sehr wohl wissen, daß der eigenen Imagination keine wirkliche Welt entspricht, so wie man bei optischen Täuschungen die Täuschung sozusagen wegwissen kann, aber sie trotzdem sieht. Aber selbst dann folgt man noch einem Erleben, das die Welt, wie sie sein könnte, annimmt (L, 93). Produktiv ist es, zwischen einer wahrgenommenen realen und einer auf die reale Welt bezogenen, sie in gewisser Weise repräsentierenden, imaginierten oder fiktiven Welt zu unterscheiden; das wäre dann vor allem der Bereich der Kunst. Die Grundlagen von Wahrnehmung und Kommunikation, wie Luhmann sie entwickelt, an dieser Stelle nachzuvollziehen, würde zu weit führen. Abkürzend und zweifellos vereinfachend lässt sich sagen, dass Kunst durch Kommunikation und damit durch Sprache funktioniert, allerdings bedient sie sich der Sprache, ohne mit der Alltagskommunikation gleichgesetzt werden zu können. Schon die „Formen“ der Kunst werden nämlich „als Mitteilung verstanden, ohne Sprache, ohne Argumentation“ - wobei die Form hier als Sprache im Sinn von Mitteilung funktioniert. „Anstelle von Worten und grammatischen Regeln werden Kunstwerke verwendet, um Informationen auf eine Weise mitzuteilen, die verstanden werden kann“ (L, 39), ohne die Mitteilung damit auf eine konkrete Bedeutung festzulegen. Luhmann verwendet zur Bezeichnung entsprechender Signale den Begriff der in einem Kunstwerk enthaltenen „Beobachtungsdirektiven“ (L, 129). Kunst sagt etwas anderes als Alltagssprache, sie zeichnet sich durch „einen zweckentfremdeten Gebrauch von Wahrnehmungen“ aus (L, 41) und stellt so neue Bedeutungskontexte her. Deshalb gilt: Die „Aussage“ eines Gedichts läßt sich nicht paraphrasieren, nicht in der Form eines Satzes zusammenfassen, der dann wahr oder falsch sein kann. Der Sinn wird über Konnotationen, nicht über Denotationen vermittelt, über […] die ornamentale Struktur der sich wechselseitig einschränkenden Verweisungen, die in der Form von Worten auftreten, aber nicht über den Satzsinn […] (L, 45f.). 2 Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997 (stw 1303), S. 15. Die Studie wird im Folgenden im Text mit der Sigle L und Seitenzahl abgekürzt zitiert. 64 Einheit 4 Anders als in der Semiotik üblich begreift Luhmann aber nicht die künstlerische Form „als ein Zeichen, das auf etwas anderes verweist“ (L, 50). Vielmehr kombiniert das künstlerische Zeichen in den Worten Luhmanns „Selbstreferenz und Fremdreferenz“ (L, 47), d.h. es verweist nicht auf etwas außerhalb von sich selbst, sondern innerhalb des künstlerischen Zeichens werden Aussage und Bedeutung kombiniert. So wird „Kunst zur Artikulation ihrer Selbstreferenz“ (L, 75). Und weiter: „Man könnte auch sagen: das Kunstwerk stellt sich selbst und seine Selbstbeschreibung aus“ (L, 78). An einem einfachen Beispiel lässt sich die hier angesprochene Besonderheit zeigen. Wenn in einem Porträt eine Person abgebildet wird, dann mag es eine reale Entsprechung geben oder gegeben haben, sie ist für das Kunstwerk bzw. für den Status des Kunstwerks als Kunstwerk aber nicht wichtig (auch wenn sie von persönlichem Wert ist, der mit dem Kunstcharakter nichts zu tun hat). Vielmehr verweist die künstlerische Figur (Fremdreferenz - etwas der Realität Entnommenes wird dargestellt) ‚nur‘ auf die Form, den Einsatz der künstlerischen Mittel (Selbstreferenz), die wiederum auf die Realisierung (Fremdreferenz) verweisen - ein Spiel wechselseitiger Bezugnahmen, das dem Betrachter als Einheit (künstlerisches Zeichen) erscheint: „Kunst ist ‚spielende‘ Realitätsverdopplung“ (L,-391). Aus künstlerischer Perspektive sind dabei nicht die Personen und Handlungen interessant, die abgebildet sind, sondern die künstlerischen Mittel, mit denen sie abgebildet werden. Folglich gilt: „Kunstwerke haben keinen externen Nutzen; und wenn sie einen solchen Nutzen haben, zeichnet das sie gerade nicht als Werke der Kunst aus“ (L, 77). Weil ein Kunstwerk Wahrnehmbares neu kombiniert und ungewöhnliche Wahrnehmungsmöglichkeiten schafft, verweist Kunst auf die Konstruktion von Wahrnehmung, daran kann sich die Kommunikation über Kunst anschließen (L, 82). Natürlich kann dies nur geschehen, wenn das Kunstwerk entsprechende Decodierungssignale enthält, also Momente der „Überraschung“ (L, 85), die die Aufmerksamkeit auf den Prozess der Wahrnehmung lenken. 3 Was nicht ausschließt, dass ihnen in der Produktions- oder Rezeptionssituation auch (aber eben nicht nur) ein externer Nutzen zugeschrieben werden kann, der mit ihrem Status als Kunstwerk nichts zu tun hat (auch wenn dies gern kurzschlüssig angenommen wird - wohl das populärste Missverständnis, die Kunst betreffend). Genauso ist es mit Worten oder Sinneinheiten in literarischen Texten. Berlin in Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (von 1929) ist, da es sich um einen fiktionalen Text handelt (der als Roman ausgewiesen, d.h. als fiktionaler Text markiert ist), nicht das reale Berlin, der Text spielt nur 3 Es müssen aber nicht nur Momente der Überraschung, sondern auch solche des Wiedererkennens vorhanden sein, um die Einheit der Differenz von Kunst und Welt darzustellen und zugleich ‚aneinander zu steigern‘ (vgl. L, 228). 65 Einheit 4 mit der importierten (Luhmann würde sagen: hinein copierten) Fremdreferenz (realer Ort, Großstadt, Hauptstadt Deutschlands). 4 Daraus folgert: „[…] die künstlerische Qualität eines Textes liegt nicht in der Themenwahl, sondern in der Wortwahl. In der Dichtung wird, wie sonst kaum möglich, das Kunstwerk mit seiner Selbstbeschreibung vereint“ (L, 47). Diese besondere Qualität der Literatur innerhalb der Kunst hebt Luhmann noch einmal hervor, wenn er feststellt: Literarische Kunstwerke verfügen über bessere Möglichkeiten, Beobachtungen zweiter Ordnung für den Leser zu inszenieren; und wenn dies gelingt, ist das Werk auch „interessant“. Der Betrachter wird angeleitet, sein Beobachten zu beobachten und damit auch eigene Eigentümlichkeiten, Vorurteile, Beschränktheiten zu bemerken, die ihm vorher als eigene gar nicht aufgefallen waren (L, 143f.). Die Differenz von Kunst und Welt muss aber stets erkennbar sein, sonst treten Probleme und damit Zweifel auf, ob es sich wirklich um Kunst handelt: Nach außen muß das Kunstwerk von anderen Dingen oder Ereignissen unterscheidbar sein, es darf sich nicht in der Welt verlieren. Nach innen schließt sich das Werk dadurch, daß jede Formsetzung einschränkt, was an weiteren Möglichkeiten übrig bleibt. Im Effekt ist dann die innere Schließung die äußere Schließung, sie hält sich an den Rahmen, der als unüberschreitbar mitproduziert wird (L, 53). Wenn also der Roman Berlin Alexanderplatz heißt und in Berlin spielt, dann wird man nicht erwarten, dass der Protagonist Franz Biberkopf bei einem Spaziergang erst am Reichstag und dann am Eiffelturm vorbei geht - ansonsten würde der Text eine neue Weichenstellung vornehmen und sich in die Richtung eines fantastischen Romans entwickeln (wenn gezeigt wird, dass sich Biberkopf den Eiffelturm nur einbildet, hat das wieder andere Konsequenzen). Jede Wahl innerhalb des Texts eröffnet also andere Wahlmöglichkeiten und schließt zugleich andere Wahlmöglichkeiten aus. In der Gesamtheit der miteinander kombinierten Zeichen (der Begriff wird hier beibehalten, in der von Luhmann modifizierten Bedeutung) entsteht das komplexe künstlerische Zeichen, und es ist diese Kombination 4 Die Einarbeitung von Realität muss stimmig sein, damit sie Teil des Kunstwerks werden kann: „Ein Stück unbearbeiteter Natur oder künstlerisch nicht bearbeiteter Gesellschaft mag im Kunstwerk seinen Platz finden - zum Beispiel als unbehauener Stein in einer Skulptur oder als Zeitungsausschnitt in einer Collage. Aber das, was eingearbeitet wird, muß seinen Platz finden. Es ist nicht durch seinen Ursprung schon legitimiert zur Teilnahme an Kunst“ (L, 317). Dabei darf und soll die Fremdreferenz nicht abgewertet werden. Was mit dem Kunstwerk oder Text in einem Kontext geschieht, ist eine ganz entscheidende Frage, auch wenn sie hier nicht weiter verfolgt wird. 66 Einheit 4 von Zeichen, die bestimmte Bedeutungen ausschließt, andere eröffnet und sich über ihre Differenz zur Welt als künstlerisch bewähren muss (sonst handelt es sich nicht um Kunst und es gibt keine, oder nur fehlerhafter Kommunikation geschuldete Deutungsspielräume). Zur Beurteilung von Kunstwerken Für Luhmann stellt das Kunstwerk einen „Rahmen“ bereit (L, 335), in dessen Grenzen Deutungen möglich werden. Die Besonderheit der künstlerischen Kommunikation ermöglicht nicht, eine Deutung als allgemein gültige zu setzen: „Denn was könnte garantieren, daß verschiedene Beobachter dieselben Gestaltungsfreiheiten in ein Objekt hineinlesen? “ (L, 335f.) Deutung ist damit (Rahmen! ) aber nicht freigegeben. Wie wir noch sehen werden, ist es neben der Plausibilität (also der inneren Geschlossenheit oder Stimmigkeit), die über das Gelingen ganz prinzipiell entscheidet, die „Neuheit“ (L, 56) oder Originalität der vorgenommenen Kombinationsmöglichkeiten, 5 die den Rang des Kunstwerks ausmacht. „Neuheit ist jedenfalls Abweichung“ zu dem, was vorher da war (L, 327). Die Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit von Kunstwerken setzt eine Eigengesetzlichkeit jedes Werks voraus (vgl. L, 328). „Das ‚Wesen‘ der Kunst ist die Selbstprogrammierung der Kunstwerke“ (L, 332). Das wertet allerdings auch den Autor auf, der die originalen Kunstwerke beglaubigt: „Sie werden signiert oder mit dem Namen eines Autors ausgestattet, um an ihren Ursprung in der Zeit zu erinnern […]“ (L, 436) und sie so überhaupt erst als Kunstwerk erkenn- und einortbar zu machen. Das hat für den Künstler den positiven Nebeneffekt der Aufwertung seiner Person, die er entsprechend nutzen kann, allerdings nur, wenn ihm über sein Kunstwerk eine entsprechende Bedeutung zuerkannt wird: „Kunstkritik und Durchsetzung von Reputation lassen sich deshalb kaum trennen“ (L, 437). Den Begriff der Neuheit oder Originalität muss man noch weiter präzisieren. Die Neuheit kann nicht das ganze Kunstwerk umfassen, es muss Anknüpfungspunkte an Bekanntes geben: „Singularia lassen sich nicht einordnen, also auch nicht als Kunst verstehen und beobachten. In Stilzuordnungen macht sich mithin die Zugehörigkeit eines Kunstwerks zur Kunst kenntlich“ (L, 338). Der Stil verbindet das Kunstwerk mit anderen, zugleich ermöglicht er es ihm, sich von anderen überhaupt erst zu unterscheiden und seine ‚Nische‘ zu suchen (L, 339). Dieses Merkmal der Verknüpfung mit anderen Werken wird in der Literaturwissenschaft üblicherweise mit dem Begriff der Intertextualität bedacht (vgl. L, 395). 5 Luhmann geht aus von einer sich entwickelten „Synthese von Neuheit und Originalität“, so dass „Neues nur als originales Kunstwerk erscheinen kann“ (L, 435). 67 Einheit 4 Produzenten und Rezipienten von Kunstwerken wählen also, auf der Basis ihres bisherigen Wissens, während des Produktions- oder Rezeptionsvorgangs besondere Optionen, die weitere Wahlentscheidungen bedingen. Der Begriff der Wahl kann auch durch den Begriff der Unterscheidung präzisiert werden, und jede „Unterscheidung ist zugleich die Unterscheidung von marked space und unmarked space“ (L, 54). Die Unterscheidung trifft eine Festlegung, womit sie das, was nicht festgelegt wird, ausschließt, aber dennoch als ihre andere Seite mit transportiert - Berlin in Döblins Roman bedeutet eben nicht Paris, und gerade weil es Berlin ist, kann es nicht Paris sein. Es kann aber auch nicht Tokio oder New York sein oder ein Computer oder eine Banane; insofern ist das, was ausgeschlossen wird, nicht festgelegt, also ‚unmarkiert‘. Produzenten und Rezipienten können identisch sein, auch Schriftsteller sind Leser (L, 68), sie lassen sich aber dadurch unterscheiden, dass „das herstellungsleitende Beobachten nur einmal erfolgen kann, das betrachtende dagegen wiederholt“ (L, 69). Mit anderen Worten: Der künstlerische Schaffensprozess ist mit einem Durchgang abgeschlossen (zu dem auch mehrmaliges Überarbeiten gehören kann), die Lektüre hingegen potentiell unendlich oft wiederholbar. Die wiederholende Lektüre wird aber nie mit der vorherigen identisch sein, auch nicht bei ein und demselben Leser, da bzw. wenn es sich um einen literarischen Text handelt. Durch das von der Welt abgesonderte, komplexe Spiel von Selbstreferenz und Fremdreferenz im Kunstwerk lassen sich, z.B. beeinflusst durch sozialgeschichtlichen Kontext oder Erwartungshorizont, immer wieder neue Beobachtungen machen: „Es mag dann geradezu die Qualität eines Kunstwerks bezeugen, daß die Betrachter sich nicht auf eine einhellige Interpretation verständigen können“ (L, 72). So ist das Kunstwerk oder der Text zeitabhängig und zeitunabhängig zugleich. Voraussetzung hierfür ist allerdings ein ausreichendes Maß an Komplexität, […] denn das bietet die Chance, auch bei wiederholtem Durchgang immer wieder etwas Neues zu entdecken, was dann um so überraschender kommt. Und umgekehrt bedeutet der Verzicht auf Komplexität, daß dann um so auffälligere, oder sagen wir ruhig: skandalösere, Formen des Neuseins angeboten werden müssen (L, 85). Zeitabhängig sind Kunstwerke aufgrund ihres Produktionskontextes und der in diesem Kontext geltenden Regeln (was die Durchbrechung dieser Regeln mit einschließt). Kunstwerke müssen „zeitorientiert konstruiert werden“, sich allerdings als in ihrer Zeit „neue Werke, die sich von allem, was bisher produziert wird, unterscheiden“ (L, 77). 68 Einheit 4 Luhmann nennt als eine zentrale Leistung von Kunstwerken, dass man an ihnen „das Beobachten lernen und das Gelernte wiederum in die Form des Kunstwerks einbringen“ kann (L, 90). „Was das Kunstwerk garantieren kann, ist das laufende Beobachten von Beobachtungen, also das Beobachten zweiter Ordnung - und dies von der Herstellerseite ebenso wie von der Betrachterseite aus“ (L, 89). Das hat die - vielleicht etwas banal klingende, aber grundlegende - Konsequenz, dass man sich den Produktionsprozess nicht, oder zumindest nicht nur, als Verwandlung von Inspiration in Kunst vorstellen darf. Rezipienten, insbesondere professionelle Leser (und solche, die es werden wollen), tun gut daran, die identifikatorische Lektüre (die man mit einer Beobachtung erster Ordnung gleichsetzen könnte) durch eine reflektierende, auf das Gemachtsein des Kunstwerks oder Texts achtende (Beobachtung zweiter Ordnung) zu ergänzen. Die Beobachtung zweiter Ordnung „[…] modalisiert alles, was gegeben zu sein scheint, und verleiht ihm die Form der Kontingenz, des Auch-anders-möglich-Seins“ (L, 112). Nur ein Beobachter zweiter Ordnung vermag beurteilen zu können, ob ein Kunstwerk gelungen ist oder nicht. Im schlimmsten Fall wird einem Objekt der Status als Kunstwerk abgesprochen: „Die Sanktion liegt nicht in Reaktionen auf einen Normverstoß, sondern im Verlust des Interesses an Beobachtung der Beobachtungen“ (L, 208). Mit den hier skizzierten Besonderheiten künstlerischer Kommunikation wird eine Unterscheidung von Kunst / Nichtkunst, aber auch von Kunst / Kitsch (oder triviale Kunst) innerhalb des Kunstsystems begründet (vgl. L, 300). Die Spannung, die ein Kunstwerk für seine Rezipienten bereithält, ist eine andere als die Handlungsspannung, mit der ein triviales Kunstwerk (was nach den hier getroffenen Unterscheidungen ein Paradoxon ist) erfolgreich sein kann: „Die Spannung besteht oft gerade in diesem Risiko, in der Unabsehbarkeit, in der Schwierigkeit der selbstgestellten Aufgabe“ (L, 315). Vereinfachend gesagt: Ein Kunstwerk muss es seinen Rezipienten schwer machen, um ein Kunstwerk zu sein. Eine weitere Unterscheidungsmöglichkeit stellt die Mischung aus „Ornamentierung“ und Objekthaftigkeit bereit, hier unterscheidet Luhmann Kunstwerke von „,kunstgewerblichen‘ Gegenständen“ (L, 351). Freilich ist es gut möglich, dass ein Produzent an der selbstgestellten Aufgabe, Kunst zu produzieren, scheitert; hier wäre nun weiter zwischen gelungenen und nicht gelungenen Kunstwerken zu unterscheiden: „Auch mißglückte Kunstwerke sind Kunstwerke - nur eben mißglückte. Eben deshalb kann durchaus ein Sinn darin liegen, sich Schwieriges vorzunehmen, Unpassendes aufzunehmen und mit Möglichkeiten des Mißlingens zu experimentieren“ (L, 316). 69 Einheit 4 Kunst Kitsch Kunstgewerbe gelungenes misslungenes Kunstwerk Kunstwerk Kriterien der Beurteilung können nur aus dem Werk heraus entwickelt werden. Die Situation ist insofern paradox, als dass zur Stabilisierung des Systems angenommen werden muss, dass diese Merkmalszuschreibungen über das Werk hinaus Aussagewert haben; dabei hilft die Verknüpfung der Werke mit anderen Werken und darüber mit bestimmten Stilen. Um Fixpunkte zu gewinnen, gibt es als besonders gelungen beurteilte, paradigmatische Werke, deren Leistung in einer Epoche bzw. für die innovationsgesteuerte Entwicklung der Literatur nicht mehr hinterfragt wird - sie gehören zur „Klassik“ (L, 377). Entwicklung und Folgen Die skizzierte Beobachterposition, auch als Grundlage des Systems der Kunst, musste sich erst historisch entwickeln, Luhmann nimmt an, dass dies endgültig in der Zeit um 1800 geschehen ist (auch wenn es früher eingeleitet wurde, beginnend mit dem „späten Mittelalter“, vgl. L, 257). Für ihn gibt es einen klaren Zusammenhang […] zwischen funktionaler Differenzierung des Gesellschaftssystems, Ausdifferenzierung einzelner Funktionssysteme mit den Merkmalen autopoietischer Reproduktion und operativer Schließung sowie Selbstorganisation auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Diese Zusammenhänge sind nichts Kunstspezifisches, sondern sind allgemeiner, durch die Gesellschaftsstruktur initiierter Art. Aber sie werden auch im Falle des Kunstsystems realisiert und verleihen auch diesem System damit die spezifische Signatur der Modernität (L, 115). Das Konzept einer „korrigierenden Imitation“ (L, 401) der Natur, im Sinne einer Perfektionierung des in ihr angelegten Ideals, wurde im Rahmen der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme abgelöst durch die Eigengesetzlichkeit des Kunstwerks. Seither lässt sich das Kunstwerk nicht mehr über einen diffusen Geschmacksbegriff (der den Übergang markiert), sondern „über ein Beobachten der Disposition des Künstlers“ erkennen, „die genau darauf gerichtet ist, durch Rejektion aller anderen Unterscheidungen als irrelevant die Aufmerksamkeit auf sich selber zu 70 Einheit 4 lenken“ (L, 119). Diese Differenz von oder Distanz zwischen Kunst und Welt „ermöglicht ein gleichsam spielerisches Verhältnis zu Fragen des vernünftigen Konsenses oder Dissenses“ (L, 126). Die Perspektive auf den Gegenstand erfährt eine fundamentale Veränderung: „Generell tendiert ein Beobachten zweiter Ordnung dazu, Latenzen in Kontingenzen zu transformieren. Damit geht einher die Neigung, Was-Fragen durch Wie-Fragen zu ersetzen“ (L, 147). Entscheidend für den Status als Kunstwerk ist nun nicht mehr, ‚was‘ das Kunstwerk sagt, sondern ‚wie‘ das, was es sagt, gesagt wird. Um es dem Kunstwerk zu ermöglichen, aus dem gesellschaftlichen Kontext herausgelöst solche Wie-Fragen (besser) stellen zu können, ist der „Kunstbetrieb“ mit seinen „Einrichtungen“ geschaffen worden - „etwa Museen, Galerien, Ausstellungen, Literaturbeilagen von Zeitungen, Theatergebäude, soziale Kontakte mit Kunstexperten, Kritikern usw.“ (L, 249). Die Position einer Basistheorie ist damit aber noch nicht bezeichnet. Eine weitere Objektivierung des Wahrnehmungsprozesses ist möglich, wenn man nicht nur das Beobachten beobachtet, sondern auch das Beobachten des Beobachtens. Wenn also z.B. ein Literaturwissenschaftler (denn dies wäre der besondere Blick der Wissenschaft) nicht nur den Text und sein Gemachtsein in den Blick nimmt, sondern zugleich diese Beobachtung reflektiert (also sich selbst oder andere beim Beobachten beobachtet), dann ist damit die letzte mögliche Position des Beobachtens dritter Ordnung erreicht. Der Literaturwissenschaftler müsste sich also über die Voraussetzungen seiner Wahrnehmung, über den Konstruktionscharakter seiner eigenen Beobachterperspektive Rechenschaft ablegen und das Ergebnis bei der Interpretation (wenn wir eine Beobachtung zweiter Ordnung von Literatur als solche bezeichnen wollen) mit reflektieren. Bourdieu sieht dies ähnlich, für ihn ist, wie sich zeigen wird, die Soziologie die Disziplin der größtmöglichen Objektivität; davon unterscheidet sich Foucault, der die Möglichkeit eines Von-außen-Beobachtens grundsätzlich in Zweifel zieht. Luhmann ist weiterhin nah bei Bourdieu (bzw. umgekehrt), wenn er feststellt: „Und gerade darauf beruht denn auch die gesellschaftliche Autonomie des Kunstsystems, daß es Ressourcen anders definiert und anders in Anspruch nimmt, als dies in der Gesellschaft sonst geschieht“ (L, 132). Bourdieu beschäftigt sich besonders mit den Regeln, die Kunst und Gesellschaft voneinander unterscheiden, und mit der Abhängigkeit, in der die differenten Regeln zueinander stehen. Die dritte Gemeinsamkeit der beiden Theoretiker ist, dass sie „Geld“ (L, 244) oder materielle Profite zumindest als Ausgangspunkt der Ausdifferenzierung von Kunst und Gesellschaft ansehen. Für Luhmann (wie für Bourdieu) gehört es zur Besonderheit des Kunstsystems, z.B. durch die Unterscheidung von Original und Kopie „auf dem Kunstmarkt des Wirtschaftssystems […] Knappheit und damit Preise sicherzustellen“ (L, 265). Bourdieu wird hier aber noch weiter gehen und das Funktionieren von Tauschwerten als zen- 71 Einheit 4 tralen, allen gesellschaftlichen Systemen oder Feldern unterlegten Code ansehen. Anders als Luhmann wird er die „Anlehnung an die Wirtschaft“ nur bedingt als gewachsene „Freiheit“ begreifen (L, 266). Foucault schließlich wird zu zeigen versuchen, dass die Freiheit, die seit dem 18. Jahrhundert entstanden ist, nur eine andere Form von Unfreiheit darstellt. Das literarische Feld: Pierre Bourdieu Zur (Re-)Konstruierbarkeit von Literatur und Realität Wie schon Roland Barthes und andere ist auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu der Meinung, dass die Vorstellung einer „Transzendenz“ von Literatur einem wirklichen Verständnis literarischer Texte entgegensteht (B, 11). Nur durch Reflexion über den literarischen Text besteht „die Möglichkeit einer wirklichen Freiheit gegenüber den eigenen Determinierungen“. 6 Wie dies geschehen kann, entfaltet er am Beispiel einer Lektüre von Gustave Flauberts (1821-1880) Erziehung des Herzens (von 1869). Anders als Luhmann, der den Begriff des Systems favorisiert, oder als Foucault, der den Begriff des Diskurses profiliert hat, geht Bourdieu davon aus, dass Gesellschaft in Felder unterteilt werden kann. Im Folgenden wird versucht, die wichtigsten Erkenntnisse von Bourdieus Feld-Theorie der Literatur zusammenzufassen. Seinen zentralen Begriff definiert Bourdieu wie folgt: Das Feld ist ein Netz objektiver Beziehungen (Herrschaft oder Unterordnung, Entsprechung oder Antagonismus usw.) zwischen Positionen: der einer Gattung zum Beispiel wie dem Roman oder einer Untergattung wie dem Gesellschaftsroman oder, unter einem anderen Blickwinkel, zwischen der Position, die eine Zeitschrift, ein Salon oder ein Zirkel als Sammelpunkt einer Gruppe von Produzenten spielen. Jede Position ist durch ihre objektive Beziehung zu anderen Positionen oder, anders gesagt, durch das System relevanter, das heißt effizienter Eigenschaften objektiv festgelegt […]. Alle Positionen hängen in ihrer Existenz selbst und in dem, was sie über ihre Inhaber verhängen, von ihrer aktuellen und potentiellen Situation innerhalb der Struktur des Feldes, das heißt innerhalb der Struktur der Verteilung der Kapital- (oder Macht-)sorten 6 Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 12f. Die Studie wird im Folgenden im Text mit der Sigle B und Seitenzahl abgekürzt zitiert. - Bourdieu hat seine Gesellschaftstheorie in zahlreichen weiteren Büchern entfaltet, etwa in Die feinen Unterschiede , Sozialer Sinn und Praktische Vernunft . Auch bei Luhmann und Foucault müsste eine genauere Darstellung ihrer Basistheorien auf weitere Werke Bezug nehmen. Allerdings ist (wenn man von Veränderungen in Foucaults Konzept im Laufe der Zeit absieht) das jeweilige Modell aus allen, eben auch aus den hier vorgestellten Studien rekonstruierbar. Um das Kapitel nicht zu überladen, wird - bis auf Ausnahmen - daher auf Querverweise auf andere Werke verzichtet. 72 Einheit 4 ab, deren Besitz über die Erlangung spezifischer, innerhalb des Feldes umstrittener Profite (wie literarisches Prestige) entscheidet (B, 365). Dass es überall mehr oder weniger klare hierarchische Unterordnungen gibt, ist sofort einsichtig - ein Verleger hat mehr zu sagen als ein Lektor, ein Autor bei einem großen Publikumsverlag verdient mehr als ein Autor bei einem kleinen, wenig bekannten Verlag etc. Die Verteilung von Macht, Prestige und Geld ist in den Institutionen weitgehend analog, kann aber, wie wir noch sehen werden, auch stark differieren - das literarische Feld ist gerade deshalb von anderen Feldern unterscheidbar, weil es die Beziehungen zwischen den verschiedenen möglichen Profiten auf eine spezifische Weise organisiert. Akteure im Feld müssen mit einem besonderen Wissen ausgestattet sein, sonst gäbe es auch keinen Grund, das vorliegende Lehrbuch zu schreiben … In den Worten Bourdieus: Auf einer fortgeschritteneren Stufe seiner Entwicklung räumt das künstlerische Feld denen keinen Platz ein, die die Geschichte des Feldes und alles, was es hervorgebracht hat - angefangen bei einer bestimmten, durch und durch paradoxen Beziehung zum geschichtlichen Erbe - nicht kennen (B, 386). Bourdieu sieht die Aufgabe der (seiner) Wissenschaft nicht in der Analyse der Struktur von Texten oder Kunstwerken, sondern in der Auseinandersetzung mit dem, „was das Kunstwerk notwendig macht“, also mit dem „Erzeugungsprinzip“, dem „Daseinsgrund“ (B, 15). Er charakterisiert sein Literatur- und Wissenschaftsverständnis wie folgt: Was literarisches Schreiben vom wissenschaftlichen Schreiben unterscheidet: nichts belegt es besser als das ihm ganz eigene Vermögen, die ganze Komplexität einer Struktur und Geschichte, die die wissenschaftliche Analyse mühsam auseinanderfalten und entwickeln muß, in der konkreten Singularität einer sinnlichen wie sinnlich erfaßbaren Gestalt und eines individuellen Abenteuers, die zugleich als Metapher und als Metonymie funktionieren, zu konzentrieren und zu verdichten (B, 53). In Bourdieus Verständnis von Literatur läuft eine lange Tradition mit, die er nicht näher reflektiert. Beispielsweise ließe sich auf Friedrich Schillers Ästhetik zurückgehen, die der Dichter nicht nur in seinen theoretischen Schriften, sondern auch in seiner Dramenproduktion formuliert hat; am bekanntesten ist vielleicht der Prolog zu Walleinsteins Lager, der wie folgt endet: 73 Einheit 4 Das heutge Spiel gewinne euer Ohr Und euer Herz den ungewohnten Tönen, In jenen Zeitraum führ es euch zurück, Auf jene fremde kriegerische Bühne, Die unser Held mit seinen Taten bald Erfüllen wird. Und wenn die Muse heut, Des Tanzes freie Göttin und Gesangs, Ihr altes deutsches Recht, des Reimes Spiel, Bescheiden wieder fodert - tadelts nicht! Ja danket ihrs, daß sie das düstre Bild Der Wahrheit in das heitre Reich der Kunst Hinüberspielt, die Täuschung, die sie schafft, Aufrichtig selbst zerstört und ihren Schein Der Wahrheit nicht betrüglich unterschiebt, Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst. 7 Bei Bourdieu klingt die Feststellung der Differenz von Realität und Fiktion sowie der daraus resultierenden Möglichkeiten natürlich nüchterner: Schreiben setzt alle Determinierungen, alle grundlegenden Zwänge und Beschränkungen des gesellschaftlichen Daseins außer Kraft. Gesellschaftlich zu existieren heißt, eine bestimmte Stellung innerhalb der sozialen Struktur einzunehmen und deren Stempel zu tragen [...] (B, 58). Gerade weil Literatur nicht an die Grenzen der ‚Natur‘, wie Schiller sagen würde, gebunden ist, ermöglicht sie eine Distanz zur „soziale[n] Welt“ (B, 59) und ihren Bedingtheiten. Die Überschreitung der Grenzen vollzieht weniger der Inhalt, der ‚Natur‘ kopiert oder modifiziert, sondern vielmehr die für Literatur charakteristische Form. Sie erlaubt „die begrenzte Äußerung einer Wahrheit, die anders gesagt untragbar wäre“ (B, 67). Form und Autonomie des literarischen Feldes bedingen sich gegenseitig: Die Bewegung des künstlerischen und des literarischen Feldes hin zu immer mehr Autonomie geht einher mit einem Prozeß der Differenzierung der künstlerischen Ausdrucksformen und einer fortschreitenden Aufdeckung der Form, die einer jeden Kunst oder Gattung genuin zukommt […] (B, 223). Der wissenschaftliche, im Falle Bourdieus soziologische Blick „bricht den Zauber“ (ebd.) und macht es möglich, solche Vorgänge nachvollziehbar werden zu lassen. 7 Friedrich Schiller: Damen II. München: Hanser 1981 (Sämtliche Werke 2), S. 273f. 74 Einheit 4 Zusammenfassend gesagt: Der ‚Zauber‘ des literarischen Texts ist zugleich eine Illusion, die für die Dauer der Lektüre auf der Ebene der literarischen Rezeption unerhört produktiv ist, aber für die Dauer der Lektüre auf der Ebene der wissenschaftlichen Rezeption durchsichtig gemacht wird. Dieser Vorgang ist analog zur Differenz von menschlichem Verhalten und dessen Analyse: „Dem Funktionieren aller sozialen Felder, dem der Literatur wie der Macht, liegt die illusio zugrunde, die Investition ins Spiel und die affektive Besetzung des Spiels“ (B, 68). Wir müssen uns, um den Alltag zu bewältigen, wie selbstverständlich zur Welt verhalten; wenn wir über alles, was wir beobachten oder tun, reflektieren würden, dann würde uns dies im Tagesgeschäft blockieren. Andererseits setzt eine Analyse dessen, was wir tun (und was wir lesen), genau eine solche Reflexionsebene voraus. Bourdieus Perspektive ist eine konstruktivistische, wenn er feststellt, dass „das Auge des Ästheten das Werk als solches schafft“ (B, 455) und dass die Literatur „die Erfahrung der Realität als Illusion“ (B, 69) möglich macht. Realität wird konstruiert, Literatur wird konstruiert und Literatur macht in der Art und Weise, wie sie sich zur Realität verhält, diesen Konstruktionscharakter von Realität wahrnehm- und beobachtbar. Die Entstehung des literarischen Marktes Für Bourdieu ist die Gesellschaft marktwirtschaftlich organisiert, seine Terminologie legt nahe, dass er diese Organisationsform durchaus kritisch sieht: „Die Herrschaft des Geldes macht sich überall geltend […]“ (B, 85). Ebenfalls geht er davon aus, dass die Gesellschaft aus einem Geflecht von „Macht“-Beziehungen (B, 87) ihrer Teilhaber besteht, darin knüpft er an den Macht-Begriff Foucaults an, ohne diese Beziehung näher auszuführen. 8 Wie bei Foucault ist auch bei Bourdieu Macht etwas, das der gesellschaftlichen Struktur zugrunde liegt, allerdings verknüpft es Bourdieu stärker mit der Ökonomie: Das Feld der Macht ist der Raum der Kräftebeziehungen zwischen Akteuren oder Institutionen, deren gemeinsame Eigenschaft darin besteht, über das Kapital zu verfügen, das dazu erforderlich ist, dominierende Positionen in den unterschiedlichen Feldern (insbesondere dem ökonomischen und dem kulturellen) zu besetzen (B, 342). Merkwürdig bleibt, dass Bourdieu diese beiden Felder herausgreift, zumal beispielsweise das Feld der Politik besonders deutlich durch Machtbeziehungen dominiert wird. 8 Wobei sich Bourdieu an anderer Stelle durchaus auf Foucault beruft, vgl. B, 316 u. 329. 75 Einheit 4 In der Durchformung der Gesellschaft als Markt sieht Bourdieu eine ähnlich ambivalente Konstruktion wie in der Strukturierung des literarischen Feldes wie - so könnte man hinzufügen - in der Wahrnehmung des Menschen überhaupt, der sich über die Konstruiertheit seiner Umwelt aus Rationalisierungsgründen normalerweise keine Rechenschaft ablegt: Die Ökonomie, die die Ökonomisten kennen und in einer „rationellen Natur“ rational zu begründen suchen, beruht, so wie jede Ökonomie, auf einer Form des Fetischismus, der besser freilich kaschiert ist als die anderen, und zwar deshalb, weil die ihm zugrundeliegende Libido zumindest heute für die von ihren Strukturen geformten Geister - das heißt Habitus - den Schein des Natürlichen darbietet (B, 279). In Zusammenhang mit dem Markt der Güter entsteht die bürgerliche Gesellschaft. Die Wechselwirkung von industrieller Revolution, wissenschaftlicher Innovation, Bildungsexpansion und politischen Reformen schafft eine ungeheure Dynamik, die bis heute anhält. Zunächst entwickelt sich der Bereich der Medien analog zu dem der Wirtschaft: „Die Entwicklung der Presse ist ein Indiz unter anderen für die beispiellose Expansion des Marktes der kulturellen Güter“ (B, 93). Es entsteht nun ein eigener Markt für Kunst: Indem sich so eine umfangreiche Population von jungen Leuten zusammenfindet, deren Bestreben es ist, von der Kunst zu leben, und die sich von allen anderen sozialen Kategorien durch die Lebenskunst unterscheiden, die sie zu entwickeln im Begriff sind, tritt eine regelrechte Gesellschaft in der Gesellschaft in Erscheinung (B, 95f.). Bourdieu bezeichnet diese Gruppe als „Bohème“ (B, 97). „Die Bezeichnung Bohème stammt aus Henri Murgers Roman Scènes de la vie de Bohème (1851)“, auch die Oper La Bohème von Giacomo Puccini (1896) dürfte bei der Verbreitung des Begriffs eine Rolle gespielt haben. 9 Insofern ist Bourdieus Begriffsverwendung anachronistisch - und zugleich symptomatisch, da er die Entstehung einer solchen relativ autonomen Gruppe erst für die Mitte des 19. Jahrhunderts annimmt (deshalb dient Flaubert als Paradigma). Dabei zeigen bereits, was hier nur stichpunktartig ausgeführt werden kann, literarische Texte wie Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) alle Merkmale der Abgrenzung des literarischen Feldes von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Symptomatisch für die Abgrenzung des literarisch-künstlerischen Feldes von der Gesellschaft ist das bekannte Gemälde von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, das Goethe als Künstler inszeniert und seinen Inszenierungscharakter durch die Dekoration (stilisierte Landschaft, Reste antiker Kunst) deutlich ausstellt. „Das Bildnis ‚Goethe in der Campagna‘ von 9 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Bohème (abgerufen am 19.09.08). 76 Einheit 4 1787 zeigt Goethe, wie er halb sitzend, halb liegend auf antiken Steinen ruht und sinnend in die Ferne blickt, umgeben von Bruchstücken antiker Werke. Das Bild steckt voller Anspielungen: die Trümmer, auf denen Goethe sitzt, umfassen die ganze Antike. Das Relief zeigt Orestes und Pylades vor Iphigenie - ein Hinweis auf das Drama, an dem Goethe damals arbeitete.“ 10 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Porträt Goethes in der Campagna (1787) Eine eigene Identität schafft sich die Bohème nicht nur durch „das Labor“, also ihre konkrete Arbeit, sondern ganz besonders durch ihren „künstlerische[n] Lebensstil“. Auch wenn sie sich abgrenzt, gehorcht sie doch eigenen Gesetzen, sie ist „selbst ihr eigener Markt“ (B, 99). Der Gegenbegriff zu Bohème ist Bourgeoisie, also das Bürgertum. Die Bohème habe, so Bourdieu, eine „Vorstellung vom ‚breiten Publikum‘“ entwickelt, die zwischen „Faszination und Verachtung“ pendele. In der Vorstellung der Künstler verschmelze der den „gemeinen Sorgen der Geschäftemacherei unterworfene ‚Bourgeois‘“ mit dem „der Verdummung durch Arbeit ausgelieferte[n] Volk“ (ebd.). „Damit wird deutlich, daß das literarischkünstlerische Feld sich in einer ‚bürgerlichen‘ Welt und gegen sie ausbildet […]“ (B, 100). Es kommt zu einer Umwertung der Werte. Was in der Sphäre des Bürgertums zählt, ist in der des Künstlertums verpönt und umgekehrt: Die literarische (usw.) Ordnung hat sich im Verlauf eines langen und langsamen Autonomisierungsprozesses zum spiegelverkehrten Gegenbild der ökonomischen Welt - und damit zu einer wahren Provokation jeder Form von Ökonomismus - herausgebildet: Wer in sie eintritt, hat an Interesselosigkeit Interesse […] (B, 342). 10 Jutta Assel und Georg Jäger: Goethe-Motive auf Postkarten: Tischbeins „Goethe in der Campagna“ (München August 2004). In: http: / / www.goethezeitportal.de/ index.php? id=tischbein_forschung (abgerufen am 17.12.08). 77 Einheit 4 Ein anderer bekannter französischer Dichter des 19. Jahrhunderts, Charles Baudelaire (1821-1867), sieht daher in „Not und Elend […], auch wenn sie in jedem Augenblick seine geistige Integrität gefährden“, den einzigen „Ort der Freiheit“ und der „Inspiration“ (B, 111). Der Künstler gibt sich seine Regeln selbst und kann deshalb auch nicht erwarten, dass man ihn (sofort) versteht. Künstler sind geistige Revolutionäre (aus Gründen des Selbstschutzes allerdings weitgehend in den Grenzen des Gesetzes): Die Infragestellung der herrschenden Denkformen, die die symbolische Revolution vollbringt, und die absolute Originalität des von ihr Erzeugten haben zur Kehrseite die mit der Übertretung der Grenzen des Denkbaren zwangsläufig einhergehende absolute Einsamkeit (B, 161). Als Sinnbild solcher Existenz kann Carl Spitzwegs bekanntes Bild Der arme Poet von 1839 gelten, das im Unterschied zu Tischbeins Porträt von Goethe die Zugehörigkeit zum literarischen Feld bereits ironisch kommentiert. Letztlich wird hier auch der Gegensatz deutlich zwischen Literaten oder Künstlern mit und ohne symbolisches Kapital - die ‚richtige‘ Einstellung zur Kunst garantiert noch nicht die gewünschte Aufmerksamkeit und Akzeptanz. Carl Spitzweg: Der arme Poet (1839) Wichtig ist festzuhalten, dass das literarische Feld während der gesellschaftlichen Veränderungen Unterscheidungen ausbildet und dass die steigende Komplexität der gesellschaftlichen Prozesse zu einer rapiden Ausdifferenzierung dieses neuen Feldes führt: Das Aufkommen dieser neuen Definition von Kunst und vom Handwerk des Künstlers ist unabhängig von den Veränderungen des Feldes der künstlerischen Produktion nicht zu begreifen: Die Herausbildung eines noch nie dagewesenen Komplexes von Institutionen zur Registrierung, 78 Einheit 4 Bewahrung und Untersuchung von Kunstwerken (Reproduktionen, Kataloge, Kunstzeitschriften, Museen, die die neuesten Werke aufnehmen, usw.), der immer größere Personenkreis, der sich voll oder partiell der Zelebrierung des Kunstwerks widmet, die raschere Zirkulation der Werke und Künstler - mit den großen internationalen Ausstellungen und der Vermehrung von Galerien, die Filialen in diversen Ländern eröffnen -: dies alles wirkt dabei mit, daß sich ein noch nie dagewesenes Verhältnis zwischen den Interpreten und dem Kunstwerk entwickelt. Der Diskurs über das Kunstwerk ist kein bloß unterstützendes Mittel mehr zum besseren Erfassen und Würdigen, sondern ein Moment der Produktion des Werks, seines Sinns und seines Werts (B, 275f.). Auf der Basis der skizzierten gegenläufigen Tendenzen zur Entwicklung der Gesellschaft entsteht und festigt sich diskursiv das nach wie vor gültige Konzept des „L’art pour l’art“ (B, 117). Heute verwendet man andere Begriffe wie Autonomie, Selbstreferentialität o.ä., doch sie alle zielen auf die Abgrenzung der Literatur von den gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entsteht und auf die sie sich bezieht. Das heißt nicht, dass Literatur nicht ‚realistisch‘ oder ‚kritisch‘ sein kann, es bedeutet vielmehr, dass sie zuerst autonom sein muss und dann erst kritisch sein kann. Die Debatte über die Hierarchisierung von Selbst- und Fremdreferentialität ist exemplarisch im 19. Jahrhundert von Heinrich Heine und Ludwig Börne geführt worden, bekanntlich hat Heine, der die Autonomie der Literatur als deren konstitutives Merkmal ansah, den Disput gewonnen. 11 Einfluss auf die Gestaltung des literarischen Feldes haben alle Autoren, also auch jene, die später wegen ihres „Augenblickserfolgs“ nicht mehr bekannt sind (B, 118). Das Feld ist keineswegs homogen strukturiert, es teilt sich aus synchroner Perspektive in ‚bürgerliche‘ Autoren, die „materielle Gewinne“ und „symbolische Profite“ (Titel o.ä.) bzw. ‚kulturelles Kapital‘ (B, 123) erwirtschaften können, und solche wie Baudelaire, deren (Selbst-) Verständnis anti-bürgerlich ist (B, 119). Um zu erklären, warum sich die Differenz zwischen literarischem Feld und den anderen Feldern der Gesellschaft innerhalb des literarischen Feldes wiederholt, auch wenn alle Teilhaber des Feldes dessen Regeln anerkennen, muss etwas weiter ausgeholt werden. Die Paradoxie des literarischen Feldes Die Gegenläufigkeit des literarischen Feldes zu den anderen Feldern, vorrangig zu dem die Gesellschaft dominierenden und strukturierenden ökonomischen Feld, hat Konsequenzen, deren Auswirkungen für Künstler und Literaten problematisch sind: 11 Vgl. die Dokumentation von Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Heinrich Heine und Ludwig Börne: Ein deutsches Zerwürfnis. Frankfurt/ Main: Eichborn 1986 (Die Andere Bibliothek 20). 79 Einheit 4 Die symbolische Revolution, mit der sich die Künstler von der bürgerlichen Nachfrage lösen, indem sie keinen anderen Herrn und Meister anerkennen wollen als ihre Kunst, bringt den Markt zum Verschwinden. Denn sie können im Kampf um die Kontrolle über den Sinn und die Funktion künstlerischer Tätigkeit über den „Bourgeois“ nicht triumphieren, ohne ihn zugleich als potentiellen Kunden abzuschaffen (B, 134). Wenn es aber keine Kunden gibt, wovon sollen die Künstler dann leben, zumal das Mäzenatentum nicht in die neue marktwirtschaftliche Ordnung hinüber gerettet werden konnte? Die Lösung besteht aus zwei Strategien, erstens aus einer Geringschätzung materieller Werte, ohne ganz auf sie zu verzichten, und zweitens aus einer „Zeitverschiebung zwischen Angebot und Nachfrage“, aus dem Verschieben der Hoffnung auf Erfolg auf die Zukunft (B, 135). Bourdieu bringt die ‚paradoxe Ökonomie‘ des literarischen Feldes auf die Formel: „Auf symbolischem Terrain vermag der Künstler nur zu gewinnen, wenn er auf wirtschaftlichem Terrain verliert (zumindest kurzfristig), und umgekehrt (zumindest langfristig)“ (B, 136). Aus der Struktur des Feldes resultieren drei Gruppen, die einander gegenüberstehen oder einander ablösen können: Der Hauptgegensatz - zwischen der reinen Produktion, bestimmt für einen eingeschränkten Markt der Produzenten, und der Massenproduktion, ausgerichtet an den Erwartungen des breiten Publikums - reproduziert den fundierenden Bruch mit der ökonomischen Ordnung, der dem Feld der eingeschränkten Produktion zugrunde liegt; überlagert wird jener durch einen sekundären Gegensatz, der sich innerhalb des Subfeldes der reinen Produktion zwischen Avantgarde und arrivierter Avantgarde einstellt (B, 198). Gruppe 1 besteht aus jenen Autoren, die marktkonform produzieren, um ökonomischen Erfolg zu haben. Die Gruppe 2 ist ihnen entgegensetzt - ihre Angehörigen wollen gerade nicht marktkonform arbeiten, hier regiert das Prinzip der Verknappung, je kleiner das Publikum, desto höher die symbolischen Profite. Bourdieu nennt diese Gruppe die Avantgarde. Gruppe 1 und 2 konstituieren den Gegensatz „,kommerzielle‘ Kunst“ vs. „,reine‘ Kunst“ (B, 269). Nun ist die Avantgarde nur der erste Schritt, mit symbolischen Profiten geht größere Akzeptanz einher und damit auch ökonomischer Erfolg. Die älter gewordenen Autoren der Avantgarde, die sich durchgesetzt haben und nun anerkannte Größen im literarischen Feld sind, gehören zur Gruppe 3, zur arrivierten Avantgarde. Die Avantgarde gewinnt ihre symbolischen Profite durch Innovation, im Laufe ihrer Karriere werden ihre Texte aber (sofern sie sich durchsetzen können) kanonisiert, sie gehören also zu dem, was gelesen oder zumindest zur Kenntnis genommen werden muss, um Teilhaber des Feldes sein zu können. Günter Grass (geb. 1927) war, als er 1959 seinen ersten Roman 80 Einheit 4 Die Blechtrommel veröffentlichte, nur wenigen Kennern des Feldes bekannt, der Roman und weitere Werke wie die Novelle Katz und Maus (1961) wurden in der öffentlichen Rezeption skandalisiert. Doch spätestens seit der Zuerkennung des Literaturnobelpreises 1999 gilt Grass als einer der wichtigsten Repräsentanten der Literatur weltweit. Nun sind es andere, jüngere Autoren, die zur Avantgarde gehören und sich, den Regeln des Feldes gemäß, von Grass als ‚etabliertem‘ Autor abgrenzen. Bourdieu formuliert diesen Mechanismus wie folgt: Unterschiede entsprechend dem Konsekrationsgrad trennen faktisch Künstlergenerationen, die sich anhand des oft sehr kurzen, zuweilen nur wenige Jahre umfassenden Intervalls zwischen Stilen und Lebensstilen bestimmen, die sich als „Neues“ und „Altes“, „Originelles, Ursprüngliches“ und „Überholtes“ gegenübertreten […] (B, 200). Während die arrivierte Avantgarde wie selbstverständlich annimmt, dass sie weiterhin zur Avantgarde gehört, müssen sich die Nachkömmlinge ihren Marktanteil erst erobern: Die Neuankömmlinge können gar nicht anders, als die kanonisierten Produzenten, an denen sie sich messen, und damit auch deren Produkte und den Geschmack derer, die an sie gebunden bleiben, stetig in die Vergangenheit zurückzuverweisen [...] (B, 254). Der Faktor Zeit spielt bei der Strukturierung des Feldes also eine wesentliche Rolle: Die Avantgarde ist zu jedem Zeitpunkt durch eine künstlerische Generation (verstanden als Abstand zwischen zwei künstlerischen Produktionsweisen) von der kanonisierten Avantgarde getrennt, die ihrerseits durch eine weitere künstlerische Generation von der zum Zeitpunkt ihres Eintretens in das Feld bereits kanonisierten Avantgarde getrennt ist. Daraus folgt, daß sich im Raum des künstlerischen Feldes wie im sozialen Raum die Abstände zwischen den Stilen oder den Lebensstilen nie besser als in Zeitbegriffen messen lassen (B, 256f.). Das Beispiel Grass könnte Zweifel wecken, ob das literarische Feld wirklich autonom ist, schließlich handelt es sich um einen Autor, der - etwa durch sein Eintreten für die SPD und deren Kanzlerkandidaten Willy Brandt - aktiv in das politische Geschehen der Bundesrepublik eingegriffen hat. Bourdieu erklärt Eingriffe in das politische Feld mit der Rolle des - sich aus den Bedingungen des literarischen Feldes als Typus bildenden - Intellektuellen. Sein Beispiel ist Émile Zolas berühmter Offener Brief J’accuse ... von 1898, der die sogenannte Dreyfus-Affäre auslöste: 81 Einheit 4 So ist es paradoxerweise die Autonomie des intellektuellen Feldes, die den Stiftungsakt eines Schriftstellers ermöglicht, der unter Berufung auf genuine Normen des literarischen Feldes in das politische Feld eingreift und sich auf diese Weise zum Intellektuellen konstituiert. Das „J’accuse“, „Ich klage an“, ist Abschluß und Vollendung des kollektiven Emanzipationsprozesses, der sich nach und nach im Feld der Kulturproduktion vollzog: Als prophetischer Bruch mit der etablierten Ordnung bekräftigt er erneut wider alle Staatsräson den irreduziblen Charakter der Werte Wahrheit und Gerechtigkeit und im gleichen Zug die Unabhängigkeit der Hüter dieser Werte gegenüber den Normen der Politik (der des Patriotismus zum Beispiel) und den Zwängen des Wirtschaftslebens (B, 210). Die Autonomie des literarischen Feldes ist also eine relative Autonomie, wie jede Autonomie - denn um autonom zu sein ist man gezwungen, sich zum Umfeld, in dem man sich bewegt, so zu verhalten, dass die eigene Autonomie demonstriert, durchgesetzt oder eingefordert werden kann. Dieser Mechanismus wird, wie gezeigt, innerhalb des Feldes reproduziert, wenn die neue die arrivierte Avantgarde ablöst. Das wird vereinfacht durch das Verhalten der „das Feld der Produktion beherrschenden arrivierten Autoren“, denn sie […] suchen nun nach und nach sich auch auf dem [ökonomischen] Markt durchzusetzen und werden in dem Maße immer lesbarer und verständlicher, wie sie sich in einem mehr oder weniger langen Prozeß des Vertrautwerdens, das mit spezifischen Initiationsübungen einhergehen kann, banalisieren (B, 257). Den möglichen Verlauf einer Karriere im literarischen Feld schildert Bourdieu wie folgt: Auf die anfängliche Askese- und Verzichtphase, die Phase der Akkumulation symbolischen Kapitals, folgt eine Phase der Verwertung dieses Kapitals und des Erwerbs weltlicher Profite und dank ihrer ein Wandel in der Lebensweise, der den Verlust symbolischen Kapitals mit sich bringen kann und den Erfolg konkurrierender Häresien begünstigt (B, 405). Idealtypisch ist es, wenn an dieser Stelle das symbolische Kapital in ökonomisches konvertiert werden kann, der Erfolg ist nun ein anderer. Zugleich bleibt das erworbene Prestige nicht nur bestehen, es wächst sogar, da eine größere Leserzahl durch den zeitlichen Abstand nun in der Lage ist, die besondere Leistung des Autors zu erkennen und zu würdigen. Es setzt eine Gewöhnung des Publikums an das Neue ein, das nun zum Bekannten wird und dem Autor einen Platz in der arrivierten Avantgarde sichert, da alles Neue auf dem Bestehenden aufbaut; der Autor nimmt seinen Platz in der Literaturgeschichte ein. 82 Einheit 4 Der Zugang zu seiner solchen Karriere wird, das führt Bourdieu an dieser Stelle kaum aus, nicht zuletzt durch die ‚soziale Herkunft‘ (vgl. B, 419) bestimmt, die im literarischen Feld aber anders geregelt ist. Sie wird seit dem 18. Jahrhundert zunehmend weniger durch Geburt oder Stand beeinflusst, sondern vor allem durch den Rückbezug auf frühere Autoren und Werke. Die familiären Beziehungen bestehen nicht zwischen Blutsverwandten, sondern zwischen selbst erwählten Geistesverwandten. In der aktuellen Positionierung im Feld spielt dann der (generell ein zentraler Begriff bei Bourdieu, vgl. B, 413ff. u. 427f.) Habitus eine wichtige Rolle, also die Summe der Eigenschaften, die man sich selbst zuschreibt und die einem zugeschrieben werden, dazu gehören auch wieder die Bezüge zu anderen Autoren, bestimmten Genres etc. bis hin zur Kleidung, die eine Zugehörigkeit zur Gruppe der Autoren, bildenden Künstler o.ä. signalisiert. Akteure am Geschehen im literarischen Feld sind aber nicht nur Autoren, sondern auch (im Verständnis dieses Buches) Literaturvermittler. Für sie gilt die dem Feld eigene Logik genauso: Das „ökonomische“ Kapital kann die vom Feld offerierten spezifischen Profite [...] nur gewährleisten, wenn es in symbolisches Kapital umgewandelt wird. Die einzige legitime Akkumulation - für den Autor wie für den Kritiker, für den Gemäldehändler wie für den Verleger oder den Theaterleiter - besteht darin, sich einen Namen zu machen, einen bekannten und anerkannten Namen: ein Konkretisationskapital, das die Macht zur Konsekration von Objekten [...] und von Personen [...] beinhaltet, Macht also, Wert zu verleihen und aus dieser Operation Gewinn zu schlagen (B, 239). Interessant ist außerdem, dass man mit Bourdieu (ohne dass er es so adressiert) die sogenannte Mischkalkulation (verkaufsstarke Titel finanzieren verkaufsschwache) renommierter belletristischer Verlage aus der Struktur des Feldes erklären kann: Ein Verlag, der in der Phase der Nutzung des akkumulierten symbolischen Kapitals eintritt, läßt zwei unterschiedliche Ökonomien nebeneinander bestehen, wobei die eine an der Produktion und am Experiment ausgerichtet ist […], die andere an der Vermarktung der Backlist und dem Vertrieb der kanonisierten Produkte […] (B, 233). Man könnte noch weiter gehen und die parallele Vermarktung von ‚experimenteller‘ Literatur und (anspruchsvoller) Unterhaltungsliteratur aus den skizzierten Mechanismen begründen. Das Ansehen der avantgardistischen Titel, auch wenn sie möglicherweise ein Defizitgeschäft für den Verlag darstellen, gewährt den Glanz, der auf die weniger anspruchsvol- 83 Einheit 4 len Titel ausstrahlt; es sind also die symbolischen Profite, die notwendig sind, um ökonomischen Erfolg zu haben. Bourdieu hat selbst festgestellt, dass die „Kulturproduktion“, man könnte hier vielleicht genauer von der Vertriebsseite des Feldes sprechen, ökonomisch strukturiert ist: Die dort „unerbittlich waltende Logik“ ist „die des ökonomischen oder politischen Profits“ (B, 344). Die ökonomische Logik ist hier nur weniger leicht erkennbar und es gehört zum Selbstverständnis der Akteure, ihre Bedeutung herunterzuspielen. Über den symbolischen Erfolg von Autoren und Texten entscheiden jene, die im literarischen Feld mit der nötigen „Macht“ ausgestattet sind, und das sind wegen ihrer Zuständigkeit die Literaturvermittler (natürlich je nach Position im Feld). Sie ermöglichen es auch, zumindest potentiell „aus dieser Operation Gewinn zu schlagen“ (B, 239). Das im Feld besonders wichtige Prinzip der Verknappung betrifft vor allem den Leser. Experimentelle Literatur kann sich nur an ein kleines Publikum richten: Während die Rezeption von sogenannten „kommerziellen“ Produkten vom Bildungsstand der Rezipienten nahezu unabhängig ist, sind die „reinen“ Kunstwerke nur solchen Konsumenten zugänglich, die über die entsprechende und für ihr Bewerten notwendige Disposition und Kompetenz verfügen (B, 237). Eine Scharnierfunktion hat hier der Kritiker, der einerseits avantgardistische Trends identifizieren und andererseits nur „soweit ‚Einfluß‘ auf seine Leser […] gewinnen“ kann, „als sie ihm diese Macht zugestehen, weil sie in ihrem Gesellschaftsbild, ihren Geschmacksausprägungen und ihrem ganzen Habitus strukturell mit ihm übereinstimmen“ (B, 267f.). Neben die Bedeutung von ‚Originalität‘ oder Innovation als ein Mechanismus der Verknappung tritt als zweiter das symbolische Verweissystem des Texts, insbesondere die eine große Lektürepraxis voraussetzende intertextuelle Bezugnahme auf andere Werke. Dabei arbeiten intertextuelle Verweissysteme an der für das Feld notwendigen Kohärenz. Bourdieu erläutert: Derartige Winke, stille und versteckte Hinweise auf andere - vergangene wie gegenwärtige - Künstler, bestätigen in den Spielen der Distinktion und durch sie ein geheimes Einverständnis, aus dem der Laie ausgeschlossen ist, der sich zwangsläufig immer das Wesentliche entgehen lassen muß, nämlich genau die Wechselbeziehungen und Interaktionen, deren stumme Spur nur die Werke sind. Nie zuvor war die eigentliche Struktur des Feldes in jedem Produktionsakt derart präsent (B, 259). 84 Einheit 4 Die Entstehung des Kanons Es ist bereits mehrfach angeklungen, dass die Struktur des literarischen Feldes Konsequenzen für die Hierarchisierung der dem literarischen Feld zugeordneten Produkte, also der literarischen Texte hat. Durch Hierarchisierung bildet sich ein Kanon; eine gewisse Zahl von Texten, die möglichst viele Akteure des Feldes gelesen haben sollten, ist unabdingbar, um die für ein solches Feld notwendige Kohärenz zu gewährleisten. Bourdieu geht davon aus, dass auf die langfristige Kanonisierung die Spezifika der Bildungsinstitutionen wirken: Das Bildungswesen, welches das Monopol auf Kanonisierung der Werke der Vergangenheit und auf die Produktion und Weihe (anhand der Diplomvergabe) der konformen Konsumenten beansprucht, gewährt erst post mortem und nach einem langwierigen Prozeß dieses unfehlbare Siegel der Konsekration: die Kanonisierung der Werke als klassische Kraft ihrer Aufnahme in die Lehr- und Studienpläne (B, 237). Dieses Verfahren führt zu einer Dichotomisierung im Feld: Damit ist der Gegensatz total zwischen den Bestsellern ohne Dauer und den Klassikern, Bestsellern in Langzeitperspektive, die ihre Kanonisierung, also ihren erweiterten und dauerhaften Markt, dem Bildungssystem verdanken (B, 237f.). Man könnte hier zwischen Bestsellern einerseits und Titeln auf Bestenlisten oder Longsellern andererseits unterscheiden. Bourdieu sieht verkaufsstarke Titel als Produkt einer „externen Hiearchisierung“, da sich der Erfolg nach außen sichtbar dokumentiert; dagegen steht das „Prinzip der internen Hierarchisierung, das heißt der Grad an feldspezifischer Anerkennung“, also Anerkennung durch die anderen Akteure des Feldes (B, 345). An dieser Stelle sei angemerkt: Die Verteilung der beiden Prinzipien kann nach Staat und Sprachraum unterschiedlich sein. Symbolische Profite auf dem deutschsprachigen Markt (und wohl auch auf dem französischsprachigen) werden, wegen der größeren Ausdifferenzierung des Feldes und seines höheren Ansehens innerhalb der Gesellschaft, stärker gewichtet als ökonomische, während der englischsprachige Markt ökonomischen Profiten den Vorrang gibt. Die Gründe seien nur angedeutet: Die im englischsprachigen Raum stärker am Markt ausgerichtete interne Organisation des literarischen Feldes (keine Buchpreisbindung, weniger Verlage, große Buchhandelsketten etc.); der noch stärkere Einfluss der Medien auf die öffentliche Meinungsbildung; die generelle Höhergewichtung des freien Wettbewerbs vor sozialen Absicherungen beispielsweise. 85 Einheit 4 Die Kanonisierung literarischer Texte ist ein Prozess, der mit der Struktur des Feldes korreliert: Das subversive Vorgehen der Avantgarde diskreditiert die geltenden Konventionen, das heißt die Produktions- und Bewertungsnormen der ästhetischen Orthodoxie, und läßt die diesen Normen entsprechenden Produkte als überholt und altmodisch erscheinen. Dabei findet es eine objektive Stütze in dem Abnutzungseffekt der kanonisierten Werke (B,-401). Es ist ein Gemeinplatz, dass man heute nicht mehr so schreiben kann wie Goethe - doch auch so zu schreiben wie Grass würde keinen Erfolg bringen. Epigonen können in der Literatur keine symbolischen Profite (mehr) erwarten (anders als bei den Kopisten im Mittelalter, den Barockdichtern oder den Epigonen der Klassiker im 19. Jahrhundert). In der Literatur profiliert sich die Avantgarde also vor allem durch die „Originalität“ (B, 402) ihrer Leistungen. Das literarische Feld als Kräftefeld Bourdieu nimmt keine direkten, dafür aber durch Wahl seiner Terminologie indirekte Bewertungen vor. Für ihn hat das literarische Feld eine mythologische Struktur. Nur wer seine Regeln unhinterfragt akzeptiert, kann Handlungen im Feld mit einem ursprünglichen Sinn ausstatten. Damit begibt man sich aber der eigenen Wahlmöglichkeit und wird manipulierbar. Bourdieu ist pessimistisch, wenn es darum geht, Akteuren im Feld Reflexivität zuzuerkennen: „Gott ist tot, aber der ungeschaffene Schöpfer hat seinen Platz eingenommen“ (B, 303). Der ‚ungeschaffene Schöpfer‘ ist die Transzendenz, der mythische Kern, der Fetisch. Der kalte Blick der Wissenschaft zeigt, dass es sich auch beim literarischen Feld ‚nur‘ um einen Markt mit spezifischen Gesetzen handelt: Produzent des Werts des Kunstwerks ist nicht der Künstler, sondern das Produktionsfeld als Glaubensuniversum, das mit dem Glauben an die schöpferische Macht des Künstlers den Wert des Kunstwerks als Fetisch schafft. Da das Kunstwerk als werthaltiges symbolisches Objekt nur existiert, wenn es gekannt und anerkannt, das heißt von Betrachtern, die mit der dazu erforderlichen ästhetischen Einstellung und Kompetenz ausgestattet sind, gesellschaftlich als Kunstwerk instituiert ist, hat die Wissenschaft von den kulturellen Werken nicht nur deren Produktion zum Gegenstand, sondern auch die Produktion des Werts der Werke, oder, was auf dasselbe hinausläuft, die des Glaubens an den Wert der Werke (B, 362). 86 Einheit 4 Die Teilhaber am Diskurs werden „schon seit ihrer frühen Jugend dazu erzogen […], die sakramentalen Riten der kulturellen Andachtsübungen zu absolvieren“ (B, 295). Insofern ist Handeln intuitiv, das reflexive Moment muss erst später gelernt werden, es macht Wissenschaft eigentlich aus, zu einem gewissen Teil aber wohl auch die Professionalität der anderen Akteure im Feld. Jeder Akteur muss einerseits nach den Regeln handeln und sich andererseits bemühen, seine Position im Feld zu verbessern: Das literarische (usw.) Feld ist ein Kräftefeld, das auf alle einwirkt, die es betreten, und zwar je nach der Position, in die sie sich begeben (etwa, um Extrempunkte zu benennen, die eines Boulevardstückeschreibers oder eines avantgardistischen Lyrikers), in verschiedener Weise; und zugleich ist es eine Arena, in der Konkurrenten um die Bewahrung oder Veränderung dieses Kräftefeldes kämpfen (B, 368). Hier berühren sich Bourdieus Feldtheorie und Foucaults Diskurstheorie, die davon ausgeht, dass es die durch Kommunikation und Interaktion etablierten Machtbeziehungen der Individuen untereinander sind, die unsere modernen Gesellschaften strukturieren. Literatur als Diskurs: Michel Foucault Was ist ein Diskurs? Zunächst sei stark vereinfachend erklärt, was ein Diskurs ist, bevor Foucaults Terminologie für größere Genauigkeit, dafür aber auch für eine Komplexität sorgt, die nicht mehr so leicht zu verstehen ist. Foucaults Diskurstheorie ist nicht an einem seiner Werke festzumachen und sie hat sich von Werk zu Werk entwickelt oder doch verändert. Hier eine entsprechende Aufarbeitung zu unternehmen wäre unmöglich, und so zu tun, als ob es möglich wäre, wäre vermessen. Allerdings lässt sich eingangs gleich feststellen, dass auch seine Perspektive eine konstruktivistische ist. 12 Menschen sind, ob sie wollen oder nicht, Bestandteil eines (Gesamt-)Diskurses, der sich in verschiedene Teildiskurse oder „Formationssysteme“ 13 unterteilen lässt, 14 die sich wiederum überlappen. Würden alle Menschen 12 „Und welche Natur hat die so entdeckte oder konstruierte Einheit? “ Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übers. v. Ulrich Köppen. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1981 (stw 356), 105. 13 Ebd., S. 110. 14 Foucault hat keine konsistente Theorie vorgelegt, insofern ist diese Unterscheidung abgeleitet; an anderer Stelle setzt er den „Terminus Diskurs“ gleich mit einer „Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören“ (ebd., S. 156), oder er spricht vom „diskursiven Feld“ (ebd., S. 204). 87 Einheit 4 einfach nur still stehen und nichts sagen, sich nicht bewegen, würde der Diskurs zum Stillstand kommen - aber das Leben in dem Sinn, wie wir es verstehen, ebenso. Kommunikation und Handlungen (will man nicht beides miteinander koppeln wie z.B. Jürgen Habermas mit dem Begriff des „kommunikativen Handelns“, denn auch Kommunikation ist Handlung und umgekehrt) machen Leben aus und strukturieren die Beziehungen zwischen den Menschen. Da Menschen nicht ohne ein Gegenüber eine eigene Identität gewinnen können, sind sie auf Interaktion angewiesen. Ein Außerhalb des Diskurses gibt es nicht, es wäre die Position des Gestrandeten auf einer einsamen Insel, sie hat für das Zusammenleben der Menschen keine direkten Konsequenzen (indirekte aber schon, die Angehörigen werden den Schiffbrüchigen vermissen, jemand wird ihn z.B. in seinem Beruf ersetzen müssen etc., so greift auch der Inselmensch in den Diskurs ein). Diskurse kann man auf synchroner (die Gegenwart bezogener) oder diachroner (historischer) Ebene untersuchen und je nach Erkenntnisinteresse bzw. Bedeutung in der Gesellschaft unterschiedliche Teildiskurse identifizieren. Foucault hat sich beispielsweise mit dem Diskurs des Wahnsinns und der Klinik, des Gefängnisses und der Sexualität, aber auch mit dem grundlegenden Diskurs des Wissens beschäftigt. Innerhalb der Teildiskurse haben die Diskursteilnehmer unterschiedliche Positionen inne, die ihnen eine bestimmte Macht geben, den Diskurs fortzusetzen, ihn zu perpetuieren oder zu modifizieren. Man muss allerdings unterscheiden zwischen dem, was der Diskurs sagt und was er verschweigt. Foucault ist der Auffassung, dass das, was den Diskurs eigentlich ausmacht, nicht das Offensichtliche ist: „Der manifeste Diskurs wäre schließlich und endlich nur die repressive Präsenz dessen, was er nicht sagt; und dieses Nichtgesagte wäre eine Höhlung, die von innen alles Gesprochene unterminiert.“ 15 Entscheidend ist nicht das, was man wahrnehmen kann, sondern das, was sonst an der Stelle hätte stehen können. In Foucaults Worten: „Die Beschreibung der diskursiven Ereignisse stellt eine völlig andere Frage: wie kommt es, daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle? “ 16 Wenn man diese Frage stellt, lässt sich der Diskurs rekonstruieren. Ein einfaches Beispiel wäre die Beobachtung, dass es nicht nur das eine Buch gibt, das erscheint, sondern dass sich zahlreiche andere Texte um diesen Platz im Programm eines Verlages beworben haben. Warum ist es gerade dieses Buch geworden? Es gibt institutionalisierte Diskurse (oder anders gesagt: Diskurse, die sich durch einen hohen Grad an Institutionalisierung auszeichnen) wie den der Politik oder des Rechts. Doch auch die Institutionen bestehen aus Menschen, die in ihnen bestimmte Handlungsrollen ausfüllen - und im Rahmen der vorgegebenen Möglichkeiten Handlungsspielräume haben, 15 Ebd., S. 39. 16 Ebd., S. 43. 88 Einheit 4 die sie möglicherweise noch zu erweitern suchen. Eine Institution wie der Bundestag ist nicht einfach da, sie ‚lebt‘ nur, wenn Abgeordnete sie bevölkern und interagieren. Analog ist es im literarischen Diskurs - Bücher als Gegenstände können nur entstehen, wenn Menschen darüber kommunizieren und bestimmte Handlungen ausführen, wenn Verlags- und Druckereimitarbeiter aus Papier, Klebstoff und anderen Materialien das Artefakt Buch herstellen; und schließlich sind Bücher so etwas wie ‚geronnene Kommunikation‘, die auch nur während der Lektüre (oder der Erinnerung an die Lektüre, oder der Kommunikation über die Lektüre) ‚lebt‘. Die sehr komplexen Beziehungen der Menschen untereinander haben, wie bereits erwähnt, viel mit Macht zu tun. Es ist einsichtig, dass ein Verlagsleiter mehr Macht hat als ein Lektor, das sind institutionalisierte Machtbeziehungen. Allerdings ist es möglich, dass sich der Verlagsleiter ganz auf seinen Lektor verlässt, weil er selbst sich um andere Bereiche verstärkt kümmert; konkret kann also der Lektor die Macht haben, das Programm zu bestimmen. Damit eine Gesellschaft als Gemeinschaft von Menschen unterschiedlicher Interesselagen funktionieren kann, muss es einen gewissen Grad an Organisiertheit geben, es muss also eine Strukturierung des Diskurses stattfinden. Foucault formuliert dies in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France Ende 1970 wie folgt: Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen. 17 Zu den besonders wichtigen, gefährliche Interaktion verhindernden ‚Prozeduren der Ausschließung‘ zählt Foucault vor allem das Verbot, aber auch Tabus und Rituale (DO, 11), also geschriebene wie ungeschriebene Gesetze, letztere kann man auch als Konventionen bezeichnen. Einsichtig sind Vorschriften im Bereich des Strafrechts - man darf niemanden umbringen oder ausrauben. Schwieriger wird es im Bereich von Normierungen, die keinen Schaden verhindern, sondern eher zufügen - etwa durch Ausschließung von Menschen, die ‚anders‘ sind (etwa durch ihre Hautfarbe oder ihren Glauben, aber auch durch Verhaltensweisen, die z.B. zur Klassifizierung ‚wahnsinnig‘ führen). Foucault ist davon überzeugt, dass die Gründe für bestimmte Prozeduren im Verborgenen liegen, weil sich so Machtinteressen besser durchsetzen 17 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Franz. v. Walter Seitter. Mit einem Essay v. Ralf Konersmann. 7. Aufl. Frankfurt/ Main: Fischer 2000 (Fischer Wissenschaft), S. 10f. Der Band wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle DO und Seitenzahl. 89 Einheit 4 lassen. Insofern sieht er den Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit und zur Aufklärung nicht als fortschreitende Befreiung des Menschen, sondern als notwendige Anpassung und Veränderung der ‚Technologien der Macht‘ an die geänderten soziohistorischen Bedingungen (durch Bevölkerungswachstum, Bildung, Industrialisierung etc.): Dieser Wille zur Wahrheit [den die Naturwissenschaften scheinbar kultivieren und so die Aufklärung vorantreiben] stützt sich, ebenso wie die übrigen Ausschließungssysteme, auf eine institutionelle Basis; er wird zugleich verstärkt und ständig erneuert von einem ganzen Geflecht von Praktiken wie vor allem natürlich der Pädagogik, dem System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken, den gelehrten Gesellschaften einstmals und den Laboratorien heute. Gründlicher noch abgesichert wird er zweifellos durch die Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird (DO, 15). Die Organisation von Menschen in einem gesellschaftlichen Prozess - oder der Diskurs - entspringt also einem fundamentalen Dilemma: Prozeduren der Ausschließung sind notwendig, um Gesellschaft zu organisieren, aber sie bedeuten auch die ‚Zurichtung‘ der Menschen in einer bestimmten Art und Weise, die von der Gesellschaft vorgegeben bzw. ständig neu hervorgebracht wird. Foucault sieht „Druck und Zwang“ am Werke (DO, 16). Was in einer Gesellschaft als „Wahrheit“ gilt, ist also abhängig von Bedingungen ihrer Produktion - Wahrheit an sich gibt es nicht, es gibt sie immer nur unter bestimmten Voraussetzungen, die entsprechend ihren Charakter beeinflussen. Wahrheit ist das Ergebnis eines Diskurses und „Wahrheit ist selbst Macht“. Wer etwas artikuliert, das nicht dem „Ensemble an geregelten Prozeduren“ entspricht, das Wahrheit ausmacht, 18 hat ein Problem. In Foucaults Worten: Es ist immer möglich, daß man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven „Polizei“ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muß (DO, 25). Foucault nennt als „Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses“ (DO, 17) explizit den „Kommentar“ oder „ritualisierte Diskurssammlungen“, das könnten auch Kanones sein - also bestimmte Werke, die in einer Gesellschaft als überlieferungswürdig und besonders wichtig gelten. Foucault weist explizit auf „die literarischen Texte mit ihrem so 18 Michel Foucault: Die politische Funktion des Intellektuellen. In: Ders.: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader Diskurs und Medien. Hg. v. Jan Engelmann. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 22-29, hier S. 29. 90 Einheit 4 merkwürdigen Status“ hin (DO, 18). Kommentare sind Texte über Texte, das könnten beispielsweise Literaturkritiken oder literaturwissenschaftliche Texte sein, aber auch Lektoratsgutachten und vieles mehr. Subjekt, Individuum und Autor Hier muss nun eine weitere Unterscheidung eingeführt werden, die für Foucaults Diskursmodell zentral ist - die zwischen Subjekt und Individuum. 19 Das Subjekt ist - schon von seiner Wortbedeutung (lat. subiectum) her - das dem Diskurs Unterworfene, während das Individuum die freien Interaktionsmöglichkeiten verkörpert. Jeder Mensch ist also Subjekt und Individuum zugleich, den Zwängen des Diskurses ausgeliefert und in der Lage, in unterschiedlichem Maß den Diskurs selbst mit zu bestimmen. In Foucaults Worten: Die Doktrin [als Ensemble von Vorschriften] führt eine zweifache Unterwerfung herbei: die Unterwerfung der sprechenden Subjekte unter die Diskurse und die Unterwerfung der Diskurse unter die Gruppe der sprechenden Individuen (DO, 29). Als Subjekte sind Menschen in einem Netz von Beziehungen gefangen oder von diesen abhängig; als Individuum stecken sie immer noch in diesem Netz von Beziehungen, können es aber verändern. Freilich werden Menschen in eine bestimmte Gesellschaft hinein geboren und sozialisiert (auf diesen Punkt geht die Gender-Theoretikerin Judith Butler mit Bezug auf Foucault in ihren Arbeiten besonders ein), so dass die Möglichkeiten der Beeinflussung nicht nur durch die Prozeduren des Diskurses, sondern auch durch das Erlernen, Anerkennen und intuitive Ausführen von Diskursregeln begrenzt werden. Foucault sieht die Möglichkeiten von Autoren und von ‚Kommentaren‘ als begrenzt an, schließlich findet Kommunikation in einem normierenden Prozess statt. Er unterscheidet Primär- und Sekundärtexte, wobei letzteren die Funktion zukommt, […] neue Diskurse zu konstruieren: der Überhang des Primärtextes, seine Fortdauer, sein Status als immer wieder aktualisierbarer Diskurs, der vielfältige oder verborgene Sinn, als dessen Inhaber er gilt, die Verschwiegenheit und der Reichtum, die man ihm wesenhaft zuspricht - all das begründet eine offene Möglichkeit zu sprechen. Aber andererseits hat der Kommentar, welche Methode er auch anwenden mag, nur die Aufgabe, das schließlich zu sagen, was dort schon verschwiegen artikuliert war. 19 Präzisierend sei hinzugefügt, dass Foucault nicht immer trennscharf zwischen beiden Begriffen unterscheidet, aber zwischen den beiden Bedeutungen, die er ihnen an dieser Stelle zuordnet. 91 Einheit 4 […] Das unendliche Gewimmel der Kommentare ist vom Traum einer maskierten Wiederholung durchdrungen […] (DO, 19). Wer nun meint, dass dies zu einer Höherschätzung des Primärtextes führt, der sieht sich getäuscht. Für Foucault ist der Autor in erster Linie ein „Prinzip der Gruppierung von Diskursen“; „die Rolle des Autors besteht nur mehr darin, einem Lehrsatz, einem Effekt, einem Beispiel, einem Syndrom den Namen zu geben“ (DO, 20). Foucault schränkt zwar die tatsächliche Bedeutung des Autors ein, stellt dessen funktionale Bedeutung für den Diskurs aber ebenso deutlich heraus: „Der Begriff Autor ist der Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen[-] und Literaturgeschichte.“ 20 Man kann sagen, dass die Kluft zwischen realer und diskursiver Bedeutung durch die Überhöhung des Autors zu einem Mythos überbrückt wird: Man verlangt, daß der Autor von der Einheit der Texte, die man unter seinen Namen stellt, Rechenschaft ablegt; man verlangt von ihm, den verborgenen Sinn, der sie durchkreuzt, zu offenbaren oder zumindest in sich zu tragen; man verlangt von ihm, sie in sein persönliches Leben, in seine gelebten Erfahrungen, in seine wirkliche Geschichte einzufügen. Der Autor ist dasjenige, was der beunruhigenden Sprache, der Fiktion ihre Einheiten, ihren Zusammenhang, ihre Einfügung in das Wirkliche gibt (DO, 21). Foucault stellt klar (das wird in der Kritik an seinem Autorenmodell oft übersehen! ): „Es wäre sicherlich absurd, die Existenz des schreibenden und erfindenden Individuums zu leugnen“ (DO, 21). Er unterscheidet vielmehr die „empirischen Charakterzüge“ des Autors von deren Übertragung „in eine transzendentale Anonymität“. 21 Diesen Unterschied gilt es zu erkennen, um etwas über die Stellung des Autors im Diskurs gewahr werden zu können. Durch Rekonstruktion des Kontextes, in den ein Autor mit seinem Werk gestellt wird, lässt sich die „Funktion des Autors“ beschreiben (DO, 21). Sein Name hat „[…] klassifikatorische Funktion; mit einem solchen Namen kann man eine gewisse Zahl von Texten gruppieren, sie abgrenzen, einige ausschließen, sie anderen gegenüberstellen.“ 22 Man könnte auch sagen: Der Autorname strukturiert den Diskurs über Literatur und zugleich den Markt für Bücher. Darüber hinaus hat er „die Funktion, eine bestimmte Seinsweise des Diskurses zu kennzeichnen“. 23 Und weiter: „Folglich könnte man sagen, daß es in einer Kultur wie der unseren eine bestimmte Zahl von Diskursen 20 Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader Diskurs und Medien. Hg. v. Jan Engelmann. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 30-48, hier S. 30. 21 Ebd., S. 34. 22 Ebd., S. 37. 23 Ebd. 92 Einheit 4 gibt, die die Funktion ‚Autor‘ haben, während andere sie nicht haben. Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor […]. […] Die Funktion Autor ist also charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweisen bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft.“ 24 Foucault weist, wenn auch nur als Beispiel in einer Klammer, der Literaturkritik eine wichtige Rolle zu - sie ‚konstituiere‘ den Autor (DO, 42). Man könnte auch sagen: Sie konstruiert ein bestimmtes Bild eines Autors. Doch auch andere Teilnehmer am Diskurs über Literatur, etwa Verleger und Lektoren, sind daran beteiligt. Die Konstruktion eines Autorbildes geschieht also diskursiv und ist daher 1) abhängig von den institutionellen wie realen Machtverhältnissen und 2) abhängig von dem jeweiligen Kontext, d.h. sie verändert sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten und durch die Zeit. Ein Diskurs ist, das sei noch einmal betont, nichts Statisches, sondern ein heterogener Prozess, der sich weniger durch Kontinuität als vielmehr gerade durch „Diskontinuität“ auszeichnet (DO, 37). Foucault betont mit dem ‚Prinzip der Spezifität‘ außerdem die relative Unabhängigkeit „von vorgängigen Bedeutungen“. Man muss ganz genau hinsehen und vor allem das versuchen wahrzunehmen, was nicht offensichtlich ist: Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis. Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht. Man muß den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen. In dieser Praxis finden die Ereignisse des Diskurses ihre Regelhaftigkeit (DO, 35). Der Diskurs über Literatur ist also ein sich stetig verändernder Machtdiskurs, wobei die Veränderungen teilweise durch Institutionalisierungen aufgehalten werden (deshalb schlägt Foucault vor, „die Institutionen von den Machtverhältnissen her zu analysieren und nicht umgekehrt“ 25 ) und nicht genau vorhersehbar ist, welche Entwicklungen möglich sind oder tatsächlich geschehen. Jeder Diskursteilnehmer ist in unterschiedlichem Maß Subjekt und Individuum, ist den Regeln des Diskurses unterworfen und hat Macht, sie zu verändern. Diese dialektische Beziehung zeigt sich im ganzen Diskurs: „Das Machtverhältnis und das Aufbegehren der Freiheit sind also nicht zu trennen.“ 26 Foucault stellt aber nicht nur fest, welche Regelhaftigkeit den Diskurs ausmacht, er entwickelt auch Ideen, wie diese Regeln in einem für möglichst viele Diskursteilnehmer positiven Sinn gebraucht werden könnten: 24 Ebd., S. 38. 25 Michel Foucault: Wie wird Macht ausgeübt? In: Ders.: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader Diskurs und Medien. Hg. v. Jan Engelmann. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 187-201, hier S. 195. 26 Ebd., S. 194. 93 Einheit 4 Ich kann nicht umhin, an eine Kritik zu denken, die nicht versucht zu richten, sondern die einem Werk, einem Buch, einem Satz, einer Idee zur Wirklichkeit verhilft […]. Sie häuft nicht Urteil auf Urteil, sondern sie sammelt möglichst viele Existenzzeichen; sie würde sie herbeirufen, sie aus ihrem Schlaf rütteln. Mitunter würde sie sie erfinden? Um so besser, um so besser. Die Kritik durch Richtspruch langweilt mich; ich möchte eine Kritik mit Funken der Phantasie. Sie wäre nicht souverän, noch in roter Robe. Sie wäre geladen mit den Blitzen aller Gewitter des Denkbaren. 27 Dagegen stehen Ängste und mediale Strukturen, die ein „Gefühl der Ohnmacht“ erzeugen und „den Kritikern das Gefühl“ geben, „sich kein Gehör“ verschaffen zu können, „es sei denn, sie werden frecher oder zaubern jede Woche ein Kaninchen aus ihrem Hut hervor.“ Die Vertreter des Richtspruchs fürchten das Unkontrollierbare: „[…] wer schreibt, übt eine beunruhigende Macht aus, die man, wenn man ihr kein Ende machen kann, wenigstens in ihre Schranken weisen muß.“ 28 Statt „eine protektionistische Haltung“ einzunehmen und in „gute“ und „schlechte“ Information einzuteilen, müsste es gelten, „die Hin- und Her-Wege und -Möglichkeiten [zu] vermehren“. 29 Heute allerdings, so scheint es, sind die Regeln vor allem dem Markt unterworfen, Macht und Geld korrelieren stärker als je zuvor, zumindest, wenn man den Zeitraum seit der Entstehung des ‚modernen‘ Literaturdiskurses, also die Zeit seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts betrachtet. Zwar hat sich der Diskurs verändert, aber er ist nicht weniger weit entfernt davon, dazu beizutragen, Foucaults grundsätzliches Ideal zu verwirklichen: „Das Glück des Einzelnen ist die Voraussetzung für den Fortbestand und die Entwicklung des Staates. Es ist eine Vorbedingung, ein Instrument, nicht bloß eine Folge.“ 30 Literatur in Systemen, Feldern und Diskursen Die drei hier vorgestellten Basistheorien leisten Unterschiedliches. Luhmann führt vor, dass und wie man als Beobachter (Wissenschaftler) der Beobachter (Angehörige des Literaturbetriebs) der Beobachter (Texte; Produzenten und Rezipienten) 31 zu einer systematisierenden Erklärung 27 Michel Foucault: Der maskierte Philosoph. Gespräch mit Christian Delacampagne. In: Ders.: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader Diskurs und Medien. Hg. v. Jan Engelmann. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 13-21, hier S. 16. 28 Ebd., S. 17. 29 Ebd., S. 19. 30 Michel Foucault: Die politische Technologie der Individuen. In: Ders.: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader Diskurs und Medien. Hg. v. Jan Engelmann. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 202-214, hier S. 210. 31 Hierbei ist immer mitzudenken, dass es sich um heuristische Kategorien, um Handlungsrollen handelt, die sich abwechseln oder überlappen können; mit Luhmann gesprochen: „Auch ein Schriftsteller ist immer zugleich ein Leser - wie anders könnte er schreiben? “ (L, 68) 94 Einheit 4 von Literatur als Prozess in einer Gesellschaft kommen kann. Bourdieu legt besonderes Gewicht auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Literatur und Gesellschaft, die er als von der Ökonomie durchtränkt und mit entsprechender Terminologie erklär- und auch kritisierbar betrachtet. Foucault sieht die Funktionsweise von Literatur wie von Gesellschaft vor allem in Machtbeziehungen begründet, hier ist die Ökonomie sowohl Voraussetzung als auch Ergebnis - letztlich aber wohl eher Begleiterscheinung der Entwicklung der Veränderung von Machtverteilung in einer Gesellschaft. Die spezifischen Merkmale und Funktionen von Literatur werden durch die skizzierten Basistheorien mit unterschiedlichen Akzentsetzungen beschreibbar. Literatur steht, darauf ist jedes Mal Wert gelegt worden, in einem Differenz-Äquivalenz-Verhältnis zur Gesellschaft, und in der Gesellschaft ist sie wiederum, als spezielle Art der Kommunikation über (in der Regel) standardisierte Kanäle, Teil der Massenmedien. Um diesen Zusammenhang soll es im folgenden Abschnitt gehen. E I N H E I T 5 Macht und Ohnmacht der Gate-Keeper: Literatur und Medien Wir haben kein Informationsproblem, sondern ein Orientierungsproblem. Was wir brauchen, ist eine tägliche Arche Noah in der Sintflut des Sinns. Norbert Bolz 1 Literaturvermittlung ist auf die Massenmedien angewiesen, durch sie werden potentielle Leser über das Erscheinen von Büchern, deren Inhalt und mögliche Bedeutung informiert. Nun sind Massenmedien nicht einfach da, sie haben sich entwickelt und stellen einen - je nach Sprachgemeinschaft und Nation unterschiedlichen - Rahmen für die Vermittlung von Literatur bereit. Daher lässt sich sagen: Nur wer sich mit der Geschichte und der Funktionsweise der Massenmedien im deutschsprachigen Raum auskennt, kann erfolgreich Literatur an Leser bringen. Das vorliegende Kapitel soll zumindest einen wichtigen Teil des notwendigen Grundlagenwissens bereitstellen. Ganz besonders richtet es sich an jene, die möglicherweise einmal in Kulturredaktionen oder als freie Literaturkritiker arbeiten werden. Doch auch für Verleger, Lektoren oder Mitarbeiter in den PR- und Presseabteilungen der Verlage ist es notwendig zu wissen, wie Massenmedien funktieren und welche Wirkungen erzielt werden können, um Bücher an die Frau oder den Mann zu bringen - von anderen literaturvermittelnden Berufen zu schweigen, die alle Massenmedien nutzen oder mit ihnen zusammen arbeiten. Was sind Medien überhaupt? Da wir in einer „Mediengesellschaft“ leben, 2 ist die Frage, was Medien sind, nicht nur für die Literaturvermittlung wichtig. Dazu kommt, dass 1 Norbert Bolz: Das ABC der Medien. München: Fink 2007, S. 26. 2 Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Winfried Schulz u. Jürgen Wilke (Hg.): Das Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation. 2. Aufl. Frankfurt/ Main: Fischer 2003, Einleitung S. 9. 