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Europäische Integration

Anleitung zur theoriegeleiteten Analyse

0523
2012
978-3-8385-3361-2
UTB 

Am Beispiel der Regionalpolitik erklärt dieses Lehrbuch, wie europäisches Regieren in der EU funktioniert. Theoretische Ansätze und empirische Darstellungen greifen so direkt ineinander und ermöglichen verschiedenste Blickwinkel auf das aktuelle Themenfeld >>europäische Integration<<. Die Kapitel folgen einem einheitlichen didaktischen Aufbau: Zunächst werden die theoretischen Grundlagen der verwendeten Ansätze vorgestellt. Es folgt die Identifikation des aus der theoretischen Perspektive heraus zu bearbeitenden Problems, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen. Daran schließt die theoriegeleitete Analyse an. Das Buch soll so Studierende zum selbstständigen und kreativen, aber auch reflektierenden Arbeiten ermutigen. >>Endlich ein Buch zum Regieren in der EU, das den Studierenden anhand der im europäischen Mehrebenensystem eingebetteten Regionalpolitik einen Überblick über theoretische Ansätze wie empirische Analysen in didaktisch überzeugender Weise eröffnet. Souveräne Verarbeitung einer immensen Literaturfülle und Darstellung der jeweiligen Reichweiten und Erklärungskompetenzen, klare Herausarbeitung von >bias< und Innovationsleistung der Herangehensweisen machen es zu einem echten >Lehr-Buch<, das in keinem EU-Seminar fehlen sollte.<< Dr. Karl Buck (Politikwissenschaftler und Leiter der Abteilung Lateinamerika im Generalsekretariat des Rates der EU in Brüssel von 1990-2009)

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. 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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2012 Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: © Digitalstock, Bildautor: F. Roth Redaktion: Marit Borcherding, Göttingen Lektorat: Verena Artz, Bonn Druck und Bindung: fgb . freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 3361 ISBN 978-3-8252-3361-7 <?page no="4"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 5 5 Inhalt Einleitung 9 Literatur 18 1. (Neo-)Funktionalismus und die funktionalen Triebkräfte der regionalpolitischen Integration 21 1.1 Theorie des (Neo-)Funktionalismus 21 1.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Neo-Funktionalismus 27 1.3 Neo-Funktionalistische Erklärung der Etablierung der Regional- und Strukturfondspolitik auf europäischer Ebene 31 1.4 Fazit 38 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus und die wirtschaftspolitische Koordinierung souveräner Staaten in der Strukturfondspolitik 41 2.1 Theorie des (liberalen) Intergouvernementalismus 41 2.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem liberalen Intergouvernementalismus 47 2.3 Erklärung der Strukturfondsreform von 1988 aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus 53 2.4 Fazit 66 3. Sozialkonstruktivismus und der Einfluss regionaler Politikstile auf die angemessene Umsetzung europäischer Paradigmen 71 3.1 Sozialkonstruktivistische (Meta-)Theorie 71 3.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem sozialkonstruktivistischen Ansatz 79 3.3 Paradigmen der europäischen und regionalen Strukturpolitik 87 3.4 Fazit 98 <?page no="5"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 6 6 Inhalt 4. Multi-Level Governance und der institutionelle Wandel beim ebenenübergreifenden Regieren in der europäischen Strukturfondspolitik 105 4.1 Der Ansatz des Regierens im europäischen Mehrebenensystem 105 4.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Ansatz des Mehrebenenregierens 108 4.3 Erklärung des regionalen institutionellen Wandels in der Strukturfondsförderung aus Sicht des Mehrebenenregierens 115 4.4 Fazit 128 5. Europäisierung und die nationalen Rückwirkungen europäischer Regionalisierungspolitik 133 5.1 »Theorie« der Europäisierung 133 5.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Europäisierungsansatz 140 5.3 Erklärung der Rückwirkungen der EU-Regionalisierungspolitik aus Sicht des Europäisierungsansatzes 147 5.4 Fazit 167 6. Interessenvermittlung und der Einfluss von Regionen auf die europäische Regionalpolitik 173 6.1 Interessenvermittlung im europäischen Mehrebenensystem 173 6.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen in Bezug auf die Interessenvermittlung 177 6.3 Erklärung des Einflusses deutscher Länder im interaktiven europäischen System aus einer Perspektive der Interessenvermittlung 186 6.4 Fazit 202 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz und die Legitimierung regionalpolitischer Prozesse in der Europäischen Union 207 7.1 Legitimationseffekte zivilgesellschaftlicher Beteiligung 207 7.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem zivilgesellschaftstheoretischen Ansatz 210 <?page no="6"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 7 Inhalt 7 7.3 Zivilgesellschaftstheoretische Erklärung von Partizipationseffekten in der Strukturfondsförderung 221 7.4 Fazit 228 8. Neo-Gramscianismus und die kritische Analyse des strukturellen Wandels in den Kandidatenländern der Europäischen Union 235 8.1 Die Perspektive des Neo-Gramscianismus 235 8.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Neo-Gramscianismus 242 8.3 Neo-gramscianische Untersuchung der Heranführungshilfen für Kandidatenländer der Europäischen Union 248 8.4 Fazit 257 <?page no="7"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 8 <?page no="8"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 9 9 Einleitung Am Anfang dieses Lehrbuches steht die Geschichte von einem Elefanten und den blinden Männern von Puchala (1971 : 267): Einige Blinde begegnen einem Elefanten. Jeder befühlt ihn, um zu erfahren wie dieses Tier aussieht. Der eine ertastet den Rüssel und schließt daraus, dass es groß und schlank sein müsse; ein anderer befühlt ein Ohr und stellt sich eine längliche und flache Gestalt vor. Jeder hat das Studienobjekt sorgfältig untersucht und kommt doch zu einem anderen Schluss, weil jeweils unterschiedliche Teile des Tieres inspiziert werden. Jeder der Blinden hat indes genug empirische Evidenz gesammelt, um den Beschreibungen der anderen zu widersprechen und damit eine lebhafte Debatte über die Natur des Tieres zu entfachen. Der Fokus auf einen spezifischen Teil des Gesamtphänomens führt dann freilich zu ungenauen Einzelbeschreibungen, weil diese weder für sich betrachtet noch in ihrer Addition die gesamte Gestalt des Elefanten erfassen. Die Lehre aus der Erzählung ist, dass die Erkenntnis über einen Gegenstand davon abhängt, wie man sich ihm nähert. Jede Herangehensweise ist selektiv und erfasst nur einen Teil des Phänomens. Genau dieses Problem will das vorliegende Buch seinen Lesern bewusst machen. Verdeutlicht werden soll, dass jede Forschung von einem bestimmten Blickwinkel ausgeht und folglich die Beschreibungen und Erklärungen je nach Fragestellung und theoretischer Perspektive variieren. Das Phänomen der internationalen Integration im Allgemeinen wie auch der europäischen Integration im Speziellen wurde und wird von zahlreichen Forschern untersucht, wobei sich jeweils unterschiedliche Ausschnitte, Dimensionen und Zusammenhänge im Fokus der Betrachtung befinden. Darüber hinaus beanspruchen die Forscher zumindest teilweise eine Deutungshoheit über das Themenfeld »Integration«, stellen ihr Teilphänomen entweder als wichtigstes dar oder halten es sogar für das einzig relevante (vgl. ebd.: 267 f.). Insofern lässt sich auch gut 30 Jahre nach Puchalas Artikel festhalten, dass noch nicht abschließend geklärt ist, wodurch sich der »Integrationselefant« genau auszeichnet und welche Schlussfolgerungen bezüglich des Gesamtphänomens zu ziehen sind: »Alas, the ›elephant‹ grew in size and changed in form at the very moment that the blind men sought to grasp it! « (ebd.: 268). Man könnte Puchalas’ Beobachtungen hinzufügen, dass Integration als ein Untersuchungsgegenstand der Politikwissenschaft auch heute noch stetig Veränderungen und Umformungen ihrer ursprünglich vermuteten Gestalt widerfährt und insoweit im Laufe der wissenschaftlichen Erarbeitung nicht nur stets an Größe hinzugewonnen hat, sondern zugleich eine hybride Gestalt aufweist, die es kontinuierlich zu reevaluieren gilt. Die nature of the beast (vgl. Risse-Kappen 1996) bleibt damit letztlich nur unvollständig bestimmt. Doch <?page no="9"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 10 10 Einleitung beschränkt sich die politikwissenschaftliche Analyse der Europäischen Union nicht nur auf die klassischen Integrationstheorien, die sich mit dem Zustandekommen und dem Zustand des beast beschäftigen. Vielmehr hat sich die Untersuchung der EU mittlerweile auf unterschiedliche Phänomene und Ansätze ausgeweitet, die verschiedenen Teildisziplinen der Politikwissenschaft entnommen sind und sich nicht nur auf die Theorien der Internationalen Beziehungen beschränken. Dieses Lehrbuch dient dazu, die Entwicklung und den aktuellen Stand der Forschung im Bereich »europäische Integration« aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu erklären. Es unterscheidet sich von anderen durch seine didaktische Herangehensweise, indem exemplarisch am Politikfeld der Regionalpolitik bzw. Strukturfondsförderung verschiedene theoretische Erklärungsmodelle europäischen Regierens in der EU angewendet und damit unterschiedliche Aspekte der Regionalpolitik adressiert werden. Wir verwenden hierbei die Bezeichnung »Regionalpolitik« als einen Überbegriff, um sowohl die Strukturfondsförderung als auch die unterschiedlichen Strategien und Maßnahmen der Kohäsionspolitik zu erfassen, womit dann ebenso die seit 2007 von der Europäischen Kommission verwendete Bestimmung des Politikfelds berücksichtigt wird. Das Manko bisheriger Einführungen und Lehrbücher besteht darin, dass sie sich meist entweder nur der theoretischen Herangehensweise (vgl. Bieling/ Lerch 2006) oder der Darstellung der Entwicklung der EU und ihrer institutionellen Verfasstheit widmen (vgl. Pfetsch 2005, Pollak/ Slominski 2006, Baum-Ceisig/ Busch/ Nospickel 2007, Tömmel 2006)-- ohne einen erkennbaren theoretischen Zugriff. Die Theorien zur Erklärung des Regierens in der EU werden oft separat in einem Theoriekapitel abgehandelt. Durch diese Herangehensweise stehen theoretische Zugriffe und empirische Darstellungen unverbunden nebeneinander, was das theoriegeleitete Arbeiten im Themenfeld »europäische Integration« für Studenten schwer erlernbar werden lässt. Für die Lehre heißt dies ein mühevolles Zusammenstückeln unterschiedlicher Texte und Lehrbücher, um Theorie und Empirie zusammenzuführen. Der wichtige Schritt der Operationalisierung einer Theorie für den jeweiligen Gegenstand und die Reflexion darüber bleibt der Arbeit im Seminar und den wissenschaftlichen Hausarbeiten überlassen. Es existieren zumindest drei Lehrbücher, die dieses Manko erkannt haben: Kohler- Koch/ Conzelmann/ Knodt 2004, Holzinger et al. 2005 und Wiener/ Diez 2009. Das Buch von Kohler-Koch/ Conzelmann/ Knodt (2004) hält den Ansatz der Verknüpfung jedoch nicht konsequent durch und ist im Übrigen nicht als Anleitung für das theoriegeleitete Arbeiten für Studierende konzipiert. Hingegen stellt sich das Werk von Holzinger et al. in den Einzelkapiteln eher als jeweiliger State-of-the-Art-Artikel in unterschiedlichen Politikfeldern dar. Wiener/ Diez geben in ihrem Band ein zweifaches Ziel an: Sie möchten zum einen in die Integrationstheorien einführen und zum <?page no="10"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 11 Einleitung 11 anderen die Entwicklung der Theorien aufzeigen. Die Gliederung der einzelnen Kapitel verweist zwar auch auf die Umsetzung der jeweiligen Theorie im Politikfeld der EU-Erweiterung, doch sind diese Kapitel häufig nur einige wenige Seiten lang und damit kaum als Anleitung zum theoriegeleiteten Arbeiten geeignet. Das vorliegende Lehrbuch ist demgegenüber explizit der Verknüpfung theoretischer Erklärungsansätze mit der Empirie europäischer Integration gewidmet. Es konzentriert sich auf ein Politikfeld, damit für den Leser und vor allem für Studierende deutlich wird, dass (1) ein Gegenstand auf ganz unterschiedliche Art und Weise beleuchtet werden kann und (2) je nach Auswahl des theoretischen Zugangs und der Fragestellung ganz unterschiedliche Ausschnitte aus der europäischen Integrationswirklichkeit in den Blick genommen werden. Wechselt man mit dem theoretischen Ansatz auch das Politikfeld und damit den Gegenstand, wird die selektive und für die Analyse prädestinierende Wirkung theoretischer Herangehensweisen nicht im gleichen Maße deutlich. Zudem stellt die Operationalisierung der Fragestellung einen schwierigen Schritt der Analyse dar, der besonders hervorgehoben werden soll. In diesem Zusammenhang sei auf die insbesondere durch King/ Keohane/ Verba (1994) und vorliegend zumindest grundsätzlich ebenfalls vertretene Herangehensweise aufmerksam gemacht, der zufolge auch in qualitativen Studien eine weitgehend formale Strukturierung anwendbar ist, die traditionell eher dem Bereich quantitativer Forschung zugeschrieben wird. Damit in Einklang lautet das von King/ Keohane/ Verba in Designing Social Inquiry explizit formulierte Ziel: »Our main goal is to connect the traditions of what are conventionally denoted ›quantitative‹ and ›qualitative‹ research by applying a unified logic of inference to both […]. This logic tends to be explicated and formalized clearly in discussions of quantitative research methods.« (ebd.: 3). Wenn sich also sowohl quantitative als auch qualitative Untersuchung auf eine gemeinsame logic of inference-- und daraus folgend auf eine gemeinsame Strukturierung-- stützen können, eröffnet sich so die Möglichkeit, qualitative Forschung stärker an formalen Grundsätzen zu orientieren. Zugleich lässt sich damit der irrigen Vorstellung entgegentreten, dass »qualitative research cannot be systematic and scientific« (Munck 1998 : 34). Dennoch soll Munck darin zugestimmt werden, dass die konkrete Interpretation dieser allgemeinen Idee durch King/ Keohane/ Verba problematisch ist, weil sie durch ihren Fokus auf ein spezifisches quantitatives Modell 1 zielführende Vorschläge zur qualitativen Forschung deutlich einschränken (ebd.: 34 ff.). Dadurch wird indes nicht verhindert, dass qualitative Forschung zumindest in einigen Bereichen und auf Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses der Strukturierung gesellschaftswissenschaftlicher Forschung sich einer formaleren Herangehensweise bedienen kann und-- normativ gewendet-- auch bedienen sollte, um damit zu 1 Hier ist das OLS-Regressionsmodell gemeint, das laut Munck (1998 : 34) bei King/ Keohane/ Verba die Grundlage für die konkrete Ausgestaltung einer gemeinsamen logic of inference bildet. <?page no="11"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 12 12 Einleitung einer fruchtbaren und »intermethodologischen« wissenschaftlichen Forschung beizutragen. Genau diesen Weg beschreitet das vorliegende Lehrbuch, ohne jedoch die darin eingeschriebene Problematik zu vernachlässigen. Deswegen soll hier explizit und mit Munck (1998 : 36) anerkannt werden, dass die Differenzen zwischen quantitativer und qualitativer Forschung eben nicht »only stylistic and […] methodologically and substantively unimportant« (King/ Keohane/ Verba 1994 : 4) sind, sondern in einzelnen Bereichen tatsächlich als tiefgreifend gelten können. Munck erwähnt zahlreiche Beispiele solcher Unterschiede, sei es mit Blick auf die unterschiedlichen Voraussetzungen für konzeptuelle Validität und deren Messung, das Problem der Endogenität, oder bezüglich Überlegungen zur Reliabilität oder Replizierbarkeit empirischer Daten. Diese Liste ließe sich fortschreiben und präzisieren, hier soll jedoch der Hinweis darauf genügen, dass die vorliegend gewählte Herangehensweise nicht ohne Probleme daherkommt. Sie wird in diesem Buch dennoch verfolgt, weil unseres Erachtens die Vorteile gerade in Hinblick auf die Lehre deutlich überwiegen: Nicht nur wird den Studierenden eine umfassendere Einsicht in die politikwissenschaftliche Forschung ermöglicht, zugleich werden sie in die Lage versetzt, ihre eigenen Arbeiten klarer und zielführender zu strukturieren und durchzuführen. Schließlich sei erwähnt, dass mithilfe des vorliegenden Buches wichtige methodologische Kompetenzen vermittelt werden können, die sich auch über das Studium hinaus als nützlich erweisen mögen. In unserer zum Teil langjährigen Erfahrung in der Lehre wurden die Fallstricke und Schwierigkeiten des theoriegeleiteten Arbeitens deutlich: Diese beginnen bereits bei der Formulierung einer Fragestellung, die auch tatsächlich dem gewählten Theorieansatz entspricht. So sollte beispielsweise eben nicht nach den Interessen der politischen Akteure gefragt werden, wenn man eine neo-funktionalistische Herangehensweise wählt. Die Fragestellung sollte das zu erklärende Phänomen adressieren-- meist wurde dies als abhängige Variable gefasst. Eine Variable stellt einen operationalisierten Begriff für eine veränderliche Größe dar. Nach der Stellung in einem System von Aussagen unterscheidet man zwischen abhängigen Variablen (sie stellen das zu Erklärende dar, auch Explanandum genannt) und unabhängigen Variablen (dies sind die erklärenden Variablen, auch Explanans genannt). Eine Variable, die in die Wechselbeziehungen zwischen abhängigen und unabhängigen Variablen einwirkt, wird intervenierende Variable genannt. Die daraufhin gebildeten Hypothesen sollen kausale Zusammenhänge für die Erklärung des adressierten Phänomens formulieren. Nicht alle in diesem Buch verwendeten theoretischen Ansätze eignen sich in gleicher Weise für die Formulierung von kausalen Hypothesen. Wo dies nicht der Fall ist, werden wir explizit darauf hinweisen. Für einige Studierende ist die Hypothesenbildung ein schwieriges Unterfangen und nicht wenige formulieren Zusammenhänge mit Phänomenen, nach <?page no="12"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 13 Einleitung 13 denen in der Fragestellung nicht gefragt wurde. Allerdings gelingt eine kohärente Formulierung von Fragestellung und Hypothese in den meisten Fällen noch recht gut. Wenn in der Politikwissenschaft eine Hypothese formuliert wird, so ist dies die Bezeichnung für eine wohlbegründete Annahme über das Vorkommen eines Sachverhaltes oder die Wechselbeziehung zweier oder mehrerer Größen im Sinne der oben definierten Variablen, die entweder vorläufig und noch zu prüfen oder bereits geprüft und vorläufig als gültig akzeptiert ist. Hypothesen lassen sich testen, d. h. sie können auf ihre logische Konsistenz und Übereinstimmung mit der Empirie des untersuchten Gegenstandes hin überprüft werden (vgl. Schmidt 2010 : 346). In der Analyse verlieren zahlreiche Studierende jedoch Fragestellung und Hypothese vollständig aus den Augen. Hier finden sich zum Teil zusammenhangslose historische Abrisse sowie langatmige Deskriptionen, die mit dem zu erklärenden Phänomen in keinerlei Verbindung stehen. Das Fazit solcher Analysen stellt zudem häufig ein Sammelbecken für all jene Aussagen über den behandelten Gegenstand dar, die man immer schon einmal mitteilen wollte. Den Schlusssatz bildet dann die typische normative Wende im Sinne einer »Alles-wird-gut-Aussage«. Ohne Anleitung können diese Fehler nicht einfach vermieden werden. Nur durch exemplarisches Durchführen theoriegeleiteten Arbeitens sowie die Umsetzung des Gelernten in eigene Analysen kann politikwissenschaftliches Arbeiten im Sinne einer analytisch-empirischen Herangehensweise gelingen. Dieses Buch soll einen Teil dazu beitragen, eine solche Anleitung für Studierende zu bieten. Die theoriegeleitete Analyse eines politikwissenschaftlichen Gegenstandes ist nach unserer Erfahrung im Bereich der europäischen Integration-- wie auch in allen anderen Themenfeldern der Politikwissenschaft- - eine der schwierigsten intellektuellen Leistungen, die Studenten zu erbringen haben. Genau dies ist aber das Handwerkszeug, das sie erlernen müssen, und es ist unseres Erachtens nach kein hierauf explizit zugeschnittenes Lehrmaterial für die Lehre zur EU verfügbar. Jedes Kapitel dieses Buches ist dafür in der gleichen Weise gegliedert: ● ● Zuerst wird der gewählte theoretische Ansatz dargestellt. ● ● Anschließend erfolgt eine Darlegung des zu bearbeitenden Problems, der Fragestellung und der Herleitung von Hypothesen sowie daraufhin ● ● eine Erklärung der Strukturfondsförderung und ihrer Entwicklung aus der Perspektive des jeweils gewählten theoretischen Ansatzes. ● ● Im Fazit werden die Erklärungsleistung des jeweiligen theoretischen Ansatzes und die von ihm nicht behandelten Aspekte beleuchtet. Ziel des vorliegenden Lehrbuches ist nicht die vollständige Abarbeitung ganzer Theorieansätze, sondern lediglich eine pointierte Anwendung erklärungsrelevanter Aspekte auf die Regionalpolitik der Europäischen Union. Somit soll hier keine <?page no="13"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 14 14 Einleitung lückenlose Präsentation aller relevanten Theorien geleistet werden- - es kommt vielmehr auf die exemplarische Anwendung am Beispiel eines spezifischen Politikfelds an. Zudem konzentrieren wir uns nicht nur auf die gängigen Integrationstheorien, sondern nehmen auch Erklärungsansätze geringer und mittlerer Reichweite in unser Buch auf, die im Bereich der EU-Forschung angewandt werden, jedoch nicht unbedingt zur Erklärung der Entstehung der Integration dienen. So ist beispielsweise die Literatur, die sich mit der Erklärung von Phänomenen der Interessenvermittlung in der EU beschäftigt, im Rahmen von lehrbuchartigen Artikeln rar gesät. Deren Akteure sind innerhalb der meisten Ansätze dabei entweder überhaupt nicht relevant oder nehmen eine lediglich periphere Rolle ein. Hinzu kommt, dass keine »Theorie« der Interessenvermittlung existiert, die einfach auf die Analyse der EU- Regionalpolitik übertragen werden könnte. Vielmehr gilt sie als eher eng gefasstes Feld der politikwissenschaftlichen Analyse und damit als akademisches Nischenprodukt-- selbst in der Forschung zur europäischen Integration. Trotzdem ist gerade die Interessenvermittlung ein wichtiger Aspekt des Regierens im europäischen Mehrebenensystem und sollte daher nach unserem Dafürhalten in keinem Lehrbuch fehlen. Ähnlich ist dies im Falle zivilgesellschaftstheoretischer Ansätze, die im Rahmen von Lehrbüchern zur europäischen Integration ebenfalls zumeist fehlen-- von deren Kombination mit beispielhaften empirischen Anwendungen ganz zu schweigen. Dabei werden zivilgesellschaftliche Akteure und die aus deren Beteiligung erwarteten demokratischen Effekte zumeist in wissenschaftlichen Arbeiten zur demokratischen Legitimität der EU behandelt, die im Rahmen der Diskussion über legitimes Regieren jenseits des Nationalstaates unter Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure entstehen. Auch in diesem Zusammenhang fehlt eine ausgearbeitete zivilgesellschaftliche Theorie der europäischen Integration, weswegen solche Akteure vorliegend unter Rückgriff auf normative Konzepte aus der Politischen Theorie betrachtet und mit Hilfe einer eigenen Typologie untersucht werden. Schließlich findet insbesondere die Anwendung neo-gramscianischer Perspektiven an konkreten empirischen Beispielen nur selten Einzug in Lehrbücher zur europäischen Integration, selbst wenn diese Herangehensweise im Einzelfall zumindest innerhalb des Theorieteils der vorgestellten Ansätze behandelt wird. Hierbei gilt es zu beachten, dass sich der Neo-Gramscianismus aufgrund seiner kritischen und insofern nicht problemlösungsorientierten Herangehensweise vom Großteil der Mainstream- Theorien und -Ansätze wesentlich unterscheidet. Im Gegensatz zu anderen Integrationstheorien sind neo-gramscianische Ansätze darauf ausgelegt, Prozesse der europäischen Integration und den damit einhergehenden strukturellen Wandel kritisch zu hinterfragen, historische Entwicklungen nachzuvollziehen und innere Widersprüche aufzudecken. Diese im Vergleich zu den meisten anderen Ansätzen ungewohnte Perspektive soll die große Bandbreite der integrationsbezogenen Theorielandschaft veranschaulichen und so gleichsam einen Blick über den Tellerrand des theoretischen Mainstreams hinaus ermöglichen. <?page no="14"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 15 Einleitung 15 Trotz dieser besonderen Berücksichtigung bisher vernachlässigter Ansätze fehlen die klassischen Integrationstheorien keinesfalls. So haben wir die Theorien des (Neo-) Funktionalismus sowie des (liberalen) Intergouvernementalismus an erster Stelle zur Erklärung herangezogen. Zusätzlich zu diesen beiden schon fast obligatorischen Perspektiven haben wir uns der in den letzten Jahren stark weiterentwickelten (sozial-) konstruktivistischen Herangehensweise gewidmet: Das erste Kapitel befasst sich mit der von Mitrany (exemplarisch 1933 und 1943) entworfenen Theorie des Funktionalismus und der von Haas (1958 und 1964) erarbeiteten Erweiterung zum Neo-Funktionalismus. Hier geht es mit Blick auf die Regionalpolitik zuvorderst um die funktionalen Triebkräfte der regionalpolitischen Integration. Empirisch steht dabei die Vergemeinschaftung der Regionalpolitik als eigenständige Politik auf der europäischen Ebene, die sich in den 1970er Jahren vollzog, im Fokus unserer Betrachtung. Erkennbar ist, dass insbesondere das aus den sozio-ökonomischen Strukturen und Krisenphänomenen der Mitgliedstaaten heraus entstehende Problembewusstsein auf die Tagesordnung der Europäischen Gemeinschaft gehoben wurde. Zusätzlich spielte der Problemdruck aus den benachbarten Politikfeldern eine wichtige Rolle, hier vor allem die Wirtschafts- und Währungspolitik und die EU-Erweiterung sowie die Verlagerung dieser Politik aus der alleinigen Zuständigkeit der nationalen Behörden hin zu den Institutionen der europäischen Ebene. Im zweiten Kapitel wird dann anhand der von Moravcsik (1993 und 1998) entwickelten Theorie des (liberalen) Intergouvernementalismus die wirtschaftspolitische Koordinierung souveräner Staaten in der Strukturfondspolitik untersucht. Konkreter geht es darum, die intergouvernementalen Verhandlungen zur Strukturfondsreform aus dem Jahre 1988 zu erklären. Diese werden in den wichtigsten Gipfeltreffen identifiziert und auf Grundlage des situationsstrukturellen Ansatzes von Zürn (1992) als ein Koordinationsspiel mit Verteilungskonflikt verstanden. Unter Rückgriff auf einige der Annahmen von Moravcsik im Rahmen seiner intergouvernementalen Theorie wird argumentiert, dass sich die Reform der Strukturfonds als side payment interpretieren lässt, das die »reicheren« den »ärmeren« Mitgliedstaaten für deren Zustimmung zur Vollendung des gemeinsamen Binnenmarktes zahlen. Zahlreiche Ansätze zur Analyse der europäischen Integration in den letzten Jahren inkorporieren konstruktivistische Elemente, weswegen wir uns im dritten Kapitel der sozialkonstruktivistischen Betrachtung des regionalen Umgangs mit europäischen Angeboten widmen. Dabei wird mit Rückbezug auf Knodt (1998) gezeigt, dass Politikstile regional variieren und für die Nutzung der europäischen Angebote durch die regionalen Akteure von Bedeutung sind. Mittels einer Analyse der Strukturfondsförderung in Niedersachsen beschreiben wir das regionale Routinehandeln sowie die vorherrschenden Paradigmen im Sinne eines Politikstils. Damit wird die Frage adressiert, unter welchen Bedingungen die Idee der Partnerschaft als eine europäische Herausforderung auf regionaler Ebene aufgenommen wird und ob dies zu einer Ändewww.claudia-wild.de: <?page no="15"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 16 16 Einleitung rung der Politikgestaltung führt. Dies verweist zugleich auf eine Orientierung an der von March/ Olsen (1989) konzeptualisierten Logik der Angemessenheit als Grundlage regionalen Handelns. Vor allem zwei theoretische Ansätze haben in den letzten Jahren die europäischen Analysen dominiert: Zum einen ist dies der seit Mitte der 1990er Jahre insbesondere von Marks (1992 und 1993) bzw. Marks, Hooghe und anderen (Marks et al. 1996) entwickelte Ansatz des Mehrebenenregierens, der sich mittlerweile einen festen Platz unter den politikwissenschaftlichen Ansätzen zur Analyse der EU erobert hat. Zum anderen handelt es sich um den Erklärungsansatz der Europäisierung, der spätestens seit den Überblicksartikeln von Radaelli (2000 und 2003) für die Erklärung von EUinduzierten Veränderungen auf der nationalstaatlichen sowie subnationalen Ebene bevorzugt herangezogen wird. Zunächst steht dabei im vierten Kapitel das Mehrebenenregieren und damit der Multi-Level-Governance-Ansatz im Fokus unserer Betrachtung, mit dessen Hilfe der institutionelle Wandel beim ebenenübergreifenden Regieren in der europäischen Strukturfondspolitik erklärt werden soll. Als Basis für die empirische Untersuchung dient ein weiter Institutionenbegriff, der sowohl die formale Organisation von Politik als auch das Routinehandeln sowie die Konzepte legitimen Regierens beinhaltet. Dabei wird anhand der Daten aus dem Forschungsprojekt »Regionen als Handlungseinheiten in der europäischen Politik« (vgl. Kohler-Koch/ Knodt 1999) geprüft, ob sich ein institutioneller Wandel in der Form einer Übernahme europäischer Konzepte einstellt und falls ja, welche Faktoren für die Ausgestaltung dieses Wandels bestimmend sind. In diesem Zusammenhang steht die Annahme, dass der institutionelle Wandel auf regionaler Ebene sowohl durch Vorgaben der europäischen Ebene wie auch durch Einbindung der und Angebote an die regionalen Akteure verursacht werden kann. Anschließend untersuchen wir im fünften Kapitel die Europäisierung und damit die nationalen Rückwirkungen der europäischen Regionalisierungspolitik und beschäftigen uns genauer mit den Änderungen der regionalen Struktur in Rumänien im Rahmen des Beitrittsprozesses zur Europäischen Union. Mit Radaelli (2006) gehen wir hierbei davon aus, dass Europäisierung weniger als Erklärung für Teilphänomene der Integration dient, als vielmehr selbst ein zu untersuchendes und zu erklärendes Phänomen darstellt. Theoretisch greifen wir in diesem Zusammenhang auf die Vorarbeiten von Schimmelfennig/ Sedelmeier (2005a und b) zurück, modifizieren und erweitern sie jedoch für die vorliegende Fragestellung. Empirisch zeigen wir, dass die von der EU ausgehende und durch das Adressatenland umgesetzte Europäisierung der Regionalisierungspolitik nur unter bestimmten Bedingungen zum einen überhaupt erst ermöglicht wird. Zum anderen soll geprüft werden, welche Faktoren das Ausmaß der Europäisierung wesentlich beeinflussen (vgl. Corcaci 2007). Den darauf folgenden Kapiteln liegen Herangehensweisen zugrunde, die in überblicksartigen Darstellungen wie der vorliegenden zwar eher eine Seltenheit sind, jedoch neuartige Perspektiven auf das Politikfeld »Regionalpolitik« eröffnen: <?page no="16"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 17 Einleitung 17 Das sechste Kapitel zur Interessenvermittlung in Europa behandelt den Einfluss von Regionen auf die europäische Regionalpolitik und damit deren Verfolgung von Interessen im europäischen Mehrebenensystem. Da keine ausbuchstabierte Theorie der Interessenvermittlung existiert, wird auf einzelne theoretische Anknüpfungspunkte zurückgegriffen. In der Regionalpolitik vertreten dabei vor allem die Regionen als territoriale Akteure ihre Interessen und wenden zu diesem Zweck höchst unterschiedliche Strategien der Interessenvermittlung im Mehrebenensystem an. Dabei lassen sich fünf zentrale Strategien identifizieren, die empirisch am Beispiel der Informationsbüros der deutschen Länder untersucht werden. Zugleich fragen wir auf Grundlage einer Studie von Knodt/ Große Hüttmann aus dem Jahre 2007 (vgl. Knodt/ Große Hüttmann/ Kotzian 2011) danach, welche Strategien der Interessenvermittlung angewendet werden, als wie erfolgreich man diese wahrnimmt und wodurch sich diesbezügliche Unterschiede zwischen den einzelnen Informationsbüros erklären lassen. Im siebten Kapitel wird die Legitimierung regionalpolitischer Prozesse in der Europäischen Union anhand einer zivilgesellschaftstheoretischen Herangehensweise beleuchtet. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, unter welchen Bedingungen die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteure innerhalb europäischer Entscheidungsprozesse in der Regionalpolitik zu einem Zuwachs an demokratischer Legitimität führt und ob die derzeitige Praxis einen solchen Legitimationsgewinn bereits impliziert. Um diese Frage zu beantworten, werden zwei Idealtypen der Einbindung entwickelt, die auf der Vorarbeit von Knodt (2005) basieren. Hierbei verspricht eine Orientierung am prozeduralen Kommunikationsmodell im Gegensatz zum selektiven Konsultationsmodell eher Legitimationsgewinne. Empirisch werden dazu beispielhaft drei deutsche Länder verglichen- - Niedersachsen, Berlin und Baden-Württemberg. Diese fokussierte Anwendung verdeutlicht die demokratischen Effekte des prozeduralen Modells, erlaubt es allerdings nicht, generalisierbare Aussagen zu treffen. Das abschließende achte Kapitel eröffnet eine neo-gramscianische und damit genuin kritische Perspektive auf den strukturellen Wandel in den Kandidatenländern der Europäischen Union. Empirisch betrachten wir die Heranführungshilfen für Beitrittskandidaten zur Europäischen Union, die als finanzielle Ressourcen im Rahmen regionalpolitischer Maßnahmen dazu dienen, Kandidatenländer im Beitrittsprozess zu unterstützen. Hierbei stützen wir uns insbesondere auf die theoretischen Vorarbeiten von Gill (2000, 2003) und zeigen auf, dass die Europäische Union aus der Sicht neo-gramscianischer Ansätze als Teil eines westlichen transnationalen historischen Blocks verstanden werden kann. Anhand dreier Prozesse der Umstrukturierung soll zudem verdeutlicht werden, dass die EU im Sinne des Neo-Gramscianismus mithilfe von disziplinierenden Instrumenten wie den Heranführungshilfen versucht, die mittel- und osteuropäischen Kandidatenländer und potenziellen Beitrittskandidaten in den bestehenden »neoliberalen Schirm« zu integrieren und somit alternative Entwicklungspfade für diese Staaten zu verdrängen. <?page no="17"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 18 18 Einleitung Wie bereits erwähnt beansprucht dieses Buch keineswegs, einen auch nur annähernd vollständigen Rundumschlag in den Herangehensweisen an die Erklärung europäischer Phänomene vorzulegen. Vielmehr sind wir vollkommen zufrieden, wenn es einen Beitrag dazu leistet, Studierenden der Politikwissenschaft theoriegeleitetes Arbeiten näher zu bringen. Aus diesem Grund sollten Studierende nach Lektüre eines oder mehrerer Kapitel des Buches in der Lage sein: ● ● zu erkennen, welchen Einfluss die Theoriewahl auf die Formulierung der Fragestellung und die Konzeption der Erklärung hat; ● ● zu verstehen, welchen Teil des »Elefanten« der europäischen Integration sie hier im Bereich der Regionalpolitik mit der theoretischen Herangehensweise ausgewählt haben; ● ● zu verstehen, wie die Umsetzung der gewählten Fragestellung in Hypothesen sowie deren Operationalisierung aussehen kann; ● ● zu erkennen, welche Empirie zur Beantwortung der Fragestellung ausgewählt werden muss sowie ● ● zu reflektieren, welcher Teil des »Elefanten« wie gut mit dem gewählten Ansatz erklärt werden konnte und welche weiteren oder etwa alternativen Analysen folgen könnten. Insgesamt möchten wir dabei nochmals hervorheben, dass die gegebenen Beispiele eine Möglichkeit der Umsetzung des theoretischen Ansatzes darstellen, die jedoch keinen Anspruch auf Ausschließlichkeit erhebt. Vielmehr soll sie Studierende zum selbständigen und kreativen, aber auch reflektierenden Arbeiten ermuntern. Dabei lässt sich das Buch unseres Erachtens zunächst einmal »so wie es ist« in der Lehre verwenden. Davon abweichend kann auf dessen Grundlage die untersuchte Empirie innerhalb der Regionalpolitik variiert werden. Schließlich liegt eine weitere Herangehensweise selbstverständlich darin, einfach das Problemfeld für die Studierenden auszutauschen. Somit kann das Buch entweder nachvollziehend-verstehend genutzt werden oder aber als Anleitung zur theoriegeleiteten Analyse der europäischen Integration inklusive der Übertragungsleistung auf ein neues Anwendungsfeld. Literatur Baum-Ceisig, Alexandra/ Busch, Klaus/ Nospickel, Claudia 2007: Die Europäische Union. Baden-Baden. Bieling, Hans-Jürgen/ Lerch, Marika (Hg.) 2006: Theorien der europäischen Integration. 2. Aufl., Wiesbaden. Corcaci, Andreas 2007: Effektive Europäisierung: Zur Integration dreier Modelle am Beispiel Rumäniens. B. A.-Thesis, Institut für Politikwissenschaft. Darmstadt. <?page no="18"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 19 Einleitung 19 Gill, Stephen 2000: Theoretische Grundlagen einer neo-gramscianischen Analyse der europäischen Integration, in: Bieling, Hans-Jürgen/ Steinhilber, Jochen (Hg.): Die Konfiguration Europas. Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie. Münster, 23-50. Gill, Stephen 2003: A Neo-Gramscian Approach to European Integration, in: Cafruny, Alan W./ Ryner, Magnus (Hg.): A Ruined Fortress? Neoliberal Hegemony and Transformation in Europe. Lanham, 47-70. Haas, Ernst B. 1958: The Uniting of Europe. Stanford. Haas, Ernst B. 1964: Beyond the Nation-State. Stanford. Holzinger, Katharina et al. 2005: Die Europäische Union. Theorien und Analysenkonzepte. Paderborn. King, Gary/ Keohane, Robert O./ Verba, Sidney 1994: Designing Social Inquiry: Scientific Inference in Qualitative Research. Princeton. Knodt, Michèle 1998: Tiefenwirkung europäischer Politik. Eigensinn oder Anpassung regionalen Regierens? Baden-Baden. Knodt, Michèle 2005: Regieren im erweiterten europäischen Mehrebenensystem-- die internationale Einbettung der EU. Baden-Baden. Knodt, Michèle/ Große Hüttmann, Martin/ Kotzian, Peter 2011: German Länder Information Offices in the EU: An Empirical Analysis of Regional Interest Representation, in: Tübinger Arbeitspapiere zur Integrationsforschung (TAIF) Nr. 7/ 2011. Tübingen. Kohler-Koch, Beate/ Conzelmann, Thomas/ Knodt, Michèle 2004: Europäische Integration- - Europäisches Regieren. Wiesbaden. Kohler-Koch, Beate/ Knodt, Michèle 1999: Regionales Regieren in der EU: Befunde eines empirisch vergleichenden Projekts, in: Nitschke, Peter (Hg.): Die Europäische Union der Regionen. Subpolity und Politiken der dritten Ebene. Opladen, 167-194. March, James J./ Olsen, Johan P. 1989: Rediscovering Institutions. The Organizational Basis of Politics. New York. Marks, Gary 1992: Structural Policy in the European Community, in: Sbragia, Alberta M. (Hg.): Europolitics. Institutions and Policymaking in the »New« European Community. Washington D. C., 191-224. Marks, Gary 1993: Structural Policy and Multilevel Governance in the EC, in: Cafruny, Alan W./ Rosenthal, Glenda G. (Hg.): The State of the European Community, Vol. 2: The Maastricht Debates and Beyond. Harlow, 391-410. Marks, Gary et al. 1996: Competencies, Cracks, and Conflicts. Regional Mobilization in the European Union, in: Comparative Political Studies 29 : 2, 164-192. Mitrany, David 1933: The Progress of International Government. New Haven. Mitrany, David 1943: A working peace system. London. Moravcsik, Andrew 1993: Preferences and Power in the European Community: A Liberal Intergovernmentalist Approach, in: Journal of Common Market Studies 31 : 4, 473-524. Moravcsik, Andrew 1998: The Choice for Europe. Social Purpose & State Power from Messina to Maastricht. Ithaca/ New York. Munck, Gerardo L. 1998: Canons of Research Design in Qualitative Analysis, in: Studies in Comparative International Development 33 : 3, 18-45. Pfetsch, Frank R. 2005: Die Europäische Union. Geschichte, Institutionen, Prozesse. 3. Aufl., Stuttgart. Pollak, Johannes/ Slominski, Peter 2006: Das politische System der EU. Wien. Puchala, Donald J. 1971: Of Blind Men, Elephants and International Integration, in: Journal of Common Market Studies 10 : 3, 267-284. <?page no="19"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 20 20 Einleitung Radaelli, Claudio M. 2000: Policy Transfer in the European Union: Institutional Isomorphism as a Source of Legitimacy, in: Governance. 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Zur Darstellung der funktionalistischen Sichtweise der Strukturfondspolitik wird in drei Schritten vorgegangen: Zunächst folgt eine Einführung in die Theorie des (Neo-)Funktionalismus. Aus dieser werden dann die Fragestellung entwickelt und Hypothesen zur Erklärung abgeleitet. Der letzte Schritt erklärt die Strukturfondspolitik anhand dieser Hypothesen theoriegeleitet. 2 1.1 Theorie des (Neo-)Funktionalismus Der Funktionalismus bzw. Neo-Funktionalismus stellt die Frage nach den Triebkräften der Integration. Um die Antwort der Funktionalisten auf diese Frage zu verstehen, muss man die Voraussetzungen ihrer Argumentation kennen. Sie gehen dabei von folgenden Prämissen aus (vgl. Wolf 1999 : 39): 1. Die Welt ist pluralistisch, d. h. eine Vielzahl von Akteuren und Institutionen ist an politischen Entscheidungen beteiligt. 2. Diese Entscheidungen werden aber auch von den bestehenden sozio-ökonomischen Strukturen beeinflusst. Politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Gruppen sorgen für deren Vermittlung. 3. Moderne Gesellschaften sind durch eine zunehmende Arbeitsteilung gekennzeichnet. Diese führt zur Differenzierung und Segmentierung der Gesellschaft sowie zur Abhängigkeit zwischen den einzelnen Segmenten. In diesen Prämissen werden die wichtigen Triebkräfte für die gesellschaftliche Entwicklung, so auch der europäischen Integration, vermutet. Dabei stehen Strukturen und Funktionen im Mittelpunkt und nicht normative Zielvorgaben, Macht und Interessen einzelner Akteure. Der Ausgangspunkt für die funktionalistische Erklärung der europäischen Integration liegt in den Arbeiten des Diplomaten David Mitrany, der seine zentralen Gedanken in seinen beiden Hauptwerken »The Progress of International Government« von 1933 2 Wir danken Hubert Heinelt für seine Anmerkungen zu diesem Kapitel. <?page no="21"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 22 22 1. (Neo-)Funktionalismus und »A Working Peace System« von 1943 als Reaktion auf die negativen Erfahrungen mit dem Völkerbund als konfliktregelnde internationale Instanz dargelegt hat. Mitrany hat früh erkannt, wohin die Schwächen der Konstruktion des Völkerbundes führen würden und ein funktionierendes internationales Systems für die Staatengemeinschaft skizziert. Doch aus welcher Situation heraus erarbeitete er diese Konzeption? Nach dem Ersten Weltkrieg hatte man versucht, ein friedliches Zusammenleben der Völker durch die Etablierung einer internationalen Organisation-- eben den Völkerbund-- sicherzustellen. Er sollte die Konflikte zwischen den Staaten auf friedliche Weise beilegen und so zu einem homogenen weltpolitischen System führen. Der Ausgang des Unterfangens ist bekannt- - der Zweite Weltkrieg bereitete diesem Versuch ein definitives Ende. Präsident Wilsons Idee einer liberal-demokratischen Weltregierung, zu welcher der Völkerbund ein erster Schritt sein sollte, konnte aus mehreren Gründen keine Gestalt annehmen. Einige der wichtigsten seien holzschnittartig und im Hinblick auf das spätere Verständnis der Darlegungen Mitranys an dieser Stelle genannt: 3 (1) Die USA selbst, als die wirtschaftlich und finanziell stärkste Macht auf der internationalen Bühne, blieb dem Völkerbund fern. (2) Großbritannien und Frankreich konnten ihre unterschiedlichen Vorstellungen zur Konzeption des Völkerbundes nicht in Einklang bringen. Während Frankreich den Völkerbund zum Eckpfeiler eines kollektiven Sicherheitssystems ausbauen wollte, sah Großbritannien ihn nur als ein zusätzliches und ergänzendes Instrument zum klassischen »Konzert der Mächte«. (3) Die dritte alliierte Hauptmacht, Italien, wendete sich nach der Regierungsübernahme Mussolinis immer entschiedener vom Völkerbund ab und trat 1937 aus. Zuvor hatten dies schon die totalitären und faschistischen Regime Japan und Deutschland im Jahr 1933 getan. (4) Die Sowjetunion spielte die Rolle eines isolierten Außenseiters-- sie gehörte dem Völkerbund nur in den Jahren zwischen 1934 und 1939 an und wurde dann ausgeschlossen. (5) Innerhalb des Völkerbundes spielten eher Beamte und Diplomaten aus klein- und mittelgroßen Staaten wie Belgien, Spanien, Griechenland und den skandinavischen Ländern eine Rolle. Die Großmächte hingegen sprachen dem Völkerbund keineswegs ein Monopol für die internationale Politik zu. Sie verlagerten zahlreiche diplomatische Aktivitäten auf andere Ebenen und Institutionen-- etwa auf Botschafterkonferenzen, die an die Bündnispraxis des Ersten Weltkriegs anknüpften. Die sich so etablierende Konferenzdiplomatie zeichnete sich durch eine variable Besetzung und eine Themenvielfalt aus und bewegte sich im Bereich der »high politics« 4 . (6) Von der Erörterung der zentralen Reparationsprobleme und der Frage 3 Für einen Einblick in die internationale Organisation des Völkerbundes im Vergleich mit seiner Nachfolgeorganisation, den Vereinten Nationen, an den sich auch die folgende Auflistung anlehnt vgl. Heideking 1983; ausführlicher zum Völkerbund vgl. Niedhart 1989. 4 In der Politikwissenschaft und vor allem in den Internationalen Beziehungen bezeichnet man all jene Politikfelder als »high politics«, die für das Überleben des Staates wichtig sind, wie vor allem die Sicherheitspolitik. <?page no="22"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 23 1.1 Theorie des (Neo-)Funktionalismus 23 der Abrüstung blieb der Völkerbund ausgeschlossen. (7) Unter dem Eindruck sich häufender Völkerrechtsverletzungen entwickelten die demokratischen Großmächte in den 1930er Jahren eine Strategie der »Zweigleisigkeit«. Im Völkerbund schloss man sich dem Ruf der Klein- und Mittelmächte sowie innerstaatlicher Gruppen nach Sanktionen als politisches Mittel der Konfliktregulierung an; um politische und militärische Konsequenzen zu vermeiden, signalisierte man jedoch gleichzeitig über diplomatische Kanäle Entgegenkommen. Die Folge waren halbherzige und wirkungslose Sanktionen und Ansehensverluste des Völkerbundes. Das System der »kollektiven Sicherheit« wurde zunehmend ausgehöhlt. (8) Darüber hinaus war der Völkerbund fast ausschließlich mit sicherheitspolitischen Fragestellungen befasst. Im Hinblick auf Wirtschaftspolitik konnte er keine langfristige Wirksamkeit entfalten. Vor allem die Weigerung der Franzosen, internationale Organisationen in die Diskussion von Kernfragen der Wirtschafts- und Finanzordnung einzuschalten, beschränkte seine Funktion auf Not- und Aushilfsmaßnahmen. Die Forderung der Weltwirtschaftskonferenz 1927 nach freiem Welthandel blieb unbeantwortet. Zugleich schlug die Londoner Währungs- und Wirtschaftskonferenz 1933 in ihrem Bemühen fehl, den Abrüstungswettlauf zu stoppen und das internationale Währungssystem zu stabilisieren (vgl. Heideking 1983). Die Konsequenz aus diesen Defiziten des Völkerbundes war die Flucht in Nationalismus, Bilateralismus und Autarkismus. Aus diesem nicht funktionierenden System heraus konzipierte Mitrany seine Theorie des Funktionalismus. Mitranys zentrales Anliegen war es, ein auf Dauer gestelltes, den Frieden sicherndes System zu schaffen. 5 Die zentrale Frage lautete also: Wie ist Frieden herzustellen? Dies sollte indirekt über die Zusammenarbeit von Staaten erreicht werden. Die Zusammenarbeit sollte sich dabei auf die Bereiche konzentrierten, in denen die Staaten gemeinsame Interessen aufwiesen. Auf diesen Sachbereichen liegt dementsprechend auch der Fokus der Analyse. Sie stehen im Mittelpunkt und sind Ausgangspunkt der Erklärung, nicht hingegen die Interessen der souveränen Nationalstaaten. Aus einem solchen Sachbereich heraus ergeben sich sachlogisch Art und Umfang der internationalen Zusammenarbeit. Diese kausale Verknüpfung konstituiert das Prinzip des Funktionalismus und Neo- Funktionalismus, das Mitrany bereits 1933 auf die lakonische Formel »form follows function« brachte. Die Form der Zusammenarbeit ergibt sich demzufolge aus der Funktion innerhalb eines spezifischen Sachbereichs. Die Formel »form follows function« ist bereits aus der Architektur und dem Design bekannt und erklärt sich durch die Rückbesinnung auf diese Bereiche meist besser. So folgten die klaren Formen des Bauhauses in Architektur und Design aus den 1920er Jahren, die den schnörkelrei- 5 Für eine zusammenfassende Darstellung des (Neo-)Funktionalismus vgl. Welz/ Engel 1993 sowie Wolf 2006. <?page no="23"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 24 24 1. (Neo-)Funktionalismus chen und ausladenden Jugendstil ablösten, dem gleichen Prinzip: Die Funktion eines Gegenstandes bestimmt seine Form. Ein Stuhl muss funktional sein, d. h. er muss der Funktion »Sitzen« optimal entsprechen. Diese Entsprechung bestimmt als Kriterium sein Aussehen. Anders verhält es sich dagegen bei einem Stuhl aus der Epoche des Jugendstils, bei dem die dekorative Form im Vordergrund steht und die Funktion »Sitzen« nachrangig ist. Zurück zu Mitrany: Im Mittelpunkt steht somit die funktionale Zusammenarbeit in einem Sachbereich bzw. einem spezifischen Sektor, der von den Beteiligten als gemeinsam über die Staatsgrenzen hinweg zu bewältigende Aufgabe definiert wird. Die Beteiligten sind Eliten im Sinne von Mitgliedern der Administration sowie Techniker, die sich mit der Materie des Sektors befassen und zusammen ein administrativtechnisches transnationales Netzwerk bilden. Damit dieses Netzwerk seine Arbeit planen und ausführen kann, ist die Einrichtung einer technischen Behörde notwendig. Die Konzentration auf Techniker und Administratoren soll die zu regelnde Sachmaterie »entpolitisieren«. Die Zusammenarbeit dieser Elite stellt sich als primär »unpolitisch« und rein technisch dar. Politisierte Konfliktsituationen zwischen den beteiligten Staaten sollen somit vermieden werden; Kooperation findet nur auf unkontroversen Sachgebieten statt. Diese Kooperation soll es den staatlichen Entscheidungsträgern erleichtern, Souveränitätsrechte auf die technische Behörde und damit auf eine supranationale Ebene zu übertragen. Mitrany geht dabei durchaus von einer Akteursvorstellung aus, die auf rationalistisch und utilitaristisch handelnden Akteuren beruht. Diese entscheiden aufgrund utilitaristischer Wohlfahrtsabwägungen. Daher wird es nur dann zu einer Kooperation kommen, wenn die Interessen der staatlichen Entscheidungsträger-- sprich ihre utilitaristischen Wohlfahrtsabwägungen-- kongruent sind. Ist die Kooperation erst einmal in einem Sachbereich geglückt, so ist davon auszugehen, dass sich eine Eigendynamik in Gang setzt, welche die Ausweitung der Kooperation auf andere Bereiche mit sich bringt. Mitrany geht dabei davon aus, dass die einzelnen Bereiche sachlogisch miteinander verknüpft sind und diese Verknüpfung das Fortschreiten der Integration von Bereich zu Bereich vorantreibt. Dieses Grundkonzept des Funktionalismus wurde später mit dem Schlagwort »spill-over« gekennzeichnet und findet sich bei Mitrany als »doctrine of ramification«. Zusammenfassend basiert Mitranys Funktionalismus auf drei Postulaten (vgl. Welz/ Engel 1993 : 139 f.): 1. der Abgrenzung einzelner funktioneller Sektoren; 2. der Trennbarkeit von technischen und politischen Problemen; 3. dem eigendynamischen Fortschreiten des einmal in Gang gesetzten Prozesses internationaler Kooperation. Vor allem in den Anfängen der europäischen Integration, die in der Zusammenarbeit im Bereich Kohle und Stahl innerhalb der EGKS ihren Ausdruck fand, macht diese <?page no="24"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 25 1.1 Theorie des (Neo-)Funktionalismus 25 funktionelle Abgrenzung einzelner Sektoren und den Gedanken der Kooperation besonders in technischen Bereichen deutlich. Heutige politische Diskussionen um Richtlinien über vermeintlich technische Regelungen zeigen uns jedoch, wie schwierig die Trennung von technischen und politischen Sachverhalten ist. Die Stagnation der europäischen Integration ließ gerade in den 1970er Jahren auch Zweifel über das dritte Postulat der eigendynamischen Ausweitung der Kooperation auf immer neue Sachbereiche aufkommen. Im Kern wurde der Funktionalismus allerdings nicht verworfen, sondern vielmehr von verschiedenen Autoren Ende der 1950er Jahre aufgegriffen. Den wichtigsten Beitrag zu dessen Fortschreibung leistete Ernst B. Haas. In seiner Wiederaufnahme und Weiterentwicklung dieser theoretischen Richtung- - die man als Neo-Funktionalismus bezeichnet-- versuchte Haas die Schwächen des älteren Funktionalismus zu vermeiden, und zwar insbesondere die Trennung politischer und technischer Regelungen in der Zusammenarbeit von Staaten. Das Konzept der gradualistischen Integration dagegen behielt er bei. Das Erkenntnisinteresse von Haas ist dabei auf Sicherheit und Wohlfahrtsgewinne durch Integration gerichtet (Haas 1958). Er fragt nach der Natur des Integrationsprozesses. In der Beantwortung dieser Frage setzt Haas zwar bei der rein technischen Kooperation an, erweitert diese jedoch um die Vorstellung einer sich graduell vollziehenden regionalen politischen Integration. Somit hebt er die strikte Trennung von technischer und politischer Kooperation im Sinne Mitranys auf. Im Mittelpunkt dieses Integrationsprozesses stehen nicht mehr Netzwerke technisch-administrativer Eliten, sondern vielmehr die Institutionalisierung der Kooperation. Dazu kommt die eindeutig regionale Orientierung dieser Kooperationsbemühungen. War Mitranys Blick noch auf eine internationale Kooperation gerichtet, wobei die regionale Integration als ein erster Schritt hin zu internationalen Regelungen zu sehen war, beschäftigte sich Haas mit der Entstehung einer regionalen Gemeinschaft. Diese sollte nach seinen Vorstellungen in Gestalt eines klaren supranationalen Entscheidungssystems errichtet werden. Damit konzipiert Haas den »Transfer von Souveränität und Loyalität« weg vom Nationalstaat, hin zu neuen supranationalen Gemeinschaften. Den Eliten kommt in diesem Zusammenhang bei Haas, wie schon bei Mitrany, eine entscheidende Bedeutung zu. Doch anders als für Mitrany sind für Haas die relevanten Eliten nicht die Administratoren und Techniker, sondern die Interessengruppen und politischen Parteien, die ihre Loyalität auf die europäische Ebene transferieren (Haas 1964). In seiner Theorie müssen Eliten, um das Kriterium der Relevanz zu erfüllen, über politische Entscheidungs- und Partizipationsmöglichkeiten verfügen und somit an der Entscheidungsfindung beteiligt sein. Welz und Engel beschreiben den oben angedeuteten Loyalitätstransfer als Form von Angebots- und Nachfrage-Zyklus: <?page no="25"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 26 26 1. (Neo-)Funktionalismus »Die Verlagerung von Entscheidungskapazitäten auf die supranationale Ebene zieht den […] Loyalitätstransfer nach sich. Durch Allokation von Werten auf der EG-Ebene entstehen Erwartungen und Forderungen auf der Nachfrageseite, die entweder auf herkömmliche Weise gegenüber den nationalen Regierungen, oder-- und genau hier setzt die ›Elitensozialisation‹ ein-- gegenüber dem neuen politischen Entscheidungszentrum geltend gemacht werden.« (Welz/ Engel 1993 : 144). Mit der Erweiterung des Funktionalismus um diese Lernprozesse im Verhalten von Eliten fügt Haas der bisherigen Konzeption des funktionalen spill-over als Form der sachlogischen Verknüpfung von Aufgabenbereichen im Sinne Mitranys eine Form des politischen spill-over hinzu (Haas 1964). Diese politische Komponente des Spill-over- Konzepts kann beschrieben werden als »ein aufgrund eines Lernprozesses verändertes Elitenverhalten, [das dazu führt,] dass die vom Integrationsprozess profitierenden gesellschaftlichen Gruppen sowohl auf die nationalen als auch die europäischen Institutionen Druck ausüben, um den Weg der Vergemeinschaftung voranzugehen, weil sie sich von einer fortschreitenden Integration Wohlfahrtsgewinne erhoffen« (Welz/ Engel 1993 : 146). Bei konvergierenden Interessen der Eliten schreitet die Integration in der beschriebenen Art voran. Deutlich wird hierbei, dass Haas wie auch Mitrany vom Handlungskonzept des rationalen utilitaristischen Akteurs ausgehen. In den 1960er und 1970er Jahren wurde der Neo-Funktionalismus von Autoren wie Lindberg (1963), Lindberg/ Scheingold (1970), Schmitter (1969 und 1970) und Haas (1970) selbst wieder aufgenommen und weiterentwickelt. Vor allem Haas und Schmitter haben an der Operationalisierung der Theorie gearbeitet (Haas/ Schmitter 1964). Schmitter differenzierte die Spill-over-Effekte zwar in insgesamt sieben unterschiedliche Kategorien aus (vgl. Schmitter 1970), doch fand diese differenzierte Modellierung kaum empirische Anwendung. Auch in der Folge blieben die Arbeiten auf einem eher allgemeinen Niveau auf den gesamten Integrationsprozess gerichtet. Das vor allem in den 1970er und Anfang der 1980er Jahre umstrittene Konzept 6 wurde kaum für empirische Analysen eingesetzt. Um die neo-funktionalistische Theorie 7 auf ein konkretes Problemfeld anzuwenden, wie es in diesem Kapitel geschehen 6 Für die Kritik an neo-funktionalistischen Erklärungen der Integration vgl. Wolf 2006 : 75-80. 7 Zur Vereinfachung der Terminologie wird im Folgenden von der funktionalistischen Theorie gesprochen, ohne jeweils eine Differenzierung zwischen Funktionalismus und Neo-Funktionalismus vorzunehmen. Damit soll jedoch auf die weiterentwickelten Formen des Funktionalismus und nicht auf seine ursprüngliche Form bei Mitrany abgehoben werden. <?page no="26"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 27 1.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 27 soll, wurde sie in der gegenwärtigen Literatur mit der Policy-Analyse gekoppelt (vgl. Schumann 1991, Wolf 1999). Im nächsten Kapitel werden wir uns diese Koppelung zunutze mache, um die neo-funktionalistische Theorie zu operationalisieren. 1.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Neo-Funktionalismus Zuerst sei das Problem bzw. Phänomen betrachtet, das mit Hilfe des Neo-Funktionalismus erklärt werden soll. Herauszuarbeiten ist, warum der Bereich der Regionalpolitik in den 1970er Jahren vergemeinschaftet und die Regionalpolitik somit als eigenständiger Politikbereich auf europäischer Ebene etabliert wurde. Tabelle 1: Unterschiede zwischen Funktionalismus und Neo-Funktionalismus im Überblick Funktionalismus Neo-Funktionalismus Erkenntnisinteresse friedenssicherndes System Sicherheit und Wohlfahrtsgewinne durch Integration Fragestellung Wie ist Frieden herzustellen? Was ist die Natur des Integrationsprozesses? Gegenstand internationale Gemeinschaft: administrativ-technisches Netzwerk regionale Gemeinschaft: supranationales Entscheidungssystem Akteure Eliten =-Administration und Techniker Eliten =-Interessengruppen und politische Parteien Handlungskonzept rationale, utilitaristische Akteure Prämisse Interessenkongruenz Interessenkonvergenz Abhängige Variable Integrationsprozess regionaler Integrationsprozess Unabhängige Variablen ● ● doctrine of ramification (spillover) als sachlogische Verknüpfung von Aufgabenbereichen ● ● Imperative der technokratischen Bedürfnisse ● ● funktionale spill-over ● ● Loyalitätstransfer der Eliten (politische spill-over) Prinzip form follows function Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Knodt 2005 : 172 <?page no="27"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 28 28 1. (Neo-)Funktionalismus Regionale Ungleichheiten in der Europäischen Gemeinschaft sind seit der Gründung der EG ein Thema. 8 So etwa in der Präambel des EG-Vertrages, der die gemeinsame Zielvorstellung einer gleichmäßigen regionalen Entwicklung in der EG formuliert. Allerdings ging man von Anfang an davon aus, dass diese sich als Ergebnis der wirtschaftlichen Integration von selbst einstellen würde. Da dies jedoch noch nicht der Fall war, wurden nationalstaatliche Eingriffe zur regionalen Unterstützung benachteiligter Gebiete als Ausnahme von ansonsten verbotenen Konkurrenz verfälschenden Staatseingriffen explizit geduldet. Im Herbst 1972 fasste der Europäische Rat auf der Pariser Gipfelkonferenz den Beschluss, dem »Ziel, in der Gemeinschaft strukturelle und regionale Ungleichgewichte zu beheben«, hohen Vorrang beizumessen. Offiziell erweiterte die EG dann 1975 ihren Policy-Kanon auf der europäischen Ebene um die Strukturfondsförderung. Dies entsprach dem Ziel, langfristig eine größere ökonomische Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zu erreichen. 