96 Einheit 5 die Vermittlung von Literatur auf Medien angewiesen bzw. von ihnen abhängig ist. Medien sind zunächst einmal Kanäle oder Vermittler von Informationen: In einem allgemeinen Sinn sind Medien zunächst einmal Vermittler. Sie vermitteln zwischen Menschen Informationen, Nachrichten oder Meinungen. Diese Vermittlerfunktion ergibt sich bereits aus der sprachlichen Herleitung des Begriffs. Etymologisch stellt das Wort Medium eine substantivierte Ableitung des lateinischen Adjektivs „medius“ dar, das so viel heißt wie „in der Mitte befindlich, mittlerer“. […] Die Medien werden herkömmlicherweise unterteilt in die Massenmedien und die Medien, die der Individualkommunikation dienen. Beides sind Formen der Kommunikation zwischen Menschen über eine räumliche Distanz. […] Von Medien kann nur gesprochen werden, wenn die Vermittlung […] durch technische Mittel erfolgt. 3 Medien sind im medienwissenschaftlichen Verständnis 4 ‚Kanäle‘ für die Kommunikation. Ein erstes grundlegendes Modell bot die sogenannte Lasswell-Formel von 1948: „Who says what in which channel to whom with what effect? “ 5 Diese Formel hat sich als einseitig erwiesen, da sie eine lineare, störungsfreie Kommunikation voraussetzt. Dennoch ist es, wenn es um Medien geht, eben die Frage des „channel“, des Kanals, die relevant wird. Claude Shannon unterscheidet bereits folgende „Bestandteile des Kommunikationsprozesses“: „1. eine Quelle, 2. einen Sender (Übermittler), 3. einen Kanal, 4. einen Empfänger (Übermittler) und 5. einen Adressaten. Die Mitteilungen, die von der Quelle an den Adressaten kommuniziert werden, können dabei durch eine 6. Störquelle verändert werden.“ Horst Reimann berücksichtigt in seinem Schema dann noch „Rückmeldevorgänge, die angeben, wie die Mitteilung vom Adressaten interpretiert wurde“. 6 Zahlreiche weitere, immer komplexere Modelle ließen sich anführen. 3 Frank Fechner: Medienrecht. 9., überarb. u. erg. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck 2008 (UTB 2154), S. 3f. 4 Genereller gefasst könnten Medien z.B. mit Luhmann vom Begriff der Form unterschieden werden; Medien stellen die Möglichkeiten bereit, Formen sind spezielle Ausprägungen des Mediums; das Medium scheint nur in der Form auf. Insofern ist z.B. Papier ein Medium, das bedruckte, beschnittene etc. Papier die spezielle Form, die dem Medium Papier gegeben wird. Das allgemeinste Medium wäre der Sinn. Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997 (stw 1303), S. 173ff. - Zur Geschichte der Medien, die auch eine Geschichte der Ausdifferenzierung der Medien und ihrer Entwicklung zu Massenmedien ist, vgl. die umfangreiche Studie von Jürgen Wilke: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Köln u.a.: Böhlau 2000. 5 Michael Schenk: Medienwirkungsforschung. Tübingen: Mohr 1987, S. 4. Zwar wird aus dieser Ausgabe zitiert, doch wurde die letzte Neuauflage ergänzend hinzugezogen (Michael Schenk: Medienwirkungsforschung. 3., vollst. überarb. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck 2007). - Zum Thema vgl. ebenfalls die beiden umfangreichen Bände von Heinz Bonfadelli: Medienwirkungsforschung I: Grundlagen und theoretische Perspektiven. 3., überarb. Aufl. Konstanz: UVK 2004 (UTB 2502); ders.: Medienwirkungsforschung II: Anwendungen in Politik, Wirtschaft und Kultur. 2., überarb. Aufl. Konstanz: UVK 2004 (UTB 2615). 6 Vgl. Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 13. 97 Einheit 5 Wie bereits angesprochen, lässt sich in interpersonale oder Individual- Kommunikation, die sogenannte Primärkommunikation einerseits, in Massen- oder Sekundärkommunikation andererseits unterscheiden. Der erste Typus ist die direkte Kommunikation zwischen Individuen. Welche Inhalte dabei vermittelt werden können, hängt nicht zuletzt von den technischen Merkmalen und den daraus resultierenden Codes ab. Frühformen der Telekommunikation beispielsweise variierten von „persischen Reiterboten“ zu „optischen und akustischen Relaisstrecken“ wie Feuersignalposten und Rufketten. Danach muss sich das verwendete Zeichensystem ebenso richten wie die Notwendigkeit und Ausführlichkeit der zu übermittelnden Botschaft. 7 Eine SMS setzt eine Ökonomie der Sprache voraus, die ein Telefonat nicht verlangt. Der zweite Typus ist die durch technische Verbreitungsmittel erfolgende Kommunikation Einzelner mit einem ‚dispersen Publikum‘, 8 „eine an die Allgemeinheit gerichtete Vervielfältigung“ 9 oder Verbreitung. Interaktion ist nur sehr begrenzt möglich und die verbreiteten Inhalte unterliegen einem strengen Selektionsprozess, der sich wiederum auf die Individualkommunikation auswirkt: Insgesamt betrachtet, unterliegt das Kommunikationssystem moderner Gesellschaften nach Merten einem dreistufigen Selektionsprozeß. Auf der ersten Stufe sorgen die Medienorganisationen und ihre Gatekeeper für die Bereitstellung bzw. Auswahl von relevanten Ereignissen, Aussagen usw. Daran knüpft die auf der zweiten Stufe eigentliche Massenkommunikation an, indem sie gewissermaßen als virtuelles System die Ausbildung von Wissens-, Erwartungs- und Meinungsstrukturen für Rezipienten vornimmt, die füreinander nicht sämtlich anwesend oder bekannt sind. Neben der direkten Transmission von Aussagen ist somit auch die indirekte Konsentierung von Erwartungen, Vorstellungen und Meinungen - was andere denken, machen, meinen usw. - verbunden: also die Mitlieferung von Kommentar bzw. Meinungen. An diese zweite Selektion schließt drittens das informelle, auf sozialer Interaktion gründende, „reelle“ Kommunikationssystem an, indem es zusätzliche Meinungen und Bewertungen erzeugt, die Art und Umfang der eigentlichen Verarbeitung der Aussagen determinieren. 10 Auch hier variieren die technischen Mittel und die verwendeten Codes. Zeitungen und Zeitschriften setzen wie Bücher vorrangig auf die Schriftsprache, doch muss das Lesen erst gelernt werden. „Das Fernsehen verwendet sowohl visuelle als auch auditive Mittel. […] Der Hör- 7 Vgl. Frank Hartmann: Globale Medienkultur. Technik, Geschichte, Theorien. Wien: WUV 2006 (UTB 2723), S. 21. 8 Vgl. Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 18. 9 Fechner: Medienrecht, S. 215. 10 Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 20. 98 Einheit 5 funk ist dagegen ausschließlich auf die verbale Nachrichtenpräsentation angewiesen.“ 11 Das abstraktere Hören und noch mehr das Lesen ist gegenüber dem Sehen, das schon kleine Kinder als selbstverständlich beherrschen, klar im Nachteil. 12 Allerdings hängt es von den Inhalten ab, die vermittelt werden sollen - die Informationsdichte einer Zeitung oder Zeitschrift lässt sich weder im Fernsehen noch im Hörfunk so leicht erreichen. Außerdem hat das Printmedium den Vorteil, jederzeit gelesen werden zu können, wenn es einmal zur Hand ist. Bei Fernsehen und Hörfunk ist man (meistens jedenfalls bzw. noch) auf die Sendezeiten angewiesen, wenn man nicht ein Aufnahmegerät programmieren will. Die online-Medien verändern diese Situation grundlegend, hier können Text und Bild (einschließlich Film) beinahe beliebig kombiniert werden und der Zugriff ist über längere Zeit möglich - vorausgesetzt, man hat einen Computer, die entsprechende Seite bleibt verfügbar und man findet sie überhaupt erst in der Fülle der Angebote. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass Bilder nur scheinbar selbsterklärend sind und daher besonders offen für Manipulationen. Sie können ikonographische Bedeutung haben (also symbolhaft für etwas anderes stehen), sie können ein bestimmtes Image (eine Idealvorstellung von etwas oder jemandem) transportieren oder sie können Ergebnis einer Inszenierung und damit Teil einer Strategie sein, mit der der Sender beim Rezipienten etwas Bestimmtes erreichen will. 13 Offensichtlich wird dies in der Werbung, deren Geschäft es ist zu manipulieren, etwa wenn schlanke, gutaussehende Menschen kalorienhaltige und ungesunde Lebensmittel anpreisen. Um es Menschen zu ermöglichen, Bilder auf ihren Sinn hin zu befragen, wird - bisher ohne große Konsequenzen - eine „Visual Literacy“, eine ‚visuelle Lesefähigkeit‘ oder ‚visuelle Kompetenz‘ gefordert. 14 Die westliche Kultur ist bildbasiert, aber die Möglichkeiten, etwas über die Entschlüsselung von Bildern zu erfahren, halten sich stark in Grenzen. Das visuelle ist (zumindest gilt dies für Film und Fernsehen) das aufwändigste Medium, viele Personen sind z.B. an der Herstellung einer Sendung im Fernsehen beteiligt. Beim Rezipieren kann es leicht zu Divergenzen zwischen Text bzw. Ton und Bild kommen, etwa wenn man sich von den spektakulären Bildern ablenken lässt und nicht mehr auf den Kommentar des Moderators hört, oder umgekehrt, wenn die brisanten Informationen des Kommentars mit faden Bildern versehen werden, weil kein anderes Material zur Hand ist. Besonders beliebt in den Nachrichtensendungen sind an- und abfahrende Autos mit Politikern vor einem öffentlichen 11 Ebd., S. 78. 12 Vgl. ebd., S. 79. 13 Vgl. Marion G. Müller: Grundlagen der visuellen Kommunikation. Konstanz: UVK 2003 (UTB 2414), S. 27ff. 14 Vgl. ebd., S. 178f. 99 Einheit 5 Gebäude, eine eigentlich nichtssagende Sequenz, die über die Jahre und Termine hinweg gleichzubleiben scheint. Hier erfüllen die Bilder keine anderen Funktionen als die, ein statisches Bild zu vermeiden und, durch Auftreten bekannter Personen, einen Wiedererkennungseffekt zu initiieren, der so etwas wie Sicherheit vermittelt. Wir haben es also mit einem komplexen Prozess zu tun, der von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird oder zumindest beeinflusst werden kann. Hinter all dem stehen die ganz entscheidenden Funktionen, die Massenmedien für unsere Gesellschaft haben. Funktion und Struktur der Massenmedien Massenmedien erfüllen unverzichtbare Funktionen in einer Demokratie, der Titel eines Buches von Wolfgang Bergsdorf, Die vierte Gewalt (neben Legislative, Exekutive und Judikative), ist deshalb zum geflügelten Wort geworden. Bergsdorf hat festgestellt: „Die Massenmedien stellen den Rahmen für die Kommunikation zwischen den Trägern politischer Entscheidungsgewalt und den Betroffenen zur Verfügung.“ 15 Und das ist natürlich noch lange nicht alles. Folgende Funktionen der Massenmedien lassen sich unterscheiden: 16 1) Die Informationsfunktion: Mündige Bürger gibt es nur, wenn die Bürger, als Teilhaber am öffentlichen Geschehen, sich möglichst umfassend informieren können, um sich selbständig eine Meinung bilden zu können. In Deutschland und Österreich tut der Bürger seine Meinung vor allem in Wahlen kund, in der Schweiz sind es vielfach Volksentscheide, mit denen die Weichen der Politik gestellt werden. Von politischen Programmen bis hin zu einzelnen Sachentscheidungen muss also das Informationsangebot reichen. Dies führt bereits zur nächsten Funktion, der 2) Mitwirkung an der Meinungsbildung: Die Meinungsbildung ist verständlicherweise der politischen Entscheidung vorgeschaltet. Die Rolle der Massenmedien im Prozess „[…] ergibt sich aus der Überzeugung, in der Demokratie sei allen am meisten damit gedient, wenn Fragen von öffentlichem Interesse in freier und offener Diskussion erörtert werden.“ 17 Wie weit sich die Medien zum Anwalt bestimmter Interessen machen dürfen oder sollen, ist allerdings umstritten. 3) Kontrolle und Kritik: „Ohne Presse, Funk und Fernsehen, die Missstände aufspüren und durch die Berichte unter anderem parlamen- 15 Vgl. Wolfgang Bergsdorf: Die vierte Gewalt. Einführung in die politische Massenkommunikation. 2., verb. Aufl. Mainz: v. Hase u. Koehler 1982, S. 14. 16 Ich folge hier der Unterteilung von: Hermann Meyn: Massenmedien in Deutschland. Neuauflage 2004. Unter Mitarbeit von Hanni Chill. Konstanz: UVK 2004, S. 23-29. 17 Ebd., S. 25. 100 Einheit 5 tarische Anfragen und Untersuchungsausschüsse anregen, liefe die Demokratie Gefahr, der Korruption oder der bürokratischen Willkür zu erliegen.“ 18 Der als „4. Rundfunk-Urteil“ bezeichnete Spruch des Bundesverfassungsgerichts vom 4. November 1986 formulierte wichtige Grundlagen für das sogenannte duale Rundfunksystem in Deutschland (öffentlich-rechtlicher und privater Rundfunk können unter bestimmten Bedingungen koexistieren) und erläuterte, dass die öffentlich-rechtlichen Massenmedien einem Binnenpluralismus verpflichtet sind, 19 also ein vielfältiges Angebot machen und zugleich parteipolitisch neutral zu bleiben haben; es müssen die unterschiedlichsten Meinungen zu den verschiedensten Themen artikuliert werden können. Medien erfüllen ihre gesellschaftliche Funktion, indem sie Informationen selektieren und aufbereiten. Journalisten sind stets auch ‚gate-keeper‘, sie entscheiden also, was als Nachricht das Tor passieren darf und was nicht; der größte Teil der Informationen, die sie sichten, wird gar nicht veröffentlicht. Das System der Verbreitung von Nachrichten ist gestaffelt, die wichtigste Quellen sind - vor den selbst recherchierten Artikeln - Meldungen von Nachrichtenagenturen und Presseinformationen (etwa von Pressestellen). Die im deutschsprachigen Raum ansässigen oder mit Niederlassungen vertretenen Nachrichtenagenturen AFP, AP, APA, Dow Jones, ddp, dpa, epd, KNA, sid, sda und Reuters haben sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen. 20 Die Abkürzungen bedeuten: ▶ AFP = Agence France-Presse, mit Hauptsitz in Frankreich, vgl. http: / / www.afp.com/ deutsch/ home; ▶ AP = Associated Press, mit Ursprungsland USA, vgl. http: / / www.ap-online.de; ▶ APA = Austria Presse Agentur mit Hauptsitz in Wien, vgl. http: / / www.apa.at; ▶ Dow Jones = spezialisiert auf Wirtschafts- und Finanznachrichten, kommt aus den USA, vgl. http: / / www.dowjones.de; ▶ ddp = Deutscher Depeschendienst, mit Sitz in Berlin, vgl. http: / / www.ddp.de; ▶ dpa = die 1949 gegründete Deutsche Presse-Agentur mit Zentrale in Hamburg ist der, wohl wegen des Heimvorteils, in Deutschland am meisten genutzte Anbieter, vgl. http: / / www.dpa.de; ▶ epd = der Evangelische Pressedienst mit Sitz in Frankfurt / Main ist im Kulturbereich aktiv, vgl. http: / / www.epd.de; 18 Ebd., S. 26f. 19 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ 4._Rundfunk-Urteil (abgerufen am 29.08.2008). 20 Vgl. http: / / www.die-nachrichtenagenturen.de (abgerufen am 01.09.2008, dieses Abrufdatum gilt auch für die oben angegebenen Webseiten der Agenturen). 101 Einheit 5 ▶ KNA = die Katholische Nachrichten-Agentur mit Sitz in Bonn berichtet vor allem über kirchliche Themen, vgl. http: / / www.kna.de; ▶ sid = der Sport-Informations-Dienst mit Sitz in Neuss liefert das Expertenwissen für viele Sportteile, vgl. http: / / www.sid.de; ▶ sda = die Schweizerische Depeschenagentur ist die dritte nationale Agentur im Bunde mit entsprechendem Nachrichtenschwerpunkt, vgl. http: / / www.sda.ch; ▶ Reuters = gilt als die älteste Nachrichtenagentur der Welt modernen Stils (seit 2008 mit dem internationalen Namen Thomson Reuters), setzt Schwerpunkte in den Bereichen Politik und, vor allem, Wirtschaft, vgl. http: / / de.reuters.com. Die Entstehung der Nachrichtenagenturen ist eng an den technischen Fortschritt geknüpft, doch wurde das Konzept der Verbreitung von Nachrichten bereits im ausgehenden Mittelalter revolutioniert, zunächst hatte dies ganz handfeste ökonomische Gründe: Der erste Nachrichtendienst stammt aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Der Augsburger Jakob Fugger ließ sich seinen Geschäftsbriefen immer Nachrichten aus dem jeweiligen Ort hinzufügen. Da seine Geschäftsbeziehungen weit in Europa und der Welt verstreut waren, organisierte er somit einen Nachrichtendienst und war immer über das politische Geschehen informiert. 21 Die Vorläufer der heutigen Agenturen waren Nachrichtengroßhändler, beispielsweise Charles-Louis Havas (1783-1858), der ein Unternehmen mit seinem Namen 1835 in Paris gründete. Zur Firmengeschichte von Reuters liefert die Homepage des Unternehmens eine gute Zusammenfassung der Anfänge zu Beginn der 1850er Jahre: Paul Julius Reuter, a German born immigrant, arrives in London from Aachen where he has been running a news and stock price information service using a combination of technology including telegraph cables and a fleet of carrier pigeons that grows to exceed 200. This helps Reuter establish an enviable reputation for speed, accuracy, integrity and impartiality. Reuter opens an office with the help of an 11 year-old office boy at 1 Royal Exchange Building in London’s financial centre and located close to the main telegraph offices. He transmits stock market quotations and news between London and Paris over the new Dover-Calais submarine telegraph cable, using his “telegraph expertise.” 22 21 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Nachrichtenagentur#Deutschsprachige_Nachrichtenagenturen (abgerufen am 01.09.2008). Die hier gesammelten Nachrichten waren allerdings nicht zur Veröffentlichung gedacht, wie es bei Nachrichtenagenturen der Fall ist. 22 Vgl. http: / / thomsonreuters.com/ about/ company_history/ #1890_-_1799 (abgerufen am 01.09.2008). 102 Einheit 5 Das Kabel gibt Reuter einen technologischen Vorsprung, schon bald kann er Büros in verschiedenen Ländern eröffnen. Aus heutiger Sicht nicht unproblematisch ist die Geschichte der ältesten deutschsprachigen und hier für lange Zeit bestimmenden Agentur. Eine gute Zusammenfassung bietet die Online-Enzyklopädie Wikipedia: Wolffs Telegraphisches Bureau (W.T.B.) wurde im Jahre 1849 von dem jüdischen Verlags- und Nachrichtenunternehmer Dr. Bernhard Wolff (1811-1879) in Berlin gegründet. Wolff war der Besitzer der Berliner „National-Zeitung“ und veröffentlichte nach Freigabe des Telegrafen für private Nachrichten 1849 in seiner Zeitung den ersten Kurszettel, der telegrafisch aus Frankfurt am Main und London kam. Wegen der hohen Kosten einigte sich Wolff mit anderen Berliner Zeitungsverlegern und Privatleuten über den gemeinsamen Bezug der Börsennachrichten. So entstand das „Telegraphische Correspondenz-Bureau (B. Wolff)“, das später in „Wolffs Telegraphisches Bureau (W.T.B.)“ umbenannt wurde. Anfangs verbreitete das W.T.B. nur kommerzielle, bald aber auch politische Nachrichten. Seit dem Jahre 1868 veröffentlichte es die amtlichen Nachrichten der preußischen Regierung, später auch die der Reichsregierung. Mit der britischen Nachrichtenagentur Reuters und der französischen Havas bestanden seit 1870 Verträge über einen gegenseitigen Austausch von Nachrichten. Vor dem Ersten Weltkrieg war das W.T.B. eine der größten Unternehmungen seiner Art. Es hatte Agenturen und Einzelvertreter in allen Teilen der Erde, von denen es Nachrichten empfing, und denen es solche lieferte. […] Allein in Deutschland wurden 300 Personen beschäftigt. […] Am 1. Januar 1934 verstaatlichten die Nationalsozialisten […] das W.T.B. und die zum Hugenberg-Konzern gehörende Telegraphen-Union (T.U.) und ließen sie in dem von ihnen gegründeten staatlichen Deutschen Nachrichtenbüro aufgehen. 23 Der Vorteil der Agenturen ist, dass sie in kurzer Zeit viele Nachrichten zur Auswahl bereit stellen können; von täglich weit über 1.000 bei der dpa eingehenden Meldungen wird „gut die Hälfte“ weitergegeben. 24 Der Nachteil ist, dass sich die Massenmedien, die auf sie zurückgreifen, auf die Selektion und Präsentation der Agenturen weitgehend verlassen müssen. Ein Blick in die Tageszeitungen genügt, um zu sehen, dass es nicht zuletzt durch die Agenturberichte zu einer gewissen Uniformierung in der Berichterstattung kommt. Insbesondere kleinere Redaktionen können es sich nicht leisten, mehrere Agenturen zu abonnieren und Meldungen zu vergleichen; ebensowenig haben sie die Zeit und das Personal, die Agenturmeldungen zu überprüfen oder substantiell zu bearbeiten. Ihre Tätigkeit besteht lediglich im Auswählen und Einpassen ins eigene Medienformat. 23 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Wolffs_Telegraphisches_Bureau (abgerufen am 01.09.2008). 24 Vgl. Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 198. 103 Einheit 5 Staatliche Einflussnahme erfolgt heute in demokratisch organisierten Gesellschaften in der Regel nicht direkt, das wäre bei unabhängigen Nachrichtenagenturen und wie Unternehmen geführten Massenmedien auch nicht möglich. Aber staatliche Institutionen selektieren vor und wählen Präsentationsformen, die aus Zeit- und Kostengründen von den Agenturen oder den Massenmedien übernommen werden. Natürlich wird sich die Institution immer auf das Mehr an Information berufen, das durch eine aktive Öffentlichkeitsarbeit erreicht wird. Das deutsche Bundespresseamt mit seinen rund 120 MitarbeiterInnen ist für den Einfluss und Stellenwert solcher Unternehmungen ein gutes Beispiel. 25 Presseorgane unterliegen, das sei noch einmal hervorgehoben, dem Außenpluralismus, ebenso wie (mit kleinen Einschränkungen) die privaten Rundfunk- und Fernsehanbieter; hier genügt die Vielzahl der Zeitungen und Zeitschriften, der Rundfunk- und Fernsehsender als Garant für die Meinungsvielfalt, während für die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehsender wegen der Begrenztzeit der Kanäle, der hohen Kosten für Produktion und Unterhalt und der Gebührenfinanzierung das Gebot des Binnenpluralismus gilt - sie müssen alle relevanten Parteien und gesellschaftlichen Gruppierungen in zentralen, die Öffentlichkeit betreffenden Fragen zu Wort kommen lassen und dürfen sie, je nach ihrer Bedeutung, nicht benachteiligen oder bevorzugen. Rundfunk und Fernsehen 26 in Deutschland und Österreich lassen sich in öffentlich-rechtliche und private Sender aufteilen; in der Schweiz ist das Schweizer Fernsehen (SF) zwar privatrechtlich organisiert, aber mit staatlicher Billigung. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht mit seinen Fernsehurteilen von 1961, 1971 und 1981 die Grundlage für die duale Rundfunkordnung gelegt, 27 d.h. seitdem können öffentlichrechtliche und private Sender nebeneinander existieren, wenn sie sich an bestimmte Spielregeln halten. Und der Gesetzgeber muss „sicherstellen, dass der Rundfunk nicht einer oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert wird“. 28 Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bildeten sich in Anlehnung an das Vorbild der British Broadcasting Corporation (BBC). Der Österreichische Rundfunk (ORF) unterhält in jedem der neun Bundesländer ein Landesstudio. Die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) ist ein Zusammenschluss von neun regionalen Anbietern, die Auslandsrundfunkanstalt Deutsche Welle kommt noch dazu. Das Gemeinschaftsprogramm Das Erste 25 Vgl. http: / / www.bundesregierung.de/ Webs/ Breg/ DE/ Bundesregierung/ Bundespresseamt/ DasAmtimUeberblick/ das-amt-im-ueberblick.html (abgerufen am 01.09.2008). 26 Rundfunk lässt sich in Hörrundfunk und Fernsehen unterteilen oder, so wie hier, als Synonym für Hör(rund)funk verwenden und dem Begriff des Fernsehens an die Seite stellen. 27 Vgl. Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 135. 28 Zitiert nach ebd., S. 136. 104 Einheit 5 war früher das einzige bundesweit ausgestrahlte Fernsehprogramm, heute kann man die regionalen Fernsehprogramme über Kabel oder Satellit meist auch in den anderen Teilen Deutschlands oder in Österreich und der Schweiz empfangen. Als zweites in der ganzen Bundesrepublik ausgestrahltes Fernsehprogramm kam 1961 das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) mit Sitz in Mainz dazu. Gemeinsam mit der ARD, dem ORF und dem SF ist das ZDF für das Programm des Kulturkanals 3SAT verantwortlich. Der Kinderkanal, Phoenix, Arte und andere Spartenprogramme ergänzten im Laufe der Zeit das Angebot der Öffentlich-Rechtlichen, dazu kommen die von ihnen verantworteten zahlreichen Rundfunksender (von Ö1 bis NDR Info). Die weitverbreiteten öffentlich-rechtlichen Sender Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur sind selbständig und unter dem Dach des Deutschlandradions zusammengefasst. In den letzten Jahren wurden die Hörfunksender auf digitale Verbreitung umgestellt, dazu wurde das an die Sender gekoppelte Angebot im Internet immer weiter ausgebaut. Zeitungen und Zeitschriften unterliegen einem „Tendenzschutz“, 29 d.h. es ist ihnen als Presseorgan gestattet, eigene Meinungen zu vertreten. Die Verleger können eine Linie des Blattes vorgeben, in deren Rahmen die Redakteure und freien Mitarbeiter operieren. Diese müssen sich allerdings nicht vorschreiben lassen, welche Artikel sie unter ihrem Namen zu veröffentlichen haben. 30 Die Öffentlich-Rechtlichen haben vom deutschen Bundesverfassungsgericht den Auftrag der massenmedialen Grundversorgung zugewiesen bekommen: Grundversorgung bedeutet, dass im Prinzip dafür Sorge getragen sein muss, dass für die Gesamtheit der Bevölkerung Programme angeboten werden, die umfassend und in der vollen Breite des klassischen Rundfunkauftrags informieren, und dass Meinungsvielfalt in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise gesichert ist. 31 In den Aufsichtsgremien, den Rundfunk- und Fernsehräten sind unterschiedliche Bevölkerungsgruppen repräsentiert. An der Zusammensetzung entzündet sich aber immer wieder Kritik, entweder weil sich bestimmte Gruppen benachteiligt sehen oder weil andere, insbesondere Parteien und die mit ihnen eng zusammen arbeitenden Verbände, einen zu großen Einfluss auf die Programmplanung nehmen, wobei sie mangels Sachverstand gar nicht kompetent zum Entscheidungsfindungsprozess beitragen können. 32 Den privaten Anbietern wiederum ist die Finanzierung der Öffentlich-Rechtlichen durch Rundfunk- und Fernsehgebüh- 29 Vgl. Fechner: Medienrecht, S. 224f. 30 Vgl. ebd., S. 227f. 31 Ebd., S. 268. 32 Vgl. Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 145ff. 105 Einheit 5 ren ein Dorn im Auge. Die einen sehen sich als Hüter der Demokratie, die anderen als die wahren Verfechter der Publikumsinteressen. Freilich sind auch die privaten Anbieter vom Bundesverfassungsgericht gehalten, ein „Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit und Sachlichkeit“ zu gewährleisten. 33 Interessant ist, dass im deutschsprachigen Raum das sogenannte Pay- TV, also das Abonnement- oder Bezahlfernsehen (v.a. mit Premiere), kaum Erfolg hat, während es beispielsweise in Großbritannien, das mit der BBC für die Öffentlich-Rechtlichen Pate stand, Riesenerfolge feiert. Größter Anbieter und Monopolist bei den Qualitäts-Spartenprogrammen auf der Insel ist British Sky Broadcasting, ein Unternehmen des Medienmoguls Rupert Murdoch, der heute aber nicht mehr Alleineigentümer ist. Ähnlich wenig Beachtung finden die sogenannten Offenen Kanäle, wie beim Bezahlfernsehen waren die USA Vorbild. „Dem Offenen Kanal liegt die Idee zu Grunde, dass jedermann die Möglichkeit geboten werden soll, Beiträge für das Fernsehen (oder auch den Hörfunk) selbst zu planen und herzustellen.“ 34 Über Jahrhunderte prägten die sogenannten Printmedien die öffentliche Meinungsbildung, diese Entwicklung nimmt ihren Anfang an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit: Johann Carolus aus Straßburg war der erste, von dem bislang bekannt ist, dass er auf die Idee kam, die handschriftlichen „Zeitungen“ [Sammlungen von Neuigkeiten] zu sammeln und durch Druck vervielfältigt in wöchentlichem Abstand zu veröffentlichen. Er gründete schon 1605 seine „Relation“. 35 Die ersten Zeitschriften im modernen Sinne entstanden in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und wurden im 18. Jahrhundert zum wichtigsten Verständigungsmedium des (in der Zeit entstehenden) Bürgertums. Rudolf Stöber hat einen Kriterienkatalog erstellt, wie sich Zeitungen und Zeitschriften heute voneinander unterscheiden lassen: Moderne Zeitungen zeichnen sich durch Aktualität, Periodizität, Publizität und Universalität aus. Die Aktualität und Periodizität hängen ebenso eng zusammen wie eine umfassende Publizität nur bei umfassender, universaler Berichterstattung erreicht werden kann. Mit den vier Kriterien lässt sich die Tagespresse trennscharf von anderen Medien wie den Zeitschriften abgrenzen. 36 33 Fechner: Medienrecht, S. 269. 34 Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 179. 35 Rudolf Stöber: Deutsche Pressegeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 2., überarb. Aufl. Konstanz: UVK 2005 (UTB 2716), S. 63. - Neben Carolus’ Relation ist der Wolfenbütteler Aviso zu nennen. Zur interessante Vergleiche mit heute ermöglichenden Gestaltung vgl. Thomas Schröder: Die ersten Zeitungen. Textgestaltung und Nachrichtenauswahl. Tübingen: Narr 1995. 36 Stöber: Deutsche Pressegeschichte, S. 61. 106 Einheit 5 Zeitungen erscheinen täglich (optional sonntags), Zeitschriften in der Regel wöchentlich oder monatlich. Zeitungen sind eher großformatig, Zeitschriften kleinformatig, Zeitungen haben eher weniger, Zeitschriften mehr Seiten. Zeitungen tendieren zu einer möglichst umfassenden und aktuellen Berichterstattung über Weltereignisse, die Aktualität von Zeitschriften richtet sich nach ihrem Erscheinungsrhythmus. Überdies sind die Fachzeitschriften (z.B. für bestimmte Berufsgruppen) oder ‚Special- Interest‘-Zeitschriften, die sich an eine spezielle Zielgruppe richten (z.B. Hundehalter), und die Publikumszeitschriften (z.B. Frauenzeitschriften) in der Überzahl. Bei Zeitschriften wie Spiegel, Stern oder Focus, die eine möglichst universale Berichterstattung anstreben, spricht man auch von Magazinen. Von Presse, Rundfunk und Fernsehen lassen sich die „Neuen Medien“ unterscheiden, wobei sich „definitorisch nicht genau fassen“ lässt, was der Begriff meint. 37 Verbindendes Element ist der Computer. Dem Begriff können also beispielsweise Computerspiele und natürlich vor allem das Internet zugeordnet werden. Allerdings sind die Anbieter ‚traditioneller‘ Massenmedien dazu übergegangen, auch eine starke Präsenz im Bereich der Neuen Medien und vor allem des Internet zu entwickeln. Öffentlich-rechtliche Rundfunksender bieten Beiträge als Podcast (Hördatei) an, der private Fernsehsender Kabel Eins unterhält ein aufwändiges Filmlexikon, 38 viele Zeitungen haben ihre Archive digitalisiert und bieten Recherchemöglichkeiten. Die Liste der Beispiele ließe sich nahezu beliebig verlängern. Auch im Feld der Literatur gibt es ein reichhaltiges Angebot an Zeitschriften. Einen Überblick vermittelt beispielsweise die Sammlung des Innsbrucker Zeitungsarchivs / IZA (http: / / iza.uibk.ac.at), das dort archivierte Spektrum reicht von Akzente bis Zwischenwelt. Am bekanntesten im deutschsprachigen Raum dürfte die Zeitschrift Literaturen sein, die seit 2000 im Friedrich Berlin Verlag erscheint (vgl. die Homepage http: / / www. literaturen.de) und von der bekannten Literaturkritikerin Sigrid Löffler gegründet und geleitet wurde. Mittlerweile läuft in Innsbruck auch die Archivierung von elektronischen Literatur und Kulturmagazinen (http: / / www.uibk.ac.at/ germanistik/ dilimag/ index.html). Die meisten Literaturzeitschriften haben kleine Auflagen, wenig Anzeigen und sind daher ehrenamtliche Initiativen, die Herausgeber haben in der Regel einen Brotberuf, der ihnen die nötige finanzielle Unabhängigkeit gibt, ihrem Hobby - der Literatur und ihrer Vermittlung - nachzugehen. 37 Vgl. Fechner: Medienrecht, S. 331. 38 Vgl. http: / / www.kabeleins.de/ film_dvd/ filmlexikon (abgerufen am 15.09.08). 107 Einheit 5 Bedeutung und Ausgestaltung der Pressefreiheit Wichtigstes Stichwort in diesem Zusammenhang ist Medien- oder (mit dem älteren, eingeführten Begriff) „Pressefreiheit“, sie „kann als Thermometer gelten, an dem man ablesen kann, wie es um die politische Freiheit in einem Lande überhaupt bestellt ist“. 39 Einschränkung der Pressefreiheit erfolgt durch Zensur - sie hat eine lange Geschichte und beginnt mit der Entwicklung von Öffentlichkeit. Die historischen, im Mittelalter und der Frühen Neuzeit die politische Macht verkörpernden Institutionen Adel und Kirche setzen sich mit Hilfe der Zensur gegen beginnende Versuche der Teilhabe an Entscheidungen zur Wehr, die letztlich alle Menschen eines Gemeinwesens betrafen. Die sogenannte Revolution von 1848 schaffte im damaligen Deutschen Bund, also in den österreichischen, preußischen und anderen unter diesem Dach zusammengeschlossenen Territorien, für kurze Zeit die Zensur ab. Trotz der bald einsetzenden Reaktion war es von nun an für die Regierenden schwieriger, Kritik an ihren politischen Handlungen oder am politischen System überhaupt zu unterbinden. Das Reichspressegesetz des Deutschen Reiches von 1874 bietet entsprechend ein zwiespältiges Bild. Einerseits wurden Zensurmaßnahmen - insbesondere durch Präventivzensur (Unterbinden von Meinungen, bevor sie überhaupt geäußert worden sind) - untersagt, andererseits konnte der Reichstag „weiterhin mit einfacher Mehrheit die Pressefreiheit einschränken oder aufheben“. 40 Dazu kam der Einfluss des Staates auf die Medien, wofür ein ganzes Arsenal von Möglichkeiten zur Verfügung stand, die von der Versorgung der (damals nur vorhandenen) Printmedien mit einseitigen Informationen bis hin zu informellen persönlichen Verbindungen zwischen den wichtigen Akteuren im öffentlichen Diskurs reichten. In der Weimarer Republik wurde in Artikel 118 der Verfassung festgeschrieben: Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht. Eine Zensur findet nicht statt … 41 Allerdings konnte, was später dann auch geschah, dieses Recht durch Notverordnungen der Regierung eingeschränkt und schließlich außer Kraft gesetzt werden. 39 Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 31. 40 Ebd., S. 33. 41 Zitiert nach ebd. 108 Einheit 5 Im Nationalsozialismus wurden die Zuständigkeiten hierarchisch-autoritär im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gebündelt, die Pressefreiheit wurde durch ein ausgeklügeltes Zensursystem abgelöst. Erst das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sorgte für eine neue Verankerung der Pressefreiheit, die nunmehr nur durch Zweidrittelmehrheit des Parlamentes außer Kraft gesetzt werden könnte. 42 Der entsprechende Artikel 5 lautet: 1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. 2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. 43 Das Recht auf freie Meinungsäußerung schließt die Informationsfreiheit mit ein, das meint „das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten“. 44 Einschränkungen sind auch durch andere Grundgesetzartikel reglementiert, etwa wenn sie die Menschenwürde betreffen. Es gilt die sogenannte „Wechselwirkungslehre“: „Gesetze, die der Meinungsfreiheit Schranken ziehen, werden dadurch ihrerseits beschränkt, indem sie eng, d.h. die Meinungsfreiheit möglichst schonender Weise ausgelegt werden“. 45 Allgemein lassen sich die Einschränkungen in folgenden Punkten zusammenfassen: ▶ Schutz der persönlichen Ehre; ▶ Schutz der Persönlichkeit; ▶ Schutz des Unternehmens und ▶ Schutz des Staates bzw. seiner Institutionen. 46 Eine Vielzahl von Gesetzen und Urteilen, etwa des Bundesverfassungsgerichts, differenziert die Pressefreiheit aus, ohne sie jedoch im Kern anzutasten - auch wenn es Fälle gibt, in denen Bedenken bestehen, dass genau dies geschieht. So gibt es nach den Landespressegesetzen die Möglichkeit, Auskünfte aus Gründen der Geheimhaltung zu verweigern. 47 Als regelrechte Zensurinstanz wird von Kritikern die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien gesehen, früher „Bundesprüfstelle für ju- 42 Zu der etwas komplizierter aufgebauten Mediengesetzgebung in Österreich vgl. die Informationen auf http: / / www.bka.gv.at/ site/ 3478/ Default.aspx (abgerufen am 15.09.08). 43 Zitiert nach Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 39. 44 Fechner: Medienrecht, S. 43. 45 Ebd., S. 41f. 46 Nach Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 48. 47 Vgl. ebd., S. 42. 109 Einheit 5 gendgefährdende Schriften“. Sie indiziert die verschiedensten Medien vom Buch bis zum Computerspiel. Dafür ist sie demokratisch legitimiert: „Die für die Jugend zuständige Bundesministerin und die Länderregierungen ernennen die Mitglieder.“ 48 Die offizielle Webseite der Prüfstelle informiert über deren Arbeit: Die BPjM entscheidet auf Antrag von Jugendbehörden und der Kommission für Jugendmedienschutz bzw. auf Anregung von anderen Behörden oder anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe über die Jugendgefährdung von Medien (Träger- und Telemedien) und trägt diese in die Liste der jugendgefährdenden Medien ein (Indizierung). Damit unterliegen sie bestimmten Vertriebs-, Verbreitungs- und Werbebeschränkungen und dürfen nur noch Erwachsenen zugänglich gemacht werden. Der „Tatbestand der Jugendgefährdung“ wird wie folgt präzisiert: Träger- und Telemedien, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden, sind als jugendgefährdend zu bewerten. Dazu zählen vor allem unsittliche, verrohend wirkende, zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien sowie Medien, in denen Gewalthandlungen wie Mord- und Metzelszenen selbstzweckhaft und detailliert dargestellt werden oder Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahe gelegt wird. 49 Umstritten sind vor allem Entscheidungen der Bundesprüfstelle (BPS), die Darstellungen von Sexualität und Gewalt betreffen. Wie skandalös die Entscheidungen ausfallen können, hat Anja Ohmer in einer Studie gezeigt. Tatsächlich ist eine Reihe von Entscheidungen der Bundesprüfstelle nachträglich von Gerichten aufgehoben worden. Eine jüngere Entscheidung ist die Indizierung von Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho im Jahr 1991. Heute kann man sagen, dass der Roman (seine Verfilmung kam 2000 mit Starbesetzung in die Kinos) zu den wichtigsten und einflussreichsten Werken der US-amerikanischen Gegenwartsliteratur zählt. Vordergründig werden Gewaltexzesse geschildert, allerdings bleibt offen, ob sich die Taten in der Romanrealität oder nur in der Phantasie der Hauptfigur abspielen. Die Darstellung der Gewalt dient (worauf bereits der Titel hinweist) der Entlarvung der Sinnleere in der US-amerikanischen Gesellschaft, weshalb Ohmer zu Recht feststellt: „Die zentralen Aspekte des Romans werden weder in den Indizierungsanträgen noch in der Indizierungsbegründung der BPS erkannt.“ 50 Das Buch beschäftigte jahrelang die Gerichte: „Nachdem 48 Ebd., S. 62. 49 Vgl. http: / / www.bundespruefstelle.de/ bmfsfj/ generator/ bpjm/ die-bundespruefstelle.html (abgerufen am 31.08.2008). 50 Anja Ohmer: Gefährliche Bücher? Zeitgenössische Literatur im Spannungsfeld zwischen Kunst und Zensur. Baden-Baden: Nomos 2000 (Nomos Universitätsschriften 23), S. 49. 110 Einheit 5 die Indizierung durch die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln zurückgenommen wurde, hat das Oberverwaltungsgericht Münster das Werk durch einen Beschluß vom 12. Juni 1996 erneut indiziert.“ 51 Erst im Februar 2001 wurde das Verbot durch Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster (soweit man dies sagen kann) endgültig aufgehoben. 52 Aus der Analyse der Praxis der BPS zieht Ohmer den Schluss, „[…] daß es trotz verfassungsrechtlich vorbehaltlos garantierter Kunstfreiheit eine Reihe von staatlichen Reglementierungsmechanismen gibt, die mittels Zensur oder Indizierung diese Freiheiten beschränken.“ 53 Die Bundesprüfstelle ist ein Instrument des Jugendschutzes, der sich aber keineswegs darin erschöpft; der Jugendschutz wird durch das Grundgesetz garantiert und durch verschiedene Bundeswie Ländergesetze geregelt. 54 Manche Bürger müssen sich bei der Berichterstattung mehr Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit gefallen lassen als andere, wobei dies davon abhängt, inwieweit das Interesse der Öffentlichkeit gegen die persönlichen Interessen steht. Bei ‚Ereignissen von zeitgeschichtlicher Bedeutung‘ darf berichtet werden und „Fragen von allgemeinem gesellschaftlichem Interesse“ haben Vorrang etwa vor dem Persönlichkeitsrecht. Allerdings muss zuvor eine Abwägung erfolgen, wie groß das öffentliche Interesse wirklich ist und ob es möglicherweise ein Eindringen in einen geschützten Bereich privaten Lebens rechtfertigt. 55 Wenn jemand einen Bericht über einen Empfang anlässlich einer Preisverleihung schreibt und ein Foto macht, muss er nicht erst die Menschen fragen, die abgebildet sind - hier und in anderen Fällen sind die abgebildeten Personen lediglich „Beiwerk“. 56 Heikler als Bildsind „Tonaufzeichnungen“, die nicht ohne Einwilligung der aufgenommenen Person gemacht werden dürfen. 57 Jeder, dessen Äußerungen in den Massenmedien wiedergegeben werden, hat „Anspruch auf korrektes Zitieren“. 58 Man unterscheidet zudem (relative und absolute) Personen der Zeitgeschichte, das sind Menschen, die dauerhaft oder zu bestimmten Zeiten im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen. Die Grenze ist nicht immer klar zu ziehen. Absolute Personen der Zeitgeschichte 59 sind herausragende Politi- 51 Ebd., S. 51. 52 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ American_Psycho (abgerufen am 30.09.08). 53 Ohmer: Gefährliche Bücher? , S. 212. 54 Vgl. Fechner: Medienrecht, S. 150-159. 55 Vgl. ebd., S. 79. 56 Vgl. ebd., S. 82. 57 Vgl. ebd., S. 83. 58 Vgl. ebd., S. 85. 59 Zu den absoluten Personen der Zeitgeschichte vgl. auch ebd., S. 76, zu beiden Begriffen vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Recht_am_eigenen_Bild (abgerufen am 15.09.08). Der Auffassung einer solchen Unterteilung wird widersprochen auf http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Diskussion: Person_ der_Zeitgeschichte (abgerufen am 15.09.08). Für die Zwecke des vorliegenden Buches genügt die Feststellung, dass eine Abwägung zwischen Persönlichkeitsrecht und Informationsrecht zu erfolgen hat und dass bei dieser Abwägung die Frage eine Rolle spielt, wie bekannt die fragliche Person ist oder noch ist. 111 Einheit 5 ker wie die oder der Bundeskanzler/ in, relative Personen der Zeitgeschichte wären beispielsweise Bürgermeister. Ein Bundeskanzler muss sich auch nach seiner Amtszeit Fragen zu seinem persönlichen Verhalten gefallen lassen, etwa Gerhard Schröder, wenn er Posten in großen Unternehmen wie bei dem russischen Monopolisten Gazprom übernimmt. Auch Privates, etwa eine neue Ehe, die der ehemalige Außenminister Joschka Fischer eingeht, kann von Interesse sein, insofern Fischer weiterhin international als ein Repräsentant Deutschlands wahrgenommen wird, auch wenn er kein öffentliches Amt mehr bekleidet. Was ein Bürgermeister in seinem Privatleben so treibt ist ohnehin weitgehend tabu, solange es nicht seine Amtsführung beeinträchtigt. Allerdings steht es jedem frei, öffentlich Berichten über seine Person zu widersprechen. Das bekannteste Mittel ist die Gegendarstellung, die ein Medium unter bestimmten Voraussetzungen an vergleichbarer Stelle wie den inkriminierten Bericht abdrucken muss. Eine Gegendarstellung ist aber nicht ganz leicht zu verfassen, denn sie muss sich auf Tatsachen beziehen und diese logisch widerlegen, ohne direkt wertend zu sein. 60 Wenn die massenmedial verbreiteten Tatsachenbehauptungen nachweisbar falsch sind, kann eine Berichtigung, eine Richtigstellung oder ein Widerruf verlangt werden, falls wichtige Informationen fehlen, auch eine Ergänzung. 61 Schwieriger ist die Lage, wenn es sich bei dem Anstoß erregenden Artikel nicht um einen Tatsachenbericht, sondern um einen meinungsbetonten Artikel wie einen Kommentar handelt. In dem Fall gelten größere Spielräume, denn eine subjektive Meinung gibt nicht die Meinung der Redaktion oder eine repräsentative Auffassung zu einer Person oder einem Thema wieder. In der Praxis ist bei den Printmedien, bei tatsachenwie meinungsbetonten Artikeln, das bevorzugte Mittel des Widerspruchs der Leserbrief, den die Redaktionen oftmals sogar gern abdrucken, um eine Diskussion über das Thema des Berichts zu fördern, denn das verspricht erneute bzw. andauernde Aufmerksamkeit. Freilich gibt es auch Fälle, in denen Journalisten Menschen in ihren Persönlichkeitsrechten verletzen. Dies geschieht beispielsweise bei der sogenannten „Schmähkritik“: Von einer Schmähkritik muss gesprochen werden, wenn es nicht mehr um eine sachliche Auseinandersetzung geht, sondern lediglich die Person des anderen in den Augen der Öffentlichkeit herabgewürdigt werden soll. Das gilt insbesondere bei der Verwendung von Schimpfworten […]. 62 Unterschieden werden kann zwischen der „Verleumdung“, der „üblen Nachrede“ und der „Beleidigung“. Die ersten beiden Kategorien setzen eine 60 Zu den Voraussetzungen für eine Gegendarstellung vgl. Fechner: Medienrecht, S. 101-104. 61 Vgl. ebd., S. 105-111. 62 Ebd., S. 41. 112 Einheit 5 Tatsachenbehauptung voraus, letztere bezeichnet ein Werturteil, das eine Person herabwürdigen soll. 63 Um Ihnen ihre Arbeit im Dienst der öffentlichen Meinungsbildung zu erleichtern, stattet das Gesetz Journalisten mit größeren Rechten aus als Normalbürger. So haben Medien und Journalisten ein Zeugnisverweigerungsrecht, 64 um Informanten zu schützen, die sonst nicht dazu bereit wären, zur Aufklärung von Normverstößen oder Skandalen beizutragen. Wenn die Strafverfolgungsbehörden dennoch versuchen sollten, Recherchen auf den Grund zu gehen, dann stoßen sie auf das Redaktionsgeheimnis und das damit verbundene Beschlagnahmeverbot, das ihnen die Durchsuchung von redaktionellen Räumen weitgehend untersagt. 65 Ausgenommen sind Medienarbeiter, die der Beteiligung an einer Straftat verdächtig sind oder Gegenstände verstecken, die mit einer Straftat in Verbindung stehen. 66 Journalisten haben außerdem eine „Sorgfaltspflicht“, denn was sie berichten, muss sachlich und in der Bewertung stimmen oder doch zumindest plausibel sein. 67 Die Träger öffentlicher Ordnung, und zwar alle Institutionen vom Bundeskanzleramt bis zur kleinen Gemeindeverwaltung, haben üblicherweise einen in den Landespressegesetzen geregelten „Anspruch auf Auskunftserteilung“. 68 Deshalb unterhalten größere Behörden eine Pressestelle, die sich um die Vermittlung von Informationen bemüht, Anfragen bearbeitet und zugleich die Arbeit der eigenen Institution in ein günstiges Licht rückt. Allerdings steht dieser Anspruch auf Auskunft nicht jedem Bürger, sondern nur Presseangehörigen zu, weil sie eine ‚öffentliche Aufgabe‘ zu erfüllen haben. Es gibt Gründe, weshalb Behörden die Auskunft verweigern dürfen, etwa wenn es sich um ein schwebendes Verfahren handelt. 69 Eines der bekanntesten Beispiele einer Konfrontation von Staatsmacht und ‚Vierter Gewalt‘ ist die sogenannte Spiegel-Affäre, ausgelöst durch einen Artikel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel im Oktober 1962 über die Bundeswehr, mit dem vielsagenden Titel „Bedingt abwehrbereit“. Der Spiegel-Herausgeber und einige Mitarbeiter wurden wegen Landesverrats verhaftet, die Redaktionsräume durchsucht und umfangreiches Material beschlagnahmt. Der Bundesgerichtshof hielt die Anklage gegen das Magazin aber für so unbegründet, dass er nicht einmal ein Verfahren eröffnete. 70 Um Auswüchse der Meinungsfreiheit zu verhindern, gibt es Selbstverpflichtungen und die von den Massenmedien eingerichtete Institution des Presserats: 63 Vgl. ebd., S. 73. 64 Vgl. ebd., S. 219ff. 65 Vgl. Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 44, und Fechner: Medienrecht, S. 237. 66 Vgl. Fechner: Medienrecht, S. 238. 67 Vgl. Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 47, und Fechner: Medienrecht, S. 240f. 68 Ebd., S. 233. 69 Vgl. ebd., S. 234f. 70 Vgl. Meyn: Massenmedien, S. 52f. 113 Einheit 5 Der Deutsche Presserat ist eine Organisation der großen deutschen Verleger- und Journalistenverbände: Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger e.V. (BDZV), Verband Deutscher Zeitschriftenverleger e.V. (VDZ), der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) und die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju), sowie den IG Medien. Gegründet wurde der Presserat am 20. November 1956 nach dem Vorbild des britischen „Press Council“, um ein geplantes Bundespressegesetz zu verhindern. Die Geschäftsstelle befindet sich in Bonn. 71 Das härteste Sanktionsmittel des Presserats ist eine öffentliche Rüge, die das betroffene Medium veröffentlichen muss. 72 Von Kritikern wird der Presserat aber als zahnloser Tiger gesehen, der selten und wenig systematisch eingreift. Der Schweizer Presserat wurde 1877 gegründet und hat 21 Mitglieder. Rechtliche Befugnisse sind ihm nicht gegeben, er kann nur Empfehlungen abgeben. 73 In Österreich ist die Situation noch weniger reglementiert: „Der Österreichische Presserat, eine freiwillige Instanz der österreichischen Medien zur Selbstkontrolle, ist seit 2002 de facto bedeutungslos. Nach dem Austritt der Kronen Zeitung, die häufig das Ziel von Beschwerden gewesen war, sehen sich auch die anderen österreichischen Zeitungen nicht mehr an Sprüche des Presserats gebunden.“ 74 Zur Theorie der Massenmedien „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (Niklas Luhmann). 75 Die Welt entzieht sich weitgehend unserer Wahrnehmung, was wir beobachten können, sind Fragmente, und unserer Beobachtungsgabe können wir auch nur bedingt trauen. Das merkt jeder, wenn er sich streitet - unterschiedliche Sichtweisen auf den scheinbar gleichen Gegenstand sind an der Tagesordnung. Auch ein Blick in die Massenmedien zeigt, dass dort Meinungen und Positionen aufeinander prallen. Die Massenmedien sind ein „Effekt der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft“, 76 in der es so viele Handlungen, Orte, Berufe, Produkte, kurz: Ereignisse und (natürlich auch historisch gesehen) Wissen gibt, dass ein einzelner Mensch damit überfordert ist. Die 71 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Deutscher_Presserat (abgerufen am 29.08.2008). 72 „2003 hat der Presserat 20 öffentliche und sechs nicht-öffentliche Rügen sowie 49 Missbilligungen und 55 Hinweise ausgesprochen. 2004 waren es 27 öffentliche und sieben nicht-öffentliche Rügen, 37 Missbilligungen und 40 Hinweise. 2005 erteilte der Presserat 25 öffentliche und vier nichtöffentliche Rügen.“ Vgl. ebd. 73 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Schweizer_Presserat (abgerufen am 29.08.2008). 74 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Medien_in_Österreich (abgerufen am 29.08.2008). 75 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag 2004, S. 9. 76 Ebd., S. 10. 114 Einheit 5 Massenmedien selektieren vor. Was sie an Nachrichten bieten, dient zur Orientierung in der immer komplexer gewordenen Welt und suggeriert eine zumindest partielle Übersichtlichkeit. Dies geschieht mit Hilfe technischer Mittel, insofern unterscheidet man die Massenmedien auch nach - wie bereits erläutert - den ‚Kanälen‘, die sie nutzen, wobei das Internet immer mehr Funktionen übernimmt und dessen Nutzung weiter steigt: „Der Bildschirm wird immer mehr zur zentralen Instanz im Alltag der Menschen als Arbeitsgerät, Informationsterminal, Bildungs- und Unterhaltungsmedium.“ 77 Fernsehen, Hörfunk und Internet vermischen sich zunehmend durch die Digitalisierung der audiovisuellen Medien und es ist denkbar, dass Fernsehprogramme in Zukunft nicht mehr traditionell in chronologischer Folge auf einzelnen Kanälen, sondern als Angebote auf Webseiten zur Verfügung stehen. Auch Printmedien nutzen immer mehr die Möglichkeiten des Internet, man spricht hierbei von „Crossmedia- Strategie[n]“. 78 Ein Vorläufer solcher Entwicklungen und immer noch populäres Angebot ist der Teletext, der täglich allein in Deutschland über neun Millionen Nutzer verzeichnen kann, die sich durchschnittlich sieben Minuten lang informieren. 79 Die Qual der Wahl gilt angesichts der wachsenden Zahl der Medien und ihrer Informationsangebote mehr denn je: „Immer weiter öffnet sich die Schere zwischen dem technisch Möglichen und meiner knappen Lebenszeit. […] Je stärker die Informationsflut anschwillt, desto dringlicher wird das Bedürfnis nach einer neuen Dienstleistung, die man Service des Sinns nennen könnte.“ 80 Das meiste nehmen wir, angesichts unserer Unfähigkeit, Informationen „parallel [zu] prozessieren“, aber nur als „Rauschen“ wahr. 81 Um Rezipienten und damit Kunden zu gewinnen, buhlen Massenmedien um Aufmerksamkeit. Je größer die Aufmerksamkeit ist, die sie generieren können, desto höher ist die Zahl ihrer Rezipienten und damit auch das Geld, das sie erwirtschaften können, durch Einnahmen wie Direktverkauf oder Abonnements und vor allem durch Werbung. 2002 betrug der Werbeaufwand in Deutschland rund 20,7 Milliarden Euro, davon entfiel rund ein Viertel auf Zeitungen, knapp ein Fünftel auf das Fernsehen, knapp zehn Prozent auf Publikumszeitschriften und gut acht Prozent auf Anzeigenblätter. 82 Als ein Prinzip, das die heutigen Gesellschaften insgesamt strukturiert und vom individuellen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ausgeht, ist aus 77 Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 11. 78 Vgl. ebd., S. 15. 79 Vgl. ebd., S. 21. 80 Bolz: Das ABC der Medien, S. 24. 81 Vgl. ebd., S. 22 u. 25. 82 Michael Meyen: Mediennutzung. Mediaforschung, Medienfunktionen, Nutzungsmuster. 2., überarb. Aufl. Konstanz: UVK 2004 (UTB 2621), S. 57. 115 Einheit 5 der Ökonomie des Marktes die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ 83 hervorgegangen. Im größeren Rahmen - etwa dem der Massenmedien - lassen sich neben den wirtschaftlichen auch soziale oder kulturelle Gratifikationen erlangen, durch ‚gute‘ (also an den Normen und Werten des massenmedialen Betriebs ausgerichtete) Arbeit lässt sich der eigene Status verbessern, indem man Karriere macht oder in anderer Weise ‚belohnt‘ wird. Zudem spielt die vom System der Massenmedien generierte Aufmerksamkeit im Gesamtsystem Gesellschaft eine bedeutende Rolle: Der verbindliche Stil unserer Epoche ist eine Medienästhetik, weil alles, was öffentliche Geltung gewinnen will, entweder durch die Medien hindurch muß oder in der Konkurrenz mit der Attraktionskraft der Medien bestehen muß. Die Ästhetik, die der organisierte Kampf um die Aufmerksamkeit eines tendentiell weltweiten Publikums hervorbringt, ist weniger ein Kunstals ein Überlebensstil. […] Ein Symbolismus, der durch die Medien erst so recht zum Zug kommt, ist der der Marken. Eine Marke symbolisiert […] das Image. 84 Insofern kann man den Medien unterstellen, zur Steigerung von Aufmerksamkeit solche ‚Marken‘ zu prägen. Dies geschieht auf den verschiedensten Ebenen - etwa der personalen (z.B. des Kommentators einer Nachrichtensendung), der des Mediums (z.B. die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder der Radiosender Ö3 als Marke, mit der bestimmte Merkmale verbunden werden, bei der FAZ Seriosität, bei Ö3 Aktualität…), der einer bestimmten Sendung (z.B. Frontal21 im ZDF als besonders kritisch-aufklärerisch) usw. Auch in der Öffentlichkeit stehende Personen können durch die massenmediale Vermittlung zu solchen Marken werden, die möglicherweise weit über ihre Bedeutung für die Realität der Rezipienten hinausgeht (etwa Dieter Bohlen und die Sendung Deutschland sucht den Superstar). Oftmals scheint hier die ‚Verpackung‘, also die Inszenierung den Inhalt zu ersetzen, ganz im Sinne des oft zitierten Satzes von Marshall McLuhan: „The medium is the message.“ 85 Das Medium oder die Sendung ist ein Produkt wie andere, umgekehrt können anderen Produkten auch mediale (vermittelnde) Eigenschaften zugeschrieben werden. Die von den Massenmedien gezeigte Realität ist also immer eine konstruierte; zugespitzt ließe sich sogar sagen, dass es „jenseits der Illusion“ keine „Realität“ gibt. 86 Selbst bei den in den Massenmedien gezeigten Menschen handelt es sich um ein „soziales Konstrukt“, 87 das sich aber nicht nur den Zuschreibungen bestimmter Merkmale durch die Massenmedien 83 Hierfür grundlegend: Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. Ungek. Ausg. München: dtv 2007. 84 Ebd., S. 174f. 85 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Marshall_McLuhan (abgerufen am 05.09.2008). 86 Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 137. 87 Ebd., S. 135. 116 Einheit 5 verdankt, sondern auch den Prägungen des rezipierenden Individuums verpflichtet ist. Dieses ist wiederum in seiner Herkunft, Wahrnehmung etc., kurz: in seiner Sozialisation einmalig auf der Welt, auch wenn es viele Parallelen zu anderen Individuen gibt und es viele Wahrnehmungsmuster insbesondere mit bestimmten Gruppen teilt, etwa mit Angehörigen einer Nation oder einer gesellschaftlichen Schicht. Bestimmte Normen und Werte führen zu einer spezifischen „Beleuchtungseinstellung“, Luhmann spricht hier sogar von „ideologischen oder normativen Vorurteilen“, die „auch bei strenger Bemühung um Neutralität angesichts bekannter Wertekonflikte unvermeidlich“ sind. 88 Da unterschiedliche Auffassungen aufeinander prallen und verbindliche Werte und Normen nur noch gruppenabhängig existieren, müssen sich Individuen zwischen den verschiedenen Konstruktions-, man könnte auch sagen: Interpretationsangeboten von Wirklichkeit entscheiden. Der Konstruktionsprozess von ‚Wirklichkeit‘ ist bestimmten Voraussetzungen unterworfen, die wichtigste lautet: „Der Code des Systems der Massenmedien ist die Unterscheidung von Information und Nichtinformation“. 89 Jeder kennt die Redewendung: Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern. Was die Massenmedien berichten, muss ‚neu‘ sein, und indem sie es berichten, ist es ‚alt‘, also bekannt geworden. In den Worten Luhmanns: „Informationen lassen sich nicht wiederholen; sie werden, sobald sie Ereignis werden, zur Nichtinformation.“ 90 Dabei kann „auch die Information, etwas sei keine Information, informativ“ 91 sein, also etwa die Nachricht, dass eine frühere Nachricht nicht der ‚Wahrheit‘ entspricht (wie sie die Massenmedien zuvor konstruiert haben). Die Selektion der Informationen folgt, um Orientierung bieten zu können, nachvollziehbaren Regeln, so müssen „bestimmte Ursachen bzw. bestimmte Wirkungen herausgegriffen werden“, 92 um Kausalität zu erzeugen. Es gibt eine Tendenz zu Informationsbündeln, was jeder weiß, der abends Fernsehnachrichten schaut und über längere Zeiträume hinweg über die Entwicklung bestimmter Ereignisse auf dem Laufenden gehalten wird: Der gesellschaftsweite Erfolg der Massenmedien beruht auf der Durchsetzung der Akzeptanz von Themen, und diese ist unabhängig davon, ob zu Informationen, Sinnvorschlägen, erkennbaren Wertungen positiv oder negativ Stellung genommen wird. Oft geht das Interesse am Thema gerade davon aus, daß beides möglich ist. 93 88 Vgl. ebd., S. 140. 89 Ebd., S. 36. 90 Ebd., S. 41. 91 Ebd., S. 37. 92 Ebd., S. 140. 93 Ebd., S. 29. 117 Einheit 5 In einen Sinnhorizont lassen sich Nachrichten nur einordnen, wenn sie sich „Kategorisierungen“ unterwerfen, „die Möglichkeitsräume abstecken, in denen der Auswahlbereich für das, was als Kommunikation geschehen kann, vorstrukturiert ist“. 94 Die Rezipienten wären sonst komplett überfordert; sie müssen in etwa wissen, was sie erwartet, wenn sie um 20 Uhr den Fernseher einschalten, die Bild- oder (als relativer Gegensatz) die Süddeutsche Zeitung kaufen. Begleiterscheinungen dieser Funktionsweise der Massenmedien sind die von ihnen gesetzten Zeitvorgaben, die zu einem „geradezu neurotische[n] Zwang in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Kunst“ führen, „etwas Neues bieten zu müssen“. 95 Der Zwang zum Neuen schafft eine „spezifische[n] Unruhe und Irritierbarkeit, die dann mit der Täglichkeit und Wirksamkeit von Massenmedien und mit ihren unterschiedlichen Programmformen wiederaufgefangen werden kann“. Daraus folgt für Luhmann: „Insofern dienen die Massenmedien der Erzeugung und Verarbeitung von Irritation.“ 96 So wird über besonders negative Ereignisse wie Katastrophen und Kriege berichtet, doch gerade durch den strukturierten, scheinbar rationalen Umgang mit diesen Themen lassen sich die Ereignisse einordnen und psychisch verarbeiten (zumindest von denen, die nicht direkt betroffen sind). Das Chaos der Welt lässt sich durch die Massenmedien bis zu einem gewissen Grad nicht nur scheinbar abbilden, sondern auch bändigen. Der Wettbewerb unter den Massenmedien beschleunigt den skizzierten Vorgang: „Ereignisse müssen als Ereignisse dramatisiert - und in der Zeit aufgehoben werden. In einer Zeit, die auf diese Weise schneller zu fließen beginnt.“ 97 Dieses Moment der Beschleunigung hat vielfach zu Kritik und kulturpessimistischen Stimmen geführt, Paul Virilio hat hierfür den Begriff des ‚rasenden Stillstands‘ geprägt. 98 Mit dem Internet, das es zum einen ermöglicht, Botschaften (Emails, Berichte etc.) in Senkundenbruchteilen von einem Ende der Welt zum anderen zu befördern, und das zum anderen virtuelle Welten bereitstellt, die den realen Kategorien von Zeit und Raum enthoben scheinen (z.B. die künstliche Welt von ‚Second World‘), ist ein vorläufiger Endpunkt dieser Entwicklung erreicht. Dazu kommt, dass durch die Dramatisierung der Ereignisse „Normverstöße häufig den Charakter von Skandalen“ annehmen. „Im Falle von Skandalen kann es ein weiterer Skandal werden, wie man sich zum Skandal äußert.“ 99 Der Neuigkeitswert ist also graduell unterschiedlich und steigt mit der zu erzeugenden Spannung. Das betrifft auch die Literatur, 94 Ebd., S. 38. 95 Ebd., S. 44. 96 Ebd., S. 46. 97 Ebd., S. 55. 98 Vgl. Paul Virilio: Rasender Stillstand. Essay. Aus dem Franz. v. Bernd Wilczek. 3. Aufl. Frankfurt/ Main: Fischer 2002. 99 Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 61. 118 Einheit 5 die sich oftmals besser verkauft oder mehr Beachtung findet, wenn sie Auslöser oder Bestandteil eines Skandales ist. 100 Zum Moment der Verarbeitung solcher Irritationen gehört es, dass Normverstöße und Skandale „ein Gefühl der gemeinsamen Betroffenheit und Entrüstung erzeugen“; 101 außerdem führt die Suche der Medien nach neuen Nachrichten zumindest zur partiellen Aufklärung und Bewältigung des Problems. So entsteht ein spezifischer, medienbasierter „Code der Moral“. 102 Für Luhmann sind alle Systeme (als ein solches können die Massenmedien gelten) autopoietische Systeme, das heißt sie sind selbsterzeugend. Im Falle der Massenmedien führt dies dazu, dass über „Ereignisse“ berichtet wird, „die gar nicht stattfinden würden, wenn es die Massenmedien nicht gäbe“. 103 Ein bekanntes Beispiel sind Pressekonferenzen, die ohne massenmediales Interesse überflüssig wären. So entstehen Schemata, 104 auf der Seite der Rezipienten bestimmte Erwartungen, auf der Seite der Medien Formate oder Textsorten (Nachrichtensendungen, Kommentare etc.), auf der Seite der Ereignisse ‚Präsentationsformen‘, an die sich selbst Terroristen halten, wenn sie auf zynische Weise mit einer möglichst großen Zerstörung ein möglichst großes Medieninteresse erreichen wollen. Massenmedien ‚repräsentieren‘ einerseits Realität, andererseits sind sie auch an deren Produktion beteiligt, zumal Medienereignisse Folgehandlungen nach sich ziehen können. 105 Die einzelnen Massenmedien funktionieren, wie bereits angesprochen, auf unterschiedliche Weise. Bildbasierte Massenmedien können durch den Eindruck von Unmittelbarkeit viel überzeugender wirken, 106 allerdings können Printmedien mehr Informationen transportieren. Vor allem für die Werbung, aber auch für die Nachrichten lässt sich das Format, oder besser seine Umsetzung, als ambivalentes Merkmal charakterisieren. Einerseits führt eine besonders gelungene Inszenierung zu einer größeren Breitenwirkung, andererseits lenkt sie von den Inhalten ab. In den Worten Luhmanns: „Gute Form vernichtet Information.“ 107 Ein wichtiges Stichwort heutiger Medien bezeichnet einen weiteren Weg zum Erfolg - Infotainment. Zur Information kommt immer öfter die Unterhaltung. Hierzu wieder Luhmann in seiner beeindruckenden Lakonie: „Sicherlich ist Unterhaltung auch eine Komponente der modernen Freizeitkultur, die mit der Funktion betraut ist, überflüssige Zeit zu 100 Vgl. Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle - Funktionen - Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 101 Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 62. 102 Ebd., S. 64. 103 Ebd., S. 70. 104 Vgl. hierzu genauer ebd., S. 190ff. 105 Während mit Luhmann die „Funktion der Massenmedien“ zweifellos in der „Repräsentation von Öffentlichkeit“ zu sehen ist, vgl. ebd., S. 188. Diese Differenz sollte stets im Auge behalten werden. 106 Vgl. auch ebd., S. 79f. 107 Ebd., S. 87. 119 Einheit 5 vernichten.“ 108 Während Fiktionen im 20. Jahrhundert zunehmend auf die Faktizität der Realität bezuggenommen haben, 109 also fiktive Welten realen nachbauen oder mit fiktiven Welten die reale Welt kommentieren, ist der faktenbasierte Journalismus zunehmend mit Merkmalen von Fiktionen aufgeladen worden. Norbert Bolz kommentiert diese Entwicklung wie folgt: „Die Massenmedien ersetzen die Mythen als Welthorizont.“ 110 An Einzelbeispielen lässt sich dies besonders gut nachvollziehen, etwa wenn die Massenmedien von Werbeagenturen benutzt werden, um bestimmte Inhalte zu kommunizieren, die sich erst im Nachhinein als unwahr herausstellen (aber dann ihren Zweck erfüllt haben). Ein herausragendes Beispiel liefert die Inszenierung des ersten Golfkrieges: Nayirah weinte. Leise erzählte die zierliche Fünfzehnjährige mit dem schwarzen Zopf vor dem US-Senat ihre Geschichte: Irakische Soldaten waren in ihr Krankenhaus in Kuweit eingefallen, hatten die Brutkästen mitgenommen und die Säuglinge auf dem kalten Boden sterben lassen. Die Senatoren waren betroffen. Einige Wochen später, im Jänner 1991, stimmte der Senat für die Operation „Desert Storm“. Erst nach dem Ende des ersten Golfkriegs wurde bekannt: An der Geschichte war kein Wort wahr. Hill & Knowlton hatten die Tochter von Kuweits Botschafter [sic] für den Auftritt trainiert. Ein kuwaitischer Verein zahlte der PR-Agentur 10 Mio. Dollar für das Rühren der Kriegstrommel. 111 Selbst Berichte sind narrativ, sie erzählen heute oftmals Geschichten, wobei das Erzählen lange Zeit mit dem Vermitteln fiktionaler Inhalte verbunden gewesen ist. Ähnliches gilt für die Unterhaltung, deren Vorzug es ist, „eine Selbstverortung in der dargestellten Welt“ zu ermöglichen. 112 Menschen möchten sich mit Ereignissen identifizieren, selbst indem sie sich davon distanzieren, etwa indem sie das Verhalten eines Politikers verurteilen oder (vom Mitleid mit den Betroffenen abgesehen) froh sind, nicht selbst von einer beschriebenen Katastrophe betroffen zu sein. Wichtig ist festzuhalten, dass die Rezeption der Massenmedien - wie alle Kommunikation - auf zwei Ebenen erfolgen kann, auf der identifikatorischen und der reflektierenden. Man kann sich Medieninhalten aussetzen 108 Ebd., S. 96. 109 Vgl. auch ebd., S. 107f. 110 Bolz: Das ABC der Medien, S. 37. 111 Karl Gaulhofer: PR für Staaten: Der Kampf um die Bilder im Kopf. PR-Strategen entscheiden Kriege und locken Investoren. Auch heimische Agenturen mischen mit. In: Die Presse Nr. 18241 v. 22.11.2008, S. 6. - Wikipedia hat etwas andere Daten und streicht die Verbindung zur Bush- Administration heraus: „Kurz nach dem Einmarsch des Iraks nach Kuwait wurde die Organisation ‚Bürger für ein freies Kuwait‘ in den USA gebildet. Sie engagierte die New Yorker PR-Firma Hill & Knowlton für etwa 14 Millionen US-Dollar, deren Hauptgeschäftsführer und Präsident Craig Fuller in den achtziger Jahren als Stabschef für Vizepräsident Bush gearbeitet hatte; die Gelder kamen von Kuwaits Regierung.“ Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Zweiter_Golfkrieg (abgerufen am 25.11.2008). 112 Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 115. 120 Einheit 5 oder man kann sich zusätzlich in eine Beobachterposition begeben und ihr Funktionieren mit berücksichtigen, wie dies Luhmann, der Autor und die Leser dieses Kapitels gerade tun. Nur so lässt sich der Diagnose begegnen, dass die Massenmedien durch ihr laufendes „Fortschreiben von Realitätskonstruktionen […] das immer noch herrschende Verständnis von Freiheit“ untergraben, indem sie „zur Überschätzung der Freiheit anderer führen, während jedem Einzelnen die kognitiven Schranken des eigenen Freiheitsspielraums nur allzu bewußt sind“. 113 Den grundsätzlichen Problemen der Wahrnehmung lässt sich damit allerdings nicht entkommen, denn auch als Beobachter ist man darauf angewiesen, zu selektieren, zu interpretieren und zu werten. Zur Situation der Massenmedien im deutschsprachigen Raum Nach 1945 musste erst ein Prozess der Demokratisierung eingeleitet werden. Die alliierten Streitkräfte verboten zunächst alle Medien; auf die von ihnen verantwortete Herausgabe von Militärzeitungen folgte schließlich die „Herausgabe von deutschen Zeitungen unter alliierter Kontrolle“. Zu den „Blättern der ersten Stunde“ gehörten die Aachener Nachrichten, die Frankfurter Rundschau und der Tagesspiegel. Eine wichtige Rolle im US-amerikanischen Sektor spielte die in München erscheinende Neue Zeitung, 114 für die eine Zeitlang Erich Kästner als Feuilletonchef arbeitete. In der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) waren die Medien nicht frei, eine Gegenöffentlichkeit formierte sich bei wachsender Kritik an der deutschen Ausprägung des Sozialismus vor allem in der Literatur, die allerdings ebenfalls vielfältigen Zensurmaßnahmen ausgesetzt war. In der Nachkriegszeit bildete sich in Deutschland und Österreich (wie ohnehin in der neutralen Schweiz) ein bunter Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt heraus. Man kann in Anlehnung an Meyn 115 heute folgende Zeitungstypen unterscheiden: ▶ Anzeigenblätter, also kostenlose, über Anzeigen finanzierte, meist wöchentlich erscheinende Zeitungen; ▶ Amtsblätter, Träger öffentlicher Verlautbarungen; ▶ überregionale Qualitätszeitungen (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Neue Zürcher Zeitung u.a.), ▶ Wochenzeitungen (z.B. Die Zeit), ▶ Sonntagszeitungen (z.B. Welt am Sonntag), ▶ Straßenverkaufszeitungen (z.B. Bild), ▶ Regionalzeitungen u.a. im Abonnement. 113 Ebd., S. 156f. 114 Vgl. Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 65. 115 Vgl. ebd. 121 Einheit 5 Die Zeitschriften lassen sich untergliedern in ▶ Nachrichtenmagazine wie Der Spiegel, ▶ aktuelle Illustrierte wie Stern, ▶ Frauenzeitschriften wie Brigitte, ▶ Wirtschaftszeitschriften wie Capital, ▶ Special-Interest-Zeitschriften, von dem populären Geographiemagazin Geo bis zur Jugendzeitschrift Bravo, ▶ Verbandszeitschriften - das auflagenstärkste Printmedium im deutschsprachigen Raum fällt in diese Rubrik, es ist die „ADAC-Motorwelt“ mit einer Auflage von über 13 Mio. Exemplaren. 116 Insbesondere das Feld der Zeitschriften ist außerordentlich vielfältig und kaum zu kategorisieren. Für Literaturvermittler wichtig sind die zahlreichen Literatur- und Kulturzeitschriften, die ganz unterschiedliche Profile haben. Besonders bekannt ist die 2000 gegründete, viele Jahre von der Kritikerin Sigrid Löffler betreute Zeitschrift Literaturen, deren Auflage allerdings von der Startauflage 80.000 auf eine Druckauflage von ca. 33.000 sank. 117 Das Spektrum der kleineren Zeitschriften reicht von Akzente bis Zwischenwelt. Dazu kommen zahlreiche Gründungen von Internetzeitschriften zur Literatur. Hier ist die Vielfalt besonders groß, da jeder, der einen Internetzugang hat und die Technik beherrscht, problemlos eine eigene Zeitschrift gründen kann. 118 Der Diskurs über Literatur verlagert sich dabei zum Teil in sogenannte Weblogs (Internet-Tagebücher), die von Lesern wie von Autoren oder anderen Akteuren des Literaturbetriebs unterhalten werden können. Dazu kommen andere Typen mehr, die hier nicht alle genannt sein sollen. Eine besonders hohe Auflage erzielt die sogenannte Boulevard- oder Regenbogenpresse, das sind Zeitungen und Zeitschriften, die vor allem Sensationelles zu berichten haben und es, das belegen Gerichtsurteile, mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen. Wo die Grenze zwischen den anderen Typen und der Regenbogenpresse zu ziehen ist, ist nicht immer ganz leicht zu beantworten. Eine dominierende Stellung auf dem deutschen Nachrichtenmarkt der Printmedien hat weiterhin die zur Regenbogenpresse zählende Bild-Zeitung mit rund vier Millionen Exemplaren Auflage Tag für Tag und mit über 30 Regionalausgaben. „Über Jahrzehnte galt BILD als ein konservatives Kampfblatt.“ 119 Die häufige Kritik an dem Sensationalismus des Blattes, das vor Erfindungen nicht zurückschreckt, schlägt sich auch in populären Witzen nieder, etwa: ‚BILD sprach zuerst mit der Leiche.‘ Einen Skandal 116 Vgl. ebd., S. 115. 117 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Literaturen_(Zeitschrift) (abgerufen am 28.2.09). 118 Eine Vermessung des Feldes und eine Archivierung wichtiger Internetzeitschriften wird im Rahmen des Projekts „Deutschsprachige digitale Literaturmagazine“ (Dilimag) an der Universität Innsbruck unternommen, vgl. http: / / www.uibk.ac.at/ germanistik/ dilimag (abgerufen am 28.2.09). 119 Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 99. 122 Einheit 5 mit Langzeitwirkung verursachte der Reportageband Günter Wallraffs, der sich unter dem Namen Hans Esser in die Bild-Redaktion Hannover einschlich 120 und für sein Buch Der Aufmacher, zuerst veröffentlicht 1977, von Bild mit Prozessen überzogen wurde. Wallraff ist ein gutes Beispiel für die fließende Grenze zwischen Journalismus und Literatur - er arbeitete wie ein investigativer Journalist, veröffentlichte die Ergebnisse aber in Buchform, wobei dem Buch ein Platz im Kanon der Literatur der Nachkriegszeit zukommt. Das größte Problem, das als Gefahr für die Meinungsfreiheit und damit auch für die Demokratie gesehen wird, lässt sich auf den Begriff Konzentration bringen. Bestimmte Medien haben seit langer Zeit eine marktbeherrschende Stellung. Zusammenschlüsse einzelner Medien kommen als weitere Beschränkungen des Außenpluralismus hinzu. In Westdeutschland gab es Mitte der 1950er Jahre 225 sogenannte Vollredaktionen, durch den zunehmenden Kostendruck schrumpfte die Zahl mit der Zeit und es gab zahlreiche Zusammenschlüsse oder Aufkäufe. Die großen Medienverlage bildeten sich: „1976 brachte der Axel Springer Verlag in Hamburg alleine 29 Prozent der Gesamtauflage der Tageszeitungen heraus.“ 121 Springer ist Marktführer in Europa, wenn es um das Geschäft mit Zeitungen geht. 122 An zweiter Stelle liegt die Zeitungsverlagsgesellschaft E. Brost & J. Funke, besser bekannt als WAZ-Gruppe (so genannt nach der auflagenstarken Regionalzeitung Westdeutsche Allgemeine Zeitung), sie ist mit jeweils 48% Teilhaberin an den Wiener Boulevardzeitungen (Neue) Kronen-Zeitung, kurz Krone genannt, und Kurier, dazu kommen Beteiligungen im Hörfunk- und Fernsehbereich. 123 Andere Unternehmen sind deutlich weniger auf das Geschäft mit Nachrichten spezialisiert, beispielsweise Holtzbrinck, einer der großen europäischen Medienkonzerne: Die Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck GmbH ist ein Familienunternehmen mit Sitz in Deutschland. Sie ist in mehr als 80 Ländern tätig und publiziert in klassischen und elektronischen Medien, die der Information und Wissensvermittlung, der Bildung und der Unterhaltung dienen. 124 Zu der Verlagsgruppe gehören neben der Wochenzeitung Die Zeit und dem Tagesspiegel auch bekannte Belletristik- und Sachbuch-Verlage wie der S. Fischer Verlag, der Rowohlt Verlag oder Kiepenheuer & Witsch. Der weltgrößte Medienkonzern kommt ebenfalls aus Deutschland - Bertelsmann. Mit dem Fernseh- und Radioprogramm von RTL, der Verlagsgruppe Random House, zu der etwa der Publikumsverlag Goldmann 120 Vgl. ebd. 121 Vgl. ebd., S. 69. 122 Vgl. ebd., S. 126. 123 Vgl. ebd., S. 129. 124 Vgl. http: / / www.holtzbrinck.com/ artikel/ 778433&s=de (abgerufen am 31.08.2008). 123 Einheit 5 gehört, sowie der Verlagsgruppe Gruner + Jahr (Bertelsmann hält 74,9%) 125 mit Zeitschriften wie Stern und Geo machte das Gütersloher Unternehmen 2007 einen Umsatz von fast 19 Mrd. Euro. 126 Der Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt steckte zum Ende des letzten und Anfang des neuen Jahrtausends in einer tiefen Krise. Der Anzeigenmarkt war rückläufig, und da Tageszeitungen sich zu rund zwei Dritteln aus Anzeigen finanzieren, 127 kam es zur Schließung von Büros und zu einer Entlassungswelle. Durch neues wirtschaftliches Wachstum konnte sich der Zeitungsmarkt zunächst wieder konsolidieren, wobei nach wie vor offen bleibt, welche Konkurrenz das Internet für die Tageszeitungen darstellen wird. Die meisten Zeitungen haben die neue Technologie bereits für sich adaptiert, sie bieten auf ihren Webseiten eine unterschiedlich große Auswahl an Nachrichten, ein Archiv und natürlich Anzeigen sowie die Möglichkeit, selbst welche aufzugeben. Ein Problem, das aus der Abhängigkeit der Massenmedien vom Anzeigenmarkt resultiert, ist die sogenannte Schleichwerbung. 128 Redaktioneller Teil und Anzeigenteil müssen voneinander getrennt sein: „Nach § 4 (3) des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) ist Schleichwerbung unzulässig, weil jede Werbemaßnahme so beschaffen sein muss, dass ihr werbender Charakter von den Angesprochenen erkannt werden kann.“ 129 Durch Ähnlichkeit von Typographie und Layout wird dies oftmals unterlaufen. Dazu kommen, insbesondere bei kleineren Zeitungen oder Fachzeitschriften, Geschäfte auf Gegenseitigkeit, die eigentlich illegal sind - z.B. ‚wenn du über mein neues Produkt einen Bericht veröffentlichst, schalte ich eine Anzeige‘. Ebenfalls eine Frucht der Abhängigkeit ist die immer stärkere Ausrichtung der Medien auf die (manchmal aber vorgeschobenen) Bedürfnisse der Rezipienten, diese werden z.B. bei Printmedien durch Techniken wie ReaderScan oder beim Fernsehen durch die Ermittlung von Einschaltquoten gemessen: Die Readerscan-Methode ist ein elektronisches Verfahren zur Erfassung des Leseverhaltens bei Printmedien. Das Verfahren erlaubt es, in Form einer Lesequote auszuweisen, was Leser und Leserinnen in Zeitungen oder Zeitschriften lesen und bis zu welcher Stelle sie es lesen. Das System zur Erfassung der Lesegewohnheiten mit Hilfe eines Scanners in Stiftform entwickelte der Schweizer Carlo Imboden. 125 Vgl. Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 127. 126 Vgl. http: / / www.bertelsmann.de/ bertelsmann_corp/ wms41/ bm/ index.php? ci=612&language=1 (abgerufen am 31.08.2008). 127 Vgl. Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 71 u. 117: „Von 100 Euro Umsatz stammen aus dem Anzeigengeschäft bei regionalen Tageszeitungen 70 Euro, bei Publikumszeitschriften rund 80 Euro. […] Ohne Anzeigen müsste DIE ZEIT doppelt, DIE WELT fast dreimal und der STERN dreieinhalbmal so teuer sein, um die Kosten zu decken. Solche Bezugspreise sind unrealistisch.“ 128 Vgl. ebd., S. 119f. 129 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Schleichwerbung (abgerufen am 01.09.2008). Vgl. auch Fechner: Medienrecht, S. 168f. u. 293. 124 Einheit 5 120 bis 400 repräsentative Leser erfassen mit einem Handscanner die Artikel und Artikelteile, die sie gelesen haben. 130 Die Ergebnisse dienen den Zeitungen als Anhaltspunkte, welche Rubriken und Themen mehr Platz als andere beanspruchen und wie sie präsentiert sein sollten. Generell gilt: Je mehr Rezipienten der für ein Unternehmen interessanten Zielgruppe, desto höher können die Anzeigenpreise sein. Solche Praktiken haben viel Kritik hervorgerufen, vor allem, wenn sich die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehprogramme an Einschaltquoten orientieren; vom „Quotenfetischismus“ ist die Rede. 131 Auch ohne empirische Untersuchung ist eine Uniformierung und Verflachung des Fernsehprogramms schon durch einen Blick in das sich stark ähnelnde Angebot erkennbar. Größtes Qualitätsmerkmal der Öffentlich-Rechtlichen dürfte aber weiterhin ihr engmaschiges Netz an Regional- und Auslandskorrespondenten sein. Die Konzentration hat zu einer großen Zahl sogenannter Ein-Zeitungs- Kreise geführt, das sind Gebiete, in denen sich die Bürger über das regionale Geschehen nur durch eine Tageszeitung informieren lassen können. Der Mehrheit der Deutschen wird die Wahl ‚ihrer‘ Tageszeitung abgenommen: „Von insgesamt 443 deutschen Kreisen (Landkreise und Städte) waren 2004 bereits 299 nur durch eine tägliche Lokal- oder Regional-Zeitung versorgt.“ 132 Solche Monopolzeitungen haben allerdings Konkurrenz in Regionalbüros größerer Tageszeitungen oder in sogenannten Gratiszeitungen, die in der Regel wöchentlich erscheinen und sich komplett aus Anzeigen finanzieren. 2003 gab es in Deutschland 349 Tageszeitungen mit einer Auflage von 22,6 Mio. Exemplaren. Viele Zeitungen sind allerdings Zusammenschlüsse, haben nur einen anderen Namen oder bekommen den größten Teil zugeliefert, so dass man bei der Zählung der voneinander zu unterscheidenden Zeitungen von ‚publizistischen Einheiten‘ spricht; davon gab es lediglich 134. 133 Im kleinen Österreich ist die Situation vergleichsweise extrem: Der österreichische Printmedienmarkt ist durch die höchste Konzentration in Europa gekennzeichnet. Die auflagenstärkste Tageszeitung, die Kronen Zeitung, kommt auf eine Reichweite von täglich rund 44 Prozent. 134 Dadurch ergibt sich eine ungewöhnlich hohe Leserkonzentration auf ein einziges Medium - drei von 6 Millionen Erwachsenen in Österreich lesen zumindest hin und wieder das Boulevardblatt Kronen Zeitung - sowie folglich eine relativ geringe Vielfalt an Tagespresse-Produkten. Die 130 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Readerscan (abgerufen am 01.09.2008). 131 Vgl. Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 191f. 132 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Einzeitungskreis (abgerufen am 01.09.2008). 133 Vgl. Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 78. 134 Verkaufte Auflage ca. 1 Mio. bei ca. 8,4 Mio. Einwohnern. Die Reichweite ist nicht mit der Auflage identisch, es handelt sich um die empirisch ermittelte Zahl der tatsächlichen LeserInnen. 125 Einheit 5 zweitstärkste Zeitung, die Kleine Zeitung, erscheint zwar nur in Kärnten, der Steiermark und Osttirol, kommt aber dennoch auf etwa zwölf Prozent Reichweite. Die nächstgrößten, österreichweit erscheinenden Tageszeitungen sind der Kurier, mit rund 10 Prozent Reichweite, die am 1. September 2006 gestartete Tageszeitung Österreich mit rund 10-%, der liberale Der Standard (4,9 Prozent) und die bürgerliche Die Presse (4,3 %). 135 In der Schweiz führt die Boulevardzeitung Blick mit 262.262 Exemplaren die Liste der meistverkauften deutschsprachigen Tageszeitungen an, die Neue Zürcher Zeitung kommt auf 145.945 Exemplare (Zahlen von 2005). 136 Mediennutzung und Medienwirkung Da immer mehr Medien um Aufmerksamkeit buhlen, verteilt sich die Zeit entsprechend, in der Individuen Medien nutzen: 1964, als erst gut die Hälfte aller bundesdeutschen Haushalte über ein Fernsehgerät verfügte, hatte das Radio durchaus noch eine hohe Bedeutung im Rahmen der abendlichen Mediennutzung. Damals wurden 89 Minuten Radio gehört und 70 Minuten ferngesehen. 137 Eine beispiellose Karriere hat das Internet genommen. Eine empirische Untersuchung, in Auftrag gegeben von ARD und ZDF, […] weist für 2005 einen durchschnittlichen täglichen Medienkonsum von exakt zehn Stunden (600 Minuten) aus. Das sind gut anderthalb Stunden mehr als im Jahr 2000 (502 Minuten). Die meiste Zeit widmen die Bundesbürger demzufolge im Befragungszeitraum mit 221 Minuten erneut dem Radiohören, unmittelbar gefolgt vom Fernsehen mit 220 Minuten pro Durchschnittstag. Mit 44 Minuten täglicher Nutzung spielt das Internet im Jahr 2005 bereits eine fast gleich starke Rolle wie das Hören von Musik via CD, Musikkassette oder MP3-Player (45 Minuten pro Tag). Das Internet steht damit jetzt knapp hinter den Tonträgern an vierter Stelle im Medienzeitbudget der Bundesbürger. 138 Mit den elektronischen Medien können die Printmedien schon lange nicht mehr mithalten: „Die Tageszeitung wird 28 Minuten täglich gelesen, Bücher 25 Minuten und Zeitschriften zwölf Minuten.“ 139 Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass es sich beim Lesen um eine Kulturtechnik han- 135 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Medien_in_Österreich (abgerufen am 29.08.2008). 136 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Liste_Schweizer_Zeitungen (abgerufen am 01.09.2008). 137 Christa-Maria Ridder u. Bernhard Engel: Massenkommunikation 2005: Images und Funktionen der Massenmedien im Vergleich. Ergebnisse der 9. Welle der ARD/ ZDF-Langzeitstudie zur Mediennutzung und -bewertung. In: Media Perspektiven 9 (2005), S. 422-448, hier S. 422. 