9 Als Instrument wurde der Regionalfonds (EFRE) eingesetzt. Daneben dienten der bereits bestehende Sozial- (ESF) und der Agrarfonds (EAGFL) ebenfalls als strukturpolitische Maßnahmen. 10 Im Gegensatz zu den letztgenannten Strukturfonds, die auf spezielle Probleme oder Sektoren gerichtet sind, sollte über die Bereitstellung von Fördermitteln für sogenannte »Problemgebiete« mit dem Regionalfonds aktiv in die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten eingegriffen werden. Ziel des Fonds war es, »die wichtigsten regionalen Ungleichgewichte in der Gemeinschaft zu berichtigen, namentlich diejenigen, die aus einer überwiegend landwirtschaftlichen Struktur, industriellen Wandlungen und struktureller Unterbeschäftigung entstanden sind« (Rat 1975 : 1). Der Fonds sollte die Eigenschaft als Kompensationsinstrument für territorial wirkende Benachteiligungen besitzen, vor allem für kaum industrialisierte oder infolge von Strukturkrisen mit dem Verlust ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit bedrohte Gebiete. Ausdruck findet der hohe Stellenwert, den die Strukturfondsförderung durch diese Entwicklungen erreicht hat, in deren vertraglicher Verankerung in der Einheitlichen Europäischen Akte (1986), dem Maastrichter Vertrag (1992) und in der Erhöhung der Finanzmittel für diesen Politikbereich. Wurden für die Strukturfondsförderung im Jahr 1985-- also vor der Einheitlichen Europäischen Akte-- noch ca. 12,8 Prozent des EU-Haushalts aufgewandt, so waren es im 8 Vgl. im Folgenden Knodt (1998). 9 Zwar hatten die Unterzeichnerstaaten der Römischen Verträge bereits in deren Präambel ihren Willen dargelegt, »ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonische Entwicklung voranzutreiben, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten, und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete fördern« (Präambel EWGV), doch die konkrete Umsetzung in eine eigenständige Politik bedurfte der nachhaltigen Forderungen einzelner Mitgliedstaaten (vor allem im Zuge der Erweiterungsrunden). 10 Die drei Strukturfonds werden durch alle Reformen hindurch in dieser Art beibehalten und im Jahre 1993 durch den Fischereifonds (Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei, FIAF) sowie den 1992 auf Grundlage des Maastrichter Vertrages geschaffenen Kohäsionsfonds ergänzt. <?page no="28"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 29 1.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 29 Jahr 2006 und damit zum Ende der Förderperiode 2000 bis 2006 bereits 30 Prozent (Kommission 2008). Mit der Förderperiode 2007 bis 2013 stieg der Anteil dann auf 347 Mrd. EUR, also rund ein Drittel des Haushaltes (Rat 2006). Aus Sichtweise des Neo-Funktionalismus stellt sich nun folgende Frage: Warum wurde der Bereich der Regional- und Strukturfondspolitik in den Kanon der europäischen Politiken aufgenommen, obwohl dies nicht von Anfang an vorgesehen war? Warum haben die Mitgliedstaaten einer Integration der Regionalpolitik und somit einem Souveränitätstransfer zu Gunsten der europäischen Ebene zugestimmt? Damit stellt die zu erklärende oder abhängige Variable die Aufnahme der Regional- und Strukturfondspolitik in den Kanon der europäischen Politiken dar (AV). Die erklärenden oder unabhängigen Variablen werden nun aus neo-funktionalistischer Perspektive hergeleitet-- mit Rückgriff auf Konzepte der Policy-Analyse, da das Spill-over-Konzept eine Fokussierung auf Politikfelder nahelegt. Zudem hilft die Policy-Analyse, die Wirkungsweise der Variablen in den verschiedenen Phasen des Politikzyklus besser zu verstehen-- von der Problemdefinition über das Agenda-Setting und die Politikformulierung respektive Entscheidung bis zur Implementation und eventuell Revision und Neuformulierung. 11 Für die hier angestrebte neo-funktionalistische Analyse sind vor allem die ersten Stufen des Politikzyklus von Interesse-- nämlich die Identifikation des Problems und das Agenda-Setting- - sowie darüber hinaus in eingeschränktem Maße auch die Politikformulierung. Für die neo-funktionalistische Erklärung und unter Zuhilfenahme der Policy-Analyse können zwei zentrale Bereiche unterschieden und als unabhängige Variablen der Erklärung konzipiert werden (vgl. Wolf 1999, Schumann 1992): 1. sozio-ökonomische Bedingungen im Politikfeld (UV 1 ); 2. Problemdruck aus angrenzenden, vergemeinschafteten Politikfeldern bzw. bereits integrierten Sektoren innerhalb des Politikfeldes (UV 2 ). 11 Dieser Politikzyklus wurde bereits in den 1980er Jahren wie folgt beschrieben: »Ein Problem tritt als solches ins öffentliche Bewusstsein, wird aufgrund der Forderungen bestimmter Gruppen und dominanter gesellschaftlicher Wertvorstellungen als handlungsrelevantes Problem definiert und auf die politische Entscheidungsagenda gesetzt. Begleitet von Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozessen zwischen verschiedenen politischen Gruppen wird ›das Problem‹ in die Form einer politischadministrativ verbindlichen Entscheidung gebracht, die dann im Durchführungsprozess durch nachgeordnete politische und administrative Akteure, gesellschaftliche Gruppen und Organisationen sowie Einzelbürger ihre konkrete Ausgestaltung erfährt. Die daraus resultierenden konkreten Policy- Ergebnisse und -Wirkungen (die wissenschaftlich untersucht werden können: Evaluation) schließlich rufen eine politische Reaktion der Zustimmung oder Ablehnung hervor, die wiederum politisch umgesetzt wird und zur Weiterführung, Veränderung oder Beendigung der Policy führt« (Windhoff- Héritier 1987 : 65). <?page no="29"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 30 30 1. (Neo-)Funktionalismus Mit diesen beiden Punkten lassen sich die funktionalen und strukturellen Sachzwänge aufzeigen, die vom Neo-Funktionalismus als wesentlicher Kern des Spill-over-Konzepts gesehen werden. Für die empirische Untersuchung ergibt sich, dass die eben dargestellten Erklärungsfaktoren mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand, hier der Strukturfondspolitik, aufgelistet werden müssen. Daraus lassen sich Hypothesen ableiten, die dann am konkreten Fall getestet werden können. 12 ad 1) sozio-ökonomische Strukturen Da es in der Strukturfondsförderung um den Ausgleich regionaler Unterschiede in der Gemeinschaft geht, müssen wir diejenigen Variablen auswählen, welche die Differenzen sowohl innerhalb der Mitgliedstaaten als auch zwischen diesen am besten beschreiben: ● ● Einkommensverhältnisse nach Mitgliedstaaten und Regionen (Bruttosozialprodukt je Einwohner); ● ● Beschäftigungslage; ● ● Wanderungsbewegungen der Bevölkerung zwischen den Regionen und Staaten. ad 2) Problemdruck aus angrenzenden, vergemeinschafteten Politikfeldern bzw. bereits integrierten Sektoren innerhalb des Politikfeldes Um diese Variable abschätzen zu können, werden wir in der Analyse einen Blick auf zwei Bereiche werfen: ● ● die Erweiterungspolitik der EG; ● ● die Bemühungen um eine Wirtschafts- und Währungsunion. Aus dieser Beschreibung der unabhängigen Variablen lassen sich nun mit Blick auf das währungspolitische Problemfeld folgende Hypothesen ableiten: H 1 : Regionalpolitische Integration ist umso wahrscheinlicher, je stärker die regionalpolitischen Disparitäten in der Gemeinschaft zutage treten. H 2 : Regionalpolitische Integration ist umso wahrscheinlicher und umso tiefer, je höher der Problemdruck aus angrenzenden Bereichen der Integration ausge- 12 Zur allgemeinen Beschreibung der vier unabhängigen Variablen vgl. Wolf (1999 : 49-59), auf den sich diese Ausführungen stützen. <?page no="30"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 31 1.3 Erklärung aus Sicht des Neo-Funktionalismus 31 prägt ist bzw. wahrgenommen wird-- hier vor allem die Wirtschaft- und Währungsunion sowie die Erweiterung der EG. Sehen wir uns die Variablen nun daraufhin an und testen die aufgestellten Hypothesen an der Empirie der Regionalpolitik. 1.3 Neo-Funktionalistische Erklärung der Etablierung der Regional- und Strukturfondspolitik auf europäischer Ebene Sozio-ökonomische Strukturen In den 1970er Jahren kristallisierte sich heraus, dass der mit den Römischen Verträgen prognostizierte wirtschaftliche Konvergenzprozess nicht ohne politische Intervention beginnen würde. Zum einen verteilte sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft ungleich, zum anderen zeigten sich auch innerstaatliche wirtschaftliche Schieflagen. In den 1960er und 1970er Jahren vergrößerten sich diese regionalen Disparitäten zunehmend. Außerdem verschärfte die Wirtschaftskrise der beginnenden 1970er Jahre deutlich die strukturellen wirtschaftlichen Differenzen zwischen und innerhalb der Mitgliedstaaten. 3500 B DK D F GB IR I LUX NL EG gesamt 3000 2500 2000 1500 1000 500 0 1960 1970 Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Kommission 1973 : 52, zit. nach Boeck (1973 : 217) Grafik 1: Bruttosozialprodukt zu Marktpreisen je Einwohner in den Mitgliedsländern der EG 1960 und 1970 in jeweiligen Preisen und Wechselkursen <?page no="31"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 32 32 1. (Neo-)Funktionalismus Bei der Suche nach den Indikatoren für die wirtschaftlichen Disparitäten in der Europäischen Gemeinschaft stößt man schnell auf ein Datenproblem. Geeignet wären neben dem Bruttosozialprodukt je Einwohner auch Daten über die personellen Einkommensverhältnisse oder zur Struktur der Wirtschaft. Diese jedoch sind in den hier betrachteten 1960er und 1970er Jahren nicht vergleichbar für die damaligen Mitgliedstaaten zu erhalten. Doch bereits die Verteilung des Bruttosozialproduktes verweist auf das wirtschaftliche Gefälle. Grafik 1 veranschaulicht die bestehenden Einkommensgefälle zwischen Italien und Irland auf der einen und den restlichen Mitgliedstaaten auf der anderen Seite. Dabei gelang es Italien, ein wenig aufzuholen, Irland fiel dagegen weiter zurück. Großbritannien konnte seine ursprüngliche gute wirtschaftliche Leistung ebenfalls nicht halten, sondern verschlechterte sich deutlich von einem zweitbesten wirtschaftlichen Ergebnis 1960 auf ein unterdurchschnittliches 1970. Grafik 2 illustriert diese Abwärtsbewegung sowie nochmals die Verteilung in Beziehung zum Durchschnitt der neun Länder (vgl. Boeck 1993). Noch deutlicher fallen die wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb der Mitgliedstaaten und somit zwischen den Regionen einzelner Mitgliedstaaten aus. Allerdings ist hier die Datenlage noch schlechter. Grafik 3 zeigt die Unterschiede anhand der jeweils reichsten und jeweils ärmsten Region eines jeden Mitgliedstaates. 13 Die stärks- 13 Luxemburg fällt hierbei heraus, da es keine regionale Unterteilung gibt. -50 -40 -30 -20 -10 0 10 20 30 40 1970 1960 B DK D F GB IR I LUX NL Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Kommission 1973 : 52, zit. nach Boeck (1973 : 217) Grafik 2: Bruttosozialprodukt zu Marktpreisen je Einwohner in den Mitgliedsländern der EG 1960 und 1970 in jeweiligen Preisen und Wechselkursen im Verhältnis zum Durchschnitt der neun Länder (hier auf null gesetzt) <?page no="32"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 33 1.3 Erklärung aus Sicht des Neo-Funktionalismus 33 ten Unterschiede finden sich in Deutschland und erneut in Italien. In Deutschland rangierte als reichste Region zum damaligen Zeitpunkt das Bundesland Hamburg, die ärmste Region bildete Trier. 14 Würde man sich alle Regionen innerhalb der Mitgliedstaaten ansehen, so zeigt sich in vielen Ländern, dass vor allem die Hauptstädte und eventuell ein weiteres wirtschaftliches Zentrum den Status der reichsten Region einnehmen und mit großem Abstand zu den restlichen Regionen rangieren. Zum Teil liegt in den Mitgliedstaaten nur die Hauptstadt über dem Durchschnitt, wie etwa in Irland und Dänemark, was das enorme Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie in diesen Ländern zeigt. Auch in 14 Die Datenlage ist auf regionaler Ebene schwierig und nach Erhebungsjahr und Werten nicht gleich, da es jedoch vor allem auf die Darstellung der innerstaatlichen Unterschiede ankommt, ist dies unproblematisch. Folgende Daten liegen zugrunde (alle Angaben pro Einwohner): B 1968 Bruttoinlandsprodukt zu Faktenkosten; D 1970 Privateinkommen; D 1966 Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen; F 1967 Direktes Einkommen; GB 1968/ 69 Privateinkommen; IR 1969 Privateinkommen; I 1969 Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen; NL 1965 Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen. B D DK F GB I IR NL 4.000 3.000 2.000 1.000 0 Minimum (ärmste Region), Maximum (reichste Region) Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Boeck 1973 : 218 Grafik 3: Pro-Kopf-Einkommen in den jeweils reichsten und ärmsten Regionen der EG-Staaten (ohne Luxemburg) 14 <?page no="33"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 34 34 1. (Neo-)Funktionalismus Frankreich schafft es neben Paris nur eine andere Region knapp über den Durchschnitt. Diese starke Differenzierung in Zentrum und Peripherie war besonders vor dem Hintergrund der seit dem 8. November 1968 garantierten Freizügigkeit für Arbeitnehmer in der EG prekär. Befürchtet wurde eine zunehmende Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus den unterentwickelten und peripheren Regionen in die zentralen, hochentwickelten Zentren. Die vorausgesagten Folgen waren eine weiter zunehmende Unterentwicklung der Peripherie der Gemeinschaft sowie eine Überbelastung und Ghettobildung in den Zentren (vgl. Stapelfeldt 1998 : 335 f.). Die soeben aufgezeigten wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern und innerhalb der Mitgliedsländer verursachte in den 1960er und 1970er Jahren tatsächlich erhebliche Wanderungsbewegungen aus der Peripherie in die jeweiligen Zentren. Daraus resultierte in regional konzentrierten Gebieten eine hohe Arbeitslosigkeit, die in diesem Zeitraum als jedwede Arbeitslosenquote über 4 Prozent definiert wurde. Vor allem betraf dies Irland und den Norden bzw. Osten Großbritanniens; Teile des mittleren südlichen Italiens inklusive Sizilien und Sardinien; das nördliche Dänemark sowie Teile Belgiens. Diese Gebiete hatten gleichzeitig mit starken Abwanderungsbewegungen zu kämpfen. Ebenfalls mit Abwanderung konfrontiert waren damals Teile des bundesdeutschen Zonenrandgebietes, der Westen Frankreichs sowie der nordöstliche Teil Italiens. Als Gewinner aus dieser Bewegung gingen die Ballungszentren, meist die Hauptstädte der Mitgliedstaaten hervor (vgl. Boeck 1973 : 220 ff.). Die sozio-ökonomischen Strukturen in der Gemeinschaft in den 1960er und 1970er Jahren legen ein Problembewusstsein über regionale Disparitäten nahe, das sich klar mit den neuen Beitrittsländern verstärken würde. Somit stieg der Druck durch die Erweiterung der Gemeinschaft Anfang der 1970er Jahre noch, wie gleich gezeigt wird. Problemdruck aus angrenzenden, vergemeinschafteten Politikfeldern bzw. bereits integrierten Sektoren innerhalb des Politikfeldes Um den Druck aus den benachbarten Politikfeldern untersuchen zu können, betrachten wir zwei Bereiche, die einen direkten Einfluss auf die Regionalpolitik hatten: Dies ist zum einen die Erweiterungspolitik der EG und zum anderen die Wirtschafts- und Währungsunion. Die dazugehörige These lautet: Durch die Furcht vor Benachteiligungen infolge (a) der Erweiterungen der EG und (b) der fortschreitenden Vertiefung der Integration hat die europäische Strukturfondsförderung ihre Entwicklungsdynamik gewonnen. 15 Zunächst zur Erweiterung der Gemeinschaft: Eine neue Qualität erreichte sie mit dem Beitritt von Irland und Großbritannien zur EG-- zwei leistungsschwächere Öko- 15 Die Dynamik wird eingehend dargestellt bei Tömmel (1992, 1994). <?page no="34"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 35 1.3 Erklärung aus Sicht des Neo-Funktionalismus 35 nomien mit erheblichen internen Strukturproblemen-- und dem Beschluss zur Vertiefung der Wirtschaftsintegration zu einer Wirtschafts- und Währungsunion. Die erste EG-Erweiterung im Jahr 1973 brachte mit Irland und Großbritannien zwei neue Mitgliedstaaten in die Gemeinschaft, die beide wirtschaftliche Schwächen aufwiesen. Der dritte Erweiterungskandidat Dänemark stellte in dieser Hinsicht hingegen kein Problem dar. Irland jedoch lag zu diesem Zeitpunkt in seiner Entwicklung weit hinter dem EG-Durchschnitt zurück und war stark agrarisch geprägt, ohne dabei nennenswerte industrielle Zentren zu besitzen. Das Industrieland Großbritannien kämpfte indes mit starken sektoralen Strukturkrisen der Stahl-, metallverarbeitenden und Werftindustrie, die sich in sogenannten »altindustriellen« Gebieten von Wales, Schottland, Nordwest-England, Nord-England und Nord-Irland konzentrierten. In wirtschaftlicher Hinsicht war der Beitritt Großbritanniens und Irlands eine Herausforderung für die sechs Gründerstaaten, denn die internen Entwicklungsunterschiede wurden dadurch enorm vergrößert. Der zweite Faktor war die in den siebziger Jahren vorangetriebene und angestrebte Wirtschafts- und Währungsunion. In den Römischen Verträgen hatte sich das Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion mit einer einheitlichen europäischen Währung noch nicht niedergeschlagen. Als zentral galt vielmehr der Gemeinsame Markt, der vor währungspolitischen Störungen zu schützen war: »Die Mitgliedstaaten sollten ● ● ihre Politik auf dem Gebiet der Wechselkurse als eine Angelegenheit von gemeinsamen Interesse behandeln (Art. 103/ 107 EWGV); ● ● ihre Wirtschafts- und Währungspolitik koordinieren (Art. 105 EWGV); ● ● sowie im Falle von Zahlungsbilanzschwierigkeiten die Empfehlungen der Kommission berücksichtigen (Art. 108 EWGV) und ● ● dafür sorgen, dass bei notwendig werdenden nationalen Schutzmaßnahmen die Störungen des Gemeinsamen Marktes auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben (Art. 109 EWGV)« (Thiel 1998 : 146). Die Währungspolitik der EG fand zuerst im Umfeld des 1944 entstandenen Systems von Bretton Woods 16 statt. Das System legte feste Wechselkurse für nationale Währungen in ihrem Verhältnis zum Dollar fest, die nur in einer Marge von 1,5 Prozent schwanken durften. Daher spielte die Währungspolitik im Sinne einer Wechselkurspolitik für die Gemeinschaft keine Rolle-- sie war vielmehr international geregelt. Erst mit der Erschütterung des Bretton-Woods-Systems in den 1960er Jahren und dessen Zusammenbruch 1993 begann das Thema Währungspolitik auf der Agenda der EG aufzutauchen. Ständige Leitkursanpassungen und in Folge das freie floaten (Schwanken) der Währungen brachte enorme Probleme für die EG. Die währungspolitischen 16 Bretton Woods ist die Bezeichnung des Währungssystems, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg entstand. Es war gekennzeichnet von festen Wechselkursen und vom US-Dollar als Leitwährung. <?page no="35"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 36 36 1. (Neo-)Funktionalismus Alleingänge der Staaten führten zu hohen Inflationsraten. Doch das geteilte Problem der Inflationsbekämpfung und Währungsstabilisierung brachte ebenso erste gemeinsame Lösungen. Auf der Gipfelkonferenz vom Dezember 1969 in Den Haag hatte die EWG beschlossen, die europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Währungsunion auszubauen. In diesem Rahmen entstand 1970 unter dem Vorsitz des luxemburgischen Premierministers Pierre Werner ein Stufenplan, der innerhalb von zehn Jahren zur Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) führen sollte. Als Ziel waren die irreversible Konvertibilität der Währungen der Mitgliedstaaten, freier Kapitalverkehr, Liberalisierung des Personen-, Güter- und Dienstleistungsverkehrs sowie die endgültige Festlegung der Wechselkurse bzw. eine gemeinsame Währung sowie schließlich die Schaffung eines Zentralbanksystems inklusive der Vergemeinschaftung der betroffenen Politiken vorgesehen (vgl. Stahl 1974 : 9). Die ersten Schritte dieses »Werner- Plans« wurden schon bald realisiert, was zur »Schlange im Tunnel«, d. h. zu festen Wechselkursen zwischen den Mitgliedstaaten mit einer Schwankungsbreite der Wechselkurse von 2,25 Prozent und Interventionsmargen im Verhältnis zum Dollar führte. Der nächste Schritt des Werner-Plans hin zu einer Europäischen Zentralbank und einer einheitlichen Währung kam jedoch nicht mehr zustande-- der Plan scheiterte. Übrig blieb zum Ende der 1970er Jahre lediglich ein Wechselkursverbund zwischen der D-Mark und einigen kleineren EG-Währungen. Die Diskussion um eine gemeinsame Währung und mit ihr die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums hat die Entwicklung der Regionalpolitik maßgeblich beeinflusst. Die Befürchtungen waren dabei folgende: Eine stark integrierte Gemeinschaft wird einen freien Verkehr von Gütern, Dienstleistungen und Kapital aufweisen. Damit verbunden wäre ein gemeinsames Währungssystem mit festen Wechselkursen, womöglich mit einer gemeinsamen Währung und gemeinschaftlichen Organen. Für wirtschaftlich schwächere Mitgliedstaaten hätte das stark negative Folgen (zusammenfassend vgl. Tömmel 1994 : 40 und ausführlich vgl. Stahl 1974). Zum einen wurde befürchtet, dass die Investitionsströme sich in die bereits stärker ausgebauten und besser ausgestatteten Regionen verlagerten. Zum anderen würden die währungspolitischen Instrumente, wie etwa Wechselkursanpassungen zur Stärkung der Potenz der eigenen exportorientierten Industrie, wegfallen. Die Folge wären Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten bzw. eine Verstärkung regionaler Gefälle innerhalb der Mitgliedstaaten. Diese Befürchtungen kamen in Berichten der Kommission zum Ausdruck. So schreibt die Kommission 1972 in ihrem »Memorandum on the organization of monetary and financial relations within the Community« vom 12. Januar 1972: »The Commission wishes to stress that the strengthening of monetary solidarity within the Community must be accompanied by: […] The implementation of a regional policy aimed at reducing the existing disparities between the various regiwww.claudia-wild.de: <?page no="36"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 37 1.3 Erklärung aus Sicht des Neo-Funktionalismus 37 ons of the Community and entailing the necessary transfers of resources to the less favoured regions« (Commission 1972 : 30 f.). Den Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Performanz der damaligen Mitgliedstaaten und erwarteten Beitrittsstaaten sowie der Währungspolitik im Hinblick auf negative Konsequenzen für die Konvergenz der Systeme veranschaulicht die folgende Tabelle. Tabelle 2: Veränderungen der Arbeitslosigkeit und Wechselkursänderungen in den Mitgliedstaaten bzw. Beitrittsstaaten der EWG, 1960-- 1970 Mitgliedstaaten/ Beitrittsstaaten Veränderung der durchschnittlichen Arbeitslosenquote in % Wechselkursänderungen in % der Kurse von 1960* BRD 0,8 + 14,43 Niederlande 1,1 + 4,61 Frankreich 1,5 - 11,26 Belgien 2,1 + 0,34 Großbritannien 2,3 - 14,61 Italien 3,2 - 0,86 Dänemark 3,3 - 8,02 Irland 6,2 - 14,61 * Wechselkursänderungen gegenüber dem US-Dollar; + =- Aufwertung,- - =- Abwertung; Wechselkurse für 1960 bzw. 1970 errechnet als Durchschnitt der Kurse am Quartalsende Quelle: Statistisches Amt der EG, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen 1960- - 1970, Brüssel/ Luxemburg 1971; International Labour Organisation (ILO); Yearbook of Labour Statistics, Genf, versch. Jgg.; Internationaler Währungsfond (IWF), International Financial Statistics, Washington, D. C., versch. Jgg.; Berechnungen von Stahl 1974 : 74, bearbeitet. Deutlich wird in der Tabelle der ökonomische Zusammenhang, dass es auf mittlere und längere Sicht in Ländern mit relativ hoher Arbeitslosigkeit tendenziell zu deflatorisch wirkenden Defizit-Ungleichgewichten kommt. Somit wurden während der 1960er Jahre die EWG-Währungen gegenüber dem Dollar meist umso stärker aufgewertet, je höher die Arbeitslosigkeit in den Mitgliedstaaten war (Stahl 1974 : 73). Stahl wies in seiner Studie zu diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Abwertungsbedarf der Mitgliedstaaten umso größer war, je höher die Arbeitslosigkeitsraten in ihnen ausfielen. Bei einer Währungsintegration, die Wechselkursänderungen auszuschalten sucht, kann dies zu Lasten der Länder mit hoher Arbeitslosigkeit führen <?page no="37"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 38 38 1. (Neo-)Funktionalismus (ebd.: 75). In den Mitgliedstaaten mit regionalen Problemen, wie etwa Großbritannien, Frankreich und Italien, sah man diesen Zusammenhang nicht ganz so deutlich. Im Fall Großbritanniens lässt sich dies mit dem damaligen gemeinsamen Währungsraum mit Irland erklären, so dass die hohe Abwertungsrate zu einem großen Teil mit dem Hinweis auf die hohe Arbeitslosigkeit in Irland sowie zusätzlich in den Problemregionen Wales und Schottland erklärt wurde: »Die inflatorische Geldpolitik war hier offenbar daran ausgerichtet, die Arbeitslosigkeit in den peripheren Problemgebieten zu bekämpfen« (ebd.: 74). In den beiden anderen Mitgliedstaaten orientierte sich die Geldpolitik hingegen wohl eher an den reicheren Regionen, wie im Fall Italiens am Norden und nicht an den süditalienischen Regionen, die für die schlechte Arbeitslosenrate Italiens hauptverantwortlich waren (ebd.: 74 f.). Diese Befürchtungen und die Einführung der »Währungsschlange« im März 1972 als erster Schritt zu einer gemeinsamen europäischen Währung verstärkten den Problemdruck im Bereich der Regionalpolitik, so dass der spill-over von der Wirtschafts- und Währungspolitik auf das Politikfeld der Regionalpolitik plausibel erklärt werden kann. 1.4 Fazit Dieses Kapitel zeigt, wie vor allem in der Phase der Problemdefinition und des Agenda-Settings das Problembewusstsein aus den alle Mitgliedstaaten gleich betreffenden sozio-ökonomischen Strukturen und Krisenphänomenen auf die Tagesordnung der Europäischen Gemeinschaft gehoben wurde. Der Problemdruck aus den benachbarten Politikfeldern der Regionalpolitik, hier vor allem die Wirtschafts- und Währungspolitik und die EU-Erweiterung sowie die Verlagerung dieser Politik aus der alleinigen Zuständigkeit der nationalen Behörden heraus auf die europäische Ebene, trugen ebenfalls dazu bei. Diese Verknüpfung hätte man auch an anderen Stellen der Weiterentwicklung und Reform der Strukturfondsförderung nachweisen können-- etwa bezüglich des politischen Drucks auf die Strukturfondsförderung, die mit der Realisierung des Binnenmarktprojektes und dessen Festschreibung in der Einheitlichen Europäischen Akte einherging und ohne eine Abfederung der negativen Auswirkungen des gemeinsamen Marktes durch die Kohäsionspolitik der EG nicht hätte realisiert werden können. Somit wäre die Entstehung der EU-Strukturpolitik als eine eigenständige Politik aus neo-funktionalistischer Perspektive plausibel erklärt. Deutlich geworden ist, wie durch die theoretische Wahl des Neo-Funktionalismus bereits das zu erklärende Phänomen wie auch die Fragestellung und die zu erklärenden Variablen determiniert worden sind. In der empirischen Analyse wäre es nicht möglich gewesen, die Interessen der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Schaffung der Strukturfonds zu untersuchen. Dies hätte sich nicht mit dem theoretischen Konzept, der Fragestellung und dem Analysemodell in Einklang bringen lassen. <?page no="38"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 39 1.4 Fazit 39 Was jedoch wurde nicht untersucht und erklärt? Die Erklärung der Vergemeinschaftung der Regionalpolitik durch die Strukturfonds als spill-over und damit als sachlogische Verknüpfung von Politikfeldern, die aus sich heraus und durch ihre Vernetzung eine Integration bedingen, lässt keinen Raum für intentionale politische Entscheidungen. Die Erklärungskraft speist sich demnach ganz und gar aus dem Strukturargument und der damit einhergehenden Funktionsnotwendigkeit. Die handelnden Regierungsakteure selbst spielen als Akteure, die Präferenzen besitzen und sich mit anderen auseinandersetzen, keine Rolle. Zudem ist nicht erklärbar, warum die Regionalpolitik nicht komplett auf die europäische Ebene verlagert wurde. Zum einen ergab sich in der Umsetzung zuerst noch eine starke Stellung der nationalen Regierungen, die erst langsam und durch die Reform der Strukturfonds 1988 transformiert wurde. Zum anderen existiert bis heute parallel zur europäischen Regionalpolitik zugleich auch eine nationale und regionale Regionalpolitik. Literatur Boeck, Klaus 1973: Regionalpolitik. Eine Zukunftsaufgabe für die Gemeinschaft, in: Scharrer, Hans-Eckart/ Wessels, Wolfgang (Hg.): Europäische Wirtschaftspolitik. Programm und Realität. Bonn, 123-286. Commission of the European Communities 1972: Memorandum on the organization of monetary and financial relations within the Community, COM(72) 50 final, 12.1.1972, in: Bulletin of the European Communities No. 1/ 1972. Brussels, 25-34, zit. als »Commission 1972«. Europäische Kommission 2008: EU-Haushalt 2008. Finanzbericht, Generaldirektion Haushalt. 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Welz, Christian/ Engel, Christian 1993: Traditionsbestände politikwissenschaftlicher Integrationstheorien: Die Europäische Gemeinschaft im Spannungsfeld von Integration und Kooperation, in: Bogdandy, Armin von (Hg.): Die Europäische Option. Eine Interdisziplinäre Analyse über Herkunft, Stand und Perspektiven der europäischen Integration. Baden- Baden, 129-169. Windhoff-Héritier, Adrienne 1987: Policy-Analyse. Eine Einführung. Frankfurt a. M./ New York. Wolf, Dieter 1999: Integrationstheorien im Vergleich: Funktionalistische und intergouvernementalistische Erklärung für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion im Vertrag von Maastricht. Baden-Baden. Wolf, Dieter 2006: Neo-Funktionalismus, in: Bieling, Hans-Jürgen/ Lerch, Marika (Hg.): Theorien der europäischen Integration. Wiesbaden, 65-90. Woyke, Wichard 1998: Europäische Union: erfolgreiche Krisengemeinschaft. Einführung in Geschichte, Strukturen, Prozesse und Politiken. 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In einem letzten Schritt wird schließlich der vorliegend gewählte Ausschnitt der Strukturfondspolitik anhand dieser Hypothesen theoriegeleitet erklärt. 2.1 Theorie des (liberalen) Intergouvernementalismus Aus intergouvernementalistischer Sicht braucht es die Antwort auf eine Frage, um Teilphänomene der europäischen Integration zu erklären: Warum sind souveräne Staaten bereit, ihre zentralen Wirtschaftspolitiken zu koordinieren und dafür Souveränitätsrechte an internationale Institutionen abzugeben? 17 Damit ist bereits ein Hinweis darauf gegeben, wo die Wurzeln dieser Theorie zu suchen sind: in den Internationalen Beziehungen. Intergouvernementalistische Erklärungen fanden als Reaktionen auf neo-funktionalistische Ansätze ihren Eingang in die Analyse der europäischen Integration. Mitte der 1960er Jahre wendete Stanley Hoffmann eine solche intergouvernementalistische Erklärung an und bietet damit ein Gegengewicht zu den bisher vorherrschenden funktionalistischen Ansätzen (vgl. Hoffmann 1964 und 1966). Was war geschehen? Charles de Gaulles übernahm 1958 das Amt des Staatspräsidenten der Fünften Republik Frankreichs. Seine Vorstellung zur europäischen Integration war die eines »Europas der Vaterländer« und somit der kooperierenden Nationalstaaten, nicht aber einer supranationalen Institution mit weitreichenden Befugnissen. Die Einigungen im Ministerrat wurden zu dieser Zeit zunehmend schwieriger: 1963 legte de Gaulle sein Veto gegen das Beitrittsgesuch Großbritanniens ein. Über die umstrittene Finanzierung der Agrarpolitik kam es 1965 zur ersten großen Krise der EWG. Um Beschlüsse gegen sein eigenes Interesse zu verhindern, betrieb de Gaulle die »Politik des leeren 17 Kapitel 2.1 und 2.2 stützen sich auf Kohler-Koch/ Conzelmann/ Knodt 2004, Kapitel 5. <?page no="41"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 42 42 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus Stuhls«. Dabei schickte Frankreich von Mai 1965 bis Januar 1966 keinen Vertreter zu den Ministerratssitzungen und verhinderte so die Möglichkeit der Beschlussfassung. Neben der Agrarpolitik stand hinter dieser Blockadehaltung de Gaulles noch ein weiteres Interesse: Der EWG-Vertrag sah den Übergang von der Einstimmigkeit zum Mehrheitsprinzip im Ministerrat zum 1. Januar 1966 vor; eine Änderung, die de Gaulle verhindern wollte. Der Konflikt wurde durch den »Luxemburger Kompromiss« gelöst. Dies war eine nicht bindende Vereinbarung der Mitgliedstaaten, de facto weiterhin das Einstimmigkeitsprinzip beizubehalten, sobald ein Staat »sehr wichtige Interessen« geltend machen konnte. Dieser nationale Alleingang und die Wirksamkeit der französischen Drohgebärde brachten etliche Beobachter dazu, Zweifel an der funktionalistischen Erklärung der europäischen Integration anzumelden. Hoffmann verwarf in mehreren Aufsätzen Mitte der 1960er Jahre die funktionalistische Auffassung des quasi automatischen spill-over. Er verwies darauf, dass es die europäische Integration bisher nicht vermocht hätte, Nationalstaaten in ihrem Handlungsspielraum wesentlich einzuschränken und sie obsolet werden zu lassen. Vielmehr seien Staaten und insbesondere ihre Regierungen nach wie vor die zentralen Akteure in den internationalen Beziehungen. Dieses Argument führt Hoffmann in seinem zentralen Aufsatz von 1966 aus, der in der Literatur immer wieder als die klassische Formulierung seines Intergouvernementalismus zitiert wird. 18 Hoffmann greift in seiner Theorie auf wesentliche Prämissen der »realistischen Schule« zurück (vgl. Welz/ Engel 1993 : 154-158): Die Grundannahme besteht in einer Vorstellung der Welt als Staatenwelt ohne allgemein akzeptierte bzw. institutionalisierte Autorität zur Konfliktregelung, so wie es das billiard-ball model von Wolfers (1962) ausdrückt. Das Bild beschreibt die Akteure als Billardkugeln, deren Bewegung von den Bewegungen der anderen ungebundenen Kugeln auf dem Tisch bestimmt wird. Eine zentrale Ordnungsmacht existiert dabei nicht. Die Akteure aus Sicht der realistischen Schule sind Staaten und Regierungen, die rational und aus eigenem Antrieb heraus handeln. Dieser besteht im Versuch, die eigene Sicherheit aufrecht zu erhalten, auch wenn dies für andere Unsicherheit bedeutet und den Einsatz militärischer Mittel einschließt. Das Erkenntnisinteresse konzentriert sich dabei auf die Ursprünge und Voraussetzungen von Krieg und Frieden. Wie auch die Realisten ist Hoffmann der Meinung, dass die Ereignisse in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg die Dominanz der Staaten und Regierungen als politische Akteure verdeutlichen. Eine Überlagerung ihrer Existenz durch überstaatliche Organisationen sei nicht gelungen. Anders als die Realisten räumt der Autor allerdings ein, dass die Nationalstaaten an Handlungsfähigkeit eingebüßt haben, und zwar gerade in Bezug auf 18 Hoffmanns Kritik am Funktionalismus und seine intergouvernementalistischen Thesen werden in seinen Aufsätzen von 1964 und 1982 jedoch klarer und prägnanter formuliert (vgl. Hoffmann 1964 und 1982). <?page no="42"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 43 2.1 Theorie des (liberalen) Intergouvernementalismus 43 wesentliche Funktionen wie die Garantie der äußeren Sicherheit und der wirtschaftlichen Prosperität. Ein weiterhin isoliertes Handeln hätte jeden einzelnen Staat in diesen Aufgaben versagen lassen und dessen Untergang herbeigeführt. Neben dem militärischen Schutz der Vereinigten Staaten war es vor allem der wirtschaftliche Erfolg in Bezug auf die Zusammenarbeit im Bereich gemeinsamer-- besonders wirtschaftlicher-- Probleme, der die Staaten diesen Verlust an Handlungsfähigkeit kompensieren lies und ihnen zu neuem Selbstbewusstsein verhalf. Ihre »nationale Lage« hatte sich verbessert. Nur durch dieses Wiedererwachen des »Nationalismus« wird die Strategie de Gaulles für Hoffmann erklärbar. Die Europäische Gemeinschaft wird in dieser Sichtweise als Handlungsrahmen-- als Regime- - konzipiert, dessen Existenz es erst ermöglicht, den Nationalstaat als Grundbaustein der Organisation des politischen Lebens beizubehalten. Auf einen Verweis der Europäischen Gemeinschaft als im Entstehen begriffene supranationale Organisation wird hier bewusst verzichtet. Das bedeutet, dass auf dem internationalen Parkett die Regierungen weiterhin in ihren Aktivitäten ungebunden sind und als monolithischer Block, als Billardkugel auftreten. Für innenpolitische Kräfte spielen sie die Rolle des »gate-keeper« zwischen den innenpolitischen Diskussionen und den Gemeinschaftsorganen. Sie bündeln die Interessen der Staatsbürger und vertreten sie als Interessen des jeweiligen Nationalstaates nach außen. Somit sind die Interessen der Staaten bzw. der Regierungen für die Formulierung und Durchsetzung »gemeinsamer« und nicht »gemeinschaftlicher« Regeln auf der europäischen Ebene verantwortlich. Tabelle 3: Hauptmerkmale des Intergouvernementalismus nach Hoffmann Intergouvernementalismus Erkenntnisinteresse Ursprünge bzw. Voraussetzung für Krieg und Frieden Fragestellung Wann ist Kooperation möglich? Gegenstand Kooperation von Staaten Akteure Staaten und Regierungen Handlungskonzept rationale, utilitaristische Akteure Prämisse Interessenkonvergenz Prinzip Macht und Interesse von Staaten bestimmen die Integrationsdynamik Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Knodt 2005 : 167 <?page no="43"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 44 44 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus In der Folge griffen mehrere Autoren diesen Ansatz auf und entwickelten ihn weiter. Einer der prominentesten ist Andrew Moravcsik. Er nennt seine Variante »liberalen Intergouvernementalismus«-- ihm zufolge eine Weiterentwicklung des »intergouvernementalen Institutionalismus« und ergänzt durch theoretische Annahmen über die Formation nationaler Interessen, die sich in liberalen Theorien internationaler Interdependenz finden (Moravcsik 1993 : 480). Der liberale Intergouvernementalismus beruht demzufolge, so Moravcsik in »Preferences and Power in the European Community: A Liberal Intergovernmentalist Approach«, auf drei zentralen Elementen: 1. der Annahme eines auf rationalen Kriterien fußenden staatlichen (gouvernementalen) Verhaltens; 2. einer liberalen Theorie der nationalen Präferenzbildung; 3. einer intergouvernementalen Analyse zwischenstaatlicher Verhandlungen (ebd.). ad 1. Die Annahme eines rationalen utilitaristischen Verhaltens von staatlichen Akteuren bildet die Grundlage der dem liberalen Intergouvernementalismus zugrunde liegenden Handlungstheorie. Staaten als rationale Akteure bewerten die sich ihnen bietenden Handlungsalternativen nach einem Kosten-Nutzen-Kalkül auf Basis der eigenen Interessen. Die so entstehende Präferenzordnung entscheidet über ihr Handeln. Dabei bevorzugt ein Akteur jeweils diejenige Handlungsoption, die den höchstmöglichen Nutzen bei den geringsten Kosten erbringt. ad 2. Indem er liberale Theorieelemente über die nationale Präferenzbildung hinzufügt, öffnet Moravcsik die innerstaatliche Dimension nationalstaatlichen Handelns. Verschiedene gesellschaftliche Gruppen äußern ihre Interessen und Präferenzen auf nationaler Ebene. In einem pluralistischen Wettbewerb dieser Interessen und Präferenzen entscheidet die Regierung, welche sie bevorzugt berücksichtigt und welche nicht. Bei dieser Entscheidung spielen Motive wie Parteienkonkurrenz und wahlstrategische Überlegungen eine Rolle. Einerseits besitzen Regierungen zwar nur einen begrenzten nationalen Spielraum, um eigene Interessen in die Verhandlungen einzubringen. Andererseits eröffnet die Politikgestaltung auf europäischer Ebene zusätzliche Handlungsoptionen gegenüber ihren nationalen Interessengruppen, da sie integrationspolitische Entscheidungen mit Verweis auf außenpolitische Notwendigkeiten und internationale Zwänge treffen können. Damit und durch ihr außenpolitisches Monopol können sie nationale Partikularinteressen wirksam begrenzen. ad 3. Ob eine so gewonnene nationale Position in die Verhandlungen auf zwischenstaatlicher Ebene eingebracht wird, hängt dabei von der konkreten Verhandlungssituation ab. In Verhandlungen treffen häufig Staaten mit divergierenden Präferenzen aufeinander, deren Ursachen vor allem in einer unterschiedlichen Betroffenheit durch Phänomene zunehmender Interdependenz liegen. Ein Beispiel soll dies verdeutliwww.claudia-wild.de: <?page no="44"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 45 2.1 Theorie des (liberalen) Intergouvernementalismus 45 chen: Die Bedeutung von nationalstaatlichen Grenzen sinkt zunehmend, beispielsweise bezogen auf den Austausch von Waren, Dienstleistungen, Kommunikation, aber auch mit Blick auf Umweltverschmutzung. Gerade in letzterem Fall kommt es häufig zur Externalisierung von Kosten. Betroffene Akteure werden dadurch veranlasst, diese Kosten durch internationale Kooperation wieder zu senken und auf diese Weise einen Teil der Belastung abzuwenden. Das führt zwangsläufig zu ungleichen Kosten-Nutzen-Verteilungen unter den potentiellen Partnern einer solchen Zusammenarbeit und damit zu unterschiedlichen Präferenzen bezüglich dieser Kooperation. Man stelle sich ein Beispiel zur Verschmutzung des Rheins vor: Verschmutzer des Oberrheins haben einen hohen Nutzen durch das Einbringen von Abwasser-- sie sparen eine Menge Entsorgungsgebühren-- und geringe Kosten, da der Rhein seine giftige Fracht schnell rheinabwärts und dabei aus ihrem Einzugsgebiet heraus transportiert. Anrainer des Rheins in den Niederlanden dagegen haben hohe Kosten aus der sich beim Vorbeifluss an vielen Chemieanlagen in den unterschiedlichen Staaten potenzierenden Verschmutzung des Rheins-- sie müssen teure Wiederaufbereitungsanlagen zur Trinkwasserversorgung einsetzen. Vergleicht man die Anrainerstaaten miteinander, ist die Kosten-Nutzen-Bilanz der einzelnen Staaten also insgesamt äußerst unterschiedlich. Gemäß der intergouvernementalen Sichtweise kommt es deshalb nur dann zur Zusammenarbeit und Integration, wenn sich die nationalen Interessen einander angleichen. Da die Europäische Gemeinschaft aus dieser Perspektive als »international regime for policy co-ordination« (Moravcsik 1993 : 480) gesehen wird, sollte sich deren Analyse auf die nationale Präferenzformation und die intergouvernementalen Strategien in der Interaktion der Staaten fokussieren. Bei dieser Interaktion spielt das Umfeld, die sogenannte »policy arena«, eine besonders wichtige Rolle. Moravcsik nennt dabei drei wesentliche Kennzeichen: 1. Intergouvernementale Zusammenarbeit ist freiwillig, es gibt weder militärische Bedrohung noch ökonomisches Drohpotenzial; 2. eine informationsreiche Umwelt, d. h. die nationalen Verhandler sind relativ gut über die Interessen und Präferenzen der anderen Teilnehmer informiert; 3. niedrige Transaktionskosten der Verhandlung, d. h. während der Verhandlungen bestehen ausreichende Möglichkeiten, alternative Vorschläge einzubringen und zu diskutieren sowie Kompromisse auszuhandeln und »side payments« sowie »linkages« anzubieten (ebd.: 498 f.). Side payments sind Ausgleichszahlungen für Nachteile, die ein oder mehrere Akteure in Folge einer spezifischen Handlungsoption zu befürchten haben. Sie werden dazu verwendet, trotz asymmetrisch verteilter Nutzwerte zu Einigungen zu gelangen. Moravcsik selbst weist der intergouvernementalen Bargaining-Theorie, auf der sein eigener Erklärungsansatz fußt, in »The Choice for Europe« von 1998 folgende These <?page no="45"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 46 46 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus zu: »Governments that gain the most offer the most significant compromises or sidepayments. Concessions on the margin are systematically biased toward outcomes preferred by governments least likely to support the ›core‹ agreement.« (ebd. 1998 : 55). Demzufolge kommen die Nutznießer eines Verhandlungsergebnisses den am stärksten benachteiligten Akteuren durch solche Ausgleichszahlungen entgegen und erhöhen damit nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Zustimmung, sondern verringern zugleich die Wahrscheinlichkeit eines Vetos von Seiten der »Verlierer«. Side payments nehmen dabei unterschiedliche Formen an, im Rahmen supra- oder internationaler Verhandlungen äußern sie sich zumeist als politische oder wirtschaftliche Konzessionen. Linkage, meist als »issue linkage« oder auch »package deal« bezeichnet, kann man als strategische Verknüpfung von Verhandlungsgegenständen übersetzen, der Begriff wird allerdings auch oft unübersetzt in deutschsprachigen Texten verwandt. Es ist ein Mechanismus, um unter formal gleichen Verhandlungspartnern Kompromissergebnisse zu erreichen. Dies gilt nicht nur für den EG-Kontext, sondern ganz allgemein für internationale Verhandlungen. Indem zwei möglicherweise sachlich überhaupt nicht zusammengehörende Gegenstände, bei denen die Präferenzen gegensätzlich verteilt sind, miteinander verknüpft werden, wird ein »Geschäft« erst ermöglicht. Dies geschieht getreu dem Motto: »Ich gebe in dieser Sache nach und dafür gibst du in jener Sache nach«. Die Verknüpfung von zwei Gegenständen als Koppelgeschäft ermöglicht so ein auf Gegenseitigkeit (Reziprozität) aufbauendes Geschäft, in dem jeder ein wenig nachgibt und dafür ein bisschen gewinnt. Geschieht so eine Abmachung im Rahmen der EG, spricht man häufig vom »Schnüren eines Pakets«. Einen ähnlichen Kuhhandel beschreibt auch der Begriff des »log-rolling«, der häufig im Zusammenhang mit dem politischen System der USA Verwendung findet. Er wird für »Hilfst du mir- - helfe ich dir«-Geschäfte benutzt, die zwischen Mitgliedern der US-amerikanischen Legislative (Kongress und Parlamente der Einzelstaaten) ablaufen. Der Begriff kommt beispielsweise in der ökonomischen Spieltheorie im Zusammenhang mit einem Spiel vor, bei dem je zwei Holzfäller auf einem im Wasser treibenden Baumstamm (log) stehen und versuchen, das Gleichgewicht zu halten, während sie den Baumstamm mit ihren Füßen drehen (rolling) (vgl. zu dieser Terminologie List 1999 : 91). In den Verhandlungen ist dabei stets diejenige Regierung im Vorteil, die in der Lage ist, a) negative Situationen anderer zu beseitigen, z. B. durch Marktöffnung für Staaten, die nach einem Zugang verlangen; b) Politikinhalte im Hinblick auf die Wünsche anderer zu modifizieren; oder c) von anderen gewünschte Ressourcen zu verteilen. Je mehr ein Staat von diesen Vorteilen besitzt, desto eher kann er sich bei den Verhandlungen durchsetzen. Je mehr von diesen Änderungen ein Staat in Verhandlungen begehrt, desto mehr Zugeständnisse wird er im Bemühen um eine Einigung machen müssen (Moravcsik 1993 : 480). In Bezug auf die Verhandlungsmacht von Staaten nennt Moravcsik drei wesentliche Determinanten: <?page no="46"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 47 2.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 47 1. die Möglichkeit zum Alleingang; 2. die Möglichkeit zum Ausschluss einzelner Teilnehmer und somit alternativer Koalitionen; 3. das Potenzial, Kompromisse und Koppelgeschäfte anbieten zu können (ebd.: 499). Die Rolle der Europäischen Gemeinschaft wird dabei darin gesehen, die Kooperationsbedingungen zu verbessern, indem sie beispielsweise durch die Übernahme von Aufgaben den Kooperationszusagen der mitgliedstaatlichen Regierungen Gültigkeit verleiht oder mithilft, sogenannte Second-order-Probleme zu lösen. Diese können bei der Überwachung einer einmal geschlossenen Vereinbarung entstehen. Hierzu ist es notwendig, bei Nichtbefolgung über Sanktionspotenzial zu verfügen-- z. B. im Falle der Überwachung der Einhaltung von Wettbewerbsregeln und Aufdeckung nicht erlaubter Subventionen. Auch bei bereits beschlossenen Maßnahmen, die eine Verteilung von Ressourcen beinhalten- - wie im Fall der Strukturfonds- - ist die Gemeinschaft bei der Abwicklung behilflich. Zusammenfassend besteht das zentrale Erklärungselement des liberalen Intergouvernementalismus von Moravcsik mit Blick auf die europäische Integration also darin, die Regierung eines Staates als rationalen kooperativen Akteur zu charakterisieren, der in der Lage ist, Kosten-Nutzen-Analysen zu erstellen und dementsprechend Handlungsalternativen in eine konkrete Präferenzordnung zu überführen. Die Konvergenz dieser Präferenzordnungen in Verhandlungen ist Voraussetzung für jegliche Kooperation. Die europäische Integration kann insofern als eine Form der Kooperation begriffen werden. Strukturen und funktionale Notwendigkeiten der Integration haben anders als beim Funktionalismus keinen direkten Einfluss auf das Handeln der Akteure, sie wirken vielmehr als Kontextfaktoren auf die relevanten Handlungsalternativen. Sehen wir uns nun die Übertragung dieser Theorie auf das Politikfeld »Strukturfondsförderung« an. 2.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem liberalen Intergouvernementalismus Die europäische Strukturfondsförderung begann als »klassische« Ausgleichspolitik mit der Einrichtung des »Europäischen Fonds für regionale Entwicklung« im Januar 1975. Das Instrumentarium bestand aus der Bereitstellung von Subventionen für Investitionen in vorab abgegrenzten Problemgebieten. Gefördert wurden Industrieansiedlungen, Teile des tertiären Sektors sowie Infrastrukturmaßnahmen, die der wirtschaftlichen Entwicklung eines Gebietes dienen sollten. Die Charakteristika der frühen Strukturfondsförderung bestanden darin, dass zum einen die Mittelvergabe aufgrund der Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten-- und nicht zwischen einzelnen Regionen-- nach einem Länderschlüssel erfolgte. Zum anderen wurde die EGwww.claudia-wild.de: <?page no="47"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 48 48 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus Politik aufgrund der fehlenden Kompetenzen als »ergänzend« zu den Politiken der Mitgliedstaaten konzipiert, Letztere gesichert durch das Prinzip der Kofinanzierung. Im Anschluss daran förderte die Gemeinschaft nur solche Projekte, die auch auf der nationalen Ebene öffentliche Unterstützung im Rahmen regionaler Fördermaßnahmen erfuhren. Damit machte sich die Gemeinschaft von den unterschiedlichen Systemen der Förderung, der Rahmenplanungen und der Implementation in den Mitgliedstaaten abhängig. Diese Defizite aufzuarbeiten war Anstoß und Zielsetzung des Reformprozesses der europäischen Strukturfondsförderung, der im Jahr 1979 begann und experimentell sowie in beschränktem finanziellen Rahmen versuchte, neue Formen der Förderung zu testen. Dazu zählten die »Integrierten Maßnahmen zur Regionalentwicklung«, der »quota-freie Sektor« zur Umgehung des nationalstaatlichen Einflusses und die »Integrierten Mittelmeerprogramme«. All diese Experimente flossen in die Reform der Strukturfondsförderung im Jahr 1988 ein, deren Ziel es war, die Neuerungen als kohärentes Politikkonzept der gesamten Strukturfondsförderung umzusetzen und den regionalpolitischen Interventionen somit einen neuen und weitreichenderen, für die Mitgliedstaaten »zwingenden« Charakter zu geben. Darüber hinaus wurde finanziell eine reale Verdopplung der Strukturausgaben beschlossen. Diese sollten von 7 Mrd. ECU im Jahre 1989 auf 14 Mrd. im Jahre 1993 ansteigen. Die Frage, die sich aus intergouvernementaler Sicht ergibt, lautet: Warum haben sich die Mitgliedstaaten auf die Reform der Strukturfonds von 1988 geeinigt? Somit stellt die abhängige Variable die Einigung auf die Strukturfondsreform von 1988 dar (AV). Zur Erarbeitung der unabhängigen Variablen und um die Theorie des liberalen Intergouvernementalismus für unser Beispiel der Strukturfondsförderung fruchtbar zu machen, greifen wir zunächst auf einen Autor aus der deutschsprachigen Literatur zurück 19 und ergänzen dessen Ansatz anschließend mit einigen Anmerkungen bzw. Hypothesen von Moravcsik zur Verortung von Strukturfonds innerhalb seines liberalen Intergouvernementalismus. Die Operationalisierung des Intergouvernementalismus soll uns unter Anwendung des situationsstrukturellen Ansatzes von Zürn (1992) besser gelingen. Auch dieser Ansatz geht davon aus, dass die Handlungsoptionen von Akteuren und ihre Präferenzordnungen erklärende Faktoren für das Handeln von Akteuren und ihre soziale Interaktion sind. Entscheidend für die Ausbildung von Präferenzen ist dabei die jeweilige Situation. Zürn schlägt vor, diese anhand unterschiedlicher ökonomischer Spiele zu beschreiben und fügt damit den zentralen Annahmen des Intergouvernementalismus spieltheoretische Elemente hinzu. Er ordnet die verschiedenen Situationen auf einer Achse zwischen den Polen »konfliktfreie Spiele« und »Nullsummenspiele« ein. Die Pole lassen keinen Spielraum für Verhand- 19 Darin folgen wir wieder Wolf (1999 : 64-67), auf den sich die folgenden Ausführungen stützen. <?page no="48"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 49 2.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 49 lungen, da konfliktfreie Spiele keine Probleme darstellen und Nullsummenspiele keinen Raum für Koordination und Kompromiss lassen. Dazwischen identifiziert Zürn vier Typen sogenannter »mixed-motive games«. Er geht davon aus, dass sich alle relevanten Verhandlungen in den internationalen Beziehungen, so auch in der EG, in eine dieser vier Kategorien einordnen lassen (Wolf 1999 : 64 f.). Es ist davon auszugehen, dass Koordinationsspiele ohne Verteilungskonflikte (KOV) die am wenigsten problematische Situation darstellen, da es sich meist um reine Kommunikationsprobleme handelt, deren Überwindung bereits die Koordination garantiert. Im Alltag könnte dies eine Verabredung ins Kino sein, bei der Missverständnisse über den Treffpunkt auftreten. Wartet der eine im Kino und der andere davor, ergibt sich ein Problem für den gemeinsamen Kinobesuch. Diese Probleme sind jedoch meist schnell zu lösen, wenn beim nächsten Kinobesuch eindeutige Treffpunkte benannt werden. In Verhandlungen zwischen Staaten bzw. deren Vertretern lässt sich das Kommunikationsproblem Buntrock (2004 : 55) zufolge zumeist unter Zuhilfenahme eines Kommunikationsmechanismus beheben, also beispielsweise durch die beteiligte politische Institution. Schwerer lösbar sind hingegen Koordinationsspiele mit Verteilungskonflikten (KMV), da bei ihnen zwar der allgemeine Wille zur Einigung vorhanden ist, es aber unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie die Gewinne zu verteilen sind und wer die Kosten der Einigung zu tragen hat. Das bedeutet, die Koordination verursacht hier Kosten, die übernommen werden müssen. Bleiben wir bei unserem Beispiel, so könnte man konstruieren, dass sich die beiden Kinogänger darauf zu einigen haben, ob sie in das Kino am Wohnort von X oder am Wohnort von Y gehen. Je nach Entscheidung muss einer von beiden die Kosten der Fahrt (Zeit und Geld) in den Nachbarort übernehmen. Buntrock ergänzt dies in Hinblick auf internationale Verhandlungen, indem er auf die Bedeutung von side payments und package deals verweist, deren Übernahme durch die Institution eine Einigung befördern kann (ebd.). »konfliktfreie Spiel« »Nullsummen-Spiele« Koordinationsspiel ohne Verteilungskonflikte (KOV) Koordinationsspiel mit Verteilungskonflikte (KOV) Dilemmaspiele (DS) Rambospiele (RS) Quelle: eigene Darstellung Grafik 4: Kategorien internationaler Verhandlungen nach Zürn <?page no="49"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 50 50 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus Dilemmaspiele (DS) wiederum zeichnen sich dadurch aus, dass die Partner eigentlich die Kooperation des jeweiligen anderen wünschen, ohne jedoch selbst kooperieren zu wollen. Hier haben wir es mit einem typischen Trittbrettfahrer-Problem zu tun. Die Verhandlungen um Lohnerhöhungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften kommen auch denjenigen Angestellten und Arbeitern zugute, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind und somit keinen Beitrag an die Gewerkschaften zahlen. Für die verhandelnden Gewerkschaften stellt dies ein großes Problem dar, was finanzielle Ressourcen und Verhandlungsmacht anbelangt. Rambospiele (RS) schließlich gelten als die am schwersten zu lösenden Situationen von den aufgeführten vier Typen, da einer der Beteiligten durch bloße Nichtkooperation bereits sein bestmögliches Interaktionsergebnis erreichen kann. Hier bietet es sich an, auf unser oben genanntes Beispiel der Verunreinigung des Rheins zurückzugreifen. Die Staaten am Oberlauf des Flusses können am meisten gewinnen, wenn sie gar nicht kooperieren. Mit dieser kurzen Beschreibung der vier Spiele wurden nun bereits Vermutungen mit Blick auf die Verregelung eines solchen Konfliktes angedeutet. Wenn man die Konfliktlösung und damit Verregelung auf Dauer mit dem Entstehen einer internationalen Institution- - gleich welcher Art, ob Regime oder supranationale Organisation-- gleichsetzt, so lassen sich dementsprechend folgende Hypothesen aufstellen. Tabelle 4: Hypothesen zur Anwendung des Intergouvernementalismus (H 1 ) Situationsstruktur Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer inter-/ supranationalen Verregelung/ Institution KOV sehr hoch KMV hoch DS gering RS sehr gering Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Wolf 1999 : 65 Um diese allgemeinen Hypothesen auf unseren konkreten Fall zu übertragen, sind folgende Schritte notwendig: 1. Bestimmung der relevanten an der Entscheidungsfindung beteiligten Akteure bzw. Akteursgruppen; 2. Bestimmung der für die Akteure offenstehenden Handlungsoptionen; 3. Bestimmung der Präferenzen der jeweiligen Akteure über diese Handlungsoptionen; 4. Aufdeckung der Situationsstruktur (vgl. Wolf 1999 : 65). <?page no="50"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 51 2.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 51 Über die bisher aufgezeigte allgemeine Operationalisierung hinaus spielt die Verortung von Strukturfonds innerhalb der Theorie des liberalen Intergouvernementalismus eine wichtige Rolle, um das vorliegend betrachtete Politikfeld »Regionalpolitik« erfassen zu können und konkreter die empirische Betrachtung der Strukturfondsreform von 1988 zu ermöglichen. Dabei weist Moravcsik der europäischen Regional- und Strukturpolitik zunächst einmal keine besondere Bedeutung zu: »Regional and structural policies- - since they are neither significant enough to provide major benefits to the donors, nor widely enough distributed to represent a policy of common interest-- are most plausibly interpreted as side payments extended in exchange for other policies.« (Moravcsik 1993 : 496). Hieraus lässt sich ganz grundlegend schlussfolgern, dass Strukturfonds aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus aufgrund ihrer geringen Bedeutung für die »reichen« Staaten und weil sie keinen für alle gültigen öffentlichen Nutzen darstellen, lediglich als Ausgleichszahlungen für wichtigere Verteilungsfragen betrachtet werden müssen. Diese Aussage soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Strukturfondsreform von 1988 auch aus Sicht von Moravcsik eine wichtige, die Verwirklichung des gemeinsamen Marktes ermöglichende Rolle einnahm. In »The Choice for Europe« wird er konkreter und beschreibt die Stellung von Strukturfonds im Rahmen der Verwirklichung des gemeinsamen Binnenmarktes wie folgt: »One final provision essential to the passage of the internal market program was the expansion of ›structural funds‹-- infrastructural funding for poorer regions of the Community. This so-called convergence policy was necessary not because it was an essential element of economic liberalization, as the Commission at times claimed, but because it was the politcal price of support from Greece, Ireland, and Italy, and later Spain and Portugal.