138 Ebd., S. 424. 139 Ebd. 126 Einheit 5 delt, die erst mühsam erworben werden muss. Das Sehen im Sinne eines deutenden Wahrnehmens lernen Menschen hingegen bereits ganz am Anfang ihres Lebens. Buchstaben sind abstrakt, Bilder wirken konkret. Doch selbst für das aufmerksame Sehen ist nicht mehr genug Zeit vorhanden: Deshalb setzt sich in allen Lebensbereichen das Zapping als Wahrnehmungsstil durch, also eine rein zeitliche Selektionstechnik. In einer Zeit, in der man keine Zeit zum Sehen hat, braucht man eine Fertigware der Wahrnehmung: Fotos und die Filmchen des Fernsehens. 140 Folgt man dieser kulturpessimistischen Feststellung, dann wäre eine neue Stufe des qualitativen ‚Niedergangs‘ erreicht, den Neil Postman bereits an der Ablösung des Buchs durch das neue Leitmedium Fernsehen festgemacht hat. 141 Wissenschaftlich fundierter hat Pierre Bourdieu ähnliche Bedenken geäußert, dabei das Diktat der „Einschaltquote“ und die „Jagd nach dem Sensationellen, dem Spektakulären, dem Ungewöhnlichen“ als Bedrohung für die Allgemeinbildung herausgestellt. 142 Freilich bleibt dieses Urteil, auch wenn es Medienkenner wie Bolz oder Luhmann im Grunde teilen, eine Frage der Perspektive und vor allem des Gebrauchs, den die Menschen von den Medien und den die Menschen, die Medien machen, von den Menschen machen. Die wichtigsten Nutzungsgründe für das Fernsehen sind, in dieser Reihenfolge, Information, Unterhaltung und Entspannung, allerdings nimmt 2005 im Vergleich zu 2000 das Bedürfnis nach Information zugunsten der Unterhaltung ab. 143 Beim Rundfunk ist die Verteilung etwas anders: „An erster Stelle wird Radio gehört, um Spaß zu haben (90%), gefolgt vom Wunsch, sich zu informieren (84%) und zu entspannen (78 %).“ 144 Bei der Tageszeitung ist der primäre Nutzungsgrund der Befragten mit großem Abstand die Information. 145 Für das Internet stellt sich die Situation weniger eindeutig dar, allerdings bietet es ja auch ein vergleichsweise ausdifferenziertes Angebot. Welche Wirkung die Mediennutzung hat, ist in zahlreichen Studien untersucht worden und dennoch weiterhin umstritten. Relativ am Anfang stand die „Omnipotenzthese“, also die Auffassung, dass die Massenmedien fast unbegrenzten Einfluss auf die Meinungsbildung haben. Die Untersuchungen belegten aber eher das Gegenteil. In den 1950er Jahren schlug 140 Bolz: Das ABC der Medien, S. 29. 141 Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Aus dem Amerik. übers. v. Reinhard Kaiser. 12. Aufl. Frankfurt/ Main: Fischer 1999, S. 17. 142 Vgl. Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen. Aus dem Franz. v. Achim Russer. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1998 (edition suhrkamp 2054), S. 68 u. 72. 143 Vgl. Ridder u. Engel: Massenkommunikation 2005, S. 426. 144 Ebd., S. 427. - Die nachgefragten Kategorien zeigen, dass empirische Untersuchungen nicht unbedingt aussagekräftige Ergebnisse zeitigen… Wo beispielsweise ist die Grenze zwischen „Spaß“ und ‚Entspannung‘ zu ziehen? 145 Vgl. ebd., S. 429. 127 Einheit 5 Joseph Klapper ein „Modell begrenzter Effekte“ vor und entwickelte die „Verstärkerthese“: „Die Medien würden bestehende Meinungen kaum verändern, sondern allenfalls verstärken.“ 146 Kleinteiliger ist die „Stimulus- Response-Theorie“, die annimmt, dass bestimmte Inhalte der Massenkommunikation bestimmte Wirkungen bei den Rezipienten erzeugen. 147 Das setzt jedoch ein vergleichsweise gleichförmiges, kollektives Verhalten voraus. Es gibt aber nicht nur eine Öffentlichkeit, sondern unterschiedliche Öffentlichkeiten, von größeren Gruppen bis zum einzelnen Individuum. Inwieweit bestimmte Inhalte Wirkungen erzeugen, ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen geworden und keineswegs immer konnten hierfür Belege gefunden werden. Andererseits würde Massenkommunikation, die ja wie jede Kommunikation ein zielgerichtetes Verhalten ist, keinen Sinn machen, wenn nicht Wirkungen angenommen werden könnten. In einem differenzierteren Modell lassen sich „Stimuli der Massenkommunikation“ identifizieren, die auf „Einstellungen“ wirken, die wiederum die Variablen 1) „Affekte / Emotion“ („Gefühlsäußerungen“), 2) „Kognition“ („Wissen, Meinungsäußerungen“) und 3) „Verhalten“ (soweit es sich beobachten lässt) betreffen. 148 Werbung ist eher auf Emotionen gerichtet, Nachrichten können / wollen / sollen Wissen erweitern und die Meinungsbildung fördern, beide setzten natürlich auch auf Verhaltensänderungen - ein bestimmtes Produkt soll gekauft werden, Berichte über den Klimawandel sollen zum Energiesparen anleiten etc. Massenkommunikation wirkt dabei durch „Inhalt“ und „Form“, 149 also nicht nur durch das, WAS kommuniziert wird, sondern auch dadurch, WIE es kommuniziert wird - in einem Zeitungsbericht oder einem Zeitungskommentar, in einer Nachrichtensendung, einem Feature im Hörfunk oder im Fernsehen etc. Viele Studien haben hier weitere Aufgliederungen und Typisierungen vorgenommen. 150 Die Glaubwürdigkeit der Quelle hat sich als ein ausschlaggebender Faktor für die Wirkung erwiesen, 151 sie wird durch das Medium (etwa seine Reputation), den Kommunikator (Moderator o.ä.) und vieles mehr beeinflusst, freilich auch durch die Gruppe der Rezipienten bzw. deren Erwartungshaltungen. So werden, um ein einfaches Beispiel zu nennen, Akademiker einem Bericht der Süddeutschen Zeitung eher etwas glauben als einem Bericht der Kronen- oder der Bild-Zeitung. Verschieden kann die Dauer der Glaubwürdigkeit sein, sie wird unter anderem beeinflusst durch die Erinnerung - auch hierfür hat die Medienwirkungsforschung einen Begriff geprägt, den „Sleeper Effekt“, der allerdings nicht unwidersprochen geblieben ist. 152 Die Erinnerung ist ein komplizierter Mechanismus und 146 Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 7. 147 Vgl. ebd., S. 22f. 148 Vgl. ebd., S. 39. 149 Vgl. ebd., S. 42. 150 Vgl. das „Grundmodell der Wirkungsforschung in ebd., S. 49. 151 Vgl. ebd., S. 67ff. 152 Ebd., S. 71ff. 128 Einheit 5 durch die Abhängigkeit von individuellen oder gruppenspezifischen Einstellungen für ein Kollektiv eigentlich nicht vorherseh- oder berechenbar. Entscheidend sind letztlich die „Persönlichkeitsfaktoren“ 153 des oder der Rezipienten, ihre ‚intellektuellen Fähigkeiten‘, ihre Einstellungen etc.; was nicht heißt, dass solche Einstellungen nicht auch über eine größere Zahl von Personen hinweg gleich oder ähnlich sein können. Sogenannte „Kon- 153 Ebd., S. 93. Abb.: Das „Grundmodell der Wirkungsforschung in Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 49. 129 Einheit 5 sistenzmodelle“ geben vor, „daß sich Individuen eher für Informationen interessieren, die konsistent zu ihrem kognitiven System sind, als für welche, die dazu inkonsistent sind“. 154 Vereinfacht gesagt: Ich nehme das wahr, was mir gefällt oder in meinen Erwartungshorizont passt. Noch weniger überprüfbar als kognitive sind emotionale Wirkungsmodelle. Verschiedene Forscher und Forschergruppen legen ihrer Arbeit ein „Konzept der emotionalen Erregung“ zugrunde. 155 Zunächst klingt das sehr plausibel - eine Werbung, die ein gutes Gefühl erzeugt, kann erfolgreich sein. Allerdings ist die Frage, ob eine, je nach Produkt, angenehm beruhigende oder gar eine schockierende Werbung nicht mehr Aufmerksamkeit erregt und vielleicht sogar erfolgreicher ist. Auch hier sind zahlreiche Faktoren zu beachten, die es schwer oder unmöglich machen, die exakte Wirkung bei den Rezipienten, die man ansprechen will, vorherzusagen. Dennoch lässt sich nicht von der Hand weisen, dass Medien Wirkung haben und dass es offenbar Akteure gibt, die eine beabsichtigte Wirkung erzeugen können. Differenzierter ist die Herangehensweise, wenn bestimmte Merkmale berücksichtigt werden, nach denen sich Rezipienten unterscheiden, Michael Meyn nennt in einer Tabelle die folgenden „Einflussfaktoren“: Strukturelle Merkmale Positionelle Merkmale Individuelle und soziale Merkmale Industrialisierung, Einkommen Menschliche Grundbedürfnisse Urbanisierung, Religion Arbeits- und Lebens- Zeitbudget Psychologische Struktur bedingungen Traditionen Tagesablauf Persönliche Lebensgeschichte (auch überlieferte Nutzungsmuster) Medienangebot Stellung im Beruf Medienerfahrungen Freizeitalternativen Bildung Familie, Freunde, Netzwerke Klima Alter Rezeptionssituation Politisches System: Geschlecht Einstellungen, Werte, Rechtsnormen Überzeugungen 156 Freilich ist die empirische Überprüfbarkeit ein Problem, wenn es zahlreiche Merkmale gibt, die sich in vielen Punkten überschneiden. Einzeluntersuchungen werden sich also stets auf einen oder wenige der hier genannten Faktoren beschränken. 154 Ebd., S. 120. 155 Vgl. Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 165. 156 Meyen: Mediennutzung, S. 47. 130 Einheit 5 Ein neueres, noch immer haltbares Erklärungsmodell heißt Agenda- Setting - Medien geben die Themen für den gesellschaftlichen Diskurs vor oder beeinflussen zumindest deren Auswahl: Da die reale Welt kaum noch vollständig direkt bzw. unvermittelt erfaßt werden kann, muß sie in einem einfachen, konsistenten und stabilen Modell rekonstruiert werden. Im Vergleich zur „wirklichen Welt“ entsteht eine sogenannte Pseudoumgebung, die durch die Bilder und persönlichen Vorstellungen geprägt wird, die wir zu rekonstruieren vermögen. Die Medien erleichtern dies uns in besonderem Maße, solche Bilder von der Realität zu entwickeln. Die Macht der Massenmedien liegt daher eher darin, daß diese eine Strukturierung der Realität leisten, die Welt für uns definieren, und weniger in den kurzfristigen Überzeugungswirkungen. 157 Medien prägen „Images“ von Personen, allerdings sind solche Images permanenten Veränderungen unterworfen, sie entstehen und entwickeln sich in einem Prozess. 158 Unterscheiden lassen sich nach McCombs drei Wirkungsmodelle: 1) Das Awareness- oder Aufmerksamkeitsmodell - das Publikum wird auf bestimmte Themen aufmerksam; 2) das Salience 159 -Modell - je nach Gewichtung in der massenmedialen Berichterstattung werden Themen mehr oder weniger beachtet; 3) das Prioritäten-Modell entwickelt diese These weiter und sieht die Medienagenda in der Agenda des Publikums gespiegelt. 160 Das setzt jedoch ein relativ homogenes Publikum voraus - von dem man in der Realität kaum ausgehen kann. Mit unterschiedlichem Rezeptionsverhalten beschäftigt sich die „Wissenskluftforschung“, die von ‚sozialen Kommunikationsbarrieren‘ ausgeht. 161 In jüngerer Zeit ist eine solche Barriere ein Thema bei der Internetnutzung gewesen, aber auch, wenn es um die in den westlichen Gesellschaften überraschend hohe Quote an funktionalen Analphabeten geht. Darunter versteht man Menschen, die keine komplizierten Texte schreiben, lesen oder verstehen können. In Deutschland wird die Zahl der funktionalen Analphabeten auf etwa vier Millionen geschätzt, 162 im viel kleineren Österreich auf ca. 300.000. 163 157 Ebd., S. 195. 158 Vgl. ebd., S. 196f. 159 Engl. „Blickfang“, „Betonung“. 160 Vgl. Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 198f. 161 Vgl. ebd., S. 305. Der Abschnitt zur Wissenskluftforschung stammt von Heinz Bonfadelli. 162 N.N.: In Deutschland gibt es schätzungsweise vier Millionen funktionale Analphabeten. (Pressemeldung des Bundesverbands Alphabetisierung und Grundbildung e.V.) In: Bildungsklick.de, http: / / bildungsklick.de/ pm/ 62716/ in-deutschland-gibt-es-schaetzungsweise-vier-millionen-funktionaleanalphabeten (abgerufen am 05.09.2008). 163 N.N.: 300.000 funktionale Analphabeten in Österreich. In: vorarlberg.vol.at, http: / / www.pfiffikus.at/ eb/ Enquete%2019.9.03%20VOL%20APA.pdf (abgerufen am 05.09.2008). 131 Einheit 5 Als Sammelbegriff für Fähigkeiten der Mediennutzung hat sich der Begriff der Medienkompetenz eingebürgert. 164 Die kompetente Nutzung der Medien wird als „Schlüsselqualifikation“ heutiger Gesellschaften gesehen. Als ein Problem, etwa in der Vermittlungssituation zwischen Lehrern und Schülern, gilt „das generation gap“: „Während Schüler heute selbstverständlich mit Medien aufwachsen, müssen manche Lehrer erst den kompetenten Umgang mit neuen Medien erlernen oder haben sogar Widerstände gegen diese. […] Jüngere Menschen nutzen zudem teilweise andere Medien oder nutzen diese anders als die ältere Generation.“ Ebenfalls aus Sicht der Pädagogik birgt die „Lernwelt der neuen Medien drei Fallen: ▶ die Spaßfalle, da Lernen weiterhin Anstrengung bedeutet […] ▶ die Schnelligkeitsfalle, da Lernen nicht automatisch beschleunigt wird ▶ [die] Effektivitätsfalle, da mediales Lernen nicht effektiver sein muss als nicht-mediales“. 165 Auch in der Vermittlung von medialen Inhalten spielen solche Überlegungen eine Rolle, etwa in der Frage des ‚Produktdesigns‘ durch die Zeitungs-, Zeitschriften- oder Buchverlage oder bei der Inszenierung von Nachrichten im Fernsehen - für ‚spaßbetonte‘ Strategien der Informationsvermittlung hat sich, wie bereits erwähnt, der Begriff des ‚Infotainment‘ eingebürgert. Schon in den 1960er Jahren gab es Studien, die belegten, dass es Differenzen zwischen jenen Individuen gibt, die viel oder die wenig fernsehen. Die sogenannte „Vielseherforschung“ 166 war eng mit der Frage nach dem aus zu großem Fernsehkonsum erwachsenden Gewaltpotential verknüpft. Aus der Vielseherforschung ergab sich ein populär gewordenes Erklärungsmodell: Die Kultivationshypothese (auch: Kultivierungsthese) geht auf die Vielseherforschung des Medienwissenschaftlers George Gerbner zurück. Gerbner untersuchte in den 70er Jahren die Rolle des Fernsehens bei der Vermittlung des Weltbildes der Rezipienten. Seine These: Gerade Vielseher, also Menschen, die mehrere Stunden täglich fernsehen, werden durch das Fernsehen kultiviert und sehen die Welt so, wie sie im Fernsehen vermittelt wird. Das Fernsehen sieht er also als Sozialisationsinstanz, die bei den Konsumenten verzerrte Vorstellungen von der Realität erzeugt. 167 Allerdings ließen sich nach Kontrolluntersuchungen solche Zusammenhänge nicht mehr eindeutig nachweisen. (Zur Problematik von Medien und Gewalt mehr im nächsten Abschnitt.) Die Analysemethoden wurden 164 Zu einigen zentralen Aspekten der Begriffsgeschichte und -definition vgl. Norbert Groeben u. Bettina Hurrelmann (Hg.): Medienkompetenz. Voraussetzungen, Dimensionen, Funktionen. Weinheim u. München: Juventa 2002. 165 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Medienkompetenz (abgerufen am 05.09.2008). 166 Vgl. Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 344. 167 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Kultivationshypothese (abgerufen am 05.09.2008). 132 Einheit 5 verfeinert und eine neuere Untersuchung an 200 Schülern im Alter von 11 bis 15 Jahren kam zu folgendem Ergebnis: Die Schüler wurden in jeder Altersstufe nach ihrem Fernsehkonsum in Viel- und Wenigseher eingeteilt. Vielseher verbrachten rund ein Drittel der Freizeit mit fernsehen. Im Vergleich zum Schulunterricht ergab sich beim häuslichen Fernsehen eine hohe emotionale Beanspruchung, die bei den jüngeren Schülern und den Wenigsehern stärker als bei den älteren und den Vielsehern war. Vielseher zeigten während der Freizeit eine geringere körperliche Aktivität, und ältere Vielseher waren in der Schule stärker beansprucht als Wenigseher. Es ergaben sich weiterhin mehrere Verhaltensunterschiede. So führten Vielseher weniger Gespräche, hatten seltener Kontakt zu Gleichaltrigen und eingeschränkte Interessen. Zudem wiesen sie schlechtere Noten im Deutschunterricht auf. 168 Die Leitdifferenz der Medienkompetenz lässt sich an dem Gegensatzpaar aktiv / passiv festmachen. Während z.B. Vielseher eher passive Nutzer sind, also weniger selektiv vorgehen und wenig über das Gesehene reflektieren, zeichnen sich die aktiven Nutzer oftmals durch ihre zielgerichtete Auswahl von Kanälen oder Inhalten und den überlegten Gebrauch aus, den sie davon machen. Es ist folglich Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen, welchen ‚Nutzen‘ und welche Belohnungen oder Gratifikationen Rezipienten durch den Medienkonsum haben. 169 Kritische Ansätze betonen besonders die eskapistischen oder gar ‚narkotisierenden‘ Wirkungen, die von den Massenmedien ausgehen können: 170 Der typische eskapistische Inhalt läßt sich durch folgende Merkmale charakterisieren: (1) Er lädt den Zuschauer ein, seine wirklichen Probleme zu vergessen, (2) sich passiv zu entspannen, (3) erzeugt Emotionen, (4) lenkt ab von den Normen und Regeln der Realität, (5) bietet Vergnügen und stellvertretende Erfüllung von Wünschen. 171 Nun muss die eskapistische Mediennutzung nicht grundsätzlich negativ zu bewerten sein, 172 sie kann Phasen aktiver und realitätsorientierter Mediennutzung sogar sinnvoll ergänzen. Letztlich hängt es wieder von dem individuellen Mischungsverhältnis und kontextuellen Faktoren ab, welche Probleme ein solcher Umgang mit Medien aufwerfen kann. 168 Michael Myrtek: Folgen des Fernsehens bei Kindern und Jugendlichen. In: Das Online-Familienhandbuch des Staatsinstituts für Frühpädagogik (IFP), http: / / www.familienhandbuch.de/ cmain/ f_Aktuelles/ a_Kindliche_Entwicklung/ s_742.html (abgerufen am 05.09.2008). Das Jahr der Untersuchung wird nicht angegeben, die letzte Änderung des Artikels war am 26.09.2006, es ist also davon auszugehen, dass die Studie jüngeren Datums ist. 169 Vgl. Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 379ff. 170 Vgl. ebd., S. 380. 171 Ebd., S. 381. 172 Zur Kritik an dem Ansatz vgl. ebd., S. 419f. 133 Einheit 5 Medien und Gewalt Besonders umstritten ist die Frage der Medienwirkung, wenn es um Gewaltdarstellungen geht. Hier stehen sich unterschiedliche Positionen ebenso unerbittlich wie sich gegenseitig ausschließend gegenüber, und für jede dieser Positionen gibt es empirische Belege, die allerdings bei näherer Prüfung nicht immer standhalten. Empirische Studien sind nur so gut wie ihre Prämissen und ihre Durchführung. Altehrwürdig und weiterhin beliebt ist die sogenannte Katharsistheorie, sie lässt sich bereits auf den griechischen Schriftsteller und Philosophen Aristoteles zurückführen. Eine ‚Reinigung der Affekte‘ soll durch die Darstellung von Gewalt eintreten: „Die Ausführung eines jeden aggressiven Aktes habe eine kathartische Wirkung in dem Sinne, daß dadurch der Anreiz zur Ausführung anderer aggressiver Akte verhindert werde.“ 173 Empirisch ließ sich diese These aber ebenso wenig belegen wie differenzierte Behauptungen, etwa dass emotionale Erregung oder das Zeigen der Folgen aggressiver Akte für eine kathartische Wirkung die Voraussetzung sei. 174 Selbst wenn es eine solche Wirkung gäbe, würde sich noch die Frage stellen, ob bei einer Aggressivitätsreduktion das Durchleben von Aggressionen oder die „Aktivierung von Hemmungstendenzen“ ausschlaggebend ist, 175 ob also nicht vielmehr gesellschaftlich vermittelte Tabus, Normen und Werte greifen. Die Habitualisierungsthese steht auf empirisch sichereren Füßen. Sie geht davon aus, „[…] daß ein einzelner Film bzw. eine einzelne Fernsehsendung kaum in der Lage sind [sic], Einstellungen dauerhaft zu verändern bzw. gar Persönlichkeitsstrukturen zu modifizieren. Es werden vielmehr kumulative, lang fristige Effekte betont.“ 176 Zwar lassen sich Verhaltensveränderungen belegen, doch stehen sich unterschiedliche Interpretationen gegenüber. Das Beobachten von fiktiver Gewalt soll, so wird behauptet, einerseits zum Abnehmen realer Gewalt führen und andererseits durch Gewöhnung an aggressives Verhalten diesem den Weg ebnen. Immerhin konnte eine Studie Anfang der 1960er Jahre klar zeigen, dass Kinder im Alter von 4-6 Jahren ihnen auf einem Video gezeigtes, gewalttätiges Verhalten imitierten. Allerdings waren die gezeigten Handlungen und die Spielsituationen nahezu identisch, was bei fiktionalen Inhalten in Film und Fernsehen im Vergleich zu realen Situationen der Kinder normalerweise nicht der Fall ist. 177 Auch die These der Wirkungslosigkeit von Gewaltdarstellungen ist vertreten worden, sie baut vor allem auf der Kritik an Studien auf, die 173 Ebd., S. 167. Das Kapitel zur Gewaltforschung stammt von Michael Kunczik. 174 Vgl. ebd., S. 168. 175 Vgl. ebd., S. 169. 176 Ebd., S. 173. 177 Vgl. ebd., S. 175f. 134 Einheit 5 einen Einfluss nachweisen wollen, aber hierfür wenig ergiebige Daten produzieren. 178 Heute weiß man: Auch Gewaltdarstellungen wirken auf Individuen mit unterschiedlicher Sozialisation auf unterschiedliche Weise. Allerdings gibt es Studien, die belegen, dass bestimmte Individuen oder Gruppen durchaus von Gewaltdarstellungen in den Medien in ihrem eigenen Aggressionsverhalten beeinflusst werden können. 179 Insbesondere bei Kindern sind solche Bezüge immer wieder nachgewiesen worden: Singer und Singer stellen in einer sich über den Zeitraum von einem Jahr erstreckenden Langzeitstudie bei 3bis 4-jährigen Kindern aus einem Mittelschichtmilieu fest, daß Kinder mit einem starken Fernsehkonsum die vergleichsweise am wenigsten entwickelten Fähigkeiten besitzen. Gewalttätige Fernsehsendungen würden „einen deutlichen Einfluß auf die Aggressivität der Kinder nehmen“. 180 2003 wurde ein ähnlicher Befund veröffentlicht: Wenn Kinder vielen Gewaltprogrammen im Fernsehen ausgesetzt sind, werden sie mit höherer Wahrscheinlichkeit zu aggressiven Erwachsenen. Zu diesem Schluss kommt eine Langzeitstudie der Universität Michigan. Während das Ergebnis nicht überraschte, bezeichneten Experten die Untersuchung dennoch als bedeutend, da Hunderte Teilnehmer untersucht worden seien und der gleiche Effekt bei Mädchen und Jungen beobachtet worden sei. […] Dabei spielte es keine Rolle, wie aggressiv die Testpersonen in ihrer Kindheit waren. Huesmann erklärte, die Gewalt im Fernsehen suggeriere Kindern, dass Aggressionen in bestimmten Situationen angemessenen seien. Dies gelte besonders, wenn ein charismatischer Held Gewalt anwende. Gleichzeitig werde eine natürliche Abneigung gegen Gewalt langsam herabgesetzt. Der Forscher empfahl Eltern, ihre Kinder so weit wie möglich vor Gewaltprogrammen zu schützen. 181 Nicht nur Kinder, auch z.B. psychisch weniger gefestigte Erwachsene sind solcherart beeinflussbar. Da Gewaltdarstellungen im Fernsehen weit überproportional häufig vorkommen, lässt sich zudem feststellen: „Regelmäßiger Fernsehkonsum ist gleichbedeutend mit dem regelmäßigen Konsum violenter Programme.“ 182 Die im vorigen Abschnitt zitierten Studien zur Gewaltforschung haben gezeigt, dass der soziale Status der Eltern oder ihr soziales Verhalten 178 Vgl. ebd., S. 178f. 179 Vgl. ebd., S. 177f. 180 Ebd., S. 181. 181 N.N.: Gewalt im Fernsehen lässt Kinder aggressiv werden. In: 3sat.online (http: / / www.3sat.de/ 3sat. php? http: / / www.3sat.de/ nano/ news/ 44000/ index.html; abgerufen am 03.09.2008). 182 Schenk: Medienwirkungsforschung, S. 187. 135 Einheit 5 einen großen Einfluss auf das Aggressionsverhalten von Kindern haben, oder anders gesagt: Dass sie in der Regel den Rahmen bereitstellen, der über den Erfolg der Verarbeitung von rezipierter Gewalt entscheidet. Auch hier lassen sich aber wohl keine pauschalen Aussagen machen - jedes Individuum ist anders und es hat genauso Fälle von Gewalt gegeben, die scheinbar grundlos waren, also keine bekannten Erklärungsmuster bestätigen konnten. Die Bedeutung interpersonaler Kommunikation für die Wirkung der Massenmedien Bei der Herausbildung von Einstellungen und Beeinflussung von Handlungen durch massenmediale Inhalte spielt die Kommunikation über diese Inhalte in Gruppen eine ganz entscheidende Rolle. Menschen sind soziale Wesen, ihre Identität bilden sie in der Kommunikation mit anderen heraus, und zwar lebenslang. Das Ich hat keine Persönlichkeit ohne ein Du; die Ich-Identität und die Wir-Identität, die personale und die Gruppen- Identität bedingen sich gegenseitig. Insofern wird der Begriff der Masse (in Massenmedien), der früher eine Menge aus „voneinander isolierten, heterogenen und anonymen Rezipienten“ bezeichnete 183 oder alternativ eine homogene, beeinflussbare Menge, heute wesentlich differenzierter verstanden. Katz und Lazarsfeld beispielsweise identifizierten als wesentliche Einflussfaktoren ‚Gruppennormen‘ und ‚interpersonale Netzwerke‘, sie betonten den ‚Nutzen konformen Verhaltens‘ zu dort herrschenden Normen und die sich daraus für die Individuen ergebende Hilfe bei der „Deutung der sozialen Realität“. 184 Innerhalb solcher Netzwerke und Gruppen wurden Meinungsführer oder, auf Englisch, ‚opinion leaders‘ identifiziert, die einen größeren Einfluss auf die Meinungsbildung als die Medien ausüben konnten. Daraus ergab sich das Modell eines „Two-step-flow of Communication“: Die Ideen werden von den Meinungsführern aufgenommen, bearbeitet und dann an weniger Interessierte weiter vermittelt. 185 Allerdings stellte sich bald heraus, dass es unterschiedliche Typen von Meinungsführern gibt und dass der Kommunikationsfluss nicht so linear ist, wie das Modell suggeriert. Meinungsführer nutzen die Medien nicht häufiger und viele Nachrichten werden von den Medien an die Individuen direkt vermittelt. 186 Dennoch dürfte nicht von der Hand zu weisen sein, dass es innerhalb von Gruppen und Netzwerken Individuen gibt, die eine stärkere Stellung haben als andere und die auch in der Bildung von Mei- 183 Vgl. ebd., S. 231. 184 Vgl. ebd., S. 233f. 185 Vgl. ebd., S. 245. 186 Vgl. ebd., S. 259. 136 Einheit 5 nungen und Einstellungen einen größeren Einfluss nehmen. In der Folge gab es Studien, die eine Diffusion von - etwa durch die Medien verbreiteten - Meinungen und Einstellungen in die Bevölkerung untersuchten und von einer ‚mittleren Reichweite‘ solcher Vermittlungsprozesse ausgingen. Dabei wurden verschiedene Mechanismen der Bearbeitung mit in den Blick genommen, etwa die Spezifika der Kommunikationskanäle oder die Werte bestimmter Gruppen und Netzwerke. Daraus resultierte das sogenannte S-M-C-R-E-Modell: 187 Source Message Channel Receiver Effects (Quelle) (Aussage) (Kanal) (Empfänger) (Wirkungen) Auch dieses Modell hat den Nachteil, einen linearen Kommunikationsfluss anzunehmen und Störfaktoren, Umwelt- und Kontexteinflüsse, Rückkoppelungseffekte etc. nicht zu berücksichtigen. Mit dieser Einschränkung lässt es sich jedoch gut als Orientierungshilfe verwenden. Das Buch als Medium Bis ins beginnende 20. Jahrhundert war das Buch das Leitmedium, die ‚schöne‘ Literatur oder Belletristik hatte im Bereich der Künste die zentrale Stellung inne. Wenn, wie beschrieben, in der Konkurrenz der Massenmedien im Zeitbudget der Rezipienten das Buch, und damit auch die Belletristik, kaum noch eine Rolle spielt, so ist dennoch, zumindest im deutschsprachigen Raum, ein weiterhin hohes Sozialprestige der Literatur und ihrer Vertreter zu beobachten. Autoren werden zu Marken stilisiert. 188 Die zahlreichen Literaturpreise und -stipendien strahlen nicht nur auf die Preisträger und Stipendiaten, sondern auch auf die preisverleihenden Institutionen aus. 189 In der Berichterstattung der Medien wird Schriftstellern eine öffentliche Funktion als Sprachrohr und moralisches Gewissen der Gesellschaft zugeschrieben. An dieser Rolle müssen sie sich dann auch messen lassen, ob sie wollen oder - wie beispielsweise Martin Walser - dies ablehnen und eine medienkritische Perspektive einnehmen. 190 Leseförderung wird heute großgeschrieben, zahlreiche Initiativen bemühen sich, die Bedeutung des Bücherlesens wieder stärker in den Vordergrund 187 Vgl. ebd., S. 283. 188 Vgl. Marc Reichwein: Diesseits und Jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Inszenierung von Paratexten. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle - Funktionen - Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 89-99. 189 Vgl. die eindrucksvolle Liste auf http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Literaturpreis (abgerufen am 16.09.08). 190 Vgl. Stefan Neuhaus: Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers und seine Vorgeschichte(n). Oldenburg: bis-Verlag 2004 (Bibliotheksgesellschaft Oldenburg: Vorträge - Reden - Berichte 43). 137 Einheit 5 zu rücken. Das Buch als Medium ist keineswegs ein Auslaufmodell, es nimmt auch in der Mediengesellschaft einen ganz zentralen Platz ein. 191 Literaturvermittlung dockt an die Möglichkeiten an, die Medien zur Verfügung stellen - was nicht heißt, dass sie nicht kritisch damit umgehen kann. Ein innovatives, das heißt: stets auch kritisch prüfendes Potential wird sogar vorausgesetzt, um im Feld der Literaturvermittlung erfolgreich zu sein. Allerdings darf man dabei gewisse, oftmals ungeschriebene und nur schwer herauszufindende Grenzen nicht überschreiten. In den anderen Kapiteln dieses Buches wird gezeigt, wie bestimmte Berufsfelder mit den Medien arbeiten - Literaturkritiker, Lektoren und andere. Journalismus als Beruf(ung) Wer Geisteswissenschaften studiert, möchte oft gern ‚irgendwas mit Medien‘ machen. Viele werden Journalisten, wobei der Journalismus kein geschützter Lernberuf ist wie Bäcker oder Schreiner. Die Meinungsfreiheit in einer Demokratie erlaubt keine besonderen Vorgaben. Die Bildungswege der allein in Deutschland über 70.000 hauptberuflichen Journalisten sind entsprechend unterschiedlich, das gilt auch für die Beschäftigungsverhältnisse vom fest angestellten Redakteur bis zum freien Mitarbeiter. In der Regel hat heute jemand, wenn er von Beruf Journalist wird, ein Hochschulstudium absolviert und nebenbei praktische Erfahrungen im Medienbereich gesammelt. Die Wahl des Studiums ist oft gar nicht so wichtig, wenn auch für manche Medien oder Redaktionen bestimmte Studienrichtungen besser geeignet sind als andere. Zum Wirtschaftsjournalisten wird man eher durch ein Studium der Betriebswirtschaft als durch eines der Germanistik, zumindest sollte man sich entsprechende Kenntnisse im Zweit- oder Nebenfach angeeignet haben. Die ‚Lehre‘ im Journalistenberuf ist das Volontariat, das sich an ein Hochschulstudium anschließen kann, wobei die Dauer ganz unterschiedlich ist. Üblich sind zwei Jahre, das Volontariat kann aber für Universitätsabsolventen auf ein Jahr verkürzt werden. Im Volontariat lernt man das praktische Know-how, das man für seinen Beruf benötigt. Zudem gibt es Journalistik als Studiengang, etwa in Dortmund, oder Journalistenschulen, etwa die Henri-Nannen-Schule in Hamburg. (Von solchen praxisorientierten Studienmöglichkeiten sind Publizistik und Kommunikationswissenschaft zu unterscheiden, die v.a. auf empirische und soziologische Forschung setzen.) Doch sind die zu vergebenden Plätze bei diesen speziellen Bildungseinrichtungen so stark limitiert, dass man (in Dortmund) einen exzellenten Notendurchschnitt haben oder (für 191 Vgl. hierzu Heinz Bonfadelli u. Priska Bucher (Hg.): Lesen in der Mediengesellschaft. Stand und Perspektiven der Forschung. Zürich: Pestalozzianum 2002. 138 Einheit 5 Journalistenschulen) ein aufwändiges Bewerbungsverfahren durchlaufen muss. 192 Gute Kompromisse zwischen Theorie und Praxis sind Studiengänge philologischer Fächer mit einem Schwerpunkt in der Literaturvermittlung, wie es sie etwa in Bamberg, Berlin, Innsbruck und Marburg gibt; sie bieten überdies ein solides Rüstzeug an Allgemein- und (je nach Ausrichtung) Spezialwissen. Wer die Regenbogenpresse liest, wird nicht den Eindruck bekommen, dass es ein spezifisches Ethos für Journalisten gibt. Doch täuscht die hohe Auflage oder Reichweite skandalisierender Berichterstattung darüber hinweg, dass der größte Teil der Journalisten seriös arbeitet oder sich zumindest um seriöses Arbeiten bemüht. Wolf Schneider und Paul-Josef Raue nennen daher auch folgende Fähigkeiten, die ein guter Journalist besitzen sollte: 1) „Begabung“ für das Recherchieren und Schreiben; 2) „Charakter“ (hierzu zählen sie Neugier, Streitlust, Rückgrat und Bescheidenheit); 3) „Fachkenntnisse“ im Arbeitsbereich sowie 4) „Weltkenntnis“, also ein genügend großes Wissen über den eigenen Fachbereich hinaus und den nötigen Verstand, mit diesem Wissen produktiv und kritisch umgehen zu können. 193 Wer Geisteswissenschaften studiert und Journalist werden will, träumt oftmals von einer Redakteursstelle im Feuilleton einer der renommierten Tages- oder Wochenzeitungen. In den meisten Fällen wird dies ein Traum bleiben. Realistischerweise sollte man sich, zumindest für den Anfang, um freie Mitarbeit bei regionalen Tageszeitungen oder gar bei Anzeigenblättern bemühen, um so einen Einstieg zu schaffen, etwas Geld (nicht viel, freie Mitarbeit wird meist sehr schlecht bezahlt) neben dem Studium zu verdienen und die Tätigkeiten im Lebenslauf angeben zu können; wenn man sich beispielsweise um ein Praktikum bewirbt, dann vielleicht schon bei einer überregionalen Zeitung, einem Magazin oder einer Hörfunkredaktion. Relativ schnell stellt sich heraus, für welches Medium man eher geeignet ist. Insbesondere randständige Medien bieten oft bessere Einstiegschancen, eben weil sich nicht so viele dafür interessieren. Ein Praktikum bei einer Verbandszeitschrift oder bei einem Frauenmagazin kann auch spannend sein. Generell gilt - Blindbewerbungen werden nur in Ausnahmefällen beachtet. Journalisten schätzen den direkten Kontakt und haben für etwas anderes oft auch gar keine Zeit - also einfach in die Redaktion gehen und sich durchfragen. Wenn man z.B. aus dem Ort eines Lokalsenders stammt oder, bei einer Verbandszeitung, vielleicht selbst schon länger Mitglied des 192 Zum Beruf des Journalisten vgl. auch Meyn: Massenmedien in Deutschland, S. 205ff. 193 Wolf Schneider u. Paul-Josef Raue: Das neue Handbuch des Journalismus. Vollst. überarb. u. erw. Neuausg. Reinbek: Rowohlt 2003, S. 16-22. 139 Einheit 5 Verbandes ist und dessen Arbeit kennt, dann hat man eine Anfangskompetenz, die für die Redaktion nützlich sein kann; und vielleicht findet man sich dann schnell, bewaffnet mit Stift und Mikro, auf irgendeiner Pressekonferenz wieder. Um das zu erreichen, darf man nicht auf den Kopf, aber auch nicht auf den Mund gefallen sein. Journalisten sind kommunikativ, direkt und ergebnisorientiert; redefaule Leute, schlecht organisierte, verträumte oder gar schüchterne Menschen haben in diesem Beruf keine Chance. E I N H E I T 6 Vom Büchermachen und Bücherverkaufen: Buchhandel und Verlagswesen [...] wer sonst nichts in der Welt kann und seinem Leibe keinen Rat weiß, schreibt ein Buch. Christoph Martin Wieland 1 Literatur findet sich zwar immer öfter auch im Internet, aber das traditionelle und erfolgreichste Trägermedium für Literatur ist und bleibt, trotz aller Unkenrufe, das gedruckte Buch. In Buchhandel und Verlagswesen sind viele Literaturvermittler beschäftigt. Für sie sind Leser Kunden, für die sie Bücher herstellen, denen sie Bücher empfehlen oder auf deren Wunsch sie Bücher beschaffen. Das Buch ist ein ganz besonderes Medium, doch um dieses Besondere verstehen zu können, muss man seine Geschichte und die Strukturen des Buchmarkts kennen. Das vorliegende Kapitel erläutert an wichtigen Beispielen, welche Bedeutung das Buch als Leitmedium bis ins 20. Jahrhundert hinein hatte und weshalb es auch heute zentral für die Kultur einer Gesellschaft bzw. in dem Fall der deutschen Sprachgemeinschaft ist. Der Begriff Buchmarkt zeigt, dass Bücher immer auch Produkte sind, die hergestellt und verkauft werden. Wer Literaturvermittler werden will, sollte sich in den Grundlagen des Herstellens und Vertreibens von Büchern auskennen. Daher wird besonders auf die Struktur und Arbeitsweise von Verlagen eingegangen. Sind Bücher Produkte wie andere auch? Bücher sind Produkte wie Tomatensuppen in Tüten oder Dosen - Bücher sind keine Produkte wie Tomatensuppen in Tüten oder Dosen. Mit diesem 1 Zitiert nach Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Durchges. u. erw. Aufl. München: C. H. Beck 1999 (Beck’sche Reihe 1304), S. 173. 141 Einheit 6 Paradoxon leben alle, die Bücher machen, ebenso wie jene, die Bücher verkaufen. Um in einem Verlag oder in einer Buchhandlung zu arbeiten, sollte man, sofern man sich für das interessiert, was man da produziert oder verkauft, eine besondere Motivation mitbringen, ein besonderes Interesse. Nicht nur für Bücher allgemein, sondern für die Bücher, die man machen oder verkaufen soll. Je faktenbezogener die Arbeit wird, desto weniger ist Begeisterung und desto mehr ist Sachkenntnis vonnöten, aber etwas Begeisterung für den Gegenstand der eigenen Arbeit sollte immer mit dabei sein. Wer in einem Verlag für Esoterik arbeitet, sollte die hier verlegten Bücher nicht für Schwindel halten; wer in einer großen Buchhandlung für die Abteilung Religiöses zuständig ist, sollte es zumindest für möglich halten, dass es einen Gott oder ein anderes höheres Wesen gibt. Je stärker fiktional die Produkte werden, desto mehr Begeisterung ist gefordert - freilich ohne dafür auf Sachkenntnis zu verzichten. Wer Kinderbücher lektoriert, sollte gern Kinderbücher lesen, schon deshalb, weil er (fast immer kein Er, sondern eine Sie) die meisten angebotenen Manuskripte und Bücher aus Zeitnot außerhalb der 40-Stunden-Arbeitswoche lesen wird, im Zug, im Flugzeug, abends auf der Couch oder im Bett, vielleicht sogar beim Essen. Wer in der Kinderbuchabteilung einer Buchhandlung arbeitet oder für eine Bibliothek den Ankauf von Kinderbüchern erledigt, sollte die neuen Programme aller wichtigen Kinderbuchverlage im deutschsprachigen Raum kennen, möglichst viele Neuerscheinungen gelesen haben oder einschätzen können. Anders ist kompetente Beratung nicht möglich, und die ist gerade in Kinderbuchabteilungen enorm wichtig. Die meisten Kunden sind Erwachsene, die Bücher für Kinder kaufen, oft als Geschenk, zum Geburtstag, zu Weihnachten, zur Kommunion. Und diese Erwachsenen wollen (wenn sie nicht überhaupt ratlos sind) entweder Klassiker (hier lassen sich beispielsweise Bücher von Erich Kästner oder Astrid Lindgren empfehlen) oder etwas Neues, in der Annahme, dass das Kind die Klassiker schon kennt. Und da braucht es jemand, der das Buch auf den potenziellen Leser abstimmt. Junge oder Mädchen? Wie alt? Welche Interessen? Und dann Empfehlungen gibt, kurz den Inhalt verschiedener Bücher erläutert, die sich eignen könnten. Der Kauf eines Kinderbuches ist in dem Fall eine Konsensbildung von vermuteten Vorlieben des kindlichen Lesers und vorhandenen Vorlieben des Käufers und des Buchhändlers, der genug Profi sein sollte, um sich auf die subjektiven Vorlieben der Kunden einstellen und dann möglichst objektiv auswählen zu können. Beispielsweise habe ich von einem Fall gehört, in dem einer Frau für ihre (wie sie erklärte) sehr sensible Tochter Cornelia Funkes Tintenherz empfohlen wurde - das wäre dann wohl genau das falsche Buch (Verbrecher entführen und quälen Kinder…). Wie wir noch sehen werden, sind Verlage und Buchhandlungen in den letzten Jahrzehnten unter einen immer größeren Druck geraten, die Reak- 142 Einheit 6 tion darauf wird etwas beschönigend als ‚Strukturwandel‘ bezeichnet. Das hat mehrere Gründe, beispielsweise die Ausdifferenzierung der Medien, in den letzten Jahren vor allem durch das Internet, oder das gewachsene Freizeitangebot, das auch eine Konkurrenz für die Buchlektüre darstellt. Den Viellesern steht eine wachsende Zahl von Weniglesern gegenüber: „Im Jahr 2003 haben 40 Prozent der Deutschen kein Buch gekauft.“ 2 Andererseits gibt es viele Initiativen gegenzusteuern, etwa im Großen die Stiftung Lesen 3 oder im Kleinen die Lesenacht im Grundschulbereich. Jedes Medium erfüllt spezifische Funktionen, die Lektüre von Büchern vermittelt ein Gefühl für Sprache und befördert die Phantasie. Je früher dies geschieht, desto besser ist es und umso treuere Leser werden die Kinder als Erwachsene sein. Die Situation der Buchbranche heute Die Buchbranche im deutschsprachigen Raum ist heute vor allem durch Marktkonzentration geprägt. „Die Zahl der Verlage ist in 10 Jahren um mehr als 12% gesunken. Gleichzeitig ist der Umsatzanteil der mittleren und großen Verlage entscheidend gestiegen […].“ 4 Im herstellenden Buchhandel, 5 also dem Verlagsbereich, dominiert die Verlagsgruppe Bertelsmann, das sogar weltweit: Seit Bertelsmann 1998 die amerikanische Gruppe Random House zu seinen deutschen, europäischen und amerikanischen Buchhäusern hinzufügte, firmieren unter dem Namen Random House über hundert Verlage in sechzehn Ländern mit rund 5400 Mitarbeitern. Sie bilden heute die größte Verlagsgruppe der Welt, und ihre Produktion ist mit rund 9000 Neuerscheinungen pro Jahr mittlerweile tatsächlich in industrielle Dimensionen vorgestoßen. [...] Random House gibt an, im Geschäftsjahr 2005 weltweit einen Gewinn vor Steuern von 166 Millionen Euro erwirtschaftet zu haben. 6 Im Bucheinzelhandel oder verbreitenden Buchhandel ist die Situation ähnlich, hier hat die Kette Thalia (abgesehen von den für Mitglieder offe- 2 Vgl. Erhard Schütz u.a. (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek: Rowohlt 2005 (rowohlts enzyklopädie), S. 65. Der Band wird im folgenden Text abgekürzt mit der Sigle BM und Seitenzahl. 3 Vgl. http: / / www.stiftunglesen.de (abgerufen am 09.10.08). 4 Wulf D. v. Lucius: Verlagswirtschaft. Ökonomische, rechtliche und organisatorische Grundlagen. Mit zahlreichen Abb. u. Übersichten. Konstanz: UVK 2005 (UTB 2652), S. 56. Dieses Buch wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle LV und Seitenzahl. 5 Dass Buchhandel als Oberbegriff für Verlage und Buchhandlungen genommen werden kann, hat historische Gründe, die noch darzulegen sind. Zu den Begriffen des herstellenden Buchhandels, des Bucheinzelhandels und des (später näher erläuterten) Zwischenbuchhandels vgl. Ursula Rautenberg (Hg.): Reclams Sachlexikon des Buches. Stuttgart: Reclam 2003, S. 99. 6 Uwe Wittstock: Die Büchersäufer. Streifzüge durch den Literaturbetrieb. Springe: zu Klampen 2007 (zu Klampen! Essay), S. 15f. 143 Einheit 6 nen und eher kleineren Geschäften von Weltbild plus und Buchabteilungen etwa bei Karstadt) eine marktbeherrschende Stellung. 7 Die firmeneigene Homepage stellt den Geschäftsverlauf bis Ende Juni 2008 wie folgt dar: Die Thalia-Buchgruppe steigerte die Umsätze in den 285 Buchhandlungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz um 12,4 Prozent auf 575,3 Millionen Euro. In Deutschland stiegen die Umsätze in den 231 Buchhandlungen um 12,8 Prozent auf 441,9 Millionen Euro. Dieser Umsatzanstieg ist auch auf die Akquisition der 44 Buch&Kunst-Buchhandlungen zum 1. Januar 2007 zurückzuführen, deren Umsätze im Vorjahreszeitraum noch anteilig enthalten waren. Die 54 Thalia-Buchhandlungen in Österreich und in der Schweiz erhöhten ihre Umsätze um 10,9 Prozent auf 133,4 Millionen Euro. […] Die Thalia-Gruppe wird weiter im deutschsprachigen Raum expandieren. Geplant sind insgesamt 17 Neueröffnungen sowie zahlreiche Modernisierungen bereits bestehender Standorte. Aber auch Akquisitionen sowie Beteiligungen an regional oder lokal führenden Sortimentsbuchhändlern stellen für die Thalia-Gruppe viel versprechende Wachstumspotenziale dar. 8 Uwe Wittstock zieht das ernüchternde Fazit: Der Buchmarkt hat in den letzten Jahren hierzulande einige grundlegende Veränderungen erlebt, und dieser Wandel wird sich fortsetzen. Das von viel Enthusiasmus, aber wenig Renditedenken geprägte Gewerbe beginnt sich, wie zahllose andere Branchen zuvor, nach den nüchternen Regeln einer Marktwirtschaft umzugestalten, die hohem Kapitaleinsatz gewöhnlich bessere Erfolgschancen einräumt als hoher literarischer Kompetenz. 9 Das stimmt und es stimmt auch wieder nicht. Auf der einen Seite stehen die Konzentration (also vor allem das Aufkaufen kleinerer Verlage oder Buchhandlungen durch große Konkurrenten) und immer geringere Auflagen pro Titel: Haben die anspruchsvolleren Belletristik-Verlage in den 1970ern noch eine Erstauflage von 20.000 Exemplaren für einen durchschnittlichen Roman gedruckt, so sind es heute 3-4.000 Exemplare. Die Spitzentitel verkaufen sich in Auflagen von mehreren hunderttausend Exemplaren, doch der größere Teil der Produktion bleibt in einem Bereich, der es weder dem Autor noch dem Verlag ermöglicht, den eigenen finanziellen Bedarf zu decken. Aktionen wie jene der Süddeutschen Zeitung, die 2004 eine Reihe von kanonischen Romanen in einer eigens dafür geschaf- 7 Karstadt hatte 2004 „180 Filialen mit Buchabteilung“. Weltbild plus kam auf 225 Filialen, Thalia auf 94 meist große Buchkaufhäuser, gefolgt von den von Weltbild ab 2005 übernommenen 50 Wohlthat’schen Filialen. Lehmanns und Hugendubel lagen mit 33 und 32 fast gleichauf (VL, 57). 8 http: / / www.service.thalia.de/ index.php? content=management&chapter=holding (abgerufen am 16.09.08). 9 Wittstock: Die Büchersäufer, S. 16. 144 Einheit 6 fenen Reihe publizierte (die Idee fand viele Nachahmer und zündete auch in anderen Bereichen, etwa des Kinderbuchs und des Spielfilms), ermöglichen punktuelle, aber substantielle Zuwächse: „Vom 20. März bis Ende 2004 wurden ca. 8,5 Mio. Exemplare verkauft“ (BM, 66). Dabei waren die meisten Titel im lieferbaren Programm anderer Verlage - ein beachtlicher Erfolg eines neuen Werbekonzepts. Auf der anderen Seite gibt es eine wachsende Zahl von Kleinverlagen, nicht selten Ein-Personen-Verlagen, und eine größere Zahl von produzierten Titeln, die oftmals im Direktvertrieb vermarktet werden, etwa über eine verlagseigene Homepage, oder die im relativ neuen Book-on- Demand-Verfahren erscheinen, kurz BoD (BM, 58f.; LV, 153ff.). Hier lässt sich kostengünstig eine kleine Auflage produzieren und bei größeren Bedarf kann schnell nachgedruckt werden; oder das Buch wird überhaupt nur elektronisch gesetzt, angeboten und gedruckt, wenn Bestellungen vorliegen. Dem Trend zur Uniformierung stellt sich also ein Trend zur Individualisierung entgegen. Ob das eine das andere bedingt oder beides in einem Konkurrenzverhältnis steht und nur eine Seite gewinnen kann, muss sich wohl erst noch zeigen. Dennoch hält sich der Anteil der belletristischen Titel an den Neuerscheinungen bei rund 15% (BM, 43). Etwa die Hälfte des genannten Anteils entfällt auf erzählende Literatur, vor allem auf Romane (BM, 44). Dabei verlagert sich das Interesse immer mehr auf Audio-Books, die Hörbuchfassungen von Romanen, entweder ganz klassisch gelesen vom Autor, von einem professionellen Vorleser oder Schauspieler, manchmal auch inszeniert wie ein Hörspiel. Wie in den Massenmedien ist Unterhaltung das Gebot der Stunde: „Das Genre des heiteren Romans ist […] das beliebteste. Aufschlussreich ist, dass sich das Interesse am Thema oder der Handlung eines Romans entzündet“ (BM, 44). Oder noch allgemeiner: „Unterhaltsam kann (und muss) heute fast jedes Buch sein“ (BM, 355). Neuerscheinungen sind nur die eine Seite der Medaille, viele Verlage leben relativ komfortabel von der Backlist - also von Titeln, die sie schon länger im Programm haben und die sich immer noch gut verkaufen. Der Suhrkamp-Verlag beispielsweise hat mit den Werken von Hermann Hesse, aber auch von anderen Autoren wie Bertolt Brecht ein kleines Vermögen verdient. Das muss nicht immer so gut funktionieren: „Titel der Backlist können den Verlagen aber auch Verluste bescheren. Die Pflege der Backlist bedeutet immer Organisations-, Arbeits- und Lagerkosten […]“ (BM, 39). Heute werden von vielen größeren Verlagen Titel automatisch aus dem Programm genommen, die über einen bestimmten Zeitraum, etwa über zwei Jahre, eine bestimmte Zahl verkaufter Exemplare unterschritten haben. Andererseits haben kleinere Verlage hier eine Chance, weniger zentrale Autoren und Leser durch längere Lagerhaltung und Pflege ihrer Backlist zu binden. 145 Einheit 6 Grundpfeiler für relative Stabilität ist die Buchpreisbindung in Deutschland und Österreich (die Schweiz ist ausgeschert): Die Preisbindung für Verlagserzeugnisse (sog. Buchpreisbindung) beruhte ursprünglich lediglich auf Vereinbarungen zwischen Verlegern und Buchhändlern, feste Endverkaufspreise nicht zu unterschreiten […]. In Reaktion auf den europarechtlichen Disput um die Buchpreisbindung […] hat der deutsche Gesetzgeber im Jahr 2002 das Gesetz über die Preisbindung für Bücher (Buchpreisbindungsgesetz) erlassen. Als Zweck des Gesetzes wird in § 1 der Schutz des „Kulturgutes“ Buch angeführt. 10 Für Schüler, Studenten und Lehrende ist es eine wichtige Information, dass die „Pflicht zur Einhaltung des Ladenpreises […] auch den Autor selbst“ trifft: „Hörerscheine sind nicht mehr zulässig.“ 11 Allerdings ermöglicht die Buchpreisbindung nicht nur den vielen Kleinen das Weiterleben, es versorgt die Großen auch mit satten Gewinnen. Sonderbarerweise gehört der Branchenriese Thalia zur Douglas-Gruppe, deren Namen man vor allem mit dem Verkauf von Parfums verbindet. Und in Buchhandlungen findet man längst nicht mehr nur Bücher: In den letzten Jahren haben vermehrt so genannte Non-Books im Buchhandel Einzug gehalten. Hierunter sind - zumeist in Ergänzung zum Buch - andere Artikel nicht zwingend drucktechnischer Herkunft zu verstehen wie Kuscheltiere, Taschen, Geschirr, Servietten, Spiele und Kerzen bis hin zu Tee und Wein. Hier ist der Buchhändler nicht an die festen Ladenpreise gebunden und kann sein Profil als Anbieter von Geschenken zu jeder Gelegenheit schärfen. (BM, 84) Als Anteil von Non-Books am Gesamtumsatz der Buchhandlungen nennt das BuchMarktBuch rund 12 Prozent (BM, 109). Auch Verlage setzen auf den Trend: Als besonders erfolgreich im Bereich Diversifikation kann der Coppenrath Verlag bezeichnet werden: Die zum Verlag gehörende Edition Spiegelburg bietet eine Palette an Merchandisingprodukten 12 rund um den Hasen Felix, Prinzessin Lillifee und Der kleine Prinz an. Durch die Produkte, die vom Lillifee-Schulranzen über Federmäppchen, MC- Koffer und Schlüsselband ‚Felix‘ bis hin zum Kleiner-Prinz-Beauty-Case reichen, wird - so ist auf der Homepage vom Coppenrath Verlag zu lesen - ‚spielerisch‘ eine Verbindung zum Buchprogramm hergestellt. (BM, 108) Ist das Buch also doch zu einer Ware wie jede andere geworden? 10 Frank Fechner: Medienrecht. 9., überarb. u. erg. Aufl. Tübingen: Mohr Siebeck 2008 (UTB 2154), S. 252, vgl. außerdem BM, 88-91. 11 Fechner: Medienrecht, S. 253. 12 „Der Begriff [Merchandising] ist vom englischen merchandise (Ware) abgeleitet und bezeichnet im deutschen Sprachraum allgemein die Vermarktung von Lizenzen und Fanartikeln“ (BM, 274). 146 Einheit 6 Der Buchhandel in den Kinderschuhen „Das Buch ist das Hauptmedium kultureller Kommunikation im neuzeitlichen Europa“, 13 es hat die europäische Kultur historisch so stark geprägt, das kann auch die Ablösung des Buches als Leitmedium erst durch Hörfunk und Film, dann durch Fernsehen und Internet nicht vergessen machen. Der zitierte Satz eröffnet das Mammutwerk von Reinhard Wittmann, das am besten über die Geschichte des deutschen Buchhandels informiert und auf dessen Erkenntnisse im Folgenden auch häufig zurückgegriffen werden soll. 14 „Erste abendländische Zeugnisse über einen Handel mit handgeschriebenen Büchern begegnen uns im Athen des ausgehenden fünften Jahrhunderts vor Christus.“ Es handelte sich um „ohne Zeichensetzung und Wort- oder Satztrennung beschriebene, meist ein bis zwei Meter lange Buchrollen“. Die „Papyrusrolle“ wurde aus der in Ägypten angebauten Papyrusstaude gefertigt. „Ein Ausfuhrverbot von Papyrus nach Pergamon soll um 200 vor Christus die Entwicklung eines Ersatz-Beschreibstoffes aus Tierhäuten notwendig gemacht haben, dem die Stadt auch ihren Namen gab“ - das Pergament also (W, 13). Der „Codex“ war bereits „aus Lagen gefalteter Blätter gebunden und damit viel leichter handhabbar und lesbar“ (W, 15). Noch ein Vorteil gegenüber dem schnell brüchig werdenden Papyrus war die viel längere Lebensdauer des Pergaments. Es blieb „bis ins ausgehende Mittelalter der einzige Beschreibstoff des Abendlandes“ (ebd.). Papier, das bereits um 105 n. Chr. als „Lumpenbzw. Hadernpapier“ in China erfunden worden sein soll, kam „erst nach 715 allmählich in den Westen“, über die Reiserouten der Händler. Etwa „1250 sind die frühesten Papiermühlen in Italien und 1338 in Frankreich nachgewiesen“. Das „Beschreibmaterial aus textilen Fasern“ war „gegenüber dem Pergament um das fünfbis zwanzigfache preiswerter, es war dennoch haltbarer [...] und vor allem in unbegrenzter Menge herstellbar“. Eine weitere wichtige Erfindung, die das Lesen und Schreiben beförderte, war der „Lesestein“, der „Vorläufer der Brille“ (W, 18), insbesondere als Mittel gegen die schlechte Sicht im Alter von den (noch wenigen, meist klerikalen) Gelehrten genutzt. So kam auch der Buchhandel in Gang und in Florenz wurde „1444 die erste öffentliche Bibliothek der Neuzeit“ eröffnet (W, 19). Die wichtigste Voraussetzung für den weiteren Aufschwung ist natürlich die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg, über den wenig genug bekannt ist. Um 1400 in Mainz geboren und auch 1468 dort gestorben, arbeitete Gutenberg an seiner Erfindung wohl bereits wäh- 13 Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels, S. 7. 14 Das Buch von Wittmann (ebd.) wird im folgenden Text mit der Sigle W und Seitenzahl nachgewiesen. 147 Einheit 6 rend seines Aufenthaltes in Straßburg 1434 -1444. Gesichert dürfte sein, dass Gutenberg seit 1448 in Mainz den „Donat“ druckte, eine „lateinische Sprachlehre des Grammatikers Aelius Donatus“. Das „älteste, vollständig (in einem Exemplar) erhaltene und datierbare Buch“ ist der sogenannte Türkenkalender von 1454 (W, 23). Zwischen 1452-54 setzte Gutenberg die mit seinem Namen verknüpfte, berühmte Bibel-Ausgabe, „bis heute eines der schönsten Bücher der Welt. Ihr Preis entsprach etwa dem Jahreslohn eines Goldschmiedes“ (W. 24). Die Revolution, mit der die sogenannte „Gutenberg-Galaxis“ (Marshall McLuhan) begründet wird (sie bleibt bis Mitte des 20. Jahrhunderts die Grundlage für die kulturelle Entwicklung des Abendlandes), steckt im Detail. Mit einem Handgießinstrument, mit Prägestempel und Hohlformen werden die beweglichen Lettern hergestellt, sie können beliebig zusammengesetzt und schnell wieder ersetzt werden. Mit weiteren neuartigen Instrumenten wie dem Winkelhaken oder dem Setzschiff lassen sich die Buchstaben schnell an- und untereinanderfügen (W. 24f.). Die Druckerpresse überträgt die Druckerfarbe auf das Papier. Wittmann nennt diesen Vorgang das „erste moderne arbeitsteilige Produktionsverfahren“ (W. 25), es handelt sich also zugleich um eine Revolutionierung von Produktionsmethoden überhaupt. Was das Buch betrifft, entsteht bereits hier die nicht zu leugnende Verbindung von ästhetischem und marktwirtschaftlichem Produkt. Historisch gesehen ist es die „dritte Medienrevolution nach der Ausbildung einer menschlichen Sprache und der Einführung komplexer Schriftsysteme“ (ebd.). Schnell breitet sich die Technik des Buchdrucks in ganz Europa aus, es scheint, als hätten alle nur darauf gewartet. 1500 gibt es bereits rund 250 Druckorte, die 20 Millionen Druckerzeugnisse produziert haben (W, 27). Diese rasante Entwicklung sorgt allerdings auch für Unruhe in einer klar gegliederten, von Kirche und Adel beherrschten Welt. Gedanken sind bekanntlich frei, doch wenn sie massenhaft verbreitet werden, können sie zu einer Waffe gegen die bestehenden Verhältnisse werden. Insofern ist es konsequent, dass bereits 1485 der Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg „das erste Zensuredikt“ herausgibt (W, 29). Der neue Markt schafft außerdem neue wirtschaftliche Risiken, es entsteht eine Überproduktion bestimmter Druckwerke. Die Drucker, in Personalunion Verleger, behelfen sich mit der Einführung der „Mischkalkulation“, bis heute ein Standardbegriff in der Verlagsbranche. Titel, von denen man weiß, dass sie sich gut verkaufen, müssen die riskanteren oder gar absatzschwachen Titel mit finanzieren, unterm Strich sollte dann, im Interesse des Fortbestands des Unternehmens, eine positive Zahl stehen. Ebenfalls beginnt das System der „Privilegierung“, also die Voraussetzung einer obrigkeitlichen Erlaubnis für den Druck. Zwei Gründe sind hier ausschlaggebend, die Zensur (also die bessere Kontrolle über das, was ge- 148 Einheit 6 druckt wird) ebenso wie der wirtschaftliche Schutz der Unternehmen, als „Keimzelle des Urheber- und Verlagsrechts“ (W. 32). Der Buchhandel war zunächst ein Wanderhandel, die Buchhändler besuchten die bestehenden Märkte und boten ihre Produkte feil (W, 35). Wittmann schätzt, dass „von dem zu Gutenbergs Zeiten verfügbaren Kanon an etwa 5000 Werken deutscher Literatur im 15. Jahrhundert höchstens ein Zehntel gedruckt“ worden ist und dass dies einen großen Einfluss auf die weitere Tradierung gehabt hat (W, 42). Die Entwicklung von Buchhandel und Lesepublikum bis zur Aufklärung Im 15. Jahrhundert konnten „kaum mehr als etwa 60000 Menschen in Mitteleuropa“ lesen, dazu kamen jene, die sich vorlesen ließen oder an Illustrationen erfreuten (W, 45). Das Buch war ein Luxusgut, nicht nur wegen seines Preises, auch wegen der fehlenden Zeit für die Lektüre, vom Erlernen der Fähigkeit zu lesen ganz zu schweigen. Bis Ende des 16. Jahrhunderts soll sich die Zahl der Alphabeten auf 800.000 vergrößert haben, auf bis zu fünf Prozent der Bevölkerung, doch ist dies eher eine optimistische Schätzung (W, 76). Wittmann zitiert Erich Trunz mit der Auffassung, „daß sich unter den etwa 20 Millionen Einwohnern Deutschlands um 1600 5000 Akademiker befanden, also ein Viertelprozent, zu ergänzen höchstens noch um knapp 10000 Studenten“ (W, 78). Um 1700 gibt es dann insgesamt rund 100.000 Gebildete mit Lese- und Schreibfähigkeiten (W, 114f.). Eine weitere wichtige Schwelle war die verwendete Sprache, denn Bücher wurden zunächst in der Gelehrtensprache Latein gedruckt. Dass sich Anfang des 16. Jahrhunderts die Situation dramatisch änderte, dass von 1500 bis 1524 die Zahl der deutschsprachigen Titel gegenüber den lateinischen von 1: 20 auf 1: 3 steigen konnte, ist dem Kirchenreformator Martin Luther (1483-1546) zu verdanken (W, 49). Seine Schriften erschienen nicht nur auf Deutsch, sondern auch in weniger umfangreichen, billigeren Ausgaben und konnten so massenhaft verbreitet werden. Seine Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche, 1522 zunächst in 2000 Exemplaren aufgelegt, setzte neue Maßstäbe, bis zu seinem Tod sollen 200.000 Exemplare gedruckt und verkauft worden sein (W, 51). Nach 1692 waren dann die Neuerscheinungen in deutscher Sprache in der Überzahl (W, 84). Luthers Zeitgenossen sahen sich bereits mit Problemen konfrontiert, die uns heute noch beschäftigen - wenn auch auf einem anderen quantitativen Niveau. So klagte Eberlin von Günzburg in einer 1524 erschienenen Streitschrift: 149 Einheit 6 Es ist die ganze Welt auf Kaufen und Verkaufen eingestellt, wobei doch weder Treu noch Glauben gehalten wird. [...] Sieh dir an, wie bedenkenlos sich die Drucker auf die Bücher stürzen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob eine Sache böse oder gut, geziemend oder ärgererregend sei. Sie nehmen Sachbücher, Buhlbücher, Spottlieder und was ihnen in die Hand kommt und gewinnbringend scheint, zum Drucke an - wodurch der Leser [sic] Geld geraubt, Sinn und Herz verwüstet und Zeit vergeudet wird (zit. nach W, 56). Das „im Schnittpunkt der wichtigsten Handelsstraßen“ günstig gelegene Frankfurt am Main bildete sich seit 1480 als Hauptmesseort für Bücher heraus (W, 63). Als der Frankfurter Rat 1710/ 11 die Messezeiten zuungunsten der Verlegerbedürfnisse änderte, stieg Leipzig zum mindestens ebenso wichtigen Messeort auf (W, 94). Mit Rabatten von bis zu 25% verkauften auf den Messen die Verleger ihre Produkte an Buchhändler weiter (W, 64). Zugleich waren die Verleger ja auch Sortimenter (der gängige Fachbegriff für Buchhändler) oder sie versorgten die Sortimenter in ihrer Region und der sogenannte Tauschhandel diente dazu, die Produkte der Konkurrenz zu erhalten. Oft wurden die Bücher kiloweise getauscht, nicht das geistige, sondern das physische Gewicht zählte. Das war auch der Grund für den Niedergang des Tauschhandels, war es doch letztlich zweitrangig, was in den Büchern stand, die getauscht wurden (W, 98ff.). „Schon um 1680 mehrten sich die Klagen der Zeitgenossen über die Unmengen überflüssiger Bücher“ (W, 100). Nicht nur als Messe-, sondern auch als Produktionsort wurde Leipzig immer beliebter, bedingt durch die liberale Zensur in Sachsen (W, 97). Wenn sie keine drakonischen Strafen zu fürchten hatten, konnten Verleger von Zensurmaßnahmen, vor allem in anderen Ländern des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, nur profitieren - sie weckten Aufmerksamkeit und kurbelten den Absatz an (W, 93). Vor dem 30jährigen Krieg, im Jahre 1619, erreichte die Titelproduktion einen vorläufigen Höchststand von 1.587 Neuerscheinungen. Der Krieg wirkte auch auf den Buchmarkt verheerend; erst 1768 konnte eine ähnlich große jährliche Titelzahl wieder erreicht werden (W, 83). Wer meint, die produzierten Bücher seien größtenteils fiktionale Werke gewesen, der muss sich eines Besseren belehren lassen. Die Buchproduktion bestand und besteht auch heute noch zum überwiegenden Teil aus Sachbüchern, im Mittelalter waren das religiöse, medizinische oder juristische Schriften. Im Laufe des 18. Jahrhunderts, also im Zeitalter der Aufklärung, nahmen die naturwissenschaftlichen Publikationen immer stärker zu und lösten die religiösen Schriften als dominierende Textsorte ab. Die sogenannte „Schöne Literatur“ konnte sich im Laufe des bildungs- und lesefreudigen 18. Jahrhunderts ebenfalls stark verbessern und kletterte von einem Anteil von 2,8% im Jahr 1700 auf 27,3% im Jahr 1800. 150 Einheit 6 „Das Zeitalter der belletristischen Lesekultur hat begonnen“ (W, 85). Der Aufstieg wird durch einen Wandel im Gattungsverhältnis begleitet. Waren es früher vor allem Dramen und Epen oder Gedichtbände, die Literatur ausmachten, übernimmt nun die Prosa zumindest quantitativ die Führung: „In dem Ostermeßkatalog des Jahres 1800 stehen 300 neue Romane 64 neuen Schauspielen und 34 Gedichtbänden gegenüber“ (W, 123). Eine weitere wichtige Veränderung ist der Wandel vom Tauschzum Nettohandel - wer Bücher haben will, muss sie nun bar bezahlen. Der Verleger Philipp Erasmus Reich (1717-1787), der mit seinem Geschäft von Frankfurt/ Main in die jetzt unbestrittene Buchmetropole Leipzig zog und 1759 dort den Verlag des Leipziger Meßkataloges übernahm, gilt als Erfinder der neuen Geschäftsmethode (W, 126). Kleinere, finanziell wenig leistungsfähige Verlage wehrten sich mit Nachdrucken, besonders in Österreich wurden Bücher für den eigenen Markt im großen Stil nachgedruckt (W, 131). Anders als heute wurde dies nicht als geistiger Diebstahl, sondern als Dienst am Lesepublikum gesehen, da man sich sonst die bar zu bezahlenden Produkte der Großverlage nicht mehr leisten konnte (W, 132). Zweifellos ermöglichte der Nachdruck auch weniger erschlossenen Gegenden und weniger wohlhabenden Schichten den Zugang zu Büchern. Schließlich setzt sich um 1800 der Kommissionshandel durch (W, 139) - Sortimenter nehmen Bücher in Kommission; werden sie nicht verkauft, dann werden sie an den Verlag zurückgegeben. Viele Verlage arbeiten auch heute noch auf dieser Basis mit den Buchhandlungen zusammen, allerdings müssen die remittierten (zurückgegebenen) Bücher in neuwertigem Zustand sein. Die wichtigsten Voraussetzungen für den Aufschwung der Buchproduktion waren, neben einer Verbesserung der Infrastruktur und technischen Innovationen, der wachsende Wohlstand der Bevölkerung und eine zunehmenden Zahl Gebildeter, alles zusammen führte zur Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit. Die ersten Massenmedien dieser bürgerlichen Öffentlichkeit waren die Zeitung und die Zeitschrift, letztere nahm um 1700 ihren Aufschwung. Zeitschriften „dienten zuerst wie die Leipziger ‚Acta Eruditorum‘ (1682-1731) als Mittel zur Verständigung über neue Bücher und den sich darin manifestierenden Fortschritt an Wissen und Erkenntnis“ (W, 115). Wochenzeitungen gab es bereits seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts, von 1609 sind Ausgaben aus Straßburg und Wolfenbüttel überliefert. „Von 1609 bis 1700 lassen sich 162 deutsche Zeitungsunternehmen in mehr als 70 Städten nachweisen“, erste Zeitungen beginnen mit täglicher Erscheinungsweise (W, 119). Mit den Zeitungen und Zeitschriften setzte ein Diskurs über Literatur ein, die Textsorte oder Gattung der Literaturkritik entwickelte sich. Der Verleger und Aufklärer Christoph Friedrich Nicolai (1733-1811) gründete mit seiner Allgemeinen deutschen Bibliothek eine Zeitschrift, die zunächst 151 Einheit 6 den Anspruch erhob und einlöste, jede Neuerscheinung in deutscher Sprache kritisch zu sichten (W, 148). In späteren Jahren war dies aufgrund der steigenden Titelproduktion nicht mehr möglich. Durch die skizzierten Entwicklungen ändert sich auch das Leserverhalten. Die ‚intensive Wiederholungslektüre‘ wird durch eine extensive Lektüre abgelöst (W, 187f.). Das heißt, dass Bücher nicht wiederholt gelesen, sondern nun aus einem größeren Buchangebot ausgewählt und viele Bücher nur einmal gelesen werden. Statt laut zu lesen oder vorzulesen wird nun die individuelle, stille Lektüre üblich, sie ermöglicht das Bewältigen größerer Büchermengen (W, 202f.). Allerdings gibt es auch warnende Stimmen, von einer „Lesewut“ ist die Rede (W, 203). Sie wird seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beschleunigt durch die Ausbreitung von Lesegesellschaften und Leihbibliotheken, gegen geringe Gebühr können nun die doch immer noch teuren Bücher konsumiert werden (W, 206ff.). Probleme der Autorschaft Autoren waren Gebildete, die zunächst dem Klerus angehörten oder von Mäzenen finanziert wurden, also an Höfen lebten und arbeiteten. Erst im 18. Jahrhundert beginnt sich der Beruf des Autors zu entwickeln, auch wenn es vorwiegend Gelehrte sind, die ihr Einkommen nicht aus dem Verkauf von Büchern bestreiten müssen; Wittmann nennt diesen Typus den ‚ständischen Dichter‘ (W, 155). Die rasante Vergrößerung des Lese- und Schreibpublikums führt im Verlauf des Jahrhunderts zu einer Verbreiterung der Autorenbasis; schließlich wird das Schreiben Haupteinnahmequelle und es gibt Menschen, die damit ihren Lebensunterhalt bestreiten oder dies zumindest beabsichtigen. Zwischen 1776 und 1806 steigt die Zahl der Autoren, geht man nach Johann Georg Meusels Schriftstellerlexikon, von 3.000 auf 11.000 (W, 160). Erstes Problem ist die geringe Honorierung durch die Verlage. Der junge Johann Wolfgang Goethe musste dies schmerzlich erfahren, als er dem mächtigen Leipziger Verleger Johann Friedrich Weygand seinen Erstlingsroman Die Leiden des jungen Werthers anvertraute, der 1774 gedruckt wurde (W, 147). Goethes Werther (das Genitiv-s fehlt seit der zweiten Auflage) entwickelte sich zu einem der Bestseller des Jahrhunderts, noch über Jahrzehnte galt der schmale Roman als das bekannteste Werk des gebürtigen Frankfurters. Nicht weniger schlimm erging es Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769), dessen Fabeln und Erzählungen im 18. Jahrhundert vermutlich noch weiter verbreitet waren als der Werther. 1746/ 48 erhielt Gellert von dem Leipziger Verleger Wendler ein Honorar von 20 Reichstalern, Wittmann hat sie vergleichshalber für das Jahr 1999 in etwa 1.000 Mark, also gut 500 Euro umgerechnet (W, 156f.). Für 152 Einheit 6 ein weiteres Werk erhielt Gellert 1754 bei Wendler 45 Taler, Wittmann schätzt bereits den Gewinn aus dem Verkauf der Erstauflage für den Verleger auf 1.200 Taler. Der heute kaum noch gelesene, seinerzeit aber für seine Naturschilderungen in Versen berühmte Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) versuchte gegenzusteuern. 1773 startete er ein Subskriptionsunternehmen, er versprach eine Schrift mit dem Titel Die deutsche Gelehrtenrepublik und lud zu Vorbestellungen ein. Freiwillige ‚Kollekteure‘ sollten für den Vertrieb sorgen und vom Autor 15-20% Rabatt bekommen (W, 164). Die Idee war gut, die praktische Umsetzung klappte auch, dennoch scheiterte das Unternehmen, und zwar am Autor, vielmehr an der Qualität seines Texts - die 3.678 Kunden (W, 166), die die Katze im Sack gekauft hatten, konnten den „in altfränkischem Bardenton vorgetragenen Reflexionen über Poesie“ wenig abgewinnen (W, 168). Der einzige, der glänzend davon profitierte, war der Autor. Entschärft wurde das Problem durch eine Verlegergeneration, die zunehmend das geistige Potential zu schätzen wusste und sich um die langfristige Bindung von Autoren an ihr Haus bemühte. 15 Um 1900 entstand der Typus des Individualverlegers (W, 304), als dessen letzter üblicherweise Siegfried Unseld (1924-2002), der jahrzehntelange (von 1959 bis zu seinem Tod) Verlagschef des Hauses Suhrkamp, genannt wird. Er war mit Hausautoren wie Uwe Johnson und Martin Walser (der nach dem Tod Unselds zu Rowohlt wechselte) eng befreundet. Als exemplarisch und mäzenatisch gilt Unselds Einsatz für berühmte Nachkriegsautoren wie Wolfgang Koeppen oder Peter Handke. Dennoch ging eine Schere auf zwischen erfolgreichen und erfolglosen, gut und schlecht verdienenden Autoren. Spitzenverdienern wie Johann Wolfgang Goethe am Anfang, Gustav Freytag oder Fritz Reuter gegen Ende des 19. Jahrhunderts (Wittmann schätzt Reuters Einkünfte auf insgesamt eine Millionen Reichsmark, auf 1999 umgerechnet etwa 20 Millionen Deutsche Mark oder mehr als 10 Mio. Euro) stehen die Vielen gegenüber, die vom Schreiben nicht leben konnten. Ein heute so berühmter Autor wie Theodor Fontane war ausgebildeter Apotheker und wechselte als Redakteur zu einer Ministerialbehörde, das Schreiben lief nebenbei, die spätere Romanproduktion konnte er zunächst nur mit dem Erfolg seiner Wanderungen durch die Mark Brandenburg und mit Subventionen für seine Bücher über die Einigungskriege finanzieren, vor allem aus Honoraren für Vorabdrucke in Zeitschriften. Zweites Problem ist der fehlende rechtliche Schutz von Werken, der - zumal im kleinstaatlich organisierten Deutschland - eine breit geübte Praxis des Nachdruckens erlaubt. Dies ändert sich langsam seit dem Ende 15 Exemplarisch zeigt dies Wittmann am Beispiel Goethes, vgl. W 178ff. 153 Einheit 6 des 18. Jahrhunderts: „Erstmals wurde das Verhältnis zwischen Autor und Verleger 1794 im ‚Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten‘ kodifiziert“ (W, 172). Seit 1806 räumten dann einzelne Staaten den auf ihrem Gebiet wohnenden Autoren „lebenslangen Schutz gegen Nachdruck“ ein. Die ‚Rechte des ‚Urhebers‘ werden 1813 in einem bayerischen Gesetzbuch erwähnt (W, 173). 1835 wird durch die Bundesversammlung der Nachdruck verboten. Preußen räumt 1837 den Erben von Autoren eine Schutzfrist der Rechte an Werken von 30 Jahren ein, der Deutsche Bund übernimmt diese Regelung 1845. Ein erstes Urheberrechtsgesetz wird 1870 erst vom Norddeutschen Bund eingeführt, 1871 dann vom neu gegründeten zweiten Deutschen Kaiserreich übernommen (W, 225f.; 258). 1965 wird in der Bundesrepublik die Schutzfrist auf 70 Jahre ausgedehnt, nach Ablauf des Jahres, in dem der Autor gestorben ist (W, 438). Auf das Urheberrecht wird ein eigener Abschnitt dieses Kapitels noch genauer eingehen. Drittes Problem sind die jeweils herrschenden Zensurbestimmungen. Österreich gilt unter Maria Theresia den Aufklärern „neben Bayern als schlimmster Hort geistiger und geistlicher Reaktion“ (W, 151). Als Joseph-II. 1780 das Ruder übernimmt, beginnt eine „Kulturrevolution“ in vielen Bereichen gesellschaftlichen Lebens, er lockert die Zensur und eine Flut von kritischen Schriften ist die Folge. Doch ist dieses „Tauwetter“ mit seinem Tod 1790 auch schon wieder vorbei (W, 153). Christian Friedrich Schubart, der die politisch offenherzige Zeitschrift Deutsche Chronik verantwortete, wird von dem württembergischen Herzog Carl Eugen 1777 auf sein Gebiet gelockt und verhaftet, er bleibt über zehn Jahre auf der Festung Hohenasperg eingekerkert (W, 154). Die Hoffnungen der vom Bürgertum enthusiastisch mitgetragenen Freiheitskriege gegen die napoleonische Besatzung erfüllen sich nicht. Weder wird ein Staat in der Folge des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation gegründet, das 1806 unter dem Ansturm Napoelons in sich zusammengefallen war, noch gewähren die auf dem Wiener Kongress von 1815 vertretenen Fürsten eine Verfassung. Preußen ist der große Gewinner des Kongresses, es kann sein Gebiet und damit auch seinen Einfluss erheblich vergrößern. Nachfolgeorganisation des Reiches wird der Deutsche Bund, ein eher loser Zusammenschluss der vielen Staaten, die das Reich einmal ausgemacht haben. Von nun an konkurrieren Österreich und Preußen um die Vorherrschaft, 1866 wird diese Frage durch einen Krieg zugunsten Preußens gelöst. Mit dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/ 71 und der sogenannten kleindeutschen Lösung wird Österreich faktisch aus dem jahrhundertealten Verbund ausgeschlossen. 1819 ist aber noch Österreich die stärkste Kraft im Bund, auf Betreiben dessen Kanzlers Fürst von Metternich (1773-1859) werden 1819 die sogenannten Karlsbader Beschlüsse erlassen. Damit reagiert der Bund auf 154 Einheit 6 den Mord an dem russischen Staatsrat und Erfolgsschriftsteller August von Kotzebue, der von dem Studenten Karl Ludwig Sand erstochen worden war. Die Karlsbader Beschlüsse galten, mit Einschränkungen je nach Zeit und Mitgliedsstaat, bis zur Revolution von 1848. „Sie verordneten die obligatorische Vorzensur für sämtliche Zeitungen und Zeitschriften sowie für alle Bücher mit einem Umfang von höchstens 20 Bogen, also 320 Oktavseiten“ (W, 227). Für Bücher geringeren Umfangs galt ‚nur‘ die Nachzensur, ein Umstand, den sich beispielsweise Heinrich Heine später zunutze machen sollte, indem er kleinere Werke zu Sammlungen zusammenfasste. Am bekanntesten ist das Verbot der Schriften des sogenannten ‚Jungen Deutschland‘ von 1835/ 36 (W, 228), deren prominentester Autor aus heutiger Sicht Heine war. Dennoch gab es in dieser Restaurationsepoche wichtige Reformen, etwa die Gründung der bis heute wichtigsten Interessenvertretung der Autoren in Deutschland, des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, im Jahr 1825 (W, 232). Auch die beiden anderen deutschsprachigen Länder gründeten entsprechende Vereinigungen, die mit der deutschen eng kooperierten. 16 Not macht erfinderisch - in die Zeit fallen auch wichtige, programmatische Verlagsgründungen. Hier ist Heines späterer Verleger Julius Campe (1792-1867) zu nennen, Chef von Hoffmann und Campe in Hamburg seit 1823 (W, 241), oder Anton Philipp Reclam, der 1828 den Reclam-Verlag in Leipzig gründet (W, 244) - zwei von vielen liberalen Verlegern, die nach Kräften daran arbeiten, die Zensur zu unterlaufen. Um ‚erbauliches Schrifttum‘ kümmert sich Carl Bertelsmann mit seiner Verlagsgründung 1835 (W, 267); noch ist nicht zu bemerken, dass es sich um die Keimzelle für ein weltweites Imperium handeln wird. Der Reclam-Verlag begründet im sogenannten Klassikerjahr 1867 mit einer billigen Ausgabe von Goethes Faust die folgenreiche Reihe der Universal-Bibliothek. „Zum fünfzigjährigen Jubiläum konnte die Universalbibliothek 1917 auf 2,3 Millionen verkaufter Exemplare von Schillers ‚Wilhelm Tell‘ verweisen“ (W,-269). Schon damals fanden die Reclam-Ausgaben vor allem als Schullektüren Verwendung. 16 „Die Statuten des ‚Vereins der österreichischen Buchhändler‘ (1859) und des ‚Schweizerischen Buchhändler-Vereins‘ (1849) wurden der Satzung des Börsenvereins weitgehend angepaßt. Ohnedies war Doppelmitgliedschaft die Regel, in der Schweiz bis 1922 sogar obligatorisch“ (W, 297). 155 Einheit 6 Lesepublikum und Buchhandel vom 19. bis zum 21. Jahrhundert 17 Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter der „Leserevolution“. Um 1800 konnte jeder Vierte lesen, um 1900 waren bereits neun von zehn Bürgern lesekundig (W, 189). Auch wenn es sich dabei vermutlich um eine optimistische Schätzung handelt und Wittmann an anderer Stelle wesentlich geringere Zahlen nennt (1800: 10%, 1850: 25%; W, 253), ist die Steigerung nichts weniger als radikal. Motor dieser Entwicklung ist, neben den technischen, wirtschaftlichen und sonstigen gesellschaftlichen Voraussetzungen, die Einführung der Schulpflicht auf breiter Basis und die bessere Ausbildung der Schulmeister, die zunächst selbst kaum lesen und schreiben konnten - angesichts der miserablen Bezahlung war auch kaum mehr zu verlangen. Die Zahl der produzierten Titel stieg stetig, 1843 war die Höchstmarke von 14.039 erreicht, sie wurde erst nach 1878 übertroffen (W, 219). 1925 waren es knapp 32.000 Bücher, durch die wirtschaftlichen Probleme der Folgejahre sank die Zahl aber wieder (W, 329). Der Anteil der ‚Schönen Literatur‘ pendelte während der Zeit der Weimarer Republik zwischen 14,2% und 23,4% (W, 330). Die technischen Innovationen erlaubten schnelleres, kostengünstigeres Produzieren von Druckwerken, dazu zählen die Inbetriebnahme von Papiermühlen mit Dampfbetrieb seit 1818, die von Friedrich Koenig erfundene Schnellpresse (bereits 1814 in England zum Druck der Times eingesetzt), deren Weiterentwicklung zur Rollenrotationsmaschine 1865 oder „Otmar Mergenthalers automatisch ausschließende Zeilensetz- und Gießmaschine Linotype von 1884, zu der noch vor 1900 die Monotype kam“ (W, 221ff.). Der Ausbau des Verkehrsnetzes, insbesondere durch den Siegeszug der Eisenbahn, sorgt für die schnellere Verbreitung der Druckwerke. Die „Einführung der Petroleumlampe gegen Ende des 19. Jahrhunderts“, „des Gasglühlichtes und der elektrischen Beleuchtung nach der Jahrhundertwende“ (W, 323) vereinfachten das Lesen während der Abendstunden und schonten die Augen. Die 1887 von einer außerordentlichen Hauptversammlung des Börsenvereins in Frankfurt/ Main beschlossene sogenannte ‚Krönersche Reform‘ bildet den Anfang der Buchpreisbindung (W, 265), die bis heute in Deutschland und Österreich gilt. Sie sichert die Existenz vor allem der kleineren Verlage und verhindert unter den großen einen ruinösen Wett- 17 Zur Entwicklung in Österreich, das bis ins 19. Jhd. Teil des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und dann des Deutschen Bundes, aber durch den Aufstieg zur Donaumonarchie und die Gründung des 2. Deutschen Kaiserreichs 1870/ 71 weniger eng an den deutschen Markt angebunden war, vgl. die ebenso ausführliche wie instruktive Darstellung von Norbert Bachleitner, Franz M. Eybl u. Ernst Fischer: Geschichte des Buchhandels in Österreich. Wiesbaden: Harrassowitz 2000 (Geschichte des Buchhandels 6). 156 Einheit 6 bewerb. 18 Der Börseinverein ist auch heute noch die wichtigste Interessenvertretung, er ist „[...] weltweit der einzige Verband, der alle drei Handelsstufen unter einem Dach vereinigt. Organisiert sind hier insgesamt rund 6500 Verlage, Buchhandlungen und Antiquariate, Zwischenbuchhändler und Verlagsvertreter.“ 19 Mit der 1912 erfolgten Gründung der Deutschen Bücherei in Leipzig als deutscher Nationalbibliothek wurden nun konsequent alle Neuerscheinungen gesammelt, die Verlage mussten Pflichtexemplare abliefern. 1946 entstand für Westdeutschland in Frankfurt/ Main die Deutsche Bibliothek, die 1990, unter Federführung Frankfurts, mit der Deutschen Bücherei fusioniert wurde (W, 298). 2006 wurde sie in Deutsche Nationalbibliothek umbenannt. 20 Wer die gesamte Titelproduktion durchforsten will, kann dies im „Verzeichnis lieferbarer Bücher“ tun. 21 Eine letzte Bastion musste noch fallen, die sich der Expansion des Buchmarkts widersetzte. „Das Einbinden und der Verkauf gebundener Bücher waren [...] eifersüchtig gehütetes Buchbinderprivileg“ (W, 101), das bis 1870 Bestand hatte (W, 260). Wer zweimal das gleiche Buch aus der vorherigen Zeit kauft oder in einer Bibliothek bestellt, wird aller Wahrscheinlichkeit nach zwei inhaltlich identische, aber vom Aussehen her verschiedene Exemplare in Händen halten. Louis Zander gründete 1852 das erste Barsortiment, einen Großhandel für Bücher; er kaufte mit etwa 7% Sonderrabatt die broschierten Exemplare der Verleger und ließ sie kostengünstig maschinell binden, bot sie dann in ‚Nettokatalogen‘ den Sortimentern an (W, 262). Damit war ein weiterer wichtiger Schritt zur massenhaften Verbreitung von Büchern getan, der bis heute bestens funktioniert. Die Barsortimente, auch Zwischenbuchhandel genannt, lagern Bücher, mit deren Weiterverkauf sie rechnen, in einer genügenden Anzahl; 22 die Buchhandlungen oder Sortimenter können diese Bücher dann bei ihnen via Telefon / Internet bestellen und bekommen sie täglich oder sogar zweimal täglich geliefert. Die Lager der Barsortimente sind voll automatisiert, der Bestellauftrag geht an Roboter, die sich um das Ein- und Auslagern der Bücher kümmern. Die beiden größten deutschen Barsortimente sind Koch, Neff und Volckmar (KNV) mit Sitz in Stuttgart und Köln (ein 2004 erfolgter Zusammenschluss des Unternehmens Koch, Neff und Oetinger mit Koehler und Volckmar) 23 sowie Libri (benannt nach 18 Vgl. hierzu auch die Informationsseite http: / / www.preisbindungsgesetz.de (abgerufen am 16.09.08). 19 Vgl. http: / / www.boersenverein.de/ de/ 64629 (abgerufen am 16.09.08). 20 Vgl. die Angaben zur Geschichte auf folgender Webseite: http: / / www.d-nb.de/ wir/ ueber_dnb/ geschichte.htm (abgerufen am 16.09.08). 21 Vgl. http: / / www.vlb.de (abgerufen am 16.09.08). 22 Zum Begriff wie zur Terminologie in der Kommunikation von Sortimentern und Barsortiment vgl. Thomas Bez: ABC des Zwischenbuchhandels. 5., neu bearb. Aufl. Stuttgart: BOD 2006, bes. S. 11f. 23 Nähere Informationen bietet die Webseite des Unternehmens unter http: / / www.knv.de/ _content/ page_2229_de.htm (abgerufen am 16.09.08). 157 Einheit 6 dem Firmengründer Georg Lingenbrink). 24 „Im deutschsprachigen Raum sind zur Zeit etwa eine Million Titel lieferbar, die der Endverbraucher über den Buchhandel bestellen kann“ (BM, 206). KNV allein hält 450.000 Titel am Lager, die binnen 24 Stunden nach der Bestellung eines Kunden in der Buchhandlung sein können. „Diese Leistungen sind allerdings nicht billig“ (LV, 177), Barsortimente kassieren einen sogenannten Funktionsrabatt von bis zu 15%, der üblicherweise auf den Rabatt der Sortimenter aufgeschlagen wird. Nur wer ein Exemplar aus einer kleinen Auflage eines kleinen Verlags möchte, muss sich möglicherweise bis zu zwei Wochen gedulden; es handelt sich dann um eine Verlagsbestellung (die Buchhandlung muss den Verlag direkt kontaktieren). Eine Zäsur war die Machtergreifung der Nationalsozialisten mit der Gleichschaltung aller Künstler und Schriftsteller. Missliebige Autoren wurden verboten und verfolgt, wer als Autor noch veröffentlichen wollte, musste Mitglied der Reichsschrifttumskammer sein (W, 360ff.). Zahlreiche bekannte Autoren gingen ins Exil, Wittmann beziffert ihre Zahl auf 1.800 (W, 380); darunter waren die Mann-Familie, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Anna Seghers und Lion Feuchtwanger. Einige überleben das Exil nicht, beispielsweise Kurt Tucholsky, der 1935 an den Folgen einer Übermedikamentierung (vermutlich Selbstmord) in Schweden stirbt oder Ernst Toller, der sich 1939 in New York das Leben nimmt. Verlage im Besitz jüdischer Mitbürger werden ‚arisiert‘, faktisch kommt dies einer Enteignung gleich. Autoren wie Gottfried Benn, Hans Fallada oder Erich Kästner versuchen mit unterschiedlichen Strategien, die NS-Zeit zu überleben, und passen sich dafür an; bis heute wird darüber gestritten, inwieweit dies jeweils notwendig war. Im Ausland werden Exilverlage gegründet, um die deutschsprachige Literatur der Vertriebenen am Leben zu erhalten. In der Nachkriegszeit entwickelte sich die Situation in den 1949 gegründeten beiden deutschen Staaten, der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), sehr unterschiedlich. Die sozialistische DDR verpflichtete ihre Autoren auf Linientreue; viele Autoren taten, was sie konnten, um die Bevormundung durch das Regime zu unterlaufen und die sozialistische Praxis, wenn auch nicht die hinter ihr stehende Ideologie, auf stark chiffrierte Weise kritisch zu durchleuchten. Die Literatur war in der von angepassten Massenmedien geprägten DDR die eigentliche Gegenöffentlichkeit, auch deshalb taten sich die ehemaligen DDR-Autoren in der vergrößerten Bundesrepublik nach 1990 (die DDR war nach dem sogenannten Mauerfall dem Staatsgebiet der BRD beigetreten) mit ihrem marktwirtschaftlich ausgerichteten Buchmarkt schwer. 24 Nähere Informationen bietet die Webseite des Unternehmens unter http: / / www.home.libri.de (abgerufen am 16.09.08). 158 Einheit 6 Im Österreich der Nachkriegszeit gab und gibt es eine starke Abhängigkeit vom deutschen Buchmarkt. Für das Jahrzehnt von 1971-1980 lässt sich feststellen: „Einer (reichlichen) Verdopplung des Exports steht eine Vervierfachung des Imports gegenüber.“ 25 Die geringe Größe der österreichischen Verlage im Vergleich zu ihren deutschen Pendants ist einer der Gründe. Dem versucht der österreichische Staat durch Subventionen gegenzusteuern, 1993 wurden 32 Verlage finanziell gefördert. 26 Dennoch dominiert die deutsche Produktion: „In Deutschland, das etwa 10mal so viele Einwohner hat wie Österreich, ist zwischen 1996 und 2005 die achtzehnfache Titelzahl erschienen.“ Allerdings ist die Zahl der neuen Bücher (im Unterschied zur wiederholten Auflage des selben Buches) im gleichen Zeitraum in Deutschland gesunken und in Österreich gestiegen, ein positiver Indikator für die Entwicklung des Buchmarktes in der Alpenrepublik. 27 Seit dem 19. Jahrhundert ist der Buchmarkt starken wirtschaftlichen Veränderungen unterworfen. Der Trend zu immer preiswerteren Ausgaben wurde nicht nur durch Reclams Universal-Bibliothek, sondern auch durch kleinere, sogenannte Taschen-Ausgaben und schließlich durch die Einführung des Taschenbuchs, also des ‚Paperbacks‘ (mit einem flexiblen Buchrücken, einem preiswerten Karton und mit Klebebindung) bedient. 28 Buchgemeinschaften verkauften an ihre Mitglieder Lizenzausgaben zu günstigeren Preisen (W, 334). Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich der Bahnhofsbuchhandel, der Kaufhausbuchhandel folgte auf dem Fuße (W, 316). Zu Anfang des 20. Jahrhunderts begann der Import von massenhaft produzierter Heftliteratur, „allein die Serie ‚Buffao Bill‘ soll es von 1905 bis 1914 auf 12386 Nummern gebracht haben“ (W, 325). Später hießen die Serien dann Nick Carter, Jerry Cotton oder Geisterjäger John Sinclair, doch ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein Trend zu teureren Produkten zu verzeichnen, etwa zu den Romanen Rosamunde Pilchers, deren Verfilmungen das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) ausstrahlt. Die Webseite zu der 1924 geborenen britischen Bestsellerautorin auf Wikipedia verzeichnet 79 Liebesromane. 29 Jüngere Entwicklungen sind Moderne Antiquariate, die oftmals nicht nur gebrauchte, sondern fabrikneue Bücher verkaufen, die von den Verlagen - so der wenig schmeichelhafte Fachbegriff - verramscht werden. Zu erkennen sind diese Exemplare durch einen Stempel „Mängelexemplar“ auf dem Buchblock, meist unten oder auf der Seite. Damit unterliegen die Bücher nicht mehr der Preisbindung. Verlage können auf diese Weise ihre 25 Bachleitner u.a.: Geschichte des Buchhandels in Österreich, S. 336. 26 Vgl. ebd., S. 346. 27 Vgl. Michael Schnepf (Hg.): Verlagsführer Österreich. 5. Aufl. Wien: Buchkultur 2008, S. 17. 28 „Ein Taschenbuch ist ein einfach ausgestattetes kleinformatiges Buch mit kartoniertem Einband, das mit einer relativ hohen Auflage und zu einem relativ niedrigen Preis auf den Markt gebracht wird. Das klassische Taschenbuchformat beträgt 11 x 18 cm“ (BM, 343). 29 Zahlen vom Februar 2008. Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Rosamunde_Pilcher (abgerufen am 19.02.08). 159 Einheit 6 Lager räumen, um Platz für die neue Produktion zu machen; aussortiert werden Bücher, die keinen stetigen Verkauf auf einem bestimmten Niveau garantieren. Lagerhaltung ist (durch Gebäude-, Personal- und Energiekosten) immer teuerer geworden, entsprechend hat sich der Zyklus des Verramschens immer weiter beschleunigt, manchmal landet ein Buch schon nach einem halben Jahr im Modernen Antiquariat. Auch der Internetbuchhandel hat stark zugenommen, der Platzhirsch ist Amazon.de, eine Tochter des US-amerikanischen Unternehmens Amazon. com. Bücher sind nur eine Sparte des Internetkaufhauses, das als virtueller Buchhändler agiert und zudem, über Amazon.de Marketplace, gegen Provision die Möglichkeit bietet, antiquarisch Bücher zu kaufen oder zu verkaufen; die Kunden zahlen einen festgesetzten Preis und der Bezahlungsvorgang einschließlich Porto wird über Amazon abgewickelt. Doch auch die Verlage versuchen sich mit attraktiven Webseiten und automatisierten Bestellvorgängen im Direktverkauf, schließlich können sie so den Rabatt für Barsortiment und Sortimenter sparen. Um im Wettbewerb bestehen zu können, haben sich auch die Antiquariate zusammengeschlossen und das Zentrale Verzeichnis antiquarischer Bücher gegründet. Über die Webseite http: / / www.zvab.com konnten im Februar 2008 rund 25 Millionen Titel recherchiert werden, die von mehr als 4.100 Antiquariaten in 27 Ländern feilgeboten wurden. 2006 hat der Buchhandel in Deutschland rund 9,3 Milliarden Euro umgesetzt: Wachstumsgewinner innerhalb der Absatzkanäle war das Internet, hier stieg der Umsatz um 11 Prozent auf 703 Millionen Euro, 7,6 Prozent des Gesamtumsatzes mit Büchern. Der größte Absatzkanal für Bücher ist jedoch mit 54,3 Prozent der Sortimentsbuchhandel, hier stieg der Umsatz erstmals seit fünf Jahren wieder minimal um 0,3 Prozent auf 5,03 Milliarden Euro. Ebenfalls gestiegen sind die Umsätze der Verlage. Sie lagen 2006 3,5 Prozent höher als im Vorjahr - ein Plus, das sich durch alle Geschäftsbereiche zieht. Erhöht wurde in diesem Jahr wiederum die Titelproduktion: Die Zahl der Neuerscheinungen stieg 2006 um 5,4 Prozent auf 94.716 Titel. 30 In den vergangenen Jahren hat sich durch die Medienkonkurrenz der Trend zu neuen Produkten verstärkt, vor allem zu Hörbüchern, sie erzielen seit Jahren immer neue Verkaufsrekorde. Im August 2008 lag der Umsatz mit Hörbüchern um 3,7% über dem Vorjahresmonat, während Hard-/ Softcover ein Minus von 2,1% und Taschenbücher von 1,3% verbu- 30 Vgl. Gottfried Honnefelder: Buchbranche wieder im Aufwärtstrend. Pressemitteilung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels v. 12.7.2007. http: / / www.boersenverein.de/ de/ 150797? skip_ val=0&list_id=64641&jahr=0&aktuell=yes (abgerufen am 19.09.08). 160 Einheit 6 chen mussten. 31 Auch Kinder- und Jugendliteratur ist wieder im Kommen, wohl begünstigt durch die stärkere Leseförderung im Grundschulalter. Im Sachbuchbereich geht der Trend weiterhin zu Ratgeberliteratur, Erklärungshilfen für Gott und die Welt und eben auch fürs Studium (wie der vorliegende Band). Was die Vertriebswege angeht, zeigt sich für das Jahr 2007 folgendes Bild: Insgesamt gesehen haben sich die Umsätze positiv entwickelt: 31 Über die aktuellen Zahlen informiert regelmäßig der Newsletter „Branchen-Monitor Buch“ des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, der sich über die Webseite des Börsenvereins abonnieren lässt (vgl. ebd.). Quelle: Branchen-Monitor Buch, Ausgabe September 2008 Quelle: Branchen-Monitor Buch, Ausgabe September 2008 161 Einheit 6 Der Sortimentsbuchhandel hat allerdings Federn lassen müssen, während der Versandbuchhandel, wohl vor allem durch das Internet, deutlich zulegen konnte: Einen Überblick über die aktuelle Produktion kann man nirgendwo besser bekommen als auf der Frankfurter Buchmesse, der größten Buchmesse der Welt, die im Oktober stattfindet und jedes Mal einen länderspezifischen oder regionalen Schwerpunkt hat, oder auf der Leipziger Buchmesse im März, die sich in den letzten Jahren zu einer ernsthaften Konkurrenz für Frankfurt gemausert hat - sie ist lichter (auch dank der neuen gläsernen Messehalle), bunter und bietet mit zahlreichen Autorenlesungen in der Stadt ein nicht zu bewältigendes Beiprogramm. Auf der Frankfurter Buchmesse 32 waren 2007 genau 7.448 Aussteller vertreten, mehr als die Hälfte kamen nicht aus Deutschland, insgesamt waren es Aussteller aus 108 Ländern. Auf knapp 172.000 Quadratmetern wurden fast 400.000 Titel gezeigt, die Buchmessegesellschaft zählte 286.621 Besucher. 33 Auf der Leipziger Buchmesse 34 wird der prestigeträchtige ‚Preis der Leipziger Buchmesse‘ verliehen. Auch sie kann mit beeindruckenden Zahlen aufwarten, 2007 wurden 127.000 Besucher gezählt. Auf 63.000 Quadratmetern gab es Neuerscheinungen von 2.348 Ausstellern aus 36 Ländern 32 Aktuelle Informationen bietet die Webseite http: / / www.buchmesse.de/ de/ portal.php (abgerufen am 16.09.08). 33 Vgl. http: / / www.buchmesse.de/ imperia/ md/ content/ pdf/ pressepr/ pressemappen/ eroeffnungs_ pk_2007_katalan/ eroeffnungs_pk_2007_de/ eroeffnungs_pk_091007_de/ ausstellerstatistik_2007.pdf (abgerufen am 16.09.08). 34 Aktuelle Informationen bietet die Webseite http: / / www.leipziger-buchmesse.de (abgerufen am 16.09.08). Quelle: Branchen-Monitor Buch, Ausgabe September 2008 162 Einheit 6 zu sehen. 1.900 Veranstaltungen mit 1.500 über die ganze Stadt verteilten Autorenlesungen lockten zudem zahlreiche Zaungäste. 35 Junge Konkurrenz ist die Buch Wien, bis 2007 noch als traditionelle Buchwoche im Rathaus, 2008 mit einer kleinen, aber feinen Ausstellung auf dem Wiener Messegelände. Fortsetzung und Ausbau sind geplant. 36 Zensur einst und heute Die Zensur ist so alt wie die Literatur - immer schon versuchten Mächtige ihre Position zu verteidigen, indem sie schriftliche oder mündliche Äußerungen ächteten, die ihnen gefährlich werden konnten. Mit der Erfindung des Buchdrucks hat sich das Problem vervielfacht, denn nun war der Zugang zur Bildung und zur Schrift nicht mehr so einfach zu kontrollieren. Je größer die Öffentlichkeit, desto problematischer wird die unkontrollierte Äußerung von Meinungen: „Zensurgeschichte ist immer auch Mediengeschichte.“ 37 Mit Foucault ließe sich von einem Umbau der Technologien der Macht sprechen. Die Kontrolle verlagerte sich von einer klaren Hierarchie in ein kompliziertes Netzwerk von Beziehungen einerseits, von Außen nach Innen andererseits. Um den Fortbestand gesellschaftlicher Ordnungen zu sichern oder zumindest deren Umsturz zu verhindern (Veränderungen ließen sich nur aufhalten oder in andere Bahnen lenken, aber nicht vermeiden), wurden komplizierte Strukturen wie Polizei und Gesetzgebung eingeführt und die primäre Kontrolle über gesellschaftliches Handeln in das Individuum selbst verlagert. Diese Entwicklung findet im 18. Jahrhundert statt, als das feudale System vom bürgerlichen abgelöst wird - auch wenn die politischen Konsequenzen mit der Etablierung im heutigen Verständnis demokratischer Systeme erst im 19. und 20. Jahrhundert gezogen wurden. Was aber ist Zensur überhaupt? Wenn man den Begriff nicht grundsätzlich wertend versteht, handelt es sich um eine Güterabwägung: […] meistens kulminierte jede Zensurdebatte in der Frage, ob das individuelle Recht auf freie Meinungsäußerung Vorrang vor dem Eingriffsrecht des Staates zur Verteidigung von Werten und Normen habe, wobei die jeweiligen politischen und sozialen Machtverhältnisse nicht selten eine entsprechende Debatte von vornherein verhinderten (PZ, 9). 35 Vgl. http: / / www.leipziger-messe.de/ LeMMon/ buch_web_ger.nsf/ frames? OpenPage&Code=0x00x7x (abgerufen am 16.09.08). 36 Vgl. http: / / www.buchwien.at (abgerufen am 22.12.2008). 37 Bodo Plachta: Zensur. Stuttgart: Reclam 2006 (RUB 17660), S. 11. - Diese Studie wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle PZ und Seitenzahl. 163 Einheit 6 Geht man von der durch jahrhundertelange Praxis festgelegten Wortbedeutung aus, dann ist Zensur zunächst einmal ‚nur‘ […] die Überprüfung einer Äußerung über eine Sache oder Person hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit geltenden Regeln als Voraussetzung für jede Form von Kommunikation und deren Wirksamkeit (PZ, 15). Dabei lassen sich verschiedene Spielarten der Zensur unterscheiden. „Angst vor Sanktionen“ kann - und das dürfte der häufigste, zugleich der am wenigsten nachprüfbare Fall sein - Selbstzensur auslösen (PZ, 20). Es ist müßig darüber zu spekulieren, was alles gesagt und geschrieben würde, wenn es keine Regeln und Konventionen gäbe, die dies verhinderten. Präventivzensur „geht grundsätzlich von einem Erlaubnisvorbehalt aus“, ein Werk muss also vor der Veröffentlichung die Zensur passieren. Prohibitivzensur erlaubt zwar die Veröffentlichung, behält sich aber ein Verbot vor. Nachzensur wird die Überprüfung eines Werks nach seiner Veröffentlichung genannt, Widerrufs- oder Rezensur ein erneutes Kontrollverfahren (vgl. PZ, 21). „Als Träger von Zensur fungieren staatliche Institutionen, Kirchen, politische Bewegungen oder Gruppen. Voraussetzung ist dabei, dass diese Institutionen über entsprechende Machtbefugnisse verfügen […]“ (PZ, 22). Plachta unterscheidet außerdem drei Arten von Zensur nach der Stelle, an der sie ansetzen: 1. „Zensur als Kontrolle der Genese literarischer Produktion“, hier wird der Autor entsprechend überwacht. 2. „Zensur als Kontrolle der literarischen Distribution“, sie richtet sich vor allem gegen die Verlage. 3. „Zensur als Kontrolle der literarischen Diffusion“, sie richtet sich vor allem auf den Rezipienten (vgl. PZ, 23f.) - ein bekanntes Beispiel in den Medien wären Altersgrenzen bei der Freigabe von Kinofilmen. Die Geschichte der Zensur der Neuzeit beginnt in großem Stil 1487 mit einer Bulle des Papstes Innozens VIII., die zur Einführung der Vorzensur führte und die „Exkommunikation und eine Geldbuße“ als Strafen jedem androhte, „der ohne ausdrückliche bischöfliche Erlaubnis Bücher druckte und band, ja sogar las“ (PZ, 27). Verschiedene Bullen und Konzile der kommenden Jahrzehnte bemühten sich um die Etablierung von Kontrollmechanismen, so wurden Verzeichnisse verbotener Bücher angelegt. Ein bekannter Fall der Durchsetzung von Zensur mit den Mitteln der Inquisition ist Galileo Galilei, der wegen der Veröffentlichung seiner Schrift Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische ins Gefängnis geworfen wurde und drohender Folter nur entging, weil er 1633 der kopernikanischen Lehre abschwor (PZ, 38). Ein weiteres bekanntes Beispiel für radikale Zensur sind Bücherver- 164 Einheit 6 brennungen, die es bereits seit der Antike gibt, selbst in der Bibel wird ein solcher Fall geschildert (PZ, 40). Die schlimmsten Fälle sind jene, „in denen Autor und Bücher gemeinsam verbrannt wurden, z.B. die Verbrennung des tschechischen Reformators Johannes Hus und seiner Schriften 1415 in Konstanz“ (PZ, 43). Das bekannteste jüngere Beispiel ist die Verbrennungsaktion „Wider den undeutschen Geist! “ 1933 vor dem Berliner Opernplatz und „in mehr als 20 weiteren deutschen Städten“ (PZ, 45). In solchem Zusammenhang wird gern Heinrich Heine zitiert, der bereits ein Jahrhundert vorher in seinem Drama Almansor formuliert hatte: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher / Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen“ (PZ, 45). Nachdem die Kirche im ausgehenden Mittelalter und der Frühen Neuzeit den Buchdruck als Möglichkeit der Verbreitung von Gottes Wort begrüßt, aber die nach ihrer Meinung falsche Auslegung des Glaubens (etwa durch Martin Luther) streng geahndet hatte (wie das Beispiel Luther zeigt, ohne durchschlagenden Erfolg), spielen im beginnenden bürgerlichen Zeitalter religiöse Fragen kaum noch eine Rolle; von nun an geht es vor allem um die Verteidigung der politischen Macht oder um die Partizipation daran. Zunächst ist es das Bürgertum, das - als neue Schicht der Gebildeten - die Freiheit verbrieft sehen möchte, seine Meinung öffentlich zu äußern und zu verbreiten. Allerdings war diese Freiheit in den Gebieten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation unterschiedlich stark entwickelt. Christoph Martin Wieland, einer der bekanntesten Schriftsteller seiner Epoche, schreibt 1785: Freyheit der Presse ist Angelegenheit und Interesse des ganzen Menschengeschlechtes. Ihr haben wir hauptsächlich die gegenwärtige Stufe von Kultur und Erleuchtung, worauf der größere Theil der Europäischen Völker steht, zu verdanken. Man raube uns diese F[r]eyheit, so wird das Licht, dessen wir uns gegenwärtig erfreuen, bald wieder verschwinden; Unwissenheit wird bald wieder in Dummheit ausarten, und Dummheit uns wieder dem Aberglauben und dem Despotismus Preis geben (zit. nach PZ, 66). Im aufgeklärten Weimar ließ sich dies gut formulieren. Dass 1789 die Französische Revolution die Welt erschütterte, zeigt, dass man nicht überall Freiheiten hatte, die man verteidigen konnte. Berüchtigte Jahre der Zensur setzten 1819 mit den bereits erwähnten Karlsbader Beschlüssen ein. Nach der in vielerlei Hinsicht durchaus erfolgreichen, wenn auch politisch gescheiterten Revolution von 1848 gab es weiter obrigkeitsstaatliche Zensur, allerdings in reduzierter Form. Im 2. Deutschen Kaiserreich kam es weniger zum Abbau von Zensur als vielmehr zu Veränderungen in deren Umsetzung: 165 Einheit 6 Das Reichspressegesetz von 1871 änderte […] kaum etwas, die Vorzensur blieb de jure abgeschafft, aber die Nachzensur wurde umso konsequenter durchgeführt. Allerdings wechselte die Zuständigkeit der Kontrolle von der Polizei auf die Justiz (PZ, 125). Im Kaiserreich bis 1914, während des 1. Weltkriegs, selbst in der demokratisch organisierten Weimarer Republik war Zensur alltäglich, ganz zu schweigen vom Nationalsozialismus mit seiner Gleichschaltung der Medien und dem Maulkorb für alle missliebigen Schriftsteller oder Künstler - wenn sie nicht mit Berufsverbot belegt oder zur Emigration gezwungen wurden, in Haft oder ins Konzentrationslager kamen. Im besetzten Deutschland und Österreich nach 1945 wurde Zensur dann für die ‚gute Sache‘ zur „Entnazifizierung und Umerziehung“ eingesetzt (PZ, 184). In der DDR wurde Zensur zur Chefsache, ein ausgefeiltes System von Selbst-, Vor- und Nachzensur (bis hin zur Bespitzelung durch die Staatssicherheit) sorgte dafür, dass Kritik an der Ausprägung des deutschen Sozialismus nur versteckt, metaphorisch oder symbolisch geäußert werden konnte, etwa in den Naturgedichten der Lyrikerin Sarah Kirsch oder den auf historische Stoffe zurückgreifenden Romanen und Erzählungen Christa Wolfs. Wer meint, nach der Gründung der bundesdeutschen und der österreichischen Republik habe es keine Fälle von Zensur gegeben, der irrt; ein Beispiel ist der Versuch von 1962, Günter Grass‘ Erzählung Katz und Maus wegen ihres angeblich pornographischen Inhalts zu indizieren (PZ, 214). Doch schon an diesem Beispiel zeigt sich, dass sich mit der Zeit eine liberalere Zensurpraxis durchsetzte - die Gerichte verboten keineswegs alles oder hoben Verbote im Laufe der Zeit wieder auf. Wichtig für die weitere Gesetzgebung war die sogenannte „Mephisto-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts (BVG): Dieser Entscheidung lag der Roman von Klaus Mann: „Mephisto - Roman einer Karriere“ zugrunde. In dem Roman geht es um den Aufstieg des Schauspielers Henrik Höfgen, der mit den Nationalsozialisten paktiert, um Karriere zu machen. Als Vorbild der Romanfigur diente der Schauspieler Gustav Gründgens. Gegen die Veröffentlichung des Romans erhob der Adoptivsohn […] Klage vor dem Zivilgericht mit der Begründung, es werde das Persönlichkeitsbild seines Adoptivvaters verzerrt, und er erhielt Recht. Hiergegen erhob der Verlag Verfassungsbeschwerde. Das BVG hob 1971 das Verbot nicht auf, betonte aber zugleich die Bedeutung der ‚freien schöpferischen Gestaltung‘ in Kunst und Literatur. 38 1981 brachte ein anderer Verlag den Roman heraus, ohne dass ein weiteres Verbotsverfahren angestrengt worden wäre. Es hätte auch wenig Aussicht auf Erfolg gehabt, da die Rechtsprechung des BVG einen mit der Zeit ab- 38 Vgl. Fechner: Medienrecht, S. 53. 166 Einheit 6 nehmenden ‚postmortalen Persönlichkeitsschutz‘ konstatierte und der Tod des Schauspielers nun schon weit zurücklag. 39 Ein neuerer aufsehenerregender Fall ist das Verbot von Maxim Billers Roman Esra, der 2003 erschien, ebenfalls mit der Begründung, hier sei der Persönlichkeitsschutz verletzt worden: Gegen die Veröffentlichung des Romans klagte die frühere Freundin des Autors, da sich ihrer Ansicht nach die Schilderung der Romanfigur eng an ihrem eigenen Leben orientierte. In solchen Fällen ist zunächst darauf abzustellen, ob die Darstellung eine Identifizierung der dargestellten Person ermöglicht. Hierfür reicht die Erkennbarkeit der Person in ihrem Bekanntenkreis oder in der näheren persönlichen Umgebung aus. 40 Im Oktober 2007 hat „das Bundesverfassungsgericht das Erscheinen des Romans endgültig untersagt“. 41 Biller wurde sogar haftbar gemacht: 50.000 Euro hat Schriftsteller Maxim Biller seiner Ex-Freundin zahlen müssen. Der Bundesgerichtshof hatte entschieden, dass Billers Roman „Esra“ die Persönlichkeitsrechte der Klägerin verletzt. Jetzt befasst sich das BGH erneut mit dem Fall. Denn auch die Mutter der Ex-Freundin klagt auf Schmerzensgeld. 42 Besonders im Schussfeld der Kritik ist die deutsche Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (früher: Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften) mit ihrer Indizierungspraxis (vgl. hierzu das Kap. Literatur und Medien). Letztlich sind es zwei Gründe, die heute noch zur Zensur durch öffentliche Institutionen führen - mögliche Verletzungen des Persönlichkeitsrechts oder angebliche Verstöße gegen den Jugendschutz, vor allem durch pornographische Inhalte oder Gewaltdarstellungen. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht auch politische Zensur gäbe - sie ist Teil des literarischen Feldes geworden. Weder rechtsnoch linksradikale Inhalte lassen sich problemlos publizieren oder in einer breiteren Öffentlichkeit kommunizieren (was man begrüßen kann bzw. je nach Fall auch begrüßen sollte). Problematischer wird es wohl bei den Fällen, von denen man nichts erfährt, weil sie nicht zum Skandal taugen, die aber dazu angetan wären, die alltäglichen Probleme von Autoren, Regeln, Normen und Konventionen kritisch zu hinterfragen. 39 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Mephisto_(Roman) (abgerufen am 16.09.08). 40 Fechner: Medienrecht, S. 56. 41 N.N.: Liebesgeschichte „Esra“: Biller - jetzt klagt auch die Mutter der Ex. In: Welt-online Kultur v. 27.03.08, http: / / www.welt.de/ kultur/ article1843718/ Biller_Jetzt_klagt_auch_die_Mutter_der_ Ex.html (abgerufen am 16.09.08). 42 Ebd. 167 Einheit 6 Wem gehört das Buch? Das Urheberrecht „Das Urheberrecht schützt die Hervorbringer von Geisteswerken gegen die Entstellung und gegen die wirtschaftliche Ausbeutung ihrer Werke.“ 43 Das Recht am eigenen Werk endet nicht mit dem Tod. In Deutschland werden erst nach dem Ablauf des 70. Jahres nach dem Tod eines Autors die Rechte „gemeinfrei“, bis dahin sind es die Erben, die über ihre Verwertung entscheiden. 44 Die sogenannte Berner Übereinkunft regelt, dass die internationale Schutzfrist mindestens 50 Jahre beträgt. Und nach dem Welturheberrechtsabkommen (WUA) „gewährt jeder Vertragsstaat den Werken Angehöriger anderer Vertragsstaaten den gleichen Schutz wie den Werken der eigenen Staatsangehörigen“. 45 Das Urheberrecht schützt Werke aus Literatur, Wissenschaft und Kunst, traditionellerweise in der materialen Verbreitung ohne Erlaubnis, also als Buch, als Abbildung etc. Doch auch digitale Kunstwerke (Computerprogramme, Filme, Fotos etc.) oder die digitale Verbreitung materialer Werke, v.a. über das Internet, haben in den vergangenen Jahren zunehmend den Gesetzgeber und die Gerichte beschäftigt. Dazu kommt eine Harmonisierung des Urheberrechts innerhalb Europas. 46 Das deutsche Urheberrechtsgesetz stellt grundsätzlich ‚persönliche geistige Schöpfungen‘ unter Schutz, diese müssen ‚sinnlich wahrnehmbar‘ sein und ‚eine bestimmte Schöpfungshöhe aufweisen‘. 47 Der Urheber hat grundsätzlich die „Verwertungsrechte“ an seinem Werk, er kann dann anderen, etwa Verlagen, „Nutzungsrechte“ übertragen, die in einem Vertrag näher geregelt werden. In der Regel werden darin den Verlagen die Rechte zur Vervielfältigung und Verbreitung und das Recht zur Vergabe von Lizenzen eingeräumt. 48 Der Verlag verpflichtet sich umgekehrt zur Ausübung der ihm übertragenen Rechte und zu einer angemessenen Vergütung für die Leistung des Urhebers. 49 Bei belletristischen Werken liegt die Beteiligung des Autors bei ca. 10% an dem um die Mehrwertsteuer verringerten Ladenpreis (Nettoladenpreis). Wenn es sich um renommierte Autoren oder vielversprechende Titel handelt, wird in der Regel ein Vorschuss gezahlt und hinterher mit dem, was dem Autor zusteht, verrechnet. Aus der Beobachtung, dass nicht alle Rechte immer vereinbart und abgegolten werden können, sind die sogenannten Verwertungsgesellschaften entstanden. Die Verwertungsgesellschaft (VG) Wort mit Sitz in München 43 Fechner: Medienrecht, S. 119. 44 Vgl. ebd., S. 120 u. 124f. 45 Ebd., S. 204f. 46 Zur aktuellen Situation im Jahr 2008 vgl. Valie Djordjevic u.a. (Hg.): Urheberrecht im Alltag. Kopieren, bearbeiten, selber machen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2008 (Schriftenreihe 655), zur Stand der Harmonisierung innerhalb Europas bes. S. 252-255. 47 Vgl. Fechner: Medienrecht, S. 122. 48 Vgl. ebd., S. 127ff. 49 Ebd., S. 129. 168 Einheit 6 beispielsweise verwaltet die „Kopierabgabe“, 50 sie erhält einen prozentualen Anteil des Umsatzes mit Papierkopien und verteilt dieses Geld an die bei ihr registrierten Autoren. 51 Registrieren lassen kann sich jeder, der ein entsprechendes Werk veröffentlicht hat, neben Wissenschaftlern und Schriftstellern auch Journalisten. Die zweite große, zu nennende Institution für Deutschland ist die VG Bild-Kunst. Wer sich nicht nicht direkt mit dem Rechteinhaber eines Bild- oder Tondokuments in Verbindung setzen kann, sollte sich hier erkundigen. 52 In Österreich erfüllt die Literar Mechana eine vergleichbare Funktion: Die Literar-Mechana verwaltet die Rechte von Schriftstellern, Journalisten, wissenschaftlichen Autoren und Übersetzern sowie von deren jeweiligen Rechtsnachfolgern und Verlegern. Derzeit haben wir über 10.000 inländische Bezugsberechtigte. Seit Beginn des Jahres nimmt die Literar- Mechana für Autoren, Komponisten und Musikverleger auch die Rechte und Vergütungsansprüche an Musiknoten wahr. 53 Wichtig zu wissen ist, dass Zitate vom Urheberrecht ausgenommen sind. Das „Zitatrecht“ regelt insbesondere für die Bereiche Wissenschaft, Literatur und Kunst, aber auch für den Journalismus auf recht großzügige Weise, dass Teile urheberrechtlicher Werke durchaus übernommen werden dürfen; in welchem Umfang, entscheiden der Kontext und der Verwendungszweck. Wenn man beispielsweise in einer wissenschaftlichen Studie über Lyrik Gedichte abdruckt und interpretiert, so ist dies zulässig. Wichtig ist, dass dem Urheber der Originaltexte durch den Abdruck kein wirtschaftlicher Schaden entsteht, etwa wenn man ein ganzes Werk übernimmt und der Kauf der eigenen Publikation nun den Kauf des originalen Werks überflüssig machen würde. 54 Auch Kopien zum eigenen Gebrauch können angefertigt werden. Wieder gilt, dass nicht durch Vervielfältigung und Verkauf der geistige Eigentümer wirtschaftlich geschädigt werden darf. 55 Weitere Ausnahmen kommen hinzu, etwa die Möglichkeit, in Schulbüchern Texte abzudrucken und pauschal zu honorieren. 56 50 Ebd., S. 137. 51 Vgl. http: / / www.vgwort.de (abgerufen am 16.09.08). 52 Vgl. http: / / www.bildkunst.de (abgerufen am 16.09.08). 53 Vgl. http: / / www.literar.at, das Zitat findet sich unter den allgemeinen Informationen auf http: / / www.literar.at/ geschichte/ geschichte.htm (abgerufen am 16.09.08). 54 Vgl. Fechner: Medienrecht, S. 141. 55 Vgl. ebd., S. 141f. 56 Vgl. ebd., S. 142f. 169 Einheit 6 Was wurde und wird wirklich gelesen? Lesepublikum und Bestsellerforschung Die Literaturwissenschaft beschäftigt sich in erster Linie mit sogenannter Höhenkammliteratur, die Trivial- oder Unterhaltungsliteratur spielt nur eine untergeordnete Rolle. Das hat sich im Zuge der vorübergehenden Öffnung des literarischen Kanons in den 1970er Jahren geändert, dokumentiert beispielsweise in den Sozialgeschichten der Literatur, für deren Herausgabe Namen wie Rolf Grimminger oder Horst Albert Glaser stehen. Allerdings gibt es seit den 1980er Jahren eine Rekanonisierung, eine wieder zunehmende Konzentration auf einen Kernkanon von Werken, die als qualitativ herausragend und daher als besonders erinnerungswürdig erscheinen (vgl. hierzu die Kapitel „Literatur und Leser. Grundlagen der Rezeptionsforschung“ sowie „Prädikat Wertvoll: Kanon und literarische Wertung“). Zwar gibt es heute keine ganz einfachen Zuordnungen zur Höhenkammliteratur einerseits, zur Unterhaltungsliteratur andererseits mehr - Goldmann ist nicht mehr nur ein Verlag für Unterhaltungsliteratur, denn dort erscheinen beispielsweise auch die von der etablierten Literaturkritik teilweise enthusiastisch aufgenommenen Romane von Walter Moers, und Suhrkamp hat mit Isabel Allende eine Autorin im Programm, die höchste Auflagen im Bereich der gehobenen Unterhaltungsliteratur erzielt. Moers ist allerdings auch ein Bestsellerautor. Hier haben wir es mit einem Phänomen zu tun, das man heute als Crossover bezeichnet. In der Automobilindustrie wie im Verlagswesen werden Produkte geschaffen, die verschiedene Käuferschichten und Publika ansprechen. Patrick Süskinds Roman Das Parfum von 1985 ist ein Paradebeispiel dafür, dass es fiktionale Texte gibt, die jede Unterscheidung von Höhenkamm- und Unterhaltungsliteratur sprengen. Aber solche Texte sind eben doch nicht die Regel und das, was man auf Bestsellerlisten findet, ist meistens deutlich von dem zu unterscheiden, was Bestenlisten verzeichnen. Werner Faulstich ist einer der wenigen Wissenschaftler, die sich (noch im Gefolge der Kanonöffnung der 1970er Jahre) systematisch und ausführlich Gedanken darüber gemacht haben, was ein Bestseller eigentlich ist. Zunächst stellt er fest: Der Bestseller ist der Listen-Bestseller. Gemeint sind jene Romane und Sachbücher, jene Bücher, die in wöchentlichen, monatlichen und jährlichen Listen in den USA, England oder in der Bundesrepublik Deutschland genannt werden. 57 57 Werner Faulstich: Bestandsaufnahme Bestseller-Forschung. Ansätze - Methoden - Erträge. Wiesbaden: Harrassowitz 1983 (Buchwissenschaftliche Beiträge aus dem Deutschen Bucharchiv München 5), S. 7. Diese Studie wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit BB und Seitenzahl. 170 Einheit 6 Die erste Liste der Art erschien 1895 in einem US-amerikanischen Magazin, Großbritannien folgte bereits 1896, die Bundesrepublik Deutschland 1957. Waren es am Anfang 16 Buchhändler, die befragt wurden, so nahm die Repräsentativität der Stichprobe im Laufe der Zeit immer weiter zu und Listen wurden nach Genres ausdifferenziert (BB, 8). Als zweites wesentliches Merkmal hält Faulstich fest: „Der Bestseller ist das Buch, das sich […] am besten verkauft hat“ (BB, 14). Hier ist freilich zu berücksichtigen, in welcher Zeit und in welchem geographischen Raum sich das Buch ‚am besten verkauft hat‘, es gibt regionale Bestseller und solche, die nur kurze Zeit eine herausragende Popularität genießen (vgl. BB, 17). Außerdem ist es schwierig, den Rang als „Massenartikel“ genau nach Zahlen zu bestimmen, da Verlage mit der Herausgabe von Zahlen sehr zurückhaltend sind (BB, 15) und die ermittelten Verkaufszahlen immer nur eine begrenzte Aussagekraft haben: Denn keinesfalls werden die Verkäufe aller Buchhändler untersucht, sondern immer nur eine Auswahl. Hieß es im Spiegel 1961 dazu, dass eine „Repräsentativ-Umfrage bei 100 Buchhändlern in 50 westdeutschen Groß- und Universitätsstädten“ durchgeführt worden sei, sind es mittlerweile „350 Buchhändler, die so ausgewählt wurden, dass sie mit ihren Umsätzen und Standorten der Gesamtheit des Buchhandels in Deutschland entsprechen“. Media Control erhebt für den Focus Daten bei immerhin rund 800 Buchverkaufsstellen repräsentativ für Deutschland […]. Ramschhandel, Direktverkauf und Buchklubs bleiben jedoch weiterhin unberücksichtigt (BM, 50). Welche Schwelle für die Klassifizierung als Bestseller gilt, ist umstritten: Verleger und Agenturen gehen derzeit, abgesehen von saisonalen Schwankungen, von 15000 bis 20000 Exemplaren aus, während man in den 1970er Jahren allgemein annahm, dass ca. 30000 verkaufte Bücher erforderlich seien - jeweils innerhalb weniger Wochen (BM, 50). Für Bücher, die sich sehr lange am Markt in herausragender Position halten können, hat sich der Begriff des Longsellers eingebürgert. Für qualitativ hochwertige Texte, die einen hohen Kanonisierungsgrad erreichen und zugleich dauerhaft Bestand am Markt haben, verwendet man üblicherweise den Begriff Klassiker. Von den Bestsellerlisten sind die Bestenlisten zu unterscheiden - es handelt sich dabei um sogenannte Kritikerlisten, um eine regelmäßige Zusammenstellung einer Liste von Lesempfehlungen. In der Regel entscheidet eine Jury, welche Titel auf die Liste kommen. Die älteste und bekann- 171 Einheit 6 teste Liste ist die SWR-Bestenliste, die auf der Homepage des Senders (der früher SWF hieß) wie folgt vorgestellt wird: 1975 hatte der damalige Literaturredakteur des Südwestfunks Jürgen Lodemann eine weitreichende Idee. Der am Verkauf orientierten Bestsellerliste sollte eine Qualitätsliste entgegengesetzt werden. Das Ergebnis: die SWF-Bestenliste. Zusammengestellt wurde sie von Deutschlands bekanntesten Literaturkritikerinnen und Literaturkritikern. Längst haben sich die harschen Differenzen zur Bestsellerliste geschleift, Qualität und Unterhaltung schließen sich nicht aus. Was als Unterhaltungsliteratur erscheint, findet sich auf der Bestenliste wieder und Ernstes wie Martin Walsers „Springender Brunnen“ verkauft sich gut. Kurz: die alte Unterscheidung von unterhaltender und ernster Kultur hat doch erheblich an Macht eingebüßt. Aber damit hat die Bestenliste ihre Bedeutung nicht verloren. Sie ist ein Kompass auf dem Büchermeer der Neuerscheinungen, sie ist ein Pfadfinder im Bücherdschungel, das Trüffelschwein in den Papierbergen. Kurz: während die Bestsellerlisten aufs Bekannte und Etablierte vertrauen, ist die SWR-Bestenliste auf der Suche nach neuen Gefilden, nach unbekannten Büchern und Autoren, egal ob Lyrik, Romane, Autobiografisches, Tagebücher, Briefbände. Es gibt nur ein Kriterium: Das Lesen muss sich lohnen. 58 Auch das Auswahlverfahren wird kurz charakterisiert: 30 Literaturkritiker und -kritikerinnen nennen monatlich - in freier Auswahl - vier Buch-Neuerscheinungen, denen sie „möglichst viele Leser und Leserinnen“ wünschen, und geben ihnen Punkte (15,10,6,3). 59 Standardisierte Einordnungen wie „mittelschwere Lektüre“ und kurze wertende Inhaltsangaben sollen die Auswahl ansatzweise begründen und dem Leser erste Informationen zur eigenen Einschätzung liefern. Welche Voraussetzungen ein Buch haben muss, um zum Bestseller zu werden, ist umstritten. Die Programmleiterin des Campus-Verlags, Annette C. Anton, stellt klar: Man kann einen Bestseller nicht planen. […] Es gibt aber einige Kriterien, die Bestseller heute erfüllen müssen, zum Beispiel ein relevantes Thema zu behandeln oder auch eine aufregende, ganz persönliche Geschichte zu erzählen. Ein Bestseller ist wie ein Eintopf, in den sehr viele Zutaten gehören. Gerade im Sachbuchbereich müssen es massentaugliche Themen sein, die alle interessieren. Wichtig ist aber auch die richtige Platzierung des Buches in Zusammenarbeit mit der Presseabteilung und dem Marketing. 60 58 Vgl. http: / / www.swr.de/ bestenliste/ ueberuns/ index.html (abgerufen am 6.11.08). 59 Vgl. http: / / www.swr.de/ bestenliste (abgerufen am 6.11.2008). 60 Zitiert nach: Seitenweise Erfolg. Vierzig Bestseller und ihre Geschichten. Frankfurt/ Main: Bramann 2008, S. 33. 172 Einheit 6 Angesichts der Heterogenität des Literaturbetriebs müssen verschiedene Faktoren zusammentreffen, ihre Wirkung kann im Einzelfall stark unterschiedlich ausfallen. Ein massentaugliches Buch muss sich nicht unbedingt gut verkaufen, zumal es dann zu dem Thema vermutlich bereits einige Bücher gibt. Positive Besprechungen können den Verkauf ankurbeln, doch muss dies nicht sein. Was professionelle Leser lieben weicht oftmals von dem ab, was das Publikum goutiert. Insofern kommt es auf den Einzelfall und auf das Handeln der Akteure im Literaturbetrieb an, ob und inwieweit sich der Erfolg eines Buches steuern lässt. Wird ein Titel beispielsweise in einer Literatursendung im Fernsehen besprochen, dann ist auf jeden Fall davon auszugehen, dass die Verkäufe steigen werden - doch in welcher Höhe und über welchen Zeitraum wird sich nur schätzen lassen. Druckt der Verlag zu viele Bücher, kann die höhere Auflage, weil der Verkauf nicht so hoch wie erwartet ausfiel, sogar zum Minusgeschäft werden; druckt er zu wenige, ist das Interesse vielleicht schon wieder abgeflaut, sobald die noch einmal nachgedruckten Exemplare vorliegen. Am Beispiel des Bestsellers zeigen sich die alltäglichen Probleme der Büchermacher besonders deutlich. Wege zum Ruhm, oder zumindest zu einem Arbeitsplatz Viele Menschen schreiben, doch die wenigsten schaffen es, dass ihre Bücher verlegt werden. Das hat viele Gründe, nicht nur die vielleicht weniger herausragende Qualität. Wer den Weg beschreiten möchte, ein ‚richtiger‘ Autor zu werden, der sollte zunächst versuchen, Kontakte zu Literaturvermittlern zu knüpfen und sich von Experten Tipps geben zu lassen. Es empfiehlt sich, nicht gleich mit einem umfangreichen Roman in einem renommierten Verlag vor das Lesepublikum treten zu wollen, sondern kleinere Geschichten oder Romanausschnitte in Literaturzeitschriften zu veröffentlichen. Durch solche kleineren Veröffentlichungen knüpft man Kontakte, Verlage werden auf einen aufmerksam oder man hat zumindest etwas, worauf man beim Kontaktieren eines Verlages verweisen kann - denn Zeitschriften drucken nicht alles und man hat somit bereits eine erste Auslese hinter sich. Eine nach solchen Anfängen hervorragende Möglichkeit, bekannt zu werden, sind Stipendien für junge Autoren oder Kontaktbörsen wie das Literarische Colloquium Berlin, 61 das seinerseits Stipendien vergibt und den Autoren eine Plattform zur Präsentation ihrer Talente bietet, sogar auf der Leipziger Buchmesse: 61 Vgl. die Website des LCB unter http: / / www.lcb.de/ home (abgerufen am 16.09.08). Über Aktivitäten kann man sich durch einen Newsletter informieren lassen. 173 Einheit 6 Das Literarische Colloquium Berlin (LCB) stellt die Stipendiaten seiner renommierten „Autorenwerkstatt Prosa“ exklusiv auf der Leipziger Buchmesse vor. Bei den „Prosa Prognosen“ waren die Nachwuchstalente des LCB zu hören, die Schriftstellergrößen wie Judith Kuckart und Joachim Helfer ihre Lehrer nennen dürfen. Die „Autorenwerkstatt Prosa“ gilt als die Talentschmiede der deutschsprachigen Literatur. Sie hat zahlreiche erfolgreiche Schriftsteller wie zum Beispiel Judith Herrmann, Thomas Brussig und Zsuzsa Bánk hervorgebracht. 62 Am Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) gibt es sogar ein Universitätsstudium für angehende Schriftsteller. 1955 als Johannes-R.-Becher- Institut der DDR gegründet, wurde die Einrichtung wegen ihrer ideologischen Belastung zunächst Ende 1990 aufgelöst und dann 1995 neu ins Leben gerufen. Zu den jüngeren Absolventen zählen beispielsweise Clemens Meyer und Juli Zeh. Wer es schafft, sich von einem Juror vorschlagen zu lassen, der kann an der bekanntesten Talentbörse der Literatur teilnehmen, dem sogenannten Bachmann-Preis in Klagenfurt (benannt nach der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann), offziell betitelt als „Tage der deutschsprachigen Literatur“. 63 Juroren sind vor allem Autoren, Kritiker und Lektoren. Für den ganz jungen Nachwuchs gibt es vorgelagert einen eigenen kleinen Wettbewerb, den „Klagenfurter Literaturkurs“. Die Autorenförderung ist ein heterogenes und unübersichtliches Feld geworden, aber gerade deshalb bietet es viele Möglichkeiten. In den 1990er Jahren wurde für die Literatur- und Autorenförderung von Bund und Ländern in Deutschland ein Betrag von um die 100 Mio. DM (also ca. 50 Mio. Euro) im Jahr aufgewendet. Fördermittel bedeuten „Zeit zum Schreiben“. 64 Von der Beteiligung am Verkaufserlös ihrer Bücher können nur die wenigsten Autoren leben, in vielen Fällen sogar wichtiger als Einnahmequelle sind die Honorare für Lesungen. Unterm Strich kann man sagen, dass nur die wenigsten Autoren so viel Geld verdienen, dass sich ihr Lebensstandard mit dem anderer, fest angestellter Geistesarbeiter messen lässt. Nun möchte vielleicht nicht jeder, der Bücher mag, auch Autor werden, oder er möchte zumindest einen Beruf erlernen, der ihm eine finanzielle Basis sichert und mit Büchern zu tun hat. Es gibt im Buchhandel, von einer kaufmännischen Lehre oder anderen allgemeinen Ausbildungswegen für verschiedenste Branchen einmal abgesehen, eigentlich nur zwei 62 Vgl. http: / / www.leipziger-messe.de/ LeMMon/ buch_web_ger.nsf/ frames? OpenPage&Code=0x00x1x (abgerufen am 16.09.08). 63 Vgl. http: / / bachmannpreis.orf.at/ bachmannpreis (abgerufen am 16.09.08). Vgl. außerdem die präzise und aufschlussreiche Feldstudie von Doris Moser: Der Ingeborg-Bachmann-Preis: Börse, Show, Event. Wien u.a.: Böhlau 2004 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 9). 64 Jürgen Christen: Geld ist Zeit zum Schreiben! Literaturförderung durch Stiftungen und gemeinnützige Vereine. In: Gerhild Tieger (Hg.): Literaturpreise und Autorenförderung. Über 1000 Literaturpreise, Arbeitsstipendien, Aufenthaltsstipendien und andere Förderungen. Berlin: Autorenhaus 2002, S. 25-26. Vgl. auch http: / / www.autorInnen.de (abgerufen am 12.1.09). 174 Einheit 6 spezifische Ausbildungsmöglichkeiten - die Buchhändlerlehre und das Verlagsvolontariat. Während das Volontariat keine allgemein verbindlich geregelte Ausbildung ist und die Ausgestaltung weitgehend dem Verlag überlassen bleibt (in der Regel dauert es zwei Jahre, es kann auch auf ein Jahr oder gar auf sechs Monate verkürzt werden), ist Buchhändler ein klassischer Ausbildungsberuf: Der Beruf des Buchhändlers ist eine kaufmännische Tätigkeit. Zu den wichtigsten Aufgaben gehören Einkauf, Verkauf und absatzorientiertes Denken. Buchhändler arbeiten in Buchhandlungen, Buchverlagen, Antiquariaten und im Zwischenbuchhandel. […] Die Ausbildung setzt mindestens den Hauptschulabschluss voraus und dauert drei Jahre. […] Ein Teil der Lehre erfolgt im Betrieb, der andere in einer staatlichen Berufsschule […], 65 alternativ in einer Buchhändlerschule. Die Ausbildungsdauer kann bei Studienabsolventen um zwölf Monate verkürzt werden. 66 In Österreich ist die Situation nur wenig anders, die Lehrzeit kann bei Maturanten (Abiturienten) verkürzt werden und der Unterricht findet in Buchhändlerklassen an Berufsschulen statt. 67 Zweifellos lohnt es sich, auch mit Studium über eine Beschäftigung im Buchhandel nachzudenken, die vergleichsweise guten Beschäftigungsmöglichkeiten und die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit (etwa für Eltern mit Kindern) sind Vorteile: Im Buchhandel waren nach einer Statistik des Statistischen Bundesamtes am 21.12.1998 31.400 Personen beschäftigt. Annähernd die Hälfte aller Beschäftigten ist in Teilzeitarbeit tätig; ihr Anteil ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Die Zahl der im Buchhandel insgesamt Tätigen steigt jährlich um ein bis 2,5%. Die Haupttätigkeit der im Buchhandel Beschäftigten liegt in den Bereichen Sortimentsgestaltung, Beratung, Bedienung und Verkauf. Wegen der komplexen Materie und der hohen Titelzahl werden an die Mitarbeiter höhere Anforderungen an die Qualifikation gestellt als in vielen anderen Einzelhandelsbranchen. 68 Wenn man bedenkt, dass eine Buchhandlung mittlerer Größe „für ihre Kunden zwischen 30.000 und 60.000 Titel bereit“ hält, 69 dann ist Sachkennt- 65 Dorothée Werner u. Patrick Körber: Buchhändler? - Na klar! Ein Blick auf die Branche - Was wollen Azubis? - Ausbildungsinhalte in Schule und Betrieb - Rechte und Pflichten während der Ausbildung - Bewerbung um Job und Arbeitsplatz - Praktikum im In- und Ausland - Weiterbildung und Karrieremöglichkeiten. Frankfurt/ Main: Bramann 2005 (Edition Buchhandel 15), S. 29. 66 Vgl. ebd., S. 53. 67 Vgl. Wolfgang Erhardt Heinold: Bücher und Buchhändler. Buchhandlungen in der Informationsgesellschaft. Unter Mitarbeit v. Gernot Keuchen u.a. 4., völlig neu bearb. Aufl. Heidelberg: C.F. Müller 2001 (UTB 2229), S. 238. 68 Ebd., S. 218. 69 Wolfgang Erhardt Heinold: Bücher und Büchermacher. Verlage in der Informationsgesellschaft. 5., völlig neu bearb. Aufl. Heidelberg: C.F. Müller 2001 (UTB 2216), S. 267. 175 Einheit 6 nis gefragt. Außer bei kleinen Buchhandlungen werden den Mitarbeitern Arbeitsgebiete zugeteilt, es gibt dann Arbeitsschwerpunkte je nach Abteilungen oder Rubriken (z.B. Kinder- und Jugendliteratur, Wissenschaft…). Natürlich gibt es zahlreiche weitere, oftmals freiberufliche Arbeitsmöglichkeiten, die hier nicht alle aufgelistet werden können (einige weitere werden im Kapitel „Literaturvermittlung in Bildungsinstitutionen“ noch angesprochen), sie ergeben sich aber, so wie die Tätigkeit von Korrekturlesern und Layoutern, oftmals aus der Darstellung des Gesamtkomplexes Buchhandel. Ein Beruf, der zunehmend wichtiger geworden ist und als Alternative zu dem des Lektors hier erwähnt werden soll, ist der des Literaturagenten, der (so wie ein Makler Häuser an Käufer) auf Provisionsbasis Autoren und Bücher an Verlage vermittelt: Den Agenten zeichnen vor allem kaufmännische Übersicht, Branchenerfahrung, Vertrautheit mit dem Buchmarkt, literarische Kenntnisse und eloquente Verhandlungsintelligenz aus. Er verhandelt im Namen anderer und hat dabei die Verantwortung, die bestmöglichen Ergebnisse für seine Klienten zu erzielen. 70 Agenten können selbständig tätig oder angestellt sein, in dem Fall kassiert die Agentur und zahlt dem Mitarbeiter ein Gehalt plus eine Provisionsbeteiligung. Da nicht die Buchhändlerlehre oder die Arbeit des Literaturagenten (die sich von dem des Lektors nicht so sehr unterscheidet), sondern die Arbeit im Verlag für viele Studierende mit Interesse an der Literaturvermittlung zentraler Berufswunsch ist, soll hier ein Schwerpunkt gesetzt und dargestellt werden, wie ein Verlag arbeitet und wie die Aufgaben dort verteilt sind. Der Weg von der Idee zum Buch: Handfestes für angehende Lektoren a) Noch einmal: das Umfeld Verlage sind heute spezialisierte Unternehmen, das war nicht immer so: „Verlag“ setzt also eine Trennung von Produktion und Vertrieb voraus. Diese Differenzierung als Professionalisierung der Berufe vollzieht sich für die Buchwirtschaft erst im 18. Jahrhundert. Vorher waren Drucken und Verlegen von sowie der Handel mit Büchern in einer Hand vereint - und das seit der Antike, als auf dem Athener Markt neben Fisch- und Gemüseständen auch bibliopolai, Buchhändler, ihre Ware auslegten, die sie in handschriftlichen Kopien erstellt hatten. Erst seit Mitte des 18.- Jahr- 70 Joachim Jessen u.a.: Literaturagentur. Erfolgreiche Zusammenarbeit Autor - Agent - Verlag. Vorwort von Michael Krüger. Berlin: Autorenhaus 2006, S. 90. Für ein Verzeichnis von Agenturen im deutschsprachigen Raum vgl. S. 209ff. 176 Einheit 6 hunderts gehen Drucker, Verleger und Buchhändler getrennte Wege. Der reine Buchverlag ist eine Erscheinung der Moderne, also der Epoche, die in der sog. „Sattelzeit“ von 1770-1830 beginnt. 71 Bei aller Liebe zum Buch - ein Verlag gehört zur Gruppe der […] Wirtschaftsunternehmen, die auf Grund von Verträgen, die sie mit Autoren als geistige Urheber geschlossen haben, für die Dauer des gesetzlichen Urheberrechts Verwertungs- und Nutzungsrechte an den geistigen Produkten erworben haben. 72 Verlage sind zwar Wirtschaftsunternehmen, doch auf der anderen Seite gilt, was Wulf D. v. Lucius so formuliert hat: „Kein Unternehmen und schon gar kein Verlag sollte eine reine Gewinnerzeugungsmaschine sein“ (LV, 15). In einer Zeit zunehmender Konkurrenz nicht nur zwischen Verlagen und Buchhandlungen wird dieser Spagat zunehmend schwieriger. Den traditionellen Buchverlag gibt es - ab einer gewissen Größe - kaum noch, der Trend der neuen Zeit lautet Multimedia, vom Hörbuch über interaktive Lern-CDs bis zu Internet-Auftritten mit Bezahlangeboten. Zumindest eine gut strukturierte Webseite, die das Stöbern und das Bestellen von Büchern erlaubt, darf nicht fehlen. Dennoch ist das Buch für die meisten Verlage noch so etwas wie das Basis-Produkt, es ist Ausgangspunkt und Zentrum der Produktion. Die 100 größten Verlage haben einen Marktanteil von rund 85% (RB, 17). Die meisten Verlage sind also Kleinstverlage: Das Adressbuch für den Deutschen Buchhandel zählt im Jahr 2001 rund 25000 Einträge von buchhändlerischen Betrieben. Hiervon entfallen ca. 17000 auf herstellende Unternehmen. Hiermit sind nicht nur die klassischen Verlage gemeint, sondern hierunter fallen auch Universitäten, Körperschaften und sonstige Institutionen, die im Rahmen ihrer Publikationspflicht Bücher verlegen. Von diesen 17000 haben wiederum ca. 10000 Verlage weniger als 10 lieferbare Titel im Programm (RB, 17). Es gibt nur etwa 3.700 steuerpflichtige Buchverlage, das sind jene, die mehr als rund € 17.000 pro Jahr umsetzen. Ohne die persönliche Leidenschaft und Leidensfähigkeit von Verlagen, die oft nur aus einem Mann oder einer Frau bestehen, würde ein substantieller Teil der Verlage zu existieren aufhören. 71 Dietrich Kerlen: Der Verlag. Lehrbuch der Buchverlagswirtschaft. 14. Aufl. Stuttgart: Hauswedell & Co. 2006, S. 4. - Das Buch wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle LB und Seitenzahl. 72 Hans-Helmut Röhring: Wie ein Buch entsteht. Einführung in den modernen Buchverlag. Vollst. überarb. u. aktual. v. Klaus-W. Bramann. Darmstadt: Primus 2003, S. 11. Dieses Buch wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle RB und Seitenzahl. 177 Einheit 6 Von den rund 2.000 im Börsenverein des Deutschen Buchhandels organisierten Verlagen kann man etwa 600 als Publikumsverlage bezeichnen, sie richten sich an ein möglichst breites, nicht spezialisiertes Publikum (RB, 12). Es gibt, wie bereits angesprochen, aber vor allem Verlage, die zweigleisig fahren, also an Höhenkammliteratur interessierte Leser ebenso ansprechen wie den Bestseller-Leser. Das mit der Literatur erworbene symbolische Kapital strahlt dann auch auf die anderen Titel aus und finanziert sie mit. Diese sogenannte Mischkalkulation ist also keine Einbahnstraße, sondern eine Notwendigkeit, um ein bestimmtes Profil gewinnen und vertreten zu können. Andere Verlage wie Bastei Lübbe verzichten auf Höhenkammliteratur und setzen allein auf potentielle Bestseller oder Longseller. Der Markt ist also heterogen strukturiert: Wenn man weiß, dass ein Titel auf der Bestsellerliste nicht selten mit etwa 20000 verkauften Exemplaren zu Buche schlägt und ein junger literarischer Autor oder das anspruchsvoll übersetzte Werk selten mehr als 2000 (in Worten: zweitausend! ) verkaufte Exemplare erreichen, dann versteht man die Relation von literarischem Anspruch und kaufmännischem Zwang in einem modernen Buchverlag (RB, 12f.). Dabei sind die Ausschläge nach unten und oben im Laufe der letzten Jahrzehnte immer größer geworden, es gibt auch Titel in bekannten Verlagen mit deutlich unter 1.000 verkauften Exemplaren und andererseits Titel, von denen sich scheinbar mühelos mehrere hunderttausend Exemplare verkaufen lassen. Die im Vergleich zu anderen Sprachregionen große Vielfalt der deutschsprachigen Literatur wird immer wieder und sicher auch zu Recht auf die Preisbindung für Bücher zurückgeführt. Folgendes kann als Konsens gelten: Bei Aufhebung des gebundenen Ladenpreises würden große Buchhandlungen, Ladenketten, Kaufhäuser usw. durch Großeinkauf und entsprechend höheren Rabatt günstiger kalkulieren und Bücher zu entsprechend niedrigeren Ladenpreisen anbieten können. Gleichzeitig würde die Tendenz gefördert, dass sich Buchhandlungen auf gängige Bücher konzentrieren und anspruchsvolle Bücher, die sehr häufig schwer verkäuflich sind, nicht mehr in ihrem Sortiment führen. Diese Entwicklung führt wiederum dazu, dass die Auflagen solcher Bücher zurückgehen und die Preise dafür steigen (RB, 13f.). Dennoch haben die vergangenen Jahrzehnte und vor allem Jahre gezeigt, dass die Preisbindung den hier skizzierten Prozess nicht verhindern, sondern nur verlangsamen kann. Der Trend geht zu kleineren Auflagen 178 Einheit 6 und höheren Preisen, wobei diese pauschale Aussage verdeckt, dass die Situation in den unterschiedlichen thematischen Bereichen stark variiert. Esoterik verkauft sich blendend, geisteswissenschaftliche Fachbücher sind zu Ladenhütern geworden - wenn sie überhaupt noch das Lager verlassen und einen Laden von innen sehen. Deshalb müssen Autoren solcher Bücher in der Regel Geld mitbringen, wenn sie ihre wissenschaftliche Studie gedruckt sehen wollen. In Deutschland, wo die Drucklegung der Dissertation noch weitgehend (es hängt von der Universität ab, ob sie auch online-Publikationen erlaubt und vielleicht sogar organisiert) Voraussetzung für die Verleihung des Doktortitels ist, ist das Verlegen der sogenannten ‚Qualifikationsschriften‘ (auch Magisterarbeiten oder Habilititationsschriften) ein lukratives Geschäft. Die Auflagen sind klein (um die 100 verkaufte Exemplare sind mittlerweile üblich) und werden in der Regel nur an Bibliotheken verkauft. Was von dem, was sich der Verlag erwartet, über den Verkauf nicht hereinkommt, zahlen öffentliche Stellen (etwa Stiftungen oder Universitätsvereine) und vor allem der Autor selbst. Die sogenannten Druckkostenzuschüsse können, je nach Verlag und Ausstattung, stark variieren. Renommierte, alteingesessene Verlage mit relativ viel Personal und hohem Werbeaufwand müssen naturgemäß mehr Geld erwirtschaften als vielleicht weniger bekannte und angesehene, aber dafür nur von wenigen Leuten betriebene Unternehmen. Doch der Bekanntheitsgrad des Verlags garantiert noch keinen besseren Absatz. Ein Kollege von mir hat einmal die Publikation seiner Habilitationsschrift in einem besonders anerkannten Haus, das neben hohen Druckkostenzuschüssen auch hohe Preise für seine Bücher verlangt, mit den Worten kommentiert: „Begräbnis erster Klasse.“ Neben dem gestiegenen Titelangebot, der Konkurrenz durch die neuen Medien und anderem, was hier genannt werden könnte, dürfte ein Grund für den Rückgang des Interesses insbesondere an geisteswissenschaftlichen Publikationen der Trend zum leichten Kopieren von Büchern sein, das von Lehrenden und Lernenden gleichermaßen genutzt wird (RB, 15). Die Entwicklung hat aber wohl auch mit Entwicklungen in der Gesellschaft zu tun, die in vorhergehenden Kapiteln bereits geschildert wurden. Der Trend zur Personalisierung, die durch die Massenmedien geförderte Konzentration von Aufmerksamkeit auf bestimmte Themen und Produkte schlagen sich auch hier nieder, sie lenken die Aufmerksamkeit auf einige wenige Spitzentitel, die von den Verlagen umso mehr beworben werden. Das beginnt bei der zunehmenden Inszenierung von Autorenbildern, man denke an den melancholischen Blick Judith Hermanns, der im Zuge des Erfolgs des Erzählungen-Bandes Sommerhaus, später (1998) Ende der 1990er Jahre omnipräsent war. Mit Marc Reichwein lässt sich die im Literaturbetrieb mittlerweile übliche Strategie der Marken-Bildung als Framing beschreiben: 179 Einheit 6 „Frames“ sind gleichermaßen komplexitätsreduzierende wie popularisierende Rahmen für die Inszenierung von Medieninhalten. Inszenierungsschemata wie Personalisierung, Emotionalisierung oder Skandalisierung bilden typische Framing-Verfahren, mit deren Hilfe die Attraktivität von Medieninhalten gesteigert und ihre Rezeption gezielt motiviert werden soll. 73 Als Bestandteile des Framing macht Reichwein Personalisierung, Visualisierung und ‚branding‘, also die Produktion eines markentypischen Images aus. 74 Nicht nur Autoren-Images tragen zum Erfolg bei. Bestimmte Themen verkaufen sich immer, das Buch kann noch so unzureichend fundiert sein - man denke an die sogenannte Goldhagen-Debatte über das Buch Hitlers willige Vollstrecker des US-Amerikaners Daniel Jonah Goldhagen, in dem einmal mehr das Bild vom bösen Deutschen gezeichnet wird. Selbst bekannte Vertreter jüdischer Organisationen wandten sich gegen die verallgemeinernde These des Buches, alle Deutschen seien zumindest potentielle Mörder gewesen, etwa Simon Wiesenthal, der Direktor des jüdischen Dokumentationszentrums in Wien: „Daß Goldhagen von einzelnen Tätern auf ein ganzes Volk schließe, halte er für falsch.“ 75 Der (neudeutsch) Hype, der die Buchbranche erfasst hat, führt zu immer schnelleren Umschlagzeiten der Titel: Bei Publikumsverlagen sind zwölf Monate im Hardcover-Bereich sowie sechs Monate bei Taschenbüchern eher die Regel denn die Ausnahme. Die Verlage haben - zum Teil erst durch das veränderte Verhalten des Buchhandels erzwungen - ihre Programme reduziert und das Titelangebot - hier und da drastisch - zurückgenommen (RB, 14f.). Das kann man auch als „Gesundschrumpfen“ bezeichnen (RB, 15), doch wird man damit wohl nicht die ganze Wahrheit erfassen, beispielsweise gibt es andere Verlage, die ihre Titelproduktion ausgeweitet haben. Nur positiv ist diese Entwicklung jedenfalls nicht. Wer in Verlagen arbeiten will, muss sich mit diesen Umständen auseinandersetzen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Es gibt ja auch immer wieder Erfolgsgeschichten - Klein- und Kleinstverlage, die durch ihre Verankerung in einer Region oder durch ihre besondere Marktnische keine Probleme haben, komfortabel zu überleben. 73 Marc Reichwein: Diesseits und Jenseits des Skandals. Literaturvermittlung als zunehmende Inszenierung von Paratexten. In: Stefan Neuhaus u. Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle - Funktionen - Folgen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 89-99, hier S. 90f. 74 Vgl. ebd., S. 91-95. 75 dpa: Simon Wiesenthal kritisiert Daniel Goldhagen. In: Frankfurter Rundschau v. 24.08.1996. 180 Einheit 6 b) Im Verlag Größere Verlage bestehen aus verschiedenen Abteilungen. Wie differenziert die Struktur ist, hängt von der Titelproduktion und der Mitarbeiterzahl ab. Wie angesprochen gibt es Verlage, in denen eine Person alle Funktionen erfüllt - wohingegen die Großen der Branche in der Regel nach den folgenden Aufgabenbereichen differenzieren: ▶ Lektorat ▶ Herstellung ▶ Verkauf und Vertrieb ▶ Werbung / Marketing / Public Relations ▶ Presse ▶ Lizenzen ▶ Rechnungswesen und Controlling Auch dies wird unmittelbar einleuchten: Je differenzierter die Struktur und größer der Mitarbeiterstab, desto wichtiger ist die „innerbetriebliche Kommunikation“ (RB, 25). Wie in vielen Betrieben anderer Branchen tendieren jedoch auch Verlage dazu, diesen Bereich zu vernachlässigen. Gespart wird immer an den Stellen, die nicht direkt zum Umsatz beitragen - dass ein gutes Betriebsklima aber genau das vermag, haben zahlreiche Studien gezeigt. Um ein altes Sprichwort zu gebrauchen - der Fisch stinkt vom Kopf. Wenn Unternehmen, und dazu zählen auch Verlage, Probleme haben, dann liegt dies in der Regel an der Führung. Das Problem bei großen Betrieben ist, dass koordinierte Unzuständigkeit herrscht und die Muttergesellschaft lediglich möglichst große Gewinne sehen will; bei mittelständischen Betrieben hingegen kann die oftmals kantige Verlegerpersönlichkeit den Erfolg wie Misserfolg ausmachen. Zwar ist man sich weitgehend einig, dass es, auch aufgrund der Marktentwicklung, den Großverleger nicht mehr gibt und Siegfried Unseld (Suhrkamp) wohl der letzte seiner Zunft war. Andererseits liegt die Macht nun mal eindeutig beim Verleger oder (als Stellvertreter der Eigentümer) beim Verlagsleiter - wer zahlt, schafft an. Für die wichtigste Aufgabe des Verlags, die Planung des Programms, 76 ist - in Absprache mit dem Verleger - weitgehend das Lektorat verantwortlich, oftmals gibt es noch Programmleiter, die Koordinierungsfunktionen übernehmen und mit den einzelnen Lektoren zusammenarbeiten, oder Cheflektoren für die verschiedenen Bereiche, in denen der Verlag tätig ist. Der Lektor (vgl. auch RB, 26) ist aber nicht mehr nur jemand, der Manuskripte sichtet und redigiert, mit Autoren Kontakt hält und für die inhaltliche Perfektionierung der Titel verantwortlich ist. Natürlich ist dies 76 „Das Programm ist eigentlich das Unternehmen, das sonst nur eine leere Hülle wäre“ (VL, 65). 181 Einheit 6 immer noch zentraler Bestandteil seiner Arbeit, allerdings ist er außerdem mehr und mehr zum Produktmanager geworden. 77 Lektoren besuchen Buchmessen und betreuen dort die Verlagsstände, sie halten Kontakt zu Institutionen, aus denen neue Autoren kommen könnten, sie wirken werbend auf verschiedensten Buchveranstaltungen (Buchwochen, Lesungen etc.) und sie arbeiten eng mit den anderen Abteilungen zusammen. So führen Lektoren eine Checkliste für jeden Titel (LB, 79), schreiben die Klappentexte, 78 informieren die Mitarbeiter des Hauses, wobei die Vertreter besonders wichtig sind, über die geplanten Titel und arbeiten mit allen Abteilungen in der Produktion wie Distribution eng zusammen. Wenn ein Projekt nicht auf Gegenliebe im Haus stößt (was vor allem dann passiert, wenn es für nicht umsatzträchtig genug gehalten wird), muss der Lektor entweder Überzeugungsarbeit leisten oder die Idee fallen lassen. Erfolgreiche Lektoren arbeiten in der Regel 60 Stunden pro Woche und mehr, sie sind viel unterwegs und ständig in Kontakt mit verschiedensten Menschen - ein Knochenjob. Mit einem Mythos gilt es aufzuräumen - die wenigsten belletristischen Titel, die veröffentlicht werden, haben als sogenanntes ‚unverlangt eingesandtes Manuskript‘ den Verlag erreicht. Es sind jährlich mehrere tausend solcher Manuskripte, die bei den bekannten Verlagen eingehen, und nur ganz wenige davon werden veröffentlicht. Gute Verlage lassen die Manuskripte sichten, ein guter Lektor wird einen Blick auf das Vorgutachten eines Mitarbeiters und auf den Text werfen, bevor er es ablehnt. Die meisten veröffentlichten Titel von Neuzugängern kommen über persönliche Kontakte, Empfehlungen, aktive Suche von Lektoren nach neuen Autoren (z.B. bei Literaturfestivals oder durch die Lektüre von Literaturzeitschriften) zustande. Kein Lektor ist vor Fehlentscheidungen sicher - woher weiß er denn, dass in dem Stapel der Manuskripte nicht ein zukünftiger Bestseller schlummert, der auch bei einem Konkurrenten liegt und von diesem vielleicht entdeckt und gefördert wird? Kein Geringerer als der Bestsellerautor und Linguist Umberto Eco hat die möglicherweise fehlende Kompetenz der Gate-Keeper im Verlag satirisch aufgespießt und parodistische Lektoratsgutachten verfasst, hier eine Kostprobe: Anonym: ‚Die Bibel‘ Ich muß sagen, als ich den Anfang dieses Manuskripts und die ersten 77 Vgl. hierzu auch Wolfram Göbel: Produktmanager, Ghostwriter oder Macher: Die Funktionsveränderungen im Verlagslektorat. In: Ute Schneider (Hg.): Das Lektorat - eine Bestandsaufnahme. Wiesbaden: Harrassowitz 1997 (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft 6), S. 18: „Der Lektor hat sich immer mehr von der grauen Eminenz, die sich im Hintergrund hält und als ghostwriter dem Autor oder Übersetzer zur Seite steht, zum Produktmanager entwickelt.“ 78 „Der Klappentext gibt meist Auskunft über Inhalt und Autor eines Buches und befindet sich bei gebundenen Büchern in der Regel auf den Klappen der beiden Umschlaginnenseiten, bei Taschenbüchern auf der hinteren Umschlagseite oder auf der ersten Rückseite des Buchblocks“ (BM, 172). 182 Einheit 6 hundert Seiten las, war ich begeistert. Alles Action, prallvoll mit allem, was die Leser heute von einem richtigen Schmöker erwarten: Sex (jede Menge), Ehebrüche, Sodomie, Mord und Totschlag, Inzest, Kriege, Massaker usw. Die Episode in Sodom und Gomorra mit den Schwulen, die die zwei Engel vernaschen wollen, könnte von Rabelais sein; die Geschichten von Noah sind reinster Karl May, die Flucht aus Ägypten schreit geradezu nach Verfilmung… Kurz, ein echter Reißer, gut konstruiert, mit effektsicheren Theatercoups, voller Fantasy, dazu genau die richtige Prise Messianismus, ohne die Sache ins Tragische kippen zu lassen. Beim Weiterlesen habe ich dann gemerkt, daß es sich um eine Anthologie diverser Autoren handelt, eine Zusammenstellung sehr heterogener Texte mit vielen, zu vielen poetischen Stellen, von denen manche auch ganz schön fade und larmoyant sind, echte Jeremiaden ohne Sinn und Verstand. Was dabei herauskommt, ist ein monströses Sammelsurium, das alle bedienen will und daher am Ende keinem gefällt. Außerdem wäre es eine Heidenarbeit, die Rechte von all den Autoren einzuholen, es sei denn, der Herausgeber stünde dafür gerade. Aber dieser Herausgeber wird leider nirgends genannt, nicht mal im Register, als ob es irgendwie Hemmungen gäbe, seinen Namen zu nennen. Ich würde vorschlagen zu verhandeln, um zu sehen, ob man nicht die ersten fünf Bücher allein herausbringen kann. Das wäre ein sicherer Erfolg. Mit einem Titel wie „Die verlorene Schar vom roten Meer“ oder so. 79 Die Presseabteilung und die Werbe- oder Marketingabteilung (vgl. RB, 27), auch Öffentlichkeitsarbeit oder Public Relations (PR) genannt (vgl. LB, 174), werden oft zusammengefasst; wenn man sie trennt, ist die Werbung für die verkaufsträchtige Gestaltung der Programme, für Anzeigen, Werbeträger (z.B. Aufsteller), die Organisation des Buchmesse-Auftritts und vieles mehr verantwortlich. Allerdings gilt auch: „Marketing ist letztlich zielorientierte Unternehmenspolitik überhaupt“ (LV, 163). Hier berühren sich Marketing und Corperate Identity - die Unternehmensidentität, die sich durch eine eigene ‚Philosophie‘, ein klares Profil und einen einheitlichen Auftritt auszeichnet (vgl. auch VL, 211). Ein Verlag, von dem man nicht sagen kann, wofür er eigentlich steht, wird es schwer haben. Nur ein Verlag, der seine Produkte in ‚seinen‘ Marktsegmenten entsprechend bekannt machen und positionieren kann, wird sie erfolgreich an seine Zielgruppe, also an die am Produkt interessierten Männer und Frauen bringen. Schon bei der Programmplanung sind die Werbemöglichkeiten zu berücksichtigen und das gezielte Marketing sollte immer in Abstimmung mit den anderen Abteilungen erfolgen. Ob sich ein Verlag überhaupt Werbung leisten kann, hängt von seiner Größe und seinem 79 Umberto Eco: Platon im Striptease-Lokal. Parodien und Travestien. Aus dem Ital. von Burkhart Kroeber. Ungek. Ausg. 10. Aufl. München: dtv 1993, S. 134f. 183 Einheit 6 Erfolg am Markt ab. Die Kosten können vergleichsweise enorm sein. Schon ein Stand mittlerer Größe auf der Frankfurter Buchmesse schlägt mit mindestens € 12.000 zu Buche (einschließlich Personal-, Fahrt- und Übernachtungskosten), eine Anzeige in der FAZ in der Größe einer Spalte kostet rund € 17.000 (eine Zahl von 2004, zu den Kosten vgl. VL, 194). 80 Hingegen ist der „Versand von Dedikationsexemplaren“ vergleichsweise billig, das sind Rezensions- oder Freiexemplare, die der Verlag in Abstimmung mit dem Autor verschickt. Rechnet man allein die zusätzlichen Herstellungskosten und das Porto, dann können von einem Buch mit einem Ladenpreis von € 38 für nur € 800 rund 100 Freiexemplare verschickt werden (VL, 199). Die Presseabteilung hält Kontakt zu potentiellen Rezensenten und informiert konkret über Neuerscheinungen, außerdem archiviert sie Rezensionen und macht sie der Verlagsleitung, dem Lektorat und natürlich auch dem Autor zugänglich. Üblicherweise sollten Rezensenten oder Medien, die Besprechungen veröffentlichen, dem Verlag einen Beleg der Besprechung zuschicken, was aber angesichts der Hektik in den Redaktionen und der fluktuierenden Vielzahl freiberuflicher Rezensenten nicht immer geschieht. Insofern empfiehlt es sich, selbst zu recherchieren, ob die eigenen Bücher besprochen wurden. Hierfür gibt es, neben den Archiven der einzelnen Zeitungen, Zeitungsausschnittsammlungen, die kostenpflichtig sind und beauftragt werden können; oder man sucht, was einfacher ist, auf der Webseite des Innsbrucker Zeitungsarchivs / IZA (http: / / iza.uibk.ac.at). Das materielle Buch gäbe es nicht ohne die Herstellungsabteilung - sie „ist für alle technischen und organisatorischen Arbeiten zwischen der Auszeichnung des Manuskripts und der Fertigstellung des Produkts zuständig“ (RB, 26). Die Bedeutung der Herstellungsabteilung kann man nicht überschätzen: Gestaltung hat ein Ziel: die Erscheinung des Buches. Darunter sind Materialien ebenso zu subsumieren wie die Schrifttypen, Formate ebenso wie Farblichkeiten. Das Ganze ergibt eine ästhetische Anmutung, die kaufentscheidend sein kann (LB, 107). Auch hier gibt es eine Checkliste, um die notwendige Planung zu ermöglichen (LB, 110). Wie die meisten Abteilungen hat die Herstellung eine eigene Terminologie, die hier nur beispielhaft angesprochen werden kann. So wird der Umfang eines Buches nicht in Seiten, sondern in Bogen angegeben. Jeder Bogen hat 16 Seiten, „weil der Drucker in aller Regel sechzehnseitige Bogen druckt, die der Buchbinder dann zu sechzehnseitigen Heftlagen im sogenannten Dreibruch falzt“ (LB, 113). Das hat auch Kon- 80 Eine Übersicht über die Möglichkeiten von Inseraten liefert „Der Stamm - Leitfaden durch Presse und Werbung“, vgl. VL, 199f. 184 Einheit 6 sequenzen für Autor und Lektorat, denn es sieht unschön aus, wenn am Ende des Buches 15 Seiten frei bleiben. Bei wissenschaftlichen Büchern lässt sich evtl. kürzen, auch kann durch Verändern des Umbruchs und der Schrifttype oder durch Einschalten bzw. Weglassen von Anzeigen anderer Bücher des Verlags entweder zusätzlicher Raum gefüllt oder Platz reduziert werden. In der Regel werden Manuskripte heute elektronisch abgegeben oder zumindest in elektronischer Form weiterverarbeitet. Wenn sich Lektor und Autor über den Text geeinigt haben, wird der Fließtext des Manuskriptes umbrochen, d. h. in das Buchlayout übertragen. Das Ergebnis ist ein Ausdruck des gesetzten Manuskripts, der immer noch häufig als „Fahnen“ oder Fahnenkorrektur bezeichnet wird und den Lektor und Autor prüfen. Manchmal werden noch umfangreiche Veränderungen vorgenommen, manchmal nur noch Tipp- und Trennungsfehler ausgebessert, das hängt ganz vom Titel, von der Gründlichkeit und von den Temperamenten der Beteiligten ab. Nach der Fahnenkorrektur kommen noch die Titelei (die Buchseiten mit Titelnachweis und Impressum) und ein Andruck des Umschlags. Auch für diese Seiten gibt es eine eigene Sprache: „Ein Umschlag hat vier Seiten: U1 vorne außen, U2 vorne innen, U3 hinten innen, U4 hinten außen“ (LB, 119). U4, also die Rückseite, ist deshalb besonders wichtig, weil bei Büchern ohne Schutzumschlag hier der Werbetext steht, der Lesern das Buch schmackhaft machen soll. Schließlich ist es üblich, zur Kontrolle den Aushänger zu verschicken - das fertig gedruckte, aber noch nicht gebundene Buch. An dieser Stelle können noch Teile des Buches neu gedruckt und ausgetauscht werden. Die Herstellung kümmert sich auch um die Kosten, sie holt (wenn, was in der Regel der Fall ist, der Verlag keine eigene Druckerei hat) Kostenvoranschläge ein, liefert die Druckvorlage und organisiert den Ablauf, bis das gedruckte Buch auf dem Tisch des Lektors liegt. Manche Verlage, etwa Diogenes, machen Vorab-Exemplare, das sind preiswert gebundene Exemplare der Fahnenkorrekturen oder des Aushängers. So haben die Rezensenten und die Buchhändler bereits vor Erscheinen des Titels die Möglichkeit, sich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen. Eine sogenannte Sperrfrist - ein Datum, vor dem keine Rezension erscheinen sollte - dient der besseren Planbarkeit und dazu, keinem Rezensenten oder Medium Vorteile zu verschaffen, die andere verärgern könnten. Die Verkaufs- und Vertriebsabteilung kümmert sich um die „Führung und Betreuung des Außendienstes (Verlagsvertreter)“ (RB, 26) und die Koordination der Auslieferung wie der Bestellvorgänge. Meist gehört ein Warenlager dazu, das es zu verwalten gilt. Verkaufsstatistiken liefern wichtige Koordinaten für die weitere Programmplanung. Mit etwas Glück werden Lizenzen verkauft, damit wird die Erlaubnis bezeichnet, das Buch in einem anderen Verlag oder in einem Buchclub, 185 Einheit 6 eventuell in anderer Gestaltung (Paperback statt Hardcover) oder als Hörbuch neu zu veröffentlichen. Dazu gehören auch die wichtigen Auslandslizenzen (Übersetzung in andere Sprachen, Veröffentlichung in anderen Ländern) und eventuell Lizenzen für die Produktion von Hörspielen oder sogar Filmen. Der lukrativste Fall ist, auch wenn alle mal davon träumen, sicher der seltenste - dass Hollywood anruft und eine traumhafte Summe für die Verfilmung eines Romans bietet… In der Regel sind es nur Spitzentitel wie Patrick Süskinds Das Parfum (bei Diogenes), die es bis dorthin schaffen. Rechnungswesen und Controlling kümmern sich um das Kapital des Verlags, die Steuern und Abgaben. Damit werden die zentralen Zahlen für die Planung vorgegeben. Ohne einen klaren Überblick über die finanziellen Verhältnisse des Verlags können keine Mitarbeiter eingestellt, keine Lizenzen angekauft, keine Vorschüsse gezahlt werden. Angesichts eines unübersichtlichen Marktes und einer so komplexen Materie ist auch im Buchhandel und Verlagswesen Weiterbildung das Gebot der Stunde. Darum kümmern sich beispielsweise die Akademie des Deutschen Buchhandels 81 und das Seckbacher Kolleg, nach Selbstauskunft die „zentrale Aus- und Fortbildungsstätte des Deutschen Buchhandels“ 82 (RB, 28). c) Vom Büchermachen Ohne Geld keine Bücher und ohne verkaufte Bücher kein Geld: „Das erste und wichtigste Kriterium der Programmpolitik eines Verlages ist deshalb die Erfolgserwartung“ (RB, 31). Allerdings - und das spricht für ein Lehrbuch wie das vorliegende - sind in Verlagen teilweise immer noch Menschen für die Programmplanung zuständig, die sich über größere Zusammenhänge, im Wirtschaftsdeutsch ‚Strategien‘ genannt, eher weniger Gedanken machen: „Es dürfte wenig Branchen geben, in denen Sachentscheidungen häufig von so vielen Leuten getroffen oder wesentlich mitbestimmt werden, die über so wenig Sachwissen verfügen“ (RB, 32). Hier könnte man nur insoweit widersprechen, als dass es in anderen Branchen oft auch nicht viel besser aussieht. Ein absolviertes Studium der Betriebswirtschaft ist noch keine Garantie dafür, dass Manager die richtigen Investitionen für die zukunftsweisenden Produkte tätigen - der Wirtschaftsteil jeder Zeitung gibt darüber hinreichend Auskunft. Bücher sind zudem besondere Produkte. Schon die Kalkulation des Preises kann dem Buch und dem Verlag den Garaus machen. 83 Hätte sich ein Titel unterhalb der magischen Schwelle von € 10 gut verkauft, kann er bei € 15 Euro zum 81 Vgl. http: / / www.buchakademie.de (abgerufen am 07.10.08). 82 Vgl. http: / / www.buchhaendlerschule.de (abgerufen am 07.10.08). 83 Zu den Grundlagen der Berechnung vgl. VL, 180. 186 Einheit 6 Ladenhüter werden; umgekehrt werden bei bestimmten Titeln höhere Preise erwartet nach dem Motto: Was nichts kostet, kann auch nichts taugen. Bei Büchern beispielsweise, die vorrangig von Universitätsbibliotheken angeschafft werden, spielt dies eine Rolle - ist das Buch relativ billig, dann wird davon ausgegangen, dass es sich der Student selber kauft. Doch kaufen Studenten kaum noch Bücher oder nur dann, wenn es sich um zentrale Lehrbücher handelt. Deshalb sind geisteswissenschaftliche Verlage, die mit keiner großen Breitenwirkung rechnen, gut beraten, den Titel im mittleren Preissegment anzusiedeln (wenn er zu teuer ist, überlegt sich die Bibliothek, ob sie ihn wirklich braucht). Auch die Bindung kann hier eine Rolle spielen. Wenn Bibliotheken Bücher kaufen, wird Fadenheftung der Vorzug vor der nicht sehr halt- und strapazierbaren Klebebindung gegeben, und es wird von der Qualität der Bindung auf die Qualität der Publikation rückgeschlossen. Das A und O des Büchermachens aus Lektorensicht ist „die Akquise von neuen Autoren“ (RB, 35) und die Pflege der bereits verpflichteten Autoren. Bei der Programmplanung kann der Verlag auf die Suche nach geeigneten Autoren gehen, insbesondere im Sachbuchbereich ist dieses aktive Vorgehen keine Seltenheit. Umgekehrt können Projekte von potentiellen Autoren vorgeschlagen werden. Oftmals wird, um den möglichen Erfolg besser einschätzen zu können, zunächst ein Projektexposé entwickelt, das „Konzeption und Zielsetzung“ erläutert und - ganz wichtig - auf die USP (unique selling proposition / das Alleinstellungsmerkmal) besonders eingeht (VL, 70). Bei literarischen Texten ergibt sich eine Zusammenarbeit oftmals durch persönliche Kontakte, für die Literaturveranstaltungen den geeigneten Rahmen bereitstellen, etwa der alljährliche Klagenfurter Bachmann-Preis oder Lesungen von Stipendiaten des Literarischen Colloquiums Berlin (LCB). Seit vielen Jahren spielen auch Literaturagenten eine große Rolle, sie vertreten Autoren und vermitteln sie an Verlage. Der Vorteil von Agenten ist, dass ein Lektor, sofern er von dem Gespür des Agenten für vielversprechende Titel überzeugt ist, hier eine vertrauenswürdige Vorauswahl vorfindet. Der Agent nimmt ihm Arbeit ab, allerdings will auch er Geld verdienen: Die Tätigkeit einer Literaturagentur wird meist auf Provisionsbasis aus jenen Verlags- und Verwertungsverträgen honoriert, die sie im Auftrag des Autors vermittelt und verhandelt hat. Üblich sind dabei Provisionen zwischen 10 und 20 Prozent vom Honorar des Autors (BM, 217). Der Agent wird, da er prozentual am Gewinn des Autors beteiligt ist, versuchen, den bestmöglichen Preis für diesen Autor zu erzielen. Agenten sind nicht unumstritten, wie Walter Moers’ Satire auf einen solchen in seinem Roman Die Stadt der träumenden Bücher von 2004 187 Einheit 6 zeigt. Dort trifft der Erzähler und junge, aufstrebende Autor Hildegunst von Mythenmetz auf den Literaturagenten Claudio Harfenstock, der sich ehrlicherweise so vorstellt: „In meinem Beruf geht es nicht um das Erkennen von guter oder schlechter Literatur. Wirklich gute Literatur wird zu ihrer Zeit selten gewürdigt. Die besten Dichter sterben arm. Die schlechten verdienen das Geld. Das war schon immer so. Was habe ich als Agent von einem dichterischen Genie, das erst im nächsten Jahrhundert entdeckt wird? Dann bin auch ich tot. Was ich brauche, sind erfolgreiche Nichtskönner.“ 84 Die Frage ist, ob darin nicht ein Körnchen oder gar Korn Wahrheit über die Situation des gesamten Buchbetriebs steckt. Lektoren von Sachbuchverlagen gehen in der Regel anders vor als ihre Kollegen von der Belletristik - ein Lektor in einem Kochbuchverlag wird vielleicht eine Marktlücke für Bücher über einfache und schnell zuzubereitende Pastagerichte sehen und dann nach einem Koch suchen, der Erfahrung hat und seine Rezepte zur Verfügung stellt. Oder er wird einen freien Autor beauftragen, solche Rezepte zu suchen und zusammenzustellen. Schließlich ist die Zusammenarbeit mit einem Fotografen und einem Layouter entscheidend - das Auge isst nicht nur mit, es kauft auch mit. Nur wenn die abgebildeten Gerichte dafür sorgen, dass einem das sprichwörtliche Wasser im Mund zusammenläuft, wird man den Geldbeutel zücken. Die zentrale Währung im Buchgeschäft ist - und das wird zu wenig beachtet - Vertrauen. Ein Agent kann einmal falsche Versprechungen machen, wenn dies öfter vorkommt, wird der Lektor nicht mehr auf ihn zurückgreifen. Ein Lektor kann sich ab und zu mal für einen Titel einsetzen, der nicht die Erwartungen des Verlags erfüllt - wenn er dies öfter tut, ist er seinen Job los. Vertrauen und Geld hängen also unmittelbar zusammen, die Beziehungen zwischen den Akteuren im Verlagswesen sind zugleich auf Vertrauen und die Hoffnung auf ökonomischen Erfolg gegründet. Zum ökonomischen Erfolg gehört - wen wird es wundern - das Rechnen. Das fängt mit dem Autor an, der laut Gesetz Anspruch auf eine angemessene Vergütung hat und sicher nicht bereit ist, sich unter Wert zu verkaufen, wenn er eine Wahl hat. 10% vom sogenannten Nettoladenpreis (Ladenpreis abzüglich Mehrwertsteuer) sind bei belletristischen Titeln üblich, je nach Bekanntheitsgrad des Autors und vermutbarer verkaufter Auflage kann es Schwankungen von 5 bis 15% geben. Die absoluten Zahlen lassen sich aber nur schätzen, wenn man schon den Ladenpreis kalkuliert hat - wird es ein Hardcover oder ein Taschenbuch und wieviel ist maximal am Markt zu erzielen? Je höher der Preis, desto geringer die verkaufte An- 84 Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher. Ein Roman aus dem Zamonischen von Hildegunst von Mythenmetz. 9. Aufl. München u. Zürich: Piper 2007, S. 78. 188 Einheit 6 zahl; doch garantiert ein niedriger Preis noch keinen Verkaufserfolg. Hier sind in der Regel schon Weichen gestellt, da der Verlag entsprechende Erfahrungen hat und die Preise für seine Bücher in der Regel keinen starken Schwankungen unterliegen. Bei Autoren, die diesen Beruf nicht als Nebentätigkeit ausüben, werden in der Regel Vorschüsse gezahlt und mit den Einnahmen verrechnet. Wenn ein Autor 10% vom Nettoladenpreis bekommt, der Nettoladenpreis € 10 beträgt und der Autor einen Vorschuss von € 10.000 erhält, dann bekommt er erst ab dem 10.001sten Exemplar mehr Geld (in dieser einfachen Rechnung ein Euro pro verkauftem Buch). Bei manchen Autoren werden sogar zu hohe Vorschüsse in Kauf genommen, in unserem Fall beispielsweise ein Vorschuss von € 20.000, auch wenn der Verlag nur mit 10.000 verkauften Exemplaren rechnet. Der Grund kann das Renommee sein, das der Autor dem Verlag bringt und das dann auf andere Titel ausstrahlt, oder die Hoffnung, dass das nächste Buch dieses Autors den Verlust wieder mehr als wettmacht. In der Regel sind Vorschüsse nicht zurückzuzahlen, das Risiko für zu hohe gezahlte Vorschüsse liegt also beim Verlag. Bei der Kalkulation des Autorenhonorars können auch andere Kosten eine Rolle spielen, etwa wenn es sich um einen Band mit vielen Fotos handelt. Die Kosten für die Bilder können, etwa wenn sie künstlerischen Anspruch erheben, so hoch sein, dass der Autor und der Fotograf sich das Honorar teilen. Wieviel Honorar gezahlt werden kann, hängt natürlich nicht nur vom Ladenpreis, sondern auch von der Auflage ab. Die vermutete verkaufte Auflage wiederum ist eine Frage der Zielgruppe und deren Erreichbarkeit. Wenn es eine große Zielgruppe gibt und sie gut erreichbar ist, kann dennoch der Verkaufserfolg gering sein - etwa bei zahlreichen Konkurrenztiteln. Alle Rechte, und als den wichtigsten Punkt wird ein Autor in der Regel das Honorar betrachten, sind im Verlagsvertrag geregelt, den der Lektor mit dem Autor aushandeln wird. Es gibt klare gesetzliche Regelungen für solche Verträge und es sind in der Regel Musterverträge, die Verlage je nach Autor nur leicht variieren. Je bekannter ein Autor, desto größer können die Spielräume sein. Insbesondere bei der Frage der Belegexemplare sind Verlage gesprächsbereit, denn ein paar Exemplare mehr oder weniger drucken zu lassen, fällt von den Kosten her nicht ins Gewicht. Neben dem Honorar werden Umfang, Ausstattung des Buches, Auflage, Ladenpreis, Abgabetermin des Manuskripts, Kosten für mögliche Nachkorrekturen und vieles mehr in einem Vertrag verbindlich geregelt. Insbesondere die Fragen der Nachauflagen, des Verramschens oder der Lizenzen können später zu echten Streitpunkten werden. Autoren sind also gut beraten, sich den Vertragsentwurf gründlich anzusehen und jemanden zu Rate zu ziehen, der bereits mit solchen Verträgen Erfah- 189 Einheit 6 rung hat. Die meisten Verlage sind seriös, aber wie bei allen Verträgen ist auch in der Buchbranche Vorsicht geboten, will man hinterher nicht eine unangenehme Überraschung erleben. Umgekehrt ist der Lektor gehalten, dem Autor nicht zu viele Zugeständnisse zu machen, so dass ein vielversprechender Titel dem Verlag keinen Gewinn bringt, sondern ihn unnötig viel Geld kostet (für einen Muster-Autorenvertrag vgl. RB, 60ff.; LV, 303ff.; LB, 188ff.). Die Kalkulation eines Buches ist, außer bei bestimmten Titeln (z.B. Reiseführern in einer gut eingeführten Reihe), eine hohe Kunst und gleicht oftmals dem Kaffeesatzlesen. Wenn der Ladenpreis zu hoch ist, verkauft sich vielleicht die Auflage nicht; wenn die Auflage zu niedrig ist, muss teuer nachgedruckt werden; wenn die Auflage zu hoch ist, fallen Lagerkosten an und der Verlag bleibt auf einem großen Teil der Exemplare sitzen, abgesehen davon, dass dann der Ladenpreis zu niedrig kalkuliert war … Ein guter Lektor hat für die Kalkulation der von ihm betreuen Bücher ein Gespür oder er ist kein guter Lektor bzw. bald vielleicht gar kein Lektor mehr. Früher war die Kalkulation einfacher: Ursprünglich ging die Verlagskalkulation von einer Drittel-Verteilung aus, wie sie im 19. und angehenden 20. Jahrhundert nach dem so genannten Leipziger Modell praktiziert wurde. Ein Drittel des Ladenpreises entfiel auf die Herstellung, das zweite Drittel war für die Deckung der allgemeinen Verlagskosten (inklusive Verlagsgewinn) vorgesehen, während das letzte Drittel als Händlerrabatt zu Buche schlug. (RB, 103f.) Angesichts des ausdifferenzierten Marktes, der zugleich von Konzentrationsbemühungen geprägt ist und in dem der Käufer das letzte Wort hat, ist das Rechnen heute anders und schwieriger geworden. Zunächst muss entschieden werden, ob ein Titel vielleicht auch dann veröffentlicht wird, wenn er keinen Gewinn verspricht. Im Rahmen der bereits mehrfach erwähnten „Mischkalkulation“ (RB, 104) können auflagenstarke Titel auflagenschwache mit finanzieren, wobei letztere zum Erfolg des Verlags durch das Renommee beitragen, das ihnen z.B. durch positive Rezensionen, Literaturpreise o.