« (ebd.: 1998 : 367). Moravcsik verdeutlicht also, dass die Strukturfonds zwar kein essentieller Bestandteil der wirtschaftlichen Liberalisierung waren, allerdings zugleich notwendig erschienen, um diese Entwicklung überhaupt erst zu ermöglichen. Obwohl das Strukturfondsprogramm zu dieser Zeit im Vergleich zu heute noch deutlich weniger umfangreich war, spielte es aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus für die Verwirklichung des gemeinsamen Marktes insofern eine wichtige Rolle, weil es einerseits ärmere Regionen für die zu erwartenden wirtschaftlichen Nachteile kompensieren und sie andererseits an den Gemeinschaftsdurchschnitt heranführen sollte (vgl. ebd. 1991 : 43). Dies bestätigt Mayer, indem er auf die Wirkung von side payments verweist, die sich in einer sinkenden Veto-Wahrscheinlichkeit äußert: »The potential for making internal side-payments by bringing in other issues also matters. If the potenwww.claudia-wild.de: <?page no="51"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 52 52 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus tial losers can be compensated by potential winners, their incentive to veto will be greatly affected.« (Mayer 1992 : 797). Der hier geäußerte Zusammenhang zwischen Kompensation und Veto-Wahrscheinlichkeit legt die folgende vorliegend geteilte Hypothese nahe: H 2 : Je mehr die finanzstarken Mitgliedstaaten in der Lage sind, die finanzschwachen über side payments zu kompensieren, desto eher wird es zu einer Einigung im Verhandlungsprozess kommen. Aus dem bisher Gesagten lassen sich die Präferenzordnungen der Mitgliedstaaten als erster Erklärungsfaktor identifizieren (UV 1 ). Zudem ist daraus zu folgern, dass die Strukturfondsreform insgesamt aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus als side payment betrachtet werden kann, um den gemeinsamen Binnenmarkt zu verwirklichen. Somit ergibt sich, dass die Möglichkeit von side payments bzw. Ausgleichszahlungen als Handlungsoption einen zweiten Erklärungsfaktor darstellt (UV 2 ). Da dies ein zentrales Ziel aller Mitgliedstaaten war, handelte es sich bei der zugrunde liegenden Situationsstruktur (UV 3 ) offenbar um ein Koordinationsspiel mit Verteilungskonflikt, was die Verhandlungen ebenfalls beeinflusst haben dürfte. Betrachtet man darüber hinaus die Entwicklung der Strukturfonds seit 1988, lässt sich eine recht klare Richtung beobachten: So wird im Finanzrahmen 2007 bis 2013 bereits über ein Drittel des gesamten EU-Budgets für Strukturfondspolitik bereitgestellt-- für die beiden Hauptpositionen, den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und den Kohäsionsfonds sind es 35,7 Prozent. Insofern nimmt die Bedeutung dieser Position in allen budgetrelevanten Verhandlungen unweigerlich weiter zu. Dennoch kann auch für die Strukturfondsreform von 1988 gezeigt werden, dass der liberale Intergouvernementalismus bzw. dessen Spielarten den Verhandlungsprozess zumindest teilweise erfassen und erklären können. Schauen wir uns daraufhin die Empirie der Strukturfondsförderung anhand der oben genannten Schritte an, wobei es allerdings zunächst erforderlich ist, den Gegenstand unserer Analyse darzustellen. Anschließend werden die sich gegenüberstehenden Akteure bzw. Akteursgruppen identifiziert, die möglichen Handlungsalternativen aufgezeigt, die Präferenzordnungen der Akteure sowie zuletzt die Situationsstruktur herausgearbeitet. <?page no="52"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 53 2.3 Erklärung aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus 53 2.3 Erklärung der Strukturfondsreform von 1988 aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus Gegenstand der Analyse Die erste Frage, die sich bei der empirischen Analyse der Strukturfondspolitik stellt, lautet: Was müssen wir uns gemäß unserem Ansatz ansehen? Wie bereits dargestellt, geht es um Verhandlungssituationen und um die (insbesondere wirtschaftlichen) Präferenzen von Regierungen. Damit ist eindeutig, welcher Ausschnitt aus der Empirie im Zentrum der Analyse steht, nämlich die Verhandlungen auf europäischer Ebene unter Beteiligung von Vertretern der Mitgliedstaaten. 20 Die Verhandlungen zur bereits im Jahre 1988 verabschiedeten und im Zuge der Planungen für den gemeinsamen Binnenmarkt ersten umfassenden Reform der europäischen Strukturfonds lassen sich im Rahmen der wichtigsten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs und ihrer Vorbereitungen analytisch erfassen. In Übereinstimmung mit den bisher gemachten Annahmen des liberalen Intergouvernementalismus lassen sich die Strukturfonds ganz allgemein als Ausgleichszahlungen dafür ansehen, dass wirtschaftlich weniger entwickelte Mitgliedstaaten und mit ihnen auch einzelne Regionen der Verwirklichung des Binnenmarktes zustimmen. Tömmel (1994) merkt dazu an, dass im Zusammenhang mit der Schaffung eines gemeinsamen europäischen Binnenmarktes Nachteile für wirtschaftlich schwächere Staaten der Peripherie zu erwarten waren und deswegen bereits auf der Luxemburger Gipfelkonferenz vom 2. und 3. Dezember 1985 der Beschluss gefasst wurde, die Strukturfondsförderung auf die Agenda der anstehenden Reform der Europäischen Gemeinschaften zu setzen. Im Rahmen anstehender Pläne zur Vollendung des gemeinsamen Binnenmarktes spielte das Kohäsionsziel, also die Formel des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, insbesondere für die »am wenigsten begünstigten Gebiete« (Art. 130a EWG) aus den südlichen und an den EWG-Grenzen befindlichen Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle. Neben dem dafür vorgesehenen Hauptinstrument EFRE sollten laut Tömmel (1994 : 56) dabei auch die weiteren Strukturfonds stärker an regionalpolitischen Überlegungen ausgerichtet werden. Dieser grundlegende Konsens über den Ausbau der europäischen Regional- und Strukturfondspolitik fand auch in den Vertragstext der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) von 1986 Einzug, wobei die Regionalpolitik dort als eine neue Gemeinschaftsaufgabe vertraglich festgehalten und deren Bedeutung insofern auch erstmals an zentraler Stelle anerkannt wurde (vgl. Bache 1998 : 69 f.). Dieser im Rahmen der EEA erfolgte »push towards greater economic and social cohesion« (ebd.: 67) bildete 20 Dies fand unter Beteiligung der Kommission in ihrer Vermittlerrolle statt-- die sie aus Sicht des vorliegend gewählten Ansatzes einnimmt-- siehe dazu weiter unten. <?page no="53"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 54 54 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus Bache zufolge zusammen mit der kürzlich erfolgten Erweiterung der Gemeinschaft um Spanien und Portugal als neue Mitgliedstaaten den Kontext für die am 1. Januar 1989 in Kraft getretene Strukturfondsreform. 21 Dem Autor folgend war diese Reform bereits deswegen unumgänglich, weil die Erweiterung dazu führte, dass sich die regionalen Unterschiede und damit die Bevölkerung in ärmeren Regionen in der damaligen EWG stark vergrößerten (ebd.). So sahen die Bestimmungen der EEA vor, dass die Kommission innerhalb eines Jahres und nach Konsultation des Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses (WSA) Elemente einer Strukturfondsreform erarbeiten sollte, wie Malek (2002 : 197) anmerkt. Dahinter stand nicht nur die Absicht, das Kohäsionsziel zu unterstützen, sondern ebenso »die Effizienz der Fonds zu erhöhen und deren Tätigkeit sowohl untereinander als auch im Verhältnis zu den Tätigkeiten der vorhandenen Finanzierungsinstrumente zu koordinieren« (Art. 130d EWG). Die Kommission entsprach dabei den Forderungen vor allem südlicher Mitgliedstaaten, im Sinne eines Kompensationsinstruments für die zu erwartenden Nachteile strukturschwacher Regionen aus der vollständigen Marktliberalisierung die Verdopplung der Finanzmittel für die Strukturfonds zu fordern (vgl. Bache 1998 : 69). Hierzu gab es jedoch vorerst keinen Beschluss. Vielmehr wurden zunächst in verschiedenen Vorbereitungstreffen der Kommission mit staatlichen Vertretern erste Entwürfe für Einzelelemente der Reform ausgearbeitet, die der Rat als »short notes« im Vorlauf zum Treffen der Staats- und Regierungschefs im Dezember 1986 erhielt, so Malek (2002 : 202). Wie in Art. 130c EEA festgelegt, trat mit diesen Vorbereitungsschritten insbesondere die Heranführung entwicklungsschwacher Regionen an den Gemeinschaftsdurchschnitt in den Vordergrund. Moravcsik zufolge zeichnen sich die wichtigsten Entwicklungen der europäischen Integration seit 1955 durch drei Hauptfaktoren aus: 1. Muster wirtschaftlicher Überlegenheit; 2. die relative Verhandlungsmacht wichtiger Regierungen; 3. Anreize, die Glaubwürdigkeit zwischenstaatlicher Verbindlichkeiten zu steigern (Moravcsik 1998 : 3). Entscheidende Fortschritte europäischer Integration treten aufgrund der Dominanz wirtschaftlicher Präferenzen also immer dann auf, wenn die wesentlichen ökonomischen Interessen der Regierungsakteure konvergieren bzw. zur Konvergenz gebracht werden können, wie Moravcsik zusammenfassend bestätigt: »European integration resulted from a series of rational choices made by national leaders who consistently pursued economic interests- - primarily the commercial interests of powerful economic producers and secondarily the macro-economic 21 Ausführlicher zum politischen Kontext der Reform vgl. Bache 1998 : 67-70. <?page no="54"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 55 2.3 Erklärung aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus 55 preferences of ruling governmental coalitions-- that evolved slowly in response to structural incentives in the global economy.« (ebd.). Die Gesamtreform der Strukturfonds Ende der 1980er Jahre lässt sich zusammenfassend-- ganz im Sinne des liberalen Intergouvernementalismus-- als Teil eines umfassenderen Plans verstehen, das EU-Budget bzw. den EU-Haushalt neu zu strukturieren und effektiver zu gestalten. Malek (2002 : 201) nennt als wichtige Elemente dieses Plans insbesondere die budgetintensive Agrarpolitik, die ungleich verteilten Beitragsanteile der Mitglieder, eine geringe Haushaltsdisziplin und die Erhöhung finanzieller Mittel insgesamt. Ausgehend von diesen Beobachtungen wird deutlich, dass die Strukturfonds aus theoretischer Sicht zum einen essenziell zur Verwirklichung des gemeinsamen Marktes gewesen sein müssen und zum anderen von den Geberländern als side payments für die Zustimmung ärmerer Länder zur weiteren wirtschaftlichen Liberalisierung angesehen wurden. Dabei stehen innerhalb der Verhandlungen die Regierungsakteure und deren ökonomische Präferenzen im Vordergrund. Betrachtet man die Verhandlungen zur Strukturfondspolitik von 1987 und 1988, so fanden mehrere Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs statt, in deren Rahmen sie die wichtigsten Dokumente bzw. Reformvorschläge diskutierten. In Übereinstimmung mit dem vorliegend gewählten Ansatz befasst sich die folgende Analyse deswegen im Wesentlichen mit diesen Treffen: 1. Auf dem Treffen der Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen am 4. und 5. Dezember 1987 wurden zentrale Propositionen der Rahmenverordnung aus dem August 1987 diskutiert, die als offizieller Gesamtvorschlag zur Strukturfondsreform diente. Dies betraf neben Bestimmungen zu den einzelnen Zielen auch die grobe Zuteilung der Mittel sowie die zugrunde liegenden Prinzipien wie geographische Konzentration, horizontale und vertikale Mittel. Ein zweites wichtiges Gipfeltreffen, das sich mit der Rahmenverordnung beschäftigte, war der Sondergipfel vom 11. und 12. Februar 1988. Dort wurden mögliche Kompromisse zur Mittelausstattung sowie der länderspezifischen Mittelverteilung diskutiert und zudem Unstimmigkeiten im Bereich der inhaltlich verbundenen Agrarreform adressiert. 2. Bereits auf dem ersten Gipfeltreffen am 29. und 30. Juni 1987 in Brüssel erörterte man allerdings wichtige Grundlagenfragen zur Mittelerhöhung und zu den Instrumenten der Reform. Zwar gab es hier noch keine konkreten Verhandlungen über die Rahmenverordnung, gleichwohl stand das Dokument »Die Einheitliche Europäische Akte muß ein Erfolg werden-- Eine neue Perspektive für Europa« (Kommission 1987) vom 15. Februar des gleichen Jahres zur Debatte, das zum ersten Mal die wichtigsten Forderungen der Mitgliedstaaten systematisch zusammenfasste. 3. Ebenfalls von Bedeutung waren die Verhandlungen zur Koordinierungsverordnung sowie zu den drei Durchführungsverordnungen, die über die Einzelbestimwww.claudia-wild.de: <?page no="55"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 56 56 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus mungen zu den jeweiligen Instrumenten hinaus auch die Details der Mittelvergabe beinhalteten. Zwar wurden die wichtigsten Grundlagen für die Reform der Strukturfonds bereits mit der Rahmenverordnung geschaffen, jedoch blieben bis zum Ende der Verhandlungen insbesondere die zwei soeben genannten Bereiche strittig. Welche Akteure waren beteiligt? Gemäß den Annahmen des liberalen Intergouvernementalismus werden die Mitgliedstaaten als wichtigste Akteure konzeptualisiert, weswegen diese im Folgenden auch im Fokus der Untersuchung stehen. Im Gegensatz zur Einschätzung von Malek (2002 : 198), dass die Kommission eine wichtige Rolle in den Verhandlungen spielte, wird ihr durch den liberalen Intergouvernementalismus keine entscheidende Rolle als Akteur zugewiesen, sondern lediglich eine vermittelnde Position zugesprochen (vgl. Moravcsik 1995). Im Sinne Moravcsiks wird sie folgerichtig nicht als eigenständiger Akteur mit spezifischen Präferenzen interpretiert-- ihre Rolle bestand vielmehr darin, die bereits bestehenden Präferenzen der Mitgliedstaaten und den bisherigen Verhandlungsverlauf herauszuarbeiten und der Gesamtheit der (intergouvernementalen) Akteure beispielsweise in Form von Verordnungsvorschlägen zur Verfügung zu stellen. Bei der Analyse der sich gegenüberstehenden Akteure müssten nun eigentlich alle Mitgliedsländer auf die Haltung ihrer Regierungen und der gesellschaftlichen Gruppen hin untersucht werden. Da sich aber die Haltungen zum Teil ähneln und sich die Handlungsoptionen klar definieren lassen, ist eine Zusammenfassung in Gruppen bzw. eine Darstellung der als Vorreiter agierenden Akteure erlaubt, die dann stellvertretend für die anderen Mitglieder untersucht werden. In den bisherigen Anmerkungen wurde bereits erwähnt, dass Moravcsik die Strukturfondsreform insgesamt als side payment für die Zustimmung »weniger entwickelter« Mitgliedstaaten zur Vollendung des gemeinsamen Binnenmarktes interpretiert. Dies betrifft also insbesondere die südlichen Mitglieder Spanien als größtem dieser Staaten sowie Portugal und Griechenland. Daneben gab es natürlich in diversen anderen Mitgliedstaaten wirtschaftlich schwache Regionen, beispielsweise im Norden Italiens, aber auch innerhalb nördlicher Staaten. Deren Positionierung wich insbesondere mit Bezug auf Einzelfragen von der grundsätzlichen Erwartung an ihre Zugehörigkeit zur Gruppe der »reicheren« Staaten ab. Unter den wirtschaftlich einflussreicheren nördlichen Mitgliedstaaten gab es zunächst die kleineren Staaten, die zwar häufig eine Mittelposition einnahmen, aber dennoch grundsätzlich im Gegensatz zu den Forderungen der südlichen Mitglieder standen. Zwei nördliche Staaten nahmen dabei eine Sonderposition innerhalb dieser Gruppe ein und bestimmten dadurch die Verhandlungen stärker-- Großbritannien und Frankreich. Während Ersteres seine finanzielle Sonderposition erhalten wollte und in den Agrarsubventionen Frankreichs eine Bedrohung sah, wehrte sich Letzteres gegen jegliche Kürzung eben dieser Subventionen. Aus diesem Grund werwww.claudia-wild.de: <?page no="56"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 57 2.3 Erklärung aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus 57 den im Folgenden neben der Gruppe der südlichen Mitgliedstaaten zuvorderst Großbritannien und Frankreich als Hauptakteure angesehen und mit Blick auf ihre Präferenzen untersucht. Deutschland stellte sich bei den strittigen Fragen eher auf die Seite Frankreichs, weil es die Agrarsubventionen in Anbetracht der anstehenden Wahlen nicht zu stark beschnitten sehen wollte. Die Verhandlungen zur Reform der Strukturfonds auf europäischer Ebene fanden dabei in Einklang mit den Grundannahmen des liberalen Intergouvernementalismus im Wesentlichen unter Ausschluss privater Interessengruppen sowie gesellschaftlicher Akteure statt, weshalb sie in diesen Verhandlungen auch keine bedeutende Stellung einnehmen konnten (vgl. Malek 2002 : 198). 22 Wo gesellschaftliche Akteure trotz ihrer eher geringen Bedeutung im Politikfeld »Strukturpolitik« zumindest die Präferenzen der Nationalstaaten beeinflusst haben, wird darauf im Folgenden kurz hingewiesen-- obgleich die nationale Präferenzbildung hier nicht im Vordergrund stehen soll. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass der gewählte Erklärungsansatz verworfen werden muss: Zum einen gab es lediglich wenig direkte Einwirkung gesellschaftlicher Gruppen auf die Strukturfondsreform, was aber indirekte Kontakte und Absprachen nicht ausschließt. Zum anderen betont Moravcsik, dass intergouvernementale Verhandlungen im Allgemeinen und die wirtschaftlichen Präferenzen der Akteure im Speziellen eine zentrale Rolle für diese Theorie spielen. Der damalige Kommissionspräsident Jacques Delors trug zwar im Rahmen der konzeptuellen Vorbereitungen zur Strukturfondsreform dazu bei, die Präferenzen der Mitgliedstaaten zu bündeln und den jeweiligen Staatsvertretern zugänglich zu machen, jedoch spielte er gemäß dem vorliegend gewählten Ansatz in den eigentlichen Verhandlungen keine entscheidende Rolle. Dies veranschaulicht Moravcsik am Beispiel der Rolle Delors’ innerhalb der Verhandlungen zur Europäischen Währungsunion, die sich im Rahmen der vorliegenden Theorie in ähnlicher Weise auf seine Beteiligung an der Strukturfondsreform übertragen lässt: »It is true that Delors drafted much of the wording [of the final EMU report, AC]; he nonetheless had little influence. He acted essentially in a technical secretariat function, as coordinator, rapporteur, and drafter- ; he drafted some compromise texts, as Ross states, but he did not influence their content« (Moravcsik 1998 : 460). Die Theorie des liberalen Intergouvernementalismus spricht Einzelpersonen demzufolge ebenso wie der Kommission als supranationaler Institution nicht mehr als eine Kommunikations- oder bestenfalls Vermittlerrolle zu (vgl. ebd. 1995). 22 Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Aktivität gesellschaftlicher Akteure im Bereich der Strukturfondspolitik konstant niedrig blieb. Sie wies durchaus eine zunehmende Tendenz auf, die sich vor allem mit Beginn der 1990er Jahre in einem stärkeren Einfluss äußerte (vgl. Mazey/ Richardson 1993). <?page no="57"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 58 58 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus Welche Handlungsoptionen standen den beteiligten Akteuren bzw. Akteursgruppen offen? Bereits im Vorlauf zum ersten wichtigen Gipfeltreffen vom Juni 1987 wurden die allgemeinen Vorstellungen der Mitgliedstaaten in Hinblick auf die Grundzüge der Strukturfondsreform diskutiert. Dies geschah auf Grundlage der oben genannten Kommissionsmitteilung, die diverse Vorschläge zur Reform der Strukturfonds sowie die Festschreibung fünf neuer Hauptziele enthielt (vgl. Malek 2002 : 203 ff.). Diese sollten operationell durch eine geografische Konzentration der Mittel auf die schwächsten Regionen, den Umstieg auf die ausschließliche Implementation von Programmen sowie durch die Verdopplung der finanziellen Mittel bis 1992 erreicht werden. Die Kommission präsentierte mit der Mitteilung vom Februar 1987 bereits eine fortgeschrittene Beschreibung der tatsächlichen Reformvorschläge, die dann »im August 1987 Eingang in den offiziellen Kommissionsvorschlag zur Rahmenverordnung über die Aufgaben und Effizienz der Strukturfonds fanden« (ebd.: 203). Diese Mitteilung (KOM(87) 100, vgl. Kommission 1987a) war zusammen mit dem »Bericht über die Finanzierung des Gemeinschaftshaushalts« (KOM(87) 101, vgl. ebd. 1987b) Teil des sogenannten »Delors-Pakets I«. Darin enthalten war das aus Sicht der Kommission zentrale Element für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, nämlich die Wachstumsförderung und Heranführung der als Ziel-1-Regionen definierten strukturell unterentwickelten Regionen. Für dieses Hauptziel standen laut Malek (2002 : 204) 80 Prozent der Mittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) sowie Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) zur Verfügung. Die anderen von der Kommission (1987a: 13) im Dokument erwähnten Zielbestimmungen beziehen sich dabei auf die »Umstellung von im Niedergang befindlichen Industrieregionen« (Nr. 2), die »Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit« (Nr. 3), die »Erleichterung der beruflichen Eingliederung von Jugendlichen« (Nr. 4) sowie die »Anpassung der landwirtschaftlichen Produktionsstrukturen und […] Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums« (Nr. 5). Schließlich wurde innerhalb des ersten Pakets eine Senkung des agrarpolitischen Anteils am Gesamthaushalt von knapp 65 auf 50 Prozent gefordert, was vor allem Frankreich stark betroffen hätte. Im Ergebnis wäre in Folge des Kommissionsvorschlags und bezogen auf das Haushaltsjahr 1987 jedoch »Italien am stärksten zusätzlich belastet worden, gefolgt von der Bundesrepublik, während Großbritannien durch das vorgeschlagene System am stärksten entlastet worden wäre« (Malek 2002 : 206), weil der von Thatcher erwirkte Beitragsrabatt ebenfalls neu berechnet werden müsste und den Inselstaat weiter bevorteilt hätte. In Bezug auf die Kommissionsmitteilung formierten sich- - wie es sich bereits in den vorherigen Konsultationen und Treffen andeutete- - im Wesentlichen folgende Handlungsalternativen: <?page no="58"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 59 2.3 Erklärung aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus 59 1. Der kompromissorientierte Kommissionsvorschlag, der neben dem vollständigen Übergang zur Programmfinanzierung und einer Mittelverdopplung zugleich auch eine Reduktion des Agrarhaushalts sowie die Neubestimmung des Beitragsrabatts für Großbritannien vorsah. Mit 80 Prozent der EFRE-Mittel lag der Schwerpunkt dabei auf der Förderung von strukturschwachen Regionen, während beim Sozial- und Agrarfonds teilweise horizontale Maßnahmen zur Anwendung kommen sollten (»KOM«). 2. Die Forderung vor allem südlicher Mitgliedstaaten, die Strukturfondsmittel mindestens zu verdoppeln und dabei den strukturellen Rückstand einzelner Regionen stärker in den Vordergrund zu rücken, weil die aktuelle Mittelverteilung sich durch den Kommissionsvorschlag kaum ändern würde. Zudem wurden die horizontalen Maßnahmen des Agrar- und des Sozialfonds kritisiert und auf die Notwendigkeit vertikaler Maßnahmen verwiesen (»SÜD«). 3. Die Forderung vor allem nördlicher Mitgliedstaaten, die Strukturfondsmittel geografisch stärker zu konzentrieren und nur gering zu erhöhen. Zudem sollten die Hilfen für industrialisierte Regionen sowie die horizontalen Maßnahmen des Sozialfonds im Vergleich zur Hilfe für strukturell rückständige Regionen und vertikale Maßnahmen in höherem Maße berücksichtigt werden. Innerhalb dieses Vorschlags gab es zwei prominente Ausprägungen: 3a. Entsprach der dritten Handlungsalternative und beinhaltete zusätzlich die Sonderforderung Großbritanniens, den sogenannten »Beitragsrabatt« für das Land aufrecht zu erhalten (»NORD GB «). 3b. Entsprach der dritten Handlungsalternative und beinhaltete zusätzlich die Sonderforderung Frankreichs, keinerlei Reduktion der Agrarzuschüsse vorzunehmen (»NORD FR «). Welche Präferenzen wiesen die wichtigsten Akteure bzw. Akteursgruppen auf? Nach Malek (2002 : 206) kritisierten vor allem Großbritannien und Belgien bereits die in der Kommissionsmitteilung vorgesehene Mittelverteilung dahingehend, dass die Maßnahmen zur strukturellen Angleichung benachteiligter Regionen gegenüber Maßnahmen zugunsten industrialisierter Regionen Priorität einnehmen würden. Südliche Mitgliedstaaten hielten den vorgeschlagenen Weg für unzureichend, um die Entwicklung strukturschwacher Regionen voranzutreiben. Zudem traten sie für eine vertikale Regelung des Sozial- und Agrarfonds ein. Bezüglich der Höhe der Mittelausstattung gab es ebenfalls unterschiedliche Auffassungen, obwohl ein grundsätzlicher Konsens darüber bestand, die Mittel überhaupt ansteigen zu lassen. Während die südlichen Mitgliedstaaten auf mindestens einer Verdopplung der Mittel bestanden, lehnten die nördlichen Staaten diese Verdopplung strikt ab. Ihnen zufolge ließen sich die gewünschten wirtschaftlichen Effekte »durch die geographische Konzentration <?page no="59"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 60 60 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus der Mittel, durch die Staffelung der Interventionssätze und durch eine höhere Effizienz« (ebd.: 206 f.) erreichen. Die Kommission legte schließlich am 19. April 1987 einen Verordnungsentwurf vor, mit dem die Ziele 1 und 2 zum EFRE, die Ziele 3 und 4 hingegen dem ESF und das 5. Ziel dem Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für Landwirtschaft (EAGFL) zugewiesen wurden. Der Rat und damit die Vertreter der Mitgliedstaaten befürworteten diese Vorschläge im Rahmen ihrer Reaktionen von Ende Juni, weswegen schon am 4. August ein Kommissionsvorschlag über eine Rahmenverordnung vorgelegt wurde (Tömmel 1994 : 58). Das erste Gipfeltreffen im Jahre 1987 vom 29. und 30. Juni in Brüssel war von den gleichen Unstimmigkeiten geprägt wie bereits im Falle der Stellungnahmen zur ursprünglichen Kommissionsmitteilung. Während Malek zufolge die südlichen Mitgliedstaaten weiter auf eine Verdopplung der finanziellen Mittel bestanden, lehnte Großbritannien jede signifikante Erhöhung ab, forderte eine starke Senkung der Agrarsubventionen und bestand auf der Beibehaltung des Finanzausgleichs. Der Gipfel endete ohne konkreten Beschluss und man verwies lediglich auf die Notwendigkeit, ein finanzielles System für die Strukturfonds zu erarbeiten. Unter den Staats- und Regierungschefs konnte man sich indes auf eine Rationalisierung der Ziele, die Konzentration der Fondsmittel unter Einbeziehung strukturschwacher Regionen sowie auf das programmbezogene Vorgehen einigen (Malek 2002 : 207). Der offizielle Vorschlag der Kommission über eine Verordnung zur Strukturfondsreform wurde dann im August 1987 dem Rat übergeben und entsprach im Wesentlichen der Mitteilung vom Februar des gleichen Jahres inklusive einer Verdopplung der Strukturfondsmittel. Die Zweiteilung in südliche Mitgliedstaaten, die mindestens diese Verdopplung der Mittel forderten und nördliche Mitgliedstaaten, die auf überarbeitete Ziele und eine geographische Konzentration der Mittel verwiesen, blieb auch mit Blick auf den Verordnungsvorschlag bestehen (ebd.: 208). Insbesondere Frankreich wehrte sich indes dagegen, das Ziel der wirtschaftlichen Entwicklung strukturschwacher Regionen durch Finanzmittel aus allen drei Strukturfonds zu finanzieren. Das Land bestand demnach darauf, den Sozial- und Agrarfonds für alle Mitgliedstaaten offen zu halten. Strittig war zudem die Forderung der Kommission, bis zu 80 Prozent der EFRE-Mittel für diesen Zweck zu reservieren. Je nach Mitgliedstaat wurden höhere, niedrigere oder feste Anteile gefordert. Kritik erfuhr darüber hinaus der Ermessensspielraum, den sich die Kommission bezüglich der Aufteilung der Mittel selbst zuerkannte. Für das zweite Ziel, das die Hilfe für sich negativ entwickelnde Industrieregionen beinhaltete, war im Kommissionsvorschlag keine Vorabaufteilung der Mittel vorgesehen. Dies stieß insbesondere bei Großbritannien auf Ablehnung, das wie beim 1. Ziel 90 Prozent der Finanzmittel nach festen sozio-ökonomischen Kriterien an die Mitgliedstaaten verteilt sehen wollte. Deutschland und die Niederlande lehnten es hingegen ab, die »Erleichterung der Umstrukturierung der im Niedergang befindlichen Industriesektoren« (ebd.: 209) in das Ziel miteinzubeziewww.claudia-wild.de: <?page no="60"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 61 2.3 Erklärung aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus 61 hen, weil sie einen solchen sektoralen Ansatz im Widerspruch zur geographischen Konzentration sahen. Als Kompromiss wurde das 2. Ziel daraufhin insoweit geändert, als dass für die Erleichterung der Umstrukturierung lediglich Mittel aus dem Sozialfonds bereitgestellt würden und diesbezügliche Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit im Rat zu beschließen seien. Frankreich forderte zur Finanzierung der Ziele 3 und 4 wiederum die ausschließliche Verwendung von ESF-Mitteln, während die Beiträge aus dem EAGFL auf agrarpolitische Maßnahmen beschränkt werden sollten. Wie Malek anmerkt, nahm Italien in diesem Fall die Position der südlichen Staaten ein und bestand auf einer stärkeren Regionalisierung der Mittel und Fokussierung auf strukturschwache Regionen (ebd.: 210). Am 4. und 5. Dezember 1987 trafen sich die Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen, um in den bisher ungeklärten Fragen eine Einigung zu erreichen. Weil sich die Mitgliedstaaten »hinsichtlich der Konzentration der Mittel, der Intervention nach Zielen und Programmen« (Malek 2002 : 210) weitgehend geeinigt hatten, rückte die dänische Ratspräsidentschaft den Fokus vor allem auf die finanzielle Ausstattung und geographische Zuteilung der Fonds. Strittig war zudem die Agrarpolitik, auch die Gefahr des Scheiterns ließ sich zu diesem Zeitpunkt nicht ausschließen (ebd.: 211). Die von der Kommission vorgesehenen und von Großbritannien gestützten Senkungen im Agrarsektor wurden dabei von Deutschland und Frankreich abgelehnt, um die Landwirte zu schützen. Darüber hinaus gab es seitens der südlichen Mitgliedstaaten Spanien und Portugal ebenfalls Widerstand gegen den Alternativvorschlag der dänischen Ratspräsidentschaft, lediglich die Mittel der Ziel- 1-Regionen zu verdoppeln und die Mittel für die restlichen Regionen auf dem für 1988 vorgesehenen Niveau mindestens beizubehalten. Zwar befürworteten diese Länder grundsätzlich einen Kommissionsvorschlag, der die Verdopplung der Mittel mit einer Konzentrierung von zwei Dritteln auf die strukturschwachen Ziel-1-Regionen kombinierte, kritisierten diesen jedoch ebenfalls als unzureichend. Den Kontrast dazu bildete Malek zufolge wiederum Großbritannien, das eine Beschränkung der Mittelzuwächse auf nominal 35 Prozent sowie die Verwendung von 80 Prozent der EFRE-Mittel für die strukturschwachen Regionen vorschlug. Die restlichen Staaten nahmen eine mittige Position ein, die neben einer deutlichen Mittelsteigerung (aber nicht Verdopplung) auch die Konzentration auf Regionen des 1. Ziels beinhaltete (ebd.: 212). Auf einem Sondergipfel am 11. und 12. Februar 1988 versuchte die nun auf Deutschland übergegangene Ratspräsidentschaft, Kompromisse zu den ausstehenden Fragen zu erreichen (Malek 2002 : 212). Weiterhin blieb die Agrarreform das zentrale ungeklärte Problem, bei dem wie zuvor ein Gegenüber von Großbritannien auf der einen und Frankreich und Deutschland auf der anderen Seite existierte. Während Ersteres eine möglichst geringe staatlich preisgestützte Getreidemenge forderte, wollten Letzwww.claudia-wild.de: <?page no="61"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 62 62 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus tere eine höhere Menge durchsetzen. Folgt man Malek, wurden hier eindeutig länderspezifische Interessen vertreten, da anstehende Wahlen in Frankreich und Deutschland Zugeständnisse für die Unterstützung der landwirtschaftlichen Wählerschaft verlangten (ebd.). So lag der im deutschen Vorschlag enthaltene Mittelanstieg zwischen etwa 54 und 78 Prozent, was der Kommission nicht ausreichte, Großbritannien und Frankreich wiederum zu viel war. Beide Staaten wollten einem Anstieg über 50 Prozent nicht zustimmen. Mit Bezug auf die Mittelverteilung erklärte sich Spanien grundsätzlich dazu bereit, die angestrebte Verdopplung von Mitteln auf die strukturschwachen Mitgliedstaaten zu begrenzen, was von der deutschen Ratspräsidentschaft in ihren Vorschlag übernommen wurde (ebd.: 213). Trotz dieser Annäherungen gab es laut Malek Befürchtungen, dass die Reform scheitern und die Kommission in einem solchen Fall zurücktreten könnte, zumal der eben angesprochene Dissens über die länderspezifische Zuteilung der Fondsmittel noch nicht aufgelöst wurde (ebd.: 212). In Bezug auf die Situationsstruktur sei eines vorweggenommen: Die Gefahr des Scheiterns steht nicht in Widerspruch zu der weiterhin geltenden Annahme, dass in Koordinationsspielen mit Verteilungskonflikt stets Einigungen angestrebt werden, insofern diese ohne Auflösung der existierenden Verteilungskonflikte nicht realisierbar sind. Das Scheitern der Verhandlungen stand aber ohnehin nicht unmittelbar bevor, es existierte lediglich Drohpotenzial, das sich über die Veto- Position innerhalb der Situationsstruktur ausdrückte. Moravcsik macht zudem darauf aufmerksam, dass diese vagen Rücktrittsgerüchte auf die Bereitschaft Deutschlands und Frankreichs zurückzuführen seien, Großbritannien einen Ausschluss von den Verhandlungen anzudrohen. Wie er jedoch mit Verweis auf das Interview mit einem Mitarbeiter des Kanzleramts betont, war hierbei vielmehr eine Intervention des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl von entscheidender Bedeutung für die Ausschlussdrohung an Großbritannien (Moravcsik 1998 : 367). In diesem Zusammenhang unterstützte Frankreich die von Spanien eingebrachte Länderbegrenzung, während Italien dies strikt ablehnte, weil es in einem solchen Fall Nachteile gegenüber den insgesamt strukturschwächeren Staaten befürchtete. Das Land bevorzugte indes den Kommissionsvorschlag, hauptsächlich Regionen mit einem BIP unter 75 Prozent des Gemeinschaftsdurchschnitts zu fördern. Spanien lehnte dies jedoch ab, weil es dadurch im Vergleich zum Ländermodell benachteiligt gewesen wäre (Malek 2002 : 213). Am zweiten Tag des Gipfeltreffens legte Deutschland nach zahlreichen bilateralen Gesprächen einen Kompromiss vor, der zwar keine Verdopplung der Mittel vorsah, die Option zu einer entsprechenden Aufstockung jedoch für das Jahr 1993 eröffnete (ebd.). Die Mitgliedstaaten konnten sich zumindest darauf einigen, dass der Ausgleich für Großbritannien mit einer modifizierten Berechnung erhalten blieb und dass die Forderung insbesondere Frankreichs erfüllt wurde, die preislich garantierte Getreidemenge auf 160 Millionen Tonnen festzusetzen. Daneben beschloss man eine Erhöhung der Mittel von 7,4 Mrd. ECU im Jahr 1988 auf 13 Mrd. ECU in 1992 <?page no="62"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 63 2.3 Erklärung aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus 63 inklusive der Option, die Verdopplung 1993 anzustreben. Hingegen sollten Mittel für die Ziel-1-Regionen bereits bis zum Jahr 1992 verdoppelt werden; die sektorale Umstellung blieb im Folgenden jedoch unberücksichtigt. Indes sollte sich der Ministerrat im Zusammenhang mit der Rahmenverordnung der Strukturfondsreform damit beschäftigen, die einzelnen Regionen zu bestimmen, die unter das 1. Ziel fallen sollten (ebd.: 214). Wie Malek anmerkt, wurde die konkrete Mittelaufteilung damit ein weiteres Mal verschoben, weswegen sich eine Einigung auf die restlichen Fragen leichter erzielen ließ: »Das Delors-Paket I galt in der Folge als vom Europäischen Rat angenommen-- wenn auch die formelle Verabschiedung der Rahmenverordnung erst durch den Außenministerrat erfolgte« (ebd.). Am 28.03.1988 legte die Kommission dann einen Vorschlag für die abschließende Rahmenverordnung vor, der gegenüber dem vorherigen Dokument von 1987 die Überarbeitungen vom Europäischen Gipfel in Brüssel enthielt (Malek 2002 : 215). Dabei berücksichtige die 75-Prozent-Klausel nicht nur Nordirland und die französischen Übersee-Departements, sondern enthielt zusätzlich Ausnahmen von Regionen, deren BIP über 75 Prozent des EG-Durchschnitts lag. Diese deckten neben dem gesamten Gebiet Portugals, Griechenlands und Irlands auch einige Regionen Italiens und Spaniens ab. Bei der Mittelverteilung auf Ziel-2-Regionen gab es mit Blick auf die Kriterien, nach denen die Verteilung erfolgen sollte, vor allem Dissens zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten: »Während die Kommission lediglich eine Aufteilung anhand relativ allgemeiner sozio-ökonomischer Kriterien vorschlug, forderten einige Mitgliedstaaten- - vor allem Griechenland, Frankreich, Niederlande und das Vereinigte Königreich- -, daß genauere Kriterien festgelegt werden müßten« (ebd.: 216). Hingegen traten Portugal und auch Irland Malek zufolge dafür ein, dass für die besonders strukturschwachen Regionen die vom Rat geforderte Verdopplung der Mittel endgültig festgeschrieben werden sollte. Zu diesem Zeitpunkt war zudem noch der Mittelumfang für die Regionen des 1. Ziels offen, ebenso wenig hatte man sich auf eine vollständige Liste der inkludierten Regionen geeinigt (ebd.: 217). Auf einer Ratstagung am 13. und 14. Juni 1988 wurde hierzu eine Einigung gefunden, so dass zwei spanische Regionen zumindest innerhalb der Ziele 2 und 5b und einige großbritannische Regionen im Ziel 5b Berücksichtigung finden konnten. Weiterhin wurden die Zuschüsse für Ziel-1-Regionen bis 1992 real verdoppelt, wofür bis zu 80 Prozent der EFRE-Mittel zur Verfügung gestellt werden sollten. In Folge der notwendigen Einigung von Rat und Parlament wurde die Rahmenverordnung schließlich am 24. Juni des Jahres 1988 beschlossen (ebd.). Nachdem also auf der europäischen Gipfelkonferenz im Februar 1988 eine Mittelverdopplung bis 1993 und im Juni des gleichen Jahres die Rahmenverordnung vom <?page no="63"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 64 64 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus Rat beschlossen wurde, präsentierte die Kommission dann im Juli Vorschläge zu den drei Ausführungsverordnungen und der Koordinierungsverordnung (Malek 2002 : 217 f.). Diese beinhalteten neben den Einzelbestimmungen zu den jeweiligen Instrumenten auch die Details der Mittelvergabe. Auch hier gab es Zustimmung von Seiten des Parlaments und des WSA mit einigen einschränkenden Vorschlägen, vornehmlich zur eigenständigen Gestaltungsrolle der Regionen. Zur Beratung wurde zudem die Ad-Hoc-Gruppe »Strukturfonds« gegründet, in der »vor allem in denjenigen Punkten kein Konsens erzielt werden [konnte], die bereits bei der Verabschiedung der Rahmenverordnung problematisch waren« (ebd.: 218). Dabei diskutierte man erstens die Frage nach den Kriterien für die förderungsfähigen agrarischen Ziel-5-Gebiete (ebd.). Wieder bildeten sich zwei Gruppen heraus: Einerseits kritisierten die südlichen Mitgliedstaaten den flexiblen Kriterienkatalog der Kommission, welcher auf begründeten Antrag auch ansonsten nicht berücksichtige Regionen mit einbeziehen würde. Ihrer Argumentation zufolge hätte dies den Grundsatz der geografischen Konzentration gefährdet. Andererseits trat insbesondere Deutschland für eine flexible Ausgestaltung ein. Der Kompromiss beinhaltete letztlich eine Kopplung der Ausnahmen an eine geringe sozio-ökonomische Entwicklung. Zweitens wurde die Gestaltung der verfügbaren Höchstsätze aus den Mitteln ausgehandelt. Während die Kommission insgesamt niedrigere Höchstsätze als in der Rahmenverordnung vorschlug, traten die Mitgliedstaaten geschlossen für die bestehenden Höchstsätze ein. Letztlich wurden die Vorschläge der Kommission aus der endgültigen Koordinierungsverordnung gestrichen (ebd.: 219). Drittens ging es gemäß Malek um »die Frage der Zugangsgrenzen für Einzelprojekte und Programme, die laut den Kommissionsvorschlägen ein Volumen von mehr als 25 Mio. ECU bei Infrastrukturinvestitionen oder 15 Mio. ECU bei produktiven Investitionen aufweisen sollten« (ebd.). Dabei forderte Spanien eine vollständige Streichung der Schwellen. Da dies dem Grundsatz widersprochen hätte, sich zukünftig auf wenige große Projekte zu fokussieren, wurden als Kompromiss niedrigere Schwellen festgelegt, die auf Drängen der Spanier jedoch nur »im Allgemeinen« einzuhalten seien. Malek merkt an, dass viertens ein weiterer Streitpunkt darin bestand, inwieweit eine Kopplung steigender Fondsausgaben mit wachsenden öffentlichen Ausgaben der Mitgliedstaaten festgelegt werden sollte- - was Großbritannien jedoch wiederum als einen Verstoß gegen die nationale Souveränität betrachtete. Dies führte zur Verabschiedung eines Kompromisses, der den makroökonomischen Zustand der Länder mit berücksichtigen sollte (ebd.). Der Rat verabschiedete schließlich am 19. Dezember 1988 die vier Verordnungen. Die dritte Strukturfondsreform trat am 1. Januar 1989 in Kraft und setzte die fünf Grundziele, die Neuausrichtung der Strukturfonds und das Partnerschaftsprinzip als neue Standards in der europäischen Regionalpolitik durch (vgl. Tömmel 1994 : 58). Fasst man die bisherigen Ausführungen zusammen, lauteten die Präferenzordnungen der Hauptakteure bzw. Akteursgruppen wie folgt: <?page no="64"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 65 2.3 Erklärung aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus 65 Großbritannien: NORD GB > NORD FR > KOM > SÜD. Frankreich: NORD FR > NORD GB > KOM > SÜD. Südliche Mitgliedstaaten: SÜD > KOM > NORD GB > NORD FR . Welche Situationsstruktur lässt sich für die Verhandlung bestimmen? Wie im Verlauf des vorliegenden Kapitels bereits angedeutet, handelt es sich bei den hier untersuchten Verhandlungen um ein Koordinationsspiel mit Verteilungskonflikt. Die beteiligten Akteure bzw. Akteursgruppen wiesen zwar konträre Interessen bezüglich der verfügbaren Optionen für das Verhandlungsergebnis auf, dennoch wollten alle grundsätzlich zu einem Ergebnis kommen. Allgemein gesprochen blieb dabei insbesondere die Frage nach der konkreten Verteilung von Gewinnen und Kosten der Reform ungeklärt, weswegen zu diesem Zeitpunkt noch keine endgültige Einigung vorauszusehen war. Konkreter verweigerten sich die nördlichen Mitgliedstaaten der von Seiten der Kommission und der südlichen Mitgliedstaaten geforderten Mittelverdopplung und bestanden ihrerseits beispielsweise auf einer stärkeren geografischen Konzentration und vor allem horizontalen Maßnahmen. Dazu sei jedoch angemerkt, dass die Verhandlungen über die einzelnen Bestimmungen des Reformpakets zu diesem Zeitpunkt noch nicht weit vorangeschritten waren. Damit lässt sich die Situationsstruktur wie im Verlauf des Kapitels angedeutet insgesamt als ein Koordinationsspiel mit Verteilungskonflikt bestimmen. Da die Einigung auf einen konkreten Vorschlag im Kontext der vorliegenden supranationalen Verhandlungssituation grundsätzlich als Voraussetzung gelten muss und »Kombinationen« der sich ursprünglich herausgebildeten Handlungsalternativen erst in Folge weiterer Verhandlungen möglich sind, fallen sie zunächst einmal als Alternative innerhalb dieser Situationsstruktur heraus. Die Asymmetrie der oben aufgeführten Präferenzordnungen impliziert bereits, dass sich die beteiligten Akteure nicht auf einen der vorhandenen Vorschläge einigen konnten, weil mit jeder Handlungsalternative jeweils ein Teil der Akteure deutlich besser gestellt wurde. Damit zeigt sich, dass weitere Verhandlungen unausweichlich erscheinen. Genau so kam es dann im Rahmen der Strukturfondsreform. Weil aber die Präferenzordnungen ebenfalls nahelegten, dass der Kommissionsvorschlag im Durchschnitt gegenüber den anderen Alternativen präferiert wurde, diente er für die anschließenden Verhandlungen und- - das ist entscheidend- - ebenso für die abschließenden Einigungen als Grundlage. Zum Vorschlag Großbritanniens ist zu sagen, dass dieser insbesondere aufgrund der geringen Mittelerhöhung von Seiten der südlichen Mitgliedstaaten vermutlich mit einer Vetodrohung belegt worden wäre. Aus diesem Grund kann er im Rahmen einer situationsstrukturellen Analyse gegenüber dem Kommissionsvorschlag nicht bestehen, was sich auch in den konkreten Verhandlungen zeigte. <?page no="65"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 66 66 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus 2.4 Fazit Dieses Kapitel zeigt anhand der Theorie des liberalen Intergouvernementalismus, dass sich die im Jahr 1988 verabschiedete Strukturfondsreform als Ergebnis rationaler intergouvernementaler Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union analysieren lässt. Folgt man diesem Ansatz, bilden die Gipfeltreffen der Staaten das wichtigste Forum, in dem die Akteure ihre Präferenzen aktiv verfolgen und über die existierenden Vorschläge zur Politikgestaltung diskutieren. Diese Situation lässt sich mithilfe des situationsstrukturellen Ansatzes auf Grundlage der akteursspezifischen Präferenzordnungen als eine spieltheoretische Situationsstruktur interpretieren-- im betrachteten Fall ist dies ein Koordinationsspiel mit Verteilungskonflikt. Als Erklärung hierfür wurde argumentiert, dass unter den Mitgliedstaaten ein wesentliches Interesse daran bestand, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Dies lag einer liberal intergouvernementalistischen Logik zufolge im Stellenwert von Strukturfonds als side payment für die Zusage der »weniger entwickelten« Mitgliedstaaten zur Vollendung des gemeinsamen europäischen Binnenmarktes begründet. Moravcsik führt dazu aus, dass in Folge der Nachteile, die vor allem die ärmeren südlichen Mitgliedstaaten durch den gemeinsamen Binnenmarkt zu befürchten hatten, ein Ausgleich für deren Zustimmung erfolgen musste. Aus eben jenen Gründen erscheint es plausibel, dass eine zunehmende Fähigkeit der finanzstärkeren Mitgliedstaaten dazu, Ausgleichszahlungen an die finanzschwächeren Staaten zu zahlen, die Verhandlungen eher zu einem Ergebnis führen würde. Weil zudem die Vollendung des gemeinsamen Binnenmarkts für die nördlichen Mitgliedstaaten prioritär war, forderten sie von den Profiteuren der Reform auch keine weitreichenden Zugeständnisse. Genau diese Annahmen konnten innerhalb der vorliegenden Situationsstruktur bestätigt werden: Nicht nur wurden in den verabschiedeten Verordnungen zur Strukturfondsreform die wichtigsten Forderungen südlicher Mitgliedstaaten als side payments implementiert, sondern zugleich erfüllte sich die aus den festgestellten Präferenzordnungen der wichtigsten Akteure abgeleitete Erwartung, dass der Kommissionsvorschlag als Grundlage des Reformkompromisses dienen sollte. Dabei enthielt der genannte Vorschlag zwar Kompromisslösungen, diese entsprachen allerdings im Wesentlichen den Vorstellungen der ärmeren Mitgliedstaaten. Der britische Vorschlag hatte zwar eine ähnliche Stellung mit Blick auf die Präferenzordnungen der beteiligten Akteure inne, unterlag jedoch-- so die vorliegende These-- einer potenziellen Vetodrohung durch die südlichen Mitgliedstaaten und kam somit nicht als alternative Grundlage für den später gefundenen Kompromiss in Frage. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass der situationsstrukturelle Ansatz erlaubt, Akteure mit identischen oder sich stark ähnelnden Präferenzen zu Akteursgruppen zusammenzufassen und dadurch die Analyse zu vereinfachen. Dies wurde vor allem mit Blick auf die südlichen Mitgliedstaaten durchgeführt, teilweise aber ebenso bei den nördlichen. Dort gab es indes distinkte Einzelpositionen von Großbritannien <?page no="66"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 67 2.4 Fazit 67 und Frankreich, weswegen hier eine Unterscheidung erfolgte. Grundsätzlich werden die Mitgliedstaaten im liberalen Intergouvernementalismus als die zentralen Akteure angesehen. Andere Institutionen (wie z. B. die Kommission) oder Einzelpersonen (wie z. B. Delors) besitzen demnach lediglich eine informationsgebende oder bestenfalls vermittelnde Rolle. Sie arbeiten die Präferenzordnungen der Mitgliedstaaten heraus und stellen sie verbal oder schriftlich in Form von Statements, Mitteilungen oder konkreten Reformvorschlägen zur Verfügung. Die Theorie sieht solche Akteure jedoch als untergeordnet an und weist ihnen damit keine entscheidende Bedeutung zu. Darüber hinaus ist anzumerken, dass gesellschaftliche Akteure im vorliegenden Kapitel zwar nicht im Fokus der Betrachtung standen, jedoch grundsätzlich eine wichtigere Rolle innerhalb der Theorie einnehmen. So bilden die Regierungen der Mitgliedstaaten ihre Präferenzen auch in Abstimmung mit den einflussreichsten gesellschaftlichen Interessengruppen, Unternehmen, Verbänden und anderen privaten Akteuren. Zudem könnte in Hinblick auf die innerstaatlichen Ebenen der Eindruck entstehen, dass die Regionen von größerer Bedeutung für diejenigen Reformen sein müssten, die sie direkt betreffen. Dies war offenbar aber nicht der Fall. Marks und andere Autoren gehen über liberal intergouvernementalistische Annahmen hinaus, indem sie auf die zunehmende Bedeutung von Regionen als Adressaten der Strukturfonds ab Ende der 1980er Jahre hinweisen. Damit in Verbindung stand der Zusammenschluss vieler territorialer Einheiten in der »Versammlung der Regionen Europas« als eine Art Dachorganisation sowie die Etablierung von Regionenvertretungen in Brüssel. Dieser wachsende Einfluss von Regionen nicht nur auf die Präferenzen der mitgliedstaatlichen Regierungen, sondern auch auf die europäische Politik spiegelt sich letztlich in der Idee eines »Europas der Regionen« wider (Malek 2002 : 198; vgl. Marks et al. 1996, Knodt 1998, Marks/ Haesly/ Mbaye 2002, Große Hüttmann/ Knodt 2006). Aus Sicht des liberalen Intergouvernementalismus hätte man ebenso Verhandlungen zu anderen Bereichen der Regionalpolitik untersuchen können, solange man dessen zentrale Annahmen über die Bedeutung intergouvernementaler Verhandlungen, das Verhalten und den Einfluss der beteiligten Akteure und über den Einfluss innerstaatlicher Kräfte berücksichtigt. Darüber hinaus sollte wie auch in den anderen Kapiteln verdeutlicht werden, dass die Festlegung auf den liberalen Intergouvernementalismus als theoretische Grundlage die Art der Fragestellung und der zu wählenden Variablen sowie die weiteren Analyseschritte notwendigerweise vorgibt. So bietet diese Theorie weder eine Erklärung für den Einfluss normativer Ideen und Prinzipien auf Prozesse des europäischen decision-making an, noch ließe sich ein reformentscheidender Einfluss der Kommission oder anderer rein supranationaler Institutionen adäquat erfassen. Daran anschließend stellt sich die Frage, was nicht untersucht und erklärt wurde: Die vorliegend gewählte Theorie erfasst nicht den Einfluss der Präferenzen supranationaler Akteure, weil ihnen von Vornherein lediglich eine untergeordnete Rolle zugewww.claudia-wild.de: <?page no="67"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 68 68 2. (Liberaler) Intergouvernementalismus schrieben wird. Des Weiteren wurde die Theorie in Abgrenzung zu den Annahmen funktionalistischer Ansätze entwickelt, die von einem funktionalen spill-over im Prozess der europäischen Integration ausgehen. Dementsprechend befinden sich solche Phänomene nicht im Erklärungshorizont des Intergouvernementalismus. Ebenso wenig können situationsabhängige Präferenzänderungen erfasst oder der Einfluss von normativen Überzeugungen auf den supranationalen Entscheidungsfindungsprozess erklärt werden, weil diese Aspekte sich außerhalb der theoretischen Annahmen befinden. Dazu gehört im Übrigen auch die Existenz divergierender Präferenzen innerhalb der mitgliedstaatlichen Regierung oder anderer politischer Akteure. Ähnlich wie im Falle anderer Ansätze der europäischen Integration fehlt dem liberalen Intergouvernementalismus aufgrund seines Fokus auf die Etablierung europäischer Institutionen und Politiken darüber hinaus die Möglichkeit, post-ontologische Fragestellungen nach den Rückwirkungen europäischer Politik zu untersuchen. Literatur Bache, Ian 1998: The Politics of European Union Regional Policy. Multi-Level Governance or Flexible Gatekeeping? Sheffield. Buntrock, Oliver 2004: Problemlösung im europäischen Mehrebenensystem. Das Beispiel der Stahlpolitik der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Wiesbaden. Große Hüttmann, Martin/ Knodt, Michèle 2006: Diplomatie mit Lokalkolorit: Die Vertretungen der deutschen Länder in Brüssel und ihre Aufgaben im EU-Entscheidungsprozess, in: Jahrbuch des Föderalismus 2006. 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Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1987a: Die einheitliche Akte muß ein Erfolg werden-- Eine neue Perspektive für Europa, KOM(87) 100 endg., 15.2.1987. Brüssel, zit. als »Kommission 1987a«. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1987b: Bericht über die Finanzierung des Gemeinschaftshaushalts, KOM(87) 101 endg., 28.2.1987. Brüssel, zit. als »Kommission 1987b«. List, Martin 1999: Baustelle Europa. Einführung in die Analyse europäischer Kooperation und Integration. Opladen. Malek, Tanja 2002: Politikgestaltung auf europäischer Ebene. Baden-Baden. <?page no="68"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 69 2.4 Fazit 69 Marks, Gary et al. 1996: Competencies, Cracks and Conflicts: Regional Mobilization in the European Union, in: Marks, Gary et al. (Hg.): Governance in the European Union. London, 40-63. Marks, Gary/ Haesly, Richard/ Mbaye, Heather 2002: What Do Subnational Offices Think They Are Doing in Brussels? 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Schließlich wird der gewählte Ausschnitt der europäischen Regionalpolitik anhand der zuvor erarbeiteten theoretischen Grundlagen erklärt. 3.1 Sozialkonstruktivistische (Meta-)Theorie Im Rahmen der Debatte über die Rolle und Wirkung europäischer Konzepte, Paradigmen und Ideen 23 vor einigen Jahren spielte die Frage nach einem alternativen Analyseraster zum Verständnis und der Erklärung von Akteurshandeln in Abgrenzung zum dominierenden rationalistischen Ansatz eine zentrale Rolle. Entscheidend war dabei die Debatte in den Internationalen Beziehungen, insbesondere in der Zeitschrift für Internationale Beziehungen (ZIB). Die ZIB-Debatte beschäftigte sich mit der Rolle von Ideen und hatte die alten Grabenkriege zwischen den Vertretern rationalen Handelns im Sinne der Rational-Choice-Theorie (RC) und den Vertretern eines sozialkonstruktivistischen Ansatzes wieder aufflammen lassen. Sie verhalf Letzterem in der Integrationsforschung zum Auftrieb. Dieses Kapitel soll eine den Grundannahmen eines sozialkonstruktivistischen bzw. in der Literatur auch als interpretativ bezeichneten Paradigmas verpflichtete Analyse darstellen. 24 Ausgehend von der Annahme, dass Ideen im Wandel der Rolle des Staates, seiner Steuerleistungen und der Ausgestaltung 23 Zur Rolle von Ideen vgl. die ausführliche Darstellung von Jachtenfuchs (1995) sowie Nullmeier (1994) und Schaber/ Ulbert (1994); zur neueren Diskussion vgl. unter anderem Maier (2001 und 2003). 24 Die Untersuchung bewegt sich insofern in der Tradition des Weber’schen (Sozial-)Wissenschaftsverständnisses, weil deutendes Verstehen sozialen Handelns als Mittel zum ursächlichen Erklären anerkannt wird und gesellschaftliche Ereignisse wie auch Institutionen als aus dem Handeln von Menschen und den Sinnbezügen, in die das Handeln eingebettet ist, erklärbar angesehen werden: »Erklären bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befasste Wissenschaft so viel wie: Erfassung des Sinnzusamwww.claudia-wild.de: <?page no="71"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 72 72 3. Sozialkonstruktivismus des Regierens eine Rolle spielen, stellt sich die Frage, welches Instrumentarium benötigt wird, um die Wirkung von Ideen zu beschreiben, zu verstehen und zumindest teilweise erklären zu können. Den Ansatzpunkt bildet die Erklärung von Akteurshandeln durch die Prämissen des interpretativen Paradigmas. Diese Grundannahmen werden hier durch die Gegenüberstellung rationalistischer Ansätze verdeutlicht, da im Vergleich die Charakteristika des Ansatzes zur Erklärung von Handeln am besten herausgearbeitet werden können. Im allgemeinsten Sinne ist Handeln die Transformation einer Situation in eine andere. Vom reinen Verhalten hebt es sich dadurch ab, dass es auf das Erreichen eines selbstbestimmten Ziels ausgerichtet ist. RC-Ansätze gehen dabei vom Handlungskonzept des strategischen Handelns aus: Unter einer Handlung wird ausdrücklich ein bewusstes, an Konsequenzen orientiertes und zweckgerichtetes Einwirken eines Akteurs auf seine Umwelt verstanden. Die Handlung oder der Verzicht auf diese ist die unmittelbare Folge einer Entscheidung. Diese Entscheidung zwischen mehreren vorhandenen Handlungsalternativen treffen Akteure unter der Prämisse der Nutzenmaximierung aufgrund einer Nutzenfunktion, die Kosten und Nutzen der Alternativen abwägt. Die häufigste Kritik am Rational-Choice-Ansatz stützt sich auf ein RC- Modell, das in seinem Puritanismus allerdings kaum noch Verwendung findet. Die Kritik entfacht sich meist am Ideal des homo oeconomicus, das einen vollständig informierten und kalkulierenden Akteur beschreibt. Konkreter geht es darum, dass Handeln immer unter Unsicherheit stattfindet und nicht jedem Handeln ein Abwägen der Kosten-Nutzen-Relation vorausgeht, sondern oft traditionell-- im Sinne von routiniert-- gehandelt wird. Viele Anfechtungen nehmen diese beiden Regelwidrigkeiten rationalen Handelns ins Visier, um damit die Grundannahme der sogenannten »Hyperrationalität« (Zürn 1992 : 81 f.) zu widerlegen. Dieses Ziel wird von den Kritikern jedoch im gleichen Ausmaß verfehlt, wie sie die neueren Entwicklungen des RC- Ansatzes ignorieren. Routiniertes Handeln und die Handlungswahl unter Unsicherheit sind bereits in den RC-Ansatz integriert. Die eigentliche Kritik muss eine Stufe früher an der Basis jeden Handelns, also der Wahrnehmung der Handlungssituation, ansetzen. Zur Verdeutlichung sei der Prozess der Handlungswahl im Rahmen der RC-Theorie in drei Schritte zerlegt: Die Kognition der Situation, die Evaluation der Konsequenzen bestimmter Handlungen und schließlich die Selektion einer bestimmten Handlung nach einer bestimmten Regel (vgl. Lindenberg 1990): ● ● In der Kognition der Situation sind die Umstände der Situation, Prozesse der Erinnerung und Assoziationsbildung und Aktualisierungsprozesse der »Alltagstheomenhangs, in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört« (Weber 1980 : 4). <?page no="72"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 73 3.1 Sozialkonstruktivistische (Meta-)Theorie 73 rien« der Akteure für die Wahrnehmung von Handlungsalternativen von Bedeutung. ● ● Die Evaluation der Alternativen geschieht durch die Bewertung der alternativen Handlungsmöglichkeiten aufgrund der eigenen Präferenzen und der (subjektiven) Wahrscheinlichkeiten darüber, dass eine bestimmte Handlung zu einer bestimmten Folge (outcome) führt. Jede der Alternativen wird aufgrund ihrer »subjective expected utility« (SEU) kalkuliert und nach einer Nutzen-Kosten-Kalkulation bewertet. ● ● Selektiert wird eine der Alternativen in der rationalen Wahl nach dem Kriterium der Maximierung der subjektiven Nutzenerwartung (Esser 1990 : 232 f.). Die RC-Theorie erkennt auf dem heutigen Stand an, dass Akteure unter unvollständigen Informationen handeln und Phänomene wie an Routinen ausgerichtetes Handeln (habits) und das Vorhandensein einschränkender Handlungsrahmen (frames) das Akteurshandeln beeinflussen können. Sie gehen zudem davon aus, dass Nutzenmaximierung nur unter dem idealisierten Umstand der vollständigen Information möglich ist und Akteure daher den dritten Schritt der Selektion bereits dann abbrechen, wenn sie eine hinreichend befriedigende Handlungsalternative gefunden haben (satisficing statt maximizing). Aus Sicht der Theorie bleibt diese Art der Wahl deswegen rational, weil sie nicht nur unter dem Aspekt des Nutzens, sondern auch der Kosten getroffen wird und zugleich sowohl Informationsbeschaffung und -verarbeitung als auch Evaluation und Selektion Kosten verursachen. In der Fortführung dieser Argumentation geschieht die Einbettung des Habit-Gedankens in die Theorie, wobei bereits in die erste Stufe des Entscheidungsmodells ein Filter eingebaut ist. Dieser entscheidet aufgrund der Situationsdefinition, ob es sich um eine Routine-Situation handelt, bei der mit einer automatischen Routinewahl ein bestimmtes Handeln erfolgt oder nicht-- womit die nächsten beiden Stufen der Evaluation und Selektion in Kraft treten würden. Ohne Zweifel ist der oben angeführten Kritik damit die Entkräftung der RC/ SEU-Theorie insgesamt nicht gelungen. Vielmehr wird demonstriert, dass der Rückgriff auf Routinehandeln möglich ist und vor allem, dass er unter der Einführung des Faktors »Knappheit« (im Sinne eines ökonomischen Umgangs mit beschränkten Ressourcen) auch dem Faktum der Rationalität keineswegs widerspricht. Dazu wird deutlich, dass verändertes Handeln nur selten in Betracht kommt- - nämlich dann, wenn der Akteur eine Situation als einen Typus einstuft, der nicht dem ihm bekannten Typus »Routine« entspricht (vgl. Esser 1990, 1991 und 1996). Neben der Mittelauswahl durch Routinehandlungen beeinflusst bounded rationality-- also die kognitive Beschränkung von Individuen-- auch die Zielstruktur in einer gegebenen Situation in vereinfachender Art. Dies geschieht durch die Einteilung möglicher Ziele in ein primäres und mehrere sekundäre Ziele. Handlungslogik und Sinn des Handelns werden dabei in Einklang mit dem jeweils dominierenden Ziel gewählt. Mit jeder typischen Situation korrespondieren, wie Esser (1990) es formuwww.claudia-wild.de: <?page no="73"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 74 74 3. Sozialkonstruktivismus liert, eigene »Vektoren« von Handlungsalternativen und outcomes mit ihren zugehörigen subjektiven Wahrscheinlichkeiten und Bewertungen. Im ersten Schritt der Handlungswahl vergleicht man somit wieder Merkmale typischer Situationen mit der gegebenen Situation und entscheidet mit der Einordnung der Situation auch über die Wahl des Vektors- - die nächsten Schritte laufen wie bereits erklärt ab (Esser 1990 : 238 f.). Eine Weiterentwicklung unter dem Hinzufügen des Parameters »Knappheit« bildet wiederum das von Lindenberg erweiterte (SEU-)Modell der discrimination (vgl. Lindenberg 1990). Dies geht in der ersten Stufe der Handlungswahl ebenfalls davon aus, dass Akteure Alternativen und outcomes nach ihrem Nutzen ordnen, jedoch unter der neuen Annahme, dass diese immer nur mit Blick auf ein einzelnes Ziel hin maximiert werden. Dieses Ziel bildet dann den frame der Situation, innerhalb dessen die Kosten-Nutzen-Bilanzierung stattfindet. Weitere Kosten und Nutzen bleiben im Hintergrund. Die Evaluationsstufe des Handlungsmodells entspricht dabei dem SEU-Modell. Hingegen geht das Diskriminierungsmodell im dritten Schritt davon aus, dass nicht automatisch die höchstbewertete Alternative des Handelns gewählt wird, sondern jede der Alternativen nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zum Tragen kommt. Die Diskriminierung zwischen den Alternativen beruht auf der Differenz des erwarteten Nutzens der einen Alternative in Relation zu allen anderen Alternativen und in der Bedeutsamkeit dieser Differenz im Rahmen der gegebenen Situation (salience). Damit wird es nach Esser möglich, »abweichendes Verhalten und die Verletzung institutioneller Regeln aufgrund der Veränderung der Opportunitätsstrukturen« (Esser 1990 : 241) zu erklären. Der neue Prototyp des handelnden Akteurs wird somit als »restricted, resourceful, expecting, evaluating, maximizing man« (RREEMM-Modell; vgl. Esser 1991 : 52) 25 konzeptualisiert-- also als eine modifizierte Fassung des homo oeconomicus. In dieses neue Modell sind Teile des homo sociologicus, der ausschließlich normenreguliert handelt, integriert. Normen und auch Rollen oder Institutionen können hier als Anhaltspunkte für typisierte Handlungsalternativen dienen. Der Akteur muss sie als Teil der Handlungsalternative erkennen und internalisiert haben. Wie es zur Konstituierung von Normen als stark regulierte Routinen und damit typisierte Handlungsalternativen kommt, wird allerdings nicht weiter thematisiert. Nun sind es gerade diese beiden Erweiterungen, habits und frames, sowie die Frage, auf welche Ursachen sich Wandel oder Nicht-Wandel bezieht, die uns in der Untersuchung besonders interessieren. Der Blick muss sich damit auf die Ausgangsbasis des Handelns richten, die Definition der Situation, denn diese erste Wahl ist der kritische Punkt des Ansatzes- - und nicht die rationale Wahl einer der gegebenen Handlungsalternativen. Es ist die rationale Wahl der Situationsdefinition 25 Das neue Akteursmodell benennt die wichtigsten Komponenten der weiterentwickelten Theorie der rationalen Wahl: Restriktionen, Erwartungen, Bewertungen und die Selektionsregel der Maximierung. Die Eigenschaft »resourceful«- - Findigkeit- - konzipiert »abweichendes Verhalten« als immanente Kategorie im Set der Handlungsalternativen (Esser 1991 : 52). <?page no="74"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 75 3.1 Sozialkonstruktivistische (Meta-)Theorie 75 nach exogen vorgegebenen und feststehenden Präferenzen, an denen sich die hier angebrachte Kritik festmacht. Auf die Vorgänge der Situationsdefinition richten sich schwerpunktmäßig die Ansätze der sogenannten »interpretativen Schule«, die wichtige Impulse aus der deutschen Wissenssoziologie erhielten und die im Folgenden dargestellt werden. Eine Vielzahl von Labels ist bisher für die Vertreter eines interpretativen Paradigmas vergeben worden; die theoretischen Konzepte von Vertretern verstehender, reflexiver und interpretativer Ansätze oder des symbolischen Interaktionismus basieren indes auf sich ähnelnden Annahmen. An dieser Stelle soll jedoch festgehalten werden, dass all diese Ansätze nicht auf die Prämisse zielgerichteten und intentionalen Handelns verzichten, wie gleich an den Ausführungen von Schütz zu sehen ist. Entscheidend sind dagegen die unterschiedlichen Definitionen der Handlungssituation: Für einen interpretativen Handlungsbegriff von Bedeutung sind der dem Handeln zugrunde liegende Mechanismus des Wahrnehmens und Interpretierens von Situationen sowie die darauf folgende Entwicklung von Handlungslinien. Will man Handeln verstehen, so muss man den Definitionsprozess des Handelnden erschließen. Die Definition von Situationen durch die Handelnden und die Rolle von Ideen, Bedeutungen, Symbolen etc. stehen dabei im Mittelpunkt. 26 Die Intentionalität des Handelns, also dessen Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel, wird bereits bei Schütz in seiner Kategorie des Entworfenseins deutlich. Seiner Auffassung nach vollzieht sich alles Handeln nach einem mehr oder minder explizit vorgefassten Plan, ihm kommt also Entwurfscharakter zu (Schütz 1991 : 77). Was hier entworfen wird, ist nicht das sich »schrittweise vollendende Handeln, sondern die Handlung, das Ziel des Handelns, welches durch das Handeln verwirklicht werden soll« (Schütz 1991 : 78). Sinn des Handelns ist laut Schütz somit »die vorher entworfene Handlung« (Schütz 1991 : 79). Sich-Verhalten aufgrund eines vorangegangenen Entwurfes ist Schütz zufolge immer schon rationales Handeln, »denn im Entwurf ist ja das Um-zu und das Worum-willen des Handelns 27 bereits beschlossen. Liegt ein solcher Entwurf nicht vor, dann wird eben nicht ›gehandelt‹, dann ›verhält‹ sich der Betreffende nur in irgendeiner Weise« (Schütz 1991 : 337). Im Schütz’schen Konzept des Entworfenseins ist bereits die prozessuale Struktur des Handelns angedeutet: Die entworfene Handlung zerfällt in Teilhandlungen, die durch sogenannte »Um-zu- Motive« mit dem Gesamtentwurf verbunden sind (Schütz 1991 : 119 f.; vgl. Lau 26 Diese Sichtweise menschlichen Handelns beschränkt sich nicht auf die Analyse individuellen Handelns, sondern lässt sich in gleicher Weise auf gemeinsames oder kollektives Handeln von Gruppen, Institutionen oder Organisationen übertragen. 27 Schütz unterscheidet beim Entstehen des Handlungsentwurfs zwei Motivationen, das Einbeziehen von und die Orientierung auf frühere Erfahrungen (Weil-Motiv) und die Konzeption des Entwurfs als Teilhandlung innerhalb eines größeren Handlungszusammenhangs (Um-zu- oder unechtes Weil- Motiv) (Schütz 1991 : 116 f.). <?page no="75"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 76 76 3. Sozialkonstruktivismus 1978 : 82). Dies sei hier deshalb so eingehend erwähnt, weil oft ein interpretativer Entwurf des Handelns mit nicht-rationalem Handeln und nicht-wählendem Handeln gleichgesetzt wird. Eine Gleichsetzung, die allerdings nicht in dieser Form aufrechterhalten werden kann, da auch nach konstruktivistischer Sichtweise eine rationale Wahl von Präferenzen erfolgt, die Präferenzbildung jedoch anders als im rationalistischen Paradigma abläuft (vgl. hierzu weiter unten). Deutlicher als im Entwurfscharakter von Schütz wird bei Mead und seinen Schülern, dass menschliches Handeln auf Objekte bezogen ist, die für den Handelnden Bedeutung haben. Mit Dingen oder Objekten sind physikalische (z. B. Gegenstände), soziale (Personen oder Personengruppen) und abstrakte Objekte (z. B. Normen, Prinzipien, Ideen) gemeint (Blumer 1973 : 90). Die Bedeutungen von Objekten sind nicht objektiv vorgegeben, sondern werden ihnen von den Handelnden durch eine Auseinandersetzung mit dem Objekt zugeschrieben und damit im Rahmen eines Interpretationsprozesses verarbeitet (Blumer 1973 : 84). Für Blumer besteht das Handeln eines Menschen im Wesentlichen darin, dass er verschiedene Dinge, die er wahrnimmt, in Betracht zieht und auf der Grundlage der Interpretation dieser Dinge eine Handlungslinie entwickelt. Die berücksichtigten Dinge erstrecken sich auf Wünsche und Bedürfnisse, Ziele, die verfügbaren Mittel zu ihrer Erreichung, die Handlungen und die antizipierten Handlungen anderer, sein Selbstbild und das wahrscheinliche Ergebnis einer bestimmten Handlungslinie (Blumer 1973 : 95). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Komponenten des handelnden Menschen sich in der Abfolge wie folgt darstellen: (1) das Konfrontiertsein mit einer Situation, in der er handeln muss; (2) die Wahrnehmung, Einschätzung und Interpretation der Situation; (3) sowie der darauf folgende Entwurf einer Handlungslinie. Diese Sichtweise lässt sich nach Blumer in gleicher Weise auf gemeinsames oder kollektives Handeln anwenden, an dem eine Mehrzahl von Individuen beteiligt ist (Blumer 1973 : 96). Diese umfangreiche Arbeit wird jedoch nicht in jedem Fall immer wieder von neuem geleistet, vielmehr basiert Handeln auch auf dem Rückgriff auf Bekanntes. Reflexives Handeln aus der Vergangenheit wird vom Handelnden nicht vergessen, sondern im Gedächtnis gespeichert und dort als persönlicher Wissensbestand in Form von gesammelten Erfahrungen aufgebaut: »Der Wissensvorrat ist das Produkt der in ihm sedierten Erfahrungen« (Schütz/ Luckmann 1975 : 123). Was hier entwickelt wird, ist die Orientierung an traditionellem Handeln, d. h. die Bindung an bekannte Handlungen (habits). Nur durch eine solche Habitualisierung können routinemäßig wiederkehrende Situationen-- unter der impliziten Prämisse der Knappheit von Verarbeitungskapazitäten und Zeit-- bewältigt werden. Die Ähnlichkeit zum RC-Ansatz wird auch an diesem Punkt wieder deutlich. Die eigenständige Selektion unterschiedlicher Alternativen zu vollendenden Handlungen, bei Schütz unhandlich aber exakt als »die in einem Akt modo futuri exacti in der Zukunft abgelaufen sein werdende Handlung« (Schütz 1991 : 90) bezeichnet, lenkt den Blick auf den Akt des Wählens, der Kür (Schütz 1991 : 92) an sich. Schütz <?page no="76"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 77 3.1 Sozialkonstruktivistische (Meta-)Theorie 77 macht die Strukturierung des Wahlvorgangs am Geordnet- und Typisiertsein der Welt fest: Selektion und Systematisierung setzen bereits an Selektiertem und Systematisiertem an (Schütz 1971 : 250 ff.; Mead 1969 : 62). Schütz betont in diesem Zusammenhang, dass Handeln in der Regel ein sinnbezogenes, auf den Entwurf abgestelltes Küren der adäquatesten Alternative darstellt. Der Handlung des Abwägens oder des Wählens geht das Wissen über die anderen Möglichkeiten und die Um-zu-Motive des Akteurs voraus. Um-zu-Motive sind Bewertungen der sich selbst vorgestellten Ziele und Präferenzen auf Grundlage des in der Vergangenheit konstruierten Wissens- und Präferenzsystems, das von Schütz als »Weil-Motiv« bezeichnet wird. Die Beziehung der Möglichkeiten sowie der Um-zu- und Weil-Motive generieren die Relevanzstrukturen für die Handlungswahl. Unbestreitbar ist hierbei die Ähnlichkeit zur Wahl zwischen Handlungsalternativen wie sie in RC-Ansätzen modelliert wird. Auch die Zielgerichtetheit und damit Rationalität der Wahl ist unbestritten. Den entscheidenden Punkt an dieser Stelle stellt die Basis der Wahl dar: das Wissens- und Präferenzsystem. Dieses wird nicht wie im RC als fester Ausgangspunkt mit der jeweilig gegebenen Situation festgelegt, sondern bildet sich erst in der Situationsdefinition subjektiv im Prozess der Interpretation und Interaktion heraus. Also nicht die Wahlhandlung unterscheidet rationale von konstruktiven Handlungstheorien, sondern die Generierung der Präferenzen. Grund genug, die Prozesse der Interaktion und Interpretation während des Handelns noch genauer zu betrachten. Sie werden im Folgenden unter dem Begriff des sozialen Handelns näher beschrieben und mit der Rolle von Wissen für die Konstruktion von Situationen und allgemein der Wirklichkeit erläutert. Soziale Interaktion lässt sich nicht ohne ihre Einbettung in übergreifende soziale Strukturen und Prozesse verstehen. Denzin und Blumer verlangen in ihren methodologischen Programmen, die sie aus den Grundannahmen des symbolischen Interaktionismus entwickeln, die Einbeziehung des größeren sozialen Kontextes in die Erforschung von Handlungen und Interaktionen (Denzin 1969 : 926, Blumer 1973 : 143). Strukturen entstehen in deren Verständnis durch immer wieder reproduziertes Handeln, folglich durch die oben beschriebenen Habitualisierungsprozesse, die jeder Institutionalisierung vorausgehen müssen. Hier wird dieser streng interpretativen Sichtweise von Institutionen als »Dauerleistungen menschlicher Akteure« (Lau 1978 : 113) noch ein zweiter Aspekt hinzugefügt. Institutionen sind auch im Sinne von Berger/ Luckmann zu verstehen: Sie betrachten Institutionen ebenfalls als »Teil gesellschaftlicher Ordnung« und als »menschliche Produkte und Konstruktionen« (Berger/ Luckmann 1969 : 62). Sie sprechen ihnen aber insofern eine Objektivität zu, als Institutionen durch ihre Objektivierung eine eigene Wirklichkeit erhalten und nach ihrer Objektwerdung dem Menschen als »äußeres, zwingendes Faktum« (ebd.) gegenüberstehen. Institutionen sind in ihrer zeitlichen Dimension der Entstehung zu begreifen und weisen in ihrer fortwährenden Reproduktion sowohl Beharrungstendenzen auf als auch Rückwirkungen auf das Handeln der Akteure. Institutionen und das Handeln <?page no="77"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 78 78 3. Sozialkonstruktivismus der Akteure stehen somit in einem dialektischen Verhältnis, das viele der Rezipienten von Berger/ Luckmann als Strukturdeterminismus fehlinterpretiert haben und damit ihren Begriff der Institution in den Status des extern vorgegebenen Objektes rücken. Dies ist jedoch mitnichten der Fall, weshalb institutionelle Arrangements vorliegend in zweifacher Weise gefasst werden: Zum einen wird mit einem engen Institutionenbegriff gearbeitet, der diese als Regelwerke und Verfahrensweisen definiert (vgl. Mayntz/ Scharpf 1996 : 45 f.). In dieser Definition strukturieren sie den Handlungsraum für Akteurshandeln. Ihnen wird dadurch jedoch keine determinierende Wirkung zugesprochen. Die Beschreibung des Handlungsraums erweist sich als nötig, um das mögliche Handeln der Akteure herauszuarbeiten. Zum anderen werden Institutionen in ihrer kognitiven Dimension erfasst. Durch ihr Entstehen, ihre Stabilisierung und ihre Weiterentwicklung aufgrund gemeinsamer Konstruktionen der Wirklichkeit durch die Akteure enthalten sie generalisierte Bedeutungen und signifikante Symbole. Institutionen sind somit Träger von Wissensbeständen und paradigmatischen Orientierungen (vgl. Lepsius 1995 : 395). Durch den sozialen Prozess der Entstehung und Entwicklung erhalten Institutionen zudem ihre innere Logik und damit ihre Legitimation. In der Vorstellung von Berger/ Luckmann wirken Institutionen dabei vor allem durch diesen gesellschaftlich vermittelten Wissensvorrat. Die spezielle Konstruktion und inhaltliche Füllung der einzelnen Institutionen wird von Eliten und sekundärem Wissen geleistet. Sie produzieren und benutzen Objektivierungen von Sachverhalten, die zu komplex sind, um sie immer von neuem zu beurteilen und greifen dabei auf komplexe Symbole-- unter anderem in Form von Paradigmen-- zurück. March/ Olsen (1989 : 160 ff.) sprechen in diesem Zusammenhang sogar von einer »sich bildenden Identität« der Institutionen. Auf dieser Annahme baut ihr Konzept des angemessenen Verhaltens (appropriate behaviour) auf, das Akteurshandeln durch die institutionelle Identität beeinflusst sieht. Dies geschieht durch Praktiken und Regeln, die das angemessene Verhalten innerhalb der Institution definieren. Die bisher durchgeführte Erörterung der Prämissen des Kapitels geschah deshalb so ausführlich, weil die Konzeption des Ansatzes die Weichen stellt für die Operationalisierung und die spätere Analyse des empirischen Erklärungsgegenstandes, also des Handelns regionaler Akteure im Rahmen der europäischen Strukturfondsförderung. Damit rückt das generierte Wissen in Form von Ideen in den Mittelpunkt. Ideen entfalten ihren Einfluss, indem sie in Form von Weltbildern, Symbolen oder Paradigmen in die Handlungsorientierung der Akteure eingebaut werden. Wenn nun die Mobilisierung des Wissens über Konstruktionen der Wirklichkeit als Grundlage sozialen Handelns unter Zuhilfenahme von Symbolen und Ideen geschieht, dann treten die Entstehung und der Wandel dominierender Deutungen und Deutungsmuster in den Fokus der Betrachtung. Dabei kommt die Frage auf, ob und wie alternative Deutungen auf traditionell vorherrschende Deutungsmuster wirken und wie sich neue gegenüber traditionellen Ideen durchsetzen. <?page no="78"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 79 3.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 79 Zwei Vorleistungen sind vor der empirischen Untersuchung bzw. Annäherung an eine Antwort an dieser Stelle zu erbringen: ● ● Zunächst muss der Begriff des Symbols bzw. der Idee operationalisiert werden, mit dessen Hilfe die Akteure Situations- und damit Problemdeutungen bewältigen. ● ● Anschließend müssen die Handlungsorientierungen und die habitualisierten Interaktionen der handelnden Akteure konzeptuell erfasst werden. Dies soll im Folgenden durch die Beschäftigung mit den Begriffen der Symbole, Ideen, Weltbilder und Paradigmen sowie mit der Erarbeitung des Konzeptes des Politikstils geschehen. 3.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem sozialkonstruktivistischen Ansatz Die Strukturfondsförderung der Europäischen Gemeinschaft soll vorliegend vor allem unter dem Gesichtspunkt untersucht werden, ob ihre inhaltliche Ausrichtung sich in Veränderungen der Länderpolitiken niederschlägt. Dahinter steht die These, dass die EG ihre Ansätze sogenannter »neuer Formen des Regierens« mittels ihrer inhaltlichen und finanziellen Angebote vermittelt. Dabei hat sie ihren Policy-Kanon auf der europäischen Ebene im Jahr 1975 um die Strukturfondsförderung erweitert. Dies entsprach dem Ziel, langfristig eine größere ökonomische Konvergenz zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zu erreichen. Als Instrument wurde insbesondere der Regionalfonds (EFRE) eingesetzt. Daneben dienten die bereits bestehenden Sozial- (ESF) und Agrarfonds (EAGFL) ebenfalls strukturpolitischen Maßnahmen. 28 Im Gegensatz zu den letztgenannten Strukturfonds, die auf spezielle Probleme oder Sektoren gerichtet waren, sollte über die Bereitstellung von Fördermitteln für sogenannte Problemgebiete mit dem Regionalfonds aktiv in die wirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedstaaten eingegriffen werden. Anfangs in den 1970er Jahren als klassische Ausgleichspolitik gestartet, entwickelte sich die Strukturfondspolitik mit der Reform Ende der 1980er Jahre 29 zu einer europäischen Politik, die weit in die Gestaltung der mitgliedstaatlichen Regionalpolitiken eingriff. Ihre zentralen Strukturprinzipien waren diejenigen (1) des Programmansatzes; (2) der Partnerschaft; (3) der Addi- 28 Die drei Strukturfonds werden im Jahre 1993 durch den Fischereifonds (Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei (FIAF)) ergänzt, auf den im Weiteren jedoch nicht eingegangen wird. Gleiches gilt für den 1992 auf Grundlage des Maastrichter Vertrages geschaffenen Kohäsionsfonds, der für die Mitgliedstaaten Spanien, Portugal, Griechenland und Irland Finanzbeihilfen für den Ausbau transeuropäischer Netze in den Bereichen Umwelt und Verkehr bereitstellt. 29 Zur Untersuchung der Verhandlungen im Rahmen der Reform von 1988 vgl. das Kapitel zum (liberalen) Intergouvernementalismus. <?page no="79"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 80 80 3. Sozialkonstruktivismus tionalität; sowie (4) das Prinzip der Subsidiarität. 30 In diesem Kapitel soll vor allem die Idee der Partnerschaft im Fokus der Analyse stehen. Die zentrale Fragestellung lautet hierbei: Warum und unter welchen Bedingungen wird die Idee der Partnerschaft als eine europäische Herausforderung auf regionaler Ebene aufgenommen und ist dabei eine Änderung der Politikgestaltung zu verzeichnen? Dies ist gleichsam die Frage nach der Diffusion von Ideen von einer Ebene auf eine andere. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Partnerschaftskonzept in den einzelnen regionalen Kontexten jeweils anders aufgenommen wird und sich dementsprechend auch unterschiedliche Veränderungen ausmachen lassen. Für die Operationalisierung des Begriffs »Idee« ist eine den Prämissen des interpretativen Paradigmas entsprechende Definition, die der Funktion von Ideen gerecht wird, wichtig. Dies liegt darin begründet, dass europäische Ideen zur regionalen Entwicklung und Durchführung der Strukturfondspolitik integraler Bestandteil der europäischen Regionalpolitik sind. Dementsprechend identifizieren wir als abhängige Variable die regionale Anpassung an die Idee der Partnerschaft als eine europäische Herausforderung in der Strukturfondspolitik (AV). Dem folgend lassen sich Ideen verstehen als: ● ● Leit- und Grundgedanken der handelnden Akteure; ● ● Abbildungen von Objekten, Problemen etc.; ● ● sinnstrukturierende Konstruktionen der Wirklichkeit; ● ● Reduktionsmechanismen für die Komplexität der Welt. Da die mit diesen Funktionen verbundene Definition von Ideen als Sinnstrukturen zwar für die allgemeine Verständigung über das Konzept hilfreich, für die empirische Arbeit hingegen noch nicht konkret genug ist, soll die weitergehende Analyse eine Abstraktionsebene tiefer vollzogen werden. Um empirisch handhabbare Einheiten für die vorliegend gewählte Fragestellung zu identifizieren, wird auf den oben bereits eingeführten Begriff des Paradigmas zurückgegriffen. Unter Paradigma wird allgemein ein Leitgedanke oder ein anerkanntes Muster (vgl. Kuhn 1976) verstanden. 31 Mit seiner Hilfe gelingt es dem Handelnden, den Interpretations- und Interaktionsprozess der Konstruktion der Wirklichkeit zu bewältigen und logisch zusammenhängende kognitive Deutungen oder Wissensvorräte mit einer Art Kurzformel zu belegen, um auf 30 Zur Entwicklung der Strukturfondsförderung seit 1975 vgl. das Kapitel zum zivilgesellschaftstheoretischen Ansatz. 31 Die Denkbilder von Opp de Hipt (1987), die er als »Sichtweisen von ›etwas‹, die auf der Interaktion mindestens zweier an Begriffe gebundener commonplaces beruhen« (ebd.: 63) bezeichnet, weisen in die gleiche angezeigte Richtung. Inhaltlich ebenso adäquat wäre der Begriff der impliziten Theorien (vgl. Hofmann 1993), der jedoch semantisch eher verwirrend wirkt. <?page no="80"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 81 3.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 81 diese Weise komplexe Zusammenhänge knapp zu fassen und in logischen Verbindungen zu veranschaulichen. Umgesetzt wird das Identifizieren von Paradigmen dabei auf folgende Weise: Der Begriff des Paradigmas ist durch das Zusammenwirken verschiedener Strukturelemente bestimmt. Er beinhaltet zum einen Annahmen über den Charakter der Grundeinheiten des zu lösenden Problems. Man geht davon aus, dass bestimmte Deutungen über das Wesen eines Gegenstandes logisch mit der Definition des mit ihm einhergehenden Problems verbunden sind. Problemdefinitionen präjudizieren wiederum mögliche Problemlösungsstrategien. In den Problemdefinitionen und den verbundenen Lösungsstrategien enthalten sind Vorstellungen über die zugrundeliegenden Normen, Prinzipien und Rationalitätskriterien für ein dem Problem angemessenes Verhalten. 32 Übertragen wir nun diese Herangehensweise auf unser empirisches Beispiel: Dabei müssen wir grundsätzlich davon ausgehen, dass regionale Akteure vorwiegend mithilfe von routinisierten und traditionellen Handlungsweisen agieren. Dies lässt sich sowohl an den paradigmatischen Handlungsorientierungen der Akteure ablesen als auch an den durch dieses Handeln erzeugten Beziehungsstrukturen der Akteure untereinander. Treffen neue Paradigmen, z. B. in Form der angebotenen immateriellen Ressourcen der europäischen Ebene, auf dieses traditionelle Handeln, so wird die Anschlussfähigkeit der neuen Paradigmen an das regionale Handeln der Akteure von bereits vorhandenen Anknüpfungspunkten abhängen. Je mehr Ähnlichkeiten sich in den Strukturelementen der paradigmatischen Handlungsorientierungen der regionalen Akteure finden lassen, desto wahrscheinlicher wird die Aufnahme der neuen Angebote und desto leichter fällt den Akteuren der Umgang mit den neuen Orientierungen sowie deren Umsetzung in regionales Handeln. Mit Schütz könnte man auch formulieren, dass die Angebote der europäischen Ebene die aktuellen Relevanzsysteme der regionalen Akteure verändern. Sie tun dies, indem sie neue Um-zu-Motive in die alternativen Handlungsorientierungen einführen. Regionale Akteure müssen auf die Angebote der EU reagieren, da sie direkt davon betroffen sind. Es kommt nun darauf an, inwieweit die regionalen Akteure bereits Weil-Motive gebildet haben, die bei der Neustrukturierung des Relevanzsystems helfen, um auf die neuen Um-zu- Motive zu reagieren. Diese These wird auch dem oben erwähnten Ansatz von March/ Olsen gerecht: Dieser erklärt den institutionellen Wandel mit der Angemessenheit des neuen institutionellen Verhaltens im Lichte der bereits bestehenden institutionellen Identität. Entsprechend der »logic of appropriateness« (March/ Olsen 1989) wird neues Verhalten nur übernommen, wenn es dem traditionellen Verhalten in der Institution und damit deren Identität sowie den vorherrschenden Normen angemessen ist. Wandel ist bei March/ Olsen daher nur in begrenztem Ausmaß möglich und vollzieht sich eher inkrementell. 32 Kohler-Koch belegt die hier unter dem Begriff der Paradigmen zusammengefassten Strukturelemente mit dem Begriff des Handlungsregimes (1996 : 17). <?page no="81"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 82 82 3. Sozialkonstruktivismus Mit Blick auf den Veränderungsprozess in der jeweiligen Region ist damit die Kompatibilität der regionalen Routinen und Paradigmen mit den europäischen Anforderungen ein wichtiger Aspekt, welcher als hier als erste unabhängige Variable konzeptualisiert werden soll (UV 1 ). Die erste und auf diese Variable bezogene Hypothese des vorliegenden Beitrags lautet wie folgt: H 1 : Ein entscheidender Faktor dafür, ob und wie eine Idee wahrgenommen und in Handeln umgesetzt wird, ist ihre Anschlussfähigkeit an traditionelle Deutungsmuster. Ob die Annahme eines neuen Konzepts oder einer neuen Idee als angemessen angesehen wird, so die vorliegende Argumentation, ist abhängig vom routinisierten Handeln der Akteure. In Hinblick auf die möglichen Ideenwirkungen soll diesem Zusammenhang mithilfe des heuristischen Werkzeuges »Politikstil« auf die Spur gekommen werden. Das Konzept des Politikstils wurde oft wegen seiner diffusen und unpräzisen Formulierung und Anwendung kritisiert (vgl. z. B. Kaase 1983). In der politikwissenschaftlichen Literatur und in der Genese des Begriffs benutzte man ihn für die Typologisierung institutioneller und prozessualer Strukturen, normativer und kognitiver Orientierungen sowie für Verhaltens- und Handlungsweisen. 33 Die konkrete Einführung des Politikstilbegriffs war verbunden mit der Frage »Does ›nation‹ matter? « und der Diskussion um signifikante Unterschiede zwischen Nationalstaaten in der Art und Weise, mit der die Bürokratie Regulierungsmaßnahmen vorbereitet und implementiert sowie ihre Interaktion mit Repräsentanten der betroffenen Interessengruppen ausgestaltet. Die Frage nach nationalspezifischen Mustern von öffentlichen Politiknetzwerken und Politikstilen stand dabei im Mittelpunkt (vgl. van Waarden 1993b). Der hier verwendete Begriff des Politikstils soll wie folgt entwickelt werden: Die wichtigste Besonderheit eines Politikstils ist seine Abgrenzung gegenüber Einzelentscheidungen. Bereits Richardson/ Gustafsson/ Jordan operationalisieren den Begriff als »different systems of decision-making, different procedures for making societal decision« (Richardson/ Gustafsson/ Jordan 1982 : 2). Dieses Verständnis als vorherrschende Policy-Routinen unterstreichen auch Feick/ Jann, da für sie ebenfalls nicht kurzfristigem Wandel unterworfene Interessenkonstellationen und situative Orientierungen im Vordergrund stehen, sondern solche, die als »traditionell verankerte kognitive und normative Perspek- 33 Zur expliziten Verwendung des Begriffs Policy- oder Politikstil vgl. z. B. Richardson/ Gustafsson/ Jordan 1982, Freeman 1985, Vogel 1986, Sturm 1985 und 1987, Feick/ Jann 1988, van Waarden 1992a und 1992b, 1993b und 1995 sowie zu dem verwandten Konzept der politisch-administrativen Kultur vgl. Jann 1986, Mayntz et al. 1982, Lehmbruch 1991, van Waarden 1993a. <?page no="82"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 83 3.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 83 tiven zeitliche Stabilität aufweisen« (Feick/ Jann 1988 : 210). Akteure greifen aufgrund des Mangels an Zeit und Information, der Mehrdeutigkeit von Präferenzen und eines unvollkommenen Verständnisses kausaler Beziehungen somit zur Reduktion von Komplexität sowie auf Routinen und »standard operating procedures« (Richardson/ Gustafsson/ Jordan 1982 : 2) zurück. Sind Entscheidungen unter solcher Unsicherheit einmal getroffen und zeigen sie auch nur minimale Erfolge, werden sie stets aufs Neue wiederholt. Mitglieder einer Organisation lernen von der Vergangenheit und geben die so gewonnenen Erfahrungen an Mitarbeiter und Nachfolger innerhalb der Organisation weiter, was Veränderungen durch das Festhalten an vertrauten Lösungen erschwert und oft nur inkrementell realisierbar werden lässt (van Waarden 1995 : 335). Dieses Verständnis entspricht dem hier vertretenen interpretativen Paradigma. Im Konzept müssen sowohl die zentralen Paradigmen und Deutungsmuster für das Handeln erfasst werden als auch die Folgen der Handlungen, wie sie sich in habitualisiertem Handeln ablesen lassen. Eine allgemeine Definition von Politikstilen könnte somit wie folgt lauten: Politikstile sind beschreibbar als ein sich nicht in einer hierarchischen Rangordnung befindliches Set von dominanten ● ● (kognitiven) Deutungsmustern und Paradigmen; ● ● Mustern von Akteursbeziehungen; ● ● sowie Routine-Problemlösungsmechanismen, die sich auf Dauer in einem spezifischen Handlungsraum verfestigt haben. Ist man bereit, sich dieser Definition anzuschließen, überwindet man damit die Fokussierung auf vorrangig institutionelle Merkmale als kausale Erklärungsfaktoren für die Ausgestaltung von Politikfeldern. Auf diese Weise ist eine Festlegung der Politikstilanalyse auf nationale Stile nicht mehr zwingend notwendig, die Analyse unterschiedlicher Politikstile auch auf anderen politischen Ebenen ist ebenso denkbar. Die Frage, ob nationale oder regionale Politikstile existieren, ist somit primär empirischer und nicht theoretischer Natur. Der zweite Erklärungsfaktor im regional vorherrschenden Politikstil lässt sich in seiner konkreten Ausprägung bezüglich der Strukturpolitik erkennen, der je nach Typus-- also traditionell vs. integriert dialogorientiert-- den Anpassungsprozess regionaler Akteure eher erschwert oder begünstigt (UV 2 ). In Bezug auf diese unabhängige Variable wird vorliegend folgende These formuliert: H 2 : Regionale Politikstile üben in ihrer Beständigkeit einen Einfluss auf die Anpassung an die europäische Strukturpolitik aus. Sie sind mitverantwortlich dafür, was auf regionaler Ebene als angemessenes strukturpolitisches <?page no="83"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 84 84 3. Sozialkonstruktivismus Konzept angesehen und was im Deutungsprozess als Handlungswahl selektiert wird. 34 Diese These soll am Beispiel der Strukturfondsförderung in Niedersachsen geprüft werden. Die Analyse des regionalen Routinehandelns sowie der vorherrschenden Paradigmen und Handlungsorientierungen soll dabei helfen, den Politikstil des Landes mit Blick auf die regionale Strukturfondsförderung in einen der beiden erarbeiteten Typen einzuordnen. Die jeweils gefundenen regionalen Politikstile sind für die Nutzung der europäischen Angebote durch die regionalen Akteure von Bedeutung, weil sie in nicht unerheblichem Ausmaß den Anpassungsprozess des niedersächsischen regionalen Handelns an die europäischen Herausforderungen beeinflussen. Diese Hypothese wird zum einen durch die Analyse der europäischen Strukturfondspolitik und ihre Einordnung in einen der beiden Typen sowie in der Untersuchung des Zusammentreffens der niedersächsischen Routinen und Paradigmen mit den europäischen Anforderungen zu bestätigen oder falsifizieren sein. Dabei ist davon auszugehen, dass ein Anpassungsprozess umso leichter für die regionalen Akteure ausfällt, je mehr Anknüpfungspunkte sie in ihrem Politikstil für die Angebote von außen aufweisen. Um die Hypothese zu bearbeiten, werden zu Beginn der Analyse die paradigmatischen Idealtypen von Akteurshandeln im Politikfeld der Regionalpolitik herausgestellt, jeweils bezogen auf eine Region. Zur Darstellung wird die Region Niedersachsen gewählt und mithilfe von zwei Idealtypen charakterisiert. Die beiden Idealtypen zeigen die Entwicklung von einer traditionellen Regionalpolitik hin zu neuen Formen der integrierten und dialogorientierten Strukturpolitik auf. Anschließend geht es um die europäischen Angebote an paradigmatischen Orientierungen für das regionale Handeln. In einem letzten Teil folgt die Analyse des Aufeinandertreffens der regionalen Politikstile und der neuen, von der europäischen Ebene ausgehenden paradigmatischen Orientierungen. Darin wird zuerst erörtert, in welchem Ausmaß die regionalen Akteure von den Angeboten innerhalb des Politikfeldes betroffen sind und wie sie in Form von Anpassungsmaßnahmen bisher darauf reagiert haben. In der Diskussion existieren zwei Haupttypen von Regional- oder Strukturpolitik, die voneinander unterschieden werden können. 35 Zum einen lässt sich die traditionelle Regionalpolitik »von oben« betrachten, wonach sie an globalen Wachstumszielen orientiert ist und versucht, durch ökonomische Subventionen für Unternehmen sowie die Neuansiedlung von Betrieben Wachstumseffekte in den Regionen zu erzielen. Diese Sichtweise wurde von der sogenannten »Export-Basis-Theorie« untermauert. Dabei handelt es sich 34 Bei der Konstruktion der beiden unabhängigen Variablen haben wir bewusst deren inhaltliche Verknüpfung in Kauf genommen. Sie als eine Variable zu fassen würde den Zusammenhang zu komplex gestalten und die beiden unterschiedlichen Aspekte vermischen. 35 Einen guten Überblick gibt Kilper (1991). <?page no="84"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 85 3.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 85 um einen makroökonomischen Ansatz, der darauf basiert, dass Wirtschaftsentwicklung und -wachstum einer Region davon abhängig sind, inwieweit sie Einkommen aus dem Export ihrer Produkte in Gebiete außerhalb der Region realisieren können. Es geht dabei vor allem um die Informationsversorgung regionaler Unternehmen sowie die Einrichtung von Beratungsstellen und somit wird der Einsatz von Informationsmittlern oder »Informations-Brokern« vorgeschlagen (vgl. Ellwein/ Bruder 1982). Demgegenüber wurde Anfang der 1980er Jahre die Entwicklung endogener Potenziale als Reformmodell entworfen, das die innerregionalen Potenziale als Anknüpfungspunkt für eine Entwicklung der Region ansieht. Entsprechende Strategien zielen auf die Mobilisierung regional vorhandener Potenziale und die Organisation regionaler Interessenkoalitionen ab. Die Kategorie »endogenes Potenzial« war konstitutiv für eine querschnittliche, fachpolitikübergreifende Regionalpolitik, für die Werte wie politische Selbstbestimmung, Erfüllung sozialer Bedürfnisse, gesellschaftliche Kooperation und Umweltqualität der Maßstab von Entwicklung waren (vgl. Kilper 1991 : 6). Mit der »Theorie des regionalen Innovationspotenzials« (Ewers/ Wettmann 1980 : 9) leisteten Ewers/ Wettmann einen ersten Schritt zur Konzeptualisierung der Rolle des Raumes als Ursache interregionaler Unterschiede in der Innovationsleistung von Unternehmen, die auch im Konzept der integrierten dialogorientierten Strukturpolitik (vgl. Klepsch/ Legrand/ Sanne 1994) zum Ausdruck kommt. Die an endogenen Potenzialen orientierte Regional- und Strukturpolitik konzentriert sich auf die Verbesserung der regionalen Innovationsbedingungen und somit auf eine weiche Innovationspolitik bzw. Wirtschaftsförderung. Als endogene Potenziale werden hier neue Formen von Kooperation und Koordination in der Region gesehen, die aktiviert werden müssen, um günstige Voraussetzungen und Bedingungen für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft sowie für marktorientiertes und anpassungsfähiges wirtschaftliches Verhalten herzustellen und zu sichern (vgl. Lehner/ Nordhause-Janz 1989 : 123). Deutlich wird dies in den bevorzugten Strategien der Vernetzung öffentlicher und privater Akteure einer Region und der Verbundplanung zwischen einzelnen Gebietskörperschaften. Als Umsetzungs- und Koordinierungsinstrument hat sich in der Praxis die Erarbeitung regionaler Entwicklungskonzepte durchgesetzt, die sich im freiwilligen, kooperativen und sozialen Dialog der regionalen Akteure herauskristallisieren. Tabelle 5 bringt eine Zusammenfassung der beiden Modelle regionaler Entwicklung. Im Folgenden wird gezeigt, welchem dieser beiden Idealtypen die entsprechenden Konzeptionen der regionalen Struktur- und Wirtschaftsförderungspolitiken von EU und Niedersachsen eher zuzurechnen sind. In einem ersten Schritt soll nun eine Typologie unterschiedlicher Ansätze zur Strukturförderung entstehen. Dann wird empirisch zu klären sein, welchem Typ des Politikstils sich unser gewähltes empirisches Beispiel Niedersachsen sowie die europäische Strukturfondspolitik eher zuordnen lassen, weil nur auf diese Weise zuverlässige Aussagen über den Zusammenhang von regionalem Politikstil und Anpassungsprozess an paradigmatische Vorgaben der EU getroffen werden können. <?page no="85"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 86 86 3. Sozialkonstruktivismus Tabelle 5: Charakteristika zweier Typen von Strukturförderung 36 Dimension traditionelle Strukturpolitik (»von oben«) integrierte dialogorientierte Strukturpolitik Charakter und Definition der Entwicklung ● ● vorwiegend orientiert an exogenen Potenzialen (Export-Basis- Theorie); ● ● Informationsmittler ● ● orientiert an endogenen Entwicklungspotenzialen; ● ● Mobilisierung regionaler Potenziale; ● ● Organisation regionaler Interessenkoalitionen Rationalitätskriterien/ Normen ● ● Marktmodell (mit hierarchischen Steuerungs- und Unterstützungselementen); ● ● klare Aufgabenverteilung der öffentlichen und privaten Akteure; ● ● hierarchische Ziel- und Mittelvorgabe ● ● Vernetzungs- und Kooperationsmodell; ● ● gemeinsame Problemsicht; ● ● gemeinsame Leitbildorientierung; ● ● vertrauensvolle Zusammenarbeit öffentlicher und privater Akteure; ● ● Subsidiaritätsprinzip innerhalb der Entscheidungsstrukturen Politische Interventionsmodi ● ● hierarchische Politikgestaltung und Planung für die Region; ● ● Vollzugsföderalismus-- Realisierung des Programms ungeachtet der regionalen Spezifika; ● ● »Gießkannenförderung« ● ● kooperatives und koordinierendes Miteinander in der Politikgestaltung der verschiedenen Ebenen-- Planung in und mit der Region; ● ● gezielte regionale Förderung Förderprinzipien und -maßnahmen ● ● Anwerbung von externem Kapital und Management; ● ● bevorzugte Förderung von einzelbetrieblichen Investitionen und wirtschaftsnaher Infrastruktur ● ● bevorzugte Förderung von Initiativen »von unten« im Planungs- und Implementationsbereich (regionale Entwicklungskonzepte); ● ● Verbundprojekte; ● ● fachpolitikübergreifende Projekte und Bündelung von Fördertöpfen; ● ● integrierte Entwicklungskonzepte Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Knodt 1998 : 140 35 Die Idealtypen wurden auf der Grundlage der Sekundärliteratur über regionale Strukturpolitik (vgl. vor allem Kilper 1991) entwickelt. Darin eingeflossen sind die Diskussionen um Konzepte der Regionalentwicklung aus den 1980er Jahren (unter anderem Ewers/ Wettmann 1980, Ellwein/ Bruder 1982 und Brugger 1984), die Konzepte der Entwicklung endogener Potenziale (unter anderem Lehner/ Nordhausen-Janz 1989) sowie der neueste Diskurs über integrierte dialogorientierte Strukturpolitik (unter anderem Klepsch/ Legrand/ Sanne 1994). Daneben wurden Überlegungen zur Regionalisierung der Regionalpolitik (Fürst 1990 und 1993) ebenso miteinbezogen wie die Diskussion um die Reform der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« (GRW) (Ziegler 1995; Deutscher Bundestag 1995). <?page no="86"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 87 3.3 Erklärung aus Sicht des Sozialkonstruktivismus 87 3.3 Paradigmen der europäischen und regionalen Strukturpolitik Ausgangsbedingungen der integrierten dialogorientierten Strukturfondsförderung in Niedersachsen In der Politik wie in der wissenschaftlichen Literatur wurde Niedersachsen in der Gestaltung seiner regionalen Wirtschaftsförderung meist als Nachzügler betrachtet, der oft auf Konzepte anderer Länder zurückgreift. Allerdings gibt es einige niedersächsische Besonderheiten, die es zu beachten gilt: Das Land kann seit Entstehung als strukturschwach eingestuft werden und konzentrierte sich daher in seiner Wirtschaftsentwicklung und -förderung auf die »nachholende« Industrialisierung. Seit 1990 lassen sich positive Ansätze in der Entwicklungsdynamik des Landes ausmachen, die zeitgleich mit einer Regionalisierung der Regionalpolitik einhergingen und das wissenschaftliche Interesse an Niedersachsen haben wachsen lassen (vgl. Sturm/ Jeffrey 1992). In einer detaillierten interpretativen Darstellung verschiedener Facetten der niedersächsischen Regionalpolitik werden Anhaltspunkte für die Einordnung des Landes als eher dem Typ der integrierten dialogorientierten Strukturpolitik zugehörend gegeben. Die Anfänge der niedersächsischen Raumordnung nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren in den 1950er Jahren durch eine weitgehend landwirtschaftliche Schwerpunktbildung geprägt. Allgemein spielte die Landesplanung nur eine geringe Rolle. Sie war als Referat der Abteilung Kommunalwesen dem Innenministerium zugewiesen und behielt diese überaus bescheidene und wenig einflussreiche Position für lange Zeit über alle Trends und Regierungswechsel hinweg bei. 37 So wies das Niedersächsische Gesetz über Raumordnung und Landesplanung (NROG) 1966 weiterhin das Innenministerium als oberste, den Regierungspräsidenten als obere sowie die Landkreise und kreisfreien Städte als untere Landesplanungsbehörden aus. Das NROG findet deshalb hier Erwähnung, weil es im Sinne der Einordnung Niedersachsens in die Typologie erste Ansätze zu einer kooperativen Regionalpolitik zeigt, wie sie erst Jahre später (1988) von der EG-Strukturfondsförderung in Form des Partnerschaftsprinzips gefordert wurde. Eine bereits zu einem so frühen Zeitpunkt beginnende Tradition der kooperativen Regionalpolitik kann, so die vorliegende Annahme, eine spätere Anpassung an die Vorgaben der EU wesentlich erleichtern. Wenn auch die Erfolge bescheiden blieben, so ist doch zu vermuten, dass die Bemühungen der niedersächsischen Landesregierung nicht ohne Folgen für die Aufnahme der Partnerschaftsidee geblieben sind. Das NROG stellte dem Innenministerium und den Regierungspräsidenten »Planungsbeiräte« für die partnerschaftliche 37 In allen anderen Flächenländern der Bundesrepublik nimmt die Landesplanung zumindest den Rang einer besonderen Abteilung ein. <?page no="87"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 88 88 3. Sozialkonstruktivismus Beteiligung der Träger öffentlicher Belange zur Seite, die gegenüber den Landesbehörden zwar kein Mitentscheidungsrecht hatten, aber an allen größeren Planungen und Maßnahmen beteiligt werden mussten. Trotz fehlender rechtlicher Verantwortung konnten die Beiräte durch ihre ausgewogene Zusammensetzung-- in ihnen vertreten waren Kreise, Städte und Gemeinden, Kammern, Naturschutzverbände, Gewerkschaften und Arbeitgeber-- ihren Stellungnahmen Gewicht verleihen. Weitere Möglichkeiten kreisübergreifender Kooperation und Planung waren durch die Instrumente der »Entwicklungsprogramme« für »besondere Planungsräume« und der »Planungsgemeinschaften« zwischen Landkreisen und kreisfreien Städten zur gemeinsamen Planung von Entwicklungsprogrammen (NROG 66) gegeben. Von dieser Neuerung machte man allerdings keinen regen Gebrauch, obwohl sie die besten Ansatzpunkte für eine Kooperation und Koordination der Gebietskörperschaften auf der Kreisebene und darüber hinweg bot. Inhaltlich wurde das NROG durch das 1969 vorgelegte »Niedersächsische Landesraumordnungsprogramm 1969« (NLROP 69) gefüllt, das vor allem zwei bemerkenswerte Punkte enthielt: Zum einen die Festlegung, dass die meist noch aus dem 17. Jahrhundert stammenden und bis zur Gebietsreform 1974 bis 1978 durch vielfältige Verschachtelung und Verklammerung gekennzeichneten Verwaltungsgrenzen bei der Planung gegenüber naturräumlichen, sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhängen in den Hintergrund zu treten hatten- - was einer enormen Reduktion des Verwaltungsaufwandes gleichkam. Zum anderen führte das Programm die »funktionsräumliche Arbeitsteilung« als raumordnerisches Prinzip im Sinne Weyls ein (Weyl 1991 : 210 f.). Eine Neufassung des NROG brachte im Jahre 1974 eine bedeutende Neuheit, die es in dieser Form in keinem anderen Land gab: Als Träger der Regionalplanung fungierten sowohl die oberen Landesplanungsbehörden (Regierungsbezirke) als auch kommunale Körperschaften. Dieses Nebeneinander von staatlichen und kommunalen Trägern der Regionalplanung für das gesamte Territorium des Landes institutionalisierte eine bis dahin nur auf der Grundlage von Sondergesetzgebung existierende Mischform, die im Großraum Hannover und darauf folgend im Großraum Braunschweig Anwendung fand. Dieses Prinzip der Kommunalisierung war sowohl grundlegend für die stattfindende Verwaltungs- und Gebietsreform, in deren Verlauf die damals noch acht Regierungsbezirke auf vier und die bislang 62 Landkreise auf 38 reduziert wurden, als auch für die erneute Weiterentwicklung des NROG 1977/ 78, mit der die Trägerschaft der Regionalplanung gänzlich auf die Landkreise und kreisfreien Städte überging. Die Regierungspräsidenten als obere Planungsbehörde waren damit auf die reine Rechtsaufsicht über die Träger der Regionalplanung beschränkt, ihre bisherigen eigenen Planungsbefugnisse wurden ihnen entzogen. Mit der Regierungsübernahme der CDU/ FDP-Regierung im Jahr 1976 setzte sich der Trend zur Übertragung von Steuerungsaufgaben auf die kommunale Ebene verstärkt fort. Deutlich zeichnete sich die Umgewichtung zugunsten der gemeindlichen Eigeninteressen gegenüber der Landes- und Regionalplanung ab. Das bisherige Ziel der Raumordwww.claudia-wild.de: <?page no="88"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 89 3.3 Erklärung aus Sicht des Sozialkonstruktivismus 89 nung, nämlich die Entwicklung des Landes auf leistungsfähige Schwerpunkte, Schwerpunkträume und Vorranggebiete für besondere räumliche Funktionen zu konzentrieren, wurde durch eine gleichmäßige Förderung der Entwicklung ländlicher Räume auf Kosten der Entwicklung der Verdichtungsräume abgeändert. Die neue landespolitische Vorgabe, gepaart mit den Schwierigkeiten in der Umsetzung der Vorgaben durch die Gebietsreform, brachte in Form eines Runderlasses des Innenministeriums 1980 de facto die Zurücknahme der Landesplanung in Niedersachsen (vgl. Weyl 1991 : 218 ff.). Dies ging mit einer Kommunalisierung bzw. Dezentralisierung der Steuerung der Regionalpolitik auf Grundlage einer liberalen ordnungspolitischen Orientierung einher. Beide Komponenten sind wichtig, um den Charakter der regionalen Wirtschaftsförderung und Regionalpolitik dieser Zeit zu verstehen. Mit der Ablösung der Regierung durch die rot-grüne Landesregierung im Jahr 1990 änderte sich dann zwar die ordnungspolitische Orientierung, nicht aber der dezentrale Ansatz der Politik. Letzteres spielt für den Typ der integrierten dialogorientierten Strukturpolitik eine nicht unerhebliche Rolle, weswegen an dieser Stelle explizit auf diesen Aspekt hingewiesen wird. Nach dem Regierungswechsel 1990 von Ministerpräsident Albrecht (CDU) zu Ministerpräsident Schröder (SPD) und der rot-grünen Koalition wurde die Bedeutung subregionaler Einheiten für die Raumordnungspolitik weiter gestärkt, inhaltlich jedoch mit leicht geänderter Ausrichtung. Zur Ablösung der CDU/ FDP-Regierung hinzu kamen dabei die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Rahmen der allgemeinen abflauenden Konjunktur mit zum Teil spezifisch niedersächsischer Ausprägung. Der Regierungswechsel brachte noch keinen durchgreifenden Umbruch der Industriepolitik. Die Koalitionsvereinbarungen legten das Schwergewicht auf die Regionalisierung der Wirtschaftsförderung. Zu dieser Zeit befand sich Niedersachsen in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs, der sich vor allem auf die Grenzöffnung und die deutsche Vereinigung zurückführen ließ. Damit war für die Regierung kein unmittelbarer Handlungsdruck gegeben, dieser entwickelte sich erst im Zuge der Rezession, die Niedersachsen mit zweijähriger Verspätung traf und auf die die rotgrüne Koalition mit den im Folgenden beschriebenen kooperativen Konzepten reagierte. Trotz dieser verspäteten Reaktion in einem Teilbereich der Landespolitik soll hier die These vertreten werden, dass sich mit dem Regierungswechsel 1990 zur rot-grünen Koalition die Entwicklung hin zu einer kooperativen Strukturpolitik beschleunigte, was sich in neuen Initiativen zuerst in der Regional- und dann in der Wirtschaftspolitik ausdrückte. Die Orientierung an einer eher integrierten und dialogorientierten Strukturpolitik erleichterte die Anpassung an die Angebote der europäischen Ebene erheblich, da sie ebenfalls diesem Typ entsprachen. Als Grundlage für die Entwicklung der regionalen Wirtschafts- und Strukturpolitik nach dem Regierungswechsel diente der Landesregierung das von ihr in Auftrag gegebene Gutachten »Niedersachsen 1990« des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung <?page no="89"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 90 90 3. Sozialkonstruktivismus und der Kienbaum Unternehmensberatung. Für Veränderungen schlugen die Gutachter der Landesregierung integrierte Ansätze unter anderem innerhalb folgender Bereiche vor: (1) Neuorientierung der Wirtschaftsförderung; (2) Wirtschaftsbetreuung und -bestandspflege sowie Industriepolitik; (3) Technologiepolitik und Forschungsförderung; und (4) Standortwerbung. Umgesetzt wurden die Gutachtervorschläge von der Landesregierung sowohl in inhaltlicher als auch in organisatorischer Hinsicht in Form des Konzeptes »Strategie 95«, das die längerfristigen Ziele und Strategien der Wirtschaftspolitik bis zum Jahr 1995 festlegte (Nds-MWTV 1992). Darin erklärte die Landesregierung die Regionalisierung zu ihrem Anliegen. Unter der Verantwortung des Wirtschaftsministeriums wurde die Regionalisierung mit einer funktionalen Begründung- - die Internationalisierung der Wirtschaft und vor allem die europäische Integration lassen die regionale Ebene bedeutender werden- - vorangetrieben (Schapper 1992 : 3). Hier wird eindeutig auf die Anpassungsleistung an die Herausforderungen der europäischen Ebene verwiesen. Durch die Nutzung regional spezifischer Standortprofile sollten wettbewerbsfähige Regionen und damit auch optimale Entwicklungschancen für das Land insgesamt geschaffen werden. Vom Ministerium nicht definierte Regionen im Lande sollten sich freiwillig organisieren und einen Dialog der verantwortlichen Akteure aus Verwaltung, Wirtschaft, Gewerkschaften, Wissenschaft, Umweltverbänden etc. über einen Themenkanon von der Strukturpolitik bis zur Kultur institutionalisieren. Organisationsform und räumliche Abgrenzung blieben ihnen überlassen. Die Bildung der Regionen sollte sich als offener Prozess aus der kommunalen Ebene entwickeln. Man wollte auf diese Weise sowohl die Kommunikation als auch die Kompromissfähigkeit in den Regionen entscheidend verbessern und auf eine breitere Akzeptanzbasis stellen (vgl. Danielzyk 1992 : 23). Die Kooperation aller gesellschaftlichen Gruppen sollte in der Form von Regionalkonferenzen die Eigenständigkeit der Regionen stärken und deren endogenes Potenzial mobilisieren (Nds-Wirtschaftsbericht 1995 : 35). Ausdrücklich bringt die Regierung ihren Willen zum Ausdruck, die bestehenden Defizite nicht in der Logik und den Konzepten der hierarchischen Steuerung zu beheben, sondern auf den Steuerungsmechanismus der dezentralen Kooperation zu setzen (vgl. Krumbein 1994 : 370). Von Anfang an waren die Initiativen der Landesregierung auf den Widerstand der Landkreise gestoßen, die weitgehende Eingriffe in ihre Planungshoheit abwehrten. Ohne die Initiative der Landesregierung wäre es durch die besitzstandswahrende Haltung der Landkreise und Gemeinden zu keinerlei kooperativer Regionalplanung gekommen. Die Besitzstandswahrung und das institutionelle Eigeninteresse der Kreise und Gemeinden verhinderten allerdings auch die erfolgreiche Realisierung der Landesinitiative. Durch den Ansatz der Regionalisierung mittels Selbstorganisation ohne ständige Begleitung seitens der Landesgremien war im Gegensatz zum Vorbild Nordrhein-Westfalen der gesamte Prozess von einer erheblichen Ungleichzeitigkeit bei der Bildung der Regionen gekennzeichnet (vgl. Krafft/ Ulrich 1993 : 32 f.). Zudem <?page no="90"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 91 3.3 Erklärung aus Sicht des Sozialkonstruktivismus 91 gelang es nicht, den gesellschaftlichen Gruppen neben der Dominanz der kommunalen Gebietskörperschaften im Entscheidungsprozess mehr Kompetenz einzuräumen (vgl. Danielzyk 1992 : 25). Insgesamt sollte deutlich geworden sein, dass man Niedersachsen in den Typ der integrierten dialogorientierten Strukturfondsförderung einordnen kann, wobei es erhebliche Probleme bei der Umsetzung gab. Damit ist der erste Schritt hin zur Bearbeitung der im vorliegenden Kapitel aufgestellten Hypothese getan. Wie sieht es nun mit der Typologisierung der europäischen Strukturfondsförderung aus? Strukturfondsförderung-- Angebote auf der europäischen Ebene In der Analyse der Strukturfondsförderung der EU wird sich zeigen, dass die Europäische Gemeinschaft den Schritt über die klassische Strukturpolitik hin zu integrierten dialogorientierten Förderinstrumentarien längst vollzogen hat. Sie gleicht in besonderem Maß dem Typ der integrierten dialogorientierten Strukturpolitik. Dies ist insbesondere deswegen der Fall, weil das neu eingeführte Prinzip der Partnerschaft bei der Strukturfondsreform insofern eine Schlüsselrolle spielte, als es für die Anwendung der anderen Grundsätze bestimmend war (vgl. Rat 1988). Konzipiert als enge Konzertierung zwischen Kommission, Mitgliedstaat und den von ihm bezeichneten zuständigen Behörden auf subnationaler Ebene, steht es somit in besonderem Maße für den Typ der integrierten dialogorientierten Strukturpolitik. Das Prinzip erstreckt sich auf die Vorbereitung, Finanzierung, Begleitung und Bewertung von Aktionen. Seit der Revision der Strukturfondsförderung im Jahre 1993 sind auch die Wirtschafts- und Sozialpartner in den Prozess der Programmplanung und Politikimplementation einschließlich Begleitung und Bewertung der Programme einzubeziehen. Dies bestärkt die oben vermutete Einordnung der europäischen Strukturpolitik in den kooperativen Typus. In einem nächsten Schritt sollen die paradigmatische Orientierung und der Politikstil Niedersachsens, die im Sinne der These eher dem kooperativen Typ zugeordnet werden, mit den Veränderungsprozessen verknüpft werden, die durch die Auseinandersetzung mit dem europäischen Angebot in den Regionen stattfinden. Eine der beiden zentralen Hypothesen des Kapitels geht ja davon aus, dass ein Anpassungsprozess umso leichter für die regionalen Akteure ausfällt, je größer die Kompatibilität des eigenen Politikstils mit den Angeboten von außen ist und dieser somit als angemessen gedeutet wird. Somit ließe sich davon ausgehen, dass Niedersachsen durch seine kooperativen Ansätze keine besonderen Schwierigkeiten mit den Vorgaben der Partnerschaft der europäischen Förderung hat, gleichzeitig aber durch die Relevanz des Angebotes auch unter einem hohen Anpassungsdruck steht. Im Folgenden soll daher die Umsetzung der europäischen Strukturfondsförderung in Niedersachsen betrachtet werden. <?page no="91"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 92 92 3. Sozialkonstruktivismus Die Implementation der Strukturfondsförderung in Niedersachsen Die Ziel-5b-Förderung (1994 bis 1999) nahm in Niedersachsen den größten Raum ein, während die Ziel-2-Förderung nur einigen kleineren Bereichen Anwendung fand (Nds-MWTV/ Sozialministerium 1994). Zuständig für die Durchführung der Förderkulisse war das Wirtschaftsministerium für die Ziel-2- und das Landwirtschaftsministerium für die Ziel-5b-Förderung. Niedersachsens Strategie für die Ziel- 2-Gebiete zielte vor allem auf zwei Aspekte ab: Zum einen sollte dem durch den Strukturwandel bedingten Abbau von Arbeitsplätzen entgegengetreten werden; zum anderen wurde die Schaffung einer stabilen und wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur angestrebt (vgl. Kommission 1995a: Anlage III-7). Angesichts des rückläufigen Potenzials ausländischer Direktinvestitionen setzte die niedersächsische regionale Entwicklungsstrategie auf die Förderung endogener Potenziale (vgl. Kommission 1995b). Betrachtet man die neuen Prioritäten gegenüber den angegebenen Strategien der Förderung in der Förderperiode 1989 bis 1993, so hat sich die neue Erarbeitung der Programmplanung von der nationalen Planung der Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« (GRW) gelöst (Nds-MWTV/ Sozialministerium 1994 : 91 ff.). Darüber hinaus kommt der Unterschied zu Maßnahmen der nationalen Programme in der Besonderheit des von der Kommission geforderten Querschnittscharakters der Maßnahmenbündel zum Ausdruck. In beiden Förderperioden standen den Fördermaßnahmen der eher traditionellen Strukturförderung-- wie z. B. der Förderung produktiver Investitionen-- Maßnahmen zu Beratungs- und sonstigen Diensten für kleine und mittlere Unternehmen (KMU), grenzüberschreitende Maßnahmen und Ausbildungsmaßnahmen zur Diversifizierung der Industriestruktur gegenüber. Mit diesen sektorübergreifenden Instrumentarien hatte besonders die GRW erhebliche Schwierigkeiten und öffnete sich nur bedingt diesen Prinzipien. Sicher auch dadurch entfernte sich-- ganz im Sinne der Annahme zum Zusammenhang zwischen Politikstilen und europäischen Angeboten-- die Konzeption des Landes von der GRW. Die Maßnahmen standen allerdings zu einem größeren Teil mit dem Ansatz des Landes in Einklang, wie er z. B. im »Programm zur Beschäftigungssicherung und Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der niedersächsischen Wirtschaft« (Nds-Wirtschaftsbericht 1994) beschrieben war. Die Förderschwerpunkte des Förderzeitraums 1994 bis 1999 wurden weitgehend aus dem Zeitraum 1989 bis 1993 übernommen. Die drei von der Kommission vorgegebenen Unterprogramme »Diversifizierung, Neuausrichtung und Anpassung des Agrarbereichs«, »Entwicklung und Diversifizierung der außerlandwirtschaftlichen Sektoren« und »Verbesserung und Diversifizierung der beruflichen Qualifikation« konkretisierte man in »Förderachsen«. In ihnen wurden im neuen Förderzeitraum 1994 bis 1999 die besonderen Schwerpunkte »Schutz der Umwelt«, »Entwicklung des Tourismus« und »Arbeitskräftepotenzial in Forschung und Technologie« deutlicher herwww.claudia-wild.de: <?page no="92"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 93 3.3 Erklärung aus Sicht des Sozialkonstruktivismus 93 vorgehoben als im zuvor aufgelegten Operationellen Programm. Geblieben war die Orientierung auf den Erhalt und die Entwicklung ländlicher Strukturen und die Verbesserung der Bedingungen für die landwirtschaftlich orientierte Produktion, wie auch die Verbesserungen der Rahmenbedingungen für außerlandwirtschaftliche Sektoren und die Maßnahmen zu Beschäftigungswachstum und Stabilität durch Qualifikationsmaßnahmen. In der Programmplanung fungieren die zuständigen Bundesministerien dabei lediglich als Vermittler bzw. »Durchreichstation«. Die eigentliche Planung und Erstellung der Förderkonzepte liegt seit der 1988er Reform bei dem jeweils zuständigen Ministerium auf Landesebene, das ebenso die Koordination anderer ebenfalls betroffener Ministerien innehat (vgl. Knodt 1998: Kapitel 5.4). In Niedersachsen ist das Wirtschaftsministerium für Ziel-2-Maßnahmen zuständig und das Landwirtschaftsministerium für die Ziel-5b-Förderung. Die Einbindung anderer durch die fondsübergreifende Gestaltung der europäischen Strukturpolitik betroffener Ministerien wurde im Rahmen des integrativen Ansatzes der EU-Strukturfondsförderung, der politikfeldübergreifend Maßnahmen zu verwirklichen sucht, explizit gefordert. In der konkreten Programmplanung wurden die beteiligten Ministerien ad hoc zur Abstimmung von Detailfragen und zur Informationsbeschaffung einbezogen. Eine gemeinsame Planung im Sinne eines gemeinsam zu erarbeitenden Konzepts, das Synergieeffekte zum Ziel hat, fand indes nicht statt: Das federführende Ministerium vollzog die Planung stets alleine. Wenn es zur Koordination im Kontext des Partnerschaftsprinzips kam, dann vor allem zwischen den Gebietskörperschaften und hauptsächlich aufgrund der unterschiedlichen Finanztöpfe und der nötigen Abstimmung in diesem Bereich oder zur Mithilfe in Spezialbereichen. Die Ausdehnung auf Sozialpartner bereitete dem Land jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Hierbei wurde deutlich, wie langsam die Umsetzung neuer Paradigmen in den Ländern stattfindet. Somit kann man auf den ersten Blick und in scheinbarem Widerspruch zur zentralen Hypothese dieses Kapitels sagen, dass die Übernahme der konkreten paradigmatischen Vorgaben der EU in den Ländern auch bei sehr ähnlicher paradigmatischer Ausrichtung Schwierigkeiten bereitet. Dies soll ein genauer Blick auf die Programmplanung und -implementation im Bereich der 5b-Förderung deutlich machen: In der Förderperiode 1989 bis 1993 leitete das Landwirtschaftsministerium selbst die Programmerstellung. Die Zuarbeit wurde an die Bezirksregierungen delegiert, das endgültige Programm dann im Ministerium zusammengestellt und geschrieben. Kreise und Kommunen waren nicht systematisch in den Prozess mit einbezogen, sondern deren Beteiligung den jeweiligen Bezirksregierungen überlassen. Zum Teil beauftragten sie dabei private Consultants zur Erarbeitung der Programmplanung, wie z. B. die Mcon GmbH in Oldenburg. Das Landwirtschaftsministerium hatte mit der neuen Förderperiode bis 1999 den Gedanken der Partnerschaft aufgenommen, jedoch nicht selbst umgesetzt (Interview 12.12.1995f, Knodt 1998). Auch in diesem Fall erhielt Mcon als privater Akteur den <?page no="93"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 94 94 3. Sozialkonstruktivismus Auftrag zur Programmplanung und Einbindung der Sozialpartner. 