ä. zuteil wird. Insofern ist die rein ökonomische Sicht nur die eine Seite der Medaille, allerdings jene Seite, die den Verlag am Laufen hält, und das seit den Anfängen des modernen Buchverlags: Schon Denis Diderot formulierte im Jahr 1767 eine Risikoregel, nach der von zehn Büchern eines richtigen Erfolg bringt, vier gerade die Kosten decken, fünf erzeugen Verluste. Auch wenn es etwas glimpflicher zugehen mag - klar ist, dass starke Titel viele schwache mittragen müssen. (VL, 66) 190 Einheit 6 Von Lucius warnt dabei vor der sogenannten „Karaoke-Strategie“: Ein Verlag macht die (in der Regel schlechtere) Kopie des Marktführers, den er meist schon aus Gründen der Unternehmensgröße und damit verbundenen Marktstärke nicht erreichen kann, anstatt ein eigenes Profil, eine eigene Position (und sei es in der Nische) aufzubauen. (VL, 66) Allerdings ist es in der Verlagsbranche mittlerweile üblich geworden, erfolgreiche Strategien zu kopieren, durchaus nicht nur von kleineren Verlagen - die großen können ihre Marktmacht einsetzen und so der möglicherweise schlechteren Kopie zum Durchbruch verhelfen. Ob dies für den Ruf des Verlags förderlich ist, dürfte von Fall zu Fall entschieden werden. Für jeden Titel wird eine Deckungsbeitragsrechnung versucht (RB, 104), in der die verschiedenen Positionen zur Deckung der Unkosten auseinandergehalten werden. Das sind vor allem (ich folge der Darstellung in RB, 105-112): 85 ▶ der Ladenpreis, das ist der Preis, den der Verlag festsetzt und zu dem das Buch vom Sortimenter (also der Buchhandlung) auch verkauft werden muss. Durch die Preisbindung können dem Endverbraucher keine Rabatte gegeben werden; ▶ die Umsatzsteuer von 7% in Deutschland und 10% in Österreich. Ladenpreis minus Umsatzsteuer ergibt den Nettoladenpreis; ▶ der Rabatt für die Händler, der „Grundrabatt“ beträgt 25% (LV, 183). Wegen der starken Verlagskonkurrenz sind heute bis zu 50% möglich, bei Buchhandelsketten wie Thalia oder großen Sortimentern wie dem Internet-Kaufhaus Amazon kann er auch darüber liegen. Hier können zudem auch Staffelrabatte vereinbart werden - ab soundsoviel Exemplaren oder soundsoviel Umsatz sind es soundsoviel Prozent (VL, 182f.). Weil die Großanbieter entsprechende Stückzahlen abnehmen und den Titel verkaufswirksam bewerben, können sie höhere Rabatte verlangen. Außerdem muss man Rabatte für das Barsortiment einrechnen, also für die Großhändler, die verkaufsträchtige Titel für Buchhandlungen vorrätig halten, so dass ein Kunde ein in der Buchhandlung bestelltes Buch in der Regel nach 24 Stunden in Händen halten kann. Das Barsortiment bekommt bis zu 15%, in der Regel als Anteil des Händlerrabatts; allerdings versuchen die Barsortimenter den Rabatt insgesamt in die Höhe zu treiben, um ihre Beziehung zum Händler nicht zu gefährden (VL, 177). Die beiden größten deutschen Barsortimenter sind Koch, Neff und Volckmar (KNV) mit Sitz in Stuttgart und Köln (ein 2004 erfolgter Zusammenschluss des Unternehmens Koch, Neff und Oetinger mit Koehler und Volckmar) 85 Diese Rechnung kann je nach Titel variieren und umfangreicher ausfallen, bei Übersetzungen kommen Lizenzgebühren und Übersetzerkosten dazu, bei Bänden mit vielen Abbildungen Kosten für den Fotografen, dann Kosten für externe Grafiker o.ä. - Für andere und entsprechend kommentierte Kalkulationsbeispiele vgl. VL, v.a. die Übersicht S. 142f., und LB, v.a. die Übersicht S. 143. 191 Einheit 6 sowie Libri (benannt nach dem Firmengründer Georg Lingenbrink). KNV hält ca. 450.000 Titel am Lager. - Hat man Umsatzsteuer und Händlerrabatt abgezogen, erhält man den Vertriebserlös, also das, was der Verlag für ein verkauftes Buch auf sein Konto überwiesen bekommt; ▶ die Herstellungskosten, also das, was die Druckerei berechnet; hierzu können auch Kosten für Satz / Layout und Korrektur kommen. Diese Posten ergeben den Deckungsbeitrag I 86 - wenn dieses Geld wieder hereinkommt, hält sich der Verlust in Grenzen. Wenn man nun noch das ▶ Autorenhonorar von ca. 10% des Nettoladenpreises in die Rechnung mit einbezieht, dann hat man den Deckungsbeitrag II. Rechnet man die ▶ Auslieferungskosten (etwa 8% vom Vertriebserlös), die ▶ Vertreterprovision (etwa 7% vom Vertriebserlös) und die ▶ Werbekosten (etwa 5% vom Vertriebserlös) dazu, dann kommt man auf den Deckungsbeitrag III - jetzt sind alle Kosten gedeckt und jeder Euro mehr, der hereinkommt, ist der Verlagsgewinn, auf den der Verlag natürlich wie jedes Unternehmen Steuern zahlen muss. Hier sind die Betriebskosten (Stellen, Räumlichkeiten, Heizung, Inventar etc.), die man heute auch gern ‚Overheadkosten‘ nennt, jeweils bei den einzelnen Posten mit zu berücksichtigen, man kann allerdings auch anders rechnen und für diese ständigen Kosten einen eigenen Posten vorsehen. Dann lässt sich ermitteln, ob sich die Produktion eines Titels wenigstens ohne Betriebskosten rechnet und es lässt sich sehen, ob die Verlagskosten pro verkauftem Exemplar vielleicht prozentual zu hoch sind (auch im Vergleich zu anderen Verlagen), so dass es an der einen oder anderen Stelle zu Einsparungen kommen muss. Sobald die Kalkulation steht, wird der Lektor dem Autor einen Verlagsvertrag zuschicken. Anders als früher sind keine Knebelverträge möglich - es gibt juristische Grenzen für das, was der Verlag dem Autor auferlegen kann. Der Autor hat Anspruch auf angemessene Entlohnung, auch wenn die Frage, was angemessen ist, damit noch nicht geklärt ist. 87 Welche Rechte üblicherweise dem Verlag eingeräumt werden, welche Nebenrechte (v.a. Lizenzen) er verwerten kann, wird in der Regel nicht vom Lektor bestimmt, sondern hängt von der Textsorte und den Gepflogenheiten des Verlags ab. Verlangt der Autor hier Änderungen, dann wird der Lektor mit der Rechtsabteilung, wenn es eine gibt, oder gleich mit dem Verleger Rücksprache halten. Nicht unwichtig ist das Datum der Manuskriptablieferung. Der Verlag richtet seine Planung, auch die Werbung darauf hin aus und der Autor 86 Die Terminologie kann hier abweichen, für den Begriff „Rohertrag I“ etc. vgl. BM, 161ff. 87 Für einen Mustervertrag und dessen ausführliche Kommentierung vgl. RB, 61-78. 192 Einheit 6 möchte natürlich auch, dass sein Titel eher früher als später auf den Markt kommt. Ebenfalls geregelt wird, wieviel Freiexemplare der Autor erhält - hier gibt es eigentlich immer Verhandlungsspielraum, denn die Druckkosten für ein paar Exemplare mehr sind minimal. Ebenfalls geregelt wird, wer den Satz und die Korrektur übernimmt. Dass der Autor die Fahnen korrigieren sollte und muss, ist eigentlich selbstverständlich. Im wissenschaftlichen Bereich ist es üblich geworden, dass sich Autoren oder Herausgeber verpflichten, eine ‚satzfertige Vorlage‘ zu produzieren, das ist in der Regel eine Datei im pdf-Format, die nach den Gestaltungsrichtlinien des Verlages angefertigt worden ist. Das spart Verlag und Autor Kosten - sonst muss darüber geredet werden, wer den Layouter bezahlt. Ein weiterer Punkt ist die Frage von Folgeauflagen. Zu welchen Konditionen kann der Verlag nachdrucken oder eine zweite Auflage drucken? In der Regel wird festgehalten, dass der Autor innerhalb einer angemessenen Frist einer Neuauflage zustimmen oder sie ablehnen muss. Veränderungen am Werk (etwa Kürzungen) darf der Verlag nicht ohne Zustimmung des Autors vornehmen. Wird der Rest einer Auflage makuliert (aus dem Programm genommen), dann sollte der Verlag dem Autor die Restexemplare - oder zumindest einen bestimmten Teil davon - zu einem geringen Preis zum Kauf anbieten. Was übrigbleibt, geht in ein modernes Antiquariat oder kommt ins Altpapier. Wenn das Manuskript eingeht, achtet der Lektor auch auf Formales - die Paginierung der Seiten (Ausstattung mit Seitenzahlen), die Vollständigkeit, die Übereinstimmung von Inhaltsverzeichnis und Inhalt beispielsweise. Ein Foto des Autors und ein Kurztext zu seinem Leben und Werk werden möglicherweise benötigt. Liegen die Abdruckrechte für die Illustrationen oder Fotos vor? Gibt es juristische Probleme durch Bemerkungen über lebende Personen oder durch Verletzung des Copyrights, etwa wenn viel zitiert wird? Werden Zitate ordnungsgemäß ausgewiesen (RB, 80)? Je nach Textsorte stellt der Lektor dem Autor ein Stylesheet zur Verfügung, also eine Liste mit Formatierungshinweisen (welche Schrift? Wie groß? Wie wird zitiert? Wie wird Literatur nachgewiesen? uvm.). Sobald das Buch in die Produktion geht, müssen auch einige Informationstexte geschrieben werden. Ein Grundtext bildet dabei die Basis für alle weiteren Texte: den Klappentext (im Buch bei Schutzumschlägen, evtl. auf der Buchrückseite), den „Waschzettel“ (möglichst viele Informationen über Autor und Buch, die zur Vorstellung im Verlag und bei Buchhändlern, Rezensenten oder anderen wichtigen Kontaktpersonen dienen), einen Text für die Programmvorschau des Verlags, möglicherweise auch einen Werbetext und was sonst so anfällt. Die Programmvorschau stellt „den ersten Kontakt der Fachöffentlichkeit mit den Novitäten des jeweiligen Verlags dar“, sie ist „an den Zwischen- und Einzelhandel sowie an die Multiplikatoren“ gerichtet. „Üblicherweise erscheinen die Programmvorschauen im Dezember und Januar für die Frühjahrs-Saison und im 193 Einheit 6 Mai und Juni für die Herbst-Saison eines jeden Jahrs“ (BM, 308). Die in Buchhandlungen als Kundeninformation aufliegenden oder bei Buchmessen verteilten Verlagsprospekte mit einer Übersicht über die Neuerscheinungen sind viel weniger umfangreich und aufwändig als die Vorschauen. Nun wollen die meisten Lektor werden - dabei gibt es in den anderen Abteilungen ebenfalls attraktive Stellen für kompetente Absolventen der Literaturwissenschaft. Insbesondere die Werbe- und die Presseabteilung sind klassische Ressorts für Geisteswissenschaftler, sofern sie sich neben dem Wissen über Literatur und der Fähigkeit des Verfassens wissenschaftlicher Texte ebenso die des verständlichen Schreibens angeeignet haben. Auch für jemanden, der in der Herstellung arbeitet, schadet es nicht, etwas vom Inhalt dessen zu verstehen, womit er sich beschäftigt. Umgekehrt sollten Lektoren und Presseleute auch etwas von der Herstellung verstehen - die Papierqualität beispielsweise wirkt sich nicht nur auf die Präsentation eines Texts, sondern auch auf den Preis aus. Was grafisch möglich ist und was nicht, etwa wenn es um Abbildungen für die Titelseite geht, weiß der Hersteller oder er fragt den Grafiker, mit dem er zusammenarbeitet. Gute Hersteller wissen, welche Druckereien ihnen nicht nur günstige Preise machen, sondern auch das Bestmögliche an Qualität aus der Druckvorlage herausholen. Der Satz bzw. das Layout, für den bzw. für das die Herstellung meist auch zuständig ist, wird heute am Bildschirm gemacht. Dafür gibt es bestimmte dtp-Programme (Abkürzung für Desktop-Publishing) wie QuarkXPress, PageMaker (RB, 93) oder InDesign. Für den Druck wird in der Regel im ‚Computer-to-plate‘-Verfahren (ctp) gearbeitet (RB, 96), das heißt, dass die Daten vom Satzcomputer direkt auf die Druckplatten übertragen werden und die Vorbereitung des Druckvorgangs daher vollkommen elektronisch abläuft. Wenn das gewählte Papier bedruckt ist, muss der Buchblock beschnitten werden. Der nächste Fertigungsschritt ist die Bindung, über die bereits in der Planung entschieden worden ist - entweder ein Deckenband (hardcover) mit Schutzumschlag oder Broschur (also ein weicher Einband ohne Schutzumschlag, wie bei Taschenbüchern üblich). Bei broschierten Bänden wird zwischen zwischen Fadenheftung und Klebebindung (was billiger ist, aber weniger Qualität bedeutet) unterschieden. Aber auch hier gibt es verschiedene Techniken bzw. Verfahren, was man schon sehen kann, wenn man Bücher in die Hand nimmt. Hart gebundene Bände sind so gut wie immer fadengeheftet. Die Frage der Bindung hängt auch mit der gewählten Papierqualität zusammen, manche Materialien lassen sich auf eine bestimmte Weise besser verbinden als andere (RB, 98). In der Regel wird zumindest der Umschlag vierfarbig gedruckt, manchmal auch zweifarbig. Die „vier standardisierten Farben“ sind Cyan / Blau, Magenta / Rot, Yellow / Gelb und Key / Schwarz (RB, 99). Es empfiehlt sich ein Andruck (Probedruck), um zu überprüfen, ob die Realität tatsächlich 194 Einheit 6 dem Computerbild entspricht oder noch Änderungen in der Zusammensetzung der Farben notwendig werden. Ist das Buch gedruckt, dann steht sicher schon fest, wie sein Absatz positiv beeinflusst werden soll. Der sogenannte Marketing-Mix (vgl. RB, 115) bezeichnet die strategischen Entscheidungen des ‚Branding‘ (Etablierung von Marken in der Öffentlichkeit), der Distribution (z.B. eher über große Sortimenter, über Vertreter, über Direktvertrieb? ), der vertraglichen Leistungen (Rabatte, Werbeträger, Buchpräsentationen bei entsprechendem Absatz) und der Kommunikation (sollen Werbeanzeigen geschaltet werden, wenn ja, wo und wie groß dürfen sie sein? Welche Rezensenten erhalten ein Besprechungsexemplar? Etc.). Gerade bei großen Verlagen spielen die Verlagsvertreter eine wichtige Rolle. Die meisten Verlage haben keine fest angestellt, sondern sie beauftragen freie Handelsvertreter, die dann auf Provisionsbasis versuchen, Produkte mehrerer Verlage an die Sortimenter zu bringen: Zu den Aufgaben der Vertreter gehören: (1) rechtzeitige Besuchsanmeldung beim Buchhändler mit Zusendung der Lageraufnahmeformulare, Verlagsvorschauen, Leseexemplare usw.; (2) Information über das neue Verlagsprogramm mit Hilfe einer Mustermappe mit Schutzumschlägen, Kurztexten, Musterseiten […] u.a.m.; (3) Entgegennahme der aktuellen Bestellungen von Novitäten und Backlist unter Berücksichtigung der jeweils gültigen Reisekonditionen; (4) Klärung von Unstimmigkeiten zwischen Buchhandlungen und Verlag; (5) Absprache der gemeinsamen Werbeaktionen (BM, 372f.). Da Rückmeldungen über den Erfolg oder Misserfolg der Titel für die Planung der kommenden Programme besonders wichtig sind, verbringen Vertreter auch viel Zeit am Telefon. Freie Verlagsvertreter leben von einer Kostenpauschale und einer relativ großzügigen Provision (5-7% des Umsatzes), angestellte Vertreter haben ein Gehalt, Spesen und Dienstwagen und werden mit einer kleinen Erfolgsprovision (ca. 1%) zusätzlich belohnt (VL, 204). In der Vertreterkonferenz (vgl. auch RB, 116ff.) werden, vor allem vom Lektor, die Titel vorgestellt, und wenn Vertreter von einem Titel nicht zu überzeugen sind, wird dieser es schwer haben, seinen Weg in die Buchhandlungen zu finden. In der Regel wird vorstrukturiert - Spitzentitel sollen besonders beworben werden. Zwischen Buchhändlern und Vertretern muss es ein Vertrauensverhältnis geben; wenn der Buchhändler weiß, dass ihm ein Vertreter Titel in einer bestimmten Stückzahl empfiehlt, die dann auch verkauft werden, wird er gern auf ihn hören. Natürlich spielt hier auch die Werbung eine Rolle - wenn großformatige Anzeigen geschaltet oder Aufsteller (in der Regel kleine bedruckte Papp-Regale) kostenlos mitgeliefert werden, wird der Buchhändler eher davon zu überzeugen sein, dass es sich um einen 195 Einheit 6 potentiell umsatzträchtigen Titel handelt. Natürlich kann der Sortimenter in der Regel die nicht verkauften Exemplare, wenn sie neuwertig sind, remittieren (zurückgeben), doch wird er ungern Bücher in seinen Regalen stehen haben, die sich nicht verkaufen, weil sie den verkaufsträchtigeren Titeln den Platz wegnehmen. Allerdings kann der Handel mit Remittenden oder sogenannten Mängelexemplaren auch lukrativ sein, nicht nur für die Modernen Antiquariate, die so neuwertige Bücher verkaufen können, ohne sich noch an die Preisbindung halten zu müssen. Die dabei einzuhaltende Frist von sechs Monaten (BM, 255) genügt dem Verlag, um zu erkennen, ob ein Titel gut oder nicht so gut läuft. Manche Verlage produzieren sogar extra über den Bedarf hinaus, um dann mit Mängelexemplaren im großen Stil noch ein Zubrot verdienen zu können. Insofern kann man mit Recht sagen, dass „der Stempelaufdruck“ Mängelexemplar oftmals erst „die Mängel“ erzeugt, „die zuvor noch gar nicht existierten“ (BM, 256; vgl. auch 317f.). Die Vorbestellungen, die nach den Vertreterreisen den Verlag erreichen, sind ein wichtiger Indikator für den Erfolg des Titels und haben oftmals noch Einfluss auf die Auflagenhöhe. Fällt die Zahl höher aus als gedacht, lassen sich kostengünstig noch ein paar tausend Exemplare mehr drucken; umgekehrt kann man die Auflagenhöhe nach unten korrigieren, um Lagerkosten zu sparen. Auch andere strategische Entscheidungen können noch angepasst werden, etwa kann ein Titel stärker beworben werden, um ihn doch noch am Markt durchzusetzen, oder bei überraschend vielen Vorbestellungen kann der Titel zusätzlich beworben werden, um ihn zu einem Bestseller werden zu lassen. Das Werbebudget wird in der Regel auf die Spitzentitel konzentriert. Überhaupt ist die Verkaufsstrategie der Verlage auf das Schaffen von Bestsellern ausgerichtet: Die Buchhändler kaufen den potenziellen Bestseller partieweise ein, d.h., für zehn Buchbestellungen erhält der Buchhändler ein Freiexemplar, für 100 aber schon 20 etc. Dadurch erhöht sich zwar die Verdienstspanne, andererseits binden die ‚Partien‘ viel Kapital. Also muss der Buchhändler diese Bücherstapel rasch verkaufen (BM, 52). Das wichtigste Kürzel im Verkauf ist das bereits erwähnte USP, es steht für Unique Selling Proposition (RB, 119). Das ist das Merkmal, das einen Titel aus der Masse der anderen hervorhebt - immer öfter (entgegen der Wortbedeutung) aber auch ein Merkmal, das dieser Titel mit anderen, bereits erfolgreichen teilt. Man denke an die Jugendromane in der Nachfolge von Harry Potter - plötzlich boomte die Fantasy-Literatur und sickerte stärker als vorher (Ausnahmen wie Michael Ende bestätigen die Regel) in den Kanon der etablierten Literatur ein. Es darf bezweifelt werden, dass der Erfolg von Cornelia Funkes Tinten-Trilogie ohne die Wegbereiterin Joanne K. Rowling ähnlich groß gewesen wäre (möglicherweise ist sie überhaupt 196 Einheit 6 erst durch Harry Potter angeregt worden). Autoren und auch Figuren lassen sich wie Marken aufbauen, allerdings gibt es so viele Einflussfaktoren, dass der Erfolg einer solchen Strategie keineswegs gesichert ist. Verlage arbeiten auf zwei Programme hin, das Frühjahrs- und das noch wichtigere Herbstprogramm. Höhepunkt der Vorstellung des neuen Programms ist jeweils die Frankfurter Buchmesse im Oktober und die Leipziger Buchmesse im März, von anderen Veranstaltungen wie der Wiener Buchwoche im November abgesehen. Der komplexe Prozess des Büchermachens führt dazu, dass das Frühjahrsprogramm bereits im vorhergehenden Herbst und das Herbstprogramm im Frühjahr stehen muss. So wie die Hersteller von Weihnachtsmännern und Osterhasen arbeiten Lektoren also zeitversetzt - wenn sie die Frankfurter Buchmesse besuchen und dort ihre Autoren und Bücher präsentieren, wissen sie schon, was ihr Programm der Leipziger Buchmesse sein wird, und sie beginnen verstärkt mit der Arbeit am Programm der Frankfurter Buchmesse in einem Jahr. Allerdings gibt es in der Regel nicht nur vor den Buchmessen, sondern auch in der Zeit dazwischen Auslieferungstermine. Es würde ja auch keinen Sinn machen, den Markt zweimal im Jahr zu überschwemmen - viel besser ist es, wenn die Kulturredaktionen über das Jahr verteilt ihre Wahl der zu rezensierenden Bücher treffen können. d) Nicht nur der Buchverkauf zählt: andere Finanzquellen von Autoren und wie Verlage sie dabei unterstützen Wie wir gesehen haben, ist Büchermachen und Bücherverkaufen konzeptionell nicht voneinander zu trennen - aber in der Praxis und in den Aufgabenfeldern natürlich schon. Hier sind die Mitarbeiter der Werbe- und Presseabteilung gefragt, sie halten Kontakte zu potentiellen Rezensenten und Rezensionsorganen, fragen an, ob Besprechungsexemplare gewünscht werden, oder verschicken solche automatisch, wenn die Chancen gut stehen, dass eine Besprechung erscheint. Hier werden auch die Termine für Autorenlesungen koordiniert, die für den Verlag wichtig, für den Autor aber lebenswichtig sind. Die meisten Autoren können nicht von den Einnahmen aus dem Buchverkauf leben, sie finanzieren sich vor allem über Honorare, die sie für Lesungen erhalten; dazu kommen noch (bei etablierten Autoren) in unregelmäßigen Abständen Preisgelder und Stipendien. Autorenlesungen sind für Buchhandlungen ein Zuschussgeschäft, aber es gibt gute Gründe, weshalb eine gut geführte Buchhandlung trotzdem welche veranstaltet: ▶ Mit der Lesung macht die Buchhandlung auf sich aufmerksam und sie bindet Kunden. ▶ Der Verlag übernimmt oftmals die Reise- und Hotelkosten (RB, 137), die Buchhandlung zahlt ‚nur‘ das Honorar, das sich üblicher- 197 Einheit 6 weise zwischen € 250-500 Euro bewegt, bei bekannten Autoren auch darüber. ▶ Die gezahlten Honorare sind als Werbungskosten steuerlich absetzbar. ▶ Lesungen können in Kooperation mit Institutionen und Vereinen des Kulturbetriebs veranstaltet werden, das senkt die Kosten; oder es gibt Zuschüsse öffentlicher Kulturinstitutionen. Natürlich gibt es vor und nach der Lesung die Möglichkeit, Bücher des Autors - oder auch andere vorrätige Bücher und Produkte - zu kaufen. Lesungen können ebenso im Rahmen von Literaturfestivals, in Literaturhäusern, Büchereien oder anderen literaturvermittelnden Institutionen stattfinden. Hier fließen in der Regel öffentliche Gelder; vom Etat ist ein - je nach Institution und Absichten - mehr oder weniger großer Teil für Lesungen vorgesehen. Literaturfestivals boomen seit einigen Jahren, die 2001 gegründete Kölner lit.cologne beispielsweise oder die im gleichen Jahr gestartete Dortmunder LesArt. Alteingessen ist das Erlanger Poetenfest, das seit 1981 bekannte Autoren und viele Leser in die fränkische Mittelstadt zieht. Das größte Veranstaltungsprogramm bietet Leipzig liest anlässlich der Leipziger Buchmesse mit rund 80.000 Besuchern (vgl. BM, 223). In der Nähe Innsbrucks, im malerischen Hall in Tirol, findet im September immer das kleine, aber feine Festival Sprachsalz statt. 88 Wenn Buchhandlungen vor Ort keinen Büchertisch machen, sind insbesondere weniger bekannte Autoren gut beraten, selbst ein paar Exemplare mitzubringen. Die Pressearbeit rund um den ‚Event‘ ist sehr wichtig - der Verlag informiert örtliche Medien (wenn die Presseabteilung ausreichend groß und auf Draht ist) oder dies macht die literaturvermittelnde Institution vor Ort oder der Autor selbst. Natürlich müssen Autoren ihre Einnahmen versteuern und sie müssen sich privat sozialversichern. Eine hilfreiche Organisation in Deutschland, die es Autoren ermöglicht, von Honoraren zu leben und trotzdem nicht ihr Leben lang arbeiten zu müssen, ist die Künstlersozialkasse (KSK): Wer Mitglied in der Künstlersozialkasse ist, zahlt von den Beträgen für die Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung nur die Hälfte ein. Die andere Hälfte wird vom Staat ebenso finanziert wie von den Verwertern der Kunst, und d.h.: von den Verlagen, Plattenfirmen, Galeristen, Opernhäusern, Konzertveranstaltern etc. (BM, 190) Die Honorare der Lesungen, die KSK und das relativ dicht gewobenene Netz von Preisen und Stipendien sorgen dafür, dass es einer größeren Zahl von Autoren möglich ist, von ihrer Arbeit zu leben. Noch wichtiger ist die KSK natürlich für Sachbuchautoren, die selten mit Preisen rechnen 88 Vgl. http: / / www.sprachsalz.com (abgerufen am 09.10.08). 198 Einheit 6 können - es sei denn, sie sind finanziell unabhängig, schreiben als Teil ihrer Beschäftigung (Wissenschaftler an Universitäten) oder aus Interesse nebenbei. e) (Fast) jedes Buch ist unverwechselbar Die äußere Gestaltung eines Buches ist mit ausschlaggebend für die Kaufentscheidung, insbesondere auf das Cover, also die grafische Gestaltung der Vorderseite und die dafür zu treffende Auswahl von Abbildungen, wird ein Verlag viel Sorgfalt verwenden (vgl. BM, 97-100). Das Cover sollte attraktiv und unverwechselbar sein, es sollte sagen: ‚Kauf mich und kein anderes Buch‘. Für Orientierung sorgen außerdem Paratexte wie Autorname und Impressum - das Impressum ist bei Druckschriften vorgeschrieben und muss bei Büchern zumindest Name und Anschrift des Verlags und der Druckerei enthalten (vgl. BM, 146). Auch wenn es schon einmal passieren kann (aber nicht passieren sollte), dass zwei unterschiedliche Bücher den gleichen Titel tragen oder das gleiche Foto ihren Umschlag ziert, so gibt es doch etwas, das (fast) jedes Buch einzigartig macht - die ISBN, eine Abkürzung für ‚Internationale Standard-Buchnummer‘. (ISSN ist die Abkürzung für International Standard Serial Number, also für Zeitschriften.) 89 Lektorat und / oder Vertrieb holen sich ein Kontingent solcher Nummern von den hierfür zuständigen Agenturen. Jedes Buch erhält eine andere Nummer, die wie folgt aufgebaut ist (nach RB, 126f.): ▶ Gruppennummer - 3 steht für den deutschsprachigen Raum; ▶ Verlagsnummer; ▶ Titelnummer; ▶ Prüfziffer - wobei X für 10 steht. Für die elektronische Abwicklung des Verkaufs gibt es auf den meisten Büchern auch einen Strichcode (EAN-Code), der die ISBN enthält. Inzwischen wurde die ISBN durch ein Präfix (978 / 979) von neun auf dreizehn Stellen erweitert. Für Verlage ist sie selbstverständlich, aber sie ist nicht zwingend vorgeschrieben: Nicht jedes Buch hat eine ISBN. In Deutschland vergibt nur die ISBN- Agentur für die Bundesrepublik Deutschland ISBN-Verlagsnummern und einzelne ISBN. Weder die ISBN-Verlagsnummern noch die einzelnen ISBN dürfen verkauft oder an einen anderen Verlag gegeben werden. Da 89 „Die ISSN wiederum ist eine achtstellige international verbindliche Standardnummer und dient der kurzen und unverwechselbaren Identifikation von Periodika. Sie enthält keine Verlagsnummer etc. und ist an den gleich bleibenden Titel der fortlaufend erscheinenden Publikation gebunden. Sie wird in Deutschland von der Deutschen Bibliothek [Deutschen Nationalbibliothek; S.N.] (Frankfurt a.M.) vergeben“ (BM, 153f.). 199 Einheit 6 es keine rechtliche Verpflichtung zur Verwendung einer ISBN gibt und die Zuteilung mit Kosten und Aufwand verbunden ist, verzichten manche Kleinverlage und Selbstverlage auf die Registrierung einer ISBN. Die Zuteilung einer einzelnen ISBN kostet derzeit (August 2008) in Deutschland 73,13 €, in Österreich 72 € und in der Schweiz 107,60 Franken, jeweils inklusive der jeweiligen Mehrwertsteuer. 90 Weitere Zusatzkosten fallen an, wenn der Verlag seine zwei Pflichtexemplare an die jeweilige Nationalbibliothek und eventuell weitere an Regionalbibliotheken abführt, doch ist die dauerhafte und zentrale Archivierung ja auch im Verlagsinteresse. So wird jedes Buch Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses ‚seines‘ Landes. 90 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Isbn (abgerufen am 08.10.08). E I N H E I T 7 Emphatiker und Gnostiker: Chancen und Risiken der Literaturkritik Wenn Lesen so etwas ist wie eine Reise in einen Text, dann ist das Schreiben darüber eine Art Reisebericht. Ein solcher erzählt immer sowohl von der Reise (dem Lesen), von dem Land (der Literatur) als auch vom Reisenden (dem Leser) selbst. Brigitte Schwens-Harrant 1 Literaturkritik bezeichnet die Berichterstattung über Literatur in den Medien. Im deutschsprachigen Raum wird zwischen Literaturwissenschaft und journalistischer Literaturkritik unterschieden, der Begriff Literaturkritik wird oft synonym mit Rezension oder Buchkritik gebraucht. Aber auch Interviews und viele andere Textsorten gehören dazu. Literaturkritik in der heutigen Form geht immer noch sehr stark auf die Entwicklungen des 18. und 19. Jahrhunderts zurück. Kritiker wurde zum Beruf, die Auswahl literarischer Texte, über die berichtet werden soll, und ihre Bewertung liefern wichtige Orientierungshilfen für die Leser. Neben der professionellen Literaturkritikern finden sich heute, vor allem im Internet, unüberschaubar viele Laienkritiker. Arrivierte Kritiker lenken Aufmerksamkeit vor allem auf schwierigere Texte, selten auf Bestseller. Sie verteidigen auf diese Weise die Autonomie der Literatur (wie sie beispielsweise von Niklas Luhmann oder Pierre Bourdieu beschrieben wurde). Trotz unterschiedlicher Auffassungen über die Literatur, trotz dauerhafter Krisenstimmung ist und bleibt die Literaturkritik bestimmten Aufgaben verpflichtet: Ein literaturkritischer Text sollte informieren, orientieren, kritisieren und unterhalten. 1 Brigitte Schwens-Harrant: Literaturkritik. Eine Suche. Innsbruck: StudienVerlag 2008 (Angewandte Literaturwissenschaft 2), S. 107. 201 Einheit 7 Die Provokation der Kritik „Manche Menschen lesen überhaupt keine Bücher, sondern kritisieren sie“, meinte Kurt Tucholsky. 2 „Literaturkritik ist nicht deine starke Seite, guter Junge. Laß lieber die Finger davon. Das ist für Leute, die nicht studiert haben“, meint Algernon in Oscar Wildes Bunbury oder Ernst sein ist wichtig. 3 An Spöttern fehlt es also nicht, die Geschichte der Literaturkritik ist auch eine Geschichte der Kritik an der Literaturkritik. Gern zitiert wird Goethes „Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent“, aber Goethe ist beileibe kein Sonderfall. 4 In jüngerer Zeit ist es beispielsweise der Käpt’n- Blaubär-Erfinder und Erfolgsautor Walter Moers, der zur spitzen Feder greift. „Warum lassen wir unsere Kinder nicht einfach das lernen, was sie lernen wollen? [...] Wollen sie kochen lernen, werden sie Köche. Wollen sie schreiben lernen, werden sie bestenfalls Schriftsteller und schlimmstenfalls Drohbriefschreiber. Wollen sie gar nichts lernen, bleiben sie eben dämlich oder werden Literaturkritiker“, meint der von Moers erfundene, berühmteste Dichter Zamoniens, Hildegunst von Mythenmetz. 5 In einem anderen Roman über den fantastischen Kontinent Zamonien begegnet der noch junge Mythenmetz seinem späteren Intimfeind - natürlich ein Literaturkritiker, der auf den schönen Namen Laptantidel Latuda hört. Jene schicksalsträchtige Stelle, an der die beiden sich kennenlernen, liest sich wie folgt: „He - Verriß gefällig? “ Ach, du meine Güte - ich war in die Giftige Gasse geraten! Das war nun schon keine Sehenswürdigkeit mehr, sondern einer der Orte Buchhaims, die man grundsätzlich meiden sollte, wenn man noch einen Funken Anstand im Leib hatte. Die Giftige Gasse - die berüchtigte Straße der gedungenen Kritiker! Hier lebte der wahre Abschaum Buchhaims - selbsternannte Literaturkritiker, die gegen Bezahlung vernichtende Verrisse schrieben. [...] „Totalverriß gefällig? “ wisperte der Schmierfink. „Ich arbeite für alle großen Zeitungen! “ 6 Literatur und Realität sind zwei verschiedene Paar Schuhe, Satire und Realität sowieso. Der Literaturbetrieb ist viel zu komplex organisiert, als dass Verschwörungstheorien mehr als den Reiz des Anrüchigen haben könnten. Es gibt durchaus Beispiele, die eine Uniformierung der Literaturkritik vermuten lassen, etwa die Debatten über Martin Walsers sogenannte 2 Vgl. „Sag mal, verehrtes Publikum, bist du wirklich so dumm? “ Tucholsky zum Vergnügen. Hg. von Stefan Neuhaus. Mit 10 Abb. Stuttgart 2006 (RUB 18392), S. 92. 3 Oscar Wilde: Bunbury oder Ernst sein ist wichtig. Eine triviale Komödie für ernsthafte Leute. Übersetzung u. Nachwort v. Rainer Kohlmayer. Erw. Ausg. Stuttgart: Reclam 2004 (RUB 8498), S. 12. 4 Für das vollständige Zitat und eine kleine Blütenlese der Kritik an der Kritik vgl. Stefan Neuhaus: Literaturkritik. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004 (UTB 2482), S. 83ff. 5 Walter Moers: Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien. 6. Aufl. München: Goldmann 2002, S. 88. 6 Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher. Ein Roman aus dem Zamonischen von Hildegunst von Mythenmetz. 9. Aufl. München u. Zürich: Piper 2007, S. 88f. 202 Einheit 7 Friedenspreisrede oder seinen Roman Tod eines Kritikers von 2002. Doch auch in solchen Debatten finden sich zahlreiche Gegenstimmen. Und Beispiele für eine polyphone Kritik lassen sich genauso leicht finden, etwa die Rezeption des Werks von Helmut Krausser, wenn die oft auf die Person zugespitzte Beurteilung (was unprofessionell ist, da man Autor und Werk trennen sollte) zwischen Scharlatan und Genie schwankt. Nicht selten hat man den Eindruck, dass die Kritiker unterschiedliche Bücher gelesen haben, etwa im Fall von Hannes Stein, der Kraussers Roman Thanatos von 1996 im Spiegel verreißt, und Thomas Kraft, der ebendiesen Roman in der Stuttgarter Zeitung lobt. Hier Ausschnitte: Stein: „Leider aber hat Helmut Krausser den Roman geschrieben. Und Krausser leidet unter einer unerwiderten Liebe zur deutschen Sprache, die ihn partout nicht erhören will. […] Kein Zweifel, der Autor hat eine abgründige Neigung zum Mythischen, Geraunten, zum Tiefdunkelbedeutsamen.“ 7 Kraft: „Es [das Buch] bietet überraschende Bilder, ist äußerst treffsicher in der Personen- und Milieuschilderung und zeugt in seiner geschickten Handhabung vieler Tonlagen und Perspektiven von extrem hohem Sprachgefühl.“ 8 In solchen Fällen stellt sich immer wieder neu die Frage, ob die konstitutive Deutungsoffenheit des Werks oder die Subjektivität des Kritikers die Unterschiede verursacht - oder vielleicht sogar beides. Hier kann eine theoretische Auseinandersetzung mit den Grundlagen und Funktionsweisen von Literatur helfen, der andere Kapitel des vorliegenden Buches gewidmet sind. 9 In den folgenden Abschnitten wird es um die Frage gehen, was überhaupt unter Literaturkritik verstanden werden kann, wie sie sich entwickelt hat und wie sie sich heute darstellt. Definitionen und Textsorten der Kritik „Literaturkritik ist jede Art kommentierende, urteilende, denunzierende, werbende, auch klassifizierend-orientierte Äußerung über Literatur, d.h. 7 Hannes Stein: Orte in dünnem Lichte. Über den Schriftsteller Helmut Krausser und dessen Roman „Thanatos“. In: Der Spiegel Nr. 8 v. 19.2.1996, S. 203f. 8 Thomas Kraft: Komm, o Tod. Helmut Kraussers schwarzer Roman „Thanatos“. In: Stuttgarter Zeitung v. 26.3.1996. 9 Vgl. zur vertiefenden Lektüre auch den schönen Reader von Sascha Michel (Hg.): Texte zur Theorie der Literaturkritik. Stuttgart: Reclam 2008 (RUB 18549), der Texte von Johann Christoph Gottsched über Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Roland Barthes bis zu Marcel Reich-Ranicki und Hubert Winkels versammelt und so nicht nur einen historischen Überblick über die Verständigung und Selbstverständigung über Kritik in Auszügen bietet, sondern auch ein breites Spektrum (Philosophen, Autoren, Kritiker) möglicher Zugänge dokumentiert. 203 Einheit 7 was jeweils als ‚Literatur‘ gilt“, meint Herbert Jaumann im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 10 Auch andere Definitionen in Nachschlagewerken wären zu zitieren, sie sind jedoch nicht immer nah an der Praxis, also an dem, was sich als Literaturkritik beobachten lässt. Zunächst einmal kann man Literaturkritik den Medien zuordnen, genauer: es handelt sich um Äußerungen über Literatur in den Medien. In dem Fall wäre eine bewertende Äußerung über Literatur, die privat, in einer face-to-face-Kommunikation fällt, noch nicht Literaturkritik. Es greift allerdings zu kurz, die Massenmedien und die Universitäten einander gegenüberzustellen und ihnen Literaturkritik bzw. Literaturwissenschaft als Betätigungsfeld zuzuordnen, 11 da die meisten Literaturkritiker ausgebildete Literaturwissenschaftler sind. Viele arbeiten (bzw. arbeiteten bis zu ihrer Emeritierung) sogar hauptberuflich an den Universitäten und sind freiberuflich als Kritiker tätig (z.B. Peter von Matt, Wulf Segebrecht oder Heinrich Detering). Auch inhaltlich lässt sich die Abgrenzung von Kritik und Wissenschaft nur insoweit rechtfertigen, als dass sich die Literaturkritik (von akademischen Fachrezensionen abgesehen) in der Regel über die Massenmedien an ein breiteres Publikum richtet als die Texte (v.a. Interpretationen) der Wissenschaftler. 12 Unter Medien lassen sich hier die Massenmedien Zeitung und Zeitschrift, Hörfunk, Fernsehen und Internet fassen, ebenso periodische Formen der Publikation wie Jahrbücher. Dieser uns vertraute Begriff der Literaturkritik unterscheidet sich „von der englischen oder französischen Begriffsverwendung (literary criticism, critique litteraire). In Deutschland wird begrifflich deutlicher als in anderen Ländern zwischen (journalistischer) Literaturkritik und (akademischer) Literaturwissenschaft unterschieden.“ 13 In der notwendigen Reflexion über ihre Funktion in der Gesellschaft sollte man aber beide Auffassungen im Blick behalten. 14 Die zweite wichtige Feststellung betrifft den von Jaumann konstatierten wertenden Charakter. Präzisierend soll hier die Auffassung vertreten 10 Vgl. Herbert Jaumann: Literaturkritik. In: Harald Fricke u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Band II: H-O. Berlin u. New York 2000, S. 463-468, hier S. 463. 11 Vgl Wendelin Schmidt-Dengler: Literaturwissenschaft und Literaturkritik. In: Ders. u. Nicole Katja Streitler (Hg.): Literaturkritik. Theorie und Praxis. Innsbruck u. Wien: StudienVerlag 1999 (Schriftenreihe Literatur des Instituts für Österreichkunde 7), S. 11-25, hier S. 11. 12 Für differenzierte Überlegungen, was Literaturkritik ausmacht und wie Rezensionen mit Interpretationen in Verbindung zu bringen sind, vgl. Walter Hinck: Germanistik als Literaturkritik. Zur Gegenwartsliteratur. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1983 (suhrkamp taschenbuch 885), bes. das einführende Kap. I, „Zu einer Theorie der literaturkritischen Praxis“ (S. 9-33). 13 Thomas Anz: Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Kooperation und Konkurrenz. In: Michael Klein u. Sieglinde Klettenhammer (Hg.): Literaturwissenschaft als kritische Wissenschaft. Unter Mitarbeit von Brigitte Messner. Wien: LitVerlag 2005 (Innsbrucker Studien zur Alltagsrezeption 1), S. 29-42, hier S. 29. 14 Vgl. Michael Klein: Literaturkritik und Literaturwissenschaft. Abermaliges Plädoyer für ein komplementäres Verständnis der beiden Institutionen aus gegebenem Anlass. In: Ders. u. Sieglinde Klettenhammer (Hg.): Literaturwissenschaft als kritische Wissenschaft. Unter Mitarbeit von Brigitte Messner. Wien: LitVerlag 2005 (Innsbrucker Studien zur Alltagsrezeption 1), S. 11-27. 204 Einheit 7 werden, dass zunächst einmal jede Berichterstattung über Literatur in den Medien zur Literaturkritik gehört, sei sie nun explizit wertend oder nicht (eine implizite Wertung ist allein schon durch die Auswahl gegeben, durch den Fokus auf einen Autor oder ein Buch). Es lassen sich zahlreiche Textsorten der Literaturkritik unterscheiden, die nicht immer klar abgegrenzt werden können. Sie orientieren sich an den im Journalismus üblichen Textsorten, als die wichtigsten wären zu nennen: ▶ Meldung, ▶ Bericht, ▶ Interview, ▶ Glosse, ▶ Reportage oder Feature, ▶ und schließlich als Variante des Kommentars die Rezension oder Buchkritik, hier wiederum als Spielart die Sammelrezension. Wenn von Literaturkritik die Rede ist, ist damit üblicherweise die Rezension oder Buchkritik gemeint. Wir können also zwischen einem weiten und einem engen Begriff der Literaturkritik unterscheiden, letzterer ist identisch mit der Textsorte Rezension oder Buchkritik. Eine beliebte Variante der Literaturkritik im Medium Fernsehen ist die Talkshow, besonders bekannt wurde das Literarische Quartett (im ZDF) mit Marcel Reich-Ranicki. In Sendungen wie druckfrisch (in der ARD) mit Denis Scheck kommen auch die Autoren zu Wort, hier finden sich Interviews neben berichtähnlichen Sequenzen und klaren Bewertungen. 15 Das Fernsehen ist das Medium, mit dem sich am meisten Rezipienten erreichen lassen, doch zugleich ist es auch das Medium, das vielleicht am wenigsten für eine argumentativ nachvollziehbare, bewertende Auseinandersetzung mit Literatur geeignet ist. Emily Mühlfeld, die sich näher mit dem Thema beschäftigt hat, spitzt die Beschränkungen und Möglichkeiten des Mediums auf den Satz zu: „Es kann nicht interpretieren, aber neugierig machen.“ 16 In der Literaturkritik sind zunächst einmal Sachtexte und fiktionale / belletristische Texte zu unterscheiden, meistens geht es um letztere - dann vor allem um Romane, Erzählungen und - seltener - Gedichte. Wenn Sachliteratur einem kritischen Prüfungsverfahren unterzogen wird, scheinen die Bewertungskriterien einfacher zu sein, denn Sachliteratur soll ihren Gegenstand möglichst wahrheitsgetreu und auf eine nachvollziehbare Weise behandeln. Ob man nun eine besonders komplexe, schwierige Argumentation oder einen unterhaltsamen Stil erwartet, hängt vom Zielpublikum ab, das wiederum durch Faktoren wie Verlag (Publikumsverlag oder wissenschaftlicher Verlag? ), Themenwahl o.ä. vom Kritiker einge- 15 Zum Thema vgl. bes., auch für eine historische und systematische Übersicht, Emily Mühlfeld: Literaturkritik im Fernsehen. Wien: LitVerlag 2006 (Innsbrucker Studien zur Alltagsrezeption 4). 16 Ebd., S. 299. 205 Einheit 7 schätzt werden kann. Zur Sachbuchkritik gibt es kaum Untersuchungen und es ist zu vermuten, dass auch hier die Kriterien nicht so klar sind, wie es zunächst aussieht. In den letzten Jahren sind zwei Entwicklungen immer wichtiger geworden: 1. die Degradierung der Rezension zur Buchanzeige: Durch den ökonomischen Druck, dem die Medien, auch durch ihre Diversifizierung, ausgesetzt sind, bleibt oftmals keine Zeit für die langwierige Lektüre von belletristischer Literatur. Gerade Regionalzeitungen oder andere kleinere Medien haben kaum Personal, das sich genügend auskennt und / oder die entsprechenden zeitlichen Reserven hat, um Neuerscheinungen zu sichten und eine Auswahl vorzustellen. Insofern behilft man sich hier oftmals mit dem Abdrucken redigierter Informationstexte, in der Regel aus Verlagsprospekten. Nur noch die Auswahl der Informationstexte stellt so etwas wie eine geistige Leistung und qualitative Gewichtung dar. 2. Literaturkritik im Internet: In zahlreichen Foren oder auf privat unterhaltenen Seiten werden - manchmal allgemein, manchmal bezogen auf besondere Interessen oder Genres - zahlreiche Lesetipps gegeben und Bücher vorgestellt. Diese Lesetipps erreichen meist, bedingt durch ihre Vielzahl, nur ein begrenztes, speziell an der Seite interessiertes oder zufällig auf sie stoßendes Publikum. Im Internet zu unterscheiden sind a) Lesetipps (teilweise mit klaren Bewertungen durch Zuweisung von Punkten auf einer Skala) auf kommerziellen Internetseiten wie denen des Buchhändlers Amazon, der damit natürlich auch den Buchverkauf stimulieren möchte, 17 und b) spezielle Internetanbieter für Literaturkritik, die in der Regel von universitären Einrichtungen getragen werden. Das bekannteste Rezensionsforum ist literaturkritik.de, 18 ein nicht-kommerzielles Unternehmen der Universität Marburg. Monatlich werden hier bis zu 100 Bücher besprochen. Speziell für literaturwissenschaftliche Publikationen hat sich iasl-online einen Namen gemacht, ein Rezensionsforum der LMU München. 19 Dazu kommen c) Rechercheseiten, etwa jene der größten universitären Dokumentationsstelle für Literaturkritik im deutschen Sprachraum. 20 Das zur Universität Innsbruck gehörende Innsbrucker Zeitungsarchiv 17 Nutzer können zu allen bei Amazon gelisteten Medien Kurzkritiken schreiben, sie müssen das Produkt mit einem bis fünf Sternen bewerten, ein Stern ist die schlechteste, fünf Sterne die beste Bewertung. Amazon generiert dann aus den vorhandenen Kurzkritiken einen Mittelwert, der im Titelfeld angezeigt wird. Vgl. http: / / www.amazon.de. 18 Vgl. http: / / literaturkritik.de. 19 Vgl. http: / / www.iaslonline.de. 20 Weitere umfangreiche Sammlungen, die allerdings nicht komplett digitalisiert sind, gibt es in Marbach (Deutsches Literaturarchiv), Dortmund (Autorendokumentation der Stadtbücherei) und Wien (Zeitungsarchiv des Literaturhauses). 206 Einheit 7 (IZA) hat rund eine Mio. Artikel zur Weltliteratur aus deutschen Printmedien seit Beginn der 1960er Jahre archiviert. Gesucht werden kann mittels Datenbankrecherche von zuhause aus. Das IZA erfasst außerdem die Metadaten von Artikeln aus rund 60 Literatur- und Kulturzeitschriften und es archiviert Sendungen in Hörfunk und Fernsehen, die sich mit Literatur beschäftigen (es gibt bereits über 11.000 Mitschnitte). 21 Eine Mischform ist d) das Angebot von Perlentaucher. Wichtiger Bestandteil des Kulturmagazins ist eine Presseschau, die Rezensionen zu besonders beachteten Titeln zusammenfasst und damit einen ersten Überblick z.B. über kontrovers geführte Debatten vermittelt. Über den Autorennamen oder den Buchtitel kann man noch nach Jahren die Zusammenfassungen der Kritiken suchen und lesen, außerdem lässt sich so herausfinden, ob der Autor noch andere Bücher geschrieben hat, zu denen Material archiviert worden ist. Links zu im Netz befindlichen Artikeln, Linklisten zu speziellen Themen und anderes mehr findet sich im weiterführenden Angebot. 22 Neben der Literaturkritik gibt es andere Formen der Kritik, vor allem die mit ihr eng verwandte Theaterkritik und die Filmkritik. Literatur ist ein Codierungssystem, es gehört durch seine Deutungsoffenheit zum Bereich der Kunst. Dramen sind neben Prosatexten und Gedichten eine der Hauptgattungen der Literatur. Da man davon ausgeht, dass Theaterstücke (sogenannte Lesedramen einmal ausgenommen) für die Aufführung geschrieben worden sind, werden sie in der Regel besprochen, wenn sie aufgeführt werden. Nun impliziert jede Aufführung bereits eine mehr oder weniger notwendige Veränderung des Vorlagentextes, sei es, weil der Text zu lang ist und eine Aufführung daher länger dauern würde, als es das Publikum üblicherweise goutiert; sei es, dass Regie und Dramaturgie den Text als Ausgangspunkt für etwas Neues nehmen, das sie damit zeigen wollen. Die weitestgehenden Veränderungen verbindet man mit dem sogenannten Regietheater - die ursprünglichen Texte sind dann kaum wiederzuerkennen und für Kritiker wie Publikum stellt sich die spannende Frage, ob mit den Veränderungen neue Erkenntnisprozesse initiiert werden können, ob also der Ausgangstext produktiv genutzt worden ist. Mit dem Codierungssystem der Literatur werden bei der Aufführung eines Dramentextes noch andere Codierungssysteme verbunden - etwa Bühnenbild, Musik, Mimik und Gestik der Schauspieler. Der literarische Text wirkt in der Regel allein durch die Schriftsprache (von Illustrationen oder Abbildungen einmal abgesehen, etwa beim Bilderbuch). Die Schrift muss dekodiert werden, so entstehen ‚Bilder im Kopf ‘. Das Theater überführt die Sprache bereits in bewegliche Bilder, es setzt 21 Vgl. http: / / www.uibk.ac.at/ iza. 22 Vgl. http: / / www.perlentaucher.de. 207 Einheit 7 konkrete Personen an die Stelle von Figuren, die der Text oftmals nur sehr eingeschränkt auf bestimmte Merkmale festlegt (etwa auf das Alter, die Größe o.ä.). Dazu kommt die ganz anders wirkende gesprochene Sprache, eventuell noch die Musik - es wird die akustische Wahrnehmung angesprochen, und es werden die anderen Sinne aktiviert, die registrieren, dass man sich in einem Theater befindet. Ein Buch kann man jederzeit zur Hand nehmen, ins Theater kann man nur zu bestimmten Aufführungszeiten gehen. Eine hybride Form sind digitale Editionen, die sich aber am Markt kaum durchgesetzt haben, es sei denn zur schnellen Text- und Zitatsuche. Auch der Film ist ein Codierungssystem - oder vielmehr ein Bündel von Codes. Zur gesprochenen Sprache, Mimik, Gestik etc. kommen Kameraeinstellung, Schnitttechnik und andere visuelle Variablen. Die Musik wird auf das Bild abgestimmt, mit ihr lassen sich weitergehende Wirkungen erzielen (man denke an Horrorfilme, wenn man bei ihnen den Ton abschaltet, wirkt der Film höchstens noch halb so spannend). Filme sind arbeitsteilig organisiert, sie sind so materialaufwändig und komplex in ihrer Struktur, dass künstlerische Ansprüche nur mit viel Geld realisiert werden können. Das führt dazu, dass nur wenige Filmgesellschaften überhaupt massentaugliche Filme produzieren können und dass die Kosten eines Films durch seine Vermarktung wieder hereingeholt werden müssen - idealerweise mit einem satten Profit, der es auch ermöglicht, einen neuen Film vorzufinanzieren. Bücher und Theateraufführungen sprechen ein zahlenmäßig viel kleineres Publikum an, sie sind viel preiswerter zu produzieren und das Risiko ist viel geringer. Dies dürfte ein wichtiger Grund dafür sein, dass Filme oftmals sehr routiniert wirken und - im Gegensatz zum fiktionalen Text oder zum Theater - das Publikum vor keine großen Verständnisprobleme stellen. Hörbücher und andere fiktionale ‚Texte‘ (im Sinne von Codierungssystemen) ließen sich ebenfalls in ihren unterschiedlichen Voraussetzungen und Wirkungsmöglichkeiten diskutieren. Kritik als Beruf Da Literaturkritik, in ihrer verbreitetsten Form, durch ihren Erscheinungsort dem Journalismus zuzuordnen ist, dessen höchstes Gut die (grund-) gesetzlich verbriefte Meinungsfreiheit darstellt, gibt es keinen vorgeschriebenen Ausbildungsweg zum Literaturkritiker. Üblicherweise wird heute ein (geistes-)wissenschaftliches Studium vorausgesetzt, nach einem zweijährigen Volontariat kann dann die Anstellung als Redakteur erfolgen. Allerdings sind die wenigsten Literaturkritiker festangestellte Redakteure - die meisten sind freiberuflich tätig. Viele leben davon, für verschiedene Zeitungen zu schreiben, andere haben eine Anstellung an einer Universität oder arbeiten in den unterschiedlichsten Berufen. 208 Einheit 7 Die Tätigkeit in den Massenmedien führt dazu, dass sich Literaturkritiker mit deren Funktionsweise auseinandersetzen müssen. 23 Wichtig ist beispielsweise der Aktualitätsbezug 24 - das besprochene Buch sollte noch nicht zu lange auf dem Markt sein. In vielen Medien gibt es ein regelrechtes Wettrennen um die erste publizierte Rezension, manche unterlaufen die von Verlagen vorgegebene Sperrfrist - viele Verlage senden Bücher vor dem Auslieferungstermin, also dem Termin, ab dem die Bücher in den Buchhandlungen aufliegen, an Kritiker mit der Auflage, bis zu einem bestimmten Datum mit der Veröffentlichung der Kritik zu warten. Ein solches Verhalten kann von den Verlagen sanktioniert werden, indem sie dem Kritiker oder dem Medium beim nächsten wichtigen Titel kein Vorabexemplar zukommen lassen; allerdings sind Verlage auf Publizität angewiesen und werden sich einen solchen Schritt gut überlegen. Mit den Spielregeln der Literaturkritik und dem - wie auch immer zu bewertenden - ‚kreativen‘ Umgang mit ihnen wird sich jeder (werdende) Kritiker auseinandersetzen müssen, wenn er mit seiner Tätigkeit Erfolg haben, d.h. Anerkennung bekommen und möglicherweise Karriere machen will. Dazu kommt das nötige Kontextwissen, das ein Studium nur teilweise bereitstellen kann. Das literarische Feld hat eine Eigengesetzlichkeit (Luhmann bezeichnet es als autopoietisches, d.h. selbsterzeugendes und sich selbst regulierendes System), es hat eine historische Dimension und es steht in Wechselwirkung mit allen anderen Bereichen (Systemen, Feldern) der Gesellschaft. Wer Literaturkritiker werden will, muss möglichst früh anfangen, möglichst viel zu lesen und sich außerdem in verschiedensten Bereichen Allgemein- und Spezialwissen aneignen, um die zu rezensierenden Bücher diachron (in die literaturgeschichtliche Tradition oder in die historische Entwicklung einer Thematik) wie synchron (in die aktuelle Literatur) einordnen zu können. Was Gernot Stegert für die Filmkritik betont, gilt auch für die Literaturkritik: Es handelt sich um „eine journalistische Fertigkeit“, die „wie jede komplexe Tätigkeit eingeübt werden“ muss. 25 In der Regel geschieht dies durch ‚Learning-by-doing‘, ersten Kritiken für Anzeigenblätter oder Regionalzeitungen, lokale Rundfunkstationen o.ä. kann die Arbeit für größere Medien folgen. Auch an Universitäten gibt es zunehmend, allerdings immer noch in kleinerem Umfang (etwa an den Universitäten Bamberg, Berlin, Dortmund, Hildesheim, Innsbruck und Marburg) Angebote, sich entsprechendes Grundlagenwissen und die nötigen Fertigkeiten zu erwerben. 23 Vgl. hierzu das Kap. „Macht und Ohnmacht der Gate-Keeper: Literatur und Medien“. 24 Vgl. Gernot Stegert: Filme rezensieren in Presse, Radio und Fernsehen. München: TR-Verlagsunion 1993 (TR-Praktikum 8), S. 42. 25 Vgl. ebd., S. 7f. 209 Einheit 7 Geschichte der Literaturkritik „Die moderne Literaturkritik entstand in der Aufklärung.“ 26 Die Basis bietet die Entwicklung der Gesellschaft, hierzu zählen die Ablösung des religiösen Weltbildes durch ein wissenschaftliches, die Industrialisierung, das Aufkommen des Bürgertums und die Entstehung eines gesellschaftlichen Diskurses mit immer mehr Teilnehmern; der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Jürgen Habermas (geb. 1929) hat mit dem Titel seiner berühmt gewordenen Habilitationsschrift von 1961 hierfür den Begriff des „Strukturwandels der Öffentlichkeit“ geprägt. 27 Zentral für das Programm der Aufklärung war der Begriff der Vernunft, und eines der Instrumente, ihr zum Sieg zu verhelfen, war die Kritik. Nicht zufällig tragen viele wichtige Schriften den Begriff im Titel, beispielsweise Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft (1781, 2. erw. Aufl. 1787), Kritik der praktischen Vernunft (1788) und Kritik der Urteilskraft (1790). Der öffentliche Diskurs lief vor allem über das Theater und die Literatur bzw. Literaturzeitschriften, aufgrund der Struktur der damaligen Medienlandschaft und der strengen Zensur eigneten sie sich am besten für (codierte) Meinungsäußerungen. Insofern kam der Theater- und Literaturkritik besondere Bedeutung zu. Der Diskurs über Vernunft und Kritik ist allerdings in einem weiteren politischen Kontext zu sehen: Die politische Kritik […] wird zur Stimme der öffentlichen Meinung. Zwar gilt auch für sie noch die für den Absolutismus konstitutive Trennung von Mensch und Untertan, Moral und Politik, aber für sie ist dieser Dualismus nur noch Taktik, um ihrer moralischen Kritik schärferen Ausdruck zu geben und dem Souveränitätsanspruch des Königs zu trotzen, bis sie ihm in der Revolution als Menschen den Prozeß machen. 28 Was Berghahn hier für Frankreich feststellt, gilt für den deutschsprachigen Raum zeitverzögert ebenso. Auch wenn die Partizipation des Bürgertums an der staatlichen Macht nach den Befreiungskriegen mit dem Wiener Kongress von 1815 noch einmal unterbunden wurde und die Revolution von 1848 keine radikalen politischen Lösungen brachte, so wurde das Bürgertum doch zur wichtigsten Schicht in der Gesellschaft, es bestimmte die wirtschaftliche Entwicklung ebenso wie es die zentrale Rolle in der 26 Klaus L. Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik 1730-1806. In: Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik. Mit Beiträgen von Klaus L. Berghahn u.a. Stuttgart: Metzler 1985, S. 10-75, hier S. 10. 27 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1990 (stw 891). - Zum Zusammenhang von Gesellschaftswandel und Entstehung der (modernen) Literaturkritik vgl. auch Peter Uwe Hohendahl: Literaturkritik und Öffentlichkeit. München: Piper 1974 (Serie Piper 84). 28 Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik 1730-1806, S. 14. 210 Einheit 7 Bildung spielte. Kritik, auch Literaturkritik ist insofern Bestandteil der Ausbildung einer bürgerlichen Identität. Gerade durch die Abstinenz an der politischen Entscheidungsfindung wird die Beschäftigung mit Theater und Literatur noch wichtiger: „Im Freiraum der literarischen Öffentlichkeit kann sich auch in Deutschland [wie in Österreich] die moralische Kritik als politische Ersatzhandlung artikulieren.“ 29 Ob diese Trennung von öffentlicher und privater Sphäre eher positive oder negative Folgen für die gesellschaftliche Entwicklung gehabt hat, wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Bis zur Barockzeit galt literarisches Schreiben eher als etwas Erlernbares, vergleichbar einem Handwerk. 30 Die Qualität neuer Texte wurde daran gemessen, wie erfolgreich sie darum bemüht waren, die seit der antiken Literatur tradierten Muster zu adaptieren. Literatur funktionierte in einem höfischen Kontext, Auftraggeber und Mäzene waren die weltlichen und geistlichen Herrscher. Kritik war erlaubt, wenn sie nicht die gottgegebene Ordnung der Gesellschaft, die Macht der Kirche und der von ihr eingesetzten Herrscher sowie die hierarchische Einteilung der Gesellschaft (Adel und Volk) in Frage stellte. In der Frühaufklärung, vor allem durch Johann Christoph Gottsched (1700-1766), setzte sich die Auffassung durch, dass sich „ein vernünftiges Regelsystem“ finden lässt, „das normativ und universell gilt“. 31 Vernünftig war, was der Bildung und Ausbildung des Bürgertums in Abgrenzung zum Adel nach oben und zum Volk nach unten dienen konnte. Die Kompetenz der Beurteilung von Literatur wurde in dem Begriff des Geschmacks gefasst. Doch auch hier treten schon die Gegensätze von Geschmack des Kritikers einerseits, vermutetem und tatsächlichem Publikumsgeschmack andererseits auf. Der Kritiker sollte, so die programmatische Forderung, das Bürgertum „als Kunstrichter, Experte und Vormund erst zur literarischen Mündigkeit“ erziehen: 32 „[Johann Ulrich] König und ihm folgend Gottsched machen dem Kunstgefühl zwar Zugeständnisse, aber letztendlich wird das Urteil über das Schöne vom prüfenden Verstand gefällt.“ 33 Unter Rückgriff auf Alexander Gottlieb Baumgartens Aesthetica von 1750 wird der neue Begriff entwickelt. Der Geschmack „[…] ist das Vermögen, die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der schönen Gegenstände zu beurteilen (iudicium). Er ist im Sinne des rhetorischen Iudicium Voraussetzung der Kritik […].“ 34 Die Ambivalenz von individuellem und 29 Ebd., S. 15. 30 Zur Barockzeit, insbesondere zu Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624) vgl. Neuhaus: Literaturkritik, S. 37f. 31 Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik 1730-1806, S. 24. 32 Vgl. ebd., S. 25. - Zur Leistung Gottscheds und seiner Critischen Dichtkunst vgl. auch Neuhaus: Literaturkritik, S. 38-41. 33 Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik 1730-1806, S. 34. 34 Ebd. 211 Einheit 7 gruppenbezogenem oder kollektivem Geschmack löst Immanuel Kant, indem er den Geschmack als etwas Subjektives und Plurales verteidigt und zugleich „die Allgemeingültigkeit des ästhetischen Urteils“ zu begründen versucht. Das Schöne provoziert ein „interesselose[s] Wohlgefallen“: „Im ästhetischen Zustand fühlt sich der Betrachter befreit von physischer Nötigung oder moralischer Forderung; die Erfahrung des Schönen gewährt ein besonderes Lustgefühl, das nicht nach Befriedigung verlangt.“ Und weiter: „Im Geschmacksurteil geht der Urteilende über seine private Subjektivität hinaus, er teilt sich anderen mit und stellt sich dabei auf einen Standpunkt, von dem aus er für alle spricht. Das wäre der soziale Aspekt des Geschmacksurteils […].“ 35 Daraus folgert Berghahn: „Die allgemeine Mitteilbarkeit des ästhetischen Gemütszustands und die regulative Idee eines ästhetischen Gemeinsinns bilden die Grundlage der praktischen Kunstkritik. Was ist Kritik anders als ein Beurteilen des Schönen unter einem allgemeinen Gesichtspunkt? “ 36 Gotthold Ephraim Lessing, der bedeutendste Schriftsteller der Aufklärung, ist zugleich einer der wichtigsten Literaturkritiker nicht nur seiner Epoche: 37 „Als Kunstrichter ist er [der Kritiker] weder der Gesetzgeber noch der Zuchtmeister der Dichter. Er prüft nur am Einzelfall, ob das Werk die gattungseigentümlichen Wirkungen erzielt.“ 38 Die Genieästhetik, der in der Epoche des Sturm und Drang zum Durchbruch verholfen wurde, hält Einzug in die Bewertung von Literatur. Der Autor wird zum Schöpfer, er und sein Text bestimmen die Kriterien selbst, nach denen der Text beurteilt werden kann. Anders gesagt: Der Kritiker ist aufgerufen, die Kriterien zur Beurteilung eines Texts aus diesem heraus zu entwickeln. Freilich gelten auch weiterhin allgemeine Bedingungen, denen sich Autoren und Texte nicht entziehen können, etwa die Frage der Wahrscheinlichkeit der Handlung. „Die ‚Grundbegriffe des Vollkommenen und Schönen‘ - besonders bei den literarischen Gattungen - sind natürlich schon durch die Tradition und die zeitgenössische Diskussion vorgegeben.“ 39 Doch erstmals wird das Neue, Innovative, Originelle des Texts als wichtigstes Kriterium zu dessen Bewertung herangezogen. Der Kontext (auch der politisch-gesellschaftliche) muss dabei stets mitgedacht werden: „Literarische Kritik rezensiert nicht nur die neueste Literatur, sondern sie prüft dabei auch den Wert der Tradition und setzt sich mit den Einflüssen der Nachbarkulturen auseinander, um ihre Funktion für die zeitgenössische Literatur zu bestimmen.“ 40 Und dieser literarische Kontext steht in einem 35 Ebd., S. 36. 36 Ebd., S. 36f. 37 Zu Lessing und seiner Hamburgischen Dramaturgie vgl. auch Neuhaus: Literaturkritik, S. 41-45. 38 Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik 1730-1806, S. 39. 39 Ebd., S. 41. 40 Ebd., S. 45. 212 Einheit 7 weiteren gesellschaftlichen; weder können die europäischen Literaturen isoliert voneinander gesehen werden, noch entstehen sie in einem gesellschaftsfreien Raum. Freilich ist nicht nur Lessing wichtig, der Diskurs über Literatur und ihre Bewertung bezog praktisch alle Schriftsteller ein, die in der Regel in Personalunion Kritiker waren - der Beruf des Literaturkritikers entsteht erst, wie der des Journalisten allgemein, im Laufe des 19. Jahrhunderts. Ein Beispiel ist Friedrich Nicolai, der 1765 die Allgemeine Deutsche Bibliothek gründete und damit ein Forum für Literatur schaffen wollte, in dem jede Neuerscheinung besprochen werden sollte: Dieses Werk soll seiner Absicht nach, eine allgemeine Nachricht, von der ganzen neuen deutschen Litteratur vom Jahre 1764 an, in sich enthalten. Man wird also darinn von allen in Deutschland neu herauskommenden Büchern, und andern Vorfällen, die die Litteratur angehen, Nachricht zu ertheilen suchen. Schriften, von einiger Wichtigkeit, sonderlich deutsche Originalschriften, wird man ausführlich recensiren, so daß sich der Leser von dem ganzen Werke selbst aus der Recension einen richtigen Begrif machen kann. Schriften von minderer Wichtigkeit, und Uebersetzungen wird man nur kürzlich anzeigen, doch mit Beyfügung eines kurzen Urtheils, über den Werth derselben. 41 Auch wenn der Erfolg phänomenal war - „Im Laufe von über 40 Jahren besprachen 433 Rezensenten über 80000 Neuerscheinungen“ 42 -, so konnte, angesichts der stetig wachsenden Titelzahl, der Anspruch auf Vollständigkeit nicht durchgehalten werden. Die Literatur der Weimarer Klassik orientiert sich einerseits an antiken Vorbildern und geht andererseits frei mit ihnen um. Schiller wie Goethe geben sich neue Regeln, allerdings auf der Basis der Modifikation von und des Spiels mit alten Mustern. Zu Schillers Literaturprogramm und zu ihm als Kritiker wäre viel zu sagen, hier soll nur festgehalten werden, dass er „künstlerische Distanz“ fordert, 43 vom Autor bei der Literaturproduktion, allerdings in der Konsequenz auch vom Kritiker, der ein Werk nur dann professionell beurteilen kann, wenn er es auf seinen Konstruktionscharakter hin untersucht und das Zusammenwirken aller Teile berücksichtigt. Einerseits gilt, in der Nachfolge Kants, der literarische Text als autonomes Kunstwerk. 44 Andererseits ist Schiller weiter der Aufklärung verpflichtet in dem Glauben und der Absicht, mit Literatur erzieherisch wirken zu können. Berghahn erläutert den Zusammenhang folgendermaßen: „Literaturkritik operiert aus einer Position der Marginalität und zielt auf einen 41 Zitiert nach http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Allgemeine_Deutsche_Bibliothek (abgerufen am 1.12.08). 42 Ebd. - Vgl. auch Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik 1730-1806, S. 51f. 43 Vgl. ebd., S. 62. Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten zu Goethes Literaturauffassung vgl. S. 63ff. 44 Vgl. ebd., S. 67f. 213 Einheit 7 ästhetischen Gemeinsinn, der dann die Grundlage einer neuen politischen Öffentlichkeit werden könnte.“ 45 Der vernunftgeleiteten Literaturkritik erteilt die Romantik eine Absage, zumindest in der Frage, ob der Vernunft oder dem Gefühl Vorrang einzuräumen sei. Die Feststellung von Schulte-Sasse, „Kunst ist hier nicht mehr durch ihre lebenspraktischen Bezüge bestimmt“, 46 ist so nicht ganz korrekt, denn die emotionale Rezeption von Kunst und Literatur hat natürlich weitreichende Folgen für das eigene Leben (und das der anderen). Durch bildende Kunst und Literatur sind Transzendenzerfahrungen möglich. In ihnen spiegelt sich das verlorene Goldene Zeitalter, die Gegenwart mit ihrer Disparatheit und Heterogenität hinterlässt deutliche Spuren und das künftige Goldene Zeitalter, die Vereinigung alles Getrennten auf einer höheren Entwicklungsstufe, lässt sich erahnen. Das Neue ist nicht die Wiederkehr des Religiösen, sondern vielmehr, dass der Riss zwischen Subjekt und Welt erkannt, betont und gestaltet wird. Die ganzheitliche Wahrnehmung von Welt ist nicht mehr möglich, ein geschlossenes Weltbild wird suspendiert. 47 Dass sich die Romantiker auf Kant beziehen, zeigt nur, dass die Epoche keine Gegensatzbildung zur Klassik ist, sondern eine Weiterentwicklung der für beide Epochen grundlegenden Ideen darstellt. 48 Die Romantik weist auf die klassische Moderne ein Jahrhundert später und die Feststellung Sigmund Freuds voraus, es gebe drei narzisstische Kränkungen des Menschen, die mit den Namen Kopernikus, Darwin und seinem eigenen Namen verbunden sind. Die letzte sei die größte Kränkung, denn mit ihr stehe fest, dass „das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“. 49 Eine solche Tradition festzustellen, bedeutet auch eine Gegenposition zur früheren Diskreditierung der Romantik als Wegbereiterin faschistischer Ideologien. 50 Unter dem Eindruck von Restauration (Gründung des Deutschen Bundes als loser Staatenverbund mit weiterhin absolutistischen Herrschern im Wiener Kongress 1815) und Zensur (Karlsbader Beschlüsse von 1819) gibt 45 Ebd., S. 73. Allerdings stimme ich mit Berghahn nicht in der kritischen Zuspitzung überein, es handele sich um ein Konzept der „Gegenöffentlichkeit“, das „einer schönen Öffentlichkeit“ gedient habe (vgl. ebd., S. 75). Eine solche ideologiekritische Position übersieht, dass die Literatur keine Möglichkeit hatte, in den politischen Meinungsbildungsprozess direkt einzugreifen, und dass Schiller und Goethe durchaus ästhetische Konzepte mit einer politischen Position (und Vision) verbunden haben. 46 Jochen Schulte-Sasse: Der Begriff der Literaturkritik in der Romantik. In: Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik. Mit Beiträgen von Klaus L. Berghahn u.a. Stuttgart: Metzler 1985, S. 76-128, hier S. 77. 47 „Romanticism is a body of work that insists on openness; it is a system against systems“, vgl. Brad Prager: Aesthetic Vision and German Romanticism. Writing Images. Rochester/ New York: Camden House 2007 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), S. 227. 48 Vgl. ebd., S. 6. 49 Sigmund Freud: Eine Schwierigkeit mit der Psychoanalyse. In: Ders.: Werke aus den Jahren 1917- 1920. Hg. v. Anna Freud u.a. Frankfurt/ Main: Fischer 1999 (Gesammelte Werke 12), S. 6ff., Zitat S. 11. 50 Vgl. z.B. Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. München: Hanser 2007, S. 348ff. - Auch die ideologiekritische Auffassung einer „Esoterisierung der Kunstproduktion“ kann somit als zumindest einseitig bezeichnet werden, sie vertritt Schulte-Sasse: Der Begriff der Literaturkritik in der Romantik, S. 80. 214 Einheit 7 es bis zur (weitgehend gescheiterten) Revolution von 1848 eine Tendenz des Rückzugs ins Private, die mit dem Begriff Biedermeier bezeichnet wird, und den Versuch, gegen den Maulkorb für die bürgerliche Öffentlichkeit aufzubegehren - hierfür wird in der Regel der Begriff Vormärz (die Zeit vor der Märzrevolution 1848) gebraucht. Während die Literaturkritik des Biedermeier von einem autonomen Literaturbegriff ausgeht, aber vor allem auf Einfühlung und private Themen setzt, führen die Autoren und Kritiker des Vormärz die Tradition von Aufklärung und Klassik fort, den autonomen Begriff der Literatur mit ihrer gesellschaftlichen Relevanz zu synchronisieren, und zwar, unter dem (Ein-)Druck der Zensur, noch stärker als vorher: „Die Diskussion über Literatur ist, wie [Ludwig] Börne anmerkte, das Mittel der politischen Selbstverständigung.“ 51 Nach dem Scheitern der Revolution (wobei freilich einige Reformen initiiert werden konnten, so musste die Zensur stark eingeschränkt werden) wurde wieder stärker eine Trennung von Politik und Poesie favorisiert: Julian Schmidt vertrat 1850 in den Grenzboten den Standpunkt, daß die Revolution nicht nur eine politische, sondern gleichzeitig auch eine literarische gewesen sei. Er unterscheidet zwischen der Restaurationsliteratur, der er Inhaltslosigkeit vorwirft, der emphatischen Literatur der Revolutionsjahre und der nachrevolutionären Dichtung, deren Programm er entwerfen möchte. 52 Der neue (poetische / bürgerliche) Realismus in der Literatur bleibt allerdings dem gesellschaftlichen Idealismus verpflichtet, wie er in der Aufklärung einsowie enggeführt, in der Klassik durch Vermittlung von Ästhetik und Erziehung neu konzipiert und im Vormärz radikalisiert worden war. Wie in der Klassik wird wieder stärker auf Bildung gesetzt. Hier teilen sich Literatur und Kritik in zwei Entwicklungsstränge, einen der Tradition verpflichteten (mit Vertretern wie Emanuel Geibel, Joseph Victor von Scheffel und Gustav Freytag), der an ganzheitlichen Welterfahrungskonzepten festhält und insofern hinter die Ästhetik von Klassik und Romantik deutlich zurückfällt, sowie einen vorwärtsgewandten, der die eingeschränkte Wahrnehmung des Subjekts, das Disparate der Entwicklung und die Brüche in allen Teilen der Gesellschaft nicht mehr ignoriert und oftmals sogar zum Thema macht. Autoren wie Annette von Droste- Hülshoff (1797-1848), Adalbert Stifter (1805-1868), Gottfried Keller (1819-1890), Wilhelm Raabe (1831-1910), Theodor Storm (1817-1888) und Theodor Fontane (1819-1898) können insofern als Wegbereiter des Naturalismus und der Literatur der klassischen Moderne gesehen werden. 51 Peter Uwe Hohendahl: Literaturkritik in der Epoche des Liberalismus (1820 -1870). In: Ders. (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik. Mit Beiträgen von Klaus L. Berghahn u.a. Stuttgart: Metzler 1985, S. 129-204, hier S. 135. 52 Ebd., S. 188. 215 Einheit 7 Zugleich wird durch die Industrialisierung und die mit ihr einhergehenden technischen Innovationen die Professionalisierung des literarischen Feldes weiter vorangetrieben. Schriftsteller und Literaturkritiker werden, bei aller Durchlässigkeit in beiden Richtungen, zu zwei unterschiedlichen Berufen. Waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ludwig Börne oder Heinrich Heine eher Schriftsteller als Literaturkritiker, so sind in der zweiten Hälfte Julius Rodenberg und Paul Lindau eher Kritiker als Schriftsteller, zumindest in ihrer Wirkung und Bedeutung aus retrospektiver Sicht. Mit Julian Schmidt (1818-1886) kamen Kritiker auf, die sich zugleich als Literarhistoriker verstanden, und mit Otto Brahm (1856-1912) meldete sich eine Generation in den Feuilletons zu Wort, die die Berichterstattung über Literatur (und Theater oder Kunst allgemein) zu ihrem Brotberuf machte. Der auch heute noch bekannte Literaturkritiker und promovierte Germanist Alfred Kerr (1867-1948) versuchte, wie es Berman ausdrückt, „dem kritischen Diskurs durch die Ästhetisierungsstrategie Legitimität zu verleihen“. 53 Kerr gilt zugleich als einer der Kritiker, deren Texte zur Literatur im engeren Sinne gehören - eine Grenzüberschreitung vom Journalismus hin zur Literatur, wie sie durchaus öfter vorkommt (das Paradebeispiel ist der ‚rasende Reporter‘ Egon Erwin Kisch, 1885-1948). Weiterhin versuchen also Literatur und literaturkritischer Diskurs, die Autonomie des eigenen Feldes mit der Option gesellschaftspolitischer Einflussnahme zu verknüpfen. Literatur hat, so die unausgesprochene Voraussetzung, gesellschaftliche Relevanz; Literaturkritik vermag sie zu vermitteln oder gar zu beeinflussen, indem sie auf künftige Autoren und Texte einwirkt. Die Literaturkritik der Weimarer Republik zeigt sich daher nicht weniger zerrissen als das politische Feld. Marxistische Kritiker vertreten die Auffassung, dass die Literatur in den Dienst des Sozialismus genommen werden muss, während andere Autoren wie Kritiker liberale oder konservative, monarchistische oder nationalsozialistische Programmatiken verfolgen (durchaus mit unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Richtungen); teilweise wird also die Eigengesetzlichkeit der Literatur der nationalen ‚Erziehung‘ geopfert. Als kritischer Beobachter solcher Entwicklungen wie der seit dem 19. Jahrhundert zunehmenden Kommerzialisierung von Literatur und Kritik gilt Karl Kraus (1874-1936) mit seiner Zeitschrift Die Fackel (1899-1936), deren Beiträge er zum größten Teil selbst verfasste. 54 Mit der freien Meinungsäußerung - als Grundlage von Literaturkritik - war es nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutsch- 53 Russell A. Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933. In: Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik. Mit Beiträgen von Klaus L. Berghahn u.a. Stuttgart: Metzler 1985, S. 205-274, hier S. 229. 54 Vgl. ebd., S. 252f. 216 Einheit 7 land 1933 vorbei. Konsequenterweise wurde die Literatur- oder Kunstkritik immer weiter eingeschränkt und Ende 1936 sogar verboten und durch die „nationalsozialistische Kunstbetrachtung“ dafür autorisierter Personen ersetzt.55 Der erste fatale Höhepunkt der Entwicklung war die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz und parallel in zahlreichen anderen deutschen Städten. In der Folge arbeitete das neue Regime konsequent an der Verfolgung missliebiger Autoren und Verlage: Unter der Kontrolle von [Joseph] Goebbels‘ „Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda“ arbeiteten seit 1933 in zahlreichen Gremien Hunderte von Lektoren Schwarze Listen aus, die sich auf alle Wissensgebiete erstreckten und als Grundlage für einschlägige Verbots- und Beschlagnahmungsaktionen dienten. Eine am 25.4.1935 erlassene „Anordnung über schädliches und unerwünschtes Schrifttum“ machte zwei von der Reichskultur- und Reichsschrifttumskammer erarbeitete Schwarze Listen gesetzeskräftig und die Verbreitung von Büchern und Schriften, die nicht dem „nationalsozialistischen Kulturwollen“ entsprachen, strafbar. Fortan waren die Verlage verpflichtet, ihre Neuerscheinungen bei der 1935 eingerichteten „Beratungsstelle“ der Reichsschrifttumskammer anzumelden. Die Geheime Staatspolizei überwachte die Einhaltung der Bestimmungen. Verstöße konnten mit drastischen Sanktionen geahndet werden. Sie reichten von der Verwarnung bis zur „Streichung aus der Berufsliste“ (Berufsverbot, Vernichtung der materiellen Existenzgrundlage) und der Einweisung ins Konzentrationslager. 56 Die bekanntesten Personen, die als Schriftsteller wie als Literaturkritiker gleichermaßen wichtig waren, emigrierten, einige begingen im Exil Selbstmord - Kurt Tucholsky 1935, Ernst Toller 1939, Walter Benjamin 1940. Autoren wie Gottfried Benn (1886-1956), Hans Fallada (1893-1947) oder Erich Kästner (1899-1974) blieben im Land und konnten, durften oder wollten sich nicht mehr kritisch äußern. Andere wie Bertolt Brecht, Heinrich Mann, sein Bruder Thomas und dessen ebenfalls künstlerisch tätigen Kinder bemühten sich, im Ausland einen literarischen wie literaturkritischen antifaschistischen Widerstand aufzubauen. Nach 1945 war das von den westlichen alliierten Besatzungsmächten in Deutschland und Österreich neu organisierte und aufgebaute Mediensystem vom Prinzip der Re-Education, der Erziehung zur Demokratie bestimmt, dem diente auch die Literaturkritik. Da die führenden Intellektuellen emigriert waren und nicht mehr zur Verfügung standen, gab 55 Bernhard Zimmermann: Entwicklungen der deutschen Literaturkritik von 1933 bis zur Gegenwart. In: Peter Uwe Hohendahl (Hg.): Geschichte der deutschen Literaturkritik. Mit Beiträgen von Klaus L. Berghahn u.a. Stuttgart: Metzler 1985, S. 275-338, hier S. 282. 56 Ebd., S. 279f. 217 Einheit 7 es Kontinuitäten, die aus späterer Sicht wenig erfreulich anmuten. „Zum einflußreichsten publizistischen Literaturkritiker der Adenauer-Ära“ wurde mit Friedrich Sieburg jemand, der „während der Besetzung Frankreichs durch die Hitler-Truppen mit den Nazi-Kollaborateuren fraternisiert hatte“. 57 Außerdem ging die Deutsche Demokratische Republik (DDR) einen Sonderweg, hier wurde die Bevormundung der Kritik mit den Mitteln des Sozialismus fortgesetzt. Literatur wie Literaturkritik hatten dem Aufbau des neuen sozialistischen Staates zu dienen, Spielräume gab es nur, wenn Kritik an der gesellschaftlichen Entwicklung auf codierte Weise geäußert wurde, etwa durch Natursymbolik (wie es z.B. bereits Heinrich Heine im Vormärz getan hatte, wenn er in Deutschland. Ein Wintermärchen die erstarrten politischen Verhältnisse im Bild des Winters gespiegelt hatte). Trotz der Repressionen konnte sich - mit Autoren wie z.B. Wolf Biermann (bis zu seiner Ausbürgerung 1976), Christa Wolf oder Sarah Kirsch - der Diskurs über Literatur zu einem Gegendiskurs innerhalb des realexistierenden deutschen Sozialismus entwickeln. Im Westen Deutschlands und in den anderen deutschsprachigen Ländern gab es, mit Einsetzen der sogenannten Studentenrevolution von 1968, eine Entwicklung zu einer kritischen Sicht von Vergangenheit und Gegenwart, und genau davon profitierte die Literaturkritik. Literatur diente als kritischer Gegendiskurs zu gesellschaftlichen Machtstrukturen und Literaturkritik war ein viel direkteres, schnelleres und treffenderes Instrument der Kritik an gesellschaftlichen Missständen; abgesehen davon, dass mit ihr auch programmatisch die ‚richtige‘ Literatur von der ‚falschen‘ unterschieden werden konnte. Die theoretische Auseinandersetzung mit Literaturkritik ist aber bereits so weit fortgeschritten, dass die konstitutive Deutungsoffenheit literarischer Texte eine ideologische Indienstnahme weitgehend verhindert. Dazu kommt, dass sich die konstruktivistische Perspektive auf die Welt insgesamt immer mehr durchsetzt - nicht nur Literatur konstruiert einen bestimmten Ausschnitt von Welt und ist Ergebnis eines Konstruktionsprozesses; Wahrnehmung überhaupt ist der subjektiven Konstruktionsarbeit unterworfen. Hier werden die Wurzeln gelegt für die Auffassung, dass die Vielfalt literarischer Texte ein Vorzug ist und dass es weniger die Aufgabe von Kritikern ist, Urteile zu fällen, als vielmehr, der Vermittlung von Literatur in einer komplexer gewordenen Gesellschaft zu dienen. Deshalb kann Michael Klein auch 2004 beklagen: Von der Aufbruchstimmung der Literaturkritik in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist, wie immer von Einzelleistungen abgesehen, nur noch wenig wahrzunehmen. Insbesondere wenn man das Gesamt des Angebotenen betrachtet, wird man zugeben müssen, dass viele Rezensenten sich offenbar tatsächlich und zunehmend nur 57 Ebd., S. 301. 218 Einheit 7 noch der Ware Buch und seiner Verkaufsförderung statt der Literatur verpflichtet fühlen. 58 Die zunächst positive Entwicklung wird überdeckt, wenn man sieht, dass der bekannteste und zugleich umstrittenste Literaturkritiker der Nachkriegszeit Marcel Reich-Ranicki (geb. 1920) ist, der als Jude das Warschauer Ghetto überlebte und 1958 aus dem kommunistischen Polen in die Bundesrepublik Deutschland emigrierte. Zunächst arbeitete er als Literaturkritiker für die Zeit, dann für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (aber auch für andere Tages- und Wochenzeitungen), deren Literaturressort er von 1973 bis 1988 leitete (ebenso als Mitherausgeber der Zeitung). Von 1988-2001 war er Moderator und führender Kopf der literaturkritischen Sendung Das literarische Quartett im ZDF. 1977 war Reich-Ranicki einer der Mitinitiatoren des Ingeborg-Bachmann-Preises in Klagenfurt (heute: Tage der deutschsprachigen Literatur), der zentralen und öffentlichkeitswirksamsten Veranstaltung zur Gegenwartsliteratur. Trotz aller Skandale, die Reich-Ranickis Wirken in der Öffentlichkeit begleiteten, kann seine Leistung für die Literaturkritik wie folgt beschrieben werden. Reich-Ranickis literaturkritische Publizistik beschränkt sich keineswegs auf die Produktion von Geschmacksurteilen über ausgewählte Neuerscheinungen, sie reflektiert vielmehr in gewissem Umfang auch die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, unter denen diese Bücher entstehen, und macht partiell ihren sozio-kulturellen Stellenwert innerhalb der geistigen Auseinandersetzungen der Gegenwart kenntlich, wobei die Vermessung der literarischen Landschaft durchaus nach einer streitbaren persönlichen Optik erfolgt. 59 Reich-Ranicki konnte seine Position aber nur halten, weil er auch andere zuließ und vor allem - weil ihn andere zuließen. Die Einstellung der meisten anderen Kritiker dürfte mit Neid wegen seines Bekanntheitsgrades, Unverständnis über seinen Erfolg und Kopfschütteln über seine Urteile relativ gut beschrieben sein. Paradoxerweise war die größer gewordene Toleranz des literarischen Feldes der perfekte Nährboden für die (wie immer relative) Intoleranz des Kritikers. Seit den 1960er Jahren hat sich nicht nur die Gesellschaft und die Literatur, sondern auch die Literaturkritik weiter ausdifferenziert, man kann sie im idealen Verständnis des Begriffs positiv als plurale Literaturkritik beschreiben. Bücher werden mit unterschiedlichen Argumenten mehr oder weniger gelobt, mehr oder weniger verrissen, wobei die Argumente 58 Michael Klein: Kritik statt Konsensdiktat. Verteidigung der journalistischen Literaturkritik gegen ihre Verächter - trotz allem. Auch aus Anlass der „Tage der deutschsprachigen Literatur“ in Klagenfurt. In: Die Furche Nr. 27 v. 1.7.2004, S. 14. 59 Zimmermann: Entwicklungen der deutschen Literaturkritik von 1933 bis zur Gegenwart, S. 309. 