38 Ansonsten wurden allerdings keinerlei Maßnahmen ergriffen und letztlich kam es nicht zur Etablierung einer konkreten Zusammenarbeit (ebd.). Grafik 5 gibt Aufschluss über den Verlauf der Programmplanung der Strukturfondsförderung im Land. In der auf die Genehmigung der Programme durch die Kommission folgenden Implementationsphase setzen das Landesministerium sowie die untergeordneten 38 Die Programmplanung wurde in ähnlicher Weise auch für die Ziel-2-Förderung abgewickelt: Auch hier wurde ein Consultant, das Institut für Entwicklungsplanung und Strukturforschung (IES), ein der Universität Hannover angegliedertes Forschungsinstitut, zur Hilfe bei der Programmerstellung hinzugezogen. Das IES ist auch an der Planung der Ziel-3- und Ziel-4-Förderung des Sozialministeriums beteiligt. Bei der Abwicklung der Ziel-4-Förderung hilft die Landesgesellschaft zur Beratung und Information von Beschäftigungsinitiativen (LaBIB), die aus Landesmitteln und aus Mitteln der Technischen Hilfe des ESF finanziert wird. Sie hat neben einer Beratungsauch Planungs- und Fortbildungsfunktionen und betreut Landesprojekte wie die »Sozialen Betriebe« (vgl. Staeck 1996 : 93). Bundesministerien Landesministerien Kommission Bezirksregierung LaBIB Kreise + Gemeinden Kammern (IHK, HK, LK) Gewerkschaften, Verbände Unternehmen sonstige subregionale Akteure delegiert Koordinationsfunktion zur Porgrammplanung gegenseitige Information und Konsultation potentielle Maßnahmeträger geben auf Anfrage Stellungnahmen und Vorschläge zu den Programmangeboten Zuleitung des Einheitlichen Programmplanungsdokumentes potentielle Maßnahmenträger Antragsteller Consultants (Mcon. IES) Quelle: Knodt 1998 : 199 Grafik 5: Programmplanung der EU-Strukturfondsförderung in Niedersachsen (Förderperiode 1989-- 1993) <?page no="94"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 95 3.3 Erklärung aus Sicht des Sozialkonstruktivismus 95 Landesbehörden die Programmplanung um. Adressaten der Förderung sind in erster Linie Kommunen und Kreise, aber auch Wohlfahrtsverbände und Bildungseinrichtungen (im ESF-Bereich), private Unternehmen, Verbände und Industrie- und Handelskammer (IHK, im EFRE-Bereich) sowie Landwirtschaftskammer und Bauernverbände (im EAGFL-Bereich) können an den Maßnahmen beteiligt sein. Bewilligungsbehörden sind im 5b-Bereich in erster Linie die Bezirksregierungen sowie für eingeschränkte Bereiche die Ämter für Agrarstruktur wie auch die Landwirtschaftskammer. Die Bezirksregierung bewilligt die Anträge, meldet diese an das Landwirtschaftsministerium weiter, empfängt die Mittelzuweisung und weist die Mittel an die Empfänger an. Darüber hinaus ist sie für die Prüfung der Mittel und deren Abrechnung für das Ministerium zuständig. Der größte Teil der EFRE-Mittel im Bereich 5b wird von verschiedenen Dezernaten der Bezirksregierungen betreut. Die Bewilligung geschieht wie bei den übrigen Förderungen nach Landesrichtlinien, d. h. die EU- Förderung wird der Landesförderung angehängt. Nur für die Bereiche, bei denen keinerlei Förderung und daher auch keine Vorgaben existierten, entstanden neue Richtlinien. Somit existieren eigenständige Richtlinien, die nur für die 5b-Gebiete gelten. Um den Besonderheiten des EU-Rechts gerecht zu werden, wurden die bereits existierenden und so übernommenen Landesförderrichtlinien angepasst und etwa eine Berichtspflicht sowie das Einsichtsrecht durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) aufgenommen. Grafik 6 zeigt die Akteursbeziehungen während der Implementationsphase der EU-Strukturfondsförderung in Niedersachsen im Überblick. Vor allem das Prinzip der Kofinanzierung stellte für die Kommunen und Kreise aufgrund des Rückzugs des Landes aus der Finanzierung ein Problem dar. Im alten Programm wurden die 50 Prozent EU-Mittel noch durch 20 Prozent Landesfördermittel ergänzt, so dass die kommunale Ebene nur mit 30 Prozent der Gesamtfinanzierung zusätzlich fördern musste. In der Förderperiode bis 1999 wurden die Mittel zu 50 Prozent von der EU und zu 50 Prozent von Kreisen und Gemeinden getragen. Das bedeutete für die bedürftigsten Gemeinden und Kreise das Aus für eine Teilnahme an der EU-Förderung. Nur die Gemeinden, die ohnehin in der Lage sind, Finanzmittel zu stellen, konnten sich nun noch einen Antrag auf EU-Fördermittel leisten. Insgesamt zeigt sich im Bereich des Prinzips der Additionalität die Gefahr einer »Additionalitätsfalle«: Im Zuge der immer knapper werdenden Mittel in der regionalen Wirtschaftsförderung und der damit einhergehenden Kürzung der nationalen und regionalen Fördertöpfe gerieten regionale Akteure bei der Beantragung ihrer Mittel zunehmend in Schwierigkeiten, die geforderte Kofinanzierung der Maßnahmen zu garantieren. In dem Maße, in dem regionale und nationale Gelder knapper wurden, stieg der Anteil der an Programme der europäischen Regionalpolitik gebundenen Mittel. Der Spielraum der Regionen für eine eigenständige und dem eigenen Typ gleichende Regionalpolitik wurde damit deutlich eingeschränkt, so dass auch die wirtschaftlichen Verhältnisse und der damit einhergehende finanzielle Spielraum eine Rolle bei der Anpassung an die europäische Strukturpolitik spielte. <?page no="95"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 96 96 3. Sozialkonstruktivismus Eine Strategie der subregionalen Akteure zur Lösung des Problems lag hierbei im Versuch, inhaltlich die Programme in der Implementation so weit in ihrem Interesse auszulegen, dass die eigentlichen Paradigmen der europäischen Förderung in den Hintergrund treten, wodurch sie die von ihnen eingesetzten Mittel wiederum so weit wie möglich in ihrem Sinn ausgeben konnten. Der Ansatzpunkt dazu war vorhanden, wie ein Interviewpartner einer Bewilligungsbehörde anmerkte, weil bei der Bewilligung der EU-Mittel den Behörden ein größerer Spielraum in der Auslegung der von der Kommission vorgegebenen Definitionen zustand als etwa im Falle der GRW. Eine Entwicklung, die den eigentlichen Zielvorstellungen der Additionalität und damit der Bindung der regionalen und nationalen Mittel an die Ziel- und Mittelvorstellungen der Europäischen Gemeinschaft entgegenlief und diese dysfunktional werden ließ. Somit machte bei knappen Mitteln nur dann eine Anpassung der regionalen Strukturpolitik an die europäischen Vorgaben keine Probleme, wenn die Kommission für die Deutungswahl genügend Spielraum ließ. Bundesministerien Landesministerien Kommission Ämter für Agrarstruktur Landwirtschaftskammer LaBIB - oder andere Beratungsinstitutionen Kreise + Gemeinden Kammern (IHK, HK, LK) Gewerkschaften, Verbände Unternehmen sonstige subregionale Akteure Ermächtigung als Bewilligungsbehörde genehmigen als Bewilligungsbehörden/ -stellen Anträge Genehmigung des Einheitlichen Programmplanungsdokuments - Mittelzuweisung Beratung der Bewilligungsbehörden und der Antragsteller Antragsteller Bezirksregierung in Sonderbereichen Quelle: Knodt 1998 : 201 Grafik 6: Programmimplementation der EU-Strukturfondsförderung in Niedersachsen (Förderperiode 1989-- 1993) <?page no="96"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 97 3.3 Erklärung aus Sicht des Sozialkonstruktivismus 97 Dies ermöglichte es den betroffenen Regionen, in der Deutungs- und Handlungswahl auch abweichende regionale Paradigmen mit dem europäischen Angebot in Einklang zu bringen. Trotz der Unterschiede in der Planungs- und Implementationsphase, die durch die unterschiedlichen Aufgaben- und Problemstellungen der beiden Policy-Phasen bedingt sind, werden verschiedene Charakteristika der Umsetzung der EU-Strukturfondsförderung in Niedersachsen deutlich. Zum einen wurde versucht, die neuen Anforderungen an das Land durch eine Ankoppelung der EU-Förderung an bestehende Bundes- und Landesförderung, die zum Teil leicht verändert wurde, zu bewältigen. An den Punkten, an denen die Anforderungen der EU die bestehenden Handlungsroutinen der Landesförderung überstiegen, wie z. B. im Fall des Partnerschaftsprinzips, erfolgte eine Anpassung der Landesroutinen an die neuen Vorgaben im Sinne der Hypothese nur mit erheblicher Verzögerung. In der Umsetzung zeigen sich die Charakteristika der Landespolitik, so wie sie durch die Analyse der regionalen Strukturfondsförderung erarbeitet wurden. Die Weitergabe der Planungsaufgaben bis auf die Ebene der Gemeinden und Kreise, die in Niedersachsen ohnehin eine bedeutende Rolle in der regionalen Wirtschaftsförderung spielen, ist eines dieser Charakteristika. Ein anderes ist die Einschaltung eines privaten Consultants, der die Planungskoordination und zum großen Teil auch die Erarbeitung erledigte. Durch die Auslagerung der Planungsaufgaben an einen Mittler entstand ein informelles Netzwerk, das stark durch den privaten Akteur geprägt war. Es wurden keine formalen Strukturen, sondern informelle Beziehungen aufgebaut. Konnte das Leitbild der Partnerschaft in der 5b-Förderung der zweiten Förderperiode noch durch Auslagerung von Koordinationsaufgaben an den privaten Consultant und die Einbeziehung der kommunalen Ebene über eben diesen bewältigt werden, gelang hingegen die Forderung nach dem Einbeziehen der Sozialpartner kaum. Am deutlichsten trat dieses Manko im Streit der zuständigen Kommissarin Wulf- Matthies mit der Landesregierung bzw. mit allen bundesdeutschen Landesregierungen zu Tage. In einem Brief forderte die Kommissarin die Landesregierungen auf, die Sozialpartnerschaft in den Begleitausschüssen der Fondsförderung zu realisieren. Niedersachsens Regierung hatte dies in einer Stellungnahme vehement abgelehnt und widersprach damit den europäischen Forderungen. Auch die Ministeriumsvertreter sahen in einer Beteiligung der Sozialpartner in Unterausschüssen der zweimal jährlich tagenden Begleitausschüsse keinen Sinn. Verbände, Kammern und Gewerkschaften sollten dagegen vor Ort schon an der Planung beteiligt werden. Dies war allerdings nur rudimentär durch die Initiative etwa des privaten Consultants geschehen. Aber auch hier zeigte sich, dass die Sozialpartner durch das Ministerium den sektoralen Interessen und nicht der regional ausgerichteten Strukturfondsförderung zugerechnet wurden. Es herrschte die Meinung vor, Verbände, Kammern und Gewerkschaften seien ohnehin nicht an der EU-Förderung interessiert. Die privaten Akteure hielten dagegen, dass die Initiativen im Bereich der EU-Förderung sie gezielt von der Mitarwww.claudia-wild.de: <?page no="97"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 98 98 3. Sozialkonstruktivismus beit ausschließen würden (Interviews 12.12.1995f/ 14.12.1995a-e, Knodt 1998). Insgesamt wurde auf der Ebene der Landesministerien deutlich, dass die Interpretation der beiden Prinzipien »Partnerschaft« und »Subsidiarität« für viele der Verwaltungsbeamten auf ihrer Ebene miteinander kollidierten. So erfüllte man die Partnerschaftsanforderungen der EU zwar ansatzweise, für die meisten Landesbeamten endet diese Partnerschaft allerdings auf der Landesebene. Dem Prinzip einer partnerschaftlichen Durchführung der Strukturfondsförderung stand aber das von den Landesvertretern ausgefüllte Prinzip der Subsidiarität entgegen. Auch Subsidiarität endet auf der Landesebene. Die Genehmigung der Programmplanungen wie auch die Kontrolle durch die Kommission wurden als ungerechtfertigtes Durchbrechen des Subsidiaritätsprinzips interpretiert. Die EU-Mittel galten vielmehr als frei und variabel einsetzbar; die Landesbeamten akzeptierten nur zögerlich die damit verbundenen Ziele und den verbindlichen Charakter der Programmfestlegung auf rund fünf Jahre. Die Vorgaben durch die Kommission wurden als unzulässige Einmischung in die Landessouveränität gewertet, was in Übereinstimmung mit der zentralen These zu einer erschwerten Anpassung an die europäischen Forderungen führte. 39 Eine Anpassung gelang nur deswegen, weil die Kommission in vielen Bereichen eine weitere Definition ihrer Paradigmen zuließ, als eigentlich für eine Strukturpolitik im Sinne des europäischen Ansatzes zulässig war. 3.4 Fazit Das vorliegende Kapitel widmete sich der Frage, wie der europäische Typ von Regionalpolitik-- hier insbesondere die Idee der Partnerschaft-- auf regionaler Ebene verarbeitet wird und welche Rolle im Anpassungsprozess die regionalen Politikstile spielen. Um dies beantworten zu können, musste untersucht werden, welchem Typ des Politikstils sich die Beispielregion Niedersachsen sowie die EG eher zuordnen lässt, weil ein Einfluss der jeweils dominanten regionalen Routinen und Paradigmen vermutet wurde. Zur Erklärung der regionalen Anpassung an europäische Herausforderungen haben wir dabei einerseits die konkrete Ausprägung des regionalen Politikstils und andererseits die Kompatibilität regionaler Routinen und Paradigmen mit den europäischen Anforderungen identifiziert. Die wichtigste Hypothese des Kapitels lautete, dass regionale Politikstile in ihrer Beständigkeit einen Einfluss auf die Anpassung an die europäische Strukturpolitik 39 »Wir hatten bei dem neuen Programm einen Rahmen gestrickt und wollten diesen eigenständig mit Leben füllen. Das reichte der Kommission aber nicht, sie wollte genau wissen, welche Maßnahmen wie durchgeführt werden, und schon ist das Prinzip der Subsidiarität aufgehoben. Damit gibt Brüssel durch die Genehmigung letztendlich vor, was wir machen. Freie Entwicklung wird letztendlich ausgebremst […]. Man sollte den Ländern mehr Freiheit lassen, denn die wissen besser als Brüssel, was sie brauchen« (Interview 12.12.1995f, Knodt 1998). <?page no="98"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 99 3.4 Fazit 99 ausüben. Sie sind mitverantwortlich dafür, was auf regionaler Ebene als angemessenes strukturpolitisches Konzept angesehen und was im Deutungsprozess als Handlungswahl selektiert wird. Die zugrunde liegende Annahme war, dass Politikstile regional variieren und in ihrer Verschiedenheit beschrieben sowie typologisiert werden können. Ein Politikstil wurde in diesem Kapitel als Set von dominanten Deutungsmustern und Paradigmen, Mustern von Akteursbeziehungen und Routine- Problemlösungsmechanismen beschrieben, die sich auf Dauer in einem spezifischen Handlungsraum verfestigt haben. Durch das Zusammentreffen der niedersächsischen Routinen und Paradigmen mit den europäischen Anforderungen bestätigte sich diese Hypothese. Die Voraussetzungen im Bundesland bestimmten, was als angemessene Strategie zur Umsetzung der europäischen Vorgaben angesehen wurde. In Teilen gelang dadurch die Umsetzung der europäischen Paradigmen. An den Stellen, an denen sie jedoch den eigenen Paradigmen und Routinen widersprachen, sperrten sich die Verantwortlichen einer Umsetzung. Dabei kommt jedoch bei der europäischen Strukturfondsförderung hinzu, dass sie mit einem finanziellen Anreiz gekoppelt ist. Damit sind sie in Zeiten rückläufiger öffentlicher Mittel für Strukturprogramme für die Regionen äußerst interessant. Die öffentlichen Akteure auf Landesebene haben sehr wohl erkannt, dass sie das Partnerschaftsprinzip internalisieren müssen, um zu verhindern, dass die Kommission direkt auf die Projekt- und Maßnahmenträger zugreift. Es stellte sich jedoch auch heraus, dass neben den traditionellen Politikstilen ein weiterer Faktor die Anpassung beeinflusste: der vorhandene finanzielle Spielraum des Bundeslandes. Somit hat das Kapitel durch einen sozialkonstruktivistischen Ansatz gezeigt, wie europäische Paradigmen interpretiert werden und inwiefern weiche Faktoren bei der Umsetzung auf regionaler Ebene eine Rolle spielen. Diese Logik bestimmt die Angemessenheit im Sinne von March/ Olsen (1989 : 160 f.). Deutlich wurde dabei, wie die paradigmatischen Orientierungen und Wissensbestände (vgl. Lepsius 1995 : 395) der Verantwortlichen ihr Handeln bestimmen. Damit lässt sich festhalten, dass die Angemessenheit sozial konstruiert und innerhalb der Interaktion definiert wird. Eine Antwort auf die Frage, inwieweit sich die regionalen Politikstile im Laufe der Zeit durch die Einbindung in die europäische Strukturfondsförderung verändern und ob diese Veränderungen auch über die Förderperioden hinweg Bestand haben würden, konnte in diesem Kapitel nicht gegeben werden. Eine systematische Untersuchung der Frage nach der Veränderung der Politikstile durch die EG bedarf indes einer Analyse zum Zeitpunkt t 1 und t 2 . Dies konnte aufgrund des Kapitelfokus und in Folge fehlender Daten ebenfalls nicht geleistet werden. Der vorliegend gewählte Ansatz erlaubt es aufgrund seines spezifischen Fokus auf regionale Politikstile im Übrigen nicht, die Vergemeinschaftung neuer Politikfelder, die Etablierung institutioneller Strukturen auf der europäischen Ebene oder überhaupt Verhandlungen in der EU zu erfassen, die unter Ausschluss regionaler Akteure stattfinden. Darüber hinaus bleiben strukturelle bzw. funktionale Sachzwänge, interessenbasierte Machtpolitik <?page no="99"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 100 100 3. Sozialkonstruktivismus oder rationalistische Kosten-Nutzen-Kalküle in Folge der konstruktivistischen Herangehensweise ebenfalls außerhalb des Anwendungsbereichs von Analysen, denen eine Handlungslogik der Angemessenheit zugrunde liegt. Literatur Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas 1969: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a. M. Blumer, Herbert 1973: Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Reinbek, 80-146. Brugger, Ernst A. 1984: »Endogene Entwicklung«: Ein Konzept zwischen Utopie und Wirklichkeit, in: Informationen zur Raumentwicklung H. 1/ 2.1984, 1-19. Danielzyk, Rainer 1992: Niedersachsen im Umbruch-- Probleme und Perspektiven der Regionen und der Regionalpolitik. Beitrag zur Konferenz »Wer entwickelt die Region? 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Den Abschluss bildet eine theoriegeleitete Erklärung des gewählten Ausschnitts der EU-Regionalpolitik. 4.1 Der Ansatz des Regierens im europäischen Mehrebenensystem Der Ansatz des Regierens im europäischen Mehrebenensystem oder auch Multi-Level Governance (MLG) ist keine eigenständige Theorie, sondern wird vielmehr mit Teilaspekten unterschiedlicher Theorien gefüllt. 40 Gerade im Bereich der Strukturfondsförderung hat er Relevanz erlangt, und zwar vor allem deswegen, weil er am Beispiel dieses Politikfelds entwickelt wurde. Gary Marks (1992) formte den Ansatz induktiv, ausgehend von einem konkreten Beispiel: Er betrachtete im Rahmen eines von Alberta Sbragia herausgegebenen Sammelbandes den Bereich der Regional- und Strukturpolitik und arbeitete dort ein für dieses Politikfeld typisches Entscheidungsmuster heraus. Anschließend entwickelte er zusammen mit Liesbet Hooghe und Kermit Blank dieses Entscheidungsmuster zum Multi-Level-Governance-Konzept weiter (vgl. Marks 1993, Marks et al. 1996). Multi-Level Governance wird meist mit institutionalistischen Ansätzen kombiniert und bietet dabei einen anderen analytischen Zugriff auf die europäische Integration als die sogenannten »staatszentrierten Ansätze«. Der MLG-Ansatz konzipiert die Europäische Union als eigenständigen politischen Ordnungsrahmen und nicht als intergouvernementales Verhandlungsregime. Er hat sich somit als eine Art Gegenmodell zur intergouvernementalistischen Lesart der europäischen Integration entwickelt, der zufolge die Mitgliedstaaten noch immer die entscheidenden Akteure der europäischen Politik (»Herren der Verträge«) sind. In dieser Tradition stehend konzentriert er sich ebenso wie die institutionalistischen Ansätze vor allem auf die Interdependenz und Interpenetration der politischen Ebenen. Autoren dieser Forschungsrichtung 40 Die folgenden Ausführungen sind stark an Knodt/ Große Hüttmann 2006 angelehnt. <?page no="105"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 106 106 4. Multi-Level Governance beschreiben die Europäische Gemeinschaft als »Verflechtungssystem« (Scharpf 1985), als »Verbundsystem« (Hrbek 1993 : 85), als »europäisches Mehrebenensystem« (Jachtenfuchs/ Kohler-Koch 1996) oder eben auch als »Multi-Level-Governance-System«. Auch schon vor den 1980er und 1990er Jahren wurde auf den Mehrebenencharakter der damaligen EWG und ihre Verflochtenheit hingewiesen. So verfolgte Donald Puchala (1971), der Instanzen internationaler Integration als »Konkordanz-System« beschrieben hat, in dem mehrere Handlungsebenen (subnational, national, supranational) unterschieden wurden, einen ähnlichen Ansatz- - ohne damit jedoch große Resonanz zu erzeugen. Dies gelang erst Gary Marks und Liesbet Hooghe. 41 Der Ausgangspunkt des Multi-Level-Governance-Ansatzes war wie erwähnt die Identifikation einer spezifischen Akteurskonstellation und ebenenübergreifend eines Entscheidungssystems im Bereich der Regional- und Strukturpolitik: »[W]e are seeing the emergence of multilevel governance, a system of continuous negotiation among nested governments at several territorial tiers-- supranational, national, regional, and local-- as the result of a broad process of institutional creation and decision reallocation that has pulled some previously centralized functions of the state up to the supranational level and some down to the local/ regional level« (Marks 1993 : 392). Zudem überwindet der MLG-Ansatz die Staatszentriertheit intergouvernementaler Ansätze: Staatliche Akteure sind inzwischen nicht mehr die alles entscheidenden Mitspieler im europäischen Entscheidungsprozess. Vielmehr stehen sie in Konkurrenz zu ökonomischen, gesellschaftlichen und vor allem auch supranationalen Akteuren wie der Kommission oder auch Vertretern des Europäischen Parlaments (vgl. Hooghe/ Marks 2003, Marks et al. 1996). Von dieser akteurszentrierten Perspektive ausgehend verstehen Vertreter des MLG- Ansatzes politische Entscheidungsprozesse in der EU nicht als eine besondere Form internationaler Verhandlungen (»grand bargains«), sondern als Prozedere, das ähnlich wie in liberalen Demokratien politische Verflechtungen und korporatistische bzw. pluralistische Strukturen aufweist (vgl. Knodt/ Große Hüttmann 2006 : 228). Trotz der Betonung des mehrere Ebenen übergreifenden Systems der Entscheidung spielt die regionale Ebene in diesem Ansatz eine besondere Rolle. Die Gründe dieser Fokussierung liegen sicherlich zum einen in der bereits erwähnten Beschäftigung mit der Regionalpolitik und zum anderen in der Einbettung der Mehrebenendiskussion in den Diskurs um ein »Europa der Regionen«, der in den 1990er Jahren eine Konjunktur erlebte und seinen Weg auf die politische wie auch wissenschaftliche Agenda fand. Beide Diskurse, der politische und der wissenschaftliche, haben sich nicht unab- 41 Vgl. dazu ausführlich Knodt/ Große Hüttmann 2006. <?page no="106"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 107 4.1 Der Ansatz des Regierens im europäischen Mehrebenensystem 107 hängig voneinander entwickelt, sondern sind durch gegenseitige Stimulierungen gekennzeichnet. 42 Die politische Beschäftigung mit Regionen entsprang dabei erstens der Debatte um die Binnenstrukturierung einer Reihe westeuropäischer Länder, die sich in der Neubelebung regionaler Bewegungen und Verwaltungs- und Verfassungsreformen unter den Vorzeichen der Dezentralisierung in den 1970er und 1980er Jahren ausdrückte (Mény 1982); zweitens der Diskussion über die Vorteile »räumlicher Nähe« bei der wirtschaftlichen sowie politisch-administrativen Problembearbeitung (Kilper/ Rehfeld 1994); und drittens der Dynamik der europäischen Integration, die vor allem seit dem Vertrag von Maastricht institutionelle Veränderungen der europäischen Ebene zur Stärkung der subnationalen Ebene zur Folge hatte (Hrbek/ Weyand 1994). 43 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema »Regionen« verlief zwar komplementär zum politischen Diskurs, ging aber gleichwohl auch darüber hinaus und erörterte anhand dieses Forschungsfeldes politikwissenschaftliche Grundsatzfragen (vgl. Kohler-Koch 1996b: 9 f.). Der Diskurs konzentrierte sich auf zwei Schwerpunkte: Zum einen wurden innerregionale Entwicklungen und Dynamiken im politischen und ökonomischen Bereich adressiert und zum anderen verknüpfte man den Diskurs mit der Debatte um das Mehrebenenregieren. Gerade durch die Verknüpfung des Multi-Level-Governance-Ansatzes mit dem Regionendiskurs wurde ein anfänglicher Erklärungsversuch (vgl. Putnam 1988, Eser 1991, Hrbek/ Weyand 1994) zunehmend marginalisiert: Diese Erklärung konzentrierte sich im Rahmen des Mehrebenenregierens eher auf die beiden Ebenen »EU« und »Nationalstaat«, prognostizierte dabei die Schwächung des Nationalstaates und nahm insofern die Marks’sche Wortschöpfung »Multi-Level Governance« offenbar nicht ernst. Gerade diese einseitige und karge Nutzung des MLG-Ansatzes veranschaulichte die Schlagseite der ursprünglichen Fassung des Regierens im Mehrebenensystem, die sich primär auf die Folgen von Nullsummenspielen und das Verschieben von Kompetenzen zwischen den klar abgegrenzten Ebenen des Systems bezog. In einer radikaleren Lesart dieses Modells der Kompetenzverschiebung zwischen den Ebenen wurde die gestärkte Rolle der Regionen in Europa sogar mit dem allmählichen Verschwinden des Nationalstaates assoziiert und den subnationalen Einheiten die Rolle des Substituts zugeschrieben. Dem zugrunde liegt die sogenannte »Sandwich-These«. Sie besagt, dass die mittlere (Bundes-)Ebene weitgehend überflüssig wird, da die Kompetenzen zwischen EG und den Regionen aufgeteilt werden. 44 Nationalstaaten werden dadurch zu Anachronismen, die auf der einen Seite zu klein sind, um die heutigen grenzüberschreitenden Probleme moderner westlicher Industriegesellschaften zu lösen, auf der anderen Seite wiederum zu groß sind, um politische Prozesse für die Bürger sachnah, transparent und überschaubar zu gestalten (vgl. Hrbek/ Weyand 1994). Regionen soll- 42 Vgl. vor allem Bullmann 1994, Kohler-Koch 1996a und 1996b, Knodt 1998a. 43 Zur Aufarbeitung der politischen Debatten, vgl. Kohler-Koch 1996b: 7 f. 44 Vgl. dazu und zu den weiteren Szenarien Groß/ Schmitt-Egner 1994 : 28 f. sowie Eser 1991 : 9 f. <?page no="107"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 108 108 4. Multi-Level Governance ten dabei helfen, die Widersprüchlichkeit zwischen den nützlichen Tendenzen sowohl zur Großals auch zur Kleinräumigkeit zu überwinden. Gegenüber der wirtschaftlichen und politischen Globalisierung wird die Funktionalität regionalen Handelns in der »Vorteilhaftigkeit dezentraler Steuerung«, dem »produktiven Nutzen gewachsener sozialer Beziehungen« und dem »politischen Legitimitätsgewinn kleinräumiger Organisationen« (Kohler-Koch 1996a: 206) gesehen. Gegenüber der Forschungsperspektive, die das europäische Mehrebenensystem als Nullsummenspiel begreift, wurde ein Ansatz des Regierens im Mehrebenensystem entwickelt, der Wert darauf legte, dieses als »interpenetrated system of action« (Grote/ Knodt/ Larat 1996) zu konzipieren- - also ähnlich zu dessen Charakterisierung als »Verbundsystem mit sich überlappenden, gegenseitig durchdringenden und aufeinander wirkenden Elementen« (Hrbek 1993 : 85). Diese Konzeption ermöglicht dann auch eine Verknüpfung der ansonsten getrennten Handlungsebenen. Die letztgenannte Perspektive kombinierte man in der Regel mit institutionalistischen Theorien. Damit sollte eine Sichtweise institutioneller Transformationsprozesse im Mehrebenensystem entwickelt werden, die von der Fokussierung auf das Verschieben von Kompetenzen zwischen den Ebenen wegführt. Diese Sichtweise bildet den Rahmen für dieses Kapitel. Es geht davon aus, dass sich durch die Betroffenheit regionalen Regierens durch europäische Politik ein Wandel politischer Institutionen vollzieht. Dieser, so die Vorstellung, ist eng verknüpft mit der Herausbildung neuer Formen des Regierens. 4.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Ansatz des Mehrebenenregierens Die Strukturfondspolitik der Europäischen Gemeinschaft hat sich von einer rein redistributiven Politik, in der den Mitgliedstaaten die innerstaatliche Verteilung und Investition der europäischen Mittel zur regionalen Entwicklung überlassen wurde, mit der Reform im Jahre 1988 zu einer europäischen Regionalpolitik mit eigenen regionalen Programmen und Verteilungsprozedere entwickelt. Die Fragestellung aus Sicht des Multi-Level-Governance-Ansatzes wird sich, wie unten noch auszuführen ist, mit dieser Weiterentwicklung bzw. deren Auswirkung auf die nationale sowie regionale Ebene beschäftigen. Die europäische Regionalpolitik hat dabei vor dem Hintergrund der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion und der spürbaren Auswirkungen des europäischen Binnenmarktes als Korrektiv zu den negativen Folgen der wirtschaftlichen Integration immer mehr an Bedeutung gewonnen. Sie soll den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Europäischen Union fördern und regionale Ungleichgewichte in Bezug unter anderem auf Wohlstand, Beschäftigung, Produktivität und Infrastruktur mindern. Mit der Reform der Strukturfondsförderung von 1988 und deren Revision von 1993 wurden für die europäische Strukturpowww.claudia-wild.de: <?page no="108"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 109 4.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 109 litik vier Grundsätze in den Mittelpunkt gestellt-- Konzentration und Additionalität der Mittel, Programmplanung und Partnerschaft-- von denen hier vor allem Letzterer interessiert. Das Prinzip der Partnerschaft erfordert auf sämtlichen Stufen der Programmplanung und -implementation eine enge Abstimmung zwischen der Kommission und sämtlichen zuständigen, vom jeweiligen Mitgliedstaat benannten nationalen, regionalen und lokalen Behörden. Dazu sollen seit der Revision von 1993 ebenfalls die Wirtschafts- und Sozialpartner in das Verfahren einbezogen werden. Mithilfe der europäischen Regionalpolitik entsteht so eine aktive Vernetzung staatlicher und privater Initiativen und es werden neue Formen der Zusammenarbeit und Aufgabenverteilung etabliert. Die Europäische Kommission kann somit über die verfahrensmäßige Ausgestaltung ihrer Programme bestimmte Vorgaben für die Umsetzung der Programme machen. In diesem Beitrag wird bei der Analyse regionalen Handelns im Rahmen der Strukturfonds ein Wechsel der bisher üblichen Untersuchungsperspektive vorgenommen, um sich dem Untersuchungsgegenstand der Regionen im europäischen System auf eine andere Weise zu nähern. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Europäische Gemeinschaft Opportunitäten bereitstellt, die von Regionen in unterschiedlichem Ausmaß wahrgenommen werden können. Gemeint sind hiermit die Angebote, welche die europäische Politik für die Lösung anstehender Probleme in den verschiedensten Bereichen bereithält, seien sie materieller oder immaterieller Natur. Die EG wird dabei als Ideengeber und -promoter konzipiert, dessen propagierte Konzepte und Paradigmen als immaterielle Angebote zusammen mit Angeboten materieller Natur den nationalen und regionalen Akteuren zur Verfügung stehen. Nehmen regionale Akteure die angebotenen Konzepte als »angemessen« für die Lösung anstehender Probleme und die Wohlfahrtssteigerung in der Region wahr, wird ihre Umsetzung institutionelle Veränderungen mit sich bringen. Der Prozess institutionellen Wandels ist somit nicht regulativ vorgegeben, sondern bedarf der Vermittlung durch Einbeziehung und stetige Interaktion. Durch die Beteiligung regionaler Akteure an den Programmen der Strukturfondspolitik schafft die Europäische Kommission für die regionalen Akteure Zugang zu europäischen Angeboten. Durch deren Beteiligung und interaktive Projektgestaltung finden die in diese Programme integrierten Konzepte Eingang in regionales Handeln (vgl. Knodt 1998b). Will man institutionellen Wandel als abhängige Variable (AV) im europäischen Mehrebenensystem konzeptualisieren, so muss zuerst das dazugehörige Verständnis von politischen Institutionen geklärt werden. Hier soll eine weite Definition von politischen Institutionen zugrunde gelegt werden, die über die Annahme von Institutionen als formale Organisation von Politik hinausgeht. Somit werden Institutionen nicht nur als rechtliche Regelungen und kodifizierte Verfahren zum Treffen verbindlicher Entscheidungen im Sinne von Regelungsaspekten konzipiert (Mayntz/ Scharpf 1996 : 45 f.), sondern basieren darüber <?page no="109"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 110 110 4. Multi-Level Governance hinaus auf einer breiten Anerkennung von grundsätzlichen Überzeugungen dessen, was als angemessen, legitim und effektiv zu gelten hat sowie auf bewährten Routinen und Interaktionsmustern der Problembearbeitung und Konfliktregelung (vgl. Kohler-Koch/ Knodt 1999 : 171; siehe Tabelle 6). Damit werden Institutionen auch als Träger von paradigmatischen Handlungsorientierungen und Rationalitätskriterien (Lepsius 1995 : 395) gesehen. Institutionen sind folglich soziale Gefüge, die auf formalen Regeln sowie gesellschaftliche Prinzipien und Normen beruhen. Innerhalb von Institutionen finden sich geteilte Überzeugungen von »vorbildlicher« und »verbindlicher Ordnung« (Weber 1980 : 6) und dessen, was als »gutes Regieren« verstanden werden kann. Nach außen sichtbar werden diese geteilten Überzeugungen durch Routinen, Verfahrensweisen und Stile sozialer Interaktion, die als angemessen gelten. Dieser Sichtweise liegen konstruktivistisch-institutionalistische Annahmen zugrunde, die über die Konzeptualisierung von Institutionen als Regeln setzende, kontrollierende und sanktionierende Instanzen hinausgehen. In diesem Sinne definiert Olsen Institutionen als »a collection of practices and rules defining exemplary or appropriate behaviour for groups of actors in specific situations« (Olsen 1995 : 5). Tabelle 6: Dimensionen politischer Institutionen Organisation von Politik Routinen und politische Praxis Legitimationskonzepte und Handlungsrationalitäten verfassungsmäßige Kompetenzzuschreibung erprobte Strategien der Problembearbeitung Leitideen »guten Regierens« kodifizierte Entscheidungsverfahren; Leitlinien der Implementation eingeübte Verfahren und Routinen der Entscheidungsfindung und Umsetzung von Politik anerkannte Kriterien sachgemäßer Problemlösung formalisierte Repräsentationsregeln etablierte Kooptationssysteme Begründung von politischer Autorität Quelle: Kohler-Koch/ Conzelmann/ Knodt 2004 : 180, basierend auf Knodt/ Kohler-Koch 1997, Kohler- Koch 1998 : 20, bearbeitet Die Erfassung von politischen Institutionen anhand unterschiedlicher Dimensionen macht deutlich, dass Institutionen nicht nur durch gezielte Verfassungspolitik geschaffen werden, sondern ebenso das Ergebnis sozialer Prozesse sein können. Somit sind der geplante Aufbau und die Veränderung von Institutionen durch Akteure nur Einzelaspekte eines Gesamtprozesses. Institutionelle Entwicklungen können sich ebenso aus der Interaktion der involvierten Akteure ergeben-- gleichgültig, ob sie von diesen intendiert waren oder nicht (vgl. Kohler-Koch 1998 : 20). <?page no="110"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 111 4.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 111 Welche Form der Einflussnahme lässt sich nun bezogen auf welche Dimension politischer Institutionen erwarten? Tabelle 7 gibt eine Übersicht, in der die möglichen Veränderungen mit den unterschiedlichen Dimensionen politischer Institutionen in Beziehung gesetzt sind. Darin werden jedoch nicht schematisch alle drei Dimensionen aufgegriffen, das Schaubild ist somit nicht als Kreuztabelle zu lesen. Ausgewählt ist jeweils nur eine Dimension, von der zu erwarten ist, dass sie über diesen Weg besonders gut erfasst wird. Tabelle 7: Mechanismen des Wandels-- Induzierung institutioneller Änderungen Art Verfahren Bezug Vorgabe Verfassungsrevision: ● ● Vertragsänderung ● ● formale intergouvernementale bzw. Inter-Organ-Absprachen formale Organisation von Politik: ● ● Zuweisung von Rechten und Zuständigkeiten ● ● Festlegung von Entscheidungsverfahren ● ● Auswahl der Repräsentationsmechanismen Einbindung ● ● Aufbau von und Einbindung in Politiknetzwerke ● ● Verankerung von Handlungsprinzipien in politischen Programmen Interaktionsstrukturen: ● ● Beteiligungschancen und Beziehungsstrukturen ● ● eingeübte Routinen Angebot ● ● aktive Propagierung erstrebenswerter Ordnungsprinzipien ordnungspolitische Leitideen: ● ● Rationalitätskriterien gemeinschaftlicher Politik ● ● Kriterien sachgemäßer Problemlösung Quelle: Kohler-Koch/ Conzelmann/ Knodt 2004 : 182, basierend auf Knodt/ Kohler-Koch 1997, Kohler- Koch 1998 : 22, bearbeitet Diese Sichtweise von Institutionen hat Konsequenzen für die Konzeptualisierung von institutionellem Wandel: In der weiten Fassung von Institutionen wird Wandel nicht allein durch politische Entscheidungen, Regeländerungen und Kompetenzverschiebungen verursacht, die sich aus Vertrags- oder Verfassungsänderungen ergeben. Vielmehr kann sich Wandel auch in der Veränderung von handlungsleitenden Ideen und Normen ausdrücken. Die bisherige Fokussierung auf verfassungsrechtliche Ereignisse stellt Veränderungen durch die Auferlegung neuer Vertragsbestimmungen in Folge von Vertragsrevisionen sowie intergouvernementalen Vereinbarungen in den Mittelpunkt. Dazu gehören auch die damit verbundenen Veränderungen der formalen Organisation von Politik, wie z. B. die Definition der Entscheidungsstrukturen, die Allokation von Reswww.claudia-wild.de: <?page no="111"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 112 112 4. Multi-Level Governance sourcen und die Verteilung von Rechten und Pflichten. Darüber hinaus wird vorliegend jedoch angenommen, dass Veränderungen auch durch Angebote und die Propagierung angemessener und als attraktiv wahrgenommener Konzepte sowie durch die Einbindung in europäische Programme und die darin inkorporierten Konzepte verursacht werden können (vgl. Kohler-Koch/ Knodt 1997). Die zentrale empirische Annahme dieses Kapitels lautet dann, dass institutioneller Wandel in allen drei Dimensionen stattfindet und dass sich alle drei Mechanismen des Wandels-- Vorgabe, Einbindung und Angebot-- identifizieren lassen. Der Fokus der Analyse liegt dabei auf den Routinen und Leitideen. Mit dieser Perspektive stellt die Europäische Union ein »window of opportunity« dar, das nicht nur den Zugriff auf materielle Ressourcen wie Mittel aus der Strukturfondsförderung anbietet, sondern ebenso programmatische Entwürfe, die als Problemlösungsmuster für regionale Akteure von Interesse sein können. Die Europäische Kommission kombiniert dabei in der Strukturfondsförderung finanzielle Programme mit prozeduralen Vorgaben und einem paradigmatischen Angebot vor allem über die privat-öffentliche Kooperation. Der Zugang zu den finanziellen Ressourcen der Strukturfondsförderung ist dabei mit grundsätzlichen Zielvorgaben und spezifischen Verfahrensweisen verknüpft. Solche Angebote werden zum einen bewusst von interessierten Akteuren aufgegriffen- - zumindest, wenn sie in deren eigenes Kosten-Nutzen-Konzept passen. Zum anderen können sie bestimmte Modalitäten der politischen Problembearbeitung auf nationaler oder regionaler Ebene stärken, wenn dies als legitim erachtet wird. Solche als Referenzpunkte anerkannten Konzepte können die institutionelle Entwicklung innerhalb der Mitgliedstaaten beeinflussen. Entsprechend dem hier gewählten konzeptuellen Rahmen lässt sich die Fragestellung wie folgt konkretisieren (vgl. Kohler-Koch/ Knodt 1999 : 175): Ist ein institutioneller Wandel im Sinne der Übernahme europäischer Konzepte sichtbar und falls ja, durch welche Faktoren wird dieser in seiner Ausgestaltung bestimmt? Damit wäre zuerst empirisch zu klären, ob es überhaupt eine geteilte Auffassung über die von der EU propagierten Leitideen-- wie (1) die Attraktivität einer gestärkten Rolle der Regionen in der EU; sowie (2) die Überlegenheit kooperativen Regierens-- gibt und ob diese kooperative Leitidee in der regionalen Vernetzung sichtbar wird. Sodann ist zu bestimmen, welche unabhängigen bzw. erklärenden Variablen bezüglich einer Übernahme der Konzepte auf regionaler Ebene auszuwählen sind. Zwei Faktoren gelten in der Literatur immer wieder als relevant: Zum einen ist dies der verfassungsrechtliche nationale Kontext, in dessen Rahmen die Regionen mit Kompetenzen und administrativen Kapazitäten ausgestattet werden (UV 1 ). Zum anderen wird die Wettbewerbsfähigkeit der regionalen Ökonomien als ebenso wichtig erachtet (UV 2 ). <?page no="112"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 113 4.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 113 Die davon abgeleiteten Hypothesen lauten wie folgt: H 1 : Föderalstaaten haben aufgrund der bereits starken Stellung ihrer Regionen eher wenig institutionellen Wandel zu verzeichnen und können das Konzept der vertikalen Partnerschaft der Europäischen Kommission leicht umsetzen bzw. dieses sogar aktiv unterstützen. H 2 : Zudem werden zweitens ökonomisch starke Regionen die Zusammenarbeit im europäischen Mehrebenensystem eher und zugleich mit weniger institutionellem Wandel bewerkstelligen können, da sie durch ihre gute Ausstattung mit administrativen und finanziellen Ressourcen bereits auf die Anforderungen der Kommission vorbereitet sind und eine solche Umsetzung vor allem als Chance begreifen (vgl. Kohler-Koch u. a. 1998). H 3 : Zu diesen beiden eher klassischen Annahmen soll hier noch eine zusätzliche getroffen werden: Aus eher konstruktivistisch-institutionalistischer Sichtweise ist davon auszugehen, dass nicht nur die Interessen der Akteure bei der Handlungswahl eine Rolle spielen. Die Interpretations- und Konstruktionsleistung während der Interaktion ist wesentlich für die Handlungswahl. Diese lässt sich als eine Interpretationsleistung verstehen, die sich auf die Definition von Problemen und sachgemäßen Bearbeitungsstrategien bezieht (Nullmeier 1994, March/ Olsen 1998). Als sachgemäß wird hierbei vor allem anerkannt, was der eigenen Strukturierung ähnelt. Interaktionskontexte und die damit einhergehenden Interpretationen und Konstruktionen der Wirklichkeit (vgl. Berger/ Luckmann 1969) nehmen Einfluss darauf, (1) welche Ideenträger über Einbindung oder Ausschluss an der Konstruktion beteiligt sind; (2) wie die Konstruktion und Interpretation gefiltert wird und somit dem Handelnden Orientierung bietet; (3) unter welche institutionelle Leitidee das zukünftige Handeln subsumiert wird und damit (4) bestimmten Konstruktionen bessere Durchsetzungskraft verleiht (vgl. Kohler-Koch/ Edler 1998, Lepsius 1995). Dadurch können institutionelle Veränderungen im System angestoßen werden, wie z. B. auch die Angebote der Europäischen Kommission im Rahmen der Strukturfondsförderung. In Bezug auf die Orientierung an Deutungsrahmen und eingespielten Routinen weisen March/ Olsen bei ihrer Erklärung von institutionellem Wandel darauf hin, dass dieser vor allem dann stattfindet, wenn das neue institutionelle Handeln der bereits bestehenden institutionellen Identität angemessen ist. Entsprechend der »logic of appropriateness« (vgl. March/ Olsen 1989) wird neues Verhalten nur übernommen, wenn es dem traditionellen Verhalten in der Institution und damit deren Identität sowie den vorherrschenden Normen angemessen ist. Wandel ist bei March/ Olsen daher nur in begrenztem Ausmaß möglich und vollzieht sich dementsprechend eher inkrementell. Zudem gehen die Autoren davon aus, dass institutioneller Wandel nicht intentional im Sinne einer Umstrukturierung nach einem zuvor festgelegten Entwurf erfolgt (vgl. Knodt 2005). <?page no="113"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 114 114 4. Multi-Level Governance Um herauszufinden, welche Relevanz diese unabhängigen Variablen im regionalen Vergleich haben, wird in diesem Kapitel auf die Daten einer Studie zurückgegriffen, die unter der Leitung von Beate Kohler-Koch und Beteiligung von Michèle Knodt Ende der 1990er Jahre in Mannheim durchgeführt wurde. Das international vergleichende Projekt 45 »Regionen als Handlungseinheiten in der europäischen Politik« (REGE) 46 legte dabei zum ersten Mal eine systematisch empirisch-vergleichende Studie regionalen Regierens im europäischen Mehrebenensystem vor. 47 Das Projekt zielte auf die kontrollierte Variation vor allem der in der Literatur angenommenen relevanten unabhängigen Variablen »konstitutionelle Verfasstheit« und »wirtschaftliche Leistungskraft«. Ausgehend von den Hypothesen wurden fünf Länder gewählt, deren Verfassungsstrukturen auf einem Kontinuum zwischen Bundesstaat und dezentralisiertem Einheitsstaat anzusiedeln sind: 48 Deutschland, Spanien, Italien, Frankreich und Großbritannien. Als »Regionen« definierte man die politisch-administrativen Einheiten unmittelbar unterhalb der zentralstaatlichen Ebene, also z. B. die deutschen Länder. Um die mögliche Bedeutung der unterschiedlichen wirtschaftlichen Leistungskraft in den Blick zu bekommen, wurden in jedem der ausgewählten Mitgliedstaaten zwei Regionen ausgesucht, deren wirtschaftliche Entwicklung über bzw. unter dem jeweiligen Landesdurchschnitt lag. Um Verzerrungen zu vermeiden, hat man dabei gleichzeitig darauf geachtet, dass diese Regionen sich in ihrer territorialen Ausdehnung, Bevölkerungsgröße, Lage zum staatlichen Zentrum, politischen Konsistenz und ihrem internen Entwicklungsgefälle nicht wesentlich unterscheiden. Dieser Suchprozess endete in der Auswahl der folgenden neun Regionen: 45 Im Mannheimer Team arbeiteten mit: Jürgen Grote (Italien), Michèle Knodt (Deutschland), Fabrice Larat (Frankreich), Santo Umberti Garcia (Spanien). Die internationalen Projektpartner waren: B. Jouve (ENTPE, R. I.V. E.S, Lyon) Rhône-Alpes, E. Négrier, M. Lacave, W. Génieys, O. Dedieu (Université de Montpellier, CEPEL) Languedoc-Roussillon, F. Morata, J. Etherington, N. Gomez-Mataran (Universitat Autònoma de Barcelona) Katalonien, J. Loughlin und J. Mathias (University of Wales College of Cardiff ) Wales. 46 Zu den ausführlichen Ergebnissen vgl. Kohler-Koch u. a. 1998 und Knodt 1998b. Für einen kompakten Überblick vgl. Kohler-Koch/ Knodt 1999. 47 Die Datenerhebung des REGE-Projekts beruht neben einer Dokumentenanalyse und Aufarbeitung der Sekundärliteratur auf einer systematisch vergleichend angelegten, schriftlichen Befragung inklusive einer quantitativen Netzwerkanalyse sowie persönlichen halbstandardisierten Interviews. Die Daten der Umfrage werden zitiert als »REGE, MZES 1996«. 48 Aus Gründen der Vergleichbarkeit wurden nur große Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ausgewählt. Das Vereinigte Königreich sollte in einer späteren Phase in das Projekt einbezogen werden; leider konnte letztlich nur die Untersuchung zu Wales realisiert werden. <?page no="114"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 115 4.3 Erklärung aus Sicht des Mehrebenenregierens 115 Tabelle 8: Auswahl der Regionen Merkmale verfassungsrechtlich föderal regionalisiert (stark) regionalisiert (schwach) dezentralisiert unitarisch ökonomisch stark Baden- Württemberg Katalonien Lombardei Rhône- Alpes Wales schwach Niedersachsen Andalusien Sizilien Languedoc- Roussillon - Quelle: Kohler-Koch 1998 : 27, bearbeitet Aufgrund des beschränkten Umfangs dieses Kapitels soll die nun folgende Analyse lediglich exemplarisch und fokussiert die aufgestellten Thesen untersuchen und damit eine Antwort auf die Fragestellung ermöglichen. Auch in Bezug auf die Vergleichsfälle wird zum Teil eine Auswahl vorgenommen. 4.3 Erklärung des regionalen institutionellen Wandels in der Strukturfondsförderung aus Sicht des Mehrebenenregierens Geteilte Auffassungen über europäische Leitideen Die EU verfolgt im Rahmen ihrer Strukturfondspolitik wie oben bereits ausgeführt die Leitidee der partnerschaftlichen Zusammenarbeit in ihren vertikalen und horizontalen Beziehungen. Somit sollen ebenenübergreifend vor allem auch Akteure der regionalen Ebene und gesellschaftliche Akteure horizontal in die Entscheidungsprozesse der Strukturfondsförderung einbezogen werden. Daraus ergeben sich Fragen nach der Wirkung kooperativer Paradigmen, wie sie von der EU forciert werden. Als erster Schritt ist zu klären, ob die europäische Leitidee der Partnerschaft in gleichem Maße von den regionalen Akteuren übernommen wurde, oder ob sich hierbei große regionale Unterschiede erkennen lassen. In der Umfrage des REGE-Projekts wurde eben diese Frage nach der Wirkung europäischer Politik auf regionales Regieren in Bezug auf die europäischen Angebote gestellt. In Baden-Württemberg sind rund 60 Prozent der Befragten der Meinung, dass sich im Verhältnis von Politik und Wirtschaft in den letzten Jahren durch den Bedeutungszuwachs der EG etwas geändert hat, in Niedersachsen bejahten dies sogar rund 70 Prozent der Befragten. Auf die Frage, wie diese Veränderungen zu bewerten <?page no="115"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 116 116 4. Multi-Level Governance seien, antworteten rund 81 Prozent der baden-württembergischen Befragten »positiv«. Dagegen waren nur 61 Prozent der Befragten in Niedersachsen der Meinung, dass diese Veränderungen positiv zu bewerten seien (REGE, MZES 1996). Diese Ergebnisse zeigen, dass eine eindeutige Perzeption der EG bei den regionalen Akteuren vorhanden ist. Die Einschätzung der Akteure, ob diese Relevanz positive oder negative Konsequenzen gezeigt hat, weist darüber hinaus darauf hin, dass es badenwürttembergischen Akteuren eher gelungen ist, die Angebote des relevanten Akteurs »EG« positiv in ihre Handlungsorientierungen einzubauen, als dies in Niedersachsen der Fall ist. Da die vertikale Partnerschaft die Einbindung gerade auch der regionalen Ebene betont, ist zu vermuten, dass die Kompetenzausstattung der Regionen einen Einfluss auf die Einschätzung der Wichtigkeit der eigenen Region im Mehrebenensystem hat und diese verstärkte Einbindung somit eher positiv bewertet wird. Gefragt wurde in der REGE-Umfrage zudem nach der Wichtigkeit von Kommunen, Regionen, Staaten und der Europäischen Gemeinschaft für die Gestaltung der allgemeinen Lebensverhältnisse in der eigenen Region. Die Antworten der regionalen Akteure erbrachten dabei Bestätigungen sowie einige Überraschungen. Die nationale Verteilung der Einschätzungen zur Wichtigkeit des Zentralstaates zeigt Grafik 7: Insgesamt liegen die Werte für die nationale Ebene über alle neun Regionen hinweg auf sehr hohem Niveau. Die gleiche Wichtigkeit wird aber ebenso der regionalen Ebene beigemessen. Es existieren zudem deutliche Unterschiede zwischen föderalen und eher zentralisierten Staaten und so wird dem Zentralstaat in Deutschland und Spanien erwartungsgemäß eine geringere und in Frankreich die größte Bedeutung zugemessen. Doch auch innerhalb der föderalen Staaten zeigen BW Nds CAT AND RA LR LOM SIC WAL 3,5 4 4,5 5 5,5 6 nationale Ebene regionale Ebene * Aus Platzgründen sind die Regionen in diesem Beitrag wie folgt abgekürzt: Baden-Württemberg (BW), Niedersachsen (NdS), Katalonien (CAT), Andalusien (AND), Rhône-Alpes (RA), Languedoc- Roussillon (LR), Lombardei (LOM), Sizilien (SIC) und Wales (WAL). Quelle: REGE, MZES 1996; Kohler-Koch/ Knodt 1999 : 176 f. Grafik 7: Bedeutung der nationalen und regionalen Ebene* (Durchschnitt einer 6er-Skala von 1 =-nicht wichtig bis 6 =-sehr wichtig) <?page no="116"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 117 4.3 Erklärung aus Sicht des Mehrebenenregierens 117 sich Unterschiede: Während die deutschen Länder die nationale und regionale Ebene als fast gleich wichtig einstufen, bewerten die spanischen Comunidades Autónomas die regionale Ebene als bedeutsamer. Offensichtlich wird die Einschätzung durch den deutlichen Kompetenzgewinn spanischer Regionen seit der Demokratisierung des Staates beeinflusst, während die deutschen Länder auf eine seit längerer Zeit konsolidierte Stellung der Regionen im deutschen Föderalismus zurückblicken (vgl. Kohler- Koch/ Knodt 1999 : 177). Allerdings birgt die Grafik auch Überraschungen: So würde man bei den französischen Regionen aufgrund ihrer Stellung im zentralistischen Staat nicht nur hohe Werte für die nationale Ebene, sondern auch gleichzeitig niedrige-- wenn nicht sogar die niedrigsten-- Werte bei der Einschätzung der regionalen Ebene erwarten. Doch schätzen die regionalen Akteure in Frankreich ihre Region im Vergleich zu den deutschen Bundesländern als wichtiger für die Gestaltung der Lebensverhältnisse ein. Dies deutet darauf hin, dass die Einschätzung der Wichtigkeit der regionalen Ebene nicht unbedingt mit der jeweiligen Kompetenzausstattung der regionalen Ebene im Nationalstaat gleichzusetzen ist (vgl. Kohler-Koch/ Knodt 1999 : 178). Ebenfalls sehr hohe Werte gaben die regionalen Akteure in der Frage nach der gewünschten zukünftigen Rolle der Regionen an. Zwischen 60 und rund 90 Prozent der Befragten wollten zum Zeitpunkt der Befragung der regionalen Ebene einen größeren Einfluss zugestehen. Diese konvergierende Einschätzung zeigt sich dabei sowohl bei den öffentlichen als auch bei den privaten Akteuren. Insofern lässt sich ausschließen, dass die hohen Werte ausschließlich auf einem »institutionellen Eigeninteresse« seitens der Vertreter von regionalen Regierungen, Verwaltungen und Parlamenten beruhen. Vielmehr vertreten über alle Regionen hinweg Unternehmen und Wirt- BW Nds CAT AND RA LR LOM SIC WAL 20 30 40 50 60 70 80 90 100 * für die Erklärung der Abkürzungen der Regionen siehe Grafik 7 Quelle: REGE, MZES 1996; Kohler-Koch/ Knodt 1999 : 178. Grafik 8: Für einen zukünftig größeren Einfluss der regionalen Ebene (in Prozent)* <?page no="117"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 118 118 4. Multi-Level Governance schaftsverbände mit gleichem Nachdruck (75 Prozent) wie die öffentlichen Akteure (79 Prozent) die Forderung nach einer Aufwertung der Regionen. Somit kann man insgesamt einen positiven Trend in der Beurteilung der heutigen und zukünftigen Rolle der regionalen Ebene konstatieren (Kohler-Koch/ Knodt 1999 : 178). Doch auch in der Beurteilung der zukünftigen Rolle der Regionen zeigen sich einige geringfügige Unterschiede zwischen den Einschätzungen der regionalen Akteure. Nach der eingangs dargestellten Anlage der Untersuchung wären Unterschiede zu erwarten, die je nach verfassungsrechtlicher Stellung und wirtschaftlichem Leistungsstand der jeweiligen Region Diskrepanzen in der gewünschten zukünftigen Rolle der regionalen Ebene zur Folge haben müssten. An dieser Stelle zeigt sich erneut eine differenziertere Wirkung der Faktoren: Die verfassungsrechtliche Stellung der Regionen scheint vor allem in Deutschland und Frankreich ausschlaggebend für die zurückhaltende Zustimmung zur Stärkung der regionalen Ebene zu sein: In Deutschland wird eine Stärkung als nicht besonders wünschenswert angesehen. Erklärt werden kann dies mit den bereits erreichten weitreichenden Kompetenzen bezüglich der europäischen Politik, so dass eine Stärkung als nicht so dringend empfunden wird. Auch die beiden französischen Regionen zeigen zusammen mit Deutschland die niedrigsten Werte. Hier erscheint die Mitbestimmung innerhalb der eigenen Nation wichtiger zu sein als eine einseitige Stärkung der Repräsentation des Bürgers durch die regionale Ebene (vgl. Kohler-Koch/ Knodt 1999 : 179). Der etatistische französische Staat mischt sich aktiv in die Belange der Regionen ein und steuert damit Wirtschaft und Gesellschaft. Die Einbindung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Kräfte geschieht dabei unter anderem durch den Conseil économique, social et environnemental (bis zum 23. Juli 2008: Conseil économique et social). Dieser ist als eine staatliche Institution der Region beim Conseil régional angesiedelt und setzt sich aus Arbeitnehmerwie auch Arbeitgebervertretern zusammen: »Die Einbindung der Bürger in den Staat als Nationalstaat steht somit vor der Vertretung seiner Interessen durch die regionale Ebene« (ebd.). Gut zu erklären sind auch die Fälle Wales und Katalonien: Dort kann der Wunsch nach einer Aufwertung der regionalen Ebene der ausgeprägten regionalen Identität der beiden Regionen innerhalb ihrer Nationalstaaten zugeschrieben werden. Die Werte spiegeln dabei die regionalen Bewegungen und Autonomiebestrebungen innerhalb der beiden Regionen gegenüber den jeweiligen Nationalstaaten wider. In anderen Regionen wie etwa der Lombardei, aber auch Andalusien und Sizilien, zeigt sich eher das besondere Interesse am finanziellen Angebot der Europäischen Gemeinschaft, das hier der zukünftig gestärkten Rolle der regionalen Ebene eine besondere Unterstützung eingebracht hat. Vor allem die Differenzen innerhalb des Nationalstaates zwischen den Regionen und ihren geäußerten Prioritäten in Italien und Spanien verweisen auf unterschiedliche Einschätzungen der Leistungsfähigkeit der eigenen Region. In den wirtschaftlich schwächeren Regionen ist man zurückhaltend, wenn es darum geht, der Region mehr Einfluss zuzugestehen. Dort herrscht vielmehr die Überzeugung, dass die eigene Region im Wettbewerb mit den starken <?page no="118"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 119 4.3 Erklärung aus Sicht des Mehrebenenregierens 119 europäischen Regionen um die knappen Ressourcen der EG- - wie etwa den »Vier Motoren« Baden-Württemberg, Lombardei, Rhônes-Alpes und Katalonien- - nicht mithalten kann. Besonders eindeutig ist der Fall Sizilien, dessen private wie auch öffentliche regionale Akteure nachdrücklich an der Handlungsfähigkeit der Region zweifeln. In Sizilien zeigten sich rund 95 Prozent der privaten wie auch öffentlichen Akteure mit der Politik der Landesregierung unzufrieden- - sie setzt den Angaben zufolge nicht die richtigen Prioritäten zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Entsprechend befürworten 13,6 Prozent der privaten und öffentlichen regionalen Akteure (bei durchschnittlich 4,9 Prozent in allen Regionen) eine Minderung des regionalen Einflusses (Kohler-Koch/ Knodt 1999 : 179 f.). Die REGE-Umfrage fragte darüber hinaus nach der Wertschätzung und Wünschbarkeit einer solchen kooperativen Politik sowie nach der Einschätzung bestimmter Formen dieser Philosophie. Grundlegend für diese Frage ist der in den 1990er Jahren vollzogene Wandel im Verständnis des Staates. Dezentralen Staats- und Verwaltungsinstanzen wurde dabei zunehmend die Rolle der »Moderatoren«, »Arrangeure«, »Vermittler« oder »Scharniere« der Regionalentwicklung zugeschrieben (Kilper 1994 : 24). Sie werden dabei weniger als das Zentrum hierarchischer Steuerung konzipiert, sondern als Bereitsteller von Rahmenbedingungen für eine gemeinsame Problembewältigung. Der Staat ist damit verantwortlich für die Kreation einer optimalen Umwelt zur Selbstorganisation, zur Förderung des regionalen Interessenausgleichs und zur Stimulierung von Synergieeffekten zwischen den beteiligten Akteuren. Staatliche Instanzen versuchten so, regionale Kräfte neu zu bündeln und zu vernetzen, um die vorhandenen und sich nicht mehr bewährenden Vernetzungen effektiver zu gestalten. In lang- BW 48,2 Nds -22,4 -1,4 -11,2 -14,6 -89,6 CAT 60 72,8 61,4 AND RA LR LOM SIC WAL -100 -80 -60 -40 -20 0 20 40 60 80 100 *für die Erklärung der Abkürzungen der Regionen siehe Grafik 7 Quelle: REGE, MZES 1996; Knodt 1998a: 113. Grafik 9: Nettounterstützer der Politik der Landesregierung* <?page no="119"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 120 120 4. Multi-Level Governance fristiger Perspektive führte das zur Institutionalisierung neuer Akteurskonstellationen sowie neuer Handlungsmuster. Der Staat hatte sich von dem Bild der hoheitlich problemlösenden Eingriffsinstanz verabschiedet und sich demjenigen eines kooperativen Miteinanders gleicher Partner zugewandt (vgl. Fürst 1991 : 99). Diese gezielte Einbindung der jeweils betroffenen Akteure in die Formulierung und die Implementation von Politik im Sinne »kooperativer Politik« und »Partnerschaft« bildete eine der zentralen Leitideen der europäischen Politik im Bereich der Strukturfondsförderung. Das Prinzip der Partnerschaft wurde wie oben beschrieben mit der Reform der Strukturfondsverordnung von 1988 und deren Revision von 1993 in die europäische Strukturpolitik aufgenommen. Es erfordert auf allen Stufen der Programmplanung eine enge Abstimmung zwischen der Kommission und sämtlichen zuständigen, von dem jeweiligen Mitgliedstaat benannten nationalen, regionalen und lokalen Behörden sowie auch seit 1993 der Wirtschafts- und Sozialpartner. Somit werden von der Europäischen Gemeinschaft nicht nur finanzielle Mittel auf die regionale Ebene transferiert, sondern in gleichem Maße mit den Finanzmitteln verbundene inhaltliche und instrumentelle Konzepte der Regionalförderung. Interessant ist nun, ob die in die Regionalpolitik involvierten Akteure diese inhaltliche Dimension der europäischen Politik wahrnehmen oder sie nur als zusätzliche Möglichkeit des Erhaltes von Fördermitteln definieren (Knodt 1998a: 103 ff.). Baden-Württemberg Niedersachsen Katalonien Andalusien Rhône-Alpes Languedoc-Roussillon Lombardei Sizilien Wales 6 5 4 3 2 1 0 privat öffentlich * für die Erklärung der Abkürzungen der Regionen siehe Grafik 7 Quelle: REGE, MZES, 1996; Kohler-Koch/ Knodt 1999 : 183 Grafik 10: Zustimmung zur kooperativen Politik* 49 <?page no="120"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 121 4.3 Erklärung aus Sicht des Mehrebenenregierens 121 Die Idee vom leistungsfähigen Kooperationsverbund von Staat und Gesellschaft hat sich nach den Umfrageergebnissen in den befragten Regionen zur herrschenden Lehre entwickelt und wird mittlerweile von der Mehrheit der regionalen Akteure positiv bewertet- - ein in dieser Eindeutigkeit unerwartetes Ergebnis. Es zeigt nur geringe Variationen, die weder mit der verfassungsrechtlichen Stellung noch der ökonomischen Ausstattung der Regionen erklärt werden können. Die gleiche Eindeutigkeit zeigt die Frage nach der Zustimmung zu speziellen Formen der kooperativen Politik, wie z. B. privat-öffentlich besetzte Konsultationsgremien, die vor allem in Baden-Württemberg in Form von Gesprächskreisen praktiziert werden. Eine Beteiligung an Konsultationsgremien wird begrüßt, zumal sie privaten Akteuren mehrheitlich als Chance gilt, sich an wichtigen Entscheidungen beteiligen zu können. Als sinnvoll wird dabei erachtet, dass der Staat die Rolle des Moderators zwischen den Interessen übernimmt und weniger als autonomer Entscheidungsträger agiert. Deutlich zeigt sich ebenfalls die Parallelität der Einstellung von öffentlichen und privaten Akteuren. Sowohl Unternehmen (79 Prozent der Befragten), Wirtschaftsverbände (90 Prozent) und Kammern (94 Prozent) als auch Vertreter von Parteien und Parlamenten (70 Prozent) und Verwaltungen (87 Prozent) sowie die Vielzahl der halböffentlichen Einrichtungen (82 Prozent) zeigen sich von den Vorteilen einer »kooperativen Politik« überzeugt. Die geäußerte Kritik an solchen Konsultationen-- »Probleme werden häufig zerredet« (30 Prozent der Befragten), »Verantwortlichkeiten werden verwischt« (30 Prozent) und »Zeit geht verloren« (33 Prozent)-- führten indes nicht zu einer allgemeinen Ablehnung (Knodt 1998a: 106). Deutlich zu erkennen ist insgesamt, dass die regionalen Akteure die partnerschaftlichen Leitideen weitgehend übernommen haben. Zudem lassen sich leichte Variationen vor allem im Fall der vertikalen Partnerschaft durch die beiden in der Literatur verbreiteten Variablen »verfassungsrechtliche Stellung« und »wirtschaftliche Potenz der Regionen« ansatzweise erklären. Trotzdem ist es sinnvoll, noch eine weitere Variable zur Erklärung hinzuzuziehen, und zwar die Interaktionsstrukturen in den Regionen. 