219 Einheit 7 sich aus verschiedenen Ansätzen und Kontexten speisen und so durchaus nebeneinander bestehen können. Debatten über Literatur im Feuilleton führen selten zu einer einhelligen Meinung. Literaturkritik macht Deutungsangebote und es bleibt dem Leser überlassen, inwieweit er diese Angebote annimmt oder zurückweist. Andererseits wird durch die Konzentration in den Medien, die zunehmende Marktorientierung der Verlage, den Trend zum Infotainment, den zunehmenden Druck, der auf den Kritikern lastet (viele sind nur freiberuflich angestellt oder haben als Redakteure kaum Kapazitäten, sich im nötigen zeitlichen Umfang mit der Literaturproduktion zu beschäftigen), sowie die kaum mehr vorauszusetzende (zumindest nicht mehr einheitliche) Vorbildung der Leser die Tendenz zur unvoreingenommenen Bildung eines literaturkritischen Urteils erschwert. Literaturkritik als Ware, wie sie Michael Klein diagnostiziert hat, ist zweifellos zu einem großen Problem des literarischen Feldes geworden, und diese Entwicklung ist in einem größeren Zusammenhang zu sehen mit der zunehmenden Vermarktung von Literatur überhaupt. Rezension oder Interpretation? Der französische Literaturwissenschaftler und Philosoph Roland Barthes hat mit seinem schmalen Büchlein Kritik und Wahrheit bereits in den 1960er Jahren bündig einige die Literatur wie die Literaturkritik betreffende Erkenntnisse formuliert, die man heute als Grundlagenwissen voraussetzen kann. Erkenntnis Nummer Eins: Objektivität gibt es nicht, wenn es um Literatur geht. Mit „Gewißheiten des Wörterbuchs“ 60 kommt man nicht weiter: „Mit welchem Prüfgerät, mit welchem Wörterbuch soll diese zweite, diese symbolische Sprache, aus der das Werk besteht, gemessen werden, diese Sprache, die gerade eine der vielfachen Bedeutungen ist? “ 61 Im Umgang mit Literatur sind Bedeutungszuschreibungen immer „Ergebnisse einer Wahl“. 62 Dafür sorgt die „plurale Sprache“ des literarischen Werks, seine „Offenheit“: „Das Werk besitzt gleichzeitig mehrere Bedeutungen, und zwar aufgrund seiner Struktur, nicht infolge eines Unvermögens derer, die es lesen.“ 63 Und weiter: „Deshalb sind die Regeln der Lektüre nicht die der Buchstäblichkeit, sondern die der Anspielung [...].“ 64 60 Roland Barthes: Kritik und Wahrheit. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1967 (edition suhrkamp 218), S. 27. 61 Ebd., S. 28. 62 Ebd., S. 29. 63 Ebd., S. 61f. 64 Ebd., S. 64. 220 Einheit 7 Erkenntnis Nummer Zwei: Ein literaturkritischer Text ist ein Metatext, also ein neuer Text über einen literarischen Text, er kann diesen also nicht abbilden, er kann nur eine mögliche Lesart skizzieren. 65 Roland Barthes schlägt vor, das, was wir heute als Interpretation bezeichnen, der Literaturkritik zu überlassen und sich in der Literaturwissenschaft darauf zu konzentrieren, „die Variationen der in den Werken angelegten und gewissermaßen anlegbaren Bedeutungen“ zu vermessen. 66 „Die Kritik ist nicht die Wissenschaft; diese behandelt die Bedeutungen, jene bringt welche hervor.“ 67 Der angestammte Platz des Wissenschaftlers ist, so könnte man heute sagen, der des Beobachters dritter Ordnung (wenn er sich beim Beobachten des Beobachters beobachtet und so seine eigenen Bedingtheiten mit berücksichtigt). Tatsächlich ist und bleibt die Interpretation das Hauptgeschäft der Literaturwissenschaft. Allerdings ist man dabei bemüht, keine subjektive, sondern eine intersubjektive Lesart vorzuschlagen, unter kritischer Berücksichtigung möglichst vieler vorhergehender Interpretationen (also durchaus in der von Barthes‘ vorgeschlagenen Richtung). Auf der anderen Seite gehört es zur Reputation des Literaturkritikers, nicht nur eine subjektive, sondern eine durch seine Leseerfahrung abgesicherte intersubjektive Interpretation anzubieten, die möglichst genau dem Eindruck seiner LeserInnen bei der Lektüre entsprechen soll. Nun kann man Literaturkritik und wissenschaftliche Interpretation (die sich vor allem durch ihren Stil und den Grad des Anstrebens von intersubjektiver Gültigkeit unterscheiden) als unwissenschaftlich verwerfen - doch wenn sich die Interpreten der Relativität ihrer Deutung bewusst sind, dürfte gegen beides nichts einzuwenden sein. Dazu kommt, dass das bloße Registrieren von Deutungsmöglichkeiten eine blutleere, wenig befriedigende Tätigkeit ist. Die durch die bereits angesprochene Überschneidung der Handlungsrollen - die meisten Kritiker sind ausgebildete Literaturwissenschaftler - einigermaßen paradoxen, immer wieder vorzufindenden Animositäten zwischen Kritikern und Wissenschaftlern dürften auf ein grundlegendes Missverständnis zurückzuführen sein, das in dem Unterschied zwischen dem Beobachten zweiter und dritter Ordnung begründet liegt. Kritiker werfen Wissenschaftlern vor, durch ihre größere Distanz den Text aus den Augen zu verlieren, während Wissenschaftler meinen, dass Kritiker zu wenig Distanz entwickeln und die identifikatorische durch eine objektivierende Lektüre ersetzen sollten. Dazu kommt der Unterschied in der Sprache - die literaturkritische Sprache orientiert sich 65 Vgl. ebd., S. 67f. u. 76. 66 Vgl. ebd., S. 68. 67 Ebd., S. 75. 221 Einheit 7 an den Merkmalen der journalistischen Textsorten und bemüht sich um Annäherung an die literarische Sprache (v.a. durch Originalität), während die wissenschaftliche Sprache um Sachlichkeit und Präzision bemüht ist. Daher finden Wissenschaftler die Kritikersprache oft ungenau, die Kritiker die Wissenschaftssprache oft trocken und langweilig. Dass die Vorwürfe in beiden Richtungen keineswegs immer unbegründet sind, dürfte allerdings Konsens sein. Gnostiker und Emphatiker Seit es Literaturkritik gibt, ist sie umstritten. Der Streit dreht sich vor allem um die Bewertungskriterien und -maßstäbe. Er kreist um die Frage, welche Literatur für die Behandlung durch die Literaturkritik auszuwählen und aus welchen Gründen die ausgewählte Literatur negativ oder positiv zu bewerten ist. Literaturwissenschaft und Literaturkritik haben im Laufe der Zeit einige konkrete Vorstellungen von der Theorie und Praxis literarischer Wertung entwickelt, 68 dennoch gibt es weiterhin viele divergierende Auffassungen. Was auch im Feuilleton immer wiederkehrt, ist die Frage nach der Unterscheidung von Trivial- oder Unterhaltungsliteratur und schöner Literatur oder Höhenkammliteratur. 69 Darüber hat es in den 1990er Jahren einen verstärkten Diskussionsbedarf gegeben, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis der deutschsprachigen zur fremdsprachigen Literatur. Die immer teurer werdenden Lizenzen für fremdsprachige Literatur, die Wiedervereinigung und das damit gewachsene Interesse für Geschichte, der Einfluss der früheren DDR-Autoren auf den nun vereinigten Literaturmarkt, das durch den Untergang des Sozialismus markierte Ende der großen Ideologien - das alles dürfte einen Einfluss auf die Entwicklung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehabt haben, die stärker auf eine neue ‚Lesbarkeit‘ verpflichtet wurde. 70 Einen Nerv traf 1995 Uwe Wittstock, seinerzeit Lektor im S. Fischer-Verlag und heute Redakteur der Zeitung Die Welt, mit seinem Buch Leselust. Wie unterhaltsam ist die deutsche Literatur? Das Interesse an der jüngeren deutschsprachigen Literatur sei zu gering, konstatierte Wittstock. Das sei nicht zuletzt von den Autoren selbst verschuldet: „Ihre Bücher erreichen, von einem kleinen Zirkel Eingeweihter abgesehen, niemanden mehr.“ 71 68 Vgl. hierzu das Kap. „Prädikat Wertvoll: Kanon und literarische Wertung“. 69 Vgl. hierzu auch das Kap. „Literatur und Leser. Grundlagen der Rezeptionsforschung“. 70 Vgl. hierzu das Kapitel „Flüchtige Zeiten: Tendenzen der Gegenwartsliteratur und ihrer Vermittlung“. 71 Uwe Wittstock: Leselust. Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur? Ein Essay. München: Luchterhand 1995, S. 8. 222 Einheit 7 Das Problem bestehe im nicht unberechtigten Ruf der deutschsprachigen Literatur selbst im Ausland, „besonders schwierig, unsinnlich und weltfern zu sein - also mehr Lesemühsal zu bereiten als Leselust zu bieten“. 72 Wittstock vermutet, dass das Problem in Wertungskriterien wurzelt, die Autoren und professionelle Leser teilen; vor allem hält er die zu strikte Abgrenzung zur sogenannten Unterhaltungsliteratur für falsch: Der Seitenblick auf die leichteren Musen muss keineswegs, wie viele Kritiker hierzulande reflexhaft unterstellen, zu Lasten der Qualität gehen. Er kann vielmehr - neben einer rigorosen handwerklichen Schule - Anreiz und Ansporn zu noch größeren ästhetischen Anstrengungen sein. 73 Wittstock fordert als Gegenmittel das „Prinzip Verführung“ 74 - Literatur müsse zum Lesen verführen. Literatur müsse ihre Leser nicht nur, aber eben auch unterhalten. Vor allem dürfe man nicht mehr „mit eifernder Insistenz die E-Literatur von der U-Literatur“ unterscheiden. 75 Nur weil Literatur schwierig sei, sei sie noch lange nicht gut: „Mit Konventionen zu brechen gehört mittlerweile selbst zur literarischen Konvention.“ 76 Es sei nicht automatisch schlechter, „die Erzählmuster routinierter Unterhaltungsautoren [...] zu übernehmen, um etwas Besseres daraus zu machen“. 77 In den weiteren Kapiteln seines Essays in Buchform behandelt Wittstock dann, als Positivbeispiele, eine Reihe ‚weißer Raben‘ - darunter versteht er so unterschiedliche Autoren wie Sten Nadolny, Christa Wolf, Peter Handke, Ulrich Woelk und Patrick Süskind. Die Debatte, die Wittstock hier initiieren will, ist so neu nicht - das weiß auch Wittstock selbst. Einem von ihm herausgegebenen Sammelband stellt er programmatisch einen Aufsatz aus dem symbolischen Jahr 1968 voran. Es handelt sich um Leslie A. Fiedlers Überquert die Grenze, schließt den Graben! , ursprünglich als Rede gehalten und dann konsequenterweise im Playboy gedruckt. Mit ‚Grenze‘ und ‚Graben‘ meint Fiedler die Trennung zwischen ernster und Unterhaltungsliteratur einerseits, zwischen den Lesern dieser beiden Literaturen andererseits. Fiedler, dessen Beitrag auch als Startschuss für die sogenannte Postmoderne gilt, sieht die „Distinktion zwischen hoch und niedrig“ als verschleiertes „Klassenvorurteil“ an. 78 Er postuliert den „Neue[n] Roman“, 72 Ebd., S. 10. 73 Ebd., S. 15. 74 Ebd., S. 16. 75 Vgl. ebd., S. 25. 76 Ebd., S. 27. 77 Ebd. 78 Leslie A. Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994 (Reclam-Bibliothek 1516), S. 14-39, hier S. 32. 223 Einheit 7 der „anti-künstlerisch und anti-seriös“ sein solle. 79 Nur so ließe sich die notwendige „Überbrückung der Kluft zwischen Elite- und Massenkultur“ leisten, und genau das sei „die exakte Funktion des Romans heute“. 80 Fiedler wünscht sich dafür eine „neue Literaturkritik“, die „selbstverständlich nicht in erster Linie befaßt sein“ wird „mit Fragen der Struktur, Diktion oder Syntax“: Nicht Wörter auf dem Papier, sondern Wörter im Leben, oder besser, Wörter im Kopf, in der intimen Verknüpfung von tausend Zusammenhängen - sozialen, psychologischen, historischen, biographischen, geographischen - im Bewußtsein des Lesers (für einen Augenblick, aber nur für einen Augenblick durch die ekstasis des Lesens aus all jenen Zusammenhängen gelöst): Sie werden der Gegenstand zukünftiger Kritiker sein. 81 Die weltferne versus die weltzugewandte Literatur - genau diese Denkfigur begegnet uns in einem längeren Artikel von Hubert Winkels im Jahr 2006 wieder, der eine neue, heftig geführte Debatte im Feuilleton auslöste. Schon im Titel des Beitrags für die Wochenzeitung Die Zeit unterscheidet Winkels Emphatiker und Gnostiker. Sein Beitrag reagiert auf eine Podiumsdiskussion im Literarischen Colloquium Berlin (LCB), an der er selbst teilgenommen hatte und in deren Verlauf er von dem Schriftsteller Maxim Biller beschimpft worden war. Winkels hatte, wie andere Podiumsteilnehmer auch, Kritik an Volker Weidermanns neu erschienenem Buch Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute geübt - Weidermann selbst ist nicht nur Kritiker, sondern Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Die Differenz zu Weidermann versucht Winkels nun zu objektivieren, indem er eine Unterscheidung einführt, ohne allerdings klar zu sagen, zu welcher Gruppe er Weidermann oder sich selbst rechnet - was Anlass zu weiteren Missverständnissen und Artikeln bot. Winkels konstatiert: Die Emphatiker des Literaturbetriebs, die Leidenschaftssimulanten und Lebensbeschwörer ertragen es nicht länger, dass immer noch einige darauf bestehen, dass Literatur zuallererst das sprachliche Kunstwerk meint, ein klug gedachtes, bewusst gemachtes, ein formal hoch organisiertes Gebilde, dessen Wirkung, und sei sie rauschhaft, von sprachökonomischen und dramaturgischen Prinzipien abhängt. Und dass sich der Lustgewinn in spätmodern abgeklärten Zeiten der Erkenntnis dieser Prinzipien verdankt. Dass wir Wissen genießen, durch die Erkenntnis und mit analytischen Mitteln. Das ist eigentlich so selbstverständlich, dass selbst der Fußballfan zustimmen kann. Ohne taktisches Verständnis kein Spaß am Spiel. 82 79 Ebd., S. 20. 80 Ebd., S. 21. 81 Ebd., S. 16. 82 Hubert Winkels: Emphatiker und Gnostiker. Über eine Spaltung im deutschen Literaturbetrieb - und wozu sie gut ist. In: Die Zeit Nr. 14 v. 30.3.2006, S. 59. Bis zum nächsten Nachweis sind alle weiteren Zitate im Text aus diesem Artikel. 224 Einheit 7 Damit ist allerdings - was in der Folge der anderen Artikel kaum eine Rolle spielt - eher eine vermittelnde Position gemeint, die von zwei Seiten unter Beschuss geraten kann: Wenn man die literarische Landschaft zurzeit verstehen will, ist eine Zweiteilung hilfreich: die Unterscheidung zwischen Emphatikern und Gnostikern. Die Emphatiker sind die mit dem unbedingten Hunger nach Leben und Liebe; Gnostiker sind die, denen ohne Begreifen dessen, was sie ergreift, auch keine Lust kommt; die sich sorgen, falschen Selbstbildern, kollektiven Stimmungen, Moden und Ideologien aufzusitzen. Während „die Emphatiker den Autor im Blick“ haben, geht es den Gnostikern allein um den Text und die kultur- oder literarhistorischen Kontexte. Winkels zitiert hier ausgiebig, ohne auf seine Quellen hinzuweisen. Der Begriff des literarischen Kunstwerks geht auf Roman Ingarden und Wolfgang Kayser zurück; die Forderung, wir müssten begreifen, was uns ergreift, auf Emil Staiger - allesamt Vertreter des Strukturalismus oder der Werkimmanenz, also von textzentrierten Deutungsansätzen. Winkels versucht die Vor- und Nachteile beider Positionen abzuwägen, vor allem skizziert er die Nachteile - die Emphatiker sieht er in den Armen der „dynamisierten Warenwelt“, die Gnostiker im „durchlöcherten Verhau“ des Sprachexperiments. Beide müssten sich die Frage stellen „nach der angemessenen Lektüre der Welt selbst“. Gerade weil Winkels nicht direkt für eine der beiden Richtungen Stellung bezog, wurde gegen ihn Stellung bezogen, doch diese Debatte soll hier nicht weiter verfolgt werden. Festzuhalten bleibt, dass die Frage nach der „angemessenen Lektüre“ offen bleibt und sehr stark davon abhängt, in welchem Verhältnis man identifikatorisch oder reflektierend liest, in welchem Maße man auf Unterhaltung und Handlungsspannung einerseits oder auf formale Besonderheiten andererseits achtet. Letztlich bildet sich in einer solchen Debatte einmal mehr die Ausprägung des Literatursystems (Luhmann) oder des literarischen Feldes (Bourdieu) ab. Gnostiker betonen besonders die Eigengesetzlichkeit von Literatur, ihre Gegenläufigkeit zur Warenwelt. Allerdings haben die vergangenen Jahrzehnte gezeigt, dass die Schubladen, in die Texte einsortiert werden, nicht immer passen - auch Bestseller können komplex und innovativ sein, auch vorgeblich schwierige Texte können trivial und wenig erkenntnisfördernd sein. Anders als früher gilt ein Text, der eine identifikatorische Lektüre ermöglicht und übliche Unterhaltungsbedürfnisse bedient, nicht mehr von Vornherein als minderwertig, denn er könnte auch Qualitäten haben, die darüber hinausgehen. 225 Einheit 7 Rahmenbedingungen Nicht vergessen darf man, dass die skizzierten Variablen der Auswahl und Bewertung von Texten durch die Literaturkritik auch stark von deren organisatorischen Rahmenbedingungen abhängen. Literaturkritiker verfassen journalistische Beiträge, die eine möglichst große Zahl von Lesern, Hörern oder Zuschauern des jeweiligen Mediums erreichen sollen. Diese Medien können ganz unterschiedliche Publika haben, so ist eine Rezension für die Tiroler Tageszeitung (TT) ganz anders zu schreiben als eine für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Bei den Lesern der FAZ, die fast ausschließlich einer gehobenen Bildungsschicht angehören, lässt sich viel mehr Wissen über Literatur voraussetzen, während die TT vor allem für regionale Nachrichten von Menschen gelesen wird, die sich zu einem erheblichen Teil vermutlich kaum für Literatur interessieren und entsprechend wenig Vorwissen mitbringen. Auch die Stilebene wird eine ganz andere sein - längere gegen kürzere Sätze, hoher Fremdwortanteil gegen niedrigen etc. Über einen längeren Zeitraum sich hinziehende Debatten sind in der FAZ möglich, auch wegen des vergleichsweise großen Raumes, den die Zeitung ihrem Feuilleton einräumt. Die TT hat andere Schwerpunkte. Damit ist aber noch keine Bewertung der Berichterstattung angesprochen. Vielmehr orientierten sich Inhalt und Stil der Beiträge an dem, was die Leser der jeweiligen Zeitung erwarten (aus der Perspektive des Verlegers, der Chefredaktion, der Redakteure und Kritiker). Der Vergleich Fernsehbeitrag und Rezension wird noch schwieriger - hier sind die unterschiedlichen medialen Gestaltungsmöglichkeiten mitzudenken. Dazu kommt: Jedes Medium, aber auch jeder Kritiker möchte sich nicht nur profilieren, er muss es tun, um für seine Kritik und damit auch für seine Arbeit Aufmerksamkeit zu erzielen und in der Konsequenz an Ansehen zu gewinnen; in den Worten Bourdieus: um symbolisches Kapital zu erwirtschaften. Für freie Kritiker, die mehreren Medien Beiträge anbieten, ist dies noch wichtiger - Redakteure haben zusätzlich zum Verfassen von Beiträgen andere Aufgaben, die ihre Position festigen oder unsicherer machen können. Es handelt sich also um einen Markt, der Angebot und Nachfrage unterliegt - bei den Produkten, den literaturkritischen Beiträgen, ebenso wie bei den Herstellern dieser Produkte, den Kritikern. Sie können ihre Arbeit verlieren, ihre Position untermauern oder eine neue, bessere erlangen - je nachdem, wie ihre Arbeit durch Leser, Vorgesetzte und andere wichtige Marktteilnehmer eingeschätzt wird. Wie in jedem Beruf sind hier natürlich auch informelle Kräfte am Werk - Beziehungen beispielsweise können ebenso wichtig sein wie die Qualität der Arbeit. Früher sprach man kritisch von Seilschaften, heute spricht man euphemistisch von Netzwerken - wer nicht mit anderen im Feld vernetzt ist, hat keine Chancen, erfolgreich zu sein. Das hat allerdings auch 226 Einheit 7 nachvollziehbare Gründe. Wenn die Chefredaktion der Zeitung XY einen Journalisten kennt, den sie für fähig hält, die Position als Feuilletonredakteur zu bekleiden, dann wird sie diesen nehmen und nicht irgendeinen anderen, der möglicherweise besser, aber vielleicht auch schlechter arbeitet. Insofern ist es für den Erfolg oder Misserfolg als Kritiker auch wichtig, ob man es schafft, sich ein Netzwerk von Kontakten zu erarbeiten - was dann oft auf Gegenseitigkeit beruht. Solche Beziehungen sind aber nicht nur zweckgerichtet, geteilte Überzeugungen oder Sympathie spielen eine große Rolle. Man darf nicht vergessen, dass wohl fast alle, die literaturkritisch tätig sind, dies mit einem hohen Maß an Identifikation mit ihrem Gegenstand verbinden. Ein literarischer Text ist eben doch ein anderes Produkt als ein Schweineschnitzel oder eine Zündkerze - was nicht heißt, dass Metzger oder Arbeiter in der Elektroindustrie nicht auch auf die von ihnen gefertigen Produkte stolz sein können bzw. ihnen die Identifikation mit ihrer Arbeit nicht wichtig wäre. Aufgaben der Literaturkritik Die Aufgaben der Literaturkritik kann man unterschiedlich bestimmen, je nachdem, welchen systematischen Zugang man wählt und welche Schwerpunkte man bei dem setzt, was man von der Literaturkritik erwartet. Dass es Probleme der Literaturkritik gibt, ist unbestritten (inwieweit die Krise konstitutiv für die Literaturkritik ist und ob dies so sein muss oder nicht, ist eine andere und wohl nur je nach Standpunkt zu beantwortende Frage). Felix Philipp Ingold hat das aus seiner Sicht zentrale Problem 2008 wie folgt charakterisiert: „Der Literaturkritik fehlt es insgesamt an Armatur und Methode, an Kompetenz und Konsequenz, und mehr als dies - es fehlt ihr mehrheitlich ganz einfach das Bewusstsein dafür, was sie tut; was sie zu tun hat.“ 83 Und 2004 hat Michael Klein festgestellt: „Wenn es der Kritik auf Dauer nicht gelingt, differenzierende Maßstäbe deutlich werden zu lassen, besteht längerfristig tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Literatur, aber vermutlich auch für eine Literaturkritik, die diesen Namen noch verdient.“ 84 Damit haben Klein und Ingold bereits die Position der ‚Beobachtung dritter Ordnung‘ (Luhmann) eingenommen, die auch für die Literaturkritik konstitutiv sein sollte, da sie über einen Gegenstand spricht und nicht mit ihm. Wenn man einen Gegenstand beobachtet, um sich über ihn zu äußern, sind in der Tat erst einmal die Perspektive der Beobach- 83 Felix Philipp Ingold: „Die mit der Zunge Klänge schauen“. Kritisches zur Literaturkritik. In: Volltext 5 (2008), S. 17. 84 Klein: Kritik statt Konsensdiktat. 227 Einheit 7 tung und die Voraussetzungen der Äußerung zu klären. Als ‚Beobachter dritter Ordnung‘ ist vor allem die Wissenschaft gefragt, einige Ansätze der Systematisierung von Literaturkritik im Prozess der Literaturvermittlung sollen nun folgen. Als Ausbilderin von Kritikern kann so die Wissenschaft dazu beitragen, dass die Reflexion über die eigenen Maßstäbe nicht zur Ausnahme, sondern zur Gewohnheit wird. Die erste, wichtige Aufgabe der Literaturkritik ist die Auswahl der Texte, denen sie ihre Aufmerksamkeit zuwendet. Das klingt leichter als es ist. Jährlich werden auf der Frankfurter Buchmesse, die Anfang Oktober stattfindet, von den deutschsprachigen Verlagen rund 100.000 Neuerscheinungen präsentiert. Zunächst ist zwischen Sachbüchern und Belletristik zu unterscheiden, bei Sachbüchern dann zwischen Titeln für Spezialisten und solchen für ein breiteres Publikum. Ein Buch, das sich vor allem an wissenschaftliche Fachkollegen richtet, hat kaum Chancen, in Publikumszeitschriften oder in den audiovisuellen Medien besprochen zu werden, es sei denn in Rubriken oder im Rahmen von Serviceangeboten. So kann es durchaus sein, dass beispielsweise juristische Literatur in Sendungen oder auf besonderen Seiten von Zeitungen und Zeitschriften Erwähnung findet, sofern die darin behandelten Belange von Interesse für die Rezipienten sein könnten - das wäre, um bei diesem Beispiel zu bleiben, etwa im Bereich Miet- oder Steuerrecht der Fall. Von Literaturkritik ist vor allem bei belletristischer Literatur die Rede; vielleicht, weil man unterstellt, dass Sachbuchkritik eher informierenden Charakter hat und sie in der Frage der Bewertung lediglich überprüft, ob Buch und Verlag zuviel versprochen haben. Der Anteil der Belletristik schwankt seit rund 200 Jahren um 15-20 % an der Titelproduktion. Doch selbst bei unter 15 % von 100.000 Titeln wird schnell klar, dass nicht alle Titel in den Medien Erwähnung finden können. Wer also wählt aus, was besprochen wird? Auch diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. In der Regel sind es zwar die Redakteure, die Vorschauen von Verlagen sichten und sich auf dieser Basis entscheiden, welche Titel des kommenden Frühjahrs- oder Herbstprogramms ins Blatt oder ins jeweilige Medium gehoben werden sollen. Doch können es auch Vorschläge von freien Kritikern sein, die Redakteure auf bestimmte Titel aufmerksam machen. Oder Lektoren, die meistens gute Kontakte zu Kritikern haben, weisen diese frühzeitig auf vielversprechende Titel hin. Zwar bedeutet dies, dass sie ihre eigenen Produkte bewerben. Doch wissen sie auch, dass ein Kritiker kein zweites Mal auf sie hören wird, wenn er den Eindruck hat, dass ihm etwas Schlechtes empfohlen und somit das Vertrauensverhältnis missbraucht wurde. Jede Auswahl ist natürlich bestimmten, allerdings ungeschriebenen Kriterien verpflichtet. Folgende Frage wird sich ein Kritiker vor allem stellen: Ist das Buch für meine Leser von Interesse? Sollte er dies nicht so genau 228 Einheit 7 beurteilen können, dann hilft es, wenn er sich die gleiche Frage statt mit ‚das Buch‘ mit ‚der Autor‘ oder ‚das Thema‘ stellt. Ob ein Buch, Autor oder Thema von Interesse ist, hängt mit der Aufmerksamkeit zusammen, die das Buch, der Autor oder das Thema beanspruchen kann. Das klingt nur scheinbar tautologisch. Viele Leser haben Interesse an gutem Essen, dennoch werden kaum Bücher über gutes Essen, dafür aber viele über die deutsche Wiedervereinigung besprochen. Bestimmte Themen haben einen Aufmerksamkeitsbonus in der Öffentlichkeit; warum das so ist, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Natürlich spielt auch eine wichtige Rolle, ob das Buch den Kritiker interessiert. Allerdings sehen sich viele Kritiker stillschweigend als Verkörperung des Publikumsinteresses, gehen also davon aus, dass das, was sie interessiert, auch ihr Publikum interessiert. Im günstigsten Fall haben sie Recht, doch sei zugestanden, dass ein Abgleichen von eigenem und Publikumsinteresse selbst für sogenannte alte Hasen außerordentlich schwierig ist. Eine Tendenz der Bevorzugung bekannter Verlage ist ein Problem; früher waren es Bücher von Suhrkamp, dann von Kiepenheuer & Witsch, heute ist es vor allem der Carl Hanser Verlag, dessen Bücher von der Literaturkritik besonders beachtet werden. Das hat auch, aber nicht nur mit der Qualität der von diesem Verlag gemachten Bücher zu tun; dass Hanser-Geschäftsführer Michael Krüger außerordentlich umtriebig und kenntnisreich ist und dass er selbst zu den bekannten deutschsprachigen Autoren gehört, dürfte nicht unwichtig sein. Die Literaturkritiker funktionieren also als Gate-Keeper, sie lassen bestimmte Bücher durch das Tor und andere nicht. Damit bleibt der größere Teil der Titelproduktion schon einmal außen vor. Den größten Teil der weitgehend ignorierten belletristischen Produktion machen Schmöker aus, Bücher, die als ‚fast food‘ fürs Gehirn geschrieben wurden - also beispielsweise Arztromane, die es mittlerweile nicht nur in Heftchen-, sondern auch in Buchform gibt, wobei hier der Trend zu höherwertig wirkenden Produkten geht. Bahnhofsbuchhandlungen beispielsweise sind voll von solchen Titeln. Das ist überhaupt nichts Negatives, kein Mensch wird immer nur in einem Fünf-Sterne-Restaurant essen, man geht auch gern einmal auf einen Cheeseburger zu McDonald’s. Eher schon sollte man sich fragen, warum diese Titel von der Literaturkritik, von Buchtipps in Publikumszeitschriften abgesehen, so konsequent ignoriert werden. Zumindest sollten die Kritiker doch ab und zu am Beispiel ihre Nichtachtung begründen können. Aber das liegt an der - nach Aufweichungserscheinungen in den 1970er Jahren - wieder stärker gewordenen Trennung von E- und U-Literatur. Wobei auch die Grauzone dazwischen größer geworden ist, man denke an den herausragenden Erfolg der Harry-Potter-Reihe bei den Lesern und bei den Kritikern. Von Kritikerseite wird die Auswahl gern 229 Einheit 7 damit begründet, dass die einfach zu konsumierenden Bestseller ihr Publikum ohnehin finden, während die schwierigeren Texte die Aufmerksamkeitslenkung des Feuilletons dringend brauchen. Die Auswahl der Bücher richtet sich nach den im Kapitel zur literarischen Wertung dargelegten Kriterien, aber auch nach den Erwartungen des Publikums, d.h. den Erwartungen der vermuteten Leser der Kritiken. Bestimmte Autoren, die als zentral für die Literatur insgesamt gesehen werden und damit als kanonisiert gelten, werden immer besprochen, im deutschsprachigen Raum sind das beispielsweise Elfriede Jelinek, Günter Grass (beide Nobelpreisträger), Christa Wolf, Martin Walser oder Peter Handke. Nach dieser sehr skizzenhaften Istnun eine Soll-Beschreibung: Was wäre von einer funktionierenden Literaturkritik zu erwarten? Die möglichen Funktionen können vergleichsweise umfassend an der komplexesten Textsorte, der Rezension, dargestellt werden. Eine Rezension sollte orientieren, informieren, kritisieren und unterhalten, wobei diese einzelnen Funktionen nicht immer trennscharf auseinanderzuhalten sind. 85 Orientierung schafft der Kritiker, dies kann nicht oft genug gesagt werden, bereits durch seine Auswahl als ‚Gate-Keeper‘. Orientieren sollte die Kritik ihren Leser außerdem über die mögliche Bedeutung des besprochenen Texts für die Literatur, über das bisherige Werk des Verfassers sowie die Position des Autors und seines Werks in der Literatur. Informieren sollte die Kritik über den Inhalt des Buches und, falls vom Platz und den Kenntnissen des Kritikers her möglich, über alles andere, das interessant sein könnte - beispielsweise thematische Bezüge zur Gegenwart, Motivgeschichtliches, Intertextuelles (welche Werke der Literatur werden zitiert oder fortgeschrieben? ). Das Kritisieren wird als zentrale Aufgabe verstanden, denn dem Leser sollte mitgeteilt werden, ob es sich für ihn lohnen könnte, das besprochene Buch zu lesen. Die Interessen sind bekanntlich verschieden, eine gute Rezension sollte also sehr deutlich begründen, warum sie ein Buch besonders gelungen, wenig gelungen oder in Teilen (dann in welchen? ) gelungen oder nicht gelungen findet. So kann der Leser die Bewertung nachvollziehen und sich entscheiden, ob er die angelegten Maßstäbe teilt. Wenn beispielsweise ein Kritiker ein Buch abwertet, weil er es für nicht angemessen hält, dass das Leben in der ehemaligen DDR komisiert wird, dann steht es dem Leser der Kritik frei, genau dies, also die Komisierung des Lebens in der DDR, für vielversprechend zu halten und sich gerade deswegen das Buch zu kaufen. Unterhalten sollte eine Kritik, weil sie der Leser sonst nicht liest - zumindest nicht bis zum Ende, und dann kann sie auch ihre anderen Funktionen nicht erfüllen. Jeder journalistische Text sollte so geschrieben sein, 85 Vgl. hierzu Neuhaus: Literaturkritik, S. 165-171. 230 Einheit 7 dass er - auf textsortenspezifische und an den Bedürfnissen der Leser des Mediums ausgerichtete Weise (für eine Lokalzeitung schreibt man anders als für die FAZ) - den Leser bis zum Ende fesselt. Das zu leisten erfordert Könnerschaft, es muss gelernt werden. Die den meinungsbetonten Artikeln zugerechneten Rezensionen sind einerseits viel freier in der Wahl ihrer Mittel, doch liegt andererseits genau darin auch eine Gefahr - zu leicht ist es, thematisch abzuschweifen oder sich in selbstverliebt wirkenden Formulierungen zu verlieren. Schön ist ein Einstieg, der Interesse für das Buch und für die Bewertung durch den Kritiker weckt. Es muss von Satz zu Satz, Absatz zu Absatz bis zum Ende hin Lesespannung erzeugt werden. In der Forschung finden sich weitere mögliche Einteilungen, die Funktionen werden etwas anders benannt und gewichtet, manchmal werden mehr als vier unterschieden. So vertreten Anz und Baasner die Auffassung: „Literaturkritik ist eine Institution literarischer Erziehung und Bildung.“ 86 Das ist ein durch die Aufklärung geprägtes Ethos, dessen Bedeutung ich für die Gegenwart bestreiten würde. Bereits die Kritik an der Aufklärung durch die Kritische Theorie (v.a. in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer / Adorno) hat die Gefahr eines verengten aufklärerischen Sendungsbewusstseins deutlich gemacht, die Postmoderne schließlich hat endgültig die Konsequenzen gezogen, indem sie plurale Textzugänge favorisiert. 87 Man könnte argumentieren, dass dadurch erst die Konsequenzen aus der Aufklärung gezogen werden. 88 Literaturkritiker können Leser nicht erziehen; sie können, wenn man das Bildungsethos noch retten möchte, höchstens dem Leser Angebote machen, wie er sich selbst weiterbilden kann. Zweifellos wichtig ist die „reflexions- und kommunikationsstimulierende Funktion“ der Literaturkritik, 89 auch wenn man darüber streiten kann, ob sie eigens genannt werden muss und nicht in den genannten Funktionen bereits vorhanden ist. Dies gilt auch für Benennungen wie „Sprach- und Meinungsbildungsfunktion“ oder „Agenda-Setting-Funktion“, die sich 86 Thomas Anz / Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. München: C. H. Beck 2004, Vorwort S. 7. 87 Vgl. Schwens-Harrant: Literaturkritik, S. 172f. 88 Sofern man Kants Diktum ernstnimmt: „ Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ Vgl. Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Ehrhard Bahr (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam 2002 (RUB 9714), S. 8-17, hier S. 9. 89 Anz / Baasner kommen insgesamt auf sechs Funktionen, vgl. Anz / Baasner (Hg.): Literaturkritik, S. 198. Die „didaktisch-vermittelnde[n] Funktion“ müsste in ‚pädagogisch-vermittelnde‘ umbenannt werden, da die Didaktik die Lehre von der Pädagogik ist, hier aber nicht das Lehren gelernt werden soll. Dies gilt auch für Wolfgang Albrecht: Literaturkritik. Stuttgart u. Weimar: Metzler 2001 (Sammlung Metzler 338), S. 36ff. Hier werden „Ästhetisch-didaktische Funktionen“ unterschieden, allerdings meint Albrecht dabei vor allem, das ist im ganzen Buch sein wichtigster Referenzrahmen, die Situation in der ehemaligen DDR, also den Versuch der staatslenkenden Organe, Leser mittels Literatur politisch zu erziehen. 231 Einheit 7 (neben anderen) bei Stegert finden. 90 Der aus der Kommunikationswissenschaft übernommene Begriff des Agenda Setting ist bei den genannten vier Funktionen in der Orientierungsfunktion enthalten. Um welche Funktionen man den Katalog noch erweitern will, ist letztlich eine Frage des besonderen Interesses, das man Literaturkritik entgegenbringt. Hinzufügen könnte man z.B. noch das, was Stegert als „Profilierungsfunktion“ bezeichnet. 91 Hier wird auf die Funktion(en) hingewiesen, die Kritiken für den Kritiker selbst haben. Mit Bourdieu kann man von symbolischem Kapital sprechen, das sich Kritiker durch ihre Tätigkeit erwerben können. Literaturkritiken sind stets Diskursbeiträge, sie stehen in einem größeren Kontext, reagieren auf frühere Beiträge und regen weitere an. Insofern kann ein Kritiker nicht wählen, ob er diese Funktion erfüllen will oder nicht - wer versucht, außerhalb des Diskurses zu argumentieren, wird gar nicht gehört. Wenn ein Kritiker am Beispiel einer neuen Ausgabe der Werke Georg Büchners versucht zu begründen, dass es sich um einen wenig innovativen, nur durch revolutionäres Pathos wirkenden Autor handelt, dürfte er nicht mehr als Kopfschütteln ernten. Es gibt keine Position, an die er mit seiner anschließen kann, und es gibt keine Anhaltspunkte für die Neubewertung. Das führt zu der Beobachtung, dass selbstverständlich auch Literaturkritiken Konventionen unterworfen sind. Nicht nur gesetzliche Regelungen sind zu beachten (wobei solche in meinungsbetonten Artikeln kaum Anwendung finden, die Pressefreiheit ist ein zu hohes Gut), auch die ungeschriebenen Gesetze des Betriebs. Welche das sind, wird zum Teil in der vorliegenden Publikation erklärt - die Konventionen umfassend zu beschreiben würde aber wohl einige tausend Seiten erfordern und ein solches Regelwerk wäre, da es sich um einen Veränderungen unterliegenden Prozess handelt, sofort veraltet. Außerdem sind die Regeln je nach Medium unterschiedlich ausgeprägt und es würde darüber hinaus der Meinungsfreiheit widersprechen, Verbotstafeln aufzustellen. Wobei selbst der Verstoß gegen unausgesprochene Regeln für seinen Urheber positive Folgen haben kann. Zu komplex ist der Betrieb organisiert, um mehr als allgemeine Aussagen treffen und sie an Beispielen festmachen zu können. Vom Leben, Schreiben und Lesen in der Dauerkrise Die größte Konstante der Literaturkritik ist, man vergleiche auch den Anfang dieses Kapitels, ihre Krise, eine Dauerkrise also. Der erwähnte Streit um Gnostiker und Emphatiker ist ein jüngeres Beispiel dafür. Georg Diez hat in der Zeit folgende provokative Bilanz gezogen: 90 Vgl. Stegert: Filme rezensieren in Presse, Radio und Fernsehen, S. 30 u. 32. 91 Stegert: Filme rezensieren in Presse, Radio und Fernsehen, S. 46. 232 Einheit 7 Die Totenglocke ist das Lieblingsinstrument der deutschen Literaturkritik. Immer geht irgendwo etwas zu Ende, immer ist irgendwo Kulturverfall, immer ist irgendwo irgendwie alles bedroht. Die Krise ist der natürliche Lebensraum der Literaturkritik. Gibt es keine Krise, dann schafft sie sich selbst eine. 92 Julia Schröder hat in der Stuttgarter Zeitung noch eins draufgesetzt: „Es geht um Literaturvermittlung, und wir sind mitten im Glaubenskrieg.“ 93 Die Krise betrifft die von der Literaturkritik begleitete Literatur gleichermaßen, wie beispielsweise Uwe Wittstock konstatiert: An schlechten Nachrichten war in den letzten Jahren kein Mangel. Die deutsche Literatur befinde sich in einer Krise, hieß es, sie erleide eine Dürre, durchschreite ein Tal, erlebe eine Zeit des Umbruchs oder des Verfalls - und was der hübschen Metaphern mehr sind. Inzwischen hat man sich offenbar darauf geeinigt, das Requiem als die branchenspezifische Form jenes Klapperns zu betrachten, das zum Handwerk gehört. Manche gehen sogar schon dazu über, aus der regelmäßigen Wiederkehr bedenklicher Diagnosen auf die robuste Verfassung unserer Literatur zu schließen, denn schließlich sei sie trotz aller Hiobsbotschaften immer noch erstaunlich lebendig. 94 Diese Krise lässt sich allerdings auch produktiv begreifen, man muss nur die Vorzeichen umkehren. Aufgabe der Literatur wie der sie vermittelnden Literaturkritik kann es nicht sein, endgültige Antworten zu geben, die bekanntlich nicht existieren. Ihre gemeinsame Aufgabe sollte es dagegen sein, Lektüreangebote zu machen und so zur Reflexion anzuregen, zur individuellen Reflexion durch jeden Leser. Das Produktive von Literatur und Literaturkritik besteht in ihrer demokratischen Verfasstheit, die in der kodifizierten Meinungsfreiheit wurzelt, und in ihrer demokratischen Wirkung - die Leser können selbst entscheiden, was sie lesen und wie sie es lesen. Allgemein kann man mit Michael Klein feststellen, […] dass sich geisteswissenschaftliche Institutionen nicht zuletzt gerade dadurch auszeichen, dass sie sich in gewissem Sinne immer in einer Krise befinden (müssen). Angesichts der sich immer schneller verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, deren Bedeutung und Folgen reflektierend zu begleiten seit jeher mit zu ihren Aufgaben gehört, könnte 92 Georg Diez: Wir Emphatiker. Gibt es eine Spaltung im deutschen Literaturbetrieb? Eine Antwort auf Hubert Winkels. In: Die Zeit Nr. 15 v. 6.4.2006, S. 60. - Interessanterweise hat Winkels versucht, Vorschläge zu machen, wie man zwischen gegensätzlichen Auffassungen vermitteln kann, während Diez klar Position für die ‚Emphatiker‘ bezieht und (wenn man ihn an den eigenen Maßstäben misst) tatsächlich eine Krise schafft. 93 Julia Schröder: Was Kritik ist und was nicht. In: Stuttgarter Zeitung Nr. 85 v. 10.4.2006, S. 12. 94 Wittstock: Leselust, S. 7. 233 Einheit 7 eine derartige Krise auch als Ausdruck ihrer Lebendigkeit, Zeichen ihrer Teilhaftigkeit und geradezu als Voraussetzung einer Neuorientierung verstanden werden. 95 Der Versuch der Autoren, immer wieder Neues zu schaffen, und die konstitutive Deutungsoffenheit literarischer Texte erlauben ohnehin keine allgemein gültigen Urteile. Im Kontext sich auflösender Gewissheiten spiegelt Literatur sogar den Konstruktionscharakter von Wirklichkeit überhaupt. Eine solche Erkenntnis findet sich natürlich schon in der Literatur, beispielsweise bei Theodor Fontane. In seinem Roman Der Stechlin von 1898 lässt er seinen Protagonisten Dubslav von Stechlin sagen: „Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.“ 96 Ein wunderbarer Aphorismus, der das vorführt, was er sagt, indem er zunächst die unanfechtbare Wahrheit verkündet, dass es keine unanfechtbaren Wahrheiten gibt, und sie sogleich widerruft. Bertolt Brecht hat eine ähnliche Erkenntnis formuliert. In seinem Gedichtzyklus Gegen die Objektiven heißt es wie folgt: Ich benötige keinen Grabstein, aber Wenn ihr einen für mich benötigt Wünschte ich, es stünde darauf: Er hat Vorschläge gemacht. Wir Haben sie angenommen. Durch eine solche Inschrift wären Wir alle geehrt. 97 Hier kann man zwar das apodiktische „Wir / Haben sie angenommen“ kritisieren - wieso geht Brecht davon aus, dass seine Vorschläge auch angenommen werden, er muss ja sehr von sich überzeugt sein. ‚Gegen die Objektiven‘ bedeutet aber auch Mut zur Erkenntnis, dass es keine objektive Erkenntnis gibt und dass man sich dennoch verständigen sollte, also eine intersubjektive Erkenntnis anzustreben ist. In der Literatur wie in der Literaturkritik wie im wirklichen Leben. 95 Michael Klein: Literaturkritik und Literaturwissenschaft. Abermaliges Plädoyer für ein komplementäres Verständnis der beiden Institutionen aus gegebenem Anlass. In: Ders. u. Sieglinde Klettenhammer (Hg.): Literaturwissenschaft als kritische Wissenschaft, S. 11-27, hier S. 12. 96 Theodor Fontane: Der Stechlin. Roman. München: Nymphenburger Verlagshandlung 1969 (Nymphenburger Taschenbuch-Ausgabe in 15 Bänden, Bd. 13), S. 10. 97 Bertolt Brecht: Ausgewählte Gedichte in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997. 4. Bd.: Gedichte 2 (1913-1956), S. 223. E I N H E I T 8 Literaturvermittlung in Bildungsinstitutionen So schwer sollte es in einer Gesellschaft, in der das politische Analphabetentum Triumphe feiert, doch nicht sein, für Leute, die lesen und schreiben können, begrenzte, aber nutzbringende Beschäftigungen zu finden. Hans Magnus Enzensberger 1 Exemplarisch wird auf weitere Tätigkeiten in der Literaturvermittlung hingewiesen. Bibliotheken stellen Literatur für Leser bereit. Literaturarchive machen vergriffene Texte, Manuskripte und vieles mehr zugänglich, sie liefern damit auch eine unverzichtbare Grundlage für Forschungen. Literaturhäuser bemühen sich um die Pflege und Intensivierung des literarischen Lebens, vor allem, indem sie Lesungen und Ausstellungen organisieren und bewerben. Für alles dies und vieles mehr wird Geld benötigt, das nicht nur von der öffentlichen Hand kommt, sondern oftmals auch durch Anträge bei verschiedenen Fördereinrichtungen eingeworben werden muss oder das privaten Förderern zu verdanken ist. Notwendige Eingrenzungen Nicht alle Arbeitsfelder können in diesem Lehrbuch angesprochen oder gar näher geschildert werden, die Auswahl orientiert sich an quantitativen wie (in den Berufzielen der Studierenden) qualitativen Gesichtspunkten und pragmatischen, auf die Gliederung der Studienangebote bezogenen Überlegungen. Darüber hinaus befähigt ein literaturwissenschaftliches Studium mit entsprechenden Praxisanteilen vielleicht nicht direkt, aber doch in der einen oder anderen Weise zu zahlreichen weiteren Tätigkeiten, die mit Literatur allerdings oftmals nur noch wenig zu tun haben. 1 Hans Magnus Enzensberger: Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend. In: Kursbuch 15 (1968), S. 187-197, hier S. 196. 235 Einheit 8 Literatur ist als Simulationsraum für Wirklichkeit potentiell unendlich, 2 das gilt für ihre Deutung wie für das Wissen, das sie vermittelt, oder die Reflexionen, zu denen sie anregt. Die Ausbildung an Schulen und Universitäten wird, wie bereits im Vorwort festgehalten, hier nicht weiter berücksichtigt, obwohl Unterricht wohl die tragende Säule der literaturvermittelnden Tätigkeit darstellt. Wer Lehrer an einer Schule werden will, muss ein entsprechendes Studium mit pädagogischen und fachdidaktischen Anteilen absolvieren, für die es zahlreiche eigene Lehrbücher gibt. Daher wird das Lehramtsstudium definitorisch wie organisatorisch an den Universitäten vom Studium der Literaturvermittlung unterschieden. Ähnlich verhält es sich mit der Tätigkeit der Übersetzer, die in der Regel ein eigenes Studium zu absolvieren haben. Dass literarisches Übersetzen auch eine literaturvermittelnde Tätigkeit ist, steht außer Frage und wird in einem alles umfassenden Kompendium zur Literaturvermittlung, sollte es ein solches einmal geben, einen wichtigen Platz einnehmen müssen. 3 Orte des Lernens: Bibliotheken Eng verwandt, aber nicht zu verwechseln mit der Arbeit im Buchhandel ist die Tätigkeit in Bibliotheken. 4 Hier werden spezielle Fähigkeiten benötigt, die durch eine Ausbildung zur bzw. zum Bibliothekar/ in bereitgestellt werden. Die Bedeutung der Bibliotheken sollte man nicht unterschätzen: Bibliotheken sind die am stärksten genutzten wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen in Deutschland. Jeden Tag werden sie von weit mehr als einer halben Million Menschen besucht. Insgesamt benutzen mehr als 200 Millionen Menschen jedes Jahr die Bibliotheken in Deutschland und leihen dabei rund 450 Millionen Medien aus. Die rund 12000 Bibliotheken in Deutschland zeichnen sich durch eine ungemein große Vielfalt aus. 5 Das betrifft natürlich die anderen Länder genauso. Durch die enorme, in der Nachkriegszeit stark gestiegene Titelproduktion und verstärkte Aufbzw. Ausbauarbeit sind die Bestände der Bibliotheken stetig gewachsen. 2 Vgl. hierzu bereits Dieter Wellershoff: Literatur und Veränderung. Versuche zu einer Metakritik der Literatur. 3. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1971 (pocket 1), S. 21: „Literatur ist in meinem Verständnis eine Simulationstechnik.“ 3 Vgl. Wolfgang Pöckl (Hg.): Im Brennpunkt: Literaturübersetzung. Frankfurt/ Main: Peter Lang 2008 (Forum Translationswissenschaft 8). 4 Zur wechselvollen, mit der Entwicklung des Buchhandels eng verknüpften Geschichte des Bibliothekswesens vgl. Uwe Jochum: Kleine Bibliotheksgeschichte. 2., durchges. u. bibliogr. erg. Aufl. Stuttgart: Reclam 2003 (RUB 8915). 5 Klaus Gantert u. Rupert Hacker: Bibliothekarisches Grundwissen. 8., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. München: K.G. Saur 2008, S. 11. - Der Band wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle BG und Seitenzahl. 236 Einheit 8 Beispielsweise hat sich der Bestand der Staatsbibliothek Berlin in nur 20 Jahren mehr als verdreifacht, von 2.560.000 Medien im Jahr 1974 stieg er auf 8.741.766 im Jahr 1994. 6 Das weite Feld der Bibliotheken reicht von der Stadtbücherei bis zur Universitäts- und Landesbibliothek oder der Nationalbibliothek. Während die Stadtbücherei als öffentliche Bibliothek versucht, der Bevölkerung ihres Einzuggebietes möglichst viel an gewünschter Literatur bereitzustellen und sie zugleich, etwa durch gezielte Angebote an Kinder und Jugendliche, zum Lesen zu animieren, werden z.B. Universitätsbibliotheken als wissenschaftlicher Typus vor allem von Studierenden und Forschern frequentiert. Sie haben eine ‚Archivfunktion‘, „d.h. sie bewahren alle oder bestimmte Bestände nicht nur für begrenzte Zeit, sondern dauerhaft auf, um sie für die Zukunft zu erhalten“ (BG, 17). Für alle gilt jedoch: „Bibliotheken sind Orte des Wissens und Lernens, sie sind Orte der Literatur und des Lesens. Bibliotheken sind lernende Organisationen, sie schaffen Kulturen des lebenslangen Lernens.“ 7 Die organisatorische Gliederung der Bibliothek richtet sich nach fachlichen und funktionalen Erfordernissen. „Die wichtigsten Funktionen einer Bibliothek bestehen im Sammeln, Erschließen und Vermitteln von Medien“ (BG, 54). Bibliotheken stellen nicht nur Bücher, sondern auch andere Medien für die Benutzung vor Ort oder für die Ausleihe zur Verfügung. Die Mitarbeiter arbeiten in unterschiedlichen Bereichen oder müssen, bei kleineren Bibliotheken, verschiedene Aufgaben erfüllen - die Auswahl und Beschaffung der Medien, die Integration in den Bestand und die Bereitstellung für den Benutzer (was nicht immer einfach ist; so sind z.B. oftmals größere Teile des Bestandes in Magazinen eingelagert und müssen erst von dort geholt werden). Je nach Bibliothek kann es Fachabteilungen mit Fachreferenten geben, etwa an Universitätsbibliotheken, da nur spezialisierte Bibliothekare in der Lage sind zu beurteilen, welche Ankäufe für welches Fach (z.B. Biologie, Romanistik) sinnvoll sind. Solche Fachreferenten stehen natürlich in engem Kontakt mit den Fachvertretern. Spezialgebiete können auch zu Sonderabteilungen zusammengefasst werden, etwa zur Orientalistik (BG, 55). Dazu kommen spezielle Sammelgebiete, die besonderer Betreuung bedürfen. An der Landes- und Universitätsbibliothek Oldenburg beispielsweise gibt es die umfangreichste Sondersammlung von deutschsprachiger Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit. Generell gilt, dass nicht jede Bibliothek alles vorrätig haben muss - Bibliotheken sind deshalb auch in Verbänden oder Verbünden organisiert. Um Kosten zu sparen und zugleich den notwendigen Zugang zur benötigten Literatur zu gewährleisten, gibt es „eine koordinierte bzw. 6 Vgl. Jochum: Kleine Bibliotheksgeschichte, S. 193. 7 Teilnehmer der Arbeitsgruppe „Gemeinsames Berufsbild“: Berufsbild 2000: Bibliotheken und Bibliothekare im Wandel. In: http: / / www.bideutschland.de/ download/ file/ berufsbild2000.pdf (abgerufen am 2.12.08), S. 3. 237 Einheit 8 abgestimmte Erwerbung“ (BG, 134). Es existiert dafür ein gut funktionierendes Verleihsystem der Bibliotheken untereinander. Nicht alles muss gekauft werden, manche Bücher werden auch getauscht, beispielsweise Exemplare von eigenen Schriftenreihen oder von Dissertationen, die in einer gewissen Zahl von Pflichtexemplaren abzuliefern sind. Freunde und Förderer geben Bücher als Geschenke weiter, hier muss z.B. geprüft werden, ob die Bücher in das Profil der Bibliothek passen (BG, 143f.). Auch über nationale und regionale Pflichtablieferungen (Verlage werden gesetzlich verpflichtet, den National- und Landesbibliotheken Belegexemplare zukommen zu lassen) wird der Bestand erweitert (BG, 144f.). Für die tägliche Arbeit in Bibliotheken gilt es also spezielle Kenntnisse zu erwerben; wer weiß beispielsweise, was sich hinter dem Begriff Graue Literatur verbirgt? Damit sind Bücher gemeint, die nicht von Verlagen publiziert und über den Buchhandel vertrieben werden, sondern „außerhalb des Buchhandels erscheinen“, das können Publikationen von Behörden oder Forschungseinrichtungen, Schulen oder Museen sein (BG, 74). Auch bei der Grauen Literatur gibt es eine Grauzone - eine bedeutende Ausnahme von der Regel ist Zweitausendeins, ein Unternehmen, das Bücher verlegt und direkt an den Kunden verkauft, ohne über den Buchhandel zu gehen. Die Bibliothekskataloge werden heutzutage in der Regel elektronisch geführt, die Metadaten (Autor/ en, Herausgeber, Titel, Untertitel, Ort, Erscheinungsjahr etc.) werden in diesen Katalog eingegeben und können nach den verschiedenen Kategorien durchsucht werden, oft auch nach Schlagworten (etwa Epochen- oder Gattungsbegriffen, Themen, Motiven etc.). Die Katalogisierung der Titel ist aufwändig, hierfür gibt es spezielle Regelwerke und Computerprogramme (BG, 164ff.). Jedes Medium erhält eine Signatur (vgl. BG, 236ff.), die zugleich auch eine Standortnummer ist; so lässt es sich schnell finden und nach der Ausleihe auch wieder in den Bestand eingliedern. Der Bibliotheksbenutzer kann über Zettelkataloge oder (was heute die Regel ist) Datenterminals in der Bibliothek, oftmals auch über einen Zugang zum Bibliothekskatalog via Internet nach den von ihm gewünschten Medien suchen, ihren Aufstellungsort herausfinden oder sie aus dem Magazin bestellen. Zunehmend gibt es online-Angebote, etwa von Fachzeitschriften. Über ein jährliches Abonnement können Bibliotheken den Zugang zu solchen Medien freischalten und den Benutzern eine kostenlose Lektüre ermöglichen. Wichtig ist, dass die Mitarbeiter an der Ausleihe nicht nur kompetent auf Fragen und Wünsche der Benutzer eingehen können, sondern dass sie auch freundlich sind - im Unterschied zu früher hat sich mittlerweile (wie überall im öffentlichen Dienst) das Bild des Benutzers vom Bittsteller zum Kunden gewandelt, das Selbstverständnis einer Bibliothek ist nun das eines 238 Einheit 8 Dienstleisters (Ausnahmen bestätigen die Regel). Entsprechend differenziert ist das Angebot an Hilfestellungen, von der persönlichen Beratung (wie und wo lässt sich das gewünschte Medium bekommen, kann man es vielleicht bestellen, evtl. ankaufen? ) bis zur Führung größerer Gruppen. Bibliotheken können auch Ort öffentlichen Lebens sein, etwa wenn sie Ausstellungen veranstalten (z.B. zu runden Geburtstagen bekannter Autoren aus dem Zuständigkeitsbereich), Vortragsreihen, Autorenlesungen oder Lesenächte organisieren. Die Tätigkeiten sind in der Regel nach Qualifikation verteilt, hier die Empfehlung einer Arbeitsgruppe: Universitätsstudium: Erstellen des Bestandskonzeptes Fachhochschulstudium: Inhaltliche Verantwortung für die Beschaffung Berufsausbildung: Verantwortung für Erwerbungsetat Koordinierung des Bestandsaufbaus Beschaffungsmanagement Aushandeln von Lieferkonditionen, Konsortialverträgen, Lizenzen Korrespondenz mit den Lieferanten Vorakzession am vorhandenen Bestand Durchführen der Inventarisierung Rechnungsbearbeitung Führen von Haushaltsüberwachungslisten Anlerntätigkeit: Führen und Überwachen von Zugangslisten, Karteien oder Datenpools Anlegen von Statistiken Annahme von Lieferungen Schreiben und Übermitteln von Bestellungen Erledigung von postalischen Gängen. 8 Die Liste dokumentiert auch die unterschiedlichen Anforderungen in größeren Organisationseinheiten. EDV-Tätigkeiten, die in der Regel besondere Qualifikationen erfordern, sind hier noch nicht einmal berücksichtigt. Die Ausbildungswege sind entsprechend unterschiedlich und lassen sich weiter nach Ländern differenzieren: 8 Vgl. ebd., S. 17. 239 Einheit 8 ▶ Eine dreijährige Berufsausbildung führt zum Abschluss als Fachangestellter für Medien und Informationsdienste (früher Bibliotheksassistent oder Assistent an Bibliotheken, je nach Ausrichtung). In der Schweiz existiert eine ähnliche Ausbildung (heißt hier Informations- und Dokumentationsassistent). ▶ Das Studium zum Diplom-Bibliothekar (FH) / Bachelor of Arts (B.A.) erfolgt in Deutschland an mehreren Fachhochschulen […]. In der Schweiz kann ebenfalls ein Fachhochschulstudiengang (Ausbildung zum Informations- und Dokumentationsspezialist) oder ein Nachdiplomstudium besucht werden. ▶ Ein wissenschaftlicher Bibliothekar (Höherer Dienst) ist ein Universitätsabsolvent mit einer bibliothekarischen Zusatzausbildung, die in Deutschland je nach Bundesland verschieden ist. Traditionell wird in den meisten Bundesländern die zusätzliche Ausbildung in Form eines Bibliotheksreferendariats als Beamter auf Probe absolviert. 9 Andere Länder, andere Regeln: „Die Ausbildung von BibliothekarInnen wird in Österreich aufgrund der Gesetzeslage der Erwachsenenbildung zugerechnet.“ Es gibt verschiedene Angebote von Lehrgängen, um die nötigen Kompetenzen zu erwerben. 10 Arbeiten im Literaturarchiv Literaturarchive bewahren, wie Bibliotheken und Museen, Teile des kulturellen Gedächtnisses einer Gemeinschaft, in der Regel eines Staates, Landes, einer Region oder Stadt. Zentrale Aufgabe ist die Beschaffung, sachgerechte Archivierung, Aufbereitung und Nutzung von Nachlässen. Vor allem die Nachlässe von Autoren, aber auch von anderen zentralen Persönlichkeiten des literarischen Lebens (etwa Literaturkritiker, Lektoren, Verleger …) werden erschlossen und für die weitere Forschung zugänglich gemacht. Unterscheiden lassen sich z.B. der ‚echte Nachlass‘ als „alles, was sich bei einem Nachlasser im Laufe seines Lebens gebildet hat und bei seinem Tode vorgefunden wurde oder vorgefunden hätte werden können“ und der ‚anreichernde Nachlass‘, das ist „alles, was nach dem Tode des Nachlassers und vor der Übergabe an das Literaturarchiv dem Nachlaß (von Erben, Besitzern etc.) hinzuge[f]ügt wurde“. 11 Bei der praktischen Arbeit ist es wichtig, die Materialien zu unterscheiden, die archiviert werden sollen, und sich über die konservatorischen 9 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Bibliothekar (abgerufen am 2.12.08). 10 Vgl. http: / / erwachsenenbildung.at/ berufsfeld/ aus_weiterbildung/ bibliothekarin.php (abgerufen am 5.12.08). 11 Adolf Haslinger: Autographisches. In: Hildemar Holl u. Hans Höller (Hg.): Das unbekannte Erbe. Literarische Nachlässe und Literaturarchive in Österreich. Stuttgart: Heinz 1997 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 353), S. 3-19, hier S. 10. 240 Einheit 8 Notwendigkeiten zu informieren. Vor allem gilt es Verfallsprozesse aufzuhalten, v.a. durch Schaffung spezieller klimatischer Bedingungen, passende Aufbewahrung und Behandlung. 12 Mit den neuen technischen Aufzeichnungssystemen kommen weitere Herausforderungen auf die Archive zu - etwa auf Disketten oder Tonbändern gespeichertes Material, das spezielle ‚veraltete‘ Abspielgeräte erfordert und von dem niemand genau weiß, wie lange es in der gespeicherten Form erhalten bleibt. Zur Erschließung von literarischen Nachlässen gehört auch, sofern genügend Gelder und Personal vorhanden sind, die Arbeit an Historischkritischen Ausgaben, dies geschieht in der Regel in Kooperation mit Universitäten. Historisch-kritische (kurz: Kritische) Ausgaben stellen möglichst umfassend den Primärtext und alle Informationen bereit, die dessen Genese (Entstehung) und Genealogie (Überlieferung) betreffen. 13 Dazu können zahlreiche andere Tätigkeiten kommen, die sich mit denen von Bibliotheken und Literaturhäusern überschneiden - etwa die Konzeption und Durchführung von Ausstellungen oder die Organisation von Lesungen. Ulrich Ott, der Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach, hat folgenden Anspruch formuliert: Ein Literaturarchiv im vollen Sinne muß nach meiner Ansicht aus der Handschriftensammlung, der Bibliothek und einem Museums- oder Ausstellungsteil bestehen; es muß die Literatur als Kontinuum, nicht nur als Summe von Einzelbeständen dokumentieren. Dieses Kontinuum ist mehrdimensional, es betrifft den Zusammenhang der Literatur mit sich selbst in Geschichte und Gegenwart, also den Zusammenhang der Autoren untereinander, es betrifft den Zusammenhang zwischen Literatur und Leserschaft, also die Literaturvermittlung, und den Zusammenhang zwischen Literatur und Gesellschaft, also die Literatursoziologie. Insgesamt ist es das Bild des literarischen Lebens einer Epoche, das wir als Literaturarchivare zeichnen wollen. 14 Erwerbung und Pflege von Beständen sei, so Ott, bedroht durch „Zersplitterung“ (z.B., wenn Nachlässe aufgeteilt und dann verkauft werden), „Zerstreuung“ (z.B. wenn Sammelschwerpunkte aufgelöst und neue gebildet werden, die bereits woanders existieren) und „Überbietung in finan- 12 Vgl. ebd., S. 12f. - Zur Konservierung des Materials vgl. genauestens Erika Wimmer-Webhofer: Die Konservierung von Archivalien in Literaturarchiven. Empfehlung von Lagerung, Benützung und Sicherung von Nachlässen. Hg. v. Forschungsinstitut „Brenner-Archiv“ (Innsbruck). München u.a.: K.G. Saur 1989 (Literatur und Archiv 3). 13 Zu den Grundlagen vgl. Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart: Reclam 1997 (RUB 17603). 14 Ulrich Ott: Probleme der Literaturarchive und -museen. In: Angelika Busch u. Hans-Peter Burmeister (Hg.): Literaturarchive und Literaturmuseen der Zukunft. Bestandsaufnahme und Perspektiven. Rehburg-Loccum: Evangelische Akademie Loccum 1999 (Loccumer Protokolle 18/ 99), S. 30-48, hier S. 35f. - Vgl. neben den anderen Beiträgen in dem genannten Band außerdem die perspektivenreichen Aufsätze in: Christoph König u. Siegfried Seifert (Hg.): Literaturarchiv und Literaturforschung. Aspekte neuer Zusammenarbeit. München u.a.: K.G. Saur 1996 (Literatur und Archiv 8). 241 Einheit 8 zieller Hinsicht bei der Bestandserwerbung“. 15 Während die Literaturarchive in der Regel einander helfen, auch indem sie sich nicht gegenseitig überbieten (etwa indem sie die bestmögliche Zuordnung von Nachlässen zu bestimmten Archiven anstreben), gibt es viele Sammler, die etwa bei Auktionen mehr zahlen können als Archive und die z.B. Handschriften kaufen, in einen Tresor an unbekanntem Ort sperren und so den Zugang zu wichtigen Forschungsquellen unterbinden. Literaturarchive können gegensteuern, indem sie sich frühestmöglich um Nachlässe bemühen, z.B. auch um Vorlässe, also Material, das der Autor zu Lebzeiten bereits dem Archiv überantwortet (durch Verkauf, Schenkung oder als Leihgabe). Zu Literaturarchiven in Deutschland gibt es verschiedene Überblicksdarstellungen im Netz, eine Liste der wichtigsten Archive stellt beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG) bereit. 16 In der ALG sind 207 Archive, Museen und Gesellschaften organisiert, die letzteren in der Regel als eingetragene Vereine. Literarische Gesellschaften beschäftigen sich überwiegend mit der Pflege der Erinnerung an einen Autor und sein Werk. Es gibt zahlreiche andere Organisationen, die sich dem literarischen Erbe verschrieben haben und / oder darum bemüht sind, die Entwicklung des literarischen Lebens z.B. durch Veranstaltungen, Stipendien oder Preise zu fördern. 17 Welche Literaturarchive und Literaturhäuser es in Österreich (und teilweise auch anderswo) gibt, lässt sich über das „Portal der österreichischen Literaturarchive“ nachvollziehen. 18 Die Liste reicht vom Literaturhaus Mattersburg im Burgenland bis zum Wissenschaftlichen Archiv des Technischen Museums in Wien. Die bedeutendsten Literaturarchive im deutschsprachigen Raum sind, nach Ländern geordnet, das Deutsche Literaturarchiv (DLA) in Marbach am Neckar, das Österreichische Literaturarchiv (als Teil der Österreichischen Nationalbibliothek / ÖNB) und das Schweizerische Literaturarchiv (SLA), dessen Gründung 1991 auf eine testamentarische Verfügung Friedrich Dürrenmatts zurückgeht. Das DLA ist zweifellos das größte Literaturarchiv im deutschsprachigen Raum: Im Mittelpunkt der Sammlungen stehen die Nachlässe bedeutender Schriftstellerinnen, Schriftsteller und Gelehrter sowie die Archive von 15 Ebd., S. 37. 16 Vgl. http: / / www.alg.de/ service/ linksextern/ archive.html (abgerufen am 5.12.08). 17 Einen Eindruck der stattlichen Zahl von Preisen vermittelt http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Literaturpreis (abgerufen am 5.12.08). - Eine Liste deutscher Literaturpreise bietet das Deutsche Literaturarchiv Marbach, auf der Seite finden sich auch viele andere nützliche Informationen wie ein Literaturkalender, der nach Bundesländern und Großstädten geordnet über Veranstaltungen zur Literatur Auskunft gibt: http: / / www.literaturportal.de/ psw.php (abgerufen am 5.12.08). - Eine (wenn auch noch unvollständige und stellenweise nicht ganz zuverlässige, dennoch) einzigartige Recherchemöglichkeit zum Angebot der Literaturwissenschaft bietet Germanistik im Netz ( http: / / www.germanistik-im-netz.de ), ein Projekt des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar. 18 Vgl. http: / / www.onb.ac.at/ koop-litera (abgerufen am 4.12.08). 242 Einheit 8 Institutionen, darunter als wichtigstes Verlagsarchiv des 19. Jahrhunderts das der Cotta’schen Buchhandlung. Daneben steht die größte deutsche Quellen- und Forschungsbibliothek für die deutschsprachige Literatur und die Literaturwissenschaft von der Aufklärungszeit bis in die Gegenwart. 19 Zum DLA gehört auch das 2006 eröffnete Literaturmuseum der Moderne (LiMo), in dem Exponate aus Nachlässen ausgestellt werden: Wie sehen Ideen aus? Wie werden Stimmungen erzeugt und unvergessliche Geschichten erschaffen? Wie arbeiten Schriftsteller? Was geschieht beim und nach dem Lesen in den Köpfen? Was ist sichtbar an der Literatur? Was bleibt von einem Jahrhundert wie dem 20. im Archiv übrig? Was hat man davon, Papiere und andere Archivalien anzuschauen, die nicht mehr als 50 Lux, 50-55 Prozent Luftfeuchtigkeit und 18 Grad vertragen? Die Dauerausstellung im LiMo zeigt die kostbarsten und kuriosesten, aber auch zunächst unscheinbare Stücke aus den Beständen des Deutschen Literaturarchivs zum 20. Jahrhundert und zur Gegenwart in ihrer vollen Körperlichkeit. 20 Ständig wird im DLA an neuen, zeitlich begrenzten Ausstellungen, Katalogen dazu und an anderen Publikationen des Archivs gearbeitet. In allen Literaturarchiven gehören solche Arbeiten, freilich in unterschiedlichem Ausmaß, zum Standardrepertoire. Das Österreichische Literaturarchiv […] sammelt und erschließt literarische Vor- und Nachlässe österreichischer Autorinnen und Autoren ab dem 20. Jahrhundert (insbesondere ab 1945), um sie für die wissenschaftliche Auswertung zugänglich zu machen. 21 Das SLA verwaltet bisher „rund 200 Nachlässe, Teilnachlässe, Sammlungen und Handschriften-Bestände zu den Literaturen der Schweiz“. 22 Dazu kommen zahlreiche regionale Archive, für Tirol beispielsweise das von Universität und Land gemeinsam getragene Forschungsinstitut Brenner-Archiv (das im Namen auf die Zeitschrift Der Brenner zurückgeht): Das Brenner-Archiv verwahrt rund 190 Nachlässe, Teilnachlässe und Sammlungen vor allem von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, aber auch von Philosophen, Musikern und Künstlern (dazu gehören mehrere tausend Fotos, u. a. zahlreiche von Karl Kraus und Georg Trakl). Die Bibliothek umfasst etwa 30.000 Buchexemplare (ein großer Teil davon 19 Vgl. http: / / www.dla-marbach.de/ dla/ index.html (abgerufen am 2.12.08). 20 Vgl. http: / / www.dla-marbach.de/ ? id=51590 (abgerufen am 5.12.08). 21 Vgl. http: / / www.onb.ac.at/ sammlungen/ litarchiv.htm (abgerufen am 2.12.08). 22 Vgl. http: / / www.helveticarchives.ch/ detail.aspx? ID=168176; Webseite des Archivs: http: / / www.nb.admin.ch/ slb/ org/ organisation/ 00783/ index.html? lang=de (abgerufen am 2.12.08). 243 Einheit 8 in Nachlassbibliotheken) und über 300 (historische und aktuelle) Zeitschriften (in unterschiedlicher Vollständigkeit). 23 Zum Forschungsinstitut gehört auch das Literaturhaus am Inn mit einem breiten Angebot einerseits, einem Schwerpunkt auf Tiroler Literatur andererseits. Wie man Archivmitarbeiter wird, ist nicht klar geregelt. Zwar existiert z.B. in Deutschland die Archivschule Marburg, die sich auf ihrer Webseite wie folgt vorstellt: Die Archivschule Marburg ist die zentrale Aus- und Fortbildungseinrichtung des Archivwesens der Bundesrepublik Deutschland. Seit mehr als 50 Jahren werden hier Archivarinnen und Archivare des höheren, wie auch des gehobenen Archivdienstes ausgebildet. Seit Anfang der 90er Jahre bieten wir zusätzlich Fortbildungskurse an und veranstalten regelmäßig Kolloquien und kleinere Fachtagungen. 24 Doch gibt es viele Querereinsteiger, die nach einem philologischen Studium, oftmals auch nach einer Promotion über die Arbeit an Editionen oder Nachlässen die notwendigen Kontakte knüpfen, sich bewähren und schließlich, wenn sie Glück haben, eine der seltenen Stellen angeboten bekommen. Um das Literaturarchiv gruppieren sich andere Archive, hier sei exemplarisch verwiesen auf die großen Archive der Literaturkritik, die jeweils unterschiedliche Sammelschwerpunkte haben. Die Autorendokumentation Dortmund ist organisatorisch an die Dortmunder Stadtbibliothek angegliedert, 25 das DLA hat eine umfangreiche Dokumentationsstelle 26 und das Literaturhaus in Wien hat eine umfangreiche Zeitungsausschnittsammlung 27 . Dazu kommt das einzige große Online-Archiv für Literaturkritik, das Innsbrucker Zeitungsarchiv / IZA, 28 das zugleich Forschungseinrichtung ist und zum Institut für Germanistik der Universität Innsbruck gehört. Neben MitarbeiterInnen im nicht-wissenschaftlichen Dienst wird auch Studierenden - im Rahmen von Studienassistenzen und Praktika - die Möglichkeit geboten, Erfahrungen in der Archivarbeit zu sammeln. Die Häuser der Literatur Literaturhäuser gibt es an erstaunlich vielen Orten, kleinere und größere - über eine Auswahl informiert das Portal literaturhaus.net: 23 Vgl. http: / / www.uibk.ac.at/ brenner-archiv/ institut (abgerufen am 2.12.08) 24 Vgl. http: / / www.archivschule.de/ content/ 20.html (abgerufen am 2.12.08). 25 Vgl. http: / / www.bibliothek.dortmund.de/ template5-19.html (abgerufen am 4.12.08). 26 Vgl. http: / / www.dla-marbach.de/ dla/ dokumentationsstelle/ index.html (abgerufen am 4.12.08). 27 Vgl. http: / / www.literaturhaus.at/ lh/ service/ zdb.html (abgerufen am 28.2.09). 28 Vgl. http: / / www.uibk.ac.at/ iza (abgerufen am 5.12.08). 244 Einheit 8 Zum Netzwerk zählen mittlerweile elf Literaturhäuser: Berlin, Frankfurt, Graz, Hamburg, Köln, Leipzig, München, Rostock, Salzburg, Stuttgart und Zürich. Die Vernetzung der einzelnen Häuser untereinander ermöglicht es, gemeinsame Anliegen gezielter zu präsentieren und überregionale Projekte zu verwirklichen. Organisiert wird das literaturhaus. net über die Geschäftsstelle der Literaturhäuser, die für die Realisation der gemeinsamen Projekte zuständig ist und die Zusammenarbeit mit Kooperations- und Werbepartnern fördert. 29 Literaturhäuser sind vor allem Orte der Begegnung von professionellen Lesern untereinander (so lassen sich wichtige Kontakte knüpfen und pflegen) sowie natürlich aller Leser, insofern haben sie auch eine Werbefunktion für das Lesen: In den Literaturhäusern treffen sich bei Veranstaltungen und im zwanglosen Rahmen Schriftsteller, Verleger, Übersetzer, Lektoren, Buchhändler, Kulturschaffende, Journalisten und ein literaturinteressiertes Publikum zum Dialog und Interessensaustausch. Die Literaturhäuser greifen dabei nicht nur aktuelle Stimmungen ihrer städtischen Umgebung auf und reflektieren in ihrem reichhaltigen Programm Strömungen der Zeit, sondern geben selbst Impulse für das kulturelle und literarische Leben der Stadt. Aber auch zufällige Begegnungen haben ihren Platz: Die angeschlossene Gastronomie prägt das Flair von Salon und Kaffeehaus, die zum Verweilen einladen und sich zwanglos zur Galerie, zum Musik- und Sprechtheater oder Kino erweitern lassen. 30 Workshops und Schreibwerkstätten sollen an einigen Orten den schriftstellerischen Nachwuchs fördern und junge Talente entdecken helfen. 31 Eine vergleichbare Plattform gibt es in Österreich, das sich - angesichts seiner geringen Größe - besonders stark in der Literaturförderung engagiert. Auch hier finden sich Querverweise zu deutschen und schweizerischen Häusern. Die Liste ist vermutlich deshalb so umfangreich, weil hier statt eines Trägervereins, der eine Mitgliedschaft voraussetzt, das Literaturhaus Wien eine Koordinatorfunktion übernommen hat. 32 Wer in Literaturarchiven, Literaturhäusern und anderen Gedenkstätten arbeitet (etwa Dichterhäusern, also Geburts- oder Wohnhäusern von Schriftstellern, die zu Museen oder Begegnungsstätten umfunktioniert wurden), muss eine Vielzahl von Qualifikationen mitbringen oder zumindest bereit sein, sie zu erwerben. Neben den angesprochenen philologischen Grundlagen ist vor allem auf die Ausstellungstätigkeit hinzuweisen - die meisten Einrichtungen dieser Art haben ständige Ausstellungen, 29 Vgl. http: / / www.literaturhaus.net/ netzwerk/ index.htm (abgerufen am 5.12.08). 30 Ebd. 31 Vgl. http: / / www.literaturhaus.net/ projekte/ index.htm (abgerufen am 5.12.08). 32 Vgl. http: / / www.literaturhaus.at/ lh/ literaturhaeuser.html (abgerufen am 5.12.08). 245 Einheit 8 die in regelmäßigen Abständen ergänzt oder überarbeitet werden müssen, und / oder wechselnde Ausstellungen. Das Ausstellungswesen hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Heute kann es als Konsens gelten, dass es nicht attraktiv genug ist, lediglich Exponate in Vitrinen oder Schaukästen zu präsentieren, etwa Teile von Handschriften oder Erstausgaben: Die Versinnlichung des Unsinnlichen, die Visibilisierung des Invisiblen, auch Entzauberung, Enträtselung und Entmythologisierung als Folge von Modernisierung (Max Weber) führen zur Umwandlung der Ästhetik in Medienästhetik. […] Die Vielfalt des Dargestellten […] macht für Ausstellungen eine sinnliche, vor allem optisch-visuelle [sic] Wahrnehmung als Rezeptionsweise erforderlich und weniger Lesen oder Wissen. 33 Einfacher ausgedrückt: In unserer Mediengesellschaft ist es notwendig, das Thema Literatur auch mit den Mitteln der Medienästhetik zu präsentieren. Dazu können neben Audioführungen oder Filmvorführungen (kleine Filme in Endlosschleife oder nach Bedarf, längere zu bestimmten Zeiten) beispielsweise Computerterminals dienen, die Zugriff auf optisch ansprechend gestaltete Informationen ermöglichen, vielleicht sogar interaktiv gestaltet sind (Quiz, Schnitzeljagd o.ä.). Literatur vermitteln durch Unterricht Auch wenn der Bereich des Unterrichts (an Schulen und Universitäten) ausgeklammert worden ist, so soll wenigstens kurz auf Arbeitsmöglichkeiten in der Weiterbildung eingegangen werden. Lebenslanges Lernen ist ein wichtiges Stichwort in allen Bildungskonzepten geworden. Einerseits sollen sich Beschäftigte weiterbilden, um ihre Aufgaben in einer sich wandelnden Gesellschaft auch in Zukunft erfüllen zu können; andererseits gibt es zahlreiche Angebote im Bereich der Erwachsenenbildung für die berufliche Um- oder Neuorientierung. Dazu kommt Bildung, die der persönlichen Bereicherung dient. Entsprechend vielfältig sind die Berufsbilder. Es gibt Unternehmen und Selbständige, die ihre Dienste anbieten, wobei hier die Literatur meist nicht im Mittelpunkt steht. Eher gefragt als Kreatives Schreiben ist beispielsweise der Unterricht von Deutsch als Fremdsprache für Migranten oder das Coaching für Führungskräfte bzw. solche, die es werden wollen. Allerdings kann eine literaturwissenschaftliche Vorbildung durchaus hilfreich sein, sich solche Berufsfelder zu erschließen und aus der freiberuflichen Tätigkeit einen Vollzeit-Job zu machen. Insbesondere im Bereich Deutsch 33 Andreas Käuser: Sammeln - Zeigen - Darstellen. Zur Modernität und Medialität von Ausstellungen. In: Sabiene Autsch, Michael Grisko u. Peter Seibert (Hg.): Atelier und Dichterzimmer. Zur aktuellen Situation von Künstler- und Literaturhäusern. Bielefeld: transcript 2005, S. 13-26, hier S. 16. 246 Einheit 8 als Fremdsprache, aber auch bei Konversations- und Grammatikkursen gibt es einen großen Bedarf. VHS und Abendschule können kombiniert sein, so dass hier auch Zertifikate vergeben, sogar Abschlüsse nachgeholt werden können. Allerdings wird für den qualifizierten, in das Schulsystem eingreifenden Unterricht in der Regel ein Lehramtsstudium vorausgesetzt. Das größte Angebot an Weiterbildung haben zweifellos die an Orte und Regionen gebundenen Volkshochschulen, 34 sie bieten Kurse für alle Lebenslagen. Wer Interesse an VHS-Kursen zur Literatur hat, dürfte in der Regel fündig werden, und wer selbst Angebote machen kann, sollte bei der Leitung ‚seiner‘ VHS vorstellig werden, vielleicht gibt es ja einen Bedarf z.B. für Lesezirkel zur Gegenwartsliteratur. Damit wird man nicht reich, aber vielleicht kann man so die eigene Aus- und Weiterbildung mit finanzieren oder eine sinnvolle Beschäftigung z.B. neben der Kindererziehung finden. Ohne Geld geht gar nichts: Fördermittel Viele Literaturvermittler arbeiten mit befristeten Verträgen oder freiberuflich, ihre Existenz ist also dauerhaft nicht gesichert. Die Konzeption von Literaturausstellungen beispielsweise wird nicht selten von Freiberuflern vorgenommen, die dafür eine bestimmte Summe Geld erhalten. Viele Anstellungsverhältnisse z.B. in Literaturarchiven sind entweder befristet oder entsprechen geringfügigen Beschäftigungen oder beides. Dazu kommt, dass die in diesem Kapitel vorgestellten Institutionen (und andere mehr) von Fördermitteln leben, die es projektbezogen und / oder jährlich zu beantragen gilt. Insbesondere regelmäßige Fördermittel werden von der öffentlichen Hand bereitgestellt, z.B. von Bundes- oder Landesministerien für Kultur. Auch Städte haben einen viel umworbenen Kulturetat. In der Regel gibt es mehr Anträge, als bewilligt werden können, und weniger Geld, als beantragt wurde. Es hängt stark von dem kulturellen Kapital, also dem Prestige einer Einrichtung ab, wie gesichert ihre Finanzierung ist; dieses kulturelle Kapital ist aber nicht nur z.B. durch einen Autornamen (Wohn- oder Geburtshaus als Museum) bereits vorhanden, es wird vor allem durch die Literaturvermittler der Institution erwirtschaftet. Sie müssen enge Kontakte zu existierenden Förderern halten und neue zu potentiellen Förderern anbahnen. Und natürlich muss die Qualität des ‚Produktes‘ Literaturmuseum, -haus oder -archiv in der Wahrnehmung dieser Förderer stimmen. Für wissenschaftliche Projekte existieren spezielle Fördereinrichtungen, beispielsweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), der Fonds zur 34 Für eine Übersicht vgl. http: / / www.vhs.de (v.a. zu Deutschland), http: / / www.vhs.or.at (Österreich) und http: / / www.up-vhs.ch (Schweiz) (alle abgerufen am 5.12.08). 247 Einheit 8 Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich (FWF) und der Schweizerische Nationalfonds (SNF). Auch private Förderer gibt es, von der Volkswagenstiftung bis zum privaten Mäzen, der z.B. einem Literaturmuseum ein Haus oder eine bestimmte Menge Geld stiftet. Auch die Europäische Union hat zahlreiche Förderprogramme, die in der Regel allerdings eine bestimmte Größe und Professionalität bei der Antragstellung voraussetzen. Verschiedene Vereinigungen wie Kulturstiftungen des Bundes und der Länder oder der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft bemühen sich nicht nur um die Vergabe der Gelder, sondern ebenso um die programmatische Auseinandersetzung mit den Vergabekriterien. Auch über die Gründung von steuerbegünstigten Trägervereinen z.B. für ein Literaturmuseum kann Geld eingenommen werden, ebenso durch Werbeeinnahmen z.B. durch Anzeigen auf Eintrittskarten oder in Museumsführern. Auf lokaler Ebene sind es oftmals Banken und Sparkassen, Rotary-Clubs und andere Organisationen, die in unterschiedlicher Weise Literaturvermittlung fördern. Generell scheint es jedoch so zu sein, dass der Kuchen, der für Kulturförderung zur Verfügung steht, eher kleiner als größer wird: Die öffentlichen Kulturausgaben (ohne kulturelle Daseinsvorsorge, wie z. B. Schulen als Kultuseinrichtungen) sanken in Deutschland von ca. 8,4 Milliarden Euro im Jahr 2001 auf etwa 7,88 Milliarden Euro im Jahr 2004, wobei die Länder und Gemeinden annähernd doppelt soviel wie der Bund einsparten. 35 Nicht zuletzt deshalb sind Literaturvermittler gefordert, den Beitrag deutlich zu machen, den sie für eine Gesellschaft leisten und darüber hinaus noch leisten können. Der alte Spruch ‚Klagen gehört zum Handwerk‘ hilft da nur begrenzt. Natürlich kann man versuchen, Missstände und Probleme anzuprangern. Den gesellschaftlichen Wandel etwa hin zur verstärkten Nutzung von audiovisuellen Medien wird man aber nicht aufhalten können. Statt dessen sind innovative Strategien gefragt, mit den neuen Möglichkeiten zu arbeiten und sie zugleich zu nutzen, wieder für die Literatur in ihrer gedruckten Form zu werben - denn das Buch ist, wenn es auch nur noch ein Medium unter vielen ist, durch keines der anderen Medien vollständig zu ersetzen. Das vielbeschworene finale ‚Ende der Gutenberg- Galaxis‘ (Marshall McLuhan, Norbert Bolz u.a.) wird wohl noch längere Zeit auf sich warten lassen, und das ist gut so. 35 Vgl. http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Kulturfoerderung (abgerufen am 16.12.08). E I N H E I T 9 Flüchtige Zeiten: 1 Tendenzen der Gegenwartsliteratur und ihrer Vermittlung Die andere Seite der Unsicherheit, die die Risikogesellschaft über die gepeinigte Menschheit bringt, ist die Chance , das Mehr an Gleichheit, Freiheit und Selbstgestaltung, das die Moderne verspricht, gegen die Einschränkungen, funktionalen Imperative und Fortschrittsfatalismen der Industriegesellschaft zu finden und zu aktivieren. Ulrich Beck 2 Literaturvermittlung ist nicht nur von ihren gesellschaftlichen, medialen und organisatorischen Rahmenbedingungen abhängig, sondern natürlich auch von der Literatur selbst, die ständigen Veränderungen unterworfen ist. Wie ist die Literatur (im engeren Sinne) heute beschaffen, welche Themen sind für sie wichtig und was zeichnet sie aus? Natürlich wäre es sinnvoll, an dieser Stelle auch auf die Entwicklung der Literatur einzugehen, doch dafür gibt es Literaturgeschichten, während die Literaturgeschichtsschreibung der Gegenwart gerade erst begonnen hat. Es wird die These aufgestellt, dass die Veränderung der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten, vor allem die Erosion früherer Gewissheiten, die Gegenwartsliteratur stark geprägt hat. Riskante Freiheiten Ulrich Beck hat mit seinem Buch über die Risikogesellschaft (1986), die er dem Titel zum Trotz ebenso als Chancengesellschaft versteht, nicht nur das Paradigma der Postmoderne seit den 1980er Jahren, sondern auch der 1 Zum Begriff vgl. Zygmunt Bauman: Flüchtige Zeiten. Leben in der Ungewissheit. Aus dem Engl. v. Richard Barth. Hamburg: Hamburger Edition 2008. Das Buch wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit FZ und Seitenzahl. 2 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2003 (edition suhrkamp 2432), S. 370. 249 Einheit 9 postmodernen Literatur unserer Zeit beschrieben; 2007 hat er mit der Folgestudie Weltrisikogesellschaft seine Beobachtungen noch einmal bestätigt und ausgeweitet. 3 Zwar lassen sich viele Tendenzen der Gegenwartsliteratur beobachten, auf die noch einzugehen sein wird; etwa die Auseinandersetzung mit Erinnerung und Geschichte. Aber im Zentrum der Literatur steht die immer brüchiger gewordene Identität des Subjekts, 4 das in seinen sozialen Kontexten keinen Halt mehr findet oder doch nur solchen, der nicht mehr als kurzfristige Orientierung verspricht. Damit ist allerdings ‚nur‘ ein vorläufiger Endpunkt einer Entwicklung bezeichnet, die um 1800 beginnt. 5 Doch hat sich diese Entwicklung erneut in der jüngeren Gegenwart radikalisiert. Das Ende der sozialistischen Utopie, wie es symbolisch im Fall der Berliner Mauer Ende 1989 verdichtet ist, und die zeitlich damit einher gehende Globalisierung, die mit der marktwirtschaftlichen Ordnung einen rational wie emotional nur bedingt nutzbaren Orientierungsrahmen vorgibt, hinterlassen immer deutlichere Spuren. Bereits 1993 hat Norbert Bolz kritisch bis zynisch festgestellt: Wenn also jemand nach dem Sinn des Lebens fragt, muß man ihm sagen: Sieh doch wie das Geld funktioniert! Das Medium ist die Botschaft. Geld funktioniert nicht nur als technischer Ersatz für religiöse Motive, sondern bietet einen Symbolismus an, in den fast alle kommunikativen Akte übersetzt werden können. 6 Einer der führenden Theoretiker der Postmoderne, 7 Zygmunt Bauman, hat die Disposition heutiger Individuen und die Gründe dafür zusammenfassend wie folgt beschrieben: Zwischenmenschliche Bindungen, vormals zu einem Sicherheitsnetz verwoben, für das sich ein erheblicher und kontinuierlicher Einsatz von Zeit und Energie ebenso lohnte wie das Hintanstellen unmittelbarer individueller Interessen (oder dessen, was im Interesse des Einzelnen zu 3 Vgl. Beck: Risikogesellschaft; ders.: Weltrisikogesellschaft. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2007. 4 Zur Entwicklung des Subjekts vgl. bes. Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne. Tübingen u. Basel: Francke 2000 (UTB 2176); Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist: Velbrück 2006. 5 „Das Individuum findet in den alten Lebensordnungen nicht mehr ausreichend Halt. Es sucht nach stärker individuellen Ausdrucksmöglichkeiten […].“ Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1997 (stw 1303), S. 385. 6 Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse. München: Fink 1993. 7 Vermerkt sei, dass die meisten Theoretiker der Postmoderne gerade diesen Begriff ablehnen und lieber andere verwenden, wie beispielsweise Ulrich Beck den der ‚reflexiven Moderne‘, um zu zeigen, dass es sich um eine Weiterentwicklung der Moderne handelt. Postmoderne wird gern als negative Bezeichnung gebraucht, vgl. Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis, S. 99f. Dennoch wird in der vorliegenden Arbeit daran festgehalten, da sich kein anderer Begriff gegen diesen durchsetzen konnte. Das spezifische Verständnis von Postmoderne wird auf den kommenden Seiten hoffentlich deutlich werden. 250 Einheit 9 sein schien), werden immer brüchiger und als vorübergehend betrachtet. Dass der Einzelne den Unwägbarkeiten des Waren- und Arbeitsmarktes ausgesetzt ist, fördert die Spaltung, nicht die Einheit; es begünstigt eine wettbewerbsorientierte Einstellung und degradiert Zusammenarbeit und Teamwork zu temporären Strategien, die ausgesetzt oder aufgegeben werden müssen, sobald ihre Vorteile verbraucht sind. (FZ, 9) Nach Bauman […] führt das Ende des langfristigen Denkens, Planens und Handelns sowie die Auflösung und Schwächung sozialer Strukturen, in denen solches Denken, Planen und Handeln auf längere Sicht verankert werden könnte, dazu, dass die politische Geschichte wie auch das Leben jedes Einzelnen zu einer Reihe kurzfristiger Projekte und Episoden aneinandergefügt sind, deren Anzahl im Grunde unendlich ist und die sich keineswegs zu Sequenzen verbinden […]. (FZ, 9) Es gibt keinen vorgegebenen Orientierungsrahmen mehr, stattdessen […] wird dem Individuum die Verantwortung dafür aufgebürdet, jene Dilemmata aufzulösen, die durch irritierend flüchtige und sich ständig wandelnde Umstände erzeugt werden - man erwartet nunmehr, dass der Einzelne ein „frei Wählender“ wird, der sämtliche Konsequenzen seiner jeweiligen Wahl trägt. Die Risiken, die jede Entscheidung mit sich bringt, mögen von Kräften verursacht werden, die jenseits des Begreifens und der Handlungsfähigkeit des Einzelnen liegen, und doch ist es das Schicksal und die Pflicht jedes Einzelnen, den Preis dieser Risiken zu zahlen, denn es gibt keine autorisierten Rezepte, die einen vor Irrtümern schützen könnten, wenn man sie nur ordentlich erlernte und pflichtschuldig befolgte beziehungsweise denen man im Fall eines Scheiterns die Schuld geben könnte. (FZ, 10) Damit sind Chancen und Risiken bezeichnet. Das Individuum - wohlgemerkt: das in den industrialisierten, wohlhabenden Gesellschaften lebende - ist in Freiheit gesetzt, es kann aus einer schier unendlichen Fülle von Möglichkeiten auswählen. Doch ist dies eine ‚riskante Freiheit‘, da es keine verbindlichen Orientierungsmuster oder Garantien für die notwendigen Entscheidungen gibt. Auch die Wahl, sich nicht zu entscheiden und sich nach unmittelbar zugänglichen Orientierungsangeboten zu richten, bedeutet eine Entscheidung zuungunsten zahlreicher anderer Möglichkeiten. Das literarische Feld ist von dieser Entwicklung auf allen seinen Ebenen betroffen. So gibt es keine Patentrezepte zum Erfolg für Autoren und Verlage. Der Autor kann sich an vorfindbaren, erfolgversprechenden Mustern orientieren, doch läuft er damit Gefahr, als epigonal, als unoriginell eingestuft zu werden und erfolglos zu bleiben. Der Lektor muss mit der Gefahr leben, dass die von ihm ‚gemachten‘ Bücher keinen Erfolg haben 251 Einheit 9 und er die falschen ausgewählt hat. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Verlage besonders erfolgreiche Bücher abgelehnt haben, ein bekanntes und gut dokumentiertes Beispiel ist der 1992 erschienene Roman Schlafes Bruder von Robert Schneider. 8 Dazu kommt, dass Beschäftigungsverhältnisse in literaturvermittelnden Berufen, wie generell in der Gesellschaft, nur noch für eine begrenzte Zeit halten. Wer als Lektor gut ist, steigt auf und geht zu einem anderen Verlag; wer Misserfolge verzeichnet, wird möglicherweise arbeitslos. Riskante Freiheiten also - das nötige Wissen über die Grundlagen der eigenen Arbeit kann das Risiko nicht ausschalten, aber zumindest minimieren. Postmoderne in der Literatur Wie kam es zu der skizzierten Entwicklung? Der Anfang der Postmoderne in der Literatur lässt sich genau festmachen, sie beginnt im symbolträchtigen Jahr 1968 mit einem Vortrag des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Leslie A. Fiedler in Freiburg. Der zunächst anhand von Notizen gehaltene Stegreifvortrag zum Thema The Case for Post-Modernism bekam in der ausgearbeiteten schriftlichen Version, die absichtsvoll auf Deutsch in Christ und Welt und auf Englisch in keiner anderen Zeitschrift als dem Playboy erschien, 9 den seither viel zitierten Titel Cross the Border - Close the Gap. Schon der Anfang des Aufsatzes ist programmatisch: Fast alle heutigen Leser und Schriftsteller sind sich der Tatsache bewußt, daß wir den Todeskampf der literarischen Moderne und die Geburtswehen der Post-Moderne durchleben. 10 Fiedlers Text ist typisch für die Zeit, da er als antiideologischer Text auftritt, aber eigentlich ideologisch grundiert ist, wobei die Grundierung eine für die USA durchaus übliche, aus westeuropäischer Perspektive aber eigenartige Mischung von sozialistischen und radikal demokratischen Überzeugungen ist. Fiedler möchte den Graben zwischen Höhenkamm- und Unterhaltungsliteratur schließen, der für ihn nur dazu dient, die Macht des Bürgertums zu festigen. Deshalb stellt er fest: „[…] der wirklich neue Roman muß anti-künstlerisch und anti-seriös sein“ (FÜ, 20). Denn die „Überbrückung der Kluft zwischen Elite- und Massenkultur“ sei „die exakte Funktion des Romans heute“ (FÜ, 21). Noch ein wichtiges Stich- 8 Vgl. Rainer Moritz (Hg.): Robert Schneider: Schlafes Bruder. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 1999 (RUB 16015). 9 Vgl. Uwe Wittstock: E wie U, Pop wie Pomo. In: Ders. (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994 (Reclam-Bibliothek 1516), S. 11-13, hier S. 11f. 10 Leslie A. Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994 (Reclam-Bibliothek 1516), S. 14-39, hier S. 14. Der Aufsatz wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle FÜ und Seitenzahl. 252 Einheit 9 wort wird in diesen Kontext eingeführt: „Folk Art kennt und akzeptiert ihren Platz in der Klassengesellschaft, die Pop zerstört […]“ (FÜ, 22f.). Der antibürgerliche Gestus kommt in extremen Teilforderungen besonders zum Tragen: Die Standardformen sexueller Kopulation, normal oder ‚poetisch‘ vermittelt, sind verflucht altmodisch, wenn nicht gar ein bißchen lächerlich: wir fordern Fellatio, Analverkehr und Flagellation, um sicherzugehen, daß wir Pornographie vor uns haben und keine Liebesgeschichte (FÜ, 29). Das hat auch Konsequenzen für die Beurteilung von Literatur, die nun die Frage, „ob ein Kunstwerk gut oder schlecht ist“, beantworten soll, „ohne sich der Distinktion zwischen hoch und niedrig unterwerfen zu müssen, dem verschleierten Klassenvorurteil“ (FÜ, 32). Allerdings wird damit bereits ein anderes Paradigma der Beurteilung vorgegeben - die Grenze verläuft nun zwischen (im Kontext der Zeit) politisch affirmativer, die Standesgrenzen akzeptierender, und politisch subversiver, die Standesgrenzen unterminierender Literatur. Mit anderen Worten: Literatur muss potentiell die Standesgrenzen subvertieren, um als Literatur ernstgenommen werden zu können, sie soll also auch im politischen Feld Wirkung entfalten. Da ästhetische Kriterien verabschiedet werden, lässt sich so „die Kluft zwischen Kritiker und Publikum“ einerseits, der Graben „zwischen Professionalismus und Amateurtum“ andererseits schließen (FÜ, 32). Das gilt auch für das Überwinden der Gattungsgrenzen. Die Songwriter Frank Zappa und Bob Dylan werden nun ganz selbstverständlich zur Literatur gezählt. Literaten, in diesem grenzüberschreitenden Sinn verstanden, haben wieder eine gesellschaftliche Aufgabe: Aber in einer Zeit der Überbrückung von Abgründen wird Literatur wiederum prophetisch und universell - eine fortdauernde Offenbarung, die einer permanenten religiösen Revolution entspricht, deren Funktion es genau ist, die weltliche Masse in eine heilige Gemeinde zu verwandeln, mit sich selbst eins und gleichermaßen zu Hause in der Welt der Technologie und im Reich des Wunders (FÜ, 39). Dies klingt nun wieder nach einer neuen Mythologie, hier weist Fiedlers Text bereits auf die Neomoderne oder die neoromantische Literatur voraus; auf eine Literatur also, die nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse reflektiert und kritisiert, sondern auch die Sehnsucht nach irgendeiner Form von Transzendenz artikuliert. Das war der Punkt, der in der Rezeption von Fiedlers Vortrag bzw. Aufsatz auf wenig Gegenliebe stieß und entweder umgedeutet oder gar nicht rezipiert wurde. Der Schriftsteller Jürgen Becker beispielsweise wendet sich gegen „Irrationalismen“ in der Literatur und verweist auf Gottfried Benn, der sich durch den Nationalsozialismus 253 Einheit 9 verzaubern ließ. Becker sieht Übereinstimmungen eher darin, dass „die rationale Analyse oder kritische Durchdringung der Verhältnisse […] am Ende ihrer Chancen ist“. Für ihn liegt das Moment der Transzendenz „im intermedialen Bereich, in einer künstlerischen Praxis also, die mit den historischen Arbeitsteilungen gebrochen hat“. 11 Hier handelt es sich um eine Auffassung von Transzendenz in dem Sinn, dass Ästhetik einen Mehrwert gegenüber dem Alltag aufweist, in einer Sprache, die eben nur von der Kunst gesprochen werden kann. Der (2003 verstorbene) Kritiker Reinhard Baumgart konzentriert sich dagegen auf das konkret gesellschaftsverändernde Potential der Literatur, wenn er feststellt: Die Lücke zu schließen zwischen einer hohen und einer trivialen Literatur, zwischen einem auf Bildung trainierten und einem „ungebildeten“ Publikum, das schiene fast allen wünschenswert, auch aus politischen Gründen. 12 Allerdings ist Baumgarts Text eine Positionsbestimmung des Übergangs, denn er weist auch auf die Bedeutung ästhetischer Kriterien hin und identifiziert als besonderes Merkmal der europäischen Postmoderne das „Spiel“, mit der Frage: Vielleicht wird Schiller, als Theoretiker der ästhetischen Erziehung des Menschen nämlich, doch wieder aktuell? Homo ludens, leider lateinisch, aber vielleicht wäre das die europäische Antwort auf die amerikanischen Entgrenzungsträume? 13 Noch ist es nicht so weit - Heiner Müller beispielsweise stellt programmatisch fest: Ich kann die Frage des Postmodernismus aus der Politik nicht heraushalten. Periodisierung ist Kolonialpolitik, solange Geschichte nicht Universalgeschichte, was Chancengleichheit zur Voraussetzung hat, sondern Herrschaft von Eliten durch Geld oder Macht [ist]. 14 Doch auch Müller möchte die Literatur nicht auf ein mimetisches, die Wirklichkeit abbildendes und dadurch kritisierendes Programm verpflichten, im Gegenteil: „[…] Kunst ist, was man will, nicht was man kann. […] der Anschein von Wahl ist ein Vorschein von Freiheit.“ 15 11 Jürgen Becker: Der Schrei. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994 (Reclam-Bibliothek 1516), S. 40-43, Zitate S. 40-42. 12 Reinhard Baumgart: Die Fünfte Kolonne der Literatur. Der Prediger Leslie A. Fiedler streichelt die Furien Nach-Moderne. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994 (Reclam-Bibliothek 1516), S. 46-57, hier S. 51. 13 Ebd., S. 56. 14 Heiner Müller: Die Schrecken die erste Erscheinung des Neuen. Zu einer Diskussion über Postmodernismus in New York. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994 (Reclam-Bibliothek 1516), S. 89-93, hier S. 90. 15 Ebd., S. 91. 254 Einheit 9 Dieses Merkmal der Freiheit durch ästhetisches Spiel wird in den folgenden Jahren immer wichtiger werden. 1987 fasst der Schriftsteller Hanns- Josef Ortheil die Tendenzen der Zeit wie der Literatur folgendermaßen zusammen: Die postmoderne Literatur ist die Literatur des kybernetischen Zeitalters. Sie verabschiedet nicht die ästhetischen Projekte der Moderne, sondern verfügt über diese als Modelle, die in Spiele höherer Ordnungen überführt werden. Dabei treten an die Stelle vom Autor und Erzähler ausgewiesener Weltbilder Strukturen, die dem Leser die entscheidende Arbeit zumuten. 16 Und weiter: Die möglichen Welten des postmodernen Romans sind jene Spielwelten, die, um einen wichtigen Theoretiker der postmodernen Handlungsorganisation, R. Buckminster Fuller, zu zitieren, „Bedienungsanleitungen für das Raumschiff Erde“ sind. Die postmoderne Perspektive ist dadurch nicht nur die umfassendere Ironie, gleichsam astronautischen Humors, sondern auch die, die es erlaubt, mit dem Empfinden einer berstenden, sich ins Kosmische weitenden Welt Schritt zu halten. Wendet sich diese Perspektive auf die Erde zurück, entdeckt sie unsere menschlichen Haushalte als Planspiele, die Geschichte als Variable (die auch anders hätte ausfallen können). 17 Man könnte auch sagen, dass die postmoderne Literatur zwischen dem Eröffnen und dem Verweigern von Orientierungsangeboten pendelt oder beides zugleich versucht - sie macht Angebote ohne verpflichtenden Charakter; es ist Aufgabe des Lesers, sich das herauszusuchen, was ihm Orientierung bieten kann. Wie schon in der Zeit um 1800, als Klassik und Romantik koexistierten, wird die Entzauberung der Welt literarisch inszeniert und es werden Wege diskutiert, das Vakuum mit etwas Neuem zu füllen. Anders als in der Zeit um 1800 ist es aber nicht mehr möglich, konkrete Perspektiven aufzuzeigen, die selbst für den einzelnen Text mehr als vorläufige Verbindlichkeit beanspruchen können. Uwe Wittstock hat dies, wenn auch etwas euphemistisch (es gibt immer noch Dogmen und Versuche, sie durchzusetzen), so formuliert: „Die Postmoderne […] stellt sich der Erkenntnis, daß der Absolutheitsanspruch einer Idee immer nur auf Kosten der legitimen Existenzrechte anderer Ideen durchzusetzen ist.“ 18 16 Hanns-Josef Ortheil: Was ist postmoderne Literatur? In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994 (Reclam-Bibliothek 1516), S. 125- 134, hier S. 126. 17 Ebd., S. 129. 18 Uwe Wittstock: Nachwort: Schreiben in den Zeiten des Zweifels. In: Ders. (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994 (Reclam-Bibliothek 1516), S. 315- 340, hier S. 321. 255 Einheit 9 In der Gegenwartsliteratur 19 eröffnen sich, grob gesagt, 20 drei Perspektiven: 1) Die Konzentration auf die gesellschaftlichen Probleme, die auf politische und ökonomische Ursachen zurückgeführt werden. Vor allem Günter Grass ist hier zu nennen, oder Günter Wallraff mit seinen Enthüllungsreportagen. Solche Autoren setzen an unterschiedlichen Problemen an (von Grass‘ Unterstützung der SPD in den 1960er und 70er Jahren bis hin zu Wallraffs Aufzeigen konkreter Missstände in Betrieben) und entwickeln - soweit dies Literatur überhaupt kann - verschiedene Lösungsvorschläge. Allerdings zeichnen sich auch die Texte von Grass und Wallraff durch neue Formen aus, mit denen sie experimentieren. So verweisen sie auf ihren Konstruktions- und Kunstcharakter. Man darf bezweifeln, dass diese Autoren ohne die besonderen formalen Qualitäten ihrer Texte so erfolgreich gewesen wären. 2) Die Verzauberung des Alltags auf der Basis des Gegebenen. Solche Autoren sind nah bei den positiven Perspektiven, die Ulrich Beck zeichnet; sie konzentrieren sich auf die Chancen der neuen Freiheiten, ohne die Risiken zu ignorieren. In diese Gruppe gehören beispielsweise Sven Regener mit Herr Lehmann (2001) oder Uwe Timm mit Romanen wie Johannisnacht (1996) - wobei Timm immer auch ein politischer Autor ist und ebenso der Kategorie 1 zugerechnet werden kann. 3) Die melancholische Klage über den Verlust eines Lebenssinns, der über die alltäglichen Verrichtungen hinausgeht. Prominente Vertreter gehören interessanterweise gerade der jungen oder jüngsten Generation an, besonders Benjamin Lebert, der als 17jähriger mit dem Internatsroman Crazy (1999) reüssierte, und Judith Hermann mit ihren Erzählungen (in den Bänden Sommerhaus, später von 1998 und Nichts als Gespenster von 2003) wären hier zu nennen. Sonderfälle, aber durchaus auch diesen Gruppen zuzuordnen, sind a) Autoren, die sich mit der Geschichte auseinandersetzen - das ist die Geschichte der DDR, aber auch Deutschlands insgesamt, ebenso wie die NS-Vergangenheit Österreichs. So unterschiedliche Autoren wie 19 Zur Gegenwartsliteratur gibt es mehrere Bestandsaufnahmen, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen; vgl.: Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. 2., überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Metzler 2003; Reinhard Baumgart: Deutsche Literatur der Gegenwart. Kritiken - Essays - Kommentare. München u. Wien: Hanser 1994; Volker Weidermann: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute. 3. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006; Helmut Böttiger: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wien: Zsolnay 2004; Thomas Kraft (Hg.): Aufgerissen. Zur Literatur der 90er. München u. Zürich: Piper 2000 [v.a. Autorenporträts]; Hubert Winkels: Gute Zeichen. Deutsche Literatur 1995-2005. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005. 20 Hier wird eine andere Kategorisierung als bisher vorgeschlagen. Schematisch ließe sich z.B. auch in Politisierung der Literatur in den 1960ern, die Neue Subjektivität der 1970er und die Neue Lesbarkeit seit den 1980ern unterteilen - und viele weitere Differenzierungen wären möglich. Aber es handelt sich ja nicht um eine Literaturgeschichte, sondern um ein notwendigerweise sehr knappes Kapitel über besondere Tendenzen der Gegenwartsliteratur, die für die Literaturvermittlung relevant sein könnten. 256 Einheit 9 Thomas Brussig, Günter Grass (seit den 1990er Jahren) oder Werner Schwab interessieren sich dafür, inwiefern die Geschichte die heutige(n) Gesellschaft(en) weiterhin prägt. Diese Autoren bzw. deren Werke gehören also überwiegend in Gruppe 1. b) Autoren, die utopische Welten konstruieren - vor allem ist hier die boomende Fantasy-Literatur gemeint. Interessanterweise sind sie vor allem der Gruppe 2 zuzurechnen. Michael Ende zeigt in Die unendliche Geschichte (1979) den Weg durch die Fantasie als Möglichkeit, sich mit den realen Problemen des Alltags (hier ist das die nach dem Tod der Mutter schwierige Vater-Sohn-Beziehung) bewusst auseinander zu setzen und die Chancen, die sich trotz der Probleme bieten, zu erkennen. Walter Moers entwirft mit Zamonien einen ganzen Kontinent und nimmt dafür Anleihen nicht nur in der Mythologie, sondern in allen Wissensgebieten. Für Moers ist Wissen Spielmaterial, aus dem sich etwas Neues formen lässt und mit dem sich zahlreiche Möglichkeiten ausprobieren lassen, wie man sein Leben mit Sinn ausstatten kann. Der Roman Die Stadt der träumenden Bücher von 2004 ist zugleich metafiktional, da er den Literaturbetrieb zu seinem Thema macht und ihn satirisch verfremdet. 21 Bei Autoren wie Moers zeigt sich der Übergang zwischen den Kategorien. In Rumo & Die Wunder im Dunkeln (2003) wird bei allem postmodernen, ironischen Spiel doch eine Liebesgeschichte inszeniert, die extremer nicht sein könnte - hier berühren sich die Möglichkeiten der Verzauberung des Alltags mit der Suche nach neuer Transzendenz. Moers ist auch ein gutes Beispiel für die autoren- und genreübergreifenden Merkmale der postmodernen Literatur, für ihren Zitatcharakter, das polyphone Erzählkonzept, das Spiel mit Traditionen und für die - von Fiedler konstatierte - Einebnung der Schwelle zwischen populärer und Hochkultur. Der Autor Klaus Modick hat 1988 diese Tendenzen beschrieben und programmatisch festgestellt: „Ein Buch, das nicht unterhält, lehrt auch nichts und niemanden.“ 22 Unterhaltung wird hier nicht als platte Bedienung von Konsuminteressen verstanden, sondern als Versuch, keine ‚schwierige‘ Lektüre zu bieten, aber dennoch komplexe Themen auf innovative Weise zu behandeln. Sprachexperimente scheinen nur noch möglich zu sein, wenn sie den Lesefluss nicht unnötig hemmen - oder das Publikum, das sie ansprechen, ist sehr klein. Noch deutlicher lässt sich die skizzierte Entwicklung im Film beobachten. Der Forderung von Fiedler, Pornographie an die Stelle konventioneller, bürgerlicher Liebe zu setzen, sind Autoren und Filmemacher der 21 Vgl. Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher. Ein Roman aus dem Zamonischen von Hildegunst von Mythenmetz. 9. Aufl. München u. Zürich: Piper 2007. 22 Klaus Modick: Steine und Bau. Überlegungen zum Roman der Postmoderne. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994 (Reclam- Bibliothek 1516), S. 160-176, hier S. 173. Zum Zitatcharakter, zur Polyphonie und zum spielerischen Umgang mit Traditionen vgl. S. 163ff. 257 Einheit 9 1970er Jahre nachgekommen, doch auch Filme wie Bernardo Bertoluccis Der letzte Tango in Paris von 1972 bis hin zu Patrice Chéreaus Intimacy von 2001, so skandalträchtig sie (gewesen) sein mögen, und vergleichbar wirkende Texte bis hin zu Charlotte Roches Roman Feuchtgebiete von 2008 weisen auf das Vakuum, das durch die Suspendierung des im 18. Jahrhundert etablierten bürgerlichen Liebeskonzepts entsteht. Selbst in den postmodernen Blockbustern von Star Wars bis Herr der Ringe oder Spiderman, interessanterweise nun auch in den beiden James-Bond-Filmen von 2006 und 2008 mit Daniel Craig (Bond war vorher stets ein Paradebeispiel für Promiskuität, wenn auch mit einem Augenzwinkern) steht die wahre, die einzige Liebe im Zentrum der Sinnproduktion (auch wenn Bond am Schluss von Quantum of Solace diese Anwandlung der Neoromantik wieder zu überwinden vermag). Vergleichbar funktioniert die Fülle der erfolgreichen Unterhaltungsliteratur, man denke an so unterschiedliche Autoren wie Johannes Mario Simmel und Rosamunde Pilcher. Wie jede Systematik wird auch die hier vorgeschlagene angreifbar sein, aber wie andere Systematiken hat diese den Vorteil, das literarische Feld auf eine bestimmte Art und Weise zu strukturieren. Und wie jede andere Systematik kann auch sie nur ein Angebot sein, über die Merkmale und Ausdifferenzierungen der Gegenwartsliteratur nachzudenken. Im Folgenden sollen, um die Reflexion über die Gegenwartsliteratur zu befördern (und nicht, um sie einzugrenzen), einige Schlaglichter auf das hier abgesteckte Feld geworfen werden. Die Postmoderne als Identitätsproblem Die Beschäftigung mit der Geschichte kann Sicherheit bieten und Unsicherheiten hervorrufen. Wie bereits von Ulrich Beck und anderen beobachtet, haben wir es mit einem kollektiven Identitätsproblem zu tun, hervorgerufen durch einen fehlenden Orientierungsrahmen. Alles scheint möglich geworden zu sein, etwa jede zweite Ehe wird geschieden, Kinder werden in Reagenzgläsern gezeugt und Beschäftigungsverhältnisse gibt es bestenfalls noch auf Zeit. Wenn eine US-Bank wie Lehman Brothers Pleite geht, kann dies eine weltweite Krise auslösen; die Auswirkungen der Globalisierung machen die einst so sicher scheinende westliche Welt abhängig von Menschen, Unternehmen und Regionen, von denen viele zum ersten Mal hören, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Diese Problematik der Postmoderne ist schon früh erkannt worden, so hat Hans Magnus Enzensberger 1981 festgestellt: „Je mürber die eigne Identität, desto dringender das Verlangen nach Eindeutigkeit.“ 23 Die- 23 Hans Magnus Enzensberger: Das Ende der Konsequenz. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994 (Reclam-Bibliothek 1516), S. 93-115, hier S. 97. 258 Einheit 9 se Eindeutigkeit ist aber nicht mehr zu haben, daher versucht Literatur entweder partielle Möglichkeiten von Eindeutigkeit - oder besser gesagt: von Orientierung - durchzuspielen, sofern sie sich nicht dafür entscheidet, lediglich den Verlust zu inszenieren; ab und zu lustvoll, doch noch öfter melancholisch. Enzensberger hat mit der Entwicklung offenbar kein Problem, im Gegenteil: „Die unglückliche Liebe zur Konsequenz scheint eine deutsche Obsession zu sein“, heißt es lakonisch, 24 und wenig später sogar warnend: „Nichts ist schematischer als der Amoklauf der Unbeirrbaren.“ 25 Autoren eint aber auch die Überzeugung, dass Literatur trotz allem eine identitätsstiftende Funktion haben kann - würden sie sonst schreiben? Uwe Timm vertritt diese Auffassung besonders offensiv, er pocht immer wieder, in seinen Essays wie literarisch-praktisch in seinen Romanen und Novellen, auf die „identitätsbildende Form des Erzählens“ 26 - seine Figuren bilden ihre Identität durch das Erzählen heraus oder können sich ihrer durch Erzählen vergewissern. Timm illustriert seine Thesen durch eine kleine Episode: Auf seiner Fahrt durch Paraguay sei er ständig durch Militär kontrolliert worden. Erst als er aufgehört habe im Bus zu lesen, habe ihn niemand mehr behelligt. Für Timm ist das ein Beleg für das gesellschaftlich Produktive von Literatur: „Wer liest, nimmt für sich eine grundsätzliche Freiheit in Anspruch.“ 27 Timm hat in vielen Romanen die Identitätsprobleme des postmodernen Subjekts exemplarisch vorgeführt und dabei Lösungsansätze - vor allem durch Erzählen - präsentiert, ohne den Leser zu bevormunden. Auch Timm vertritt ein Konzept von Literatur, das es dem Leser überlässt, eigene Schlüsse zu ziehen und die exemplarischen Lebensläufe der Figuren auf sein eigenes Leben zu beziehen. Ein Roman, der die Orientierungslosigkeit des Subjekts besonders eindrucksvoll in Szene setzt, ist Der Schlangenbaum von 1986. Der Ingenieur Wagner tritt eine Stelle in einem südamerikanischen Land an, das unschwer als Argentinien zu erkennen ist. Er sieht sich in seiner Ehe und in seiner Arbeit in Deutschland in einer Sackgasse, die Affäre mit der Frau eines Freundes hat die Situation nur verschärft. Der zeitlich begrenzte Aufenthalt in der Fremde ist ein Versuch, vor den Problemen zuhause zu fliehen. Der Bau der „Papierfabrik mitten im Urwald“, 28 den Wagner leiten soll, stellt sich wegen der politischen Verhältnisse von Diktatur und Revolutionsbestrebungen, aber auch wegen der gänzlich anderen Kultur, auf die die europäischen Bauherren keine Rücksicht nehmen, als außer- 24 Vgl. ebd., S. 99. 25 Ebd., S. 101. 26 Uwe Timm: Im Lauf der Zeit oder Der schöne Überfluß [1993]. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig: Reclam 1994 (Reclam-Bibliothek 1516), S. 245-264, hier S. 252. 27 Ebd., S. 264. 28 Uwe Timm: Der Schlangenbaum. Roman. München: dtv 1999, S. 19. 259 Einheit 9 ordentlich schwierig heraus. Wagner kommt, so könnte man sagen, vom Regen in die Traufe. Er wird auf diese Weise aber auch zum Stellvertreter einer neokolonialen Macht, die Wirtschaftsinteressen ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Menschen eines Entwicklungslandes durchzusetzen versucht und damit notwendigerweise scheitert. Schon am Anfang des Romans wird auf dieses Scheitern durch Sätze und Symbole vorausgedeutet, etwa wenn Wagner eine für die Einheimischen heilige Schlange überfährt und er die Bedeutung dieses Unfalls nicht versteht. 29 Wagner hat eine Affäre mit seiner 19jährigen Sprachlehrerin Luisa, die kurz darauf verschwindet, vermutlich wurde sie aus politischen Gründen von der Militärregierung abgeholt. Damit ist Wagners Traum, „in ein anderes Leben“ treten zu können, geplatzt; seine Versuche, Luisa wiederzufinden, scheitern. 30 Der offene Schluss lässt Wagner in einer apokalyptischen Situation zurück - der Strom und damit auch die Klimaanlage in dem Ghetto der Reichen und Ausländer ist ausgefallen, durch „den Wasserhahn zwängen sich ungewöhnlich große und dicke Kakerlaken“, Wagner „hat das Gefühl, innerlich zu verglühen“. 31 Der Roman eröffnet zwei Möglichkeiten, wie es weitergehen könnte: 1) Wagner (der erkennbar in der Tradition der Titelfigur von Max Frischs Homo faber steht) scheitert psychisch wie physisch mit seinem Versuch, in einer radikal fremden Umgebung ein neues Leben zu beginnen; 2) Wagner lernt das Fremde zu akzeptieren und gibt seinen Versuch auf, ein anderer als er selbst sein zu wollen. Timm bezieht sich ironisch auf die Tradition neoromantischer Literatur, wenn er seiner Hauptfigur den Namen des berühmten Komponisten gibt und das Reichenghetto auf einem Hügel ansiedelt. Eine Wiederkehr romantischer Gefühle ist, zumindest unter den falschen Voraussetzungen, für Timms Figuren ausgeschlossen und eine Heilserwartung, die auf Hilfe von außen hofft, fehl am Platz. Reisende Figuren, die nirgendwo ankommen, finden sich überall in der Gegenwartsliteratur. Die gelockerten Familienbande, fehlenden Freunde und prekären Arbeitsverhältnisse hinterlassen deutliche Spuren, wobei die neuen Verhältnisse nicht larmoyant beklagt werden. Offenheit und Ironie ermöglichen Spiel-Räume für Autor und Leser, eindeutige Stellungnahmen sind nicht oder kaum zu finden. Ein Beispiel ist Peter Henischs (geb. 1943) Roman Die schwangere Madonna von 2005: 32 Ich-Erzähler Josef Urban verliert seine Stellung als ‚fester freier‘ Rundfunkmitarbeiter, seine Ehe ist bereits gescheitert, zu seinem Sohn Max hat er kein gutes 29 Vgl. ebd., S. 28, 34 u. 72. 30 Vgl. ebd., S. 166ff. 31 Vgl. ebd., S. 307f. 32 Vgl. Peter Henisch: Die schwangere Madonna. Roman. Ungek. Ausg. München: dtv 2007. 260 Einheit 9 Verhältnis. Urban trägt sich mit Selbstmordgedanken und entwendet in einer Kurzschlusshandlung einen VW Golf, 33 an dessen Tür der Schlüssel steckt. In dem Wagen liegt hinten ein schlafendes Mädchen, eine Maturantin (Abiturientin), die ein Verhältnis mit dem Religionslehrer Barbach hat - ihm gehört der Wagen. Das Mädchen glaubt, dass es schwanger ist, doch ihr Liebhaber, der Referendar, hat sich verleugnet, sie hat ihm die Schlüssel gestohlen und auf ihn im Wagen gewartet. Das ungleiche Paar beschließt, nach Italien zu fahren. Die ziellose Reise ist geprägt von der halb väterlichen, halb erotischen Faszination, die für Urban von Maria ausgeht. Er schlüpft immer mehr in die Rolle Barbachs, der die beiden sucht, findet und schließlich betrunken, von Urban unabsichtlich (oder doch absichtlich? ) angestoßen, in einem Hafenbecken landet. Ob Barbach Maria zu einer Abtreibung überreden wollte, ist wahrscheinlich, aber es wird ebenso nur angedeutet wie sein Tod durch Ertrinken. Maria verliebt sich in den jungen Italiener Francesco, es stellt sich heraus, dass sie nicht schwanger ist, und die beiden fliegen nach Südamerika. Urban erzählt - das ist die Rahmenhandlung - seine Geschichte einem italienischen Commissario, der ihn verhört. Während Urban und Barbach jede Orientierung verloren zu haben scheinen, klingt in dem utopischen, aber auch ironischen Flug der beiden jungen Leute ein Happy-End an. Die Identifikation mit dem Ich-Erzähler und das ungebundene, rücksichtslose Verhalten Marias stehen dagegen - insofern handelt es sich auch um einen der in der Gegenwartsliteratur zahlreichen Generationenromane, der altersspezifische Unterschiede in Wahrnehmung und Verhalten der gegenwärtigen Lebensbedingungen diskutiert. Die Distanz erzeugende Ironie des Romans wird aber bereits auf der Textoberfläche deutlich - Josef und die schwangere Maria unterwegs auf Herbergssuche, das Fresko der schwangeren Madonna in einer italienischen Kleinstadt. Ironie und Distanz können auch über ein metafiktionales Erzählkonzept transportiert werden, also über eine Erzählkonstruktion, die deutlich auf den fiktionalen Charakter des Texts hinweist. In Henischs Roman kann das Protokollieren von Urbans Aussage als entsprechendes Signal gewertet werden. Raoul Schrotts (geb. 1964) monumentaler Roman Tristan da Cunha von 2003 enthält mehrere solcher Berichte, die kunstvoll ineinander verschachtelt werden. Auch hier gibt es wieder einen Bezug zur Bibel - alle Frauen in den unglücklichen Liebesbeziehungen (mit Ausnahme der Rahmenhandlung) tragen den Namen Marah (hebr. ‚die Bittere‘) in sprachlichen Variationen, von den zahlreichen anderen Anspielungen auf das Alte Testament ganz abgesehen. Kontrastierend dazu heißt die Protagonistin der Rahmenhandlung Noomi - (hebr. ‚die Liebenswürdige‘), doch auch 33 Ob das ein unmarkierter intertextueller Verweis auf das Buch von Florian Illies ist? Vgl. die weiteren Ausführungen. 261 Einheit 9 ihre Liebe bleibt unerfüllt - der Roman beginnt im ewigen Eis und endet mit einer Totgeburt. 34 Während Schrott die Geschichte mehrerer Jahrhunderte im subjektiven Erleben der Figuren Revue passieren lässt, macht Ulrich Woelk (geb. 1960) den Unterschied zwischen der Generation der 1968er und der Nachfolgegeneration zum Thema. Auch sein Roman Rückspiel von 1993 ist oder wird metafiktional - er endet mit folgender Passage: In meinem Kopf ist alles ausgelöscht, und was ich schreibe, entsteht in dem Moment, da ich es in die Maschine gebe. Es ist keine Geschichte mehr, keine Reflexionen [sic], es ist nur noch das, was im Moment kommt und im nächsten Jahr schon wieder vergangen ist. Nur dadurch, daß meine Finger noch über die Tasten laufen, wird es aufgezeichnet. [...] In mir ist nur noch ein weißes Blatt, auf das ich systemlos schreibe, was ich für den Augenblick zu fassen kriege. Und alles endet in dem Moment, in dem ich die Finger von den Tasten hebe. 35 Weniger Kritik an den 1968ern als vielmehr Selbstkritik an der eigenen, jüngeren Generation findet sich in andern Büchern, etwa in Florian Illies‘ zum Bestseller gewordenem, buchlangem Essay Generation Golf von 2000. Die wie er „zwischen 1965 und 1975 Geborenen“ (Illies ist Jahrgang 1971) bezeichnet er „als Fanatiker des Allgemeinindividualismus“. 36 Die Sozialisierung durch das Fernsehen sieht er als einen der Gründe für politische Abstinenz und fehlendes gesellschaftliches Engagement einerseits, mangelnden Dogmatismus (wie er ihn den 1968ern unterstellt) 37 andererseits: Wir wachen morgens nicht auf und denken: Mist, Mathearbeit. Sondern: Leben, 1237. Folge, mal gucken, was kommt. Das macht wahrscheinlich die merkwürdige Gelassenheit aus, die die Älteren nie verstehen werden. Der Film Lola rennt von Tom Tykwer bietet noch eine andere Erklärung an: Wenn Lola dreimal die Chance bekommt, eine verfahrene Situation zu bereinigen, dann ist das vor allem eine Übertragung des Prinzips der drei Leben aus den Computerspielen und Gameboys auf die Wirklichkeit. Wenn es einmal nicht so läuft, hat man immer noch zwei Leben frei. 38 Der Individualismus dieser Generation ist ein signifikant anderer als jener im Rahmen der ‚Neue Subjektivität‘ der 1970er, er kommt äußerlich angepasst daher und ist konsumorientiert. Illies‘ verweist auf den Markenfetischismus und den Narzissmus der Figuren in Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho (von 1991, 2000 verfilmt). In der Tat kann man, von den Gewaltszenen des Romans abgesehen (die in Deutschland zur In- 34 Vgl. Raoul Schrott: Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde. Roman. Frankfurt/ Main: Fischer 2006. 35 Ulrich Woelk: Rückspiel. Roman. Frankfurt/ Main: Fischer 1995, S. 295. 36 Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Frankfurt/ Main: Fischer 2005, S. 19 u. 91. 37 Vgl. ebd., S. 155. 38 Ebd., S. 127. 262 Einheit 9 dizierung von 1995-2001 führten), den 1964 geborenen Ellis als das vielleicht wichtigste Vorbild für die sogenannte Popliteratur der 1990er Jahre sehen, als erster und überhaupt zentraler Roman im deutschsprachigen Raum ist Christian Krachts Faserland von 1995 zu nennen. Der 1966 geborene Kracht schildert die Reise eines jungen Mannes von Sylt bis an den Zürichsee. Der Ich-Erzähler ist materiell abgesichert, legt Wert auf Kleidung und andere Äußerlichkeiten und scheint zu keiner engeren Bindung fähig zu sein. Seinen weinenden Freund Rollo lässt er allein, stiehlt dessen Porsche und liest wenige Tage später, scheinbar ohne jede Anteilnahme, von Rollos Selbstmord: „Rollo, der junge Millionärserbe, dessen Vater in Indien ist und dessen Mutter in einer Anstalt in der Nähe von Stuttgart.“ 39 Tatsächlich scheint sich die Familie des Ich-Erzählers nicht sehr von der Rollos zu unterscheiden; der Erzähler erinnert sich daran, dass sein Vater ihn zwar manchmal auf Geschäftsreisen mitgenommen, aber eigentlich immer allein gelassen hat. 40 Einsamkeit ist auch das große Thema der Erzählungen von Judith Hermann (geb. 1970), die zum sogenannten „Fräuleinwunder“ gezählt wurde und mit Sommerhaus, später von 1998 einen für eine Sammlung von Erzählungen (Romane verkaufen sich üblicherweise viel besser) phänomenalen Erfolg verbuchen konnte. Geschildert werden Beziehungsgeschichten, die eigentlich keine sind, weil sich die in der Regel materiell abgesicherten Protagonisten entweder gar nicht oder nur vorübergehend näher kommen. Die Titelgeschichte ist insofern paradigmatisch: Eine in Berlin lebende Ich-Erzählerin lässt sich wie andere junge Frauen in ihrem Haus für kurze Zeit mit dem Taxifahrer Stein ein. Wie bei Kracht besteht die Kommunikation aus Banalitäten, wenn nicht sowieso geschwiegen und alles Mögliche konsumiert wird, um die innere Leere zu kaschieren: Wir hörten Paolo Conte aus Heinzes Ghettoblaster, schluckten Ecstasy und lasen uns die besten Stellen aus Bret Easton Ellis[’] American Psycho vor. Falk küßte Anna, und Anna küßte mich, und ich küßte Christiane. Stein war manchmal dabei. Er küßte Henriette, und wenn er das tat, schaute ich weg. 41 Das Wegschauen zeigt, dass die Ich-Erzählerin für Stein Gefühle empfindet, sie aber nicht zulässt. Stein kauft im Berliner Umland ein baufälliges Haus und renoviert es. Steins Versuche, die Erzählerin mit Postkarten indirekt aufzufordern, zu ihm zu ziehen, bleiben erfolglos; wenn man davon absieht, dass die Erzählerin „enttäuscht“ ist, wenn die Karten ausbleiben. Stein schickt ihr einen Zeitungsartikel zu, in dem von dem Brand des Hauses berichtet wird - was impliziert, dass Stein den Brand aus Enttäuschung über 39 Christian Kracht: Faserland. Roman. München: Goldmann 1997, S. 141 u. 146 (Zitat). 40 Vgl. ebd., S. 85. 41 Judith Hermann: Sommerhaus, später. Erzählungen. 11. Aufl. Frankfurt/ Main: Fischer 2006, S. 153. 263 Einheit 9 sein fruchtloses Liebeswerben gelegt hat. Die Ich-Erzählerin, die mit Falk im Bett liegt, steht auf „[...] und lief ins hintere Zimmer, zog die Schreibtischschublade auf und legte den Briefumschlag zu den anderen Karten und dem Schlüsselbund [des abgebrannten Hauses]. Ich dachte: ‚Später.‘“ 42 Die Einsamkeit bedingt zugleich die (in der Regel als unstillbar inszenierte) Sehnsucht nach Nähe, die transzendentale Ortlosigkeit des Subjekts ist Gegenstand vieler Texte der jüngeren Gegenwartsliteratur. Das kann auch kitschig werden, etwa bei Benjamin Lebert (geb. 1982), der es allerdings vermochte, Teenager und junge Erwachsene für seine Literatur zu begeistern und wie ein Popstar gefeiert zu werden. Sein Debütroman Crazy von 1999, eine Internatsgeschichte, wurde sogar verfilmt. Der Roman Der Vogel ist ein Rabe von 2003 ist freilich noch melodramatischer in seiner Inszenierung des Identitätstraumas der Postmoderne. Ich-Erzähler Paul ist ein Wohlstandskind, von den Eltern vernachlässigt und ohne jede Orientierung. Dem entspricht das Motiv der Reise - der Roman schildert eine nächtliche Zugfahrt von München nach Berlin. Henry fährt mit im Abteil und äußert sich im Stil der Dr.-Sommer-Rubrik in der Jugendzeitschrift Bravo: „Ich weiß nicht, wie das bei dir ist, mein großes Problem sind die Mädchen. Ich wollte immer mit einem Mädchen zusammen sein. Und ich hab’ es nie geschafft.“ 43 Der schweigsame Paul hütet ein tieferes, wenn auch nicht weniger triviales Geheimnis - in Berlin nimmt ihn die Polizei fest, wegen Mordes an einer Prostituierten. Die Schilderung der kurzen ‚Liebe‘ Pauls zur käuflichen Mandy überschreitet jede Kitschgrenze. 44 Nicht zuletzt dank des Verlags von Lebert - Kiepenheuer & Witsch - wurden die Bücher des jungen Autors von der Literaturkritik sehr beachtet und teilweise auch gelobt. Dass die Romane ein monogames Liebeskonzept von der Jungfräulichkeit bis zum Tod propagieren, in dem den Frauen (oder: Mädchen) die Rolle zugedacht ist, Männer ‚glücklich‘ zu machen, ist ein Zeichen dafür, wie populär dieses Konzept in Zeiten fehlender verbindlicher Werte selbst oder gerade unter jungen Leuten wieder geworden ist. Andere Autoren zeigen, dass man auch mit innovativen Erzählkonzepten Erfolg haben kann, beispielsweise Wolf Haas (geb. 1960). Anklang fand besonders die ganz untypische Figur des Detektivs Simon Brenner, der von 1996-2003 in sechs Romanen mit Hilfe von Kommissar Zufall Kriminalfälle aufklären durfte. Brenner ist eine postmoderne Detektivfigur, einsam, ein Verlierer und - das macht ihn vermutlich zur Identifikationsfigur für Leser - dennoch positiv dem Leben gegenüber eingestellt. Die für ihn typische umfassende, auch das eigene Erzählen unterminierende Ironie treibt Haas in seinem Roman Das Wetter vor 15 Jahren von 2006 auf die Spitze. Der Roman besteht aus einem Interview, das eine „Wolf Haas“ genannte 42 Vgl. ebd., S. 155f. (Zitat S. 156). 43 Benjamin Lebert: Der Vogel ist ein Rabe. Roman. 2. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003, S. 17. 44 Vgl. ebd., S. 123ff. 264 Einheit 9 Figur einer „Literaturbeilage“ genannten Frau gibt, über einen Roman mit dem Titel „Das Wetter vor 15 Jahren“. Im Gespräch wird, scheinbar ohne Rücksicht auf die Chronologie (die neue zeitliche Ordnung dient dem Aufbau von Spannung und der Parodie traditioneller Erzählmuster), über die Handlung des Romans diskutiert. Wie sich herausstellt, geht es um Vittorio Kowalski aus Essen und seine österreichische Jugendliebe Anni. Die Figur Wolf Haas gibt vor, Kowalski im Fernsehen bei seinem Auftritt in Wetten, dass ... gesehen zu haben und so auf die Idee zu dem Roman gekommen zu sein. Der verliebte Kowalski hat sich das Wetter jedes Tages im früheren österreichischen Urlaubsort eingeprägt, an dem er nicht mit Anni zusammensein konnte. In der gesprächsweise erzählten Handlung spielt der Autor Haas mit zahlreichen traditionellen Klischees: Kowalskis Mutter hatte ein Verhältnis mit Annis Vater; in dessen Schmugglerversteck suchten die beiden Jugendlichen vor einem Gewitter Zuflucht und hatten dort ihr erstes Liebeserlebnis; weil die Höhle versperrt war, kam der Vater nicht hinein und verunglückte tödlich. Als Kowalski von Annis Heiratsplänen hört, fährt er in die Berge und wird in jener Höhle verschüttet - die er mit Sprengstoff aus dem alten Schmugglerlager in der Minute der Trauung in die Luft jagt. Praktischerweise führt Annis Bräutigam Lukki die Rettungsarbeiter an und verunglückt dabei - der Weg für ein Happy End dieser haarsträubenden Geschichte ist frei. Auch über die Symbolik des Schlusses entzündet sich ein Streitgespräch zwischen „Wolf Haas“ und der „Literaturbeilage“, die den Kuss, den Anni Kowalski gibt, als symbolische Repräsentation des Sexualakts liest: Literaturbeilage Aber die Indizien im Text sind doch würklich mehr als eindeutig. Wolf Haas Jetzt hab ich extra keinen Krimi geschrieben, und Sie kommen wieder mit Indizien daher. Literaturbeilage Sie können doch nicht allen Ernstes diese romantisierte Version „nur ein Kuss“ aufrechterhalten. Ich hab Ihnen nur zugute gehalten, dass Sie es dem Leser überlassen wollen, aus freien Stücken draufzukommen. Das kann ja auch ermüdend sein, wenn in einem Text alles erklärt wird. Wolf Haas Dem Leser überlasse ich grundsätzlich nichts. [...] Literaturbeilage Spritzende Vulkane, penetrantes tock tock tock, das sind alles Sachen, die nicht mit Küssen einhergehen, Herr Haas. 45 „Wolf Haas“ will der „Literaturbeilage“ aber nur verraten, was sich zwischen den Jugendlichen in der Höhle wirklich ereignet hat, wenn sie ihr Aufnahmegerät ausschaltet - womit der Roman endet ... 45 Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren. Roman. 3. Aufl. Hamburg: Hoffmann und Campe 2006, S. 223. 265 Einheit 9 Die Rückkehr der Geschichte Zwar hat es auch schon vor 1990, eigentlich zu jeder Zeit, ein mehr oder weniger großes Interesse an Literatur gegeben, die sich mit historischen Ereignissen beschäftigt. Allerdings kann man sagen, dass das Interesse an der Geschichte seit 1990 deutlich gewachsen ist. Der offensichtliche Grund dürfte, mit dem Fall der Berliner Mauer als zentralem symbolischem Ereignis, das Ende der sozialistischen Staaten und damit auch der Utopie einer gleichen, gerechten Gesellschaft abseits von marktwirtschaftlicher Orientierung gewesen sein. Allerdings gehört auch dies in den größeren Kontext der Postmoderne, als weitere und vielleicht sogar entscheidende Erosion sinnstiftender Orientierungsmuster. Das gilt für konservative Überzeugungen in eingeschränkter Weise auch, schließlich haben sie ihr sozialistisches Feindbild verloren. Sie sind in ihrer Auffassung, nur eine (wie auch immer gestaltete) marktwirtschaftliche Ordnung könne die gesellschaftliche Fortentwicklung sichern, bestärkt worden, doch ist diese Überzeugung durch die Finanz- und Wirtschaftskrisen der letzten Jahre allerdings ebenfalls problematisch geworden. Literatur hat sich unmittelbar und in vorderster Linie als Schauplatz der Auseinandersetzung über die Erinnerung an das Vergangene erwiesen, da die Erinnerung letztlich über die weitere Entwicklung mitbestimmt. 46 Herausragend ist hier der Streit um Christa Wolfs Ende 1989 abgeschlossene und Anfang 1990 publizierte Erzählung Was bleibt, die mit dem Datum „Juni-Juli 1979 / November 1989“ versehen ist 47 und einen als exemplarisch lesbaren Tag im Leben einer von der Staatssicherheit bespitzelten Autorin erzählt. Thomas Anz hat den Diskurs über die Erzählung als „Literaturstreit im vereinigten Deutschland“ bezeichnet und entsprechend dokumentiert. 48 Dabei betont Anz auch den politischen Charakter des Schlagabtauschs in den Medien: Der Streit um Christa Wolf hätte nie ein derartiges Echo gefunden, wäre vielleicht gar nicht entbrannt, wenn er Literaturkritikern und Schriftstellern nicht die Gelegenheit geboten hätte, sich zu diesen Ereignissen [s.o.] und ihren Folgen für die deutsche Literatur öffentlich zu äußern. 49 46 In der Wissenschaft ist man schon vor längerer Zeit auf diese Entwicklung aufmerksam geworden. Zur Kategorie der Erinnerung als „neues Paradigma der Kulturwissenschaften“ vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 4. Aufl. München: C. H. Beck 2002 (beck’sche reihe), S. 11. 47 Vgl. Christa Wolf: Was bleibt. Erzählung. München: dtv 1994, S. 108. 48 Vgl. Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Erw. Neuausg. Frankfurt/ Main: Fischer 1995. 49 Thomas Anz: Der Fall Christa Wolf und der Literaturstreit im vereinten Deutschland. In: Ders. (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Erw. Neuausg. Frankfurt/ Main: Fischer 1995, S. 7-28, hier S. 8. 266 Einheit 9 Christa Wolf galt seinerzeit als vielleicht wichtigste in der DDR lebende Autorin, sie wurde in Ost und West als Kritikerin des DDR-Regimes angesehen und ihre Bücher wurden entsprechend rezipiert. Ihr herausragender Status ermöglichte ihr, im Unterschied zu anderen Autoren, verschiedene Freiheiten (etwa bei Reisen), die nach der sogenannten Wende nun als Privilegien dafür verstanden wurden, dass ihre politische Kritik nie die Grenze zur direkten Anklage überschritten hatte. Auf die Person Christa Wolf bezogen drehte sich die Debatte darum, ob sie als „DDR-Staatsdichterin“ (Marcel Reich-Ranicki) 50 bzw. „Staatsdichterin der DDR“ (Ulrich Greiner) 51 Mitschuld am Fortbestehen der DDR getragen oder durch ihre subversive Kritik das Ende dieses Staates mit vorbereitet hatte. „Ihr ist nichts vorzuwerfen“, meint dagegen Volker Hage und bewertet auch die ästhetische Qualität von Wolfs Texten (die von Reich-Ranicki und Greiner abqualifiziert worden war) überaus positiv. 52 Eine Korrelation der Beurteilung politischer und ästhetischer Merkmale in der Debatte ist unverkennbar. Der weitere Verlauf des Streits lässt sich bei Anz nachlesen, außerdem gab es mehrere Nachbeben, etwa als Christa Wolf 1993 selbst bekannt machte, dass sie kurze Zeit als Informelle Mitarbeiterin (IM) der Staatssicherheit geführt worden war. 53 Eine kühle Aufnahme des Romans Medea (1996) durch die Literaturkritik folgte, weil die beiden Staaten der Handlung, Kolchis und Korinth, von vielen Kritikern direkt mit der DDR und der BRD in Beziehung gesetzt wurden und der Roman - ebenso vereindeutigend wie einseitig - als Festhalten am sozialistischen Ideal gelesen wurde. Christa Wolfs Ansehen war in der öffentlichen Wahrnehmung für etwa ein Jahrzehnt beschädigt, doch war und ist sie, nicht zuletzt aufgrund ihrer innovativen Erzählkonzepte, weiterhin eine international angesehene Autorin, zu der zahlreiche literaturwissenschaftliche Arbeiten entstanden sind und entstehen. Der zweite große politische Literaturskandal der 1990er Jahre betraf den bekanntesten westdeutschen Autor, Günter Grass. Auch dieser Streit drehte sich um die Frage des ‚richtigen‘ Erinnerns der jüngsten deutschen Geschichte. 1995 veröffentlichte Grass seinen voluminösen Roman Ein weites Feld, in dem er die Ereignisse vor, während und nach der sogenannten Wiedervereinigung von DDR und BRD kritisch reflektierte. Dabei ist 50 Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Macht Verfolgung kreativ? Polemische Anmerkungen aus aktuellem Anlaß: Christa Wolf und Thomas Brasch. In: Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Erw. Neuausg. Frankfurt/ Main: Fischer 1995, S. 35-43, hier S. 35. Der Artikel erschien bereits am 20.11.1987, also zwei Jahre vor dem Fall der Mauer, in der Zeit . 51 Ulrich Greiner: Mangel an Feingefühl. In: Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Erw. Neuausg. Frankfurt/ Main: Fischer 1995, S. 66-70, hier S. 66. Der Artikel erschien am 1.6.1990 in der Zeit . 52 Vgl. Volker Hage: Kunstvolle Prosa. In: Thomas Anz (Hg.): „Es geht nicht um Christa Wolf“. Der Literaturstreit im vereinigten Deutschland. Erw. Neuausg. Frankfurt/ Main: Fischer 1995, S. 71-76, Zitat S. 71. Hages Artikel wurde neben dem von Greiner in derselben Zeit -Ausgabe veröffentlicht. 53 Vgl. Hermann Vinke (Hg.): Akteneinsicht Christa Wolf. Zerrspiegel und Dialog. Eine Dokumentation. Hamburg: Luchterhand 1993. 267 Einheit 9 natürlich - wie bei Christa Wolfs Erzählung - zu bedenken, dass es sich zunächst einmal um einen fiktionalen Text handelt und die zahlreichen Beschränkungen in der literaturkritischen Rezeption auf die politische Aussage dem Text nur bedingt gerecht werden können. Grass’ Hauptfigur Theo Wuttke, genannt Fonty, ist als Wiedergänger Theodor Fontanes angelegt, die Parallelen in der Biographie und die von der Umwelt vorgenommene, von Fonty selbst akzeptierte und forcierte Idenfizierung mit dem bekannten Autor des bürgerlichen Realismus ermöglicht es Grass, die Zeit um 1990 mit anderen historischen Wendezeiten in Beziehung zu setzen, etwa mit der Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreiches 1870/ 71. Fonty wird eine zweite Figur an die Seite gestellt, sein „Tagundnachtschatten“ Hoftaller, 54 ein Stasi-Spitzel mit dubioser Vergangenheit, in dem Grass versucht, die Ambivalenz des DDR-Systems - Kontrolle und Fürsorge - einzufangen. Mit der Figur des Spitzels zitiert Grass Hans Joachim Schädlichs Roman Tallhover von 1986. Grass konstruiert einen unüblichen Wir-Erzähler („Wir vom Archiv“) 55 und lässt seine Figuren die Wendezeit kommentieren, insofern lassen sich Äußerungen Hoftallers wie die folgende nicht ohne interpretatorische Absicherung als Meinung des Autors lesen (eine Versuchung, der viele Kritiker schnell erlagen): „Bißchen Wendezeit, der übliche Hemdentausch, das ist alles. Kennen wir doch, diesen Kostümwechsel auf offener Bühne.“ 56 Schwerer wiegt die implizite Kritik an den Entwicklungen der Lebensläufe, etwa der als ‚Wir‘ auftretenden weiblichen Erzählerin: Dazu kamen finanzielle Sorgen, die damals das Archiv bedrückten. Wie überall, so mußte bei uns mit weniger Personal mehr geleistet werden. Mir wurde nur noch eine Halbtagsstelle zugestanden. Schon bewarb ich mich vergeblich in Marbach und anderswo, schon sah es so aus, als bliebe mir allenfalls übrig, mich spät ins sogenannte Eheglück zu flüchten [...]. 57 Auch die Debatte über diesen Roman ist dokumentiert, die bekannteste Aufarbeitung 58 findet sich allerdings in Grass’ Hausverlag Steidl. Die Absicht, mit der Publikation der Debatte auf die Kritik kritisch zu antworten, ist unverkennbar. 59 Allerdings gibt es auch eine wissenschaftliche Arbeit, die mit der Literaturkritik zu Grass im allgemeinen und zu Ein weites Feld im besonderen hart ins Gericht geht. 60 54 Vgl. Günter Grass: Ein weites Feld. Roman. 4. Aufl. Göttingen: Steidl 1995, S. 9, 269 u.v.a. 55 Vgl. ebd., S. 9. Gemeint ist das Fontane-Archiv in Potsdam. 56 Ebd., S. 271. 57 Ebd., S. 780. 58 Früher ist folgende Publikation erschienen, die sich um eine intersubjektive Aufarbeitung bemüht: Zerreißprobe. Der neue Roman von Günter Grass Ein weites Feld und die Literaturkritik. Eine Dokumentation. Zusammengestellt von Georg Oberhammer und Georg Ostermann. 2., erw. Aufl. Innsbruck: Innsbrucker Zeitungsarchiv 1995 (Innsbrucker Veröffentlichungen zur Alltagsrezeption 3). 59 Vgl. Oskar Negt (Hg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen: Steidl 1996. 60 Timm Boßmann: Der Dichter im Schussfeld. Geschichte und Versagen der Literaturkritik am Beispiel von Günter Grass. Marburg: Tectum 1997, vgl. v.a. S. 150ff. 268 Einheit 9 Besonders prägnant war und seinerseits als Skandal wahrgenommen wurde die Rezension von Grass‘ Roman durch Marcel Reich-Ranicki in Form eines Offenen Briefes im Magazin Der Spiegel. Besonders aufsehenerregend war die Titelmontage des Spiegel; das Bild zeigt den Starkritiker, wie er gerade ein Exemplar des dicken Romans in der Mitte durchreißt. Reich- Ranicki bestritt, bei der Auswahl und Gestaltung des Titelbildes konsultiert worden zu sein. 61 Die Beurteilung der politischen wie der ästhetischen Qualität des Romans war gegensätzlich und bei einer Reihe von Rezensionen eng miteinander verknüpft. Während Ira Panić in der Hamburger Morgenpost vom 21.8.1995 lobte: „Es ist eine Lust zu lesen“, 62 fand Iris Radisch in der Zeit vom 25.8.1995: „[...] dieses Buch ist unlesbar.“ 63 Die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte wurde von zahlreichen Autoren fortgeführt, etwa von Thomas Brussig und Ingo Schulze, um nur zwei Namen zu nennen. Doch auch andere historische Epochen scheinen wieder attraktiv für eine literarische Gestaltung geworden sein, wie man beispielsweise an Daniel Kehlmanns Weltbestseller Die Vermessung der Welt von 2005 erkennen kann. Protagonisten des Romans sind der Naturforscher Alexander von Humboldt und der Mathematiker Carl Friedrich Gauß, zwei der brillantesten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Kehlmann hält sich relativ genau an die Fakten, wenn es um die Handlung geht, doch ist die Charakterisierung der Figuren seine Erfindung. Schon vor mehr als 200 Jahren hatte Friedrich Schiller Erfolg, weil er Figuren wie Maria Stuart oder Wilhelm Tell mit einem bürgerlichen Bewusstsein seiner Gegenwart ausstattete. Kehlmann verfährt ähnlich - Humboldt wie Gauß leiden unter Einsamkeit und Orientierungslosigkeit, sie suchen daher Halt in der Wissenschaft. History sells - dass Kehlmann intime Einblicke in das (fiktionalisierte) Leben von zwei der bekanntesten historischen Persönlichkeiten gewährt, dürfte einen besonderen Lesereiz ausmachen. Weitere Bausteine zum Erfolg werden das ironische Erzählkonzept und, damit verbunden, das innovative Erzählen in indirekter Rede sein, beispielsweise in folgender Unterhaltung von Vater und Sohn: 61 Vgl. ebd., S. 39f. 62 Ira Panic´: Nicht alles aus Gold, was glänzend klingt. „Ein weites Feld“ - Günter Grass’ neue Herausforderung. In: Oskar Negt (Hg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen: Steidl 1996, S. 87f., hier S. 88. Die Kritikerin verknüpft ihr Lob allerdings auch mit Kritik: „Ein zorniger, oft ungerechter Roman übers deutsche Wesen. Eine kluge Hommage.“ Und: „Nun gut. Das Weltbild ist schlicht, die Provokation gefällig.“ 63 Iris Radisch: Die Bitterfelder Sackgasse. Günter Grass ist an dem Versuch, ein großes deutsches Geschichtsepos zu schreiben, gescheitert. Mit seinem verplapperten Thesenroman „Ein weites Feld“ hat er, so scheint es, von der Literatur Abschied genommen. In: Oskar Negt (Hg.): Der Fall Fonty. „Ein weites Feld“ von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen: Steidl 1996, S. 111-114, hier S. 111. 269 Einheit 9 Gauß versuchte zu lesen, sah jedoch schon Sekunden später auf und beklagte sich über die neumodische Lederfederung der Kutsche; da werde einem ja noch übler, als man es gewohnt sei. Bald, erklärte er, würden Maschinen die Menschen mit der Geschwindigkeit eines abgeschossenen Projektils von Stadt zu Stadt tragen. Dann komme man von Göttingen in einer halben Stunde nach Berlin. Eugen wiegte zweifelnd den Kopf. 64 Allerdings sind beide Protagonisten ambivalent gezeichnet, sie haben spezifische Begabungen, aber dafür fehlt ihnen das Sensorium für vieles andere. Durch das Zeigen solcher Gegensätze entsteht Komik: Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein. Alle sahen ihn an. Fertig, sagte Humboldt. Ja wie, fragte Bonpland. 65 Humboldt fehlt hier erkennbar das poetische Verständnis; aus Goethes Gedicht Über allen Gipfeln ist Ruh’ wird durch die wissenschaftliche, nur auf Fakten achtende Übersetzung Humboldts eine Banalität. Vielleicht ist es das Erfolgsrezept des Romans, dass er so viele Rezeptionsangebote macht. Geschichte wird auch kritisch reflektiert, etwa in der Bemerkung des Naturforschers über Südamerika: „So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit, sagte Humboldt. Was für eine Paarung! Gleichsam der Gegensatz zu allem, wofür Deutschland stehe.“ 66 Damit wird natürlich auf die zwei Weltkriege und den Holocaust vorausgedeutet, die deutsche Grausamkeit wird bereits in der Figurenzeichnung sichtbar gemacht. Neben Kehlmann haben so unterschiedliche Autoren wie Bernhard Schlink, W.G. Sebald und Marcel Beyer Episoden der deutschen, zugleich aber immer auch europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts literarisch gestaltet. Schlink hat 1995 mit Der Vorleser einen zunächst sehr erfolgreichen, später sehr umstrittenen Roman über eine ehemalige Lageraufseherin im Nationalsozialismus und ihre Liebe zu einem minderjährigen Jungen in der Nachkriegszeit vorgelegt. Marcel Beyer hat im selben Jahr in dem Roman Flughunde mit Hermann Karnau eine historische Figur, einen Wachmann des NS-Führerbunkers, zur Hauptfigur gemacht. Und W. G. Sebald hat 2001 in dem Roman Austerlitz am Beispiel der Lebensgeschichte eines Mannes, der mit einem Kindertransport nach England kam, vorgeführt, welche Auswirkungen die NS-Geschichte noch viel später haben kann und wie eng sie mit der ganzen historischen Entwicklung Europas im 19. und 20. Jahrhundert verknüpft ist. Beyer wie Sebald 64 Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Roman. 19. Aufl. Reinbek: Rowohlt 2006, S. 8f. 65 Ebd. ,S. 128. 66 Ebd., S. 208. 270 Einheit 9 wählen innovative Erzählstrategien. Beyers Protagonist zeichnet Stimmen auf, er ist mehr Täterals Opferfigur; das Motiv des Aufzeichnens verweist zugleich metafiktional auf den vorliegenden Text. Sebald perspektiviert die Handlung seines Romans durch den Ich-Erzähler, der die Treffen mit der Titelfigur Jacques Austerlitz schildert; das Assoziative und scheinbar Ungeordnete der Gespräche korreliert mit dem Fragmentarischen von Austerlitz’ Existenz (und damit wohl auch der postmodernen Existenz überhaupt, für die Austerlitz als extremes Beispiel dienen kann). Ob der skizzierte Trend langfristig anhalten wird, bleibt abzuwarten, aber es steht zu vermuten. Da die Gegenwart ungewiss und die Zukunft noch ungewisser ist, bleibt nur die Vergangenheit als vergleichsweise stabiler, (re-)konstruierbarer Orientierungsrahmen. Dass man Geschichte auch anders erzählen kann, angesichts des Konstruktionscharakters von Erinnerung vielleicht sogar anders erzählen muss, und dass man überhaupt ganz anders als alle anderen erzählen kann, führt das Werk von Felicitas Hoppe vor. In ihrem Roman Johanna von 2006, mit der Titelfigur ist die Jungfrau von Orléans gemeint, wird schon zu Anfang Wahrnehmung in Frage gestellt. Der „Prolog“ versammelt wichtige Informationen zum Verständnis der historischen Ereignisse auf knappen zwei Seiten, zugleich stellt er klar, dass man die Geschichte als Konstruktion von etwas eigentlich nicht Abbildbarem begreifen sollte. Schon im ersten Satz beginnen „die Tiere“ zu „sprechen“. Wer dies noch religiöser Motivierung zuschreibt, dürfte über die Formulierung „achtzig oder achthundert englische Soldaten“ stolpern. 67 Und der erste Satz des ersten Kapitels verkündet unmissverständlich: „Damen und Herren, was bleibt, ist ein Rätsel.“ 68 67 Felicitas Hoppe: Johanna. Roman. Frankfurt/ Main: Fischer 2006, S. 9. 68 Ebd., S. 11. - Vgl. auch: Stefan Neuhaus u. Martin Hellström (Hg.): Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Innsbruck: StudienVerlag 2008 (Angewandte Literaturwissenschaft 1). E I N H E I T 10 Grau ist alle Theorie: Literaturvermittlung in der Praxis Vorbemerkung Ein Lektor, der Leiter eines Literaturhauses, die Leiterin eines Literaturressorts, zwei Verleger und ein Literaturagent wurden eingeladen, aus ihrem Alltag zu berichten. Sie setzen dabei unterschiedliche Schwerpunkte und reflektieren einerseits über ihre Arbeit, andererseits über institutionelle Veränderungen und schließlich über die Situation der Literaturvermittlung allgemein. Sie geben Hinweise auf das, was Literaturvermittler im beruflichen Leben erwarten kann. Oliver Vogel: Ein Tag im Lektorat 11. November 2008 Um kurz nach 9 im Verlag, müde vom Abend davor im Frankfurter Literaturhaus. Jemand hat mir die Frankfurter Rundschau auf den Stuhl gelegt. Dort wird „Änderungsschneiderei Los Milagros“, das eben mit dem Aspekte-Preis für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnete Buch von María Cecilia Barbetta, verrissen. Das Buch wird kritisiert für seinen „Anspielungsreichtum“, für seine „spielerische Wortmächtigkeit“, seine „souveräne Dauerkommentierung des Beschriebenen“. Das vorgeworfen zu bekommen, kann auch nur einer Frau passieren. Und García Marquez, der mit diesem Buch sowenig zu tun hat wie die Rezensentin, ist auch falsch geschrieben. Ich hole mir einen Kaffee. 9.20 Uhr, jetzt kann ich versuchen, die Agentin Karin Graf zu erreichen. Ich möchte noch einen Anthologievertrag mit ihr besprechen. Ich hatte 2000,- Euro für den Herausgeber angeboten, sie möchte mehr. 3000,- habe ich mir vorgenommen, sie will 6000,-, 4000,- werden es wohl werden. Sie ist in einer Besprechung. Ich schreibe Julia Franck wegen unserer Verabredung nächste Woche in Ber- 272 Einheit 10 lin. Und Judith Hermann und dem Agenten Matthias Landwehr. Arnold Stadler erreiche ich nicht. Mit Eva Koralnik von der Agentur Liepman in Zürich spreche ich kurz über Peter Stamm, dessen neuer Roman im Sommer erscheinen wird. Auch sie ist davon begeistert. Was für Mails habe ich noch? Um 10.30 Uhr ist die nächste Sitzung, das wöchentliche Treffen der Programmleiter bei Jörg Bong, dem Verleger. Den Anruf bei Wolfgang Matz, dem Hanser-Lektor, schaffe ich noch. Ich frage ihn nach der Dissertation von W. G. Sebald, der über Döblin geschrieben hat. Andrew Wylie ist der Agent von Sebald, mit dem müsste ich sprechen, wenn ich davon ein Kapitel in die „Neue Rundschau“ nehmen möchte. Aber Wolfgang warnt, Sebalds Arbeit sei eine ziemlich ungerechte Sache. Na, mal sehen. Bis bald. Karin Graf telefoniert jetzt auf der anderen Leitung. Also in die Sitzung mit Jörg. Wir sprechen über das Herbstprogramm, über die Verteilung der Spitzentitel von S. Fischer, Krüger und Scherz auf die sechs Monate. Danach bleibe ich noch kurz, um mit ihm über das neue Manuskript von Judith Hermann zu sprechen, das ich am Wochenende gelesen habe. Bisher kennen nur wir beide es im Verlag. Es soll im Mai erscheinen, beschließen wir, und außerhalb der Vorschau angekündigt werden. Die Sitzung war lang, es ist inzwischen halb eins, Rainer Merkel erreiche ich gleich. Er fährt in ein paar Tagen nach Liberia, um dort in einer Psychiatrie zu arbeiten, und wir sind noch nicht fertig mit dem Lektorat. Übermorgen Abend kann er kommen. Wir sprechen auch noch mal über den Klappentext, mit dem wir beide noch nicht recht glücklich sind. Sophie von Heppe, meine Assistentin, sagt mir, dass Karin Graf versucht hat mich zu erreichen. Aber sie ist jetzt wieder in einer Besprechung. Ich nehme meine Tasche und gehe schnell eine Suppe essen, um 13.30 Uhr in die Straßenbahn zum Bahnhof. Der Zug nach Berlin kommt nicht wie vorgesehen um 14.13 Uhr, sondern erst um 14.43 Uhr, genügend Zeit für ein Gespräch über Thomas Bernhard, Stefan Zweig und Carlos Ruiz Zafón mit Raimund Fellinger, Suhrkamp-Cheflektor, der am Gleis 9 auf den gleichen Zug wartet, dann aber in die erste Klasse steigt. Ich steige hinten ein, finde einen doppelten Sitzplatz, kann also bis Berlin in Ruhe die ersten 40 Seiten des neuen Romans von Peter Stamm redigieren. In Kassel und in Göttingen kurze Telefonate mit Michael Lentz, dazwischen Karin Graf. Kassler Berge, kaum Empfang. Um was es denn gehe? Die Schach-Anthologie? Ja. Sie ist schon wieder weg. In Berlin Spandau komme ich um 18.30 Uhr an, nehme ein Taxi ins Hotel, wo ich die Tasche am Empfang lasse und gleich weiterfahre ins Babylon, Rosa-Luxemburg-Straße, wo Roger Willemsen aus „Der Knacks“ lesen wird. Noch ist Zeit, ich gehe in den Plattenladen neben dem Babylon, suche nach der neuen Conor Oberst, als Roger schon ans Fenster klopft. Wir gehen zusammen in den Keller, sprechen über dies und das, seine Lesungen in Hamburg, Ravensburg, Konstanz und Leipzig, ich erzähle ihm von 273 Einheit 10 dem Briefwechsel zwischen Marion und Wolfgang Koeppen, den ich grade gelesen habe, er mir von Veza Canettis Briefwechsel mit Elias und seinem Bruder. Dann muss er auf die Bühne, ich sitze in der ersten Reihe. Eineinhalb Stunden Lesung aus dem „Knacks“, 400 Zuhörer sind ganz still, eine geradezu unheimliche Stimmung. Nach der Lesung signiert Roger über eine Stunde lang Bücher. Viele der Zuhörer bleiben in dem schönen alten Kino einfach sitzen, noch ganz gerührt und auf sich bezogen. Dann gehen wir zu einem Österreicher in der Nähe, wo wir die Lesung durchsprechen, Veränderungsvorschläge machen, wo ich feststelle, dass die Reiseflughöhe eines Flugzeugs keine 11.000 Fuß sind, eher 11.000 Meter. Roger glaubt das nicht, aber wir fliegen ja morgen von Berlin nach Frankfurt. Zu Recherchezwecken. Es ist spät, die Lesung war anstrengend, Roger erzählt, dass er Lesungen immer empfindet wie einen Ritt auf einem Wildpferd. Das Publikum merkt jeden Moment der Unaufrichtigkeit, der Gedankenlosigkeit. Wenn dieses Pferd erstmal ausgebrochen ist, fängt man es nicht mehr ein. Ins Hotel also, schlafen. Am Ausgang fängt uns noch Henning Kober ab, sein Manuskript wird das Fischer-Debüt im Herbst, das wir eben unter Vertrag genommen haben. Zu mehr als einer kurzen Begrüßung reicht es nicht. 12. November 2008, Berlin Um 8 Uhr aufstehen, frühstücken, dann eine Stunde Peter Stamm redigieren. Jetzt schon Seite 51, allerdings fällt mir etwas auf, was ich noch mal von Anfang an kontrollieren muss. Um 11 Uhr hole ich Roger in seinem Hotel ab, der schon ein Interview mit dem WDR hatte. Taxi nach Tegel, der Fahrer sieht aus wie Karl Moik, stellt Roger fest. Ob er nicht mal eine „Neue Rundschau“ herausgeben wolle, frage ich, er dürfe sich das Thema selber aussuchen. Sofort Interesse. Er habe da mal in Köln einen Abend unter dem Titel „Radikalität“ gemacht. Das könne er sich vorstellen. Oder noch was: „Relevanz“ finde er, sei ein wichtiges Thema, in allen Bereichen. Wir vereinbaren das Heft für Ende 2009. Im Flugzeug, Plätze 25 A und C, er fliegt Economy, wegen mir, hat kaum Platz für seine allzu langen Beine. Wir lesen die „Frankfurter Rundschau“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Wir fragen Jana Bilke, die sehr freundliche Lufthansa- Stewardess, nach der durchschnittlichen und der aktuellen Reiseflughöhe. Roger erzählt mir von Denis Johnson, dessen Buch für ihn auf der Literaturen-Liste das Buch des Jahres ist. Wenn sie mich fragen würden und ich kein Fischer-Buch erwähnen dürfte, würde ich Christian Krachts „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ nennen. Ich erzähle von Kracht, dass er jetzt nach Buenos Aires zieht, dass er bei Scheck in der Sendung bekannt gegeben hat, dass er eine Peronistische Partei gründen werde und die Malwinas für Argentinien zurückerobern wolle, ich 274 Einheit 10 schwärme von seinem Buch, Roger beschließt, es zu lesen. Dann sprechen wir über Sigrid Löfflers Abschied von „Literaturen“, über Wolfgang Hörners Verlagswechsel, kommen so auf die „Deutschlandreise“, die noch bei Eichborn erschienen ist. Jana Bilke hat inzwischen im Cockpit gefragt und klärt uns auf: Zwischen 8.000 und 12.000 Metern. Fuß ist doch mal drei, ja, mal drei. Also ein Fehler im Buch. Ja, ein Fehler im Buch. Sein Bruder, sagt Roger, habe auch schon zwei gefunden: Virgo intacta, unberührte Jungfrau, sei grammatisch männlich, im Buch stehe sie weiblich. Und noch was fällt ihm ein, acte gratuit, willkürliche Handlung, habe im Buch eine weibliche Endung. Wir tauschen einige lustige Fehler aus (in einer Beckett-Übersetzung von Enzensberger lässt einer die Ohren hängen. Kurzes Zögern). Roger erzählt von Bangkok bei Nacht, einem Krankenhaus dort. Und: Es hätte ihm jemand einen Maler genannt, der in Chile lebe, den er besuchen solle. Ob ich den kenne. Er lebt mit Blick auf den Vulkan Villarica. Nein, kenne ich nicht. Wir verlassen die Reiseflughöhe, unten sind die Kühltürme von Hanau/ Wolfgang zu sehen. Es ist leicht bewölkt. Der Sitznachbar auf der anderen Gangseite beugt sich zu Roger und fragt: „Sind Sie nicht der berühmte Matthias Mattusek? “ „Nein“, sagt Roger, „ich sehe nur so aus. Ich bin der berühmte Roger Willemsen.“ „Ach“, sagt der Mann, „ich habe Sie verwechselt.“ Kein Problem, passiert dauernd. Wir landen, holen die Taschen und Mäntel aus dem Gepäckfach. „Jetzt fällt es mir wieder ein“, sagt der Mann, „Roger Willemsen, natürlich, tut mir leid.“ Wir sitzen schnell im Taxi nach Frankfurt. Ich fahre in den Verlag, Roger hat noch einen Termin, wir sehen uns später. Im Verlag: Telefonat mit Pfarrer Schneider aus Darmstadt, der mir eine Anthologie vorschlägt. Sehr interessantes Projekt, ich werde darüber nachdenken. Dann erzähle ich ihm vom neuen Buch von Arnold Stadler, „Salvatore“, ja, schick ich Ihnen, vom neuen Roman von Peter Stamm, den er sicher zur Lesung in seiner Stadtkirche einladen wird. Dann schreibe ich ein Mail ans Haus, dass Sarah Kuttner am kommenden Montag aus Ihrem Roman lesen wird, um 16 Uhr, für alle Fischer-Angestellten. Eine Kollegin zeigt mir eine lange komplizierte Absage. Florian Glaessing von der Agentur Eggers und Landwehr mailt mir, dass Anke Stelling sich sehr über unser Angebot freut und gerne zu den angebotenen Konditionen ihr neues Buch bei Fischer machen möchte. Um 17.34 Uhr fährt der Zug nach Mainz. Felicitas von Lovenberg moderiert dort ihre erste „Literatur im Foyer“-Sendung. Zu Gast: María Cecilia Barbetta, Ingo Schulze und Roger Willemsen. Vorher muss aber noch die Sitzung mit Sarah Kuttner und ihrem Agenten vorbereitet werden. Mit Peter Stamm verabrede ich mich für den 10. Dezember zum Lektorat in Konstanz. Ich erreiche den Zug nach Mainz nur knapp. 275 Einheit 10 Oliver Vogel, geboren 1966, wuchs in München und Santiago de Chile auf. Studium der Germanistik, Philosophie und Anglistik in Frankfurt. Von 1992 bis 1996 arbeitete er im Lektorat des Suhrkamp Verlages, danach leitete er den Buchverlag im Verlag der Autoren. Seit 1999 ist er Lektor bei S. Fischer und Fischer Taschenbuch, seit 2002 Programmleiter für deutschsprachige Literatur und Klassiker. Mitherausgeber der Wolfgang Hilbig-Werkausgabe und der „Neuen Rundschau“. Rainer Moritz: Literaturhaus Lesungen finden in Deutschland an unterschiedlichsten Orten statt: in Buchhandlungen, Theatern, Akademien, Schulen oder Clubs. Seit Mitte der 1980er Jahre freilich hat sich ein Ort als ideales Forum für das literarische Geschehen herauskristallisiert: das Literaturhaus. Berlin machte 1986 den Anfang, Hamburg folgte 1989, und seitdem fanden sich in vielen großen und mittleren Städten Nachahmer. Elf große Literaturhäuser im deutschsprachigen Raum - Berlin, München, Frankfurt am Main, Hamburg, Köln, Stuttgart, Leipzig, Salzburg, Graz, Rostock und Zürich - sind mittlerweile als gemeinnütziger Verein (www.literaturhaus.net) zusammengeschlossen, um die Bedeutung ihrer Einrichtungen zu unterstreichen und gemeinschaftlich Lesereisen oder literarische Aktionen wie die Plakataktion „Poesie in die Stadt“ durchführen. Wie ein Literaturhausleiter seinen Arbeitsalltag füllt, lässt sich nur bedingt verallgemeinern, zumal - je nach Struktur der Häuser - mitunter die kaufmännische und die programmliche Verantwortung in Personalunion wahrgenommen werden. In Hamburg ist das der Fall, und so besteht ein Teil meiner Aufgabe darin, in Zusammenarbeit mit dem ehrenamtlich arbeitenden Vorstand des Literaturhaus e.V. die Finanzierung des Hauses abzusichern. Mit anderen Worten: Es muss dafür Sorge getragen werden, dass alle anfallenden Kosten - die Instandhaltung der Immobilie, die Gehälter der Mitarbeiter, die Büroaufwendungen, die für die Veranstaltungen anfallenden Honorare und Hotel- und Reisekosten - im Rahmen eines Jahresbudgets getragen werden. In Hamburg steht diese Finanzierung auf verschiedenen Füßen; sie setzt sich zusammen aus: den Beiträgen der derzeit rund 750 Mitglieder des Literaturhaus-Vereins - den Einnahmen, die aus den Vermietungen innerhalb der Räumlichkeit an Buchhandlung, Literaturhaus-Café und andere literaturnahe Einrichtungen anfallen - der Umsatzpacht, die mit dem Café vertraglich vereinbart wurde, und den Erträgen der Kurzzeitvermietungen für Familienfeierlichkeiten, Pressekonferenzen, Seminare u.ä. - der jährlichen Förderung durch die Kulturbehörde der Stadt Hamburg - den Zuwendungen durch Sponsoren und Förderer - der mietfreien Überlassung der Immobilie durch die ZEIT-Stiftung. 276 Einheit 10 Förderer an das Haus zu binden gehört zu den Kernaufgaben im kaufmännischen Bereich eines Literaturhausleiters. Hier ist mit Mäzenen, Stiftungen, Konsulaten oder kulturaffinen Firmen zu verhandeln, um einerseits Einzel- oder Reihenveranstaltungen und andererseits das Haus allgemein mit Zuschüssen auszustatten. Auch die Ausrichtung von Stifteressen kann darunter fallen. Unter diesen Voraussetzungen bedarf es einer gewissen ökonomischen Kompetenz und der Fähigkeit, Kostenentwicklungen genau zu beobachten und auf gesamtgesellschaftliche Finanzlagen zu reagieren. Die Lust, mit potenziellen Förderern in Kontakt zu treten und regelmäßig repräsentative Aufgaben im städtischen Kulturleben wahrzunehmen, ist ebenso eine wichtige Voraussetzung. Kommunikative Kompetenz ist zugleich von erheblicher Bedeutung, um die Programmarbeit eines Literaturhauses erfolgreich zu gestalten. Denn der tägliche Dialog und das Verhandeln mit Autoren, Verlagsmitarbeitern, Schauspielern und Journalisten entscheidet auch darüber, welche Lesungen und Diskussionsrunden realisiert werden können. Was die inhaltliche Ausrichtung des Programms angeht, stehen für die meisten Literaturhäuser zwei Gedanken im Mittelpunkt: Zum einen geht es den Häusern darum, sich als das literarische Zentrum ihrer Städte zu etablieren und mit ihren sowohl national wie international ausgerichteten Veranstaltungen über die Grenzen der Stadt hinaus Aufmerksamkeit zu erregen. Zum anderen sehen alle Literaturhäuser eine ihrer Aufgaben darin, sich von den ökonomischen Gesetzlichkeiten des Marktes fernzuhalten und auch jener Literatur den Weg zu bahnen, die Qualität vor Kommerz stellt und nicht auf bloßen Mainstream setzt. Anders gesagt: Literaturhäuser sind auch dazu da, das Übersehene und Randständige zu berücksichtigen und ihr Publikum auf Autoren und Texte aufmerksam zu machen, die mit experimentellen und avantgardistischen Formen Neuland betreten und vielleicht nicht auf den ersten Blick verständlich sind. Gleichzeitig bemühen sich viele Häuser darum, über den Tellerrand der Neuerscheinungen hinauszusehen und an „literarhistorischen“ Abenden Autorinnen und Autoren in Erinnerung zu rufen, deren Werke Gefahr laufen, vergessen zu werden. Wie sich nun ein solches Programm rundet, hängt auch von den Vorlieben und Interessen der Literaturhausleiter ab. Im Zusammenspiel mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern werden sie indes versuchen, das literarische Leben der Gegenwart auf möglichst vielfältige Weise zu spiegeln, keine Literaturrichtung zu bevorzugen und ihre Häuser zu Orten der Begegnung zu machen - auch für literarische und kulturelle Streitgespräche. Gerade in den letzten Jahren haben viele Literaturhäuser ihre Aktivitäten mit Blick auf „Leseförderung“ erweitert und bieten ein breites Programm für Kinder und Jugendliche sowie Schreibwerkstätten an. An manchen Orten - wie in München, Berlin oder Stuttgart - ist es zudem möglich, Literaturausstellungen zu präsentieren. 277 Einheit 10 Ein Jahresprogramm zu erarbeiten - in Hamburg finden etwa 110 Veranstaltungen pro Jahr statt - ist eine Sache, eine andere, die Abende professionell vorzubereiten und möglichst optimal auszugestalten. Dazu zählt die Auswahl geeigneter Moderatoren, darunter nicht selten überregional arbeitende Literaturkritiker, und Schauspieler, die die deutschen Übersetzungen fremdsprachiger Bücher vortragen. Ein eingespieltes Team (das in Hamburg aus vier festangestellten und drei freien Mitarbeitern besteht) sorgt schließlich dafür, dass alles bedacht wird, vom Kartenverkauf bis zum funktionierenden Mikrofon und zum obligatorischen Glas Wasser. Ob ein Autor dann in der Lage ist, seinen Text gut vorzustellen, und ob die Technik nicht im entscheidenden Moment versagt, das freilich lässt sich nie genau vorhersehen. Und nicht zuletzt: Wenn gegen 22 Uhr die Gäste der Lesungen mit einem signierten Exemplar nach Hause gehen, ist der Abend längst nicht zu Ende. Zu einer literarischen Begegnungsstätte gehört das Beisammensein nach der Lesung, das Diskutieren und Reflektieren, bei einem Imbiss und mindestens einem Glas Rotwein. Hier wird die Literatur nachgearbeitet, hier werden Argumente ausgetauscht und neue Projekte vereinbart. Insofern endet an Lesungstagen die Arbeit eines Literaturhausleiters selten vor Mitternacht, ehe man erfüllt und müde heimwärts zieht, wissend, dass man nächsten Tag vielleicht wesentlich prosaischere Themen - die Renovierung der Toiletten, der abgebröckelte Putz im ersten Stock - auf einen warten. Anlass zur Klage bietet das jedoch nicht, denn wer sich im Studium mit Literatur- und Kulturwissenschaften befasst hat, wird kaum einen ansprechenderen Arbeitsplatz als ein Literaturhaus finden. Rainer Moritz, 1958 in Heilbronn geboren. Studium der Germanistik, Philosophie und Romanistik in Tübingen. 1988 literaturwissenschaftliche Promotion. 1989 bis 1991 Lektor im Francke Verlag, Tübingen. 1991 bis 1995 Leiter der Philologischen Abteilung des Erich Schmidt Verlags, Berlin, 1995 bis 1998 Programmchef des Reclam Verlags, Leipzig. 1998 bis 2004 Programmgeschäftsführer des Hoffmann und Campe Verlags, Hamburg. Seit Anfang 2005 Leiter des Literaturhauses Hamburg. 278 Einheit 10 Brigitte Schwens-Harrant: Im Bauch der Redaktion „Sobald ich der Redaktion eingetreten war, wollte jeder von mir wissen, wie es bei Belles Lettres zuging. Lasen wir wirklich alle Bücher selbst? Wie entschieden wir, welche rezensiert werden sollten? Wie suchten wir die Rezensenten aus? So lauteten die unschuldigen Fragen. Leute, die mehr vom Literaturbetrieb verstanden, wollten wissen, ob wir die Rezensenten beeinflußten und die Rezensionen redigierten. Die Leute aus dem Literaturbetrieb fragten erst gar nicht; sie gingen sowieso von der Existenz einer meinungsmonopolistischen Verschwörung aus, obwohl niemand genau wußte, wozu die gut sein sollte.“ Charles Simmons 1 Redakteure redigieren. Das klingt logisch. Doch das Duden-Fremdwörterbuch bezeichnet als Redakteur einen, „der für eine Zeitung, Zeitschrift, für Rundfunk od. Fernsehen, für ein [wissenschaftliches] Sammelwerk o. Ä. Beiträge auswählt, bearbeitet od. auch selbst schreibt“. Redakteure sind also auch Gate-Keeper und Scouts, Redakteure sind auch Autoren. Aber selbst das umfasst nur einen Bruchteil dessen, womit Literaturredakteure ihren Arbeitstag verbringen. Von vorne also. Die Frage ist allerdings, wo bei diesem Beruf vorne ist. Ich könnte versuchen, einen typischen Arbeitsalltag zu beschreiben, aber der sieht je nach Redaktion, je nach Medium, je nach Produktionsphase und je nach Büchersaison anders aus. Manche Redakteure beginnen vielleicht ihren Tag mit einer Redaktionssitzung, in der über die Themen und über den Platz gestritten wird. So mächtig, wie es für freie Mitarbeiter und Leser oft den Anschein hat, sind Redakteure nämlich gar nicht unbedingt. In jeder Redaktion gibt es sichtbare und unsichtbare Machtstrukturen und Hierarchien - Herausgeber, Chefredakteure, Geschäftsführer, Ressortleiter… -, die sich auf die einzelnen Ressorts, auf die Redakteure und ihre Arbeit auswirken. Die Blattlinie erfordert Aufmerksamkeit, Quotenkeulen werden geschwungen, das Anzeigengeschäft soll bedient werden. Auch Literatur hat möglichst auffällig zu sein, sprich politische Sprengkraft zu haben oder das Zeug für einen Skandal. Das Gerangel um die Positionierung im Blatt prägt daher womöglich die morgendliche Redaktionssitzung, in der vielleicht aber auch deswegen gerade alle Pläne der Literaturredakteurin über den Haufen geworfen werden, weil ein Autor gestorben ist. Ein Nachruf muss her. Die Planung von gestern gehört der Vergangenheit an. Andere Redakteure beginnen vielleicht ihren Tag damit, die Berge von Post zu öffnen, einige der unzähligen Mails zu lesen, die seit dem Vorabend eingetroffen sind: von Verlagen, Rezensenten, Autoren, Lesern, Veranstaltern. Andere beginnen vielleicht auswärts, mit dem Interview mit einer Autorin. 1 Charles Simmons: Belles Lettres. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Modick. Übersetzung der Sonette: Ulrike Draesner. München: C. H. Beck 2003, S. 25. 279 Einheit 10 Ich werde nicht über einen fiktiven Arbeitstag schreiben, sondern versuchen, einige Phasen und Arbeitsschritte zu skizzieren, von denen manchmal alle an einem Tag stattfinden, und das oft genug parallel. Ein Klischee möchte ich von vorneherein ausräumen: Literaturredakteure sitzen nicht gemütlich lesend in Schaukelstühlen oder Kaffeehäusern und werden dafür bezahlt. Lesen ist die unhintergehbare und unbezahlte Voraussetzung für diesen Job, die außerhalb der Arbeitszeit stattfindet. Nicht selten passiert auch die Schreibarbeit in den Nachtstunden und am Schreitisch zuhause. In der Redaktion dominieren Organisation und Textarbeit. Wie viel und welche Organisationsarbeit von einzelnen Redakteuren zu leisten ist, hängt von Größe und interner Organisation der Redaktion ab. Je größer das Team in einem Ressort, desto besser können Arbeiten delegiert werden, desto vielfältiger kann durch die unterschiedlichen Interessenslagen der Beteiligten die Auswahl sein. In meinem Fall fällt die Ressortleitung mit der einzigen Redakteurin in einer Person zusammen, und was ich im Folgenden schreibe, sind daher Aufgaben von Ressortleitung und Redakteurin. Literaturredakteure hätten nichts zu arbeiten oder zu schreiben ohne Literatur, die jährlich im Frühjahr und im Herbst in großen Wellen auf den Buchmarkt und zuvor auf die Redaktionstische schwappt. Von vorne anfangen kann daher heißen, der Frage nachzugehen, wie und wann Redakteure erfahren, was die bevorstehende literarische Saison bringen wird. Wenn man etwas medial vermitteln will, muss man einen Informationsvorsprung haben gegenüber jenen, denen etwas vermittelt werden soll. Die notwendigen Vorlaufzeiten variieren je nach Medium. Einige Wochen, bevor die Bücher erscheinen, erhalten die Redaktionen jedenfalls die Vorausschau von den Verlagen. Oft kommt es zu persönlichen Treffen der Redakteurin mit den Pressevertretern des Verlages, die auf jene Bücher hinweisen, die sie für ein Medium als besonders interessant erachten bzw. umgekehrt: bei denen sie sich erhoffen, dass sie in diesem Medium einen Platz erhalten und auf interessierte Leser stoßen werden. Möglichst unabhängig von diesen berechtigten Verlagsinteressen trifft nun die Redakteurin eine erste Auswahl, wenn sie kostenlose Rezensionsexemplare bzw. Druckfahnen der Neuerscheinungen anfordert. (Unabhängig ist sie unter anderem nur dann, wenn die Anzeigenleitung keine Gegengeschäfte vereinbart hat, im Sinne eines „diese Anzeige gegen jene Besprechung“.) Die Auswahl erfordert Aufmerksamkeit und Fingerspitzengefühl, liegen doch bisher nur die werbenden Aussagen der Verlage vor. Aber eine erste Einschätzung, welche Literatur für das eigene Medium und die Leser interessant sein könnte, muss nun schon getroffen werden. Diese Durchsicht und die Bestellvorgänge ziehen sich über mehrere Wochen hin, parallel zu allen anderen Arbeiten, die für die tägliche, wöchentliche oder monatliche Produktion der Literaturseiten nötig sind. 280 Einheit 10 Dann treffen die Bücher ein, meist viele auf einmal. Sie müssen gesichtet werden und verteilt. Nun fallen weitere Vorausentscheidungen. Welche Bücher sind wie viel Platz wert und wann und wie werden sie platziert? Denn die Rezensenten müssen mit den Büchern auch konkrete Längen- und Zeitangaben erhalten. Die Rezensenten: das sind freie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die für ein Zeilenhonorar schreiben und daher immer lieber längere Texte schreiben als kurze. Die Entscheidung, welches Buch an welchen Rezensenten kommt, kann stark beeinflussen, wie die Kritik ausfallen wird. Der Redakteur kennt nämlich seine freien Mitarbeiter und ihre Vorlieben bzw. Wertungen. Auswahl und Planung richten sich nicht nur nach dem subjektiven Belieben der Redakteurin, der vorgegebenen Blattlinie oder dem vermeintlichen Leserinteresse, sondern auch nach Ereignissen wie etwa Jubiläen, Preisverleihungen, Sperrfristen. Dass die Bücher bereits lange vor ihrem Erscheinen an die professionellen Leser weitergegeben werden, soll garantieren, dass in wichtigen Fällen bereits vor dem Erscheinen der Bücher die Rezensionen in der Redaktion vorliegen. Welche Fälle nun „wichtig“ sind, ist nicht nur Ergebnis einer einsamen Entscheidung einer Redakteurin, sondern oft genug Ergebnis äußeren Druckes. So gibt es diesen eigenartigen Wettlauf zwischen den Medien, bei dem jeder versucht, der erste zu sein, der ein bestimmtes Buch eines bestimmten (meist prominenten) Autors besprechen lässt, einen Wettlauf, der meist sogar mit dem Brechen der von den Verlagen angegebenen Sperrfristen endet bzw. anfängt. Literaturredakteure hätten aber die Möglichkeit wenn nicht sogar Aufgabe, nicht Erfüllungsgehilfen der Wünsche großer und ohnehin präsenter Verlage zu sein, sondern der Uniformierung des Marktes mit ihrer Auswahl entgegenzuwirken. Es gilt daher für Redakteure, die richtige Balance zu halten zwischen dem notwendigen Beachten des Leserinteresses an Neuerscheinungen und dem ebenfalls notwendigen Widerstand gegen einen Marktkonformismus, der dem eigenen Medium und letztlich auch dem interessierten Leser nicht gut tut. 2 Die Bücher gehen an die Rezensenten - und die Rezensionen kommen als deren Texte zurück. Nun erst beginnt das Redigieren. Redigieren bedeutet, Texte so zu bearbeiten, dass sie „druckfertig“ sind. Oft muss aus Platzgründen gekürzt werden. Schlechte Texte lassen sich sehr einfach kürzen, gute, dichte Texte nur sehr schwer. Autoren, die sich nicht an vorgegebene Zeichenzahlen halten - „es ist ein bisschen mehr geworden“ -, sind bei Redakteuren selbstredend wenig beliebt. Prinzipiell dient die Redaktion der Text-Verbesserung, die bis in sprachliche Details geht: Interpunktionen und Rechtschreibung werden korrigiert, stilistische Schwächen und Stilblüten behoben, Redundanzen gestrichen. Auch inhaltliche 2 Vgl. dazu v.a. Brigitte Schwens-Harrant: Literaturkritik. Eine Suche. Innsbruck: StudienVerlag 2008 (Angewandte Literaturwissenschaft 2), S. 31ff. 281 Einheit 10 Korrekturen können nötig sein, schließlich sollen keine falschen Namen oder Daten ins Blatt gerückt werden. Je weniger redigiert werden muss, desto besser war wohl der gelieferte Text. Für jeden Anfänger kann die Art der Überarbeitung daher ein entscheidender Hinweis darauf sein, wie die Redakteurin die Qualität seiner Arbeit einschätzt. Bei den audiovisuellen Medien sieht Redigieren anders aus, ein Umschreiben der Sätze im O-Ton ist nicht möglich. Hier kann höchstens weggeschnitten oder umgebaut werden. Auch das kann die ursprüngliche Intention nett zertrümmern. Darin liegt nämlich eine große Gefahr des Redigierens: Der Redakteur kann, entweder aus Unachtsamkeit oder auch absichtlich, durch seine Bearbeitung dem Text eine veränderte Intention geben. Durch Kürzungen, durch Titel oder Zwischentitel, durch das Lead oder den Vorspann, im Hörfunk etwa durch die Anmoderation, kann dem Text eine andere Stoßrichtung verpasst werden. Die Botschaft, die beim Leser ankommt, besteht zudem immer aus dem gesamten Erscheinungsbild, in dem sich Literaturkritik zeigt. In einer Zeitung ist das die Zeitungsseite. Eine wichtige Rolle spielt daher das Layout. Bilder und Seitengestaltung sind ihrerseits Inhalt, sie kommentieren die Texte nonverbal und werten, nicht weniger wirkmächtig als die Begleittexte des Redakteurs. Doch ein Umschreiben der Intention der Literaturkritik durch den Redakteur sollte tunlichst vermieden werden. Der Text kann ganz und gar der Meinung des Redakteurs widersprechen und muss doch so veröffentlicht werden dürfen. Meinungselemente erscheinen unter dem Namen des Schreibenden und dürfen vom Redakteur nicht zensiert werden. Zudem: Je pluraler die Zugänge auf den Seiten, umso spannender wird das Blatt. Was aber, wenn die Redakteurin den Eindruck hat, da hat einer nicht gründlich gelesen und nicht sorgfältig argumentiert? Ein starkes inhaltliches Eingreifen ist meist nicht möglich, die Redakteurin hat das besprochene Buch selten selbst gelesen. Sie hätte die Möglichkeit, den Text abzulehnen. Das allerdings bedeutet bei seriösen Blättern, dass dem Verfasser ein Ausfallshonorar zu zahlen ist und dem Vorgesetzten genau das erklärt werden muss. Deshalb werden die Aufträge bald enden, sollten die Arbeiten des freien Mitarbeiters aus Sicht des Redakteurs öfter enttäuschend ausfallen. Es ist jedenfalls nicht wie etwa bei Büchern oder Fachzeitschriften üblich, dass redigierte und eingerichtete Texte vom Verfasser noch einmal Korrektur gelesen werden können. Das erlaubt der Zeitdruck nicht. Ausnahmen sind Interviews, wenn sie autorisiert werden müssen. Im Zweifelsfall wird die Redakteurin aber immer Rücksprache mit dem Rezensenten halten, trotz Zeitdruck. Bei all diesen Tätigkeiten sitzt die Redakteurin meist weder in einem stillen Redaktionsraum noch überhaupt in einem einflusslosen Raum. Ständig dringen Stimmen an ihr Ohr, leise und laute, Appelle und Wünsche. Von der Chefetage. Von den Lesern. Ab und zu von Autoren selbst, 282 Einheit 10 die ihre Bücher besprochen wissen wollen und dafür eventuell auch den Weg über die Chefetagen suchen. Von den Verlagen, die auf ihre Produkte aufmerksam machen. Es gibt Buchpräsentationen, Events, Einladungen im kleinen Kreis, um mit den Autoren ins Gespräch zu kommen. Um die Beeinflussung von Journalisten zu verhindern, um ihre „Unabhängigkeit“ zu schützen, gibt es das vertraglich abgesicherte Verbot der Geschenkannahme. Doch die Grenzen sind schon beim guten Abendessen fließend: Wo fängt das Geschenk an und hört die Freiheit auf ? Unter diese Stimmen mischt sich auch die eigene, die sich bildet aus dem persönlichen Interesse an Literatur und der eigenen Arbeit, aus den eigenen Vorlieben, dem Konkurrenzdenken und der Karriereplanung etc. - eine nicht unwichtige Stimme, die es stets wahrzunehmen gilt. In diesem Raum der ausgesprochenen und unausgesprochenen Ansprüche also versucht die Redakteurin, interessante und anspruchsvolle Literaturseiten zu gestalten, die möglichst auch den vielfältigen Leserinteressen entsprechen. Und ab und zu greift sie zum Stift, nein: in die Tasten, um die Lesenden auch über die Vorgänge hinter den Kulissen von Redaktionen und Buchmarkt zu informieren. Dr. Brigitte Schwens-Harrant ist Literatur-Ressortleiterin der Wochenzeitung „Die Furche“ in Wien, sie schreibt als Literaturkritikerin auch für andere Zeitungen und Zeitschriften. Aus ihrer Feder stammen zahlreiche Beiträge zur österreichischen und internationalen Gegenwartsliteratur, zudem hält sie Vorträge und Seminare zur Literatur. Markus Hatzer: Alte Probleme und neue Chancen in der Literaturvermarktung am Beispiel der neuen Taschenbuch-Reihe im Haymon Verlag Einen Literaturverlag neu gestalten Als gelernter Buchhändler und Wissenschaftsverleger konnte ich mich durch die Übernahme des Haymon-Verlags einer wichtigen Herausforderung stellen: die Verantwortung für einen Literaturverlag zu übernehmen, ihn behutsam zu erneuern und in eine gute Zukunft zu führen. Mein Vorgänger Dr. Michael Forcher, der Gründer des Haymon Verlags, hatte mir dafür beste Bedingungen geschaffen: Nach 25 Jahren hatte sich der Verlag seinen fixen Platz in der deutschsprachigen, speziell der österreichischen Literaturszene erkämpft. Schwerpunkt des Programms ist die Belletristik, wobei der Bogen weit gespannt ist: von Bewährtem und Bekanntem bis zu Neuem und Unkon- 283 Einheit 10 ventionellem, vom Krimi mit literarischem Anspruch bis zur experimentellen Literatur der Avantgarde. Charakteristisch sind stets das Streben nach hohem Niveau im jeweiligen Bereich und die ästhetisch ansprechende Ausstattung. Unverändert ist auch das Bemühen um einen möglichst guten Service für AutorInnen, Buchhandel und Leserschaft. Die Übergabe der Verantwortung im Literaturverlag - wir kennen zahlreiche Beispiele - klappt selten ohne Konflikte. Dennoch ging unser Generationswechsel nahezu reibungslos vor sich. Obwohl mit dem „Alt“- Verleger durchaus nicht immer einer Meinung, ist es uns beiden gelungen, ohne Streit und ohne (nach außen getragene) Meinungsverschiedenheiten eine mustergültige Verlagsübergabe zu schaffen. Durch die enge Zusammenarbeit Schritt für Schritt blieben auch unsere Autorinnen und Autoren dem Verlag treu: So gut wie niemand hat den Verlag verlassen. Einen Literaturverlag kann man nicht kaufen. Es genügt nicht, die Anteile zu übernehmen und die Bezeichnung „Verleger“ zu führen. Das feinmaschige und weit verzweigte Beziehungsnetz zwischen AutorInnen, RedakteurInnen, VeranstalterInnen und Lizenzpartnern wartet auf Signale, neue Aktivitäten, die Bewältigung schwieriger Programmentscheidungen, kurz: auf die neue „Handschrift“ des Verlegers. Als erste große Veränderung in der Programmstruktur des Haymon Verlags habe ich die Haymon Taschenbuchreihe gestartet. Die Ausgangssituation Gerade in den vergangenen Jahren hat sich die Tendenz verstärkt, dass sich die großen Taschenbuchverlage zunehmend auf Bestseller konzentrieren. Die Produktion eines kleinen und unabhängigen österreichischen Literaturverlags wie Haymon 3 findet dabei (wie die Produktion aller kleinen Literaturverlage) immer weniger Beachtung. Für zahlreiche österreichische Autorinnen und Autoren bedeutet das zunehmende Schwierigkeiten, mit ihren Büchern in die Taschenbuchprogramme aufgenommen zu werden. Noch vor wenigen Jahren konnte der Haymon-Verlag damit rechnen, jährlich einige Taschenbuchlizenzen zu verkaufen. Diese Zeiten sind vorläufig vorbei. Die beschriebene Entwicklung, die alle kleineren Literaturverlage betrifft, hat mehrere Konsequenzen: Zum einen führt sie dazu, dass die Werke zahlreicher wichtiger Autorinnen und Autoren nicht im Taschenbuch lieferbar sind. Ihre Bücher werden in der Folge in Kiosken und Kaufhäusern nicht angeboten und in viele Versandkataloge nicht aufgenommen. Die breite Leserschicht der „Taschenbuchkäufer“ bleibt ausgeschlossen. Weiters finden ihre Bücher im Unterricht an Schulen und Universitäten kaum 3 Der Haymon-Verlag ist Teil einer unabhängigen Gruppe von kleineren Verlagen (Studienverlagsgruppe). 284 Einheit 10 Verwendung. Aber auch die Rechte-Verwertungskette vieler Bücher weist dadurch eine Lücke auf, und nicht zuletzt verlieren die Verlage mit dem Taschenbuch ein wesentliches Instrument der Autoren- und Werkpflege. Ein spezielles Programm für einen kleinen Markt Das Fehlen eines Taschenbuchverlags, der auf die Bedürfnisse des österreichischen Buchmarktes ebenso eingeht wie auf die Interessen österreichischer Autorinnen und Autoren, stellte daher bislang eine eklatante Lücke in der Verlagslandschaft des Landes dar. Um dieses Manko auszugleichen, startete im Juni 2008 Haymon Taschenbuch mit seinen ersten fünf „österreichischen“ Taschenbüchern, unter anderem mit dem Klassiker der österreichischen Nachkriegsliteratur, Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus von Christine Lavant („Christine Lavant flucht wie ein weiblicher Hiob: Ihre Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus sind bildverrückt und wutoffen“, Die Zeit). Lektorat und Ausstattung Ein wesentliches Element der Taschenbuchreihe von Haymon ist die sorgfältige Gestaltung und Ausstattung der Bücher. Alle Texte werden im Lektorat gründlich geprüft und in Abstimmung mit den Autorinnen und Autoren bearbeitet, fallweise werden Texte, die in alter Rechtschreibung erschienen sind, auch auf die neue deutsche Rechtschreibung adaptiert und korrigiert. Die aufwändige Buchgestaltung (spezieller Umschlagkarton, abgerundete Ecken) sorgt für einen hohen Wiedererkennungsgrad der Haymon Taschenbücher und zugleich für ihre Langlebigkeit. Erfolgreich im Buchhandel und Kataloggeschäft Die neue Taschenbuchreihe wurde vom Buchhandel sehr gut aufgenommen, es gab zahlreiche positive Rückmeldungen sowohl auf die Programmgestaltung und Konzeption der Reihe als auch auf die einzelnen Titel. Auch führende Katalogversender haben die komplette Taschenbuchreihe in ihr Sortiment aufgenommen. Kooperation 1: Arbeitserleichterung für LehrerInnen Für einen Teil des Taschenbuchprogramms bei Haymon - für jene Werke nämlich, die aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Fragen besonders für den Schulunterricht geeignet sind - besteht eine Kooperation mit dem renommierten „Österreichischen Kompetenzzentrum für Deutschdidaktik“ an der Universität Klagenfurt. 285 Einheit 10 Dort werden nach aktuellen methodischen Kriterien neue Materialien für den Deutschunterricht gestaltet, die auf der Homepage des Haymon- Verlags für Lehrerinnen und Lehrer zum kostenlosen Download angeboten werden. Die gesammelten Materialien bilden eine literaturdidaktische Ideensammlung, die auch als Buch erscheinen wird. Kooperation 2: Ein „großer“ Partner für Vertrieb und Marketing Es besteht eine auf die Bedürfnisse der Schulen zugeschnittene Marketing- und Vertriebskooperation mit dem größten österreichischen Schulbuchverlag, Veritas. Veritas übernimmt das Marketing für die als Schullektüre geeigneten Taschenbücher an den Schulen. Die neuen Haymon-Taschenbücher werden regelmäßig allen Deutschlehrerinnen und -lehrern persönlich präsentiert. Erfolg für Christine Lavant und Haymon-Taschenbuch Als Taschenbuch erschienen, bei den Deutschlehrerinnen und -lehrern bestens vermarktet mit aktuellen und interessanten Unterrichtsmaterialien: Christine Lavants Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus werden in Schulen gelesen, rund 20 Klassensätze wurden allein im ersten Halbjahr bestellt. Erfolgreich auch im Buchhandel und im Kataloggeschäft: Fast 3000 verkaufte Exemplare in den ersten sechs Monaten nach Erscheinen sind ein Beweis für die erfolgreiche Umsetzung und Bündelung von inhaltlich überzeugender Programmarbeit und Unterstützung durch Begleitmaterialien in höchster Qualität sowie für die optimale Verknüpfung von Direktmarketing und klassischen Vertriebsmethoden. Markus Hatzer - Verleger und Buchhändler, geboren am 26. März 1966 in Prägraten/ Osttirol. 1981 Beginn der Buchhändlerlehre, ab 1987 ehrenamtliche Tätigkeit bei einem Kleinverlag, 1988 einer von 10 Begründern einer Nord-/ Südtiroler Verlagsinitiative. 1991 Mitgründer und Verleger des Wissenschaftsverlags StudienVerlag. 1995 Gründung des Literaturverlags Skarabaeus, 2000 Mitbegründer einer literarischen Buchhandlung in Innsbruck (Bücher Wiederin). Seit 2001 Lehraufträge an der Universität Innsbruck zum Verlagswesen. Seit 2007 Verleger des Haymon-Verlags. 286 Einheit 10 Urs Heinz Aerni: Die LITERATURVERMITTLUNG im 21. Jahrhundert Prolog „Lieber Urs, ich bin aus privaten Gründen in Wien. Könntest Du nicht versuchen, eine Lesung dort zu organisieren? “ „Sehr geehrter Herr Aerni, Mein Buch über ländliche Küche verkauft sich zwar schön, aber es läuft zu wenig in den Medien. Könnten Sie mich nicht an die erwähnte Late- Night-Show im Schweizer Fernsehen vermitteln? “ „Hallo Herr Aerni, Mein Lektor dampfte das Manuskript auf eine unerträgliche, aber quotentaugliche Form, so, dass ich mich veranlasst sehe, den Verlag zu wechseln. Dazu brauche ich Ihren Rat.“ „Lieber Urs Heinz, Das neue Buch unserer Autorin wird die Fachwelt der Medizin sehr interessieren. Gerne würden wir mit Ihnen über die Möglichkeit einer Referats- oder Lesetour in entsprechenden Institutionen reden. Wann können wir anrufen? “ „Hallo Urs, Endlich ist mein Roman fertig. Da mein Verlag die hiesige Medienlandschaft nur begrenzt kennt und bedient, möchte ich Dich fragen, ob Du da flankierend mitwirken könntest. Bist Du in nächster Zeit im Land? “ „Guten Tag Herr Aerni, Wir möchten uns mit Ihnen über die Gestaltung einer neuen Buchreihe austauschen.“ „Grüß Dich Urs, Die Buchpräsentation wird nicht der Verlag organisieren, sondern hat das mir überlassen. Ich suche ein geeignetes Lokal. Hättest Du eine Idee? “ „Sehr geehrter Herr Aerni, Wir haben Ihnen das neue Buch des erwähnten Schriftstellers gesandt. Könnten Sie versuchen, dass es in der Schweiz und in Österreich mehr Publizität bekommt? “ „Urs! Warum werden in der TV-Sendung ‚Literaturclub‘ immer nur Bücher aus Verlagen wie Hanser, Suhrkamp oder Rowohlt besprochen aber nie aus kleinen Verlagen? “ 287 Einheit 10 Neue Herausforderung für die Literaturvermittlung oder ist es Zeit für eine Rückbesinnung? Die Literaturvermittlung als eine klassische und bewährte Disziplin in der Kette des Literaturbetriebes zu porträtieren ist im Prinzip unmöglich. Die Vermittlung beginnt bei der schüchternen Anfrage, ob der Autor in der Buchhandlung mal lesen darf und hört dort auf, wo große Agenturen mit Verlagen um Vorschüsse für den nächsten Bestseller verhandeln, der garantiert auch hollywood-like verfilmt werden soll. In den letzten Jahren mauserten sich die Schreibenden immer mehr zu bühnentaugliche Rednern und Lesern mit Unterhaltungswert, um die bescheidenen Gelder aus dem Buchverkauf oder der öffentlichen Literaturförderung im Sinne von Subventionen oder Preisgeldern aufzubessern. Von Podien in Literaturhäusern über Late-Night-Auftritte im Fernsehen bis hin zu Web-TV-Lesungen auf Portalen von Verlagen; die schreibende Zunft sieht sich immer mehr auch als Spontanperformance auf der Bühne und vor Kameras. Ein Umstand, der zwar nicht neu ist, aber an Dynamik gewinnt. Die Literaturvermittlung geschieht einerseits durch die medialen Begleiterscheinungen mit dem Buch, andererseits auch immer mehr durch Agenturen, die im Auftrag der Autoren Verlage suchen, Manuskripte anbieten, Pressearbeit erledigen und Lesereisen planen. Der Autor schreibt monate- und jahrelang an einem Buch, ob Novelle oder mehrbändiges Werk. Er tut dies in der Absicht, dass er gelesen, wahrgenommen und je nachdem erhört wird. Der Schreibende tut viel für die Öffentlichkeit und für ihn gibt es nichts Schlimmeres als eine öffentliche Inexistenz, entweder im positiven oder auch negativen Sinne. Das ist nachvollziehbar und verständlich für eine Persönlichkeit mit nach außen orientierter Arbeit. Masse statt Maße Die beobachtbaren Tendenzen der letzten Jahrzehnte lassen den Schluss zu, dass nicht wenige Verlage in ihrem Kerngeschäft immer mehr versagen oder mit dem Leistungsdruck überfordert sind. Vor Kurzem machte eine sehr talentierte Autorin die Erfahrung, dass ein Verlag in Österreich mit großer literarischer Tradition ihr zu verstehen gab, dass man sich zwar gegenüber ihrem schriftstellerischen Können angetan zeige, aber eine Publikation erst möglich sei, wenn sie vorher mindestens schon zwei Bücher veröffentlicht habe und am Markt schon einigermaßen bekannt sei. Was hat das bitte schön noch mit Literatur zu tun? Solche Gesinnungen und Erfahrungen veranlassten viele Autoren dazu, Agenten auf eigene Kosten anzuheuern. Im Wissen, dass es natürlich noch immer rühmliche Ausnahmen gibt, muss festgestellt werden, dass Verlage zusehends mit dem Massenaustoß an Büchern und mit der Bestsellerei 288 Einheit 10 liebäugeln und deshalb das Experimentieren mit Neuem vernachlässigen oder die langfristige Betreuung der einzelnen Bücher unterlassen. Ein Trend, der in einer Kulturdisziplin des Textes, also mit naturgegebenen langsameren Spielregeln mehr als problematisch ist. Verlage verlassen das Kerngeschäft Die alteingesessene Tradition der zwei Veröffentlichungstranchen im Frühjahr und Herbst soll verschwinden und immer mehr Geld wird in Messestände, Websites und Prestige-Projekte investiert, das dann fehlt bei der Betreuung des Autors in Sachen Lesetour, Planungen der Buchpräsentationen und einer hartnäckigeren Pressearbeit. Das renditeoptimierende Outsourcing des Lektorats, des Layouts und der generellen Buchgestaltung soll hier nicht allzu groß thematisiert werden. Der Verlag hat seine Kernkompetenz, die entdeckte Literatur zu fördern, produzieren, vermarkten und zu vernetzen vernachlässigt, ja oft gar verlassen. Dazu gehört Lektorat, Gestaltung, Vertrieb und Medienarbeit, die sich mit dem Buchinhalt identifiziert. Statt dass weniger Bücher dafür in dieser Genauigkeit publiziert würden, werden immer mehr Bücher gedruckt und bei der Qualität und Betreuung wird gespart. Literaturvermittlung damals und heute Literaturagenturen gehen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. In Zeitungsanzeigen zum Beispiel in London boten sich Personen als Vermittler zwischen Autor und Verlag an. Hier begann der Umkehrschub vom überschuldeten Autor, der auch den Druck seiner Werke finanzieren musste, zum klassischen Verlagsbetrieb im größeren Stil, der das Geld vorschoss und vielfach via Agent Literatur entdeckte und förderte. Autoren wie Arthur Conan Doyle oder Rudyard Kipling ließen über die Agentur A P Watt publizieren. So kamen nun via Agentur oder auch direkt über den Verleger lesenswerte Texte zum lesenden Publikum. Zu den traditionsreichsten und heute noch aktiven Agenturen gehört Mohrbooks in Zürich. Die Literaturvermittler und Agenturen müssen die Agilität der aktuellen Kultur- und Businesswelt übernehmen, aber ohne zu vergessen, dass Worte, Texte, eben: Bücher vermittelt werden und keine Popstars oder Spitzensportler. Die Agenturvermittlung darf sich selber auch nicht wichtig nehmen und Energie an die Selbstverwirklichung verlieren, sondern steht hinter dem Namen des Autors und seines Werkes. Agenturen übernehmen von den einen Autoren punktuelle Aufträge an wie Medienarbeit, Rez.- Ex.-Versand, Tourneeplanung oder gar eine Gesamtbetreuung, die dann bis ins persönliche Coaching mit Gesamtimagepflege geht. Autorinnen und Autoren sehen sich vermehrt gezwungen, selber aktiv 289 Einheit 10 zu werden, was die Kontakte zu Handel und Medien anbelangt, oder eben Agenten damit zu beauftragen. Und hier gewinnt ein immer größer werdender Geschäftsbereich an Bedeutung. Selbstredend soll angemerkt sein, dass es schon immer Agenturen für solche und ähnliche Aufgaben gab und dass viele Verlage die Autorenbetreuung vorbildlich umsetzen. Doch der Trend zum schnellen Geld mit schneller Produktion mit den genannten Mängeln in Qualität und Halbwertzeit eines Buches ist deutlich. Anpassung und Rückbesinnung Einerseits erfordert der Zeitgeist eine Anpassung in der Vermittlungsart der Literatur, aber andererseits auch eine gewisse Rückbesinnung auf eine gelassenere Behäbigkeit im positiven Sinne, die sich als wohltuendes Kontrastprogramm vom hektischen Rest des Kulturzirkusses abhebt. Denn Lesen ist immer noch eine Tätigkeit, die sich während der letzten zweitausend Jahre wenig verändert hat. Und das ist gut so. In einem Interview mit der Zeitschrift DU (Nr. 9 / 2007) äußerte sich der Hanser-Verleger Michael Krüger wie folgt: „Wir leben in unerhört rasanten, sich geradezu überstürzenden Zeiten und müssen versuchen, diese Beschleunigung in Büchern für einen Moment aufzuhalten.“ Warum soll dieser Wunsch nicht auch für die Vermittlung und Vermarktung des Buches gelten? Die Qualität von Inhalten wurde nie durch die Beschleunigung des Vertriebs verbessert. So sei an die Buchbranche appelliert, sich auf ihre Grenzen, ihre Möglichkeiten zurückzubesinnen und das Ziel der ‚Gewinnmaximierung auf Teufel komm raus‘ anderen Branchen zu überlassen. Dafür ist unser gutes Buch zu schade. Urs Heinz Aerni lebt in Zürich und ist freischaffender Journalist, Kulturveranstalter und betreibt eine Agentur für Kultur und Kommunikation. Er präsidiert die Leseförderung 4xL in Bern und den Literarischen Club Zürich. Regelmäßig gibt er Seminare für Buchhandel und Verlage in Zürich und Wien zu Marketing, Event und Medienarbeit. Er ist zudem Mitglied des Fachausschusses Literatur der Kantone Basel-Land und Basel-Stadt. 290 Einheit 10 Michael Huter: Latente Talente Unter den echten Literaturvermittlern bin ich sicher eine Ausnahme. Ich vermittle nämlich Literatur in einem weiteren Sinn, das heißt also keine schöne, sondern wissenschaftliche - unschöne? - Literatur, gelegentlich auch solche über schöne Literatur, wie in diesem Lehrbuch über Literaturvermittlung von Stefan Neuhaus. Hier habe ich mir zuerst das Vertrauen des Autors erworben, das Manuskript gelesen, ein paar Änderungsvorschläge gemacht, die Herstellung organisiert und finanziert, die Vertriebsschienen über Konstanz (UVK) und Stuttgart (UTB) gelegt und den Künstler Paul Flora gebeten, uns doch seine Zeichnung zum Thema „Bestseller“ zur Gestaltung des Umschlages zu überlassen, was er großzügigerweise spontan getan hat. 1 Literaturvermittlung aktiv und passiv Es geht also um die Vermittlung von Literatur, ungefähr in der Bedeutung wie in dem Wort „Literaturverzeichnis“ oder „Literaturrecherche“, wissenschaftliche Literatur also, und eigentlich um Studienliteratur. Dabei hätte mich meine Ausbildung - genug Talent vorausgesetzt - auch zur Literaturvermittlung im engeren Sinn qualifiziert. Bevor ich mich der Herstellung und Verbreitung von wissenschaftlicher Literatur zu beschäftigen begann, war ich nämlich an den Universitäten in Innsbruck und Wien das Objekt akademischer Literaturvermittlung: Ich habe Germanistik studiert - und praktiziert. Zuerst als Praktikant in einer Institution, die heute Literaturhaus Wien heißt, danach als Lektor für deutsche Sprache und österreichische Literatur an einer italienischen Universität und schließlich als - sehr freier - Mitarbeiter bei Presse und Rundfunk. Ich habe Symposien über Wittgenstein oder Goethe organisiert, Vorträge über die Wiener Moderne oder Literatur und Landschaft gehalten und kleine wissenschaftliche Publikationen als Talentproben „vorgelegt“. Mut zum Risiko Ich merkte bald, dass man als angehender Literaturvermittler etwas tun und sich hinauswagen muss, am besten soweit, dass man die Fallhöhe gleich richtig gut spürt. Warum also nicht auf prominent besetzten Symposien Vorträge halten, den Essay eines Künstlers (David Batchelor) über 1 Kurz vor Erscheinen des Bandes ist Paul Flora im Mai 2009 sechsundachtzigjährig verstorben. Der „Bildsteller“, wie man ihn auch genannt hat, war als Illustrator auf seine Weise ein großer Literaturvermittler und hat sich auch immer wieder ironisch mit Sprache, Literatur und dem Literaturbetrieb auseinandergesetzt. Die Zeichnung ist dem Band „Vergebliche Worte“, erschienen 1981 im Diogenes Verlag, entnommen. 291 Einheit 10 Farbe in der Kunst („Chromophobia“) ins Deutsche übersetzen, das unveröffentlichte Romanfragment („Der Schiffskapitän“) eines Triestiner Schriftstellers (Roberto Bazlen) edieren und in einer prominenten Zeitschrift („Akzente“) unterbringen und kommentieren? Hauptsache, man lernt seine latenten Talente kennen und setzt sie auch ein. Professioneller Laie Bereits vorher war ich von der Vermittlung von Literatur in die von Wissen umgestiegen, ich hatte einen Job als Verlagsleiter in einem Wissenschaftsverlag übernommen. Dort erfand ich für mich die Rolle des professionellen Laien. Mir blieb auch gar nichts anderes übrig, denn wie sollte ich sonst mit Experten auf Gebieten wie Steuerrecht, Gesundheitspsychologie, Kunstphilosophie und Psychotherapie halbwegs vernünftig reden? Bei Lehrbüchern und wissenschaftlichen Sachbüchern hat das ganz gut funktioniert: „Ich bin der, der das Buch kaufen soll, das Sie schreiben wollen“, dachte und sagte ich auch, „ein Anfänger in Ihrem Fach oder jemand, der sich privat weiterbilden, aber dabei nicht langweilen will.“ Wenn man - potentiell - selbst zur Zielgruppe gehört und die Autoren und Autorinnen auch noch anerkannte Mitglieder ihrer Zunft sind, dann lässt sich die Qualität einigermaßen gut überprüfen. Bei echter Wissenschaft ist das wieder etwas anderes. Da muss man den Leuten glauben, was sie sagen, die Zielgruppen finden, für eine sorgfältige Herstellung sorgen, ordentlich werben und schauen, dass bei dem Ganzen die Kosten im kalkulierten Rahmen bleiben. In dieser Form von intelligenter Dienstleitung habe ich mehr als tausend Projekte verantwortet und dabei ordentliche Flops produziert, aber auch ganz schöne Erfolge. Praktische Theorie Es ist ein großes Privileg, wenn man nach der Methode „Versuch und Irrtum“ lernen kann. Die Autodidaktik gelingt aber nur, wenn dabei ständig die Qualitätskontrolle mitläuft. Die Misserfolge sagen einem zwar unmissverständlich, wenn man etwas und meistens auch gleich was man falsch gemacht hat, aber um zu lernen, reicht das nicht. Man muss dazu auch noch wissen, wie man etwas richtig macht, oder, was auf dasselbe hinausläuft, wie es die machen, die es gut machen. Ich habe deswegen den Kontakt mit Branchenkollegen gesucht und mich in Verbänden engagiert und dabei wertvolle Erkenntnisse und Erfahrungen gesammelt. Durch die Beschäftigung mit Texten bekommt man ein Gefühl für Töne und Stile, für Proportionen und Dramaturgie. Man lernt, die Muster und Macharten zu erkennen und Texte als Gebilde beinahe räumlich zu sehen. Ich habe es im Laufe der Zeit interessanter gefunden herauszufinden, wie 292 Einheit 10 etwas gemacht ist, als darüber nachzudenken, was es bedeuten könnte. Wenn man etwas lange genug gemacht und dabei mitgedacht hat, entsteht so etwas wie praktische Theorie, die sich auch vermitteln lässt. Ich halte Seminare über wissenschaftliches Schreiben und Publizieren. Dabei geht es mir darum zu zeigen, was man eigentlich tut, wenn man schreibt, um auf diese Weise von purer Intuition zum halbwegs sicheren Wissen, von bloßer Nachahmung zur bewussten Wahl der Mittel zu kommen. Texte aus Texten Wenn ich nicht Verlagsprojekte betreue oder Seminare halte, schreibe ich Texte für Museen, Konzepte vor allem, aber auch jene Texte, welche die Besucher im Museum gelesen und gehört haben müssen, um die Dinge zu verstehen, die sie dort gezeigt bekommen. Das ist eine weitere Art von Literaturvermittlung. Im Museum wird ja immer auch Literatur vermittelt, selbst wenn es dort um Kunstwerke oder historische Objekte geht. Die Quellen sind immer Literatur, wissenschaftliche in erster Linie, aber auch schöne. Das Ergebnis sind die populärsten Wissenschaftstexte, die man sich nur vorstellen kann, so einfach, kurz und verständlich es eben geht. Wie viel kann ich weglassen, ohne dass etwas unverständlich wird, wie weit muss ich zurücktreten, wenn ich eine Gesamtansicht zeigen will, wie nahe, wenn es auf die Details ankommt? Wie einfach kann etwas sein, ohne falsch oder wie kurz, ohne nichtssagend zu sein? Die Geschichtsschreibung ist an sich schon stark von literarischen Formen geprägt, die populäre Vermittlung ist Erzählung, Inszenierung und Dramaturgie. Für die Museumsprojekte haben sich Erzähl- und Dramentheorie daher als ganz wertvoll erwiesen und ich bin froh, auf ein Wissen zurückgreifen zu können, das mir in Seminaren vermittelt worden ist. Das Studium der Literaturwissenschaft schadet also auch hier nicht, die Beschäftigung mit Literatur, egal ob experimentell oder traditionell, aktuell oder kanonisch, klassisch oder obskur nützt immer, wenn es darum geht, aus vorhandenen Texten neue zu machen. Michael Huter, geboren 1954 in Innsbruck, Studium der Germanistik und Anglistik in Innsbruck und Wien, 1983-1986 Lektor am Istituto Universitario Orientale in Neapel / Italien, 1990-2005 Verlagsleiter des Facultas Universitätsverlages in Wien, 2002-2005 Mitglied der Geschäftsführung der UTB für Wissenschaft GmbH Stuttgart, 2006 Gründung des Verlages Huter & Roth in Wien; Verlagsprojekte, Textproduktion, Lehrtätigkeit. Schlussbemerkung Und wenn er nicht das Werk eines Zauberers ist, dann zumindest der genialste Satz, den jemals ein Dichter ersann. Der Satz lautet: „ Hier fängt die Geschichte an .“ Hildegunst von Mythenmetz 1 Literaturvermittlung wurde im vorliegenden Lehrbuch konturiert als Vermittlung von Literatur in den Medien, ohne Berücksichtigung z.B. des Unterrichts in Schule und Universität - dies ist Forschungs- und Lehrbereich der Schul- und Hochschuldidaktik. Auch die Erwachsenenbildung wurde nur gestreift, da der Schwerpunkt der hier aus pragmatischen Gründen favorisierten literaturwissenschaftlichen Auffassung, was Literaturvermittlung ist, auf der Arbeit in Verlagen, im Buchhandel, in der Literaturkritik (als der Vermittlung von Literatur in den Massenmedien Zeitung, Zeitschrift, Hörfunk, Fernsehen und Internet) und in bildungsnahen Einrichtungen wie Bibliotheken und Archiven liegt. Auch hier wurden wieder Schwerpunkte gesetzt - für den Buchhandel oder das Bibliothekswesen gibt es eigene Ausbildungswege, dies näher auszuführen ist in einem einzigen Buch nicht möglich. Allerdings wurde versucht, unter Rückgriff auf gängige Basistheorien aufzuzeigen, welche konzeptionellen Grundlagen Literaturvermittlung hat oder haben kann. Da eine Theorie der Literaturvermittlung fehlt und es angesichts der zahlreichen interessanten, aber doch heterogenen Ansätze nicht wahrscheinlich ist, dass es eine verbindliche Theorie jemals geben wird, ist versucht worden, das Literatursystem, das literarische Feld oder den Diskurs über Literatur in seiner möglichen theoretischen Breite ansatzweise zu entfalten. Aus der Perspektive der Literaturvermittlung ist Literatur als Prozess beschrieben worden, der sich als System, Feld oder Diskurs von der Gesellschaft bzw. den anderen Systemen, Feldern und Diskursen innerhalb einer Gesellschaft unterscheiden lässt. Literatur ist ein ‚autopoietisches System‘ (Luhmann), also ein selbsterzeugendes System mit eigenen Gesetzmäßig- 1 Walter Moers: Die Stadt der träumenden Bücher. Ein Roman aus dem Zamonischen von Hildegunst von Mythenmetz. 9. Aufl. München u. Zürich: Piper 2007, S. 29. 294 Schlussbemerkung keiten und Regeln. Begründet liegt der Unterschied in der Eigengesetzlichkeit der Literatur, der Offenheit der literarischen Texte, die deshalb aber keineswegs beliebig ausdeutbar sind. Die Bedeutung der Texte ist Ergebnis sinnstiftender und sinnverhandelnder Kommunikation zwischen den Akteuren, das betrifft Autoren wie professionelle Leser, aber natürlich alle (ebenso die nicht-professionellen) Leser, deren Lektüren die Basis für die Fortdauer und Fortentwicklung des Systems / Feldes / Diskurses bilden. Bourdieu hat gezeigt, dass sich die heute gültigen Regeln des literarischen Feldes in Beziehung zur ökonomischen Struktur der Gesellschaft gebildet haben und einen besonderen Markt begründen, der stärker auf kulturelles bzw. symbolisches als auf ökonomisches Kapital setzt, aber immer noch (nur auf anderen Wegen) danach trachtet, auch materiell erfolgreich zu sein. Der Habitus der Akteure im Feld spielt eine wichtige Rolle, er ermöglicht eine bestimmte Positionierung. Foucaults Fokussierung der Beziehungen zwischen den Akteuren und der Machtverhältnisse innerhalb des Diskurses hat die Perspektive noch einmal um die grundlegenden Motivationen der Individuen erweitert. Den Beginn der Entwicklung zur modernen bzw. postmodernen Gesellschaft mit der Ausdifferenzierung des Kunst- und auch Literaturbetriebs setzen alle drei im 18. Jahrhundert an. Die skizzierten Theoriemodelle zeigen, dass die „Selbstreferenz“ (Luhmann) oder Eigengesetzlichkeit von Kunst und Literatur in einem größeren Kontext steht, der immer mitbedacht werden muss. Es wäre eine interessante Aufgabe, die gemeinsame Schnittmenge der Basistheorien auch in der Hinsicht einmal auszuleuchten, leider werden in der ausdifferenzierten Wissenschaftslandschaft eher die Unterschiede markiert. In erstaunlicher Nähe zu Foucault steht beispielsweise die Formulierung Luhmanns, „Aufklärung“ sei eine Zeit, „in der man die Individuen nicht mehr durch die Ständeordnung zu disziplinieren versucht, sondern durch die Zumutung, rational zu sein“ (L, 433). Ebenso konstatiert Luhmann und ist damit nahe bei Bourdieu, dass sich „Kunstkritik und Durchsetzung von Reputation […] kaum trennen“ lassen (L, 437). Noch schärfer klingt die Feststellung: „Der Verzicht der Kritik darauf, selbst an den Maßstäben der Kunst gemessen zu werden, wird kompensiert durch die Selbstdarstellung als Reflexionselite […]“ (L, 465). Und Bourdieu spitzt wertend Erkenntnisse zu, die sich auch bei Luhmann finden: Genauso wie es auf Seiten der Produktion keinen Platz für Naive mehr gibt, es sei denn als Künstler, die selber einen Objektstatus haben, so gibt es auch keinen Platz mehr für eine naive Rezeption, eine Rezeption ersten Grades: Das gemäß der Logik eines hoch autonomen Feldes produzierte Werk erfordert eine differenzierte, zu Unterscheidungen fähige, das Augenmerk auf die Abstände zu anderen zeitgenössischen oder vergangenen Werken richtende Wahrnehmung. 2 2 Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Aus dem Franz. v. Hella Beister. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1998 (edition suhrkamp, Neue Folge 985), S. 71. 295 Schlussbemerkung Die Zahl der Beispiele von möglichen Querverbindungen in allen Richtungen ließen sich stark vermehren. An dieser Stelle festzuhalten bleibt, dass Literaturvermittlung immer auch eine inszenatorische Praxis ist, die spezifische Gratifikationen bereithält, ohne dass die Regeln für das ‚richtige‘ Handeln klar vorgezeichnet wären. Im Argumentationsgang der vorliegenden Studie ist auch immer wieder die besondere Leistung von Kunst und Literatur für die Gesellschaft betont worden, in individueller wie in struktureller Hinsicht. Kunst und Literatur eröffnen Möglichkeitsräume und erweitern die Wahrnehmung. Hier könnten zahlreiche Zitate etwa von Jauß, Lotman oder Barthes angeführt werden, stellvertretend sei auf den stark abstrahierenden und daher für ein Schlusswort sehr geeigneten Niklas Luhmann verwiesen: „Das Individuum wird zum Subjekt, zum Konstrukteur seiner eigenen Geschichte, mit der es sich identifiziert, und dem Leser wird angeboten, das an sich selbst auszuprobieren“ (L, 441). Das hat auch Konsequenzen für die Querschnittsaufgabe der Literaturvermittlung, für die Kritik: „Kunstwerke konzedieren jetzt ihre eigene Interpretationsbedürftigkeit und öffnen sich für mangelnden Konsens. Und Kritik kann jetzt nicht mehr heißen: Suche nach der richtigen Beurteilung, sondern nur noch: weitere Arbeit am Kunstwerk selbst“ (L, 458). Die Kunstwerke erzeugen „Staunen darüber, was alles möglich ist“ (L, 485), und die Kritik ergänzt die Kunstwerke in ihrer sich selbst beobachtenden Qualität, wie sie insbesondere für die Literatur der Postmoderne zum Markenzeichen geworden ist. „Mehr und vor allem deutlicher als in anderen Funktionssystemen kann in der Kunst vorgeführt werden, daß die moderne Gesellschaft und, von ihr aus gesehen, die Welt nur noch polykontextural beschrieben werden kann“ (L, 494). Hier scheint zugleich eine utopische Qualität von Literatur auf, die Luhmann nicht thematisiert (weil für ihn eine solche utopische Qualität nicht beschreibbar wäre). Literatur wie Kunst allgemein können elementare, durchaus moralische Einsichten vermitteln, die das menschliche Zusammenleben verbessern helfen. Das muss nicht direkt geschehen - pädagogische Kunst ist keine Kunst (mehr). Aber jedes Kunstwerk, jeder literarische Text demonstriert durch seine Eigengesetzlichkeit die Möglichkeit von Freiheit (was, wie Luhmann ebenfalls treffend feststellt, nicht den Gegensatz, sondern den Komplementärbegriff zu „Notwendigkeit“ darstellt; vgl. L, 498). Wenn man in der „modernen Kunst das Paradigma der modernen Gesellschaft“ sehen kann (L, 499), dann nicht nur der Gesellschaft, wie sie ‚ist‘ (also wie sie von ihren Mitgliedern konstruiert wird), sondern auch, wie sie sein könnte. Vielleicht kann man es als Ironie der Theoriegeschichte bezeichnen, dass vor allem Luhmann gern als Empiriker gefeiert und mit ihm (in der Konzeption der Empirischen Literaturwissenschaft) die Abkehr von dem Inhalt eines Texts zelebriert wurde. Die konstruktivistisch grundierte 296 Schlussbemerkung Systemtheorie sollte dazu dienen, Realität objektiv erfahrbar zu machen. Dass es keine objektiv erfahrbare Realität gibt, sondern dass ‚Realität‘ ein Ergebnis des Aushandelns von (möglichen, ggf. wahrscheinlichen) Realitätspartikeln ist, das eint die hier angeführten Theoretiker und ist ebenfalls charakteristisch für die durch Kunst und Literatur vermittelte Erfahrung. Foucault bringt dies auf die Formel: „Erkennen heißt also interpretieren“. 3 Wer das nicht akzeptiert, sollte sich einen Glauben oder eine Ideologie suchen (oder sich eine individuelle Ideologie aus den verschiedensten Angeboten, die er als solche nicht wahrnehmen kann, zusammenbasteln). Und er sollte bitte nicht Literaturvermittler werden, weil er für den Gegenstand wie für die damit verbundene Praxis vollkommen ungeeignet ist. Die Strukturen der Massenmedien und des Buchmarkts (Buchhandel und Verlage) zu kennen ist zweifellos eine grundlegende Voraussetzung, im System / Feld / Diskurs erfolgreich sein zu können. Es gehört zur menschlichen Existenz, einerseits eine unverwechselbare, individuelle Identität gewinnen zu wollen und dies andererseits nur durch Identifizierung mit und Abgrenzung zu anderen Individuen erreichen zu können, wobei alle in komplexe Strukturen eingebettet sind, die sich beständig verändern - dem gilt es Rechnung zu tragen, wenn man sich in einem solchen System-/ Feld / Diskurs zurechtfinden will. Nur wer die Regeln eines Spiels kennt, kann es spielen, und - um eine populäre Werbung zu zitieren - nur wer mitspielt, kann gewinnen. Das Buch ist so aufgebaut, dass die einzelnen Kapitel sich ergänzen und so ein - wenn auch skizzenhaftes - Gesamtbild vermitteln sollen. Ob und inwieweit es gelungen ist, Basistheorien und Praxisfelder in Beziehung zueinander zu setzen, mögen die Leser entscheiden. Zumindest bleibt die Hoffnung, dass der bisher nicht näher definierte oder problematisierte Begriff, der eine unbestreitbare und zunehmende Bedeutung in der universitären Lehre und (in seinen Teilaspekten) Forschung hat, stärker wahrgenommen und als Chance genutzt wird, Studierenden berufliche Perspektiven zu eröffnen. Theorie und Praxis sind, dies wurde immer wieder betont, keine Gegensätze; vielmehr setzt die Praxis der Literaturvermittlung die Theorie voraus. Wer (in der Terminologie von Luhmanns Systemtheorie) nicht dazu in der Lage ist, die Produktion und Rezeption von Literatur zu beobachten und sich dabei selbst zu beobachten, um die besonderen Regeln, Voraussetzungen und Bedingtheiten der Beschäftigung mit Literatur zu verstehen, der dürfte in Zukunft immer weniger Chancen haben, im System, Feld oder Diskurs erfolgreich zu sein. Die Konkurrenz ist groß, doch sind die Möglichkeiten für jemanden, der die Begeisterung für Literatur mit dem notwendigen Wissen kombiniert und bereit ist sich anzustrengen, um etwas 3 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1974 (suhrkamp taschenbuch 96), S. 63. 297 Schlussbemerkung zu erreichen, nicht kleiner geworden. Es gibt genug positive Beispiele, die einen anspornen können. Sicher wird man Kompromisse machen müssen, vielleicht nicht Lektor bei Suhrkamp, sondern Pressesprecher bei einem Fachverlag werden. Erstens kann dies ein Schritt auf der Karriereleiter sein und zweitens kann auch eine solche Arbeit Spaß machen. Die (post-)modernen Massenmedien verbreiten den alten amerikanischen Traum - vom Tellerwäscher zum Millionär in drei Tagen, am besten, ohne sich dafür anstrengen zu müssen… Abgesehen davon, dass es heute Spülmaschinen gibt - so funktioniert die Realität (oder zumindest das, was als Realität beobachtbar ist) leider nicht. Wer als Literaturvermittler arbeiten will, muss viel und gerne lesen, er muss das stille, mündliche und schriftliche Reflektieren über Literatur langsam lernen, auch wenn Begabung zweifellos dazu gehört - es wird niemand als Genie geboren und Ausnahmetalente, die es überall gibt, sind, wie das Kompositum bereits sagt, Ausnahmen. Vorliegendes Buch soll eine Grundausrüstung für die Expedition ins Feld der Literaturvermittlung sein. Die Expedition unternehmen muss jede und jeder selbst, für sich und immer wieder neu. Es bleibt zu wünschen: Gute Reise und viel Erfolg! W E I T E R F Ü H R E N D E L I T E R A T U R Es werden die meisten, nicht alle für dieses Buch verwendeten Titel nachgewiesen (die vollständigen Nachweise finden sich in den Kapiteln bei der ersten Nennung eines Buches in der Fußnote). Die folgende Liste versteht sich als Auswahl jener Titel, die zur vertiefenden Lektüre empfohlen werden. Zu jedem der einzelnen Themenbereiche gibt es eine umfangreiche Forschung, die hier nicht dokumentiert werden kann. Der geneigte Leser möge dem Verfasser glauben, dass er mehr kennt, als er hier auflistet. Eine Reihe von Werken, die sich im Literaturverzeichnis finden, ist im Text abgekürzt mit Sigle zitiert worden, bei der ersten Nennung in einem Kapitel wurde jeweils in einer Fußnote darauf hingewiesen. Doch soll zur besseren Nachvollziehbarkeit zunächst die Zuordnung erleichtert werden durch ein Siglenverzeichnis B = Bourdieu: Die Regeln der Kunst BB = Faulstich: Bestandsaufnahme Bestseller-Forschung BG = Gantert / Hacker: Bibliothekarisches Grundwissen BM = Schütz u.a. (Hg.): Das BuchMarktBuch DO = Foucault: Die Ordnung des Diskurses FZ = Bauman: Flüchtige Zeiten L = Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft LB = Kerlen: Der Verlag. Lehrbuch der Buchverlagswirtschaft LV = v. Lucius: Verlagswirtschaft PZ = Plachta: Zensur RB = Röhring: Wie ein Buch entsteht W = Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels Die vollständigen Nachweise finden sich, nach Kapiteln geordnet, im nun folgenden Literaturverzeichnis. 299 Literaturverzeichnis Literaturvermittlung in Theorie und Praxis Arbeitsgruppe NIKOL: Angewandte Literaturwissenschaft. Braunschweig u. Wiesbaden: Vieweg 1986 (Konzeption Empirische Literaturwissenschaft 7). 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A Agenda-Setting 23, 130, 230 Akademie des Deutschen Buchhandels 185 Aktualisierung 28 Alleinstellungsmerkmal 186 Allgemeine Deutsche Bibliothek 212 Allgemeines Landrecht 153 Angewandte Literaturwissenschaft 13 Anschlusskommunikation 16 Appellstruktur 31 Äquivalenzen 34 Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG) 241 arbiträr 33 Archiv 16, 123, 240-243, 267, 305f Archive 15, 16, 106, 240-243 arrivierte Avantgarde 79, 80f Ästhetikkonvention 49, 72, 115, 214, 245, 253 attributive Werte 51 Audio-Books 144 Aufklärung 19, 89, 112, 118, 148f, 209, 211f, 214, 230, 294 Aufsteller 182, 194 Aushänger 184 Auslandslizenzen 185 Außendienst 184 Außenpluralismus 103, 122 Ausstellungen 70, 78, 234, 238, 240, 242, 244f autonom-ästhetisch 49f Autonomie 50, 70, 73, 78, 81, 200, 215 Autonomiekonvention 49 autopoietisches System 118 Autor (-innen) 9, 14-16, 23f, 26-28, 30, 32, 36, 38f, 41, 44- 46, 48f, 52f, 55, 57-59, 66, 72, 78-83, 90-92, 120f, 136, 143- 145, 151-154, 157, 163, 164, 166-168, 171-173, 175-184, 186-189, 191f, 196, 197, 202, 204, 206, 211f, 214-217, 221f, 224, 228f, 231, 233, 237-242, 250, 254-259, 263f, 266-269, 275-278, 280-284, 287f, 294, 303, 306 Autorendokumentation 205, 243, 306 Autorenlesungen 161f, 196, 238 Avantgarde 79-81, 85, 283 Awareness-Modell 130 Axel Springer Verlag 122 axiologische Werte 51 B Bachmann-Preis 173, 186, 303f Backlist 82, 144, 194 Bahnhofsbuchhandel 158 Barsortiment 156, 159, 190. Siehe auch Zwischenbuchhandel Basistheorien 22-24, 61f, 71, 93f, 293f, 296 Belegexemplare 188, 237 Beleidigung 15, 111 Belletristik 8, 122, 136, 143, 187, 227, 282 Beobachtung 68-70, 87, 167, 226, 231 Bericht 24, 110f, 123, 127, 204, 299 Berner Übereinkunft 167 Bertelsmann 19, 122f, 142, 154, 299 Bestandserwerbung 241 Bestenliste 84, 169-171, 304 Bestseller 84, 151, 169-171, 177, 181, 195, 200, 224, 229, 261, 283, 287, 303 Bestsellerliste 171, 177 Bestsellerlisten 169-171 Betriebskosten 191 Bibel 59, 147, 164, 181, 260 Bibliothek 54, 78, 141, 146, 150, 154, 156, 158, 186, 198, 212, 222, 236f, 240, 242, 251, 253f, 256-258, 304, 307 Bibliothekare 236, 306 Bibliotheken 14, 54, 89, 178, 186, 234-240, 293, 306 Biedermeier 214 Bindung 152, 186, 193 Binnenpluralismus 100, 103 Bogen 154, 183 Bohème 75f Book-on-Demand 53, 144 Börsenverein des deutschen Buchhandels 154, 160 Bourgeoisie 76 Branding 179, 194 Brenner-Archiv 240, 242, 306 Broschur 193 Buchanzeige 205 Buchbesprechungen. Siehe Rezensionen Buchblock 158, 193 Buchdruck 146f, 162, 164 Büchereien 15, 54, 197 Bücherverbrennung 163, 216 Buchgemeinschaften 158 Buchhandel 5, 8, 14, 24, 140, 142, 145f, 148, 155, 157, 159, 173- 176, 185, 235, 237, 283-285, 289, 293, 296, 303 Buchhändler 16, 54f, 145, 148f, 154, 159, 170, 174-176, 184, 194f, 244, 282, 285, 303 Buchhandlung (-en) 14f, 54, 141- 143, 145, 150, 156f, 174-177, 190, 193f, 196f, 208, 242, 275, 285, 287, 303 Buchkritik 200, 204. Siehe auch Rezensionen Buchmessen 53, 181, 193, 196 Buchpreisbindung 84, 145, 155 Buch Wien 162 Buchwochen 53, 181 Bundespresseamt 103 Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien 108, 166 Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften 108, 166 Bundesverfassungsgericht 100, 103-105, 108, 165f bürgerliche Öffentlichkeit 214 Bürgertum 76, 153, 164, 209f. Siehe auch Bohème C ‚Computer-to-plate‘-Verfahren 193 Controlling 180, 185 Corperate Identity 182 Cover 8, 198 critique litteraire 203 Crossover 169 D Deckenband 193 Deckungsbeitragsrechnung 190 Dekanonisierung 49 Denotation 34 Desktop-Publishing (dtp) 193 Deutsche Bibliothek Siehe Deutsche Nationalbibliothek Deutsche Bücherei. Siehe Deutsche Nationalbibliothek Deutsche Demokratische Republik (DDR) 217 Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 246 Deutsche Nationalbibliothek 156, 304, 212 Deutsches Literaturinstitut Leipzig 173 deutungsoffen 25, 49 Deutungsoffenheit 26f, 43, 61, 202, 206, 217, 233 Diffusion 136, 163 Diskurs 5, 20, 40, 51, 61, 71, 78, 86-93, 107, 121, 130, 150, 209, 212, 215, 217, 231, 264f, 293, 296, 298, 301 Diskursanalyse 23 Dreibruch 183 S A C H R E G I S T E R 310 Register Dreyfus-Affäre 80 Druckkostenzuschüsse 178 dtp (Desktop-Publishing) 193 duale Rundfunkordnung 100 duales Rundfunksystem 100 E Eigengesetzlichkeit 66, 69, 208, 215, 224, 294f Einschaltquoten 123f Ein-Zeitungs-Kreise 124 Empirische Literaturwissenschaft 19, 299 Epigonen 85 Erinnerung 36, 59, 88, 127, 241, 249, 265, 270, 276, 300, 307 Erwachsenenbildung 239, 245, 293 Erwartungshorizont 27-29, 31, 40, 67, 129 extensive Lektüre 151 F Fachzeitschriften 106, 123, 237, 281 Fadenheftung 186, 193 Fahnenkorrektur 184 Feature 127, 204 Feld 9, 20, 24, 46-48, 53-56, 61, 71-86, 106, 121, 137, 166, 173, 208, 215, 218f, 224f, 236, 250, 252, 257, 266f, 293f, 296f, 299, 301, 307 Feldforschung 23 Fernsehen 41, 59, 97-99, 103-106, 114, 123, 125-127, 131-134, 146, 158, 172, 203f, 206, 208, 231, 261, 264, 278, 286f, 293, 301, 305 Fetisch 85 Filmkritik 206, 208 Formationssysteme 86 Framing 178f Frankfurter Buchmesse 15, 161, 183, 196, 227 freiberuflich 203, 207, 219, 246 freie Mitarbeit 138, 278 Freiexemplare 183, 192 Fremdreferenz 64f, 67 Frühe Neuzeit 89, 107, 164 Frühjahrsprogramm 196, 227 Funktionen der Massenmedien 99, 125, 302 G Gate-Keeper 23, 97, 228, 229 Gedächtnis 36, 59, 265, 300, 307. Siehe auch kulturelles Gedächtnis Gegendarstellung 111 Gegendiskurs 217 Generationenromane 260 generation gap 131 Genieästhetik 9, 50, 211 Geschmack 80, 210f Geschmacksbegriff 69 Gewaltdarstellung 133f, 166 Glaubwürdigkeit 127 Glosse 204 Gratifikationen 57, 115, 132, 295 Graue Literatur 237 Grundrabatt 190 Grundtext 192 Grundversorgung 104 Gutenberg-Galaxis 147, 247, 249, 301, 307 H Habitualisierungsthese 133 Habitus 75, 82f, 294 Hanser 53, 73, 213, 228, 255, 272, 286, 289, 307 Hardcover 179, 185, 187 Herbstprogramm 196, 227, 272 Herstellung 13, 98, 180, 183f, 189, 193 Herstellungsabteilung 183 heteronom 50 Historisch-kritische Ausgaben 240 Hobby-Leser 7 Höhenkammliteratur 169, 177, 221, 251 Holtzbrinck 122 Honorar 151, 173, 186, 188, 196f, 275 Hörbuchfassungen 144 Hörfunk 26, 97, 98, 105, 114, 122, 127, 146, 203, 206, 281, 293 Hörspiel 144 Hörspielen 185 I iasl-online 205, 305 ikonographische Bedeutung 98 illokutionärer Akt 15 Image 98, 115 Impliziter Leser. Siehe Lesertypen implizite Wertung 204 Impressum 184, 198 Individualverleger 152 individueller Kanon 56 Individuum 27, 32, 51, 90, 92, 127, 135, 162, 249f, 295 Infotainment 118, 131, 219 Ingeborg-Bachmann-Preis 173, 303f. Siehe auch Tage der deutschsprachigen Literatur Innovation 75, 79, 83. Siehe auch Originalität, Neuheit Innovationspotential 29. Siehe auch Originalität, Neuheit Innsbrucker Zeitungsarchiv (IZA) 11, 14, 106, 183, 205, 243, 267, 305f Inszenierung 98, 115, 118f, 131, 136, 178f, 263 intensive Wiederholungslektüre 151 Internet 8, 14, 26, 104, 106, 114, 117, 121, 123, 125f, 140, 142, 146, 156, 159, 161, 167, 176, 190, 200, 203, 205, 237, 293 Internetbuchhandel 159 Interpretation 27-29, 37, 49, 67, 70, 219, 220 intersubjektiv 35, 37, 59 Intertextualität 66 Interview 204, 263, 273, 278, 289 investigativer Journalismus 122 ISBN 198, 199 ISSN 198 J Journalismus 50, 119, 122, 137f, 168, 204, 207, 215, 302 Journalisten 100, 111-113, 137-139, 168, 212, 226, 244, 276, 282 Journalistenschulen 137, 138 Journalistinnen 113 Junges Deutschland 154 K Kalkulation 185, 188f, 191 Kanon 5, 14, 37, 43-50, 52, 56-60, 84, 122, 148, 169, 195, 221, 300f Kanonrevision 48f, 57 Karlsbader Beschlüsse 153f, 214 Katalogisierung 237 Katharsistheorie 133 Kaufhausbuchhandel 158 Kernkanon 43, 47f, 169 Kiepenheuer & Witsch 53, 122, 228, 235, 255, 263, 307f Kitsch 68f Klagenfurter Literaturkurs 173 Klappentext 181, 192, 272 Klassik 38, 45, 50f, 69, 212-214, 254. Siehe auch Weimarer Klassik Klassiker 43, 47, 52, 55, 84f, 141, 170, 275, 284 Klebebindung 158, 186, 193 Kohärenz 83f kollektiver Kanon 56 Kommissionshandel 150 Kommunikation 15f, 26, 32, 35, 37, 39, 53, 55, 63f, 66, 68, 86- 88, 90, 94, 96-99, 117, 119, 127, 135, 146, 156, 163, 180, 194, 203, 262, 289, 294, 300, 302 Kommunikationskanäle 136 kommunikatives Handeln 46 Komplexität 43, 67, 72, 77, 86 311 Register Konnotation 34f Konstanzer Schule 27 Konstruktivismus 21, 36f, 299f Konstruktivisten 36 konstruktivistische Perspektive 24, 62 Kontext 16 Kontingenz 68 Konventionen 16f, 35, 47, 50, 56, 85, 88, 163, 166, 222, 231 konvertiert 81 Konzentration 26, 122, 124, 143, 169, 178, 219, 255 Kreatives Schreiben 245 Krimi 41, 47, 264, 283 Kritikerlisten 170 Kritische Ausgaben 16, 46. Siehe auch Historisch-kritische Ausgaben Kultivierungsthese 131 kulturelles Gedächtnis 199, 239 kulturelles Kapital 78 Kulturzeitschriften 121, 206. Siehe auch-Literaturzeitschriften Kunst 9, 23f, 40, 50, 58, 61-66, 68, 69, 70, 73, 75, 77, 79, 96, 109, 115, 117, 143, 165, 167f, 189, 197, 206, 213, 215, 249, 253, 294-296, 299, 301f, 304 Kunstbetrachtung 216 Kunstgewerbe 69 Künstlersozialkasse (KSK) 197 Kunstsystem 62, 68, 69, 70 L Laienkritiken 7 Landesbibliothek 236 L’art pour l’art 78 Layout 123, 191, 193, 281, 288 Lebenslanges Lernen 245 Leerstellen 30, 31. Siehe auch Unbestimmtheitsstellen Lehramtsstudium 235, 246 Leihbibliotheken 151 Leipziger Buchmesse 161, 172f, 196f Leitmedium 126, 136, 140, 146 Lektor 8f, 11, 16, 27, 43, 52f, 72, 88, 92, 95, 137, 173, 175, 180f, 184, 186-189, 191-194, 196, 216, 221, 227, 239, 244, 250f, 271f, 275, 277, 286, 297, 300, 303 Lektorat 180f, 183f, 198, 271f, 274f, 284, 288, 303 Lektoratsgutachten 90, 181 Lesegesellschaften 151 Lesenacht 142, 238 Lesepublikum 29, 148, 150, 154, 169, 172 Leser 16 Leserbrief 111 Leserevolution 155 Lesertypen 31f; empirischer Leser 32; fiktive Leser 32; imaginierte 32, 63; implizite 31f, 48, 204, 267, 300; intentionale Leser 32; konzeptionelle 32; reale Leser 32; vorgestellte Leser 32 Lesestein 146 Lesetipps 205 Linotype 155 Literarisches Colloquium Berlin 172, 173, 304 literarische Gesellschaften 241 literarische Wertung 44, 49, 221 literarisches Feld 9, 24, 46-48, 53f, 56, 61, 71-73, 75, 77-85, 166, 208, 215, 218f, 224, 250, 257, 293f, 299, 301 literarisches Übersetzen 235. Siehe auch Übersetzen literarische Wertung 5, 19, 43f, 169, 221, 299-301 Literar-Mechana 168, 304 literary criticism 203 Literaturagenten 175, 186f Literaturarchiv 205, 234, 239- 243, 306 Literaturbetrieb 10, 26, 40, 142, 172, 178, 201, 223, 232, 256, 278, 299, 303f Literaturen 45, 106, 121, 212, 222, 242, 273, 274 Literaturfestivals 181, 197 Literaturgeschichten 46-48, 55, 248 Literaturhaus 15, 16, 234, 241, 243f, 275f, 277, 306 Literaturkritik 5, 7, 10, 16, 19, 24-26, 44, 46, 54, 92, 150, 169, 200-221, 223, 225-233, 243, 263, 266f, 280f, 293, 301, 304-306 literaturkritik.de 14, 205, 305 Literaturkritiker 8, 27, 51, 95, 137, 171, 201, 203, 207f, 211, 215-218, 225, 228, 230, 239, 277 Literaturlexika 55 Literaturmuseum der Moderne (LiMo) 14, 242 Literaturpreis 53, 55, 136, 173, 189, 241, 303, 306. Siehe auch Preise Literaturtheorie Literaturtheorie 9, 21, 51, 299 Literaturwissenschaft 10, 13f, 18-20, 27, 29, 31, 37, 48, 55f, 61, 66, 169, 193, 200, 203, 220f, 233, 241f, 270, 280, 295, 299, 300, 304-307 Literaturzeitschriften 14, 53, 106, 172, 181, 209. Siehe auch Kulturzeitschriften Lizenzen 145, 167, 180, 184f, 188, 191, 221, 238 lokutionärer Akt 15 Longseller 38, 84, 170, 177 Lustgefühl 42, 211 M Macht 5, 61, 71f, 74, 82f, 85, 87- 89, 91-93, 95, 107, 130, 162, 164, 171, 180, 208-210, 251, 253, 259, 266, 301 Magazine 106, 236 makulieren 192 Mängelexemplar 158, 195 marked space 67 Marketing 14, 171, 180, 182, 194, 285, 289 Marketing-Mix 194 Massenkommunikation 95, 97, 99, 125-127, 301f Massenmedien 46, 57, 94-96, 99f, 102-108, 110, 112-121, 123- 126, 130, 132, 135f, 138, 144, 150, 157, 178, 203, 208, 293, 296f, 302 Medien 5, 8, 14, 20f, 23f, 75, 84, 89, 91-93, 95f, 98-100, 105-109, 112-115, 118-120, 122f, 125-127, 129-138, 142, 163, 165f, 178, 183, 197, 200, 203-205, 208, 219, 225, 227, 235-237, 239, 247, 265, 280f, 286, 289, 293, 299, 301f Medienfreiheit 5, 8, 14, 20, 21, 23f, 75, 84, 89, 91-93, 95f, 98-100, 105-109, 112-115, 118- 120, 122f, 125-127, 129-138, 142, 165f, 178, 183, 197, 200, 203-205, 208, 219, 225, 227, 235-237, 239, 247, 265, 280f, 286, 289, 293, 299, 301f. Siehe auch Pressefreiheit Medienkompetenz 131f, 302 mehrdeutig 49 meinungsbetonte Artikel 111 Meinungsführer 135 Meldung 204 Mephisto-Entscheidung 165 Messeort 149 Metadaten 206, 237 metafiktionales Erzählkonzept 260 Mischkalkulation 82, 147, 177, 189 Mittelalter 69, 85, 89, 101, 105, 107, 146, 149, 164 Moderne 14, 51, 105, 158, 176, 213, 215, 242, 248f, 251, 253f, 307 Moderne Antiquariate 158, 195 Monotype 155 Multimedia 176 312 Register N Nachdruck 150, 152f Nachlässe 239-243, 306 Nachrichtenagenturen 100f, 103 Nachzensur 154, 163, 165 narrativ 119 nationalsozialistische Kunstbetrachtung 216 Negativkanonisierung 49 Neomoderne 51, 252 Nettohandel 150 Nettoladenpreis 167, 187f, 190 Neue Medien 106 Neuheit 29, 43, 50, 66. Siehe auch Innovation; Orginalität Nichtkanonisierung 49 Non-Books 145 non-verbales Handeln 46 O Offener Kanal 105 öffentliche Bibliothek 146, 236 öffentliches Interesse 110 öffentliche Rüge 113 Öffentlichkeit 15, 25, 103, 107, 110f, 115, 118, 127, 150, 162, 166, 194, 209f, 213f, 218, 228, 287, 305 Öffentlichkeitsarbeit 20, 103, 182 Omnipotenzthese 126 online-Medien 98 opinion leaders 135. Siehe auch Meinungsführer Oppositionen 34 Orientierung 20, 53, 56f, 114, 116, 198, 229, 249, 254, 258, 260, 263, 265 Originalität 50-53, 58, 66, 77, 83, 85, 221 P Paginierung 192 Paperback 158, 185. Siehe auch Taschenbuch Papier 88, 96, 146f, 193, 223 Papiermühlen 146, 155 Papyrus 146 Papyrusrolle 146 Paratexte 198 Pay-TV 105 Pergament 146 Perlentaucher 206 perlokutionärer Akt 15 Personen der Zeitgeschichte 110f Persönlichkeitsrecht 110 Podcast 106 polyvalent 49 Popliteratur 262 Postmoderne 24, 222, 230, 248f, 251, 253f, 256-258, 265, 295, 304, 307 postmoderne Literatur 254 Preisbindung 145, 158, 177, 190, 195, 304. Siehe auch Buchpreisbindung Preise 70, 177f, 186, 188, 193, 241. Siehe auch Literaturpreise Presse 20, 75, 99f, 106, 119, 164, 180, 183, 208, 231, 305 Presseabteilung 171, 182f, 193, 196, 197 Pressearbeit 26, 197, 287f Pressefreiheit 107f, 231. Siehe auch Medienfreiheit Presseinformationen 100 Presserat 112f Presseschau 206 Primärkommunikation 97 Printmedien 98, 105, 107, 111, 114, 118, 121, 123, 125, 206 Prioritäten-Modell 130 private Anbieter 104f professionelle Leser 7, 15, 37, 41, 51f, 54, 56, 68, 172, 222, 294 Programm 87f, 104, 144, 169, 176, 180, 192, 196, 209, 214, 244, 253, 276, 282, 284 Programmleiter 180, 272, 275 Programmvorschau 192 Prohibitivzensur 163 Projektexposé 186 Public Relations 180, 182 Publikumsverlage 177 Publikumszeitschriften 106, 114, 123, 227, 228 R Rabatt 152, 157, 159, 177, 190, 194 radikaler Konstruktivismus. Siehe Konstruktivismus Rahmen 66 Random House 122, 142 ReaderScan 123, 124 Realismus 214, 267 Rechnungswesen 180, 185 Redakteur 137, 152, 207, 221, 278-282 Redaktionsgeheimnis 112 Referent 33f Regenbogenpresse 121, 138 Regietheater 206 Reichsschrifttumskammer 157, 216 Rekanonisierung 48f, 57, 59, 169 Remittenden 195 Reportage 204 Rezension 10, 46, 54, 183f, 189, 200, 203-206, 208, 219, 225, 229f, 268, 278, 280, 305 Rezensionsforum 205 Rezeptionsästhetik 23, 27, 31f, 40, 300 Ritualisierung 59 Rollenrotationsmaschine 155 Romantik 38, 213f, 254 S Sachbuch 122 Sachbücher 8, 10, 149, 169 Salience-Modell 130 Sammelrezension 204 Satz 34, 93, 146, 191-193, 204, 230, 270, 293 Schemata 118 Schleichwerbung 123 Schmähkritik 111 Schnellpresse 155 Schöne Literatur 149. Siehe auch Belletristik Schreibwerkstätten 244, 276 Schule 15, 27, 42, 45f, 54-56, 132, 137, 174, 222, 235, 293, 304 Schulen 15 Schutzumschlag 184, 193 Seckbacher Kolleg 185 Sekundärkommunikation 97 Selbstreferentialität 64, 67, 78, 294 Selbstzensur 163 Semiotik 31f, 64 Signatur 69, 237 Signifikant 33 Signifikat 33, 34 Skandal 112, 117f, 121, 136, 166, 179, 218, 268, 278, 302f Sleeper Effekt 127 S-M-C-R-E-Modell 136 Sorgfaltspflicht 112 Sortimenter 149f, 156f, 159, 190, 194f. Siehe auch Buchhandel; Buchhändler soziales Verhalten 134 Sozialgeschichtsschreibung 27 Sozialgeschichte der Literatur 58, 169 Sperrfrist 184, 208 Spiegel-Affäre 112 Spiel 41f, 64, 67, 73f, 223, 253f, 256, 259 Sprechakttheorie 15; illokutionärer Akt 15; lokutionärer Akt 15 Springer Verlag 122 Stadtbücherei 205, 236 Staffelrabatte 190 Status 55, 64, 68, 70, 90, 115, 134, 266 Stiftung Lesen 142, 304 Stimulus-Response-Theorie 127 Stipendien 172, 196f, 241 Strategie 40, 53, 98, 114, 178, 190, 196 Sturm und Drang 9, 50, 211 Stylesheet 192 Subjekt 90, 92, 213, 249, 295, 307 Suhrkamp 9, 17, 24, 27, 31f, 40, 50, 53, 59, 61, 63, 86, 96, 126, 144, 152, 169, 180, 203, 209, 219, 228, 233, 248f, 272, 275, 286, 294, 296f, 299-301, 304f, 307 313 Register Supertheorien 22f symbolische Profite 78 symbolisches Kapital 77, 82, 225 syntagmatisch 34 Systemtheorie 22f, 61f, 296 T Tage der deutschsprachigen Literatur 173, 218, 304. Siehe auch Ingeborg- Bachmann-Preis Talkshow 204 Taschenbuch 158, 187, 233, 275, 282-285 Tatsachenbericht 111 Tauschhandel 149 Text 16, 28-30, 34, 48, 51, 65, 288 Textsorten 118, 200, 202, 204, 221 Thalia 142, 143, 145, 190 Theaterkritik 206 Theorie 5, 13f, 18, 20-22, 24, 29, 31f, 35f, 49, 61f, 71, 86, 97, 113, 127, 138, 202f, 221, 230, 249, 271, 293f, 296, 299f, 302, 304f, 307. Siehe auch-Literaturtheorie Titelei 184 Trivial 13 Trivialliteratur 18, 37, 40, 300 Two-step-flow of Communication 135 U Übersetzen 8, 235 Übersetzer 181, 235, 244 üble Nachrede 111 umbrochen 184 Umschlag 184, 193, 198 Unbestimmtheitsstellen 30f. Siehe auch-Leerstellen Universität 8, 11, 13-16, 18, 20, 26, 46, 48, 54, 121, 134, 176, 178, 198, 203, 205, 207f, 235, 240, 242f, 245, 283ff, 293, 299 Universitätsbibliothek 236 univokes Zeichen 34 unmarked space 67 Unterhaltungsliteratur 13, 30, 37f, 40, 82, 169, 171, 221f, 251, 257. Siehe auch Trivialliteratur Urheberrecht 153, 167f, 176, 303 Urheberrechtsgesetz 153, 167 USP (unique selling proposition / das Alleinstellungsmerkmal) 186, 195 V verbales Handeln 46 Verkauf 145, 151f, 156, 159, 168, 171f, 174, 178, 180, 195, 241 verkaufte Auflage 188 Verlag 14-16, 18, 20, 25f, 43, 52- 54, 59, 72, 82, 84, 88f, 91-93, 95, 102, 106, 113, 122, 136, 140-145, 150f, 154-159, 163, 165, 167, 169-172, 174-192, 194-199, 204, 208, 216, 219, 221, 227f, 237, 250f, 263, 271, 272, 274f, 277-280, 282-285, 286-288, 293, 298, 296, 301, 303 Verlagsbereich 142 Verlagsprospekte 193 Verlagsvertrag 188, 191 Verlagsvertreter 156, 184, 194 Verleumdung 111 Vernunft 71, 209, 213, 294 verramschen 158f, 188 Verstärkerthese 127 Vertreterkonferenz 194 Vertrieb 82, 152, 175, 180, 184, 198, 285, 288 Vertriebserlös 191 Verwertungsgesellschaft 167, 304 Verwertungsgesellschaft Bild- Kunst (VG Bild-Kunst) 168, 304 Verwertungsgesellschaft Wort 304 visuelle Kompetenz 98 Volkshochschulen 8, 246 Volontariat 20, 137, 174, 207 Vorbestellungen 152, 195 Vorlässe 241 Vormärz 214, 217 Vorschuss 167, 185, 188, 287 W Wahrnehmung 22, 29, 31, 35f, 42, 48, 55, 62-64, 70, 75, 113, 116, 120, 126, 207, 213f, 217, 245f, 260, 266, 270, 294f Wanderhandel 148 Waschzettel 192 WAZ-Gruppe 122 Weimarer Klassik 51, 212. Siehe auch-Klassik Weimarer Republik 107, 155, 165, 215 Welturheberrechtsabkommen 167 Werbung 26, 98, 114, 118, 127, 129, 180, 182f, 191, 194, 296 Werthaltungen 41 Widerrufs- oder Rezensur 163 Wiener Buchwoche 196 Wiener Kongress 153, 209, 214 Wirkung 27, 29, 40, 44, 126f, 129, 133, 135, 172, 215, 223, 232, 252, 300 Wirkungslosigkeit 133 Wirkungspotential 29 Z Zeichen 28, 31-35, 64-66, 233, 255, 263, 300, 307. Siehe auch-Semiotik Zeichentheorie. Siehe auch Semiotik Zeitschrift 71, 97f, 103-106, 121, 123, 125, 131, 150-154, 172, 198, 203, 215, 227, 242f, 251, 278, 282, 289, 293, 305 Zeitung 70, 97f, 102-106, 113- 117, 120-125, 127, 138, 143, 150, 154, 183, 185, 201-203, 207, 218, 221, 225-227, 232, 273, 278, 281f, 293, 302 Zensur 107-110, 147, 149, 153f, 162-166, 209, 214, 298, 302f Zentrales Verzeichnis antiquarischer Bücher 159 Zeugnisverweigerungsrecht 112 Zitate 168, 192, 223, 253, 295 Zitatrecht 168 Zwischenbuchhandel 156, 174. Siehe auch-Barsortiment 314 Register A Aerni, Urs Heinz 286, 289 Allende, Isabel 169 Anton, Annette C. 154, 171 Anz, Thomas 41f, 203, 230, 265, 266, 299f, 304, 307 Aristoteles 35, 133 Assmann, Jan 58f, 265, 300, 307 Austin, John L. 15 B Baasner, Rainer 230, 304 Bachmann, Ingeborg 173, 186, 218, 303f Barbetta, Maria Cecilia 271, 274 Barthes, Roland 31, 34, 71, 202, 219f, 295, 299, 304 Kritik und Wahrheit 31, 219, 299, 304 Batchelor, David 290 Baudelaire, Charles 77, 78 Bauman, Zygmunt 248-250, 298, 307 Baumgarten, Alexander Gottlieb 210 Aesthetica 210 Baumgart, Reinhard 253, 255, 307 Bazlen, Roberto 291 Becker, Jurek 17f, 252f, 299 Beck, Ulrich 248f, 255, 257, 307 Risikogesellschaft 248f, 307 Weltrisikogesellschaft 249, 307 Benjamin, Walter 25, 202, 216, 255, 263, 308 Benn, Gottfried 157, 216, 252 Berghahn, Klaus L. 209-216, 305 Bergsdorf, Wolfgang 99, 301 Die vierte Gewalt 99, 301 Berman, Russell A. 215 Bernhard, Thomas 272 Bertelsmann, Carl 19, 122f, 142, 154, 299 Bertolucci, Bernardo 257 Der letzte Tango in Paris 257 Beyer, Marcel 269 Flughunde 269 Biermann, Wolf 217 Biller, Maxim 166, 223 Esra 166 Bloom, Harold 57-59, 300 The Western Canon 58, 300 Böll, Heinrich 36, 48 Bolz, Norbert 95, 114, 119, 126, 247, 249, 301, 307 Bong, Jörg 272 Bonsels, Waldemar 39 Biene Maja 39 Börne, Ludwig 78, 214, 215 Bourdieu, Pierre 5, 9, 23f, 39, 61f, 70-76, 79-86, 94, 126, 200, 224f, 231, 294, 298f, 301 Die Regeln der Kunst 9, 23f, 61, 71, 298f, 301 Brahm, Otto 215 Brandt, Willy 80 Brecht, Bertolt 144, 157, 216, 233 Gegen die Objektiven 233 Brussig, Thomas 173, 256, 268 Büchner, Georg 30, 38, 231 Butler, Judith 90 C Campe, Julius 154, 277, 307 Canetti, Elias 273 Carl Eugen, Herzog v. Württemberg 153 Chéreau, Patrice; Intimacy 257 Coelho, Paulo 60 Der Alchimist 60 Conte, Paolo 262 Craig, Daniel 257 Cross, Donna W. 60 Die Päpstin 60 D Dahn, Felix 38f Ein Kampf um Rom 38, 39 Danella, Utta 39 Darwin, Charles 213 Detering, Heinrich 203 Diez, Georg 231f Döblin, Alfred 9, 33, 64, 67, 157, 272 Berlin Alexanderplatz 9, 33, 64, 65 Droste-Hülshoff, Annette v. 214 Dürrenmatt, Friedrich 241 Dylan, Bob 252 E Ebers, Georg 38 Eine ägyptische Königstochter 38 Eco, Umberto 32-35, 181f, 300 Ellis, Bret Easton 109, 261f American Psycho 109, 261f Ende, Michael 195, 256 Die unendliche Geschichte 256 Enzensberger, Hans Magnus 78, 234, 257f, 274 F Fallada, Hans 157, 216 Faulstich, Werner 169, 170, 298, 303 Fellinger, Raimund 272 Feuchtwanger, Lion 157 Fiedler, Leslie A. 222f, 251-253, 256, 304 Cross the Border - Close the Gap 251 The Case for Post-Modernism 251 Überquert die Grenze, schließt den Graben! 222, 251, 304 Flaubert, Gustave 75 Erziehung des Herzens 71 Flora, Paul 7, 290 Foerster, Heinz von 36, 37, 300 Follett, Ken 59 Die Säulen der Erde 59 Fontane, Theodor 38, 48f, 152, 214, 233, 267 Der Stechlin 233 Effi Briest 48 Vor dem Sturm 48 Wanderungen durch die Mark Brandenburg 152 Foucault, Michel 5, 23, 61f, 70f, 74, 86-94, 162, 294, 296, 298, 301 Franck, Julia 271 Freud, Sigmund 41f, 213 Freytag, Gustav 38, 48, 152, 214 Soll und Haben 38 Verlorene Handschrift 38 Frisch, Max 259 Homo faber 259 Fugger, Jakob 101 Funke, Cornelia 122, 141, 195 Tintenherz 141 G Galilei, Galileo 163 Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische 163 Ganghofer, Ludwig 39 Schloß Hubertus 39 Geibel, Emanuel 48, 214 Gellert, Christian Fürchtegott 151, 152 Fabeln und Erzählungen 151 Gerbner, George 131 Glaessing, Florian 274 Glaser, Horst Albert 169 Glasersfeld, Ernst von 36, 300 Goebbels, Joseph 216 Goethe, Johann Wolfgang v. 9, 37, 38, 47, 56, 75-77, 85, 151f, 154, 201, 212f, 269, 290 Die Leiden des jungen Werther 9, 151 Faust I 47, 56, 154 Goldhagen, Daniel Jonah 179 Hitlers willige Vollstrecker 179 Gordon, Noah 60 Der Medicus 60 P E R S O N E N - U N D T I T E L R E G I S T E R 315 Register Gottsched, Johann Christoph 202, 210 Graf, Karin 271, 272 Grass, Günter 53, 79f, 85, 165, 229, 255f, 266-268, 307 Die Blechtrommel 80 Ein weites Feld 267f, 307 Katz und Maus 80, 165 Greiner, Ulrich 266 Grimm, Gunter E. 32, 36, 57, 300 Grimminger, Rolf 169 Gründgens, Gustav 165 Günzburg, Eberlin v. 148 Gutenberg, Johannes 146f, 249, 301, 307 H Haas, Wolf 263f, 307 Das Wetter vor 15 Jahren 263f, 307 Habermas, Jürgen 87, 209, 304 Hage, Volker 266 Handke, Peter 152, 222, 229 Hatzer, Markus 282, 285 Hauptmeier, Helmut 19 Havas, Charles-Louis 101, 102 Heidegger, Martin 35 Heine, Heinrich 38, 78, 154, 164, 215, 217 Almansor 164 Deutschland. Ein Wintermärchen 217 Henisch, Peter 259f, 307 Die schwangere Madonna 259, 307 Henneberg, Berthold v. 147 Hermann, Judith 178, 255, 262, 272, 308 Nichts als Gespenster 255 Sommerhaus, später 178, 255, 262, 308 Herzog, Rudolf 39 Die Wiskottens 39 Hesse, Hermann 48, 144 Heydebrand, Renate v. 45-51, 55, 301 Heyse, Paul 38 Kinder der Welt 38 Hilbig, Wolfgang 17f, 275, 299 Hoppe, Felicitas 270, 307f Johanna 270, 308 Humboldt, Alexander v. 268f Hus, Johannes 164 I Illies, Florian 260f, 308 Generation Golf 261, 308 Ingarden, Roman 31, 224 Ingold, Felix Philipp 226 Innozens VIII. 163 J Iser, Wolfgang 27-31, 300 Jaumann, Herbert 203, 305 Jauß, Hans Robert 27-29, 31, 295, 300 Johnson, Denis 273 K Kafka, Franz 41, 51f Kant, Immanuel 209, 211-213, 230 Kritik der praktischen Vernunft 209 Kritik der reinen Vernunft 209 Kritik der Urteilskraft 209 Kästner, Erich 7, 120, 141, 157, 216 Katz, Elihu 80, 135, 165 Kayser, Wolfgang 224 Kehlmann, Daniel 268f, 308 Die Vermessung der Welt 268f, 308 Keller, Gottfried 38, 48, 57, 214 Der Grüne Heinrich 38 Leute von Seldwyla 38 Romeo und Julia auf dem Dorfe 57 Kemper, Hans-Georg 18, 299 Kerkhoff, Ingrid 19, 299 Kerr, Alfred 215 King, Stephen 41 Kirsch, Sarah 165, 217 Kisch, Egon Erwin 215 Klapper, Joseph 127 Klein, Michael 11, 203, 217-219, 226, 232f, 304f Klopstock, Friedrich Gottlieb 48, 152 Die deutsche Gelehrtenrepublik 152 Kober, Henning 273 Koenig, Friedrich 155 Koeppen, Marion 273 Koeppen, Wolfgang 152, 273 König, Johann Ulrich 210, 240 Konsalik, Heinz G. 39, 52 Kopernikus 213 Koralnik, Eva 272 Kotzebue, August v. 154 Kracht, Christian 262, 273, 308 Faserland 262, 308 Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten 273 Kraft, Thomas 202, 255, 307 Kraus, Karl 215, 242 Die Fackel 215 Krausser, Helmut 202 Thanatos 202 Krüger, Michael 175, 228, 272, 289, 303 Kuttner, Sarah 274 L Landwehr, Matthias 272, 274 Lavant, Christine 284, 285 Aufzeichnungen aus einem Irrenhaus 284, 285 Lazarsfeld, Paul F. 135 Lebert, Benjamin 255, 263, 308 Crazy 255, 263 Der Vogel ist ein Rabe 263, 308 Lentz, Michael 272 Lessing, Gotthold Ephraim 44, 211, 212 Lindau, Paul 215 Lodemann, Jürgen 171 Löffler, Sigrid 106, 121 Lotman, Jurij M. 30, 295, 300 Lovenberg, Felicitas v. 274 Luhmann, Niklas 5, 23, 40, 50, 61-66, 68-71, 93, 96, 113, 115- 120, 126, 200, 208, 224, 226, 249, 293-296, 298, 301f Die Kunst der Gesellschaft 23, 40, 50, 62f, 96, 249, 298, 301 Luther, Martin 148, 164 Lyotard, Jean-Franςois 24, 299 M Mankell, Henning 51 Mann, Heinrich 216 Mann, Klaus 165 Mephisto - Roman einer Karriere 165 Mann, Thomas 51, 60, 157, 216 Buddenbrooks 60 Marlitt, Eugenie 38 Goldelse 38 Matt, Peter v. 203 Mattusek, Matthias 274 Matz, Wolfgang 272 McLuhan, Marshall 115, 147, 247 Mecklenburg, Norbert 19, 299 Mergenthaler, Otmar 155 Merkel, Rainer 272 Metternich, Klemens Fürst v. 153 Meusel, Johann Georg 151 Meyer, Clemens 173 Modick, Klaus 256, 278 Moers, Walter 48, 169, 186f, 201, 256, 293, 308 Die Stadt der träumenden Bücher 186f, 201, 256, 293, 308 Rumo & Die Wunder im Dunkeln 256 Moik, Karl 273 Mörike, Eduard 38 Moritz, Rainer 52, 251, 275, 277 Mühlfeld, Emily 204, 305 Müller, Heiner 253 Müller-Seidel, Walter 44, 301 Murdoch, Rupert 105 Murger, Henri; Murgers 75 Scènes de la vie de Bohème 75 316 Register N Nadolny, Sten 222 Nicolai, Christoph Friedrich 150, 212 Allgemeine deutsche Bibliothek 150 Nusser, Peter 40, 41, 300 O Ohmer, Anja 109, 110, 302 Ortheil, Hanns-Josef 43, 254, 300, 303 Osberghaus, Monika 60, 301 Was soll ich denn lesen? 60, 301 Ott, Ulrich 240 P Panić, Ira 268 Pilcher, Rosamunde 158, 257 Postman, Neil 126, 302 Puccini, Giacomo 75 La Bohème 75 R Raabe, Wilhelm 214 Radisch, Iris 268 Raue, Paul-Josef 138, 302 Reclam, Anton Philipp 9, 21, 32, 52, 142, 154, 158, 162, 201f, 222, 230, 235, 240, 251, 253f, 256-258, 277, 299f, 303-307 Regener, Sven 255 Herr Lehmann 255 Reich, Philipp Erasmus 34, 58f, 73, 150, 202, 204, 218, 266, 268 Reich-Ranicki, Marcel 59, 202, 204, 218, 266, 268 Reichwein, Marc 136, 178f Reuter, Paul Julius 101f, 152 Roche, Charlotte 257 Feuchtgebiete 257 Rodenberg, Julius 215 Rowling, Joanne K. 60, 195 Harry Potter und der Stein der Weisen 60, 195f, 228 S Saint-Exupéry, Antoine de 60 Der kleine Prinz 60, 145 Sand, Karl Ludwig 154 Schädlich, Hans Joachim 267 Tallhover 267 Scheck, Denis 204, 273 Scheffel, Joseph Viktor v. 38, 48, 214 Ekkehard 38 Schenda, Rudolf 37-40, 300 Volk ohne Buch 37f, 300 Schiller, Friedrich 9, 50, 72f, 212f, 253f, 212, 268 Maria Stuart 268 Walleinsteins Lager 72 Wilhelm Tell 154, 268 Schlink, Bernhard 269 Der Vorleser 269 Schmidt, Siegfried J. 19, 36f, 60, 203, 214f, 301, 305 Schneider, Jost 39, 300 Schneider, Robert 52, 251 Schlafes Bruder 52, 251; Schneider, Ute 181, 303 Schneider, Wolf 138, 302 Schröder, Julia 232 Schrott, Raoul 260f, 308 Tristan da Cunha 260f, 308 Schubart, Christian Friedrich 153 Deutsche Chronik 153 Schulte-Sasse, Jochen 213 Schulze, Ingo 268, 274 Schwab, Werner 256 Schwens-Harrant, Brigitte 11, 200, 230, 278, 280, 282, 305 Searle, John R. 15 Sebald, W.G. 269f, 272 Austerlitz 269f Segebrecht, Wulf 60, 203, 301 Seghers, Anna 157 Shakespeare, William 9, 57 Romeo und Julia 57 Sieburg, Friedrich 217 Simmel, Johannes Mario 39, 257 Spitzweg, Carl 77 Der arme Poet 77 Stadler, Arnold 272, 274 Staiger, Emil 224 Stamm, Peter 272, 273, 274 Stegert, Gernot 208, 231, 305 Stein, Hannes 202 Stelling, Anke 274 Stifter, Adalbert 38, 214 Stöber, Rudolf 105, 302 Storm, Theodor 38, 48, 214 Süskind, Patrick 60, 169, 185, 222 Das Parfum 60, 169, 185 T Timm, Uwe 7, 255, 258f, 308 Der Schlangenbaum 258, 308 Johannisnacht 255 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm 75-77 Goethe in der Campagna 75f Tolkien, J. R. R. 59 Der Herr der Ringe 59 Toller, Ernst 157, 216 Trakl, Georg 242 Trunz, Erich 148 Tucholsky, Kurt 157, 201, 216 Tykwer, Tom 261 Lola rennt 261 U Unseld, Siegfried 152, 180 V Virilio, Paul 117, 302 Vogel, Oliver 263, 271, 275 Voß, Richard 39 Zwei Menschen 39 W Wallraff, Günter 122, 255 Der Aufmacher 122 Walser, Martin 136, 152, 171, 201, 229, 302 Ein springender Brunnen 171 Tod eines Kritikers 136, 202, 302 Wassermann, Jakob 48 Weidermann, Volker 223, 255, 307 Lichtjahre 223, 255, 307 Wellek, René 44 Wendler, Johann 151f Weygand, Johann Friedrich 151 Wieland, Christoph Martin 140, 164 Wiesenthal, Simon 179 Wilde, Oscar 201 Bunbury oder Ernst sein ist wichtig 201 Willemsen, Roger 272, 274 Winkels, Hubert 202, 223f, 232, 255, 307 Winko, Simone 45-51, 55f, 301 Wittgenstein, Ludwig 24, 290 Wittmann, Reinhard 38, 140, 146-148, 151f, 155, 157, 298, 300, 304 Geschichte des deutschen Buchhandels 38, 140, 146, 298, 300, 304 Wittstock, Uwe 142f, 221f, 232, 251, 253f, 256-258, 304f, 307 Leselust 221f, 232, 305 Woelk, Ulrich 222, 261, 308 Rückspiel 261, 308 Wolf, Christa 165, 217, 222, 229, 265-267, 307f Medea 266 Was bleibt 242, 265, 308 Wylie, Andrew 272 Z Zafón, Carlos Ruiz 272 Zander, Louis 156 Zappa, Frank 252 Zeh, Juli 173 Zola, Émile 80, 81 J’accuse... 80 Zweig, Stefan 272 Weiterlesen bei UTB Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Wulf D. von Lucius Verlagswirtschaft Ökonomische, rechtliche und organisatorische Grundlagen 2. Auflage 2007, 408 Seiten 58 s/ w Abb., broschiert ISBN 978-3-8252-2652-7 Wulf D. von Lucius stellt alle Aufgabenbereiche und Tätigkeitsfelder im Buch- und Zeitschriftenverlag vor. Grundlagen, Funktionen und Zusammenspiel von Programmarbeit, Herstellung und Kalkulation, Werbung, Vertrieb, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit werden unter betriebs- und marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten erklärt. Gesonderte Kapitel behandeln innerbetriebliche Organisation und Projektmanagement, Zeitschriften und Anzeigengeschäft, elektronisches Publizieren, rechtliche Grundlagen sowie die institutionellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Verlagsarbeit. Mit vielen Abbildungen, Diagrammen und tabellarischen Übersichten. »Noch nie hat es eine so klare, so komprimierte und fundierte Einführung und Übersicht über die gesamte Verlagswirtschaft und damit über den gesamten Verlagsbuchhandel gegeben.« Prof. Dr. h.c. mult. Klaus G. Saur, Berlin »Für alle, die an Hochschulen junge Menschen auf eine Tätigkeit im Verlagswesen vorbereiten, ist der UTB-Band ein Glücksfall, weil man ihn uneingeschränkt und ohne Vorbehalt empfehlen kann.« Prof. Dr. Ernst Fischer, Main Weiterlesen bei UTB Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Stephan Porombka Kritiken schreiben Ein Trainingsbuch 2006, 270 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-2776-0 »Stephan Porombkas wunderbares Trainingsbuch für Kritiker zerstört alle typischen Anfängerillusionen im Keim. Doch gerade diese ehrliche Strenge und seine vielen praktischen Übungsvorschläge machen das Buch zu einer der brauchbarsten Schreibschulen, die in der letzten Zeit erschienen sind.« www.arte.tv »Nicht jeder kann oder besser gesagt sollte kritisieren, doch lernen kann es mit Hilfe von Stephan Porombka und eigenem Willen so mancher.« Artes Liberales Jan Lies (Hg.) Public Relations Ein Handbuch 2008, 634 Seiten, 200 s/ w Abb., gebunden ISBN 978-3-8252-8408-4 »[…] In kurzen, prägnanten Texten geben Lies und seine Mitautoren einen Überblick über 110 von ihnen als ›Kernbegriffe der PR‹ identifizierte Begriffe und Konzepte - von den ›Berufsorganisationen der Public Relations‹ über ›Kommunikationsstrategie‹ und ›Produkt-PR‹ bis zu ›Vision und Leitbild‹ oder ›Visualisierung‹. pr-guide.de Heinz Pürer Publizistik- und Kommunikationswissenschaft Ein Handbuch. Unter Mitarbeit von Helena Biland ic, Friederike Koschel, Johannes Raabe, Rudi Renger, Stefan Schirmer und Susanne Wolf 2003, 598 Seiten, 34 Abb. s/ w, gebunden ISBN 978-3-8252-8249-3 »Dieses Handbuch ist kundig aufgebaut, flüssig zu lesen und bietet reichhaltige Literaturhinweise. Es empfiehlt sich für die Studierenden und als Nachschlagewerk für die Lehrenden. Es ist ein Handbuch für Lektürezwecke. Hier liegt der richtig, der sich mit einem Buch in der Hand auf eine Tour d'horizon durch das gesamte Fach begeben will.« Medien & Kommunikation Weiterlesen bei UVK Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Thomas Bräutigam Hörspiel-Lexikon 2005, 540 Seiten 20 s/ w Abb., broschiert ISBN 978-3-89669-698-4 »Die kenntnisreich und flüssig geschriebenen Porträts Thomas Bräutigams verraten, dass der Hörspiel-Fundus eine unentdeckte Schatzkammer der menschlichen Phantasie ist.« www.berlinerliteraturkritik.de »Bräutigams Lexikon ist ein sehr informativer Wegweiser durch ein riesiges Hörspiellabyrinth.« Publizistik »Fazit: DER KLEINE ›KINDLER‹ FÜR HÖRSPIEL- FANS.« www.literature.de Hans-Jürgen Krug Kleine Geschichte des Hörspiels 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2008, 200 Seiten, broschiert ISBN 978-3-86764-076-3 »In keiner anderen Kunstgattung dürfte die Vielschichtigkeit und Zerrissenheit des digitalen Zeitalters so authentisch abgebildet werden wie im zeitgenössischen Hörspiel. Um so unverständlicher ist es, dass der kulturelle Diskurs die Aktualität und Relevanz der Radiokunst nach wie vor vernachlässigt. Hans-Jürgen Krugs ›Kleine Geschichte des Hörspiels‹ wird hoffentlich dazu beitragen, den für die gesamte Kunstszene abträglichen Zustand zu ändern.« Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Helmut Kuzmics, Gerald Mozetic Literatur als Soziologie Zum Verhältnis von literarischer und gesellschaftlicher Wirklichkeit 2003, 346 Seiten, broschiert ISBN 978-3-89669-781-3 Inwiefern ist Theodor Fontanes »Effi Briest« von soziologischem Interesse? Oder allgemein gefragt: Welche soziologischen Erkenntnisse lassen sich aus Literatur gewinnen?