49 Dominante Interaktionsstrukturen in den Regionen Zur Verdeutlichung der dominanten Interaktionsstrukturen in den Regionen soll hier zunächst eine Beschränkung auf die beiden deutschen Regionen vorgenommen werden, um an dieser Stelle die konstitutionelle Verfasstheit konstant zu halten und die 49 Es wurde gefragt, ob aus Sicht ihrer Organisation jene Gruppen mehr Gehör finden sollten, die sich für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Staat und Gesellschaft einsetzen. Aus Gründen der Vergleichbarkeit hatten wir uns bei der Formulierung dieser Frage in den verschiedensprachigen Fragebögen auf die Aussage des Weißbuches der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, »Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung« (1994), gestützt. Die Grafik zeigt den Mittelwert einer Sechser-Skala von 1 =-»stimme überhaupt nicht zu« bis 6 =-»stimme voll zu«. <?page no="121"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 122 122 4. Multi-Level Governance Unterschiede in der Strukturierung der Regionen herauszuarbeiten. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass öffentliche und private Akteure in ihrer routinierten Politikgestaltung Strukturen der gemeinsamen Interaktion schaffen, die je nach Region typische Charakteristika aufweisen. Der Vergleich soll zeigen, ob sich die geteilten Überzeugungen mit Blick auf die Vorteile kooperativen Regierens auch in der Interaktionsstruktur der Regionen ablesen lassen. Geht man von einem konstruktiv-reflexiven Ansatz aus, so müssten gleiche kooperative Orientierungen bzw. die gefundenen Zustimmungen zu einem kooperativen Paradigma auch in gleichartigen kooperativen Kommunikations- und Interaktionsstrukturen in den Regionen zu beobachten sein. Allerdings wird vorliegend davon ausgegangen, dass regionale traditionelle Politikmuster respektive -stile die Umsetzung eines kooperativen Paradigmas wesentlich beeinflussen. 50 Somit müssten sich unter anderem Routinen der bevorzugten Kommunikation bestimmter Akteure und die Marginalisierung anderer in einer Region in den Interaktionsstrukturen niederschlagen und einen kooperativen Stil behindern. Die Untersuchung und Darstellung der regionalen Interaktionsstrukturen basiert auf der Netzwerkanalyse. Netzwerke werden als »soziale Netzwerke« im Sinne Pappis verstanden, also als eine durch Sozialbeziehungen eines bestimmten Typs verbundene Menge von Einheiten (Pappi 1993 : 85). Im Untersuchungsfall wurde die Menge der Einheiten durch die Begrenzung der Befragten auf »regionale Akteure« räumlich bestimmt. Inhaltlich wurde nach den Beziehungen im Politikfeld »regionale Wirtschaftspolitik« gefragt, das zugleich auch die regionale Strukturpolitik umfasst. Die folgende Grafik zeigt sogenannte »soziale« oder »Pfaddistanzen«. Diese entsprechen den Kommunikationskanälen der hier ausgewählten Organisationen. Pfaddistanzen geben Auskunft über die direkten und indirekten Beziehungen der im Netzwerk enthaltenen Organisationen. 51 Auf der Grundlage einer Soziomatrix, die verdeutlicht, wer wen direkt erreichen kann, wird eine Multidimensionale Skalierung (MDS) vorgenommen, um die Beziehungen räumlich darzustellen. Die sich ergebende Struktur zeigt die wichtigsten Organisationen, welche die Integration des Gesamtsystems und damit die Verbindung der Teilnetzwerke herstellen, oben angeordnet. Die Position der Organisationen und deren-- im Folgenden durch Pfeile verdeutlichten-- Kommunikations- 50 Wenn in diesem Kapitel die Bezeichnung »Stil der Politikgestaltung« bzw. »Politikstil« zur Kennzeichnung von traditionellen Mustern von politischem Routinehandeln etc. benutzt wird, so ist damit Folgendes gemeint: Politikstile sind als-- sich nicht in einer hierarchischen Rangordnung befindendes-- Set von dominanten (kognitiven) Deutungsmustern und Paradigmen, Mustern von Akteursbeziehungen und Routine-Problemlösungsmechanismen beschreibbar, die sich auf Dauer in einem spezifischen Handlungsraum verfestigt haben (vgl. Knodt 1998b: 36-40). 51 Zur Erläuterung des netzwerkanalytischen-- nicht sehr glücklich gewählten, sondern eher verwirrenden-- Begriffs der sozialen oder Pfaddistanz: Wenn A und B direkt verbunden sind und dies auf B und C ebenfalls zutrifft, A und C dagegen keine direkte Verbindung haben, so kann A C nur über B und damit mit dem Zurücklegen von zwei Wegen/ Pfaden erreichen. Die Pfad- oder soziale Distanz beträgt somit 2. Zur Berechnung vgl. Pappi 1987 : 28-33. <?page no="122"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 123 4.3 Erklärung aus Sicht des Mehrebenenregierens 123 kanäle bzw. Beziehungen können in diesem Stadium bereits als erstes heuristisches Mittel verwendet werden, um Aussagen über die Zentralität der Netzwerkakteure und die Dichte des Netzwerkes zu treffen. Bereits an dieser einfachen Darstellungsart lassen sich Charakteristika der Strukturierung der beiden Regionen ablesen, die sich durch die gesamte Analyse der Daten hindurch bestätigen. Daher und aufgrund der anschaulichen Darstellungsart-- auch für den mit der Netzwerkanalyse nicht sonderlich vertrauten Leser- - werden die zentralen Ergebnisse der Netzwerkanalyse für die beiden deutschen Regionen anhand der MDS erläutert (vgl. Knodt 1998b). Grafik 11 präsentiert die Unterschiedlichkeit der groben Strukturierung der regionalen Vernetzung. Auf den ersten Blick zu erkennen ist die unterschiedliche Dichte der beiden Netzwerke: Während Baden-Württemberg eine wesentlich dichtere Kommu- A5 A1 A3 A4 A7 A5 A1 A3 B3 A6 A8 P1 a10 A2 P3 P5 B4 B1 B2 P4 Baden-Württemberg Niedersachsen sample size: 27 density: 0.13 centralization D: 35.69 centralization B: 36.16 most central D: A5, A1, A3 most central B: A5, A1, A7 sample size: 21 density: 0.09 centralization D: 12.11 centralization B: 17.71 most central D: A5, A1, A3 most central B: A5, A1, B3 Quelle: REGE, MZES 1996; Grote 1997; Grote 2009 Grafik 11: Regionale Netzwerke in Baden-Württemberg und Niedersachsen Zentrale Akteure: Baden-Württemberg: A5: Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie A1: Staatsministerium Baden-Württemberg A3: Ministerium für Wissenschaft und Kunst Niedersachsen A5: Sozialministerium A1: Staatskanzlei Niedersachsen A3: Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie <?page no="123"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 124 124 4. Multi-Level Governance nikation besitzt, fällt in Niedersachsen die Vernetzungsdichte relativ gering aus. In konkreten Werten ausgedrückt entspricht die Dichte des Netzwerkes in Baden-Württemberg 0,13 und die Niedersachsens 0,09. Die durchschnittliche Dichte aller neun Regionen liegt bei 0,16. Damit liegt auch Baden-Württemberg im europäischen REGE-Vergleich unter dem Durchschnitt. Gut zu erkennen ist ferner der höhere Zentralitätsgrad Baden-Württembergs. In Niedersachsen ist ein Zentrum schwerer auszumachen, in Baden-Württemberg tritt es dagegen deutlich hervor. Das hier gemessene Netzwerk entspricht dem Bild Baden-Württembergs als eines der zentralisiertesten und hierarchischsten Länder in Deutschland. In der Sekundärliteratur werden dem Land folgende Charakteristika zugeschrieben: Baden-Württemberg wird als eine Region beschrieben, die vor allem seit dem Wirken des ehemaligen Ministerpräsidenten Lothar Späth eine zentrale und stark hierarchisch strukturierte Verwaltung aufweist. Gut erkennbar ist das auch in der Literatur hervorgehobene Dreieck von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft- - hier repräsentiert durch das Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Technologie, das Staatsministerium und das Ministerium für Wissenschaft und Kunst. Gesellschaftliche Kräfte werden selektiv innerhalb des Dreieckes in den Politikgestaltungsprozess eingebunden- - Gewerkschaften sowie andere verbandlich organisierte Interessenvertretungen bleiben indes weitgehend außen vor. Das Land setzt seine Politik in vielen Fällen über eng an den Staat gebundene Mittlerorganisationen durch und in der paradigmatischen Orientierung ist man eher den hierarchischen Formen des Regierens verhaftet. Erste Umorientierungen in Richtung kooperatives Paradigma haben nur in der kurzen Periode der großen Koalition (1992 bis 1996) stattgefunden. Doch selbst hier erfolgte die Umsetzung unter starker Prägung durch »individualistisch-selektive« Kooperation 52 , wie etwa in der »Zukunftskommission Wirtschaft 2000«, dem Innovationsbeirat des Staatsministeriums und den Gemeinschaftsinitiativen des Wirtschaftsministeriums (vgl. Knodt 1998a: 112-118). Das Wirtschaftsministerium hat sich seit der Ära Späth von einer zunächst untergeordneten Rolle zu einem dem zuvor dominierenden Staatsministerium gleichgestellten Akteur entwickelt. Ebenfalls auffällig an der räumlichen Platzierung der bei- 52 Die starke Stellung der Unternehmen in Baden-Württemberg hat Autoren wie Heinze und Schmid dazu veranlasst, den Begriff des »unternehmensgesteuerten Korporatismus« (Heinze/ Schmid 1994 : 74) für Baden-Württemberg zu kreieren. In dieser Studie hingegen sollen die Charakteristika der Steuerungsleistung der Späth-Regierung vielmehr in der kategorischen Ablehnung der Einbeziehung kollektiver Interessenvertretungen in die Steuerungspraxis des Landes gesehen werden. In kaum einem anderen deutschen Land wurde das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft in einem solch starken Ausmaß über Persönlichkeiten und damit ganz nach der Logik Späths über Individuen definiert wie in dessen Regierung. Diese Routine hat sich dergestalt verfestigt, dass diese Praxis auch nach dem Abgang Späths zu einem großen Teil beibehalten wurde. Von daher soll hier weniger von einer »unternehmensgesteuerten«, als von einer »individualistisch-selektiven«- - also vom Staat gesteuerten-- Kooperation zwischen öffentlichen und privaten Akteuren in der Region gesprochen werden. <?page no="124"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 125 4.3 Erklärung aus Sicht des Mehrebenenregierens 125 den Ministerien ist die Nähe zur Gesellschaft für internationale wirtschaftliche und wissenschaftliche Zusammenarbeit Baden-Württemberg mbH 53 (GWZ) (B7). Diese Gesellschaft ist eine vom Land und dem Landesverband der Baden-Württembergischen Industrie getragene Wirtschaftsfördergesellschaft, welche die Bereiche Außenwirtschaft, Industrieansiedlung und Auslandsprojekte betreut. Auffällig ist dabei die geografische Nähe und personelle Verflechtung mit der Landesregierung. Die GWZ ist, genauso wie das Landesgewerbeamt (eine dem Wirtschaftsministerium nachgeordnete Behörde und zugleich Dienstleistungszentrum für die Wirtschaft), die Steinbeis-Stiftung für Technologietransfer und das der Stiftung angegliederte EU-Verbindungsbüro für Forschung und Technologie/ Steinbeis-Europazentrum im »Haus der Wirtschaft«, räumlich in direkter Nachbarschaft zum Wirtschaftsministerium untergebracht. Die Einbeziehung intermediärer Kräfte, wie vor allem der Steinbeis-Stiftung, in die Politikgestaltung hat ihren Ursprung bereits in den 1970er Jahren und wurde von der Späth-Regierung Anfang der 1980er Jahre forciert und ausgebaut (vgl. Knodt 1998b). Die Nähe der Steinbeis-Stiftung (B2) und des EU-Verbindungsbüros (B3) lässt sich in der Grafik eindeutig erkennen. Ganz anders gestaltet sich der Fall Niedersachsen: Hier sind die dem Wirtschaftsministerium nächsten Akteure die Kreisverwaltungen. Das Wirtschaftsministerium stellt einen weniger zentralen Akteur dar. Dieser zunächst erstaunliche Befund ist damit zu erklären, dass in Niedersachsen die regionale Wirtschaftsförderung und Raumplanung zu großen Teilen auf der lokalen Ebene bei den Ämtern für Wirtschaftsförderung der Kreise und kreisfreien Städte, den sogenannten »Wirtschaftsförderern«, angesiedelt ist und die kommunale Ebene somit wesentlich stärker in die Politikgestaltung eingebunden ist als in der Vergleichsregion. Dem versucht die Landesregierung seit Anfang der 1990er Jahre mit einer Initiative zur Regionalisierung der Strukturpolitik entgegenzuwirken und die Regionalpolitik zugleich stärker zu bündeln. Zentraler Akteur ist hier das Sozialministerium, das sehr eng mit den Gewerkschaften und dem Innenministerium vernetzt ist. Dem entspricht das Bild, das sich in der-- leider eher spärlich vorhandenen-- Literatur zu Niedersachsen finden lässt: Das Land wird als eine Region beschrieben, deren Struktur weit weniger starke Hierarchien aufweist als Baden-Württemberg. Traditionelle Problemlösungsmechanismen, die sich hätten bewähren können und von den Akteuren als »angemessen« definiert werden, fehlen nahezu vollständig. Ohne einen gesellschaftlichen und politischen Konsens dessen, was als adäquate Problemlösungsstrategie anzusehen ist, zeigt sich das Land zum einen offener für neue paradigmatische Orientierungen, so dass sich bereits viele Ansatzpunkte für eine kooperative Politikgestaltung in Niedersachsen ausmachen lassen. Zum anderen jedoch sind regionale Akteure bei fehlenden Routinen zu ständiger Neuorientierung unter Unsicherheit gezwungen. Statt einge- 53 Die heutige Bezeichnung lautet »Baden-Württemberg International«, aufgrund des Datums der Umfrage wird im Folgenden die frühere Bezeichnung verwendet. <?page no="125"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 126 126 4. Multi-Level Governance fahrener Entwicklungspfade wurde in Niedersachsen eine Trial-and-Error-Strategie verfolgt, die im ständigen Nachahmen und Ausprobieren neuer Strategien bestand und häufig nicht konsequent umgesetzt wurde. Gefördert wurde dieser Mix an Strategien durch häufig wechselnde (partei-)politische Mehrheiten und Regierungen. So konnten sich dialogorientierte Elemente in der Politikgestaltung Niedersachsens mit der seit 1990 existierenden rot-grünen Regierungskoalition verstärkt durchsetzen. Mittlerorganisationen spielen dabei in Niedersachsen traditionell jedoch keine starke Rolle. Das Land ist dazu durch (partei-)politische cleavages geprägt, die sich in einer Blockbildung zwischen Unternehmen, Verbänden und Kammern gegenüber der Landesregierung und den Gewerkschaften manifestieren (vgl. Knodt 1998b). Den Abschluss bildet ein kurzer vergleichender Blick auf die Organisationen, deren Arbeit auf die Angebote der EU ausgerichtet ist und die eine Art Anlaufstelle für mit europäischen Fragen befasste Organisationen darstellen. Dabei drängt sich der Eindruck eines sehr unterschiedlichen Stellenwertes europäischer Fragen auf: Als »europäische Organisation« ist das EU-Verbindungsbüro für Technologie in Baden- Württemberg (B3) relativ zentral und weist starke Verbindungen sowohl zu Wissenschaftsorganisationen, wie etwa den Universitäten (B9) und der Steinbeis-Stiftung (B2), als auch zu Wirtschaftsverbänden sowie den zentralen Ministerien auf. Aus diesem ersten strukturellen Eindruck könnte man die These generieren, dass »Europa« stark in die regionale Vernetzung integriert ist und einen relativ wichtigen Stellenwert einnimmt. Dagegen hat das Europäische Informationszentrum (EIC) in Baden-Württemberg eine eher randständige Position und erscheint nicht unter den zentralen Akteuren im Netz. Ähnlich, wenn auch ausgeprägter, ist die Situation in Niedersachsen: Das EG-Hochschulbüro Hannover/ Hildesheim hat gute Verbindungen zu den Kammern. Die Einrichtung des EIC befindet sich dagegen in einer extremen Abseitsposition und wird hier in der Darstellung der zentraleren Akteure überhaupt nicht angezeigt. Da die Einrichtung eines Hochschulbüros die Beratung hauptsächlich der öffentlichen Wissenschaftseinrichtungen übernommen hat und das EIC im Wesentlichen die wirtschaftlichen Nachfrager berät, ist dies bereits ein erster Hinweis auf Schwierigkeiten dieses Beratungsangebots, effektiv wirksam zu werden. Das gleiche gilt für die Niedersächsische Agentur für Technologietransfer und Innovation (NATI) (B3), die unter anderem als Trägereinrichtung für das zentrale EIC im Land fungiert. Die NATI ist locker an das Staatsministerium gebunden, weist also nicht die enge Anbindung der Steinbeis-Stiftung an die Landesministerien auf und verfolgt auch eine andere Förderstrategie. Die NATI fungiert als reine Informationseinrichtung für die Wirtschaft, während die Steinbeis-Stiftung sowohl informiert und weitervermittelt als auch durch die ebenfalls an die Stiftung gekoppelten Transferzentren Technologietransfer betreibt. Baden-Württemberg hat es geschafft, die Verbindung zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor durch die Auslagerung von öffentlichen Aufgaben auf halbstaatwww.claudia-wild.de: <?page no="126"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 127 4.3 Erklärung aus Sicht des Mehrebenenregierens 127 liche Organisationen (wie unter anderem GWZ, LGA und Steinbeis-Stiftung) zu stärken. Diese Organisationen nehmen somit eine Mittlerrespektive Vermittlerstellung ein. Die Staatskanzlei in Niedersachsen weist hingegen eine Verflechtung auf, die weniger den wichtigen Ministerien als eher so unterschiedlichen Organisationen wie Interessenverbänden, halb-öffentlichen Beratungsinstitutionen und öffentlichen Akteuren der kommunalen Ebene gilt. In beiden Ländern sind Staatsministerium und Staatskanzlei in Nachfolge der nach Regierungsumbildungen aufgelösten Bundes- und Europaministerien mit der Betreuung der EU-Arbeit betraut. Ihnen obliegt die Bearbeitung allgemeiner und ressortübergreifender Fragen. Die europäische Facharbeit wird in den zuständigen Ministerien erledigt. In Niedersachsen ergaben die zusätzlich geführten Interviews, dass die Staatskanzlei deutlich schlechter eingebunden ist als im Falle Baden-Württembergs. Die niedersächsischen Fachministerien sehen in europäischen Fragen ihres Ressorts keinen Grund zur Zusammenarbeit mit der Staatskanzlei und reduzieren den Kontakt auf den notwendigen Informationsaustausch. Dies erscheint auch die gängige Praxis in denjenigen Fragen zu sein, die nicht genuin europäische Belange betreffen. In Baden-Württemberg dagegen hat das Staatsministerium aus der Regierungszeit Späths seine dominante Stellung-- wenn auch mit Abstrichen-- halten können. Eine zunehmend wichtige Rolle spielt dort das Innenministerium. Das niedersächsische Pendant ist auf der anderen Seite offenbar in die Gruppe der gut vernetzten Ministerien einbezogen und hat damit ähnliche Beziehungen aufgebaut wie beispielsweise das Wirtschaftsministerium. Dies entspricht den Befunden aus der Analyse der regionalen Strukturpolitik Niedersachsens, in der das Innenministerium zusammen mit dem Wirtschaftsministerium eine tragende Rolle in der Initiative zur Regionalisierung der Strukturpolitik spielte. Aufgrund einer fehlenden Vermittlerstruktur- - wie sie für Baden-Württemberg charakteristisch ist- - sind die Interessenvertreter gezwungen, direkte Kontakte mit den öffentlichen Stellen aufzunehmen. In Niedersachsen sind damit sowohl die intermediären Organisationen wie die NATI als auch die Interessenvertreter in der gleichen Position und genießen nicht die privilegierte Anbindung entsprechender Akteure in Baden-Württemberg. So sind sowohl die unterschiedlichen niedersächsischen Gewerkschaften (P3, P4, P5) als auch die Universitäten (B7) in der Grafik in eigenen unverbundenen Netzwerken zu sehen. Dieser Abschnitt zeigte deutlich, dass insbesondere die regionalen Interaktionsstrukturen für die Umsetzung der europäischen Leitideen und Paradigmen verantwortlich waren. Somit wird eine grundsätzliche Zustimmung zur kooperativen Politik in den Regionen ganz unterschiedlich umgesetzt. Hierbei ist bei konstant gehaltener verfassungsrechtlicher Stellung die Ressourcenausstattung der jeweiligen Region weniger entscheidend. Vielmehr kann das Muster der Umsetzung vor allem mit den regionalen Politikstilen und traditionellen Interaktionsmustern erklärt werden. <?page no="127"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 128 128 4. Multi-Level Governance 4.4 Fazit Dieses Kapitel hat sich der europäischen Strukturfondsförderung aus der Perspektive des Mehrebenenregierens genähert. Da der Ansatz des Mehrebenenregierens keine eigenständige Theorie darstellt, muss er mit Teilaspekten anderer Theorien gefüllt werden. Dieses Kapitel hat gezeigt, welche Fragestellung man mit einem institutionell geprägten Mehrebenenansatz verfolgen kann. Ausgangspunkt war ein weiter Institutionenbegriff, der die formale Organisation von Politik ebenso beinhaltet wie Routinehandeln und die Konzepte legitimen Regierens. Institutioneller Wandel auf regionaler Ebene, so die hier getroffene Annahme, kann dabei ebenso durch Vorgaben der europäischen Ebene verursacht werden wie auch durch Einbindung und Angebote. Die zentrale Frage dieses Kapitels lautete, welcher institutionelle Wandel sich in den Regionen durch die Einbindung in das europäische Mehrebenensystem im Politikfeld »Strukturfondspolitik« sowie der damit verbundenen Angebote erkennen lässt. Es wurde gezeigt, dass institutioneller Wandel auf der regionalen Ebene durch die verstärkte Einbindung lokaler politischer und gesellschaftlicher Akteure stattfindet. So wurden vor allem die europäischen Leitideen der Partnerschaft in ihren beiden Dimensionen als Angebot der europäischen Ebene sowie als in die Strukturfondspolitik eingebundenes Paradigma von den regionalen Akteuren aufgenommen. Dieser Wandel lässt sich folgendermaßen erklären: Im Rahmen der Überprüfung der oben formulierten Thesen wurde festgestellt, dass die Wahrnehmung europäischer Paradigmen weniger stark variiert als bisher in der Literatur postuliert. Insgesamt waren die Zustimmungswerte sehr hoch. Die in der vertikalen Dimension auszumachenden Unterschiede konnten zum Teil mit einer unterschiedlichen verfassungsmäßigen und ökonomischen Ausstattung der Regionen erklärt werden. In der Umsetzung des kooperativen Paradigmas ergab sich eine Variation nach den regionalen Besonderheiten des Interaktionsraums (der Vernetzung) wie auch den spezifischen Politikroutinen. Unerklärt bleiben hingegen die Entstehung der unterschiedlichen Politikroutinen und -stile sowie die Frage nach deren Veränderbarkeit. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf, der zum einen diese weichen Konzepte besser als bisher geschehen operationalisiert sowie auch in empirischen Analysen umsetzt. Ebenfalls nicht in den Blick genommen wurde die Rolle der Mitgliedstaaten bei der Entwicklung des kooperativen Paradigmas auf europäischer Ebene, also der upload des Konzepts »Europa der Regionen« von der mitgliedstaatlichen auf die europäische Ebene. <?page no="128"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 129 4.4 Fazit 129 Literatur Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas 1969: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. 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München, 11-37. <?page no="130"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 131 4.4 Fazit 131 Puchala, Donald 1971: Of Blind Men, Elephants and International Integration, in: Journal of Common Market Studies 3 : 3, 267-85. Scharpf, Fritz W. 1985: Die Politikverflechtungs-Falle. Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift 26 : 4, 323-356. Weber, Max 1980: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie. Nachdruck der 5. Aufl. von 1972, Tübingen. <?page no="131"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 132 <?page no="132"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 133 133 5. Europäisierung und die nationalen Rückwirkungen europäischer Regionalisierungspolitik Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Ansatz der Europäisierung. Auf Grundlage eines spezifischen Verständnisses von Europäisierung entwickeln wir geeignete Analysekriterien und untersuchen die Regionalisierung in Rumänien als einem der Kandidatenländer vor dessen Beitritt zur Europäischen Union. Wie in den vorangegangenen Kapiteln wird auch hier in drei Schritten vorgegangen: Zunächst erfolgt eine Einführung in den Ansatz der Europäisierung und eine Erörterung darüber, wie er sich in die integrationstheoretische Landschaft einfügt. Sodann werden Hypothesen mit Blick auf die Regionalisierungspolitik aus einer selbst entwickelten theoretischen Spielart der Europäisierung abgeleitet. Zuletzt wird dieser Ausschnitt der Regionalpolitik aus theoretischer Sicht erklärt. 54 5.1 »Theorie« der Europäisierung Die Anführungsstriche in der Überschrift deuten bereits an, dass im Forschungsfeld Europäisierung keine ausgearbeitete Theorie existiert, sondern eher verschiedene Ansätze, mit denen einzelne Aspekte der europäischen Integration erklärt werden können. Europäisierung befasst sich mit der Frage nach den nationalen sowie regionalen Rückwirkungen europäischer Politik und damit auch mit dem Wandel, den Drittstaaten in Folge europäischer Entscheidungen vollziehen. Weil es sich nicht um eine Theorie handelt, lassen sich auch nur wenige allgemein geteilten Prämissen nennen. Die wichtigsten Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Ansätze lauten wie folgt: 1. Europäisierung ist nicht statisch zu verstehen, sondern vielmehr als ein Prozess, den die Adressaten- - je nach Untersuchungsgegenstand in unterschiedlichem Ausmaß-- beeinflussen können. 2. Untersucht werden neben Mitgliedstaaten auch Beitrittskandidaten und andere Staaten, die in ähnlichen Abhängigkeiten zur europäischen Politik stehen. Europäisierungsforschung adressiert die Anpassung formaler und informeller Regeln, Prozeduren und gemeinsamer Werte und Normen sowie die drei Dimensionen von Politik (polity, politics, policy). 3. Europäisierung fokussiert nicht mehr auf das »Wesen« der europäischen Institutionen, Akteure und deren Politik, sondern vielmehr darauf, wie Entscheidungen auf 54 Dieses Kapitel basiert teilweise auf Corcaci 2007. <?page no="133"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 134 134 5. Europäisierung der europäischen Ebene in Drittstaaten rückwirken (vgl. Axt/ Milososki/ Schwarz 2007 : 137 ff.). 4. Europäisierung ist im Kontext konkreter Forschungsfragen zumindest innerhalb der etablierten Erklärungsansätze eher als zu erklärendes Phänomen (problem; abhängige Variable) denn als Erklärung für andere Phänomene (solution; unabhängige Variable) anzusehen (vgl. Radaelli 2006). Mit Blick auf die analytische Vereinheitlichung von Europäisierung existieren bestenfalls einige Bestrebungen, die systematischen Charakteristika herauszuarbeiten. Hier sei insbesondere auf die Ideen und Arbeiten von Radaelli (2000a, 2003) verwiesen, die als Grundlage zur weiteren Erläuterung dienen. Im Folgenden sollen die Ideen Radaellis dementsprechend im Fokus stehen. Alle anderen Beiträge behandeln wir unter Berücksichtigung seiner Vorarbeit. Diese Vorgehensweise erleichtert das Verständnis und hilft dabei, den Kern des Ansatzes im Auge zu behalten (vgl. Corcaci 2007 : 2-6). Insbesondere nach der Verwirklichung eines einheitlichen Binnenmarkts in der EU im Jahr 1993 stieg das Forschungsinteresse an Fragen danach, wie europäische Politik in den Mitgliedstaaten rückwirkt, erheblich. Wie in Punkt (3) angedeutet, geriet die Beschäftigung mit der Bildung und Weiterentwicklung von Strukturen und Institutionen auf europäischer Ebene-- also mit dem »Wesen« der EU-- aus dem Fokus der Forschung. Die Phase vor 1993 benennen Caporaso und nach ihm zahlreiche weitere Autoren deswegen als ontologische (d. h., auf das »Wesen« bzw. »Sein« bezogene) Perspektive der Makrotheorien-- in diesem Falle mit Bezug auf Integrationstheorien. Sie wurde in den 1990er Jahren zunehmend durch eine post-ontologische Phase abgelöst (Caporaso 1996 : 30; vgl. Radaelli 2000a: 25). Damit bezeichnet Caporaso den Wechsel von der Beschäftigung mit der ausschließlich eigenlogischen Entwicklung der EU hin zu einer Fokussierung auf die Rückwirkungen, die inzwischen gefestigte europäische Strukturen und Institutionen in den Mitgliedstaaten haben. Nur unter Einbeziehung solcher Aspekte lässt sich der inhaltliche Politikprozess adäquat erfassen. Nachdem also the nature of the beast (vgl. Risse-Kappen 1996) vorerst geklärt zu sein schien, wandte sich die wissenschaftliche Debatte zunehmend Überlegungen zu, wie denn überhaupt Prozesse und deren outcomes zu erklären seien. Da intergouvernementalistische und neo-funktionalistische Ansätze sich vor allem mit Macht- und Ressourcenfragen auf den unterschiedlichen politischen Ebenen beschäftigen, fehlt hier der Blick auf die Aus- und Rückwirkungen europäischer Integration. Wesentliche Beiträge zur systematischen Betrachtung der theoretischen Grundlagen von Europäisierung hat Radaelli ab dem Jahr 2000 vorgelegt. Wie bereits aus den wenigen bisherigen Anmerkungen weiter oben ersichtlich wird, handelt es sich bei Europäisierung zunächst ganz allgemein gesprochen um die Beobachtung, dass Politik auf der europäischen Ebene in die Mitgliedstaaten hineinwirkt. Dementsprechend scheint der Umkehrschluss darin zu liegen, dass sich die Staaten auf irgendeine Weise <?page no="134"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 135 5.1 »Theorie« der Europäisierung 135 anpassen müssen-- sonst würde keine »Europäisierung« stattfinden. Doch mit einer solchen, eher auf die Umgangssprache bezogenen Betrachtung bleibt zunächst unklar, wie die integrationswissenschaftliche Forschung mit einem solchen Phänomen konzeptuell umgeht. Wie Radaelli (2003 : 52) und zahlreiche andere Autoren anmerken, knüpft Europäisierung an die sogenannte Second-Image-reversed-Perspektive in den Internationalen Beziehungen an (vgl. dazu Gourevitch 1978). Sie beschäftigt sich mit denjenigen Erklärungsfaktoren für nationalen Politikwandel, die auf der internationalen Ebene zu finden sind. In einem ersten Schritt muss also zunächst definitorisch geklärt werden, worum es sich bei »Europäisierung« genau handelt. Schon darüber herrscht im wissenschaftlichen Diskurs eine große Uneinigkeit. So existieren minimalistische aber zugleich zweckgebundene Definitionen wie diejenige von Schimmelfennig/ Sedelmeier (2005a: 7), die den Begriff als »a process in which states adopt EU rules« verstehen und damit einen nicht näher charakterisierten Prozess der Aneignung von Vorgaben durch die EU beschreiben. Dieses Verständnis verweist im Zusammenhang mit der Europäisierung von EU-Beitrittskandidaten auf die dort vorherrschende Logik, dass sich Kandidaten den Vorgaben der EU anpassen müssen, um in die EU aufgenommen zu werden. Dies wird weiter unten noch ausführlicher angesprochen. Eine sehr allgemeine und dadurch nur eingeschränkt nutzbare Definition findet sich beispielsweise bei Vink (2003 : 72), dem zufolge Europäisierung »is always (to a certain extent) a process of domestic political change caused (somehow) by processes of European integration«. Hier wird klar ersichtlich, dass lediglich ein möglichst abstrakter Zusammenhang zwischen Europäischer Integration und nationalem Wandel hergestellt werden soll, ohne dies jedoch genauer zu erläutern. Zeitlich davor entstanden, inhaltlich zugleich aber spezifischer ist die Definition von Ladrech (1994 : 69), der Europäisierung bezeichnet als »an incremental process of reorientating the direction and shape of politics to the degree that EC political and economic dynamics become part of the organizational logic of national politics and policy-making«. Es lässt sich sofort erkennen, dass er aus einer organisationstheoretischen Sichtweise heraus argumentiert und die strukturelle Umformung nationaler Politikmodelle und die Bedeutung des politischen Neuausrichtungsprozesses betont. Eine letzte Definition sei hier genannt, die ihren Fokus auf Policy-Netzwerke legt und damit auf den ersten Blick einen Teilaspekt des Regierens in Mehrebenensystemen überbetont. Netzwerke, innerhalb derer Entscheidungen vorbereitet oder getroffen werden können, sind eher als Teil der empirischen Analyse zu verstehen und weniger als integraler Bestandteil von Europäisierung (vgl. Radaelli 2003 : 29). Dennoch begreifen Risse/ Cowles/ Caporaso (2001 : 3) Europäisierung als »the emergence and development at the European level of distinct structures of governance, that is, of political, legal, and social institutions associated with politiwww.claudia-wild.de: <?page no="135"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 136 136 5. Europäisierung cal problem solving that formalize interactions among the actors, and of policy networks specializing in the creation of authoritative European rules.« In dieser recht verbreiteten Begriffsbestimmung fällt neben der Betonung des Netzwerkaspekts auf, dass sie entgegen einer ersten Vermutung sehr allgemein gehalten ist und wesentliche Teile europäischer Integration und damit institutioneller Entwicklung enthält. Die Autoren ordnen Europäisierung also eher der ontologischen Perspektive zu-- und das, obwohl Caporaso selbst die oben genannte Unterscheidung in zwei Phasen vorgenommen hat. Aufgrund eben solcher begrifflichen Widersprüche ist Radaelli in seiner Annahme zuzustimmen, Europäisierung von Integration, allgemeiner Politikgestaltung und sonstigen Teilbereichen abzugrenzen und möglichst präzise zu bestimmen. Europäisierung als Begriff und wissenschaftliches Konzept zehrt seine Relevanz ja gerade daraus, nicht mit Integration identisch zu sein, sondern neuartige Entwicklungen abzubilden. Radaelli selbst hat eine vielbeachtete und inzwischen etablierte Definition präsentiert, die solche Probleme zu vermeiden sucht und auf derjenigen von Ladrech basiert. Radaelli zufolge umfasst Europäisierung folgende Aspekte: »Processes of (a) construction (b) diffusion and (c) institutionalization of formal and informal rules, procedures, policy paradigms, styles, ›ways of doing things‹ and shared beliefs and norms which are first defined and consolidated in the making of EU decisions and then incorporated in the logic of domestic discourse, identities, political structures and public policies.« (Radaelli 2000b: 4; ähnlich Radaelli 2003 und 2006). Dieses Verständnis beinhaltet nicht nur die Annahme, dass Europäisierung als Prozess wesentlich die Logik nationalen politischen Handelns beeinflusst, sondern auch die Richtung jenes Wandels. Radaelli geht davon aus, dass auf europäischer Ebene entsprechende Praktiken entstehen und sich etablieren (Integration), die dann in die nationalen und subnationalen Strukturen Einzug finden und diese letztlich verändern (Europäisierung). Er verweist ebenfalls darauf, dass die Anpassung streng genommen weniger mit Europa als Kulturraum, sondern vielmehr mit der EU gesehen als institutionelles Gebilde zusammenhängt. Er spricht deswegen zumindest für den Bereich der Public Policy von »EU-ization« 55 , verweist aber zugleich darauf, dass der Anwendungsbereich von Europäisierung durchaus darüber hinaus reichen kann (Radaelli 55 Obwohl die Formulierung »EU-isierung« vorliegend als die in den meisten Zusammenhängen präzisere angesehen wird, soll im Folgenden zwecks Einheitlichkeit von »Europäisierung« gesprochen werden. <?page no="136"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 137 5.1 »Theorie« der Europäisierung 137 2003 : 27; vgl. Flockhart 2010, Schimmelfennig 2009 56 ). Als Beispiel nennt Radaelli die Übertragung einer Policy von einem Mitgliedstaat auf mehrere andere Drittstaaten. Auch lassen sich Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als Akte der Europäisierung außerhalb der EU-ization begreifen, wenn etwa die Türkei wegen unzureichendem Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt verurteilt wird und das Urteil auch akzeptiert und umsetzt (ECHR 2009). Daran anschließend stellt sich mit Radaelli die Frage, was überhaupt Objekt von Europäisierung ist und in welchem Ausmaß europäisiert wird. Er unterscheidet dabei zunächst zwischen nationalen politischen Strukturen (inklusive normativer Aspekte) und public policy (Radaelli 2000b: 7 ff.). Später erweitert er diesen Ansatz und konzeptualisiert drei Hauptdomänen (für das Folgende vgl. Radaelli 2003 : 34 ff.). Erstens sind nationale Makrostrukturen von Europäisierung betroffen, die auch in der vorliegenden Untersuchung im Vordergrund stehen. Damit gemeint sind zum einen politische Strukturen wie Institutionen, die öffentliche Verwaltung, intergouvernementale Beziehungen sowie rechtliche Strukturen. Zum anderen gehören dazu aber ebenso Strukturen der Repräsentation wie politische Parteien, Interessengruppen, Verbände und Strukturen, die gesellschaftliche Konfliktlinien abbilden. Zweitens ist der umfassende Bereich der public policy betroffen. Dieser beinhaltet die Akteure, Policy-Probleme, Arbeitsstile, Instrumente und Ressourcen von konkreten Politiken. Public policy ist der umfangreichste Bereich innerhalb der Europäisierungsforschung; dementsprechend viele Studien lassen sich zu den unterschiedlichsten Politikfeldern finden. Dabei besteht eine Gemeinsamkeit dieser Untersuchungen darin, dass die Auswirkungen der europäischen Ebene insgesamt (mit Ausnahmen im Einzelfall) eher als hoch eingeschätzt werden. Drittens sind kognitiv-normative Strukturen als Objekt der Europäisierung anzusehen. Sie beinhalten Diskurse, Normen und Werte, Fragen politischer Legitimität, Identitäten, Staatstraditionen und Verständnisse von Governance sowie Policy-Paradigmen, frames und Narrative. Im Gegensatz zu seinem ersten Artikel zur Europäisierung betont Radaelli im Jahr 2003, dass kognitiv-normative Aspekte von anderen Bereichen getrennt betrachtet werden sollen- - und nicht mehr als Bestandteil nationaler Politikstrukturen. Seine Begründung hierfür lautet, dass die Veränderung normativer und kognitiver Strukturen eine eigenständige Erklärungslogik impliziert, die sich weniger institutionell fassen lässt, sondern mehr die Wahrnehmung und Beurteilung von Problemen und Prioritäten betrifft. Mit der Beeinflussung von Interpretationen zu politisch relevanten Themen lässt sich dann auch die Wahrnehmung darüber, ob etwas Legitimität beanspruchen kann, verän- 56 Während sich Flockhart in »Europeanization or EU-ization? « explizit von der institutionellen Struktur »EU« abgrenzt und auf die Diffusion europäischer Ideen und Normen verweist, adressiert Schimmelfennig in »Europeanization beyond Europe« die Wirkungen europäischer Politiken außerhalb Europas. <?page no="137"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 138 138 5. Europäisierung dern. Hiermit lässt sich die betroffene Entscheidung wiederum beeinflussen (vgl. Radaelli 2003 : 36). Nach der Erörterung der Objekte der Europäisierung stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß sich Mitglied- und Drittstaaten anpassen. Radaelli baut seine Überlegungen auf Vorarbeiten von Börzel (1999), Risse/ Cowles/ Caporaso (2001), Héritier (2001) und Héritier/ Knill (2001) auf und unterscheidet zwischen retrenchment, inertia, absorption sowie transformation (Radaelli 2003 : 37 f.). Ersteres bezeichnet den zunächst paradox erscheinenden Fall, dass eine nationale Politik aufgrund des Einflusses der EU weniger »europäisch« wird. Dies kann beispielsweise dann passieren, wenn Akteure unterstützt oder zumindest gestärkt werden, die sich im Nachhinein als EU- Gegner herausstellen und eine anti-europäische Politik in ihrem Staat durchsetzen. Inertia bezeichnet den Fall, dass keine Änderung eintritt, wenn z. B. die nationalen Strukturen mit den Anpassungen an die EU überfordert sind oder es Entscheidungsblockaden gibt, die eine Umsetzung europäischer Politiken verhindern. Absorption zielt hingegen darauf ab, dass zwar eine Anpassung an Vorgaben stattfindet, diese aber oberflächlich bleibt oder zumindest nicht den Kern nationaler Strukturen, Praktiken und Handlungslogiken betrifft. Ein fundamentaler Wandel nationaler Politik wird als transformation bezeichnet. Hier geht es um die völlige Veränderung tief verankerter Strukturen, Praktiken und Politiktraditionen, wie dies z. B. im Rahmen der Staaten Mittel- und Osteuropas nach Ende des Ost/ West-Konflikts zumindest teilweise eingetreten ist. Zuletzt gilt es herauszuarbeiten, anhand welcher Mechanismen Europäisierung erzeugt wird. Grundlegend lassen sich mit Radaelli (2003 : 40 ff.) vertikale und horizontale Mechanismen voneinander unterscheiden. Bei Ersteren entstehen Politiken auf der europäischen Ebene und wirken sich in Folge hierarchisch festgelegter Maßnahmen auf die nationale Ebene aus. Hingegen verstehen horizontale Mechanismen Europäisierung nicht als hierarchischen Politikprozess, dessen Bestimmungen durch die Nationalstaaten befolgt werden müssen, sondern verweisen auf Markt- oder Sozialisationsprozesse. So erzeugt entweder die Konkurrenz am Markt eine Anpassung an die EU oder es gibt eine Diffusion von Ideen und gesellschaftlichen Diskursen, in Folge derer sich good policies und best practices durchsetzen. Radaelli unterscheidet drei Kategorien von Mechanismen, die er in Erweiterung einer Arbeit von Knill/ Lehmkuhl (2002) entwickelt: positive Integration, negative Integration sowie Framing-Mechanismen (Radaelli 2003 : 40 ff.). Ersteres zielt auf all diejenigen Bereiche ab, in denen die EU ein klares Politikmodell top-down vorschreibt, das in den Nationalstaaten umgesetzt werden muss (market-shaping). Diese geraten in einen Anpassungsdruck, weil die Nichtbefolgung sich beispielsweise in Form von Strafzahlungen nachteilig auswirkt. In diesem Zusammenhang sollen die Arbeiten von Börzel (1999) und Risse/ Cowles/ Caporaso (2001) nicht unerwähnt bleiben, wo die sogenannte »goodness of fit« zwischen nationalen Institutionen und europäischen <?page no="138"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 139 5.1 »Theorie« der Europäisierung 139 policies als wesentliches Begründungs- und Erklärungsmuster für Europäisierungsprozesse identifiziert wird. Die goodness of fit bezeichnet dabei das Ausmaß institutioneller Kompatibilität zwischen den verschiedenen Ebenen. Sie geht mit der These einher, dass einerseits Anpassungen umso schwerer werden, je größer der misfit (und damit der Anpassungsdruck) zwischen den Ebenen ist, andererseits aber auch das Ausmaß der nötigen Anpassung steigt (kritisch vgl. Radaelli 2003 : 44 ff.). Als Beispiele dienen die Agrar- und Umweltpolitik oder auch die grundlegenden Elemente des Erweiterungsprozesses. Bei der sogenannten negativen Integration werden keine festen Politikmodelle vorgeschrieben, die EU versucht hingegen gleiche Bedingungen unter den Mitgliedstaaten und Beitrittskandidaten zu schaffen, indem Wettbewerbs- und Handelsschranken ausgeräumt oder sonstige Regulierungsoptionen wie etwa die Einschränkung des Personenverkehrs ausgeschlossen werden (market-making). Mechanismen der negativen Integration gehen demzufolge von vertikalen Maßnahmen aus, weil zunächst ein Markt durch hierarchische Maßnahmen geschaffen wird. Sind einmal die wesentlichen Schranken ausgeräumt, werden die konkreten Wirkungen im Sinne horizontaler Mechanismen durch den Markt bestimmt. Dem folgend lassen sich die Binnenmarkt- und Wettbewerbspolitik als Beispiele für diese Kategorie nennen. Framing-Mechanismen zielen indes auf den kognitiv-normativen Aspekt ab. Im Gegensatz zu vertikalen Mechanismen werden hier keine »harten« Instrumente eingesetzt- - seien dies Verordnungen, Richtlinien oder Urteile des EuGH. Radaelli identifiziert drei Formen von »soft framing«, die als horizontale Mechanismen gelten Vertical mechanisms Coercion Mimetism Positive mechanisms of integration Negative mechanisms of integration Minimalist or non-compulsory regulations Network-like forms of governance Horizontal mechanisms Framing mechanisms Regulatory competition New governance architectures Adaptional pressure Adaptional pressure More legitimacy, new solutions and expectations Diffusion of shared ideas and policy paradigms Domestic opportunity structure Understanding of legitimate governance Mechanisms of Europeanization Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Radaelli 2003 : 41 Grafik 12: Mechanismen der Europäisierung <?page no="139"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 140 140 5. Europäisierung können. Darunter fallen erstens höchst allgemein gehaltene Richtlinien oder unverbindliche Regulierungsoptionen wie etwa in der Schienenverkehrspolitik, die von den Mitgliedstaaten weitgehend frei bestimmt werden kann (ebd.: 43). Wenn die EU auf diese Weise vorgeht, möchte sie dem nationalen Reformprozess zusätzliche Legitimität und Rechtfertigungsgründe eröffnen und neue Lösungsmöglichkeiten für politische Probleme bereitstellen. Damit kann letztlich die Problemwahrnehmung verändert werden. Ein zweiter Mechanismus betrifft die Diffusion von geteilten Ideen und Policy-Paradigmen. Hierbei geht es darum, mithilfe neuer Formen von Governance die Möglichkeit zur Konvergenz von unterschiedlichen Positionen zu eröffnen. Das bekannteste Beispiel auf EU-Ebene ist die »offene Methode der Koordinierung« (OMK), die unter anderem eine Reihe von Handlungsanleitungen, Benchmarks, Peer-Reviews, Monitoring- und Evaluationsstrategien beinhaltet und so im Wesentlichen unterstützend wirkt (ebd.). Radaelli bezeichnet schließlich netzwerkartige Formen der Governance, die über eine Perspektive der balance of power zwischen Akteuren hinausreichen, als den dritten Framing-Mechanismus (Radaelli 2003 : 44; vgl. Kohler-Koch 1999). Europäisierung wirkt sich nicht mehr nur auf gegensätzliche Interessen z. B. zwischen Reformern und Reformgegnern aus, sondern fördert in Folge neuer Regulierungs- und Kooperationsformen auf europäischer Ebene die Verbreitung von Netzwerkstrukturen statt rein hierarchischen Formen des Regierens. Man muss dabei beachten, dass sich Effekte solcher Governance nicht sofort bemerkbar machen. Sie führen diesem Argument zufolge insbesondere langfristig zu einer Veränderung dessen, was als »gutes Regieren« gilt. 5.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Europäisierungsansatz Im Folgenden sollen mithilfe des Europäisierungsansatzes zwei unterschiedliche Problemstellungen untersucht werden: Die erste Frage betrifft die Ermöglichung einer Regionalisierungspolitik in Rumänien als einem der zwölf neuen Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas. Die zweite Frage richtet sich auf das Ausmaß, in dem die Ziele europäischer Maßnahmen im Bereich der Regionalisierung in Rumänien erreicht wurden. Hierbei steht in Anknüpfung an die Unterscheidung Radaellis zwischen Europäisierung von Strukturen und public policy insbesondere die zuerst genannte Dimension im Fokus unserer Betrachtung. Zunächst sollen im Folgenden die grundlegenden Zusammenhänge von Strukturfondsförderung und Regionalisierung dargestellt werden, bevor auf das eigentliche Analysemodell, dessen theoretische Bezugspunkte sowie die dazugehörigen Erklärungsfaktoren eingegangen wird. Zum Bezug von Strukturfondsförderung und Regionalisierung ist anzumerken, dass die Förderung von Regionen durch Strukturfonds auch in Beitrittsländern stets an die Klassifikation der Gebietseinheiten von EU-Mitgliedstaaten gebunden wird. <?page no="140"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 141 5.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 141 Diese als NUTS (nomenclature des unités territoriales statistiques) bezeichnete Systematik definiert unterschiedliche räumliche Bezugseinheiten auf den verschiedenen vertikalen Ebenen eines Staates. Das Europäische Amt für Statistik hat sie ursprünglich entwickelt, um statistische Vergleiche auf internationaler Ebene zu ermöglichen, die Systematik bildet aber inzwischen die Grundlage für die Zuweisung von Strukturfondsmitteln. So diente beispielsweise das PHARE-Programm (Poland and Hungary: Aid for Restructuring of the Economies) bis zum Ende des Jahres 2006 als eines von drei Instrumenten der EU zur Unterstützung von Beitrittsländern und wurde 2007 durch IPA (Instrument for Pre-Accession Assistance) abgelöst. Innerhalb von NUTS gibt es vier regionale und zwei kommunale hierarchische Ebenen: NUTS-0 bezeichnet die Nationalstaaten, NUTS-1 Landesteile (große Regionen), NUTS-2 Landschaften (mittelgroße Regionen), NUTS-3 Großstädte (kleine Regionen), LAU 57 -1 Gemeindeverbände und LAU-2 Gemeinden. In diesem Zusammenhang wurden in Rumänien acht Planungsregionen auf der Ebene NUTS-2 neu geschaffen (rum. regiunile de dezvoltare, Entwicklungsregionen), die für die Zuteilung von Strukturfonds entscheidend sind. Den NUTS-2-Regionen in Rumänien wird durch die politische Führung jedoch nur eine geringe Bedeutung zugesprochen und dementsprechend sind sie laut Gesetz Nr. 151 vom 15.07.1998 über die Regionalentwicklung in Rumänien (später modifiziert durch das Gesetz Nr. 315 vom 28.06.2004) weder mit einer Rechtspersönlichkeit noch mit tatsächlichen Befugnissen ausgestattet (Art. 4 Abs. 2 G151/ 1998; vgl. Benedek/ Horváth 2008 : 227, Schlüter 2011 : 286). Diese Form der strukturellen Regionalisierung wurde dabei Dobre (2008 : 387) zufolge »zum Zweck der Regionalentwicklung und der Verwaltung und zur Umsetzung der Heranführungshilfe und der Strukturfonds« gewählt, nicht jedoch um eine gleichwertige politisch-administrative Ebene im Staat zu etablieren (vgl. Schlüter 2011 : 286). Darüber hinaus entsprechen die neu geschaffenen NUTS-2-Regionen nicht den historischen Regionen oder Verwaltungseinheiten Rumäniens- - offensichtlich sollen dadurch mögliche Forderungen der Regionen nach neuen Kompetenzen von vornherein ausgeschlossen werden (vgl. Boia 2006 : 16, Schlüter 2011 : 286). Zudem wurde festgelegt, dass die 41 Bezirke und die Verwaltungseinheit Bukarest der Ebene NUTS-3 und die darunter liegenden administrativen Einheiten der untersten Ebene LAU-2 entsprechen. Die einzelnen Regionen sind je nach Ebene jedoch nicht unbedingt mit den nationalen Verwaltungseinheiten deckungsgleich, auch wenn sie grundsätzlich auf diesen aufbauen. Das daraus entstehende Konfliktpotenzial wird ersichtlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Gebietseinheiten maßgeblich für die Vergabe von Strukturfondsmitteln sind. 58 57 Local Administrative Unit. 58 Zur lokalen Verwaltung in Rumänien vgl. Corcaci 2009. <?page no="141"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 142 142 5. Europäisierung Da in diesem Kapitel sowohl die Ermöglichung der Regionalisierungspolitik, als auch das Ausmaß der Europäisierung untersucht wird, gibt es auch eine Fragestellung mit zwei Teilaspekten: Erstens geht es darum, unter welchen Bedingungen die Europäisierung der Regionalisierungspolitik in Rumänien realisiert wird. Zweitens ist zu erklären, in welchem Ausmaß das Politikfeld in Rumänien tatsächlich europäisiert wurde. Damit ist die zu erklärende, also abhängige Variable die Ermöglichung und das Ausmaß der Europäisierung von Regionalisierungspolitik in Rumänien (AV). 59 Um die erklärenden, also unabhängigen Variablen zu bestimmen, braucht es einen geeigneten Ansatz. Hierbei erweisen sich Vorarbeiten von Schimmelfennig/ Sedelmeier aus dem Jahr 2005 als hilfreiche Grundlage, die es für die vorliegende Untersuchung anzupassen gilt. Die Autoren beleuchten den Beitritt der zehn mittel- und osteuropäischen Staaten im Jahr 2004 und erklären die dahinter stehende Konditionalität der EU, also das Setzen von Bedingungen. Dazu verwenden sie zahlreiche Erklärungsfaktoren, die nach ihrer theoretischen Herkunft einzelnen »Modellen« 60 zugeordnet werden. Die ersten vier Variablen werden als external incentives model bezeichnet und beinhalten vier Kosten-Nutzen-Aspekte, die einem rationalistischen Verhandlungsmodell entstammen und einer konsequentialistischen Logik folgen. Diese Vorgehensweise basiert darauf, Europäisierungsvorgänge mit externen Anreizen einzuleiten und zu steuern. Die EU als internationale Organisation verknüpft ihre Beitrittsversprechen gegenüber Drittstaaten dabei mit Bedingungen, nämlich der Übernahme von EU-Regeln (abhängige Variable). Wenn entsprechende Regeln anschließend akzeptiert werden, erhalten die Adressaten eine Belohnung (hier: EU-Beitritt). Im Falle der Ablehnung gibt es Schimmelfennig (2005 : 108) zufolge mehrere Möglichkeiten, die jeweils den verfügbaren EU-Strategien entsprechen: Erstens kann die EU Belohnungen bis zur Umsetzung der Bedingungen zurückhalten (reinforcement by reward). Zweitens kann sie dem Drittstaat Strafen auferlegen, um so die Kosten der Regelablehnung zu vergrößern (reinforcement by punishment). Drittens kann sie zur Erfüllung der Bedingungen Unterstützung leisten, um die Kosten für die Übernahme zu verringern (reinforcement by support). In Bezug auf die Konditionalität wird in diesem Zusammenhang zwischen demokratischer, wirtschaftlicher und Acquis-Konditionalität unterschieden (vgl. Corcaci 2007 : 7 ff.). Während sich Erstere vornehmlich auf die Übernahme demokratischer und menschenrechtlicher Normen bezieht, zielt die zweite auf eine Anpassung der Wirtschaft an die Vorgaben der EU ab. Mit der Aufnahme von Beitrittsverhandlun- 59 Der Einfachheit halber werden die beiden Teilaspekte vorliegend zu einer einzelnen abhängigen Variable zusammengefasst. 60 Schimmelfennig/ Sedelmeier fassen ihre Erklärungsfaktoren lediglich unter einer Überschrift zusammen, die wohl unterschiedliche Erklärungsansätze repräsentieren sollen. Streng genommen konstituieren einige Erklärungsfaktoren aber noch kein Modell. Der Einfachheit halber wird die Begrifflichkeit im Folgenden dennoch weiterverwendet. <?page no="142"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 143 5.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 143 gen verlagert sich der Fokus schließlich auf die Übernahme des acquis communautaire, also des vertraglichen Besitzstands der Europäischen Union (ehemals Europäische Gemeinschaften 61 ; vgl. Schimmelfennig/ Sedelmeier 2005c: 89). Die entsprechende These zu diesem Modell lautet: »A government adopts EU rules if the benefits of EU rewards exceed the domestic adoption costs.« (Schimmelfennig/ Sedelmeier 2005a: 12, Herv. im Orig.). Schimmelfennig/ Sedelmeier unterteilen dies in vier Teilfaktoren, nämlich die Bestimmtheit der Bedingungen, die Größe und Geschwindigkeit der Belohnungen, die Glaubwürdigkeit der Konditionalität sowie Vetospieler 62 und Übernahmekosten. Das zweite »Modell« wird als social learning model bezeichnet und basiert aus Sicht der Internationalen Beziehungen auf einer Logik der Angemessenheit (vgl. Corcaci 2007 : 9). Damit folgt es sozialkonstruktivistischen Überlegungen: Die Regelübernahme hängt grundlegend davon ab, inwieweit zu übernehmende EU-Regeln in Bezug auf die kollektive Identität eines Staates und dessen Normen und Werte als angemessen wahrgenommen werden. Das Modell reagiert also auf die Kritik, dass reine Verhandlungsmodelle zwangsläufig wichtige Aspekte des EU-Einflusses vernachlässigen. Als These formulieren Schimmelfennig/ Sedelmeier: »A government adopts EU rules if it is persuaded of the appropriateness of EU rules.« (ebd.: 18; Herv. im Orig.). Als Teilfaktoren werden die Legitimität der Regeln und des Prozesses, die Identifikation mit der EU sowie die Resonanz auf EU-Politiken im Drittstaat bestimmt. Die restlichen Erklärungsfaktoren fassen Schimmelfennig/ Sedelmeier als lessondrawing model zusammen und orientieren sich hierfür an der psychologischen Lerntheorie (vgl. Corcaci 2007 : 10). Das Modell trägt der Möglichkeit Rechnung, dass die Regelübernahme freiwillig und damit ohne direkte EU-Einflussnahme stattfinden kann. Ausgangspunkt ist die Unzufriedenheit mit dem inländischen Status quo, wobei wünschenswerte externe Regeln evaluiert und bei entsprechender Eignung übernommen werden. Schimmelfennig/ Sedelmeier trennen das Modell in eine rationalistische Variante, in der die Regeln als Mittel zum Zweck übernommen werden (einfaches Lernen), und eine soziologische Variante, welche die Anpassung zugrunde liegender Ziele und Einstellungen umfasst (komplexes Lernen). Die These hierzu lautet: »A government adopts EU rules if it expects these rules to solve domestic policy problems effectively.« (ebd.: 22, Herv. im Orig.). Die dazugehörigen Teilfaktoren sind die Policy- 61 Mit dem am 01.12.2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon übernimmt die Europäische Union die Rechtsnachfolge der Europäischen Gemeinschaften, d. h. Europäische Gemeinschaft (EG), Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) und Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). 62 Mit Vetospielern bezeichnet Tsebelis (2002 : 2) diejenigen individuellen oder kollektiven Akteure, die einer Veränderung des legislativen Status Quo zustimmen müssen. Noch allgemeiner meint man damit alle Akteure, die innerhalb spezifischer Politikprozesse nicht übergangen werden können. <?page no="143"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 144 144 5. Europäisierung Unzufriedenheit, die Existenz EU-zentrierter epistemischer Gemeinschaften, die Übertragbarkeit von Regeln und wiederum Vetospieler. Sogleich stellt sich die Frage, wie man diese Operationalisierung auf den vorliegenden Kontext übertragen kann. Um den Erklärungsversuch von Schimmelfennig/ Sedelmeier für unser Anwendungsbeispiel fruchtbar zu machen, bedarf es einiger konzeptueller Anpassungen (vgl. Corcaci 2007 : 13-31). Zunächst erscheint die Trennung in drei Modelle für die vorliegende Untersuchung wenig zielführend zu sein, zumal sie eher auf den IB-theoretischen und methodologischen Hintergrund der Autoren und ihr Erklärungsziel (Konditionalität) zurückzuführen ist. Dahinter verbirgt sich möglicherweise das Anliegen, die Erklärungskraft einer spezifischen metatheoretischen Perspektive-- in diesem Fall der rationalistischen-- herauszustellen. Die theoretische und empirische Fruchtbarkeit des Ansatzes wird jedoch durch den Fokus auf ein rationalistisches Verhandlungsmodell, das in Konkurrenz zu alternativen Erklärungsperspektiven gesetzt wird, nicht unbedingt gefördert (vgl. Schimmelfennig/ Sedelmeier 2005b: 211 f.). Aus diesem Grund sollen die einzelnen Variablen der drei Modelle neuen Kategorien zugeteilt werden, die als Erklärungsrahmen dienen: cost-benefit factors, political factors und societal factors (vgl. Corcaci 2007 : 13). Die erste Kategorie, cost-benefit factors, beinhaltet zwar dieselben Variablen wie das external incentives model (nämlich »Bestimmtheit der Bedingungen«, »Größe und Geschwindigkeit der Belohnungen«, »Glaubwürdigkeit der Konditionalität« sowie »Vetospieler und Übernahmekosten«), ist jedoch in einen breiteren Zusammenhang eingebettet. Zum einen fehlt die Anbindung an eine einzelne Hypothese und zum anderen stehen die Variablen nicht mehr für eine bestimmte Strategie oder Vorgehensweise der EU. Die Kategorie liefert also nur eine zusammenfassende Beschreibung der Teilfaktoren und bezieht sich nicht mehr auf den übergreifenden Erklärungsfaktor »Kosten/ Nutzen-Balance«, weswegen die Teilfaktoren jeweils einzeln angewandt werden. Die zweite Kategorie, political factors, enthält neben den Variablen »Resonanz« und »Legitimität der Regeln und des Prozesses« aus dem social learning model noch die Variablen »Policy-Unzufriedenheit« und »Übertragbarkeit der Regeln« aus dem lessondrawing model. Darüber hinaus kommt ein neuer Aspekt hinzu, nämlich die »innenpolitische Konstellation (im Drittstaat)«. Zur dritten Kategorie, societal factors, gehören schließlich drei weitere Variablen: »Identifikation mit der EU« aus dem social learning model, »epistemische Gemeinschaften« aus dem lesson-drawing model und »gesellschaftliche Stärke« 63 . 63 Der zuletzt genannte Faktor stammt aus einem anderen Text von Schimmelfennig (2005; vgl. Schimmelfennig/ Engert/ Knobel 2003). Dort betrachtet er, wie effektiv die Strategien reinforcement by reward, punishment und support sind, die von Seiten der EU angewandt werden, um den Beitrittskandidaten eine Übernahme ihrer Regeln zu entlocken. Erreicht die EU nämlich die vollständige Anpaswww.claudia-wild.de: <?page no="144"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 145 5.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 145 Bevor dieser Ansatz auf das zu untersuchende Problem angewandt wird, müssen vorher Hypothesen abgeleitet werden, die sich am konkreten Fall testen lassen. Diese ergeben sich wiederum unmittelbar aus den Erklärungsfaktoren, die bezüglich der Strukturfondspolitik eine Rolle spielen. In Anbetracht der ausschnittartigen Anwendung sollen jedoch lediglich vier der bisher erwähnten Faktoren näher betrachtet werden. UV 1: innenpolitische Konstellation im Drittstaat Für die erste Problemstellung, also die Frage, ob Regeln übernommen werden und damit Europäisierung überhaupt stattfindet, spielt die innenpolitische Situation im Drittstaat eine wichtige Rolle (vgl. Corcaci 2007 : 22 f.). Behindern nämlich innerstaatliche Konflikte die Interaktion zwischen europäischen Institutionen oder relevanten mitgliedstaatlichen Akteuren und der Regierung des Kandidatenlands, sinkt zugleich die Wahrscheinlichkeit einer Regelübernahme. Sieht sich die Regierung eines solchen Staats etwa mit einer erstarkten Opposition konfrontiert, die einen pro-europäischen Annäherungsprozess entweder im Rahmen politischer Verfahren oder durch groß angelegte Proteste aufhält, können vorerst auch keine Maßnahmen verabschiedet werden. Diese Situation ließ sich in mehreren Kandidatenländern konkret beobachten, insbesondere in den ersten Jahren nach Ende des Ost-West-Konflikts. Damit ist die innenpolitische Konstellation im Drittstaat eine wesentliche Ermöglichungsbedingung für die Regelübernahme im Allgemeinen und ist damit geeignet, jegliche regionalpolitische Maßnahmen von vornherein zu blockieren. UV 2: Resonanz europäischer und drittstaatlicher Akteure Mit der ebenfalls eher für die Frage nach einer Regelübernahme relevanten Resonanz werden zum einen grundsätzliche europäische und nationale Einstellungen zur jeweils anderen Ebene bezeichnet (vgl. Corcaci 2007 : 19-22). Zum anderen geht es hier um die Meinungen drittstaatlicher Akteure zu den hinter entsprechenden Regeln stehenden Prinzipien und Ideen. In den Transitionsstaaten Mittel- und Osteuropas existierten aufgrund der bis zum Ende des Ost-West-Konflikts vorherrschenden staatssozialistischen Tradition häufig zentralistisch organisierte Verwaltungssysteme, die sich in sung an eine spezifische Konditionalität (z. B. die Etablierung von Minderheitenrechten) und lassen sich dafür einzelne Faktoren als hinreichende Begründung identifizieren (z. B. die Bestimmtheit und Glaubwürdigkeit der Bedingung), spricht einiges für die Erklärungskraft entsprechender Faktoren-- die gewählte Strategie (z. B. reinforcement by reward, hier bezogen auf den EU-Beitritt) war offensichtlich effektiv (vgl. Corcaci 2007 : 10 ff.). <?page no="145"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 146 146 5. Europäisierung Anbetracht des zukünftigen Beitritts zur EU einer grundlegenden Anpassung gegenübersahen. Beispielsweise wurden die Planungsregionen in Rumänien im Jahr 1998 eingeführt, um den 2007 erfolgten EU-Betritt vorzubereiten. Die wirksame Etablierung solcher Entwicklungsregionen und deren Integration in das bestehende Verwaltungssystem hängen jedoch in hohem Maße davon ab, wie gut die nationalstaatlichen mit den europäischen Akteuren kooperieren. Gibt es keine solche Kooperation, besteht dementsprechend die Gefahr, dass die Übernahme des regionalpolitischen Konzepts der EU überhaupt nicht erfolgt oder in einer Weise, die nicht mit ihren Vorstellungen korrespondiert. Deswegen lässt sich vermuten, dass die Resonanz der Akteure in der EU und den Drittstaaten als Ermöglichungsbedingung der Europäisierung von Regionalpolitik eine zentrale Rolle einnimmt. UV 3: Übertragbarkeit der Regeln Für die Problemstellung des Ausmaßes von Europäisierung ist es von entscheidender Bedeutung, inwieweit die zu übertragenden Regeln mit bestehenden nationalstaatlichen Institutionen und politischen Eigenheiten bzw. Traditionen kompatibel sind (vgl. Corcaci 2007 : 27 f.). Ist dies nämlich nicht der Fall, liegt es nahe, dass ein betroffener Staat die Regeln entweder nur formal übernimmt und oberflächlich oder überhaupt nicht implementiert. Zumindest aber wäre zu erwarten, dass entsprechende Implementationsprozesse erheblich mehr Zeit in Anspruch nehmen, als wenn die Regeln in keinem problematischen Verhältnis zu den nationalen Gepflogenheiten stehen. Verglichen mit dem Goodness-of-fit-Ansatz zielt die Übertragbarkeit von Regeln nicht nur auf die institutionelle Kompatibilität ab, sondern bezieht auch Fragen zu nationalen Gepflogenheiten und der politischen Akzeptanz von Regeln mit ein (vgl. hierzu das nächste Unterkapitel). Im Gegensatz zu den ersten beiden Variablen geht es bei der Übertragbarkeit der Regeln folglich nicht um die Frage, ob Regeln überhaupt angenommen werden oder nicht, sondern darum, in welchem Ausmaß dies geschieht. UV 4: Bestimmtheit der Bedingungen Darüber hinaus wird das Ausmaß von Europäisierung merklich dadurch beeinflusst, wie diejenigen Bedingungen ausgearbeitet und kommuniziert werden, denen sich die Kandidatenländer unterwerfen müssen, um ihre Aussicht auf den Beitritt zur Europäischen Union zu wahren (vgl. Corcaci 2007 : 15 f.). Hierbei geht es nicht lediglich darum, dass das Kommunizieren solcher Vorgaben eindeutig und verbindlich geschehen muss, sondern ebenso um ihre rechtliche sowie politische Stellung. Dies liegt daran, dass nicht mit ernsthaften Konsequenzen belegte Bedingungen kaum dazu <?page no="146"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 147 5.3 Erklärung aus Sicht der Europäisierung 147 beitragen, dass ein Kandidatenland diese auch vollständig und nicht nur rein formal innerstaatlich implementiert. Weiterhin ist nicht zu vernachlässigen, wie detailliert eine Bedingung ausgearbeitet wird: Enthalten die Vorgaben keinerlei Angaben zu möglichen Maßnahmen, vergrößert sich die Gefahr einer unzureichenden nationalen Umsetzung der Ziele. Im gegensätzlichen Fall hoch spezifischer Anweisungen, die jedwede Maßnahme und deren Anwendung detailliert vorgeben, lässt sich ebenfalls von potenziell negativen Konsequenzen für das Europäisierungsausmaß ausgehen. Dies liegt darin begründet, dass der Adressat möglicherweise nicht den Willen oder keine ausreichenden Ressourcen dazu besitzt, solche Vorgaben exakt umzusetzen. Zudem bleiben dann länderspezifische Eigenheiten eher unbeachtet, was eine erwartungsgemäße Umsetzung gleichermaßen einschränken kann. Als Fallbeispiele für die nun folgende Anwendung dient Rumänien, das in Folge mangelnder Fortschritte in der Anpassung an europäische Standards erst 2007 in die EU aufgenommen wurde. Für beide Problemstellungen wird je eine Hypothese aufgestellt: H 1 : Je einheitlicher die innenpolitische Konstellation im Drittstaat und je positiver die Resonanz europäischer und drittstaatlicher Akteure, desto eher wird die Europäisierung der Regionalisierungspolitik überhaupt erst ermöglicht. H 2 : Je umfassender die Übertragbarkeit von Regeln und je genauer unter Berücksichtigung der Kapazitäten des Adressatenlandes die Bestimmtheit der Bedingungen, desto größer ist das Ausmaß, in dem eine Europäisierung der Regionalisierungspolitik stattfindet. Im folgenden Kapitel werden die einzelnen Aspekte der wichtigsten Variablen eingeführt und mit Blick auf das Anwendungsfeld und die Hypothesen untersucht. 5.3 Erklärung der Rückwirkungen der EU-Regionalisierungspolitik aus Sicht des Europäisierungsansatzes Vor der Betrachtung der einzelnen unabhängigen Variablen werden im Folgenden zunächst die Grundlagen der EU-Regionalisierungspolitik in Rumänien betrachtet. Wie Benedek/ Horváth anmerken, etablieren die Gesetze Nr. 151/ 1998 und Nr. 315/ 2004 verschiedene Institutionen, um die EU-Vorgaben zur Dezentralisierung sowie politischen Stärkung der Regionen umzusetzen und dadurch das Ziel der Kohäsion zwischen den Regionen und in Bezug auf die gesamte EU erreichen zu können. Der rumänische Nationale Rat zur Regionalentwicklung (Consiliul Naţional de Dezvoltare Regională, CNDR) steht unter starkem Einfluss des Zentralstaats und ist hauptverantwortlich für die Ausarbeitung und Implementation <?page no="147"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 148 148 5. Europäisierung von Zielen der regionalen Entwicklungspolitik. Er beschäftigt sich konkret mit Programmen wie dem Nationalen Entwicklungsplan, den Kriterien sowie Prioritäten der jeweiligen EU-Hilfsfonds und der Genehmigung von Projekten, die von den Regionalen Entwicklungsräten (Consiliile de Dezvoltare Regională, CDR) vorgeschlagen werden. Diese repräsentieren die acht Entwicklungsregionen und besitzen selbst keine juristische Persönlichkeit. Als deliberative Einrichtungen verabschieden sie regionale Strategien und Projekte und verteilen Finanzmittel aus dem Regionalen Entwicklungsfonds. Die Regionalen Entwicklungsagenturen (Agenţii pentru Dezvoltare Regională, ADR) besitzen eine doppelte Funktion: Sie sind innerhalb der Regionen als öffentliche und gemeinnützige Nicht-Regierungsinstitutionen mit juristischer Persönlichkeit dafür zuständig, Entwicklungsstrategien und -programme sowie die Pläne zur Fondsverwaltung zu formulieren und den Regionalen Entwicklungsräten vorzuschlagen. Darüber hinaus implementieren sie diese Programme und verwalten den Entwicklungsfonds (Benedek/ Horváth 2008 : 228). Die Autoren verweisen dabei auf zwei Hauptprobleme rumänischer Regionalisierung: Zum einen sind die zugrunde liegenden Kriterien (Bevölkerung, Fläche, Kultur, wirtschaftliche Wechselbeziehungen) umstritten und werden deswegen auch nicht einheitlich angewandt, zumal die Entwicklungsregionen traditionelle Beziehungen zwischen Bezirken und lokalen Gebietseinheiten nicht berücksichtigen. Zum anderen besitzen die neuen Gebietseinheiten kaum Entscheidungsgewalt und ebenso wenig finanzielle Ressourcen. Sie bleiben im Wesentlichen vom Zentralstaat und von dessen finanziellen Zuwendungen abhängig (ebd.: 228 f.). Diese Beobachtungen hängen direkt mit der Frage zusammen, wie umfangreich die top-down erfolgte Regionalisierung in Rumänien war. Dazu sehen wir uns folgende Tabelle an. Tabelle 9: Regionales BIP in KKS je Einwohner, nach NUTS-2-Regionen Rumäniens - 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 Nord-Vest 4400 4500 4600 5200 5800 6200 7100 7400 8500 10000 Centru 4900 4800 5100 5600 6300 6800 7400 7700 9100 10500 Nord-Est 3600 3400 3400 4000 4400 4700 5100 5200 5800 6600 Sud-Est 4600 4300 4400 4900 5400 5700 6800 6800 7700 8400 Sud 3900 3900 4000 4400 4900 5200 6100 6600 7600 8500 Bucuresti 7500 8700 10800 11200 12100 13000 14800 17300 19800 23000 Sud-Vest 4100 4100 4100 4700 4700 5400 6100 6200 7200 8100 Vest 4700 5400 5100 5900 6600 7300 8500 8900 10600 12000 Ø 4713 4888 5188 5738 6275 6788 7738 8263 9538 10888 Quelle: Eurostat, bearbeitet <?page no="148"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 149 5.3 Erklärung aus Sicht der Europäisierung 149 Um einschätzen zu können, welche Auswirkungen die Regionalisierungspolitik in Rumänien hatte, betrachten wir die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Entwicklungsregionen, und zwar weil die EU deren Ausgleich als ein zentrales Ziel formuliert hat (Benedek/ Horváth 2008 : 227). Dieser Aspekt lässt sich gut mithilfe des Bruttoinlandsprodukts veranschaulichen: Tabelle 9 zeigt die Entwicklung des BIPs in Kaufkraftstandards je Einwohner, aufgeteilt auf die einzelnen NUTS-2-Regionen. Betrachtet man Rumänien insgesamt, wuchs das BIP von 1998 bis 2007 zwar um gut 123 Prozent des Wertes von 1998 an. Dennoch wird auf den ersten Blick deutlich, dass die regionalen Unterschiede seit der erstmaligen Verabschiedung des Gesetzes über die Regionalentwicklung im Jahr 1998 bis zum Ende des ersten Jahres als Mitglied der Europäischen Union fortbestehen. Einerseits stieg das BIP 2007 im Vergleich zu 1998 in Bucuresti-- Ilfov zwar um 207 Prozent und in Vest um 155 Prozent, andererseits gab es im gleichen zehnjährigen Zeitraum z. B. in Nord-Est und Sud-Est lediglich einen Anstieg von etwa 83 Prozent. Verstärkt wird dieser Eindruck, wenn man das BIP der einzelnen Entwicklungsregionen mit dem Durchschnitt aller rumänischen Regionen im jeweiligen Jahr vergleicht: Demzufolge sank das prozentuale BIP von 1998 bis 2007 in der Region Nord-Vest von 93,37 auf 91,85 Prozent des Regionen-Durchschnitts, im Centru von 103,98 auf 96,44 Prozent, in Nord-Est von 76,39 auf 60,62 Prozent, in Sud-Est von 97,61 auf 77,15 Prozent, in Sud-- Muntenia von 82,76 auf 78,07 Prozent und in Sud-Vest-- Oltenia von 87,00 auf 74,40 Prozent. Dagegen stieg das prozentuale BIP in der Region Vest von 99,73 auf 110,22 Prozent und in Bucuresti-- Ilfov von 159,15 auf 211,25 Prozent. Da also zumindest mit Blick auf das BIP bisher keine Angleichung zwischen den Entwicklungsregionen auf NUTS-2-Ebene stattgefunden hat, sondern die Unterschiede im Gegensatz eher noch zugenommen haben, ist das grundsätzliche Ausmaß der Europäisierung als äußerst gering einzuschätzen. Im Folgenden werden nun die vier unabhängigen Variablen mit Blick auf die zwei vorliegenden Problemstellungen näher analysiert. Innenpolitische Konstellation im Drittstaat Die innenpolitische Konstellation im Drittstaat zielt auf die in der Literatur häufig vernachlässigte Bedeutung innenpolitischer Gründe für nach außen gerichtete Politiken ab. Neben der jeweiligen Akteursresonanz auf Versuche der Europäisierung durch die EU spielen demnach die Beziehungen zwischen den relevanten Akteuren bzw. Vetospielern im Drittstaat selbst eine entscheidende Rolle. Hinter dieser Annahme steht einerseits der Gedanke, dass innenpolitische Konflikte wie z. B. das Gegenspiel von Premier und Präsident (im Sinne einer cohabitation) oder ein Machtkampf der Parteien die Europäisierung beeinflussen. Parteien werden dabei separat von gouvernementalen Vetospielern betrachtet, insbesondere aufgrund der Eigenständigkeit und häufig hervorgehobenen Rolle des Parteiensystems im Vergleich zum Regierungssyswww.claudia-wild.de: <?page no="149"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 150 150 5. Europäisierung tem in den Staaten Mittel- und Osteuropas. Die potenziellen Konflikte äußern sich dann in einer Behinderung oder einem Stillstand der Annäherung an die EU, also wenn die Konfliktparteien sich entweder gegenseitig blockieren oder ihr Macht- und Positionskampf erst durch die EU entsteht bzw. sich verschärft und so jegliche tiefgreifende Europäisierung verhindert. Andererseits lassen sich ebenso innenpolitische Konstellationen denken, die von andauernder Instabilität und Fragilität gekennzeichnet sind. In diesem Fall werden die Bestrebungen der EU dadurch aufgehalten, dass es im Drittstaat stetig zu Änderungen in den politischen Strukturen bzw. in den Beziehungen der relevanten Akteure zueinander kommt und dadurch kaum eine gezielte und damit wirksame Beeinflussung durch die supranationale Instanz möglich ist. Auf die Bedeutung der innenpolitischen Konstellation und vorhandener staatlicher Strukturen weisen Jünemann/ Knodt (2006 : 196) hin, wenn sie die externe Demokratieförderung der EU betrachten. Dass dieses Szenario der EU-Osterweiterung zumindest ähnelt, lässt sich zum einen mit Verweis auf die politischen Kopenhagener Kriterien 64 zeigen, deren Implementation in den Kandidatenländern letztlich eine Demokratisierung nach sich ziehen sollte. Weiterhin weisen diese Staaten aus Sicht der EU z.T. deutliche Defizite in ihren Staatsstrukturen auf, weil sie beispielsweise noch traditionell staatssozialistisch geprägt und von klientelistischen Beziehungen geprägt sind. Solche Mängel lassen eine erhebliche Bedeutung innenpolitischer Faktoren in Bezug auf die Ermöglichung von Europäisierung erwarten. Aus diesem Grund wird die Stabilität der Akteursbeziehungen als Teilaspekt der Variable mit berücksichtigt. Damit einher geht die These, dass das Ausmaß an Europäisierung bei zunehmendem Konfliktpotenzial zwischen gouvernementalen Vetospielern sowie zwischen Parteien und bei sehr instabilen Akteursbeziehungen abnimmt. Zusammengefasst lauten die Teilfaktoren der Variable »innenpolitische Konstellation im Drittstaat« also: »Machtverteilung und Verhältnis der Vetospieler«, »Positionen und Verhältnis der Parteien« und »Stabilität der Akteursbeziehungen« (vgl. Corcaci 2007 : 22 f.). Die ersten beiden Amtsperioden von Präsident Iliescu von 1990 bis 1992 sowie von 1992 bis 1996 waren innenpolitisch durch zahlreiche Probleme geprägt, welche die Europäisierung vieler Politikfelder in Verbindung mit der sehr negativen Resonanz 65 64 Diese beinhalten eine stabile demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, die Achtung von Menschenrechten und den Schutz von Minderheiten. Darunter fallen zahlreiche Teilkriterien, wie z. B. freie und gleiche Wahlen, die ungehinderte Zulassung politischer Parteien und der freie Zugang zu einer unabhängigen Judikative. Neben den politischen Kopenhagener Kriterien existieren noch wirtschaftliche Kriterien, die sich auf die Schaffung einer funktionierenden Marktwirtschaft beziehen, und das sogenannte »Acquis-Kriterium«, bei dem es um die Übernahme des gemeinsamen vertraglichen Besitzstandes der EU geht. 65 Vgl. dazu den Abschnitt zur Variable »Resonanz«. <?page no="150"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 151 5.3 Erklärung aus Sicht der Europäisierung 151 zu dieser Zeit nahezu verhinderten (vgl. ebd.: 36 ff.). Ein wichtiger Faktor lag dabei im Fehlen einer politisch wirkungsvollen Opposition, was zu einem Machtvakuum im Land führte (Dobre 2003 : 65; vgl. ebd. 2005 : 549). Somit konnten die reformfeindlichen Eliten des Landes ohne bedeutenden Widerspruch bestehende Politiken und Vorgehensweisen fortführen, die sich vor allem durch Klientelismus, Korruption sowie einen allgemein niedrigen Standard in der öffentlichen Verwaltung auszeichneten (Vachudova 2005 : 207). Hinzu kam die laut Hughes/ Sasse/ Gordon (2004 : 39) unterschiedliche ideologische Positionierung des Zentralstaates und der regionalen Regierungen, was zusätzlich dazu beigetragen haben dürfte, dass der Dezentralisierungsprozess aufgehalten bzw. nur oberflächlich verfolgt wurde. Darüber hinaus lässt sich mit Dobre anmerken, dass der Raum für jedwede Forderungen regionaler Akteure nach mehr Einfluss und Selbstbestimmung »was reduced due to a strong central state nationalism, enforced through national propaganda and political institutional channels« (Dobre 2005 : 549). Dabei konnten sich einerseits die nationalstaatlichen Akteure im Zuge des Annäherungs- und Erweiterungsprozesses darauf verlassen, ihre zentralistisch organisierte Regionalisierung mit Unterstützung der EU-Institutionen durchzuführen. Hinzu kam außerdem der dominante Einfluss unreformierter poststaatssozialistischer Eliten, die alle wichtigen nationalen politischen Positionen innehatten. Andererseits mangelte es den regionalen Akteuren an Mitteln und Einfluss, um sich direkt an die Europäische Union zu wenden, ohne zuvor den Weg über Akteure der nationalen rumänischen Regierung gehen zu müssen (ebd.). Bestehenden regionalen Initiativen vor allem von Seiten transsilvanischer Regionen sowie der ungarischen Minderheit im Land, die eine Debatte zur Regionalisierung anstoßen wollten, begegnete der Zentralstaat laut Dobre (2005 : 550) bereits früh mit drei verschiedenen Strategien: Erstens schürte die Regierung Befürchtungen, dass es zu Aufständen separatistischer Gruppierungen kommen könnte, wenn Regionen wie Transsilvanien mehr Einfluss einfordern. Dementsprechend wurden solche Bestrebungen der Autorin zufolge als eine Gefahr für den Zusammenhalt des Nationalstaates dargestellt (vgl. hierzu Dieringer et al. 2006 : 39, Hughes/ Sasse/ Gordon 2004 : 59). Zweitens versuchte die sozialdemokratische Regierung, so Dobre weiter, jegliches geografisches spill-over regionalistischer Tendenzen von Vornherein zu verhindern, indem sie Transsilvanien z. B. über das staatliche Fernsehen als wohlhabende Region charakterisierte, die »purely opportunistic and economically driven« (Dobre 2005 : 550) sei. Dadurch konnte sich die Regierung die Unterstützung von ärmeren und auf zentralstaatliche Ressourcen angewiesenen Regionen sichern und war so in der Lage, mögliche Dezentralisierungstendenzen im Keim zu ersticken. Drittens merkt die Autorin an, dass Rumänien in Art 1. Abs. 1 der neuen Verfassung vom 21. November 1991 als »stat naţional, suveran şi independent, unitar şi indivizibil« definiert wurde, also als souveräner und unabhängiger, unitarischer und untrennbarer Nationalstaat. Dies verhinderte bereits qua Verfassung weitergehende Regionalisierungsbestrebungen oder gar die Etablierung eines Bundesstaats (vgl. Dieringer et al. 2006 : 37 f.). <?page no="151"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 152 152 5. Europäisierung Die innenpolitische Konstellation bildete also den Rahmen dafür, dass Vorgaben zur Regionalisierung-- die ohnehin keine unbedingte Priorität aus Sicht der EU besaß-- in Folge anderer Faktoren wie z. B. der negativen Resonanz rumänischer Akteure erst gar nicht beachtet wurden. Dabei ist Rumänien eines derjenigen Länder, die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts politisch durch das Gegenüber von Präsident und Premier im Sinne einer cohabitation geprägt sind (Gabanyi 2004 : 562). Die daraus resultierenden Spannungen beeinträchtigten maßgeblich das Ausmaß an Europäisierung im Allgemeinen, weil es vor allem unter Präsident Constantinescu (im Amt von 1996 bis 2000) zu zahlreichen Unstimmigkeiten kam und in deren Folge wesentliche Reformvorhaben stagnierten (ebd.: 578). Darüber hinaus trugen in dieser Amtsperiode Konflikte zwischen den Koalitionsparteien zum geringen Fortschritt des Anpassungsprozesses an die EU bei. Jedoch konnte die Opposition dies ihrerseits aufgrund ihrer vorherigen und in der Bevölkerung negativ wahrgenommenen Regierungsbeteiligung sowie in Folge der internen Fragmentierung nicht nutzen (Vachudova 2005 : 205 f.). Weiterhin blieb in dieser Regierungsperiode auch die Einstellung gegenüber regionalen Forderungen unverändert: Es war keine Abkehr vom unitarischen Ideal festzustellen, zumal sich die Regierung der öffentlichen Unterstützung für eine territoriale Umorganisation nicht sicher sein konnte. Erst unter dem Druck externer Europäisierungsvorgaben und dem parallelen Aufkommen neuer regionaler Akteure wie z. B. von Parteien, die Transsilvanien oder die moldawische Minderheit im Land repräsentierten, wurde im Jahr 1998 das Gesetz Nr. 151/ 1998 zur regionalen Entwicklung verabschiedet (Dobre 2005 : 551). Dieses etablierte vor allem die bereits beschriebenen formalen Strukturen auf regionaler Ebene, ohne allerdings im gleichen Zug Kompetenzen und finanzielle Mittel bereitzustellen oder den notwendigen politischen decision-making process zu implementieren (vgl. Schlüter 2011 : 283 f.). Die problematische innenpolitische Konstellation ermöglichte folglich, dass sich die negative Resonanz voll entfalten konnte und die Übertragbarkeit der Regeln von vornherein durch ungünstige Voraussetzungen beeinflusst wurde. Die Beziehungen der gouvernementalen Vetospieler und Parteien untereinander stellten jedoch nicht die einzigen Erschwernisse im Anpassungsprozess des Landes dar. Auch die innere Stabilität der Regierungsakteure muss als problematisch angesehen werden: So war die Präsidentschaft Constantinescus bezüglich ihrer Kabinettsmitglieder und Minister starken Fluktuationen unterworfen (Gabanyi 2004 : 571), was deren Arbeit deutlich erschwert haben dürfte. Zudem führte auch das heikle Thema »Korruptionsbekämpfung« immer wieder dazu, dass sich die Mitglieder der jeweiligen Regierungskoalitionen und Exekutive untereinander zerstritten. Offenbar wurde jedoch der für Rumänien im Vergleich zu anderen Bereichen nicht prioritäre Regionalisierungsprozess vor allem in Folge der mangelhaften Übertragbarkeit europäischer Vorgaben zwar nicht nachhaltig blockiert, allerdings auch nicht im <?page no="152"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 153 5.3 Erklärung aus Sicht der Europäisierung 153 Sinne der EU umgesetzt. 66 Ähnlich wie in Bulgarien und weiteren Staaten 67 lag den Reformbestrebungen in Rumänien ein »it’s all happening too fast approach« (Swianiewicz 2005 : 104) zugrunde, der neben dem Misstrauen der nationalen Verwaltung gegenüber lokalen Institutionen mit Blick auf deren Regelungskompetenz auch auf der Befürchtung basierte, dass »real devolution of power would bring chaos and economic turmoil« (ebd.). Aus diesem Grund überrascht auch die für Maßnahmen der Dezentralisierung in Rumänien gewählte zurückhaltende Herangehensweise nicht. Nach der sozialdemokratischen Machtübernahme ging es im gleichen Stil weiter, wenngleich es im Angesicht der europäischen Beitrittskonditionalität, der zu erwartenden Bereitstellung finanzieller Hilfen aus den Strukturfonds sowie im Rahmen der Heranführungshilfe zu einigen Reformschritten kam, die sich jedoch eher auf die Rechte von Minderheiten bezogen. Demgegenüber wurden die Hürden zur Bildung von Parteien deutlich angehoben, was die Gründung neuer regionaler Parteien effektiv verhinderte (vgl. Dieringer et al. 2006 : 40). Zudem blieben regionalpolitisch wichtige institutionelle Reformen zur Übertragung von Kompetenzen und finanziellen Ressourcen auf die regionale Ebene außen vor, wie Dobre feststellt (Dobre 2005 : 553). Aufkommende regionale Initiativen wie beispielsweise die 1998 gegründete und im November 2000 verbotene »Fundația Civică proTransilvania« des Journalisten Sabin Gherman oder das sogenannte »Memorandumul Transilvaniei« wurden demnach trotz ihrer Verknüpfung von Europäisierung und Regionalisierung mit Bezug auf das Prinzip der Subsidiarität sowie der Idee eines »Europas der Regionen« von zentralstaatlicher Seite aus aktiv diskreditiert. 68 Während man also nach innen eine weitestgehend kompromisslose Haltung vertrat, kommunizierten die Vertreter der rumänischen Regierung nach außen hin eine nahezu gegenteilige Position, in der die Regionalisierung einen hohen Stellenwert einnahm. Damit verband sich offensichtlich die Erwartung, Mittel aus den Strukturfonds im Gegenzug zur (formalen) Adaption an europäische Vorgaben zu erhalten (ebd.: 554). Innenpolitisch ist mit Blick auf Regionalisierung demzufolge festzuhalten, dass die Eliten der nationalen Ebene nicht unbedingt gewillt waren, Kompetenzen an die regionale und lokale Ebene abzugeben und der Regierungsfähigkeit lokaler Politiker misstrauten. Diese bisherige Betrachtung zeigt, dass innenpolitische Erklärungen geeignet sind, um das geringe Ausmaß rumänischer Europäisierung ganz allgemein nachzuvollziehen. Zudem begründen sie auch das konkrete Vorgehen der EU: Um ihre Glaubwürdigkeit zu untermauern und die Anpassungshürden im Drittstaat nicht weiter zu erhöhen, sah sie sich einerseits dazu gezwungen, konsequent und nachdrücklich 66 Vgl. dazu den Abschnitt zur Variable »Übertragbarkeit der Regeln«. 67 Laut Swianewicz (2005 : 104) fanden nach Ende des Ost/ West-Konflikts in den meisten ehemaligen Sowjet-Republiken (außer den baltischen Staaten! ) sowie in Ansätzen in der Slowakei und Tschechien ebenfalls Dezentralisierungsprozesse statt, die dem Typ »it’s all happening too fast« entsprechen. 68 Zu den regionalistischen Initiativen Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre vgl. Dobre 2008 : 398 f. <?page no="153"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 154 154 5. Europäisierung gegen »Missstände« (reinforcement by punishment oder auch reinforcement by support) und ihr gegenüber abgeneigte Akteure vorzugehen (punishment bei fehlendem Willen des Adressaten). Andererseits musste sie mit wohlwollenden Finanzhilfen und Unterstützung diejenigen positiv eingestellten Akteure stärken, die nicht die Möglichkeit der Regelumsetzung hatten (support bei fehlenden Möglichkeiten des Adressaten). Resonanz europäischer und drittstaatlicher Akteure Bei der Resonanz geht es zunächst um die grundsätzliche Zu- oder Abneigung gegenüber EU-Regeln im Drittstaat und um die Meinungen über Ideen und Prinzipien, die den Regeln zugrunde liegen. Dazu kommt deren kognitive Übereinstimmung mit den politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Eigenheiten im Drittstaat. Existieren hingegen als wichtig wahrgenommene inländische Regeln, Ideen und Prinzipien, die in Widerspruch zu denjenigen aus der EU stehen, lässt sich eine negative Resonanz vermuten (vgl. Schimmelfennig/ Sedelmeier 2005a: 20). Hohe positive Resonanzwerte und das Vorhandensein einer ausreichenden Anzahl an (relevanten) Akteuren, die der EU gegenüber positiv eingestellt sind, steigern somit die Wahrscheinlichkeit einer umfassenden Europäisierung 69 . Damit in Zusammenhang steht die generelle »Resonanzlage« im Drittstaat zum Zeitpunkt der EU-Aktivität, da die Wirkung einer spezifischen Politik vom derzeitigen Status quo abhängt. Im Gegensatz zur Resonanz eines bestimmten Vetospielers richtet sich dieser Aspekt auf bereits gefestigte Strukturen und bildet somit den Handlungsrahmen der Akteure. Dabei ist zu vermuten, dass sich der Status quo aufgrund ökonomischer und politischer »Belohnungen« in Folge einer Annäherung an die EU leichter in eben diese Richtung modifizieren lässt. Hinter dieser These steht der Gedanke, dass vor allem nach einem ersten »Europäisierungsschub«, etwa in Folge der Aussicht auf eine Vollmitgliedschaft, bereits Wandlungsprozesse einsetzen. Haben diese erst einmal stattgefunden, erscheint eine erneute Abwendung von der EU äußerst unwahrscheinlich, zumindest wenn ein solcher Wandel auf demokratischem Wege erfolgen soll. Dieser Aspekt lässt sich mit dem politikwissenschaftlichen Konzept der Pfadabhängigkeit beschreiben und soll im Folgenden mit berücksichtigt werden (vgl. Knill 2005 : 158). Grundsätzlich lässt sich die vollständige Rücknahme bereits vollzogener Europäisierungsschritte also nur im Falle eines radikalen politischen Umschwungs vermuten. Regierungswechsel in Drittstaaten können gleichwohl den Status quo derart verändern, dass eine umfangreichere Übernahme europäischer Regeln in die Wege geleitet wird. Bei der Resonanz spielt darüber hinaus nicht nur die nationale, sondern ebenso 69 Wie im Falle der innenpolitischen Konstellation weisen Jünemann/ Knodt (2007 : 360) dabei auch bezüglich der Resonanz nach, dass diese für den Kontext »externe Demokratieförderung der EU« von entscheidender Bedeutung ist. <?page no="154"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 155 5.3 Erklärung aus Sicht der Europäisierung 155 die supranationale Ebene eine wichtige Rolle: Die Unzufriedenheit der EU oder ihrer Mitglieder bezüglich der Fortschritte eines Kandidatenlandes kann dazu führen, dass die Europäisierung weiter verlangsamt wird oder sogar zum Stillstand kommt. Dieser Fall tritt ein, wenn einzelne Vetospieler aus europäischen Institutionen oder Mitglieder die Verhandlungen mit Drittstaaten ausbremsen oder blockieren, also eine negative Resonanz generieren. Zusammengefasst lauten die einzelnen Teilfaktoren der Variable »Resonanz« also: »Wirkungen eines Regierungswechsels«, »Status quo der Resonanz«, »Resonanz der Vetospieler«, Pfadabhängigkeit im Drittstaat« und »Unzufriedenheit der supranationalen Instanz oder ihrer Mitgliedstaaten« (vgl. Corcaci 2007 : 19-22). Der Status quo der Resonanz in Rumänien kann bis zum EU-Beitritt in zwei wesentliche Abschnitte gegliedert werden (vgl. ebd.: 35 f.): Zum einen gab es die post-staatssozialistische Phase unter Iliescu (1989-- 1996) und zum anderen die Annäherungsphase nach der erstmaligen Abwahl einer demokratisch gewählten Regierung seit Ende des Ost/ West-Konflikts (1996 bis 2007). Der erste Abschnitt war zu Beginn von einer »europafeindlichen Einstellung der maßgeblichen politischen Führer des Landes« (Leiße/ Leiße/ Richter 2004 : 82) geprägt, was sowohl auf die generelle Resonanzlage, als auch auf die Resonanz der gouvernementalen Vetospieler zutraf (vgl. Hughes/ Sasse/ Gordon 2004 : 57 f.). Iliescu verfolgte zwar nach außen hin eine prowestliche und integrationsfreundliche Linie, die vor allem wirtschaftliche Vorteile mit sich brachte (Vachudova 2005 : 152). Diese Haltung spiegelte sich jedoch kaum im Handeln der damaligen Regierung wider: »The unreformed Romanian communists renamed themselves the Party of Social Democracy in Romania (PDSR) and despite their democratic, pro-Western rhetoric and political discourse, they undermined democracy and European integration fostering intolerance and ethnic nationalism (Dobre 2003 : 65). Dabei muss beachtet werden, dass alte Eliten in Rumänien auch nach dem Beginn der Demokratisierung und der damit einhergehenden Dezentralisierung weiter an der Macht blieben. Eben aus diesem Grund dürfte das Bestreben, eine der staatssozialistischen und stark zentralistischen traditionellen Organisationsform diametral entgegengesetzte Form zu etablieren, nur widerwillig Zuspruch gefunden haben. In Einklang mit diesen Beobachtungen wurde erst im Jahre 1998 unter Constantinescu das Gesetz über die Regionalentwicklung verabschiedet. Dieses Gesetz führte neben den institutionellen Rahmenbedingungen, Kompetenzverlagerungen und regionalpolitischen Instrumenten, wie bereits oben erwähnt, ebenfalls die acht Entwicklungsregionen auf NUTS-2-Ebene ein (vgl. Hughes/ Sasse/ Gordon 2004 : 58). Auch sonst markierte der Regierungswechsel 1996 den wichtigsten Einschnitt bezüglich der Resonanz in Rumänien, weil der neu gewählte Präsident Constantinewww.claudia-wild.de: <?page no="155"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 156 156 5. Europäisierung scu eine grundsätzlich europafreundlichere und weniger ambivalente Linie verfolgte als sein Vorgänger (vgl. Dobre 2008 : 386 f.). Zwar hatte die NATO-Integration unter Iliescus Nachfolger Priorität vor der unmittelbaren EU-Integration (Gabanyi 2004 : 589), dennoch zeichnete sich die Regierung insgesamt durch eine höhere Responsivität für die Regelübernahme aus (Vachudova 2005 : 179, 204 ff.). 70 Die gouvernementalen Vetospieler sahen seit diesem Einschnitt offenbar keine praktisch durchführbare Alternative mehr zum EU-Beitritt insgesamt (Leiße/ Leiße/ Richter 2004 : 82). Bereits anhand dieser Beobachtungen lässt sich die These bestätigen, dass ein Regierungswechsel im Drittstaat zu einer deutlichen Veränderung der Politik hin zur EU führen kann. Betrachtet man die dritte Amtsperiode Iliescus in den Jahren 2000 bis 2004, wird ein weiterer Teilfaktor der Variable untermauert: Zu seinem erneuten Amtsantritt waren die Weichen in Richtung EU bereits gestellt. Iliescu hatte nicht mehr die Möglichkeit, sein Verständnis eines reformierten Staatssozialismus erneut durchzusetzen. Dies verweist auf die Pfadabhängigkeit Rumäniens: »Enmeshed in the EU’s pre-accession process, they [Iliescu and the PDSR, die Autoren] have had to continue with the reforms of the state and the economy stipulated by Romania’s Accession Partnership« (Vachudova 2005 : 213; vgl. Schlüter 2011 : 287 f.). Solche Beobachtungen dürfen jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass die allgemein positivere Einstellung gegenüber der EU seit dem Regierungswechsel von 1996 im Einzelfall nicht unbedingt mit einer schnelleren und umfassenderen Umsetzung einzelner Politiken einhergehen muss. Zudem führte die Forderung von Seiten der Kommission nach einer Regionalisierung in Rumänien insofern zu einer geringeren Resonanz, als dass die gouvernementalen Akteure im Land das Aufkommen föderalistischer Tendenzen im Allgemeinen oder gar separatistischer Bestrebungen der ungarischen Minderheit in Transsilvanien im Speziellen befürchteten (Hughes/ Sasse/ Gordon 2004 : 168; vgl. Schlüter 2011 : 289 f.). 71 In Bezug auf die Resonanz aus Sicht der EU und ihrer Mitgliedstaaten ist von einem geringen Ansehen Rumäniens auszugehen, was vor allem auf die Unzuverlässigkeit der Politiker im Land zurückzuführen ist, wie Gabanyi anmerkt. So gründete das zögerliche Verhalten und Misstrauen der EU also darin, dass die Handlungszusagen der rumänischen Regierung regelmäßig nicht eingehalten wurden. Auch deswegen musste das Land strengere Auflagen erfüllen, was die Implementation politischer Vorgaben betrifft (Gabanyi 2005 : 8). Zudem gab es in einigen Mitgliedstaaten sowie vor allem von Seiten der konservativ-liberalen Mehrheit im Europäischen Parlament zahlreiche Vorbehalte und Widerstände gegen die Beendigung der Beitrittsverhand- 70 Die geplanten Reformen der Regierung Constantinescu konnten trotz aller Ankündigungen vor allem aufgrund innenpolitischer Unstimmigkeiten und Machtkämpfe nicht umgesetzt werden, wie im Abschnitt zur innenpolitischen Konstellation verdeutlicht wird. 71 Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum Erklärungsfaktor »Bestimmtheit der Bedingungen« weiter unten. <?page no="156"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 157 5.3 Erklärung aus Sicht der Europäisierung 157 lungen 72 , die dazu führten, dass das Monitoring im weiteren Verlauf des Beitrittsprozesses ausgeweitet wurde (ebd.: 10). Zu beachten ist dabei, dass sich diese Vorbehalte nicht konkret auf den Regionalisierungsprozess selbst bezogen, sondern vielmehr auf das als unangemessen wahrgenommene Verhalten der drittstaatlichen Akteure. Betrachtet man nun die Regionalisierungspolitik, bestätigt sich die vorsichtige Haltung der EU-Institutionen: Bereits im Bericht zum Beitrittsfortschritt Rumäniens aus dem Jahr 2000 äußerte die Kommission deutliche Kritik am langsamen Reformverlauf in der Regionalpolitik-- anders noch als in den grundsätzlich positiven Formulierungen der vorherigen Jahre. Mit Hughes/ Sasse/ Gordon (2004 : 100 f.) kann dies als Hinweis darauf gewertet werden, dass Rumänien aus der Gruppe der Kandidatenländer ausschied, deren Beitritt für 2004 vorgesehen war. Auch gab es zu diesem Zeitpunkt bereits eindeutige Hinweise auf die Zweifel der Kommission am Willen der rumänischen Regierung, die geforderten Reformen umzusetzen: »The signal the Commission appeared to be sending was that Romania lacked commitment to the enlargement process.« (ebd.: 101). Des Weiteren äußerte sich die Kommission im Report von 2001 verhalten in Bezug auf das neue Gesetz über die lokale öffentliche Verwaltung und die von Rumänien vorgeschlagene strukturelle Umgestaltung inklusive der Etablierung von Regionen auf den NUTS-2- und NUTS-3-Ebenen sowie der Übertragung von Kompetenzen auf die Regionen. Zwar gab es die Aussicht auf eine formale Umsetzung dieser Schritte, aber dennoch wurde die konkrete Ausgestaltung von Zuständigkeiten im Bereich der Strukturfonds als unzureichend kritisiert. Darüber hinaus verwies die Kommission im Bericht einerseits darauf, dass »Romania needs to ensure that the structures for inter-ministerial co-ordination are efficient and based on a political consensus« (Commission 2001 : 80). Andererseits war zugleich die Rolle der regionalen Akteure und Institutionen in Hinblick auf die Entwicklung und Implementation spezifischer Maßnahmen noch im Detail festzulegen (vgl. Hughes/ Sasse/ Gordon 2004 : 105). Laut Hughes/ Sasse/ Gordon verbarg sich dahinter eine versteckte Kritik an der politisch offenbar problematischen Situation in Rumänien und an der geringen Tragweite der durchgeführten regionalpolitischen Reformschritte. Auch in den Berichten von 2002 und 2003 bemängelte die Kommission die Entwicklung im Bereich der Regionalpolitik, weil »Romania’s basic political institutions were still in flux« (ebd.: 115). Die Autoren verweisen hierbei insbesondere auf die Unsicherheiten, die sich in Folge der Neuordnung von Kompetenzen und Institutionen vom ehemaligen Ministerium für regionale Entwicklung und Prognose hin zum Ministerium für europäische Integration ergaben (vgl. Schlüter 2011 : 283). Neben der Forderung nach weiterem Fortschritt in allen regionalpolitischen Bereichen mahnte die Kommission ebenfalls größere Ernsthaftigkeit in Anbetracht der bevorstehenden Aufgabe an: 72 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung (F. A.Z.), 05.03.2005, S. 7. <?page no="157"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 158 158 5. Europäisierung »Stability of the institutional structures as well as strong administrative capacity, based on a comprehensive human resources development plan, is an absolute prerequisite for the successful implementation of a sustainable development policy in Romania. Greater appreciation of the scale of the task ahead is necessary, as well as a firm commitment to draw on the lessons learned from implementing the preaccession instruments.« (Commission 2003 : 95). Diese zusammenfassende Darstellung der regionalpolitischen Reformen in Rumänien im Allgemeinen und der Strukturfondspolitik im Speziellen aus dem Jahr 2003 lässt sich als indirekte Kritik an den politischen Hauptakteuren im Land interpretieren, die aus Sicht der Kommission offenbar nicht mit ausreichendem Willen daran arbeiteten, die europäische Konditionalität wunschgemäß umzusetzen. Alleine die Forderung nach einer »greater appreciation of the scale of the task ahead« (ebd.) offenbart die Unzufriedenheit von Seiten der Kommission und damit zugleich auch die negative Resonanz auf supranationaler Ebene. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die negative Resonanz im Drittstaat alleine nicht dazu geeignet ist, Europäisierung einzuschränken. Wichtig bleibt auch die Frage, ob Mitgliedstaaten oder andere EU-Akteure auf supranationaler Ebene Vorbehalte gegenüber dem Adressaten haben-- in solchen Fällen kann eine Verzögerung des Anpassungsprozesses die Folge sein. Übertragbarkeit der Regeln Wie hoch das Ausmaß der Europäisierung mit Blick auf spezifische EU-Regeln letztlich ist, hängt ganz entscheidend davon ab, wie geeignet inländische Institutionen für die Übernahme sind und ob ausreichend institutionelle, administrative und finanzielle Ressourcen für die Umsetzung existieren. Mit Schimmelfennig/ Sedelmeier (2005a: 24) lässt sich davon ausgehen, dass gerade diese Aspekte in den MOEL besonders problematisch erscheinen, weil sich die politischen und gesellschaftlichen Strukturen nach Ende des Ost/ West-Konflikts teilweise stark von den EU-Vorgaben unterschieden. Darüber hinaus ist die politische Akzeptanz der betroffenen Regeln mit einzubeziehen: Treten Konflikte mit den Interessen drittstaatlicher Vetospieler auf, ist deren Anzahl hoch oder widersprechen die externen Regeln inländischen Werten und Ideen, sinkt die Wahrscheinlichkeit eines vollständigen Transfers gegebenenfalls erheblich. Insofern lässt sich annehmen, dass die Übertragbarkeit von Regeln bei einer massiven Opposition gegen spezifische Politiken nicht mehr gewährleistet ist. Somit sollte beachtet werden, dass es entweder keine relevante Gegenbewegung zu den neuen Regeln gibt oder zumindest ein Ausgleich dafür stattfindet. Allerdings beeinflussen nicht nur institutionelle Voraussetzungen die Übertragbarkeit von Regeln, sondern ebenso die Kompatibilität mit nationalen Gepflogenheiten und fest verankerten Eigenheiten im Verwaltungs-, Rechts- oder politischen System. <?page no="158"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 159 5.3 Erklärung aus Sicht der Europäisierung 159 Gibt es einen deutlichen Widerspruch zwischen den Arrangements und Prozeduren in Drittstaaten und denen europäischer Regelungen, sinkt deren Übertragbarkeit nachhaltig. Die Kompatibilität von EU-Regeln mit nationalen Gepflogenheiten verweist im Übrigen nicht auf Probleme bei der Umsetzung spezifischer Politiken, wenn diese beispielsweise inhaltlich overdetermined sind, sprich dem Drittstaat zu wenig Spielraum lassen. 73 Hingegen zielt der Faktor auf eine generelle Vereinbarkeit supranationaler Politiken mit dem politischen System des Drittstaats ab. Zusammenfassend beinhaltet die Variable »Übertragbarkeit der Regeln« demnach die Teilfaktoren »Geeignetheit der Institutionen bzw. Vorhandensein ausreichender Ressourcen«, »politische Akzeptanz der Regeln« und »Kompatibilität mit nationalen Gepflogenheiten« (vgl. Corcaci 2007 : 27 f.). Die Übertragbarkeit der Regeln ist in Rumänien dabei grundsätzlich als problematisch anzusehen, weil das staatssozialistische System Institutionen und Strukturen hinterließ, die größtenteils inkompatibel mit europäischen Vorgaben waren (vgl. ebd.: 40 f.). Darüber hinaus mangelt es Rumänien an ausreichenden administrativen Ressourcen, um eine gute Regierungsführung (good governance) wie von der EU gefordert umzusetzen (Leiße/ Leiße/ Richter 2004 : 95; vgl. Vachudova 2005 : 214). Dieser Mangel an Ressourcen sowie die maroden Institutionen und Strukturen trugen maßgeblich dazu bei, dass der Anpassungsprozess des Landes verlangsamt und damit die Europäisierung eingeschränkt wurde. Die Korruption in der Verwaltung erwies sich in diesem Zusammenhang als besonders schwierig und kann als eine nationale Eigenheit betrachtet werden, die im starken Widerspruch zu europäischen Normen steht (Gabanyi 2005 : 15). Offenbar schränkte also nicht eine generell fehlende Übernahmefähigkeit bzw. die Wahrnehmung, dass externe Regeln im Inland keine Problemlösungsfähigkeit besitzen, Europäisierung in Rumänien ein. Vielmehr stellte die mangelnde Kompatibilität zwischen supranationalen und inländischen Institutionen, Strukturen und Verfahren ein bedeutendes Hindernis dar. Entsprechende Probleme der Regierung unter Präsident Constantinescu wurden direkt nach ihrer Machtübernahme offensichtlich, nämlich »because of the practices inimical to liberal democracy and a transparent market economy that has become institutionalized and routinized in Romanian public life« (Vachudova 2005 : 168). Unter Einbeziehung historischer Aspekte lässt sich ein weiteres Argument anbringen: Boia zufolge passte sich das Land zwar nach außen hin an westliche Vorgaben an, von der EU geforderte Institutionen und Strukturen wurden jedoch nur oberflächlich übernommen, was dann verstärkt zu Korruption in der Administration führte: »Die Rumänen haben immer wieder die politischen und kulturellen Vorbilder gewechselt, um ihre Traditionen mit mehr oder weniger fremden Ideen und Insti- 73 Siehe hierzu die Untersuchung der Variable »Bestimmtheit der Bedingungen« weiter unten. <?page no="159"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 160 160 5. Europäisierung tutionen zu verbinden, und sind so Meister der Kunst geworden, sich Formen anzueignen, ohne sich mit deren wirklichem Inhalt zu beschäftigen« (Boia 2006 : 19, Herv. im Orig.; vgl. Gabanyi 2005 : 17 f.). Bestätigt wird dies durch Leiße/ Leiße/ Richter: So seien weitverbreitete Armut, unzureichende Bezahlung öffentlich Beschäftigter, unklare und kontinuierlich modifizierte Gesetze, die Privatisierung staatlicher Einrichtungen, eine mangelhaft organisierte Bürokratie und die Existenz kaum gefestigter politischer Handlungsnormen, »verbunden mit einer ausgeprägten Selbstbereicherungsmentalität der politischen und ökonomischen Eliten« (Leiße/ Leiße/ Richter 2004 : 72), schwierige Voraussetzungen für eine Anpassung an die formalen Standards der EU. Dieses offenbar stark in der rumänischen »Verwaltungskultur« verankerte Phänomen bleibt dabei auch nach dem EU-Beitritt Anfang des Jahres 2007 als Problem persistent und kann als wichtiges Argument für die These gelten, dass die öffentliche Verwaltung des Landes vor allem auf regionaler Ebene weiterhin ineffektiv und intransparent ist. So stellt dann auch die Europäische Kommission in ihrem Abschlussbericht zum Beitritt Bulgariens und Rumäniens fest, dass »there needs to be a clear political will to demonstrate the sustainability and irreversibility of the recent positive progress in fighting corruption« (Commission 2006 : 5). Die gerade in den Kommunalverwaltungen weiterhin grassierende Korruption sowie parlamentarische Blockaden entsprechender Reformvorschläge können dabei als weitere Belege dafür dienen, dass es sich tatsächlich um ein strukturelles und auch kulturelles Problem handelt. Korruption muss letztlich als das wesentliche Hindernis für jegliche Art von Transformationsbzw. Modernisierungsprozessen betrachtet werden und nicht lediglich als eine institutionellen Wandel bremsende Hürde, die mehr oder weniger leicht zu bewältigen ist. Konkreter und mit Blick auf das Ausmaß der Regionalisierung ist festzuhalten, dass die Probleme in der Implementation entsprechender Reformgesetze teilweise darin begründet lagen, dass die Regionen in Rumänien traditionell eine nur geringe Rolle als Verwaltungseinheiten spielen-- formale Bedeutung besitzen zuvorderst die nationale und die kommunale Ebene. Dies änderte sich auch im Rahmen des Dezentralisierungsprozesses nicht, weswegen die ohnehin unzureichende Übertragung von Kompetenzen und Ressourcen im Wesentlichen den Kommunen zugutekam (Dobre 2008 : 382, 388). Hintea/ Márton weisen zudem auf die mangelhafte Vorbereitung der Bediensteten im öffentlichen Dienst auf die Umsetzung europäischer Vorgaben hin, wonach »[e]ducation and training processes for civil servants are still marked by old bureaucratic traditions that usually lead to a lack of flexibility and imagination« (Hintea/ Márton 2004 : 249). 74 Nationale Gepflogenheiten wie der bürokratische Kliente- 74 Dennoch sind inzwischen Fortschritte in diesem Bereich zu verzeichnen (vgl. Hintea/ Márton 2004 : 254). <?page no="160"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 161 5.3 Erklärung aus Sicht der Europäisierung 161 lismus schränkten demzufolge die Übertragung europäischer Vorgaben ein, weil sie mit diesen in einem grundsätzlichen Konflikt standen. Eine fehlende Implementation ist ebenso in Bezug auf die Dezentralisierung der Finanzen zu beobachten, wo zwar die gesetzlichen Grundlagen, jedoch kaum klare und transparente Regeln geschaffen wurden. Zudem verbleiben weitgehende Kontrollmöglichkeiten beim Zentralstaat, was die Planbarkeit der Finanzen für die Regionen zusätzlich komplizierter macht. Insofern wurde die Übertragbarkeit der Regeln durch nicht ausreichende und nicht eindeutig geregelte finanzielle Ressourcenverteilung erschwert. Die genannten Neuerungen erfuhren Cernicova zufolge zudem starke Kritik: Diese zielte zum einen darauf ab, dass eine Gesamtstrategie zur Dezentralisierung fehle und es an Koordination sowie Kooperation bezüglich der Gesetzesimplementation mangle. Dobre argumentiert ähnlich, wenn sie aus dem »hohe[n] Grad an institutioneller Veränderung und Instabilität« (Dobre 2008 : 387) darauf schließt, dass die Regierung Rumäniens offensichtlich keine eindeutige Strategie für die Reform der regionalen Institutionenstruktur besaß. Die Kommission thematisierte diese Problematik explizit und mit deutlichen Worten im Fortschrittsbericht von 2005: »There are serious concerns in relation to the administrative capacity of the institutional structures, and in the area of financial management and control. Immediate action is required to strengthen administrative capacity across all concerned bodies at national, regional and local level, including in relation to the European Social Fund. The cooperation between the central and regional level needs to be clarified and considerably improved. The ability of Romania to guarantee sound financial management and control should be considerably strengthened to be ready by the date of accession.« (Commission 2005 : 63, Herv. im Orig.). Neben dem Hinweis auf die weiterhin geringe administrative Kapazität in allen regionalpolitischen Institutionen fällt ebenso auf, dass die Zusammenarbeit zwischen zentraler und regionaler Ebene bemängelt wird. Beide Aspekte dürften die Übertragbarkeit der europäischen Vorgaben nachhaltig erschwert haben, weil sie das Fortbestehen alter bürokratischer Traditionen und der damit verbundenen unzureichenden Ausbildung öffentlich Bediensteter verdeutlichen. Zusätzlich betreffen diese Bereiche direkt die Geeignetheit der innerstaatlichen Institutionen und deren Ausstattung mit ausreichenden Ressourcen im negativen Sinne. Hingegen hängen die Probleme in der finanziellen Verwaltung und Kontrolle zum einen damit zusammen, dass sich die weitverbreitete Korruption vor allem in diesen Bereichen negativ bemerkbar macht. Zum anderen geht es um das ebenfalls traditionell vorhandene Misstrauen der zentralstaatlichen Ebene gegenüber regionalen Akteuren, womit wiederum zwei Aspekte der vorliegenden Variable betroffen sind. Nicht nur fehlt die politische Akzeptanz zumindest der nationalen Akteure mit Blick darauf, die Regionen und Kommunen mit zusätzlichen finanziellen Ressourcen auszustatten, sondern die <?page no="161"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 162 162 5. Europäisierung Kompatibilität mit nationalen Gepflogenheiten kann gleichermaßen in Frage gestellt werden. Zum anderen wurde eine deutliche Diskrepanz zwischen den politischen Ambitionen der zentralen Instanzen und den tatsächlichen Gegebenheiten auf lokaler Ebene beklagt. Regeln ließen sich nicht wie vorgesehen implementieren, weil es keinen ausreichenden Willen der nationalen Eliten gab, bestehende institutionelle und administrative Strukturen zu Ungunsten ihrer politischen Vorstellungen zu verändern. Daraus kann man mit Cernicova schlussfolgern, dass das Hauptproblem »in the mentality of national authorities« (Cernicova 2007 : 44) lag und weiterhin liegt, also im Zusammenspiel traditioneller Vorstellungen und Verhaltensweisen. Dies verweist wiederum auf die bereits angesprochene Problematik, dass in Rumänien zwar die formale Adaption rechtlicher Vorgaben durchgeführt wurde, es jedoch am Willen und an der Kapazität mangelte, die Gesetze auch tatsächlich zu implementieren. Mit Blick auf den Teilaspekt der regionalen Verwaltungsreform merken Dragoş/ Neamţu insofern treffend an: »Nevertheless, Romania lacks the stability of the legislation necessary to deepen the reforms already realized and the political willingness to implement the existing regulations.« (Dragoş/ Neamţu 2007 : 647). Ähnlich schließt Dobre (2008 : 387) aus der institutionellen Instabilität in Rumänien zu Beginn der 2000er Jahre auf das problematische Umfeld, in dem regionale Akteure mit der europäischen Konditionalität und den damit zusammenhängenden politischen und administrativen Änderungen zurechtkommen mussten. In Verbindung mit den Erkenntnissen über die Bedeutung von Korruption wird damit die Annahme bestätigt, dass mangelnde Implementation entsprechender Regionalisierungsmaßnahmen auch auf traditionelle Denkmuster und Handlungslogiken zurückzuführen sind. Bestimmtheit der Bedingungen Sind die an den Adressaten herangetragenen Bedingungen präzise und eindeutig, trägt dies dazu bei, eine umfassendere Regelübernahme durchzusetzen. Damit ist zunächst sowohl die eindeutige Formulierung und damit Klarheit der Ausführung gemeint als auch der »Formalitätsgrad« (formality), also der rechtliche Status einer solchen Bedingung. Wichtig wird die Bestimmtheit hinsichtlich zweier Aspekte: Zum einen erhält der adressierte Drittstaat potenziell ein ausreichendes Maß an Informationen bezüglich der Regelumsetzung. Zum anderen führen Bedingungen mit einem hohen Formalitätsgrad dazu, dass die Glaubwürdigkeit der EU-Konditionalität steigt. Damit einher geht eine gegenseitige Verpflichtung und Verbundenheit (Schimmelfennig/ Sedelmeier 2005a: 12 f.): Wenn ein Drittstaat klar formulierte und rechtlich bindende Regeln umsetzt, wird es für die EU schwierig, diese Umsetzung anzugreifen bzw. sie bezüglich ihrer Qualität in Frage zu stellen. <?page no="162"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 163 5.3 Erklärung aus Sicht der Europäisierung 163 Der Aspekt »Klarheit« bezieht sich indes auf die eindeutige Formulierung des gewünschten Verhaltens (ebd.: 12). Hier soll darüber hinaus die Genauigkeit der Regeln stärker berücksichtigt werden: Zwar kann die Präzisierung von Bedingungen durchaus zur schnelleren und umfassenderen Umsetzung beitragen. Wird den Drittstaaten jedoch zu wenig Freiraum gelassen und sind die Regeln und deren konkrete Umsetzung overdetermined, kann stattdessen eine negative Wirkung eintreten. In diesem Fall bleibt den Adressaten kaum noch eine Möglichkeit, auf nationale Strukturen und sonstige Gegebenheiten Rücksicht zu nehmen, was Veränderungen erschwert. Der gegenteilige Fall ist ebenso relevant: Wird der Formulierung von zu übertragenden Regeln keinerlei Empfehlung zum Umsetzungsprozess und zu den Maßnahmen beigefügt, ist dies der vollständigen Regelumsetzung unter Umständen ebenso abträglich. Wenn der Adressat nicht die Expertise oder Kapazität besitzt, die EU-Vorgaben konkret auszugestalten und mit Maßnahmen auszufüllen, verfehlt die von der EU ausgehende Politik potenziell ihre Wirkung. In diesem Fall ändert auch die gegebenenfalls existierende Klarheit, Formalität und Nachdrücklichkeit der (zu) allgemeinen Regeln nichts. Der zuletzt genannte Aspekt, nämlich die Frage danach, ob die europäischen Institutionen ihre Bedingungen nachdrücklich an Drittstaaten herantragen, soll im Folgenden ebenfalls mit berücksichtigt werden. Gehen die europäischen Institutionen nachlässig mit der Regelbeförderung um oder reagieren sie nicht zeitnah und eindeutig beispielsweise auf Verzögerungen, sinkt zugleich die Wahrscheinlichkeit einer prioritär behandelten Regelumsetzung. Damit nimmt schließlich das Ausmaß ab, in dem entsprechende Europäisierungsmaßnahmen umgesetzt werden. Der zuletzt genannte Aspekt spielt darüber hinaus mit Blick auf die Analyseebene eine wichtige Rolle: Während der Faktor ursprünglich auf die EU-Ebene fokussiert, lässt sich hier ein direkter Bezug zur nationalen Ebene ausmachen. Es kommt demnach nicht allein auf die Regeln selbst an, sondern ebenso auf den Freiraum der drittstaatlichen Regierung. Diese muss dann ihrerseits auf die Strukturen im eigenen Land achten, sobald sie europäische policies umsetzt. Der Faktor bezieht sich also auf die Aspekte »Klarheit«, »Formalitätsgrad«, »Genauigkeit« und »Nachdrücklichkeit«-- jeweils in Bezug auf die zu adaptierenden Regeln (vgl. Corcaci 2007 : 15 f.). Der Befund bezüglich der Bestimmtheit europäischer Bedingungen für Rumänien ist ambivalent (vgl. ebd.: 31 f.): Das Handeln der EU zeichnete sich zwar ganz grundsätzlich durch einen hohen Formalitätsgrad bezüglich der Benennung und rechtlichen Geltung ihrer Bedingungen aus. Im Detail wurden die konkreten Bestimmungen jedoch kaum mit eindeutigen politischen und rechtlichen Konsequenzen belegt. Im Allgemeinen wurden die einzelnen Stufen auf dem Weg zur Vollmitgliedschaft und die damit verknüpften Bedingungen ausführlich dokumentiert, beginnend mit der »Gemeinsamen Erklärung« von 1988, über den Handels- und Kooperationsvertrag vom Oktober 1990 (in Kraft: 1. Mai 1991), das Assoziierungsabkommen vom 8. Februar 1993 (in Kraft: 1. Februar 1995), den »Strukturierten Dialog« 1995 und den <?page no="163"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 164 164 5. Europäisierung Beginn der Beitrittsverhandlungen am 28. März 2000. Die Kopenhagener Kriterien von 1993 sowie die in »Weißbüchern« detailliert beschriebenen Bedingungen bestätigen die umfangreiche formale Ausarbeitung (vgl. Leiße/ Leiße/ Richter 2004 : 81 f.). Im Speziellen stellte die Kommission bereits in der 1997 veröffentlichten »Agenda 2000« Kriterien für die Regionalpolitik und Kohäsion auf, welche durch die (potenziellen) Kandidatenländer erfüllt werden mussten. Im Falle Rumäniens ging es, so auch Dobre (2005 : 545), vor allem um »law, institution building and public administration at both national and local levels«. Ein Jahr später lobte die Kommission das Land in ihrem Fortschrittsbericht von 1998 bereits für die Verabschiedung eines Gesetzes über die regionale Entwicklung und konstatiert, dass Rumänien »has made important steps in regional policy development« (Commission 1998 : 38). In den darauf folgenden Berichten veränderte sich die positive Einstellung jedoch hin zur Äußerung von Bedenken, dass die Implementation gesetzlicher Grundlagen nicht ausreichend ernst genommen werde. Weiterhin befürwortete die Kommission zwar beispielsweise die Schaffung des Ministeriums für Entwicklung und Prognose, mahnte jedoch eine Übertragung zusätzlicher Kompetenzen auf die Regionen an und kritisierte zugleich die bestehenden Implementationsdefizite auf regionaler und lokaler Ebene. Bereits im Jahr 2003 wurde nicht nur die mangelnde Vorbereitung auf die Implementation struktureller Politiken angeprangert, sondern ebenso die aus Umstellungen in der Regierungsorganisation resultierende Auflösung des Entwicklungsministeriums. Die entsprechenden Kompetenzen und Zuständigkeiten wurden dann im Juli 2003 dem Ministerium für europäische Integration zugeordnet. Die Kommission kam zusammenfassend zur folgenden, wenig positiven Beurteilung der Fortschritte Rumäniens: »It is important that in the final structure, bodies are designated according to their capacity to adequately manage, implement and carry out the necessary interministerial co-ordination particularly the choice of managing authorities. To this end, Romania needs to review the feasibility of the system being designed, clarify arrangements for inter-ministerial coordination, and draw up a detailed description of the tasks to be performed by other ministries and the future Intermediate Bodies.« (Commission 2003 : 94). Zentral erscheint hierbei die geforderte Notwendigkeit, Verwaltungseinheiten zur Erfüllung ihrer Aufgaben adäquat auszustatten. Dabei ging die Kommission offensichtlich soweit, die damalige Gestaltung des regionalpolitischen Systems Rumäniens insgesamt in Frage zu stellen. Dies geschah jedoch nur in Form regelmäßig geäußerter Kritik und ohne dabei die weiterbestehenden Mängel im Bereich der Institutionen, Kapazitäten oder der Implementation gesetzlicher Regelungen mit ernsthaften finanziellen oder politischen Konsequenzen zu belegen, was letztlich die mangelnde Nachdrücklichkeit der Bedingungen bereits vorwegnimmt. <?page no="164"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 165 5.3 Erklärung aus Sicht der Europäisierung 165 Die Nachdrücklichkeit der Bedingungen kann dementsprechend nicht als hoch angesehen werden: Allgemein mit Blick auf das Beitrittsgesuch ist zwar festzuhalten, dass es immer wieder Verzögerungen aufgrund von Defiziten in der Umsetzung europäischer Konditionalitäten gab, z. B. im Zuge des Assoziierungsabkommens oder der Mitgliedschaft im Europarat (Kubicek 2005 : 192; vgl. Vachudova 2005 : 152 f.). Die speziell für Bulgarien und Rumänien eingeführten »Schutzklauseln« waren darüber hinaus Ausdruck rechtlich abgesicherter Sanktionsmöglichkeiten, um im Falle der Nichterfüllung von Reformzielen den Beitritt ein Jahr hinauszuzögern (Gabanyi 2005 : 5). Anders als Bulgarien unterlag Rumänien zusätzlich einer »Super-Schutzklausel«, die beim Auftreten erheblicher Mängel in elf problematischen Bereichen zu einer Beitrittsverschiebung um ein Jahr geführt hätte (ebd.: 11). Um die Aktivierung dieser Klausel zu verhindern, stellte die EU detaillierte und zeitlich eindeutige Handlungsvorgaben auf, die es zu erfüllen galt (ebd.: 16). Schließlich bleibt zu erwähnen, dass die EU im Falle Rumäniens und Bulgariens bis Dezember 2003 keinen genauen Beitrittstermin nannte, um den bestehenden Rückständen in den Ländern Rechnung zu tragen. Erst dann wurden der Verhandlungsabschluss, die Unterzeichnung des Beitrittsvertrages und der optional verschiebbare Beitrittszeitpunkt festgelegt (ebd.: 7). Betrachtet man die Regionalpolitik genauer, bestätigen sich hingegen die bereits mit Blick auf den Formalitätsgrad angedeuteten Inkonsistenzen europäischer Politik: Zwar bekräftigte die Kommission in jedem ihrer Fortschrittsberichte ihre Kritik an der mangelnden Implementation gesetzlicher Vorschriften, riskierte dabei jedoch nicht ernsthaft, den Beitrittsprozess deswegen zu verschieben oder gar auszusetzen. So wurden die Forderungen der Kommission an Rumänien bereits früh detaillierter, sie stellte im Jahr 2000 diverse Kriterien für Maßnahmen der Regionalpolitik auf, die durch die Kandidatenländer einzuhalten waren. Diese lauten: territoriale Organisation; rechtliche und institutionelle Strukturen; gesetzliche Rahmenbedingungen; Vorbereitungen bezüglich der Programmplanung; Verwaltungskapazitäten und finanzielle Kontrolle; Aufstellen von Statistiken; das Partnerschaftsprinzip; Überwachung bzw. Monitoring sowie Evaluation (vgl. Commission 2000 : 69 f.). Anhand dieser Kriterien wurden in den folgenden Berichten die geringen Fortschritte Rumäniens aufgezeigt. Zugleich forderte die Kommission das Land dazu auf, mehr Kompetenzen auf die regionale Ebene zu übertragen und die Zuständigkeiten zu spezifizieren. Allerdings verband sie ihre Kritik nicht mit konkreten Maßnahmen, die ihr aber aufgrund der zahlreichen Schutzklauseln eigentlich zur Verfügung standen. Nachdrücklichere Maßnahmen als solche schriftlichen Äußerungen, wie z. B. die Androhung einer Verschiebung des Beitrittsdatums, existieren mit Bezug auf die Regionalpolitik demnach nicht. Des Weiteren lässt sich mit Dobre anfügen, dass sie sich in ihrem Austausch mit den Vertretern Rumäniens zuvorderst auf die nationale Ebene fokussierte, auch gerade in Hinblick auf die finanziellen Hilfen vor dem Beitritt zur Europäischen Union. Insofern verwundert es nicht, dass die nationale Regierung sich dafür entwww.claudia-wild.de: <?page no="165"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 166 166 5. Europäisierung schied, einen »path of administrative controlled top-down regionalisation« (Dobre 2005 : 547) einzuschlagen und die Reform der regionalen Ebene nicht bottom-up und unter stärkerer Beteiligung der regionalen und lokalen Akteure durchzuführen (vgl. Dobre 2008 : 390, Schlüter 2011 : 285 f.). Die EU forderte und unterstützte laut Schlüter zwar teilweise die Regionalisierung im Land, »allerdings ebbte der Druck mangels Anreiz ab« (Schlüter 2011 : 290), was der weiteren Europäisierung letztlich abträglich war. Darüber hinaus lassen sich bezüglich der Klarheit und Genauigkeit der Regeln zum Teil deutliche Einschränkungen feststellen. Während die Umsetzung der grundlegenden Konditionalitäten weitgehend konsequent verfolgt wurde, wies gerade der Maßnahmenkatalog im Weißbuch, also die konkrete Ausgestaltung der Bedingungen, Mängel auf: »Anzumerken ist, dass kein Zeitplan und keine Reihenfolge der Maßnahmen darin enthalten waren, so dass jedes Land nach eigenem Gusto seine Prioritäten setzen konnte. Doch gerade die Tatsache eines fehlenden Zeitplans stieß bei den assoziierten Staaten auf Kritik« (Leiße/ Leiße/ Richter 2004 : 86). Diese mangelnde Klarheit und Eindeutigkeit verweist zugleich auf die Problematik der Freiräume, die Drittstaaten gewährt werden. In vorliegendem Fall stellten sich die Handlungsvorgaben mit Blick auf die Maßnahmen offenbar als unzureichend heraus, was in der Folge zu einer Verzögerung der Regelumsetzung in Rumänien führte. Darüber hinaus existierte kein umfassendes und detailliertes Modell seitens der EU, mit dem die umzusetzenden Bestimmungen im Bereich der Regionalpolitik-- sei es mit Blick auf Strukturfonds, Kohäsion, Regionalisierung oder regionale Institutionen- - für alle Staaten Mittel- und Osteuropas vereinheitlicht wurden: »The acquis under Chapter 21 does not define how the specific structures for the practical management of Structural and the Cohesion Funds should be set up, but leaves it up to the Member States.« (Commission 2002 : 59). Die zentrale Aussage bleibt dabei auch in der überarbeiteten Fassung des Dokuments aus dem Jahr 2004 bedeutungsgleich (vgl. ebd. 2004 : 67). In diesem Zusammenhang existierte insofern weder ein spezifisches Modell für die strukturelle Ausgestaltung der regionalen Ebene, »nor do the member states respond to a single European standard in the field of regional policy.« (Dobre 2005 : 547). Rumänien stand es insofern frei, über die »angemessenen« institutionellen und administrativen Strukturen sowie die Maßnahmen im Umgang mit Struktur- und Kohäsionsfonds selbst zu bestimmen (ebd. 2008 : 385). Dies dürfte ein wichtiger Grund sowohl für die langsame Anpassung Rumäniens in der Regionalpolitik als auch für den starken Einfluss des Nationalstaates im Regionalisierungsprozess gewesen sein (ebd.). Wie bereits festgestellt, mangelte es rumänischen Institutionen und Verwaltungseinheiten an personeller, finanzieller sowie administrativer Kapazität, um gesetzliche <?page no="166"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 167 5.4 Fazit 167 Vorgaben zu erfüllen oder Maßnahmen zur umfassenden Umsetzung zu erarbeiten. Dies bestätigt ein weiteres Mal die dem vorliegenden Ansatz zugrunde liegende These, dass wenig klare Konditionalitäten und in diesem Fall zu wenig ausformulierte Umsetzungsempfehlungen zu einer weniger weitreichenden Europäisierung führen können. Dobre fasst dies in Hinblick auf die europäischen Vorgaben an Rumänien zur Regionalpolitik wie folgt zusammen: »Accordingly, the lack of both a model for sub-state reform and of yardsticks for evaluating progress toward a proper level of regional administrative capacity and regional development led to a domestic outcome of administrative regionalization with the creation of a formal institutional regional layer corresponding to the EU structures of NUTS 2.« (ebd.: 547 f.). Demzufolge führten die laxen Handlungsanleitungen und die fehlende Fortschrittsevaluation seitens der EU dazu, dass in Rumänien mit den acht Planungsregionen auf NUTS-2-Ebene formal eine institutionelle Struktur auf regionaler Ebene mit entsprechender regionaler Administrative geschaffen wurde, der jedoch keine weitgehenden Kompetenzen oder Ressourcen zur Verfügung standen. Dieses Vorgehen lässt sich als funktionale Regionalisierung bezeichnen, also »the creation of regional structures without devolving the process of decision-making« (Dobre 2005 : 552). 5.4 Fazit Dieses Kapitel zeigt, dass die von der Europäischen Union ausgehende und durch das Adressatenland umgesetzte Europäisierung der Regionalisierungspolitik nur unter bestimmten Bedingungen zum einen überhaupt erst ermöglicht und zum anderen auch vollständig umgesetzt wird. Als erste wesentliche Ermöglichungsbedingung in diesem Politikfeld lässt sich zunächst allgemein die innenpolitische Konstellation im Drittstaat bestimmen, die grundsätzlich darüber entscheidet, ob überhaupt auf die Konditionalität der EU eingegangen wird und damit Regeln übernommen werden. Die Resonanz der Hauptakteure im entsprechenden Land, aber auch diejenige europäischer Akteure und von Mitgliedstaaten erklärt als zweite Ermöglichungsbedingung vor allem, ob die konkrete Policy-- hier Vorgaben zur Regionalisierung-- übernommen wird. Darüber hinaus ließ sich mithilfe der Übertragbarkeit von Regeln und damit zusammenhängend speziell der Kompatibilität von Vorgaben und nationalen Gepflogenheiten erklären, in welchem Ausmaß eine Politik umgesetzt wird. Hier wurde gezeigt, dass inkompatible Institutionen und Verhaltensweisen die Europäisierung der Regionalisierungspolitik stark einschränken können. Schließlich ergab die Analyse, dass die insgesamt geringe Bestimmtheit der Bedingungen vor allem bezüglich der Genauigkeit und Nachdrücklichkeit zur Einschränkung der Europäisierung <?page no="167"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 168 168 5. Europäisierung führte, gerade weil das Land einerseits im Wesentlichen freie Bestimmungsgewalt über die konkrete Ausgestaltung der geforderten Reform hatte und es andererseits keine ernsthaften Konsequenzen für die langsamen und inhaltlich unzureichenden Reformschritte Rumäniens gab. Aus Sicht des verwendeten Europäisierungsansatzes hätten dabei auch andere Bereiche der Regionalpolitik auf ihre Europäisierung hin untersucht werden können, solange dabei die Rückwirkungen auf Ebene der Mitgliedstaaten, Kandidatenländer sowie potenzieller Beitrittskandidaten im Fokus stehen. Diese treten in allen Dimensionen der Politik (polity, politics, policy) auf und können sich je nach Politikfeld deutlich voneinander unterscheiden. Für den Anwendungsfall Rumänien lässt sich darüber hinaus festhalten, dass die Regelübernahme eher oberflächlich und rein formal geschah, wodurch es an der inhaltlichen Umsetzung und kognitiven Akzeptanz mangelte. Zu diesen Einschränkungen zählen neben nationalen Gepflogenheiten wie Korruption, Klientelismus und dem fehlenden politischen Willen, europäische Zielvorgaben umzusetzen, auch inkompatible institutionelle Strukturen sowie fehlende finanzielle Ressourcen. Insgesamt ist es zwar zu einer sichtbaren Regionalisierung gekommen, die oberflächlich betrachtet als deutlicher Wandel bezeichnet werden kann. Allerdings besteht diese Entwicklung hauptsächlich in der Adoption neuer Gesetze und anderer Vorgaben, nicht aber in der tatsächlichen Implementation, weil »administration reform has been conceived in Romania as meaning exclusively adoption of laws and regulation« (Hintea/ Márton 2004 : 251). Dies verwundert nicht, stellt doch die (nationale, aber vor allem auch regionale und lokale) Verwaltung Rumäniens weiterhin eines der »schwächsten« Teile im Regierungssystem dar und zeichnet sich durch eine mangelnde Umsetzung gesetzlicher Regelungen einerseits sowie durch traditionelle Denkmuster öffentlich Beschäftigter andererseits aus. Dabei bleibt der zentralistische Ansatz rumänischer Administration weiterhin ein wichtiges strukturelles Element im Land- - auch nach der bisher durchgeführten Regionalisierung (vgl. Bechev/ Noutcheva 2008 : 131 f.). Insgesamt sollte nun deutlich geworden sein, wie durch die theoretische Wahl der Europäisierung bereits das zu untersuchende Phänomen wie auch die Fragestellungen und die zu erklärenden Variablen determiniert worden sind. Es wäre also beispielsweise nicht möglich gewesen, die Schaffung der Strukturfonds auf EU-Ebene als Erklärungsgegenstand auszuwählen. Dies widerspricht der post-ontologischen Herangehensweise des theoretischen Konzepts und dessen Fokus, nationale Rückwirkungen europäischer Politiken zu analysieren. Was wurde demzufolge nicht untersucht und erklärt? Mit dem Versuch, die Rückwirkungen europäischer Politiken auf nationaler und regionaler Ebene aufzuzeigen und zu beleuchten, bleibt kein Spielraum dafür, Prozesse der Herausbildung von Institutionen und Regeln auf Ebene der Europäischen Union selbst zu analysieren. Europäisierung bietet zwar aufgrund ihrer theoretischen Vielfalt und der Tatsache, dass es sich nicht um eine einheitliche Theorie handelt, zahlreiche Untersuchungsmöglichwww.claudia-wild.de: <?page no="168"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 169 5.4 Fazit 169 keiten in allen Dimensionen der Politik. Aufgrund ihres Fokus auf die Rückwirkungen europäischer Politik bleiben allerdings all diejenigen Fragen außen vor, die sich ausschließlich auf klassische Fragen der europäischen Integration beschränken. Sprich, solange es um die Etablierung von Institutionen, Prozessen und Politiken auf der EU-Ebene geht und nicht im Vordergrund steht, wie sich diese Entwicklungen auf Mitgliedstaaten, Kandidatenländer oder potenzielle Beitrittskandidaten auswirken, können Europäisierungsansätze keine Erklärung liefern. Möchte man also beispielsweise die Entstehung der supranationalen Vorgaben zur Regionalisierung untersuchen, müssen zwangsläufig andere Erklärungsansätze gewählt werden. Literatur Axt, Heinz-Jürgen/ Milososki, Antonio/ Schwarz, Oliver 2007: Europäisierung-- ein weites Feld. Literaturbericht und Forschungsfragen, in: Politische Vierteljahresschrift 48 : 1, 136-149. Bechev, Dimitar/ Noutcheva, Gergana 2008: The Successful Laggards: Bulgaria and Romania’s Accession to the EU, in: East European Politics and Societies 22 : 1, 114-144. Benedek, József/ Horváth, Réka 2008: Chapter 12, Romania, in: Baun, Michael/ Marek, Dan (Hg.): EU regional policy after enlargement. Basingstoke/ New York, 226-247. Boia, Lucian 2006: Historische Wurzeln der politischen Kultur Rumäniens, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 56, 13-20. Börzel, Tanja 1999: Towards Convergence in Europe? Institutional Adaptation to Europeanisation in Germany and Spain, in: Journal of Common Market Studies 39 : 4, 573-596. 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Interessenvermittlung und der Einfluss von Regionen auf die europäische Regionalpolitik Durch die Dynamik der europäischen Integration wurde die Handlungsfähigkeit der regionalen Ebene zum einen in Form europäischer Eingriffe in die Entscheidungsbereiche der Länder eingeschränkt, zum anderen jedoch durch die zunehmende Anerkennung einer aktiven Rolle subnationaler Einheiten auf europäischer Ebene gerade in der Strukturfondspolitik ausgeweitet. Die folgenden Seiten stellen Ansätze zur Analyse der Interessenvermittlung territorialer Akteure wie der deutschen Länder in der Strukturfondspolitik vor und zeigen, wie sie sich anwenden lassen. Anschließend werden aus den Ansätzen Hypothesen abgeleitet. In einem letzten Schritt schließlich wird ein Ausschnitt der Strukturfondspolitik anhand dieser Hypothesen theoriegeleitet erklärt. 6.1 Interessenvermittlung im europäischen Mehrebenensystem In den klassischen Integrationstheorien spielen Interessengruppen entweder gar keine Rolle wie im Intergouvernementalismus, eine über die nationalstaatliche Ebene vermittelte Rolle wie im liberalen Intergouvernementalismus, oder eine katalysierende Rolle im Rahmen fortschreitender Integration wie im Neo-Funktionalismus oder dem supranationalen Intergouvernementalismus von Sandholtz/ Zysmann (1989). In allen diesen Ansätzen werden Interessengruppen jedoch nicht als eigenständige Akteure untersucht, sondern als Faktor für eine tiefere Integration konzipiert. Interessenvermittlung als eigenständiges Forschungsgebiet kam mithin erst in den 1970 Jahren mit dem Aufkommen vergleichender Forschungen zur Europäischen Union auf die Tagesordnung. Die Literatur zur Interessenvermittlung im europäischen Mehrebenensystem umfasst funktionale (unter anderem Verbände, Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaftsverbände) und territoriale Akteure (unter anderem Regionen, Kommunen). Die Interessenvermittlung funktionaler und territorialer Akteure wurde dabei lange Jahre in getrennten Diskursen behandelt, erst seit jüngster Zeit betrachtet man sie aus vergleichender Perspektive (vgl. Knodt/ Quittkat/ Greenwood 2011). Einen Überblick über die mittlerweile vielfältige Literatur der funktionalen Interessenvermittlung geben die State-of-the-Art-Artikel und die darin aufgearbeitete Literatur von Beyers/ Eising/ Maloney (2008), Coen (2007), Dür/ De Bièvre (2007) sowie Woll (2006). Die Überblicksartikel arbeiten sowohl unterschiedliche Ansätze zur Erfassung des Zugangs von funktionalen Akteuren zur europäischen Ebene, deren Strategien wie auch deren Macht und Einfluss auf. Die Analyse der Interessenvermittlung territorialer Akteure <?page no="173"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 174 174 6. Interessenvermittlung vor allem der regionalen Ebene fand ihren Ausgangspunkt in der Diskussion um ein »Europa der Regionen« in den 1980er Jahren (vgl. Keating/ Jones 1985, Anderson 1990, Borras-Alomar/ Christiansen/ Rodriguez-Pose 1994, Boschma/ Schobben 2000, Conzelmann/ Knodt 2002). In den letzten Jahren hat sich das Untersuchungsinteresse auch auf die lokale Ebene ausgeweitet (vgl. Münch 2006, Knodt 2010). Gerade die vergleichende Analyse von funktionalen und territorialen Akteuren hat ergeben, dass Letztere in ihrer Interessenvermittlung eine doppelte Rolle erfüllen: Sie sind zum einen Repräsentanten ihrer regionalen Wählerschaft, verhalten sich jedoch zum anderen auf europäischer Ebene wie funktionale Akteure, die Lobbying im eigenen Interesse betreiben (vgl. Piattoni 2011, Knodt 2011). Gerade in Politikbereichen, in denen distributive oder redistributive Politiken territoriale Effekte produzieren, tendieren territoriale Akteure dazu, ihre Interessen zu maximieren. Dies hat Auswirkungen auf die Art und Weise ihrer Interessenrepräsentation (vgl. Greenwood 2011). Die ambivalente Rolle, die territoriale Akteure auf der EU-Ebene spielen, zeigt sich vor allem in der »Europäischen Transparenz-Initiative«. Ihre erste Version (2008) trennte öffentliche Akteure von Lobbyisten und stellte klar, dass sich öffentliche Akteure jedweder Ebene oder territorialen Zugehörigkeit nicht im europäischen Register der Lobbyakteure registrieren sollten (Commission 2008 : 2). In einem Vorschlag für die Überarbeitung der Initiative von 2011 ist zu lesen, dass sich nun gerade auch diese Akteure registrieren müssen (Greenwood 2011). Wenn daher davon auszugehen ist, dass sich territoriale Akteure zu einem guten Teil wie funktionale Akteure im europäischen Mehrebenensystem verhalten, kann zur Analyse auf Konzepte der Interessenvermittlung, wie sie sich in der Literatur zu funktionalen Akteuren finden, zurückgegriffen werden. Dies ist insofern ein wichtiger Schritt, als dass die Literatur zur Interessenvermittlung von Regionen im Mehrebenensystem und dabei auch in der Regionalpolitik in vielen Teilen rein deskriptiv ausfällt (vgl. z. B. Jones/ Keating 1995). Dabei ist vorauszuschicken, dass keine »Theorie« der Interessenvermittlung existiert, die einfach auf die Analyse territorialer Akteure in der EU-Regionalpolitik hätte übertragen werden können. Vielmehr gilt die Interessenvermittlung als relativ enges Feld der politikwissenschaftlichen Analyse und als akademische »Nische« (Beyers/ Eising/ Maloney 2008 : 1103) auch in der EU-Forschung. So überschreiben dann auch Jan Beyers, Rainer Eising und William Maloney ihren Überblicksartikel (2008) mit »Research Interest Group Politics in Europe and Elsewhere: Much We Study, Little We Know? «. Ansätze zur Interessenvermittlung in der EU adressieren dabei unterschiedliche zu erklärende Phänomene. Erstens existieren Versuche, das europäische System der Interessenvermittlung insgesamt mit den herkömmlichen Kategorien des Pluralismus und Korporatismus zu kategorisieren (vgl. Falkner 1998, Eising 2004). Dort wird das EU-System je nach Politikfeld eher als pluralistisch wie etwa im Bereich des Binnenmarktes (vgl. Coen 1998) oder neo-korporatistisch wie im Bereich der Sozialpolitik (Falkner 1998) katewww.claudia-wild.de: <?page no="174"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 175 6.1 Interessenvermittlung im europäischen Mehrebenensystem 175 gorisiert. Die Einschätzung der EU als pluralistisch wird aufgrund ihrer Offenheit für alle Interessen und deren gleichwertige Behandlung getroffen. Die Organisation solcher Interessen ist in der EU als legitim anerkannt und ihnen wird grundsätzlich die gleiche Möglichkeit der Durchsetzung zugeschrieben. Zudem stehen die entsprechenden Akteure bei der Repräsentation ihrer Interessen im Wettbewerb miteinander. Der Staat bzw. im Fall der EU die Kommission nehmen dabei die Rolle von Schiedsrichtern über die Interessen ein. 75 Jedoch stellt sich die EU nicht als rein pluralistisches System dar, sondern als eine Art Mischsystem, das auch neo-korporatistische Elemente der Interessenvermittlung enthält. So beruht ein Großteil der Entscheidungen in der Sozialpolitik auf der institutionalisierten Mitwirkung der Sozialpartner (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände) im Zusammenspiel mit der Kommission und dem Ministerrat (vgl. Falkner 1998). Allerdings haben sich die europäischen Sozialrechte erst spät und unvollständig auf der europäischen Ebene entwickelt (Falkner 1998, Leibfried/ Pierson 1995). Dieser Tatbestand wird vor allem damit erklärt, dass die Rationalität der europäischen Integration von Beginn an vor allem auf wirtschaftlicher Effizienz und weniger auf dem Paradigma der Umverteilung und Gerechtigkeit gründete (vgl. Addison/ Siebert 1991, Ebbinghaus/ Visser 2000). Mittlerweile ist die Regelungskompetenz der Sozialpartner offiziell anerkannt und es wurde ein verpflichtendes Verfahren für ihre frühzeitige Einbindung in die Verträge aufgenommen. Trotzdem findet der Sozialdialog auf europäischer Ebene unter anderen Bedingungen statt als auf der nationalstaatlichen Ebene und darf nicht mit der nationalstaatlichen Tarifautonomie von Arbeitgebern und Gewerkschaften verwechselt werden. Zum einen fehlt der Arbeitnehmerseite das Drohpotenzial des Streiks. Zum anderen haben Arbeitgebervertretungen nur ein begrenztes Interesse an sozialpolitischer Regulierung und sind eher an nicht-bindenden Empfehlungen und Beratungen orientiert. Sie verhandeln daher meist nur angesichts einer antizipierten Intervention der Kommission (Keller/ Sörries 1998 : 723). Zweitens fokussieren Analysen auf die institutionelle Struktur der EU, die Chancen und Opportunitäten für die Interessenvermittlung vorgibt. Solche Studien konzipieren die EU im Sinne der Einflusslogik von Schmitter/ Streeck (1981) und übertragen dieses Modell auf die EU (Quittkat 2002). Das von Schmitter/ Streeck entwickelte Modell zeigt dabei, dass Wirtschaftsverbände in ihrem Agieren zum einen von den spezifischen Merkmalen ihrer Mitglieder abhängig sind (Mitgliederlogik), gleichzeitig jedoch auch von den Eigenschaften des politischen Systems, in dem sie agieren (Einflusslogik) (Schmitter/ Streeck 1981). In Bezug auf letzteren Aspekt macht es somit einen entscheidenden Unterschied, ob ein Wirtschaftsverband in der Bundesrepublik Deutschland agiert, einem in weiten Teilen pluralistischen und für Wirtschaftsverbände offenen System, oder im etatistischen französi- 75 Für eine kurze Darstellung des Pluralismus vgl. Sebaldt/ Straßner 2001. <?page no="175"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 176 176 6. Interessenvermittlung schen Staat, der sich weitgehend von wirtschaftlichen Interessen abschottet (vgl. Quittkat 2002). Diese unterschiedlichen nationalen Einflusslogiken und deren Auswirkungen auf die Strategien der Interessengruppen haben auch einen Effekt auf deren Performanz im europäischen System. Sind es Wirtschaftsverbände gewohnt, keinen Zugang zum politischen System zu besitzen, so haben sie auf der europäischen Ebene mit ihrem offenen pluralistischen System eher Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Dies stellt Quittkat (2002) in ihrer vergleichenden Studie französischer und deutscher Verbände in der EU fest. Zum dritten sind Studien zu nennen, die sich auf Strategien und Zugangspunkte der Interessenvermittlung konzentrieren, wie etwa diejenigen von Coen (1998), Bouwen (2002), Quittkat (2002), Beyers (2004 und 2008) sowie Eising (2004 und 2007), um nur einige zu nennen. Hierbei werden die Strategien der unterschiedlichen Akteure der Interessenvermittlung im europäischen Mehrebenensystem untersucht (vgl. z. B. Knodt 2011) sowie die unterschiedlichen Formen der Interessenvermittlung in verschiedenen Politikfeldern (Mazey/ Richardson 1993, Bouwen 2002) bzw. zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Politikzyklus (Eising 2004). Auch der Zugang zu unterschiedlichen Organen der EU wird in diesen Studien adressiert (vgl. Quittkat 2002, Michalowitz 2004). Schließlich geht es in der Literatur viertens um den Fokus unterschiedlicher Ressourcenausstattung, die Strategien und Zugänge zu den europäischen Instituten beeinflussen (Bouwen 2002, Beyers 2004). Damit ist eine der schwierigsten Problemstellungen im Rahmen der Interessenvermittlung angesprochen, nämlich die Analyse des tatsächlichen Einflusses auf die konkreten europäischen Politiken. Hier stellen sich vor allem Probleme der Messbarkeit und der Zurechenbarkeit (vgl. Dür/ de Bièvre 2007). Aufgrund dieser Probleme wird meist die Frage nach dem Zugang bevorzugt gestellt (vgl. Bouwen 2002 : 365 f.). Zugang ist damit nicht gleichzusetzen mit Einfluss, da Fälle von Zugang und einer erfolgreichen Beeinflussung ebenso denkbar sind wie Fälle von erfolgreichem Zugang aber ohne Beeinflussung der entsprechenden Policy. Dies gilt für funktionale Lobbyakteure wie etwa Wirtschaftsverbände, Unternehmen und private Consultants ebenso wie für regionale Akteure wie beispielsweise die deutschen Länder. In diesem Beitrag werden wir versuchen, Aussagen über den Erfolg regionalen Lobbyings in Brüssel zu treffen. Dieses Lobbying ist gerade im Fall der Regionalpolitik überaus wichtig für die Regionen. Je erfolgreicher deren Lobbying bereits im Vorfeld neuer Ausschreibungen von Strukturfondsfördermitteln, desto besser sind diese in der Lage, die Mittel zu beantragen. Des Weiteren versuchen die Regionen, ihr Interesse an einer höheren Mittelzuweisung für ihre Region oder bestimmte lokale Projekte in ihrer Region zu erreichen. Ebenso gehört zu den Forderungen der Regionen diejenige nach größerer regionaler Autonomie bei der Mittelvergabe. Dies wird meist unter dem Stichwort »Subsidiarität« diskutiert. <?page no="176"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 177 6.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 177 6.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen in Bezug auf die Interessenvermittlung Der Prozess der europäischen Integration hat den politischen Raum über die nationalen Grenzen hinweg ausgedehnt. Diese Entwicklung ließ das politische System nicht unberührt: Die gemeinsame Politikgestaltung im »Staatenverbund« (Maastricht- Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1992) 76 der EU wirkt sich nicht nur auf die Regierungen der Mitgliedstaaten aus, sondern ebenso auf die territorialen Akteure der regionalen Ebene. Dies wird insbesondere in der Regionalpolitik und Strukturfondsförderung deutlich. An vielen Stellen sind Regionen im Bereich von regionaler Wirtschaftsförderung, regional wirksamer Regulierungen oder mit Blick auf Förderprogramme von europäischer Politik betroffen. Die Regionen sind daher gezwungen, ihre Interessen auf europäischer Ebene aktiv zu vertreten. Mit folgendem Beispiel sei dies verdeutlicht: Die Informationsbüros der deutschen Regionen werben vor allem in der Europäischen Kommission für Verständnis für zu erwartende Probleme bei der Implementation europäischer Regelungen und versorgen die Europäische Kommission mit entsprechenden Informationen. Ein konkretes Beispiel in diesem Sinne erläutert Konrad Zumschlinge mit der Fleischproduktrichtlinie. Diese Richtlinie sollte die hygienischen Anforderungen sämtlicher Fleischbetriebe in der Gemeinschaft harmonisieren. Kleineren und kleinsten Familienbetrieben, wie sie etwa in Bayern hauptsächlich zu finden sind, standen Erleichterungen in Aussicht. Der von der Kommission im Entwurf festgeschriebene Grenzwert lag jedoch so niedrig, dass die Mehrzahl der bayerischen Metzgereien als »Großbetriebe« hätte behandelt werden müssen. Im Rahmen einer von der Bayerischen Vertretung in Brüssel organisierten Gesprächsrunde zwischen den zuständigen Kommissionsbeamten, der amtierenden Ratspräsidentschaft, der bayerischen Metzgereiinnung und dem bayerischen Fleischerverband ließ sich dieser Konflikt, der vor allem wegen des Mangels an verfügbarem Datenmaterial entstanden war, beheben-- die bayerischen Fachverbände konnten der Kommission die fehlenden Daten zur Verfügung stellen. Das Ergebnis dieses Austausches war, dass sich die Kommission in ihrem Richtlinienvorschlag dem bayerischen Vorschlag einer qualitativen statt quantitativen Abgrenzung angeschlossen hat (vgl. Zumschlinge 1999). Sowohl die Implementation der europäischen Politik als auch bereits deren Formulierung befördern somit eine aktive Mitwirkung territorialer Akteure insbesondere der regionalen Ebene. Regionale Akteure müssen ihre Interessen dementsprechend im Rahmen des gesamten Politikzyklus repräsentieren. Am Beispiel der deutschen Länder werden die unterschiedlichen Strategien und Zugänge zum europäischen Entscheidungsprozess, die sich regionale Akteure im Rahmen ihrer Interessenvertretung geschaffen haben, verdeutlicht: 76 BVerfGE 89, 155 vom 12. Oktober 1993, Az: 2 BvR 2134, 2159/ 92. <?page no="177"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 178 178 6. Interessenvermittlung Die Länder verfolgten zur Vertretung ihrer Interessen in europäischen Belangen unterschiedliche Strategien: (1) Ausbau der innerstaatlichen Partizipation in EG- Angelegenheiten im Rahmen des kooperativen Föderalismus über den Bundesrat in den 1980er Jahren, weiter gestärkt dann durch den Artikel 23 GG (»Europaartikel«); (2) die direkte Vertretung der Länderinteressen auf europäischer Ebene durch die Einrichtung von Informationsbüros; (3) die Institutionalisierung einer regionalen Interessenvertretung innerhalb des Institutionengefüges der EG/ EU (Ausschuss der Regionen); (4) der Aufbau transnationaler Netzwerke und die Kooperation mit anderen Regionen; sowie (5) der Versuch, vor allem im Rahmen der europäischen Verfassungsdebatte und Vertragsrevisionen eine neue Teilung der Kompetenzen bzw. in einigen Bereichen sogar eine Rückübertragung von Kompetenzen zu erreichen (vgl. Knodt 2002 und 2003). ad (1): Mitwirkung der deutschen Länder im Rahmen des kooperativen Föderalismus Mit der Vertiefung der Integration erstritten sich die Länder immer weitergehende Mitwirkungsrechte. Die Mitwirkung der Länder beruht traditionell auf zwei Prinzipien: zum einen auf dem Informationsprinzip, das die Bundesregierung verpflichtet, den Bundesrat über alle Vorhaben der Europäischen Gemeinschaften zu unterrichten, die für die Länder von Interesse sein könnten; zum zweiten auf der Mitwirkung der Länder durch den Bundesrat bei Übertragung von Hoheitsrechten von der Bundes- und Landesebene auf die europäische Ebene. Mit dem Maastrichter Vertrag und der Grundgesetzänderung von 1993, insbesondere der Revision des Artikels 23 GG, wurde das zweite Prinzip ausgeweitet. 77 Art. 23 GG bindet die Übertragung von Hoheitsrechten an die Zustimmung des Bundesrates. Danach gilt nun Folgendes: (1) In Angelegenheiten der EU wirken die Länder durch den Bundesrat mit (Art. 23 Abs. 2 GG); (2) wenn im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, ist die Auffassung des Bundesrates »maßgeblich zu berücksichtigen« (Letztentscheidungsrecht; Art. 23 Abs. 5 GG); (3) in anderen Fällen »berücksichtigt« die Bundesregierung die Stellungnahme des Bundesrates (Art. 23 Abs. 5 GG); (4) Ländervertreter können in europäischen Gremien-- einschließlich des Ministerrates-- die Verhandlungen führen, wenn es um ausschließliche Länderkompetenzen geht (Art. 23 Abs. 6 GG). Sie sind dann dem Bundesrat gegenüber verantwortlich. An den Verhandlungen in den Beratungsgremien des Rates und der Kommission sind zudem vom Bundesrat ernannte Ländervertreter als Mitglieder der deutschen Delegation beteiligt. In der Bestellung der EG-Gremien durch Ländervertreter ist ein deutliches Übergewicht der größeren Landesverwaltungen von Nordrhein-Westfalen, Bayern 77 Für detaillierte Angaben vgl. Knodt 1998a und 2003. <?page no="178"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 179 6.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 179 und Baden-Württemberg festzustellen. Diese ungleiche Verteilung übersteigt dabei die festgelegten Ländergewichte im Bundesrat, so dass bereits hier ein asymmetrischer Zugang der Länder festgestellt werden kann. Zur Stärkung ihrer Position und zur besseren Abstimmung griffen die Länder auf ein gemeinsames Vorgehen in Form der horizontalen Koordination ihrer Interessen zurück, was als »Politik der dritten Ebene« bezeichnet wird. Dies geschieht vor allem durch die im Oktober 1992 gegründete »Ständige Konferenz der Europaminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland« (EMK). Bemerkenswert ist die horizontale Länderkoordination auch dann, wenn sie wie im Fall der Maastrichter Verhandlungen um eine interregionale Dimension erweitert wird. Neben der nationalen Länderkoordination hatten die Länder schnell erkannt, dass die interregionale Zusammenarbeit notwendig sein würde, um ihre Forderungen nicht als allein deutsche Vorstellung erscheinen zu lassen und somit deren Durchsetzung zu erleichtern. Sie haben daher parallel zu den innerstaatlichen Vorbereitungen auch das bereits vorhandene interregionale Netzwerk im Rahmen der »Versammlung der Regionen Europas« (VRE) und der Konferenz »Europa der Regionen« genutzt. Gleiches geschah im Vorfeld der meisten Regierungskonferenzen zur Revision der europäischen Verträge. Neben der Mitwirkung durch das kooperative föderale System haben vor allem Informationsdefizite in der Vor-Maastricht-Zeit zur Herausbildung neuer Strategien der Länder geführt, worauf im nächsten Abschnitt noch eingegangen wird. Offizielle Dokumente erreichten oft mit erheblicher zeitlicher Verzögerung die Länderministerien, denen in der Folge kaum Zeit zu einer fundierten Stellungnahme blieb. Der wichtige Faktor des Zeit- und Informationsmanagements bei der Beteiligung der Länder an der europäischen Politikgestaltung veranlasste diese dazu, nach immer neuen Wegen der Interessenvertretung zu suchen und eigenständige Informationskanäle zur EG aufzubauen. Bis in die 1980er Jahre waren die Länder neben der Informationszuleitung durch den Bund auf den Länderbeobachter des Bundesrates angewiesen, der seit 1958 prioritär über die abschließenden Entscheidungsprozesse des Rates sowie in abgeschwächter Form ebenfalls über die Beratungen der Kommission, vor allem die darüber verfügbaren Hintergrundinformationen, berichtet. Der Länderbeobachter ist als gemeinsame Einrichtung aller Länder nur für die Informationsbeschaffung zuständig und ist Teil der deutschen Delegation. Somit ist diese direkte Informationsquelle immer noch eher als Teil der föderalen Beteiligung der Länder zu verstehen. ad (2): Etablierung einer eigenständigen Repräsentation von Länderinteressen auf der europäischen Ebene Komplementär zu dieser Einbindung der Länder über den Bund haben sich die Länder seit Mitte der achtziger Jahre um einen direkten Kontakt zur europäischen Ebene bemüht, um sowohl den Informationsfluss von Brüssel in die Länder zu stärken als <?page no="179"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 180 180 6. Interessenvermittlung auch das Lobbying der Länder in Brüssel zu etablieren. 78 Die deutschen Länder gehörten zu den ersten Regionen, die solche Informationsbüros bereits Mitte der 1980er Jahre in Brüssel aufgebaut haben und besitzen damit eine zwanzigjährige Lobbying- Erfahrung auf dem europäischen Parkett. 79 Die Länder haben damals, auf das historische Modell der Vertretungen beim Bund in Berlin bzw. Bonn zurückgreifend, nach und nach eigene Büros und Bürogemeinschaften auch in Brüssel auf- und ausgebaut. 80 Diese Entwicklung ist eng verknüpft mit dem politischen und wissenschaftlichen Diskurs um eine verstärkte Regionalisierung in den EG-Mitgliedstaaten sowie um ein »Europa der Regionen« Mitte der 1980er Jahre (vgl. Kohler-Koch 1996). Vor allem in Letzterem wurde eine verstärkte Einbeziehung subnationaler Einheiten in den Prozess der Europäischen Integration angemahnt. Man sprach den Regionen die Rolle als aktive Mitspieler im Mehrebenensystem zu. Ausdruck dieses neuen Selbstverständnisses war die Eröffnung von Informationsbzw. Verbindungsbüros der Länder bei der EG (vgl. Zumschlinge 1989, Knodt 1998b). Durch den kontinuierlichen Ausbau dieser direkten Strategie sowie die Verstärkung der Länderbeteiligung ist die rechtzeitige Information heute kein zentrales Problem mehr 81 , die Schwierigkeit liegt nun eher in der Bewältigung der Informationsflut. Die europäischen Regionen und Gemeinden sind mittlerweile mit mehr als 250 Büros in Brüssel vertreten (vgl. Committee of the Regions 2006 : 8). ad (3): Institutionalisierung regionaler Belange im Institutionengefüge der EG/ EU Mit den Verhandlungen der Vertragsrevision in Maastricht erlangte die Diskussion um die Vertretung regionaler Belange auf europäischer Ebene eine neue Qualität. Die Forderungen der Regionen fanden an drei Stellen Eingang in den Maastrichter Vertrag: 78 Entgegen vieler Vermutungen in den 1980er Jahren führte die direkte Interessenrepräsentation nicht zu einer Aushöhlung des Nationalstaates (vgl. Eser 1991). Diese These entstammte einer Debatte, die sich auf die Kompensation des zunehmenden Kompetenzverlusts der Länder durch direkte europäische Mitwirkungsrechte zu Lasten des Nationalstaates konzentrierte. Diese Entwicklungsprognose spiegelte sich vor allem in der These vom circumventing the nation-state wider. 79 Vgl. Jeffery 1996, Zumschlinge 1989 und 1999. 80 Vgl. dazu etwa Bauer 1996, Fastenrath 1990, Heichlinger 1999. 81 Eine Ausnahme bilden hierbei die Landtage, die trotz mittlerweile in vielen Landesverfassungen vorhandenen Informationsrechten sowie der Einrichtung von europapolitischen Ausschüssen kaum mit dem Tempo der europäischen Politikgestaltung und den unterschiedlichen Sitzungsrhythmen zurechtkommen. Die Länder-Europapolitik bleibt damit auch weiterhin eine Politik der Exekutive. <?page no="180"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 181 6.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 181 Erstens wurde das »Subsidiaritätsprinzip« in den Vertrag aufgenommen. Das Prinzip besagt, dass die Gemeinschaft in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur dann tätig wird, »sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahme auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können« (Art. 3b Abs. 2 Maastrichter Vertrag). In den Amsterdamer Vertrag wurde schließlich ein Protokoll zu den Bestimmungen des Subsidiaritätsprinzips aufgenommen, das Aussagen zur Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit macht (vgl. Hrbek 2000a). Im Subsidiaritätsprotokoll wird dabei ein »dynamisches Konzept« entwickelt: Subsidiarität soll nicht nur bei zukünftig neu zu vergemeinschaftenden Politikbereichen, sondern auch bei bereits existierenden Tätigkeiten geprüft werden. Zweitens wurde im Vertrag von Maastricht die Möglichkeit eröffnet, dass neben den Vertretern der Nationalstaaten auch regionale Vertreter für einen Nationalstaat sprechen dürfen, sofern dies innerstaatlich erlaubt ist (Art. 146). Dies trifft jedoch nur für Deutschland und Belgien zu: So dürfen seither beispielsweise Länderminister in bestimmten Kulturfragen im Ministerrat der EU für Deutschland sprechen und abstimmen. Drittens wurde mit dem »Ausschuss der Regionen« (AdR) ein regionales Beratungsgremium geschaffen (Art. 198 Maastrichter Vertrag). In ihm können regionale und lokale Gebietskörperschaften ihre Interessen eigenständig und unmittelbar, d. h. nicht durch die Regierungen der Mitgliedstaaten, gegenüber Rat und Kommission artikulieren. Allerdings erfüllt er eine reine Beratungsfunktion; seine Befugnisse sind auf ein Anhörungsrecht und das Recht zur Abgabe von Stellungnahmen beschränkt (vgl. Hrbek 2000b). ad (4): Konstruktion transnationaler Räume Die Zusammenarbeit von europäischen Regionen über die nationalstaatlichen Grenzen hinweg geschieht aus zwei verschiedenen Motivationen heraus: Zum einen gilt es, gemeinsame Probleme zu identifizieren und zu bewältigen, zum anderen dient die Zusammenarbeit der Koordination und Verstärkung der Interessenvertretung auf nationaler aber vor allem auch auf europäischer Ebene. Je nach Motivation unterscheiden sich dabei die Formen regionaler Zusammenarbeit. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit: Die in ihren Anfängen bis in die 1970er Jahre zurückreichende grenzüberschreitende Zusammenarbeit versucht durch Information und Koordination zwischen den beteiligten Gebietskörperschaften positive Entwicklungen anzustoßen (vgl. Hrbek/ Weyand 1994 : 45), wie etwa bessere Abstimmung der Regionalplanung über nationale Grenzen hinweg, Förderung von Wirtschaftspotenzialen sowie Verbesserung der Infrastruktur im Transportsektor und bei <?page no="181"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 182 182 6. Interessenvermittlung der Energieversorgung, um nur einige zu nennen. Prominente Beispiele für solche Formen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sind die »ARGE ALP«, ein Zusammenschluss von Regionen aus Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz im Alpenraum; die »Zusammenarbeit am Oberrhein« zwischen deutschen, schweizerischer und französischen Regionen; die institutionalisierte Zusammenarbeit im Montandreieck Saarland, Lothringen und Luxemburg, »SaarLorLux«; sowie Projekte innerhalb der europäischen Strukturfondsförderung durch die Gemeinschaftsinitiative »INTERREG«, in der die grenzüberschreitende Zusammenarbeit eine besondere Förderung erfährt. 82 Interregionale Zusammenarbeit ausgewählter Regionen ohne gemeinsame Grenzen: Die Zusammenarbeit zwischen weit voneinander entfernten Regionen liegt neben der Lösung gleich gelagerter Probleme vor allem in einer gemeinsamen Vertretung von Interessen sowie der Stärkung der Region im eigenen Nationalstaat wie auch im europäischen System. Ein prominentes Beispiel hierfür ist die Arbeitsgemeinschaft »Vier Motoren für Europa«, in der sich seit 1988 die vier Regionen Baden-Württemberg, Rhône-Alpes, Lombardei und Katalonien zusammengeschlossen haben. Sie profilieren sich insbesondere in der Zusammenarbeit im Forschungs- und Technologiebereich sowie der (Aus-)Bildung und Propagierung ihrer Regionen als Modelle für Europa. Die erfolgreiche Darstellung der Überlegenheit des eigenen Entwicklungsweges und damit die Entwicklung eines eigenen regionalen Profils sind als Strategien dafür zu betrachten, sich erfolgreicher im Wettbewerb mit anderen Regionen zu präsentieren (vgl. Knodt 2000). Ziel dabei ist der erfolgreiche Export des eigenen Modells nach außen in andere Regionen sowie die Stabilisierung des Modells innerhalb der Region und des Nationalstaates selbst. Prominentes Beispiel ist das Land Baden- Württemberg, das seine Profilbildung als »Musterländle« zuerst im nationalen Zusammenhang Anfang der 1980er Jahre unter Ministerpräsident Späth begann und dann sein Profil mit der interregionalen Kooperation innerhalb der Vier-Motoren-Initiative um eine europäische Dimension erweiterte. Interregionale Interessenvertretung aller Regionen Europas: Neben der interregionalen Zusammenarbeit ausgewählter Regionen finden sich auch Zusammenschlüsse auf einer regionalen Grundlage. Diese Vereinigungen dienen vor allem der Vertretung regionaler Interessen auf der europäischen Ebene. Konkret geht es dabei um die »Versammlung der Regionen Europas« (VRE) sowie die Konferenzen »Europa der Regionen«. Die VRE versteht sich zuvorderst als gemeinsames Abstimmungsgremium der Regionen auf breiter Basis in ihrem gemeinsamen Handeln im EG-Kontext. Sie weist einen hohen Organisationsgrad auf und sieht sich als Interessenvertretung aller Regionen. Dem gegenüber stehen die Konferenzen »Europa der Regionen«, die eher einen 82 Für eine detaillierte Darstellung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit vgl. Groß/ Schmitt- Egner 1994. Die Veränderung der Interaktionsmuster von Hierarchie zu Netzwerken in den neu geschaffenen transnationalen Räumen untersucht Blatter (2002). <?page no="182"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 183 6.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 183 Ad-hoc-Charakter aufweisen und sich als Forum der rechtlich und materiell starken Regionen begreifen. Beide Interessenvertretungen spielten eine entscheidende Rolle bei der Forderung nach einer neuen Repräsentationsform regionaler Interessen in der EG, die ihre Entsprechung in der Schaffung des Ausschusses der Regionen durch den Maastrichter Vertrag fand. ad (5): Versuch der Kompetenzrückgewinnung Von Beginn an haben regionale Entscheidungsträger vor allem in föderalisierten und regionalisierten Staaten auf die Beschränkung gemeinschaftlicher Aktivitäten gedrängt. Mitte der 1980er bis Ende der 1990er Jahre wich diese Haltung dem Bemühen, stärker in die europäische Politik eingebunden zu werden und ein größeres Mitspracherecht zu erhalten. Regionen erhielten in diesem Modell eine Rolle als aktive Mitspieler im Mehrebenensystem. Das Bild, das in dieser Debatte sowohl von den Regionen als auch von der Kommission bemüht wurde, war das der Partnerschaft zwischen Akteuren auf der europäischen und regionalen Ebene-- und somit auch das einer konsensorientierten Politikgestaltung. Bis Mitte der 1990er Jahre befanden sich die Strategien der deutschen Länder demzufolge im Einklang mit der Leitidee eines kooperativen Föderalismus und der konsensorientierten Politikgestaltung in einem mehrere Ebenen übergreifenden politischen System als Konzept legitimer Ordnung. Dies wurde als angemessene und von allen Ländern geteilte Problemlösungsstrategie angesehen. In den letzten Jahren lässt sich jedoch ein Wandel in der Leitidee und dem Legitimationskonzept beobachten (vgl. Knodt 2002). Es erscheint so zu sein, dass der äußerste Grad der im Bund und auf europäischer Ebene durchsetzbaren Mitwirkung-- innerstaatlich wie direkt-- erreicht ist. Vor allem die deutschen Länder begannen damit, ihren Schwerpunkt auf den Ausbau autonomer Kompetenzen zu legen. Die neue Strategie der Länder lässt sich sowohl in der Diskussion innerhalb einzelner Politikbereiche als auch bei der institutionellen Weiterentwicklung im Rahmen von Regierungsgipfeln und Vorarbeiten zu Regierungskonferenzen beobachten. Dies trifft insbesondere auf die deutschen Regionen zu, deren Forderungen nach einem Kompetenzkatalog und einer rigiden Auslegung des Subsidiaritätsprinzips diesen Weg vorzeichnen. Die Folgekonferenz von Nizza im Jahr 2004 beschäftigte sich auf Betreiben der deutschen Länder genau mit diesem Thema. Innerhalb der deutschen Regionen sind es hierbei vor allem die wirtschaftlich stärkeren und in Bezug auf ihre Interaktionsfähigkeit gut ausgestatteten Regionen wie Bayern, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hessen, die für autonome Kompetenzen, mehr Eigenverantwortung und den Umbau des Föderalismus in einen »Wettbewerbsföderalismus« plädieren. 83 83 Ausführlich in Knodt 2000 sowie Große Hüttmann/ Knodt 2002. <?page no="183"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 184 184 6. Interessenvermittlung Für die Analyse in diesem Kapitel soll die direkte Interessenvermittlung auf europäischer Ebene durch die Länder, wie bereits in Punkt (2) dargestellt, untersucht werden. Dabei gilt es die Frage zu beantworten, warum Unterschiede zwischen den Regionen in Bezug auf ihre Zugänge sowie den wahrgenommenen Erfolg ihrer Interessenvermittlung zu verzeichnen sind. Die abhängige Variable lässt sich somit in den Unterschieden in den Zugängen und dem wahrgenommenen Erfolg der Regionen in der europäischen Interessenvermittlung und damit der erfolgreichen Beeinflussung europäischer Politikergebnisse identifizieren (AV). Empirisch wird dies insbesondere durch Daten einer Studie über die deutschen regionalen Vertretungen in Brüssel analysiert (Knodt/ Große Hüttmann/ Kotzian 2011). Wie oben bereits kurz erwähnt, ist Erfolg eine nur schwer messbare Größe, weshalb sich viele Studien auf die Analyse des Zugangs zu den europäischen Organen fokussieren. Prominent hierbei und in vielen Studien über Interessenvermittlung angewandt ist das Konzept von Bouwen (2002). Er wählt als Kernansatz die Ressourcentauschtheorie im Rahmen der Analyse des Lobbyings von Wirtschaftsinteressen. Sein Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Organisationen in der Interaktion Ressourcen tauschen. Tausch findet nach einer Kosten-Nutzen-Analyse der beteiligten Organisationen statt. Im Fall der EU tauschen Wirtschaftsakteure Informationen und Expertise gegen den Zugang zu EU-Institutionen. Diese Art von Zugangsgütern der wirtschaftlichen Akteure teilt er in drei Arten auf: (1) Expertenwissen; (2) umfassende Informationen über europäische Interessen, die Wirtschaftsakteure über einen bestimmten Sektor oder Politikbereich besitzen; sowie (3) umfassende Informationen über nationale Interessen im gleichen Sektor oder Politikbereich. Bouwen verknüpft die drei Güterarten mit unterschiedlichen Formen der Organisation wirtschaftlicher Akteure. So sind Unternehmen per se besser mit Expertenwissen ausgestattet, wohingegen Wirtschaftsverbände auf europäischer Ebene dank ihrer Aggregationsfunktion eher umfassende Informationen über europäische Interessen geben können (vgl. ebd.). Dieser Ansatz ist allerdings für die vorliegende Analyse von regionalen Interessen in der EU nur bedingt tauglich: Zum einen haben die hier zu untersuchenden regionalen Interessen die gleiche Organisationsform und verfügen über alle drei Arten von Zugangsgütern. Zum zweiten wird der Mehrebenencharakter der Interessenvermittlung in diesem Ansatz nur unzureichend berücksichtigt. Aus der Forschung zur funktionalen und territorialen Interessenvermittlung wissen wir, dass Interessenvermittlung in Mehrebenensystemen vor allem darauf angewiesen ist, die möglichen Wege der Interessenrepräsentation auf allen Ebenen zu gehen, so dass Aussagen über den Zugang zu einem oder mehreren Organen auf der europäischen Ebene alleine wenig aussagekräftig sind. Zudem ist, wie oben bereits angemerkt, Zugang nicht mit Erfolg gleichzusetzen. <?page no="184"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 185 6.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 185 Vorliegend soll Erfolg hingegen empirisch gemessen werden. Als Untersuchungseinheit dienen dazu die Informationsbüros der deutschen Länder in Brüssel. Sie stellen eine der Strategien zur direkten Interessenvermittlung der Länder im europäischen Mehrebenensystem dar. Im Rahmen einer Umfrage wurden die Informationsbüros gebeten, ihren Erfolg im Sinne von Einfluss ihrer Interessenvermittlung auf die verschiedenen europäischen Organe- - Kommission, Europäisches Parlament (EP) und Rat- - selbst einzuschätzen. 84 Erfolg wird somit explizit durch die Selbsteinschätzung der Befragten und nicht an »harten«, objektivierbaren Kriterien gemessen. In einem nächsten Schritt sind Erklärungen für Unterschiede im Erfolg der Interessenvermittlung zu finden. In der Literatur sind häufig insbesondere die Ressourcen von Akteuren ein zentraler Erklärungsfaktor. Eine große Rolle spielt dabei augenscheinlich die Ausstattung der Länder und Büros mit administrativen und finanziellen Ressourcen. Dieser Faktor soll hier als erste unabhängige Variable operationalisiert werden (UV 1 ). Die Ausstattung mit solchen Ressourcen hängt wiederum eng mit der Wirtschaftskraft eines Landes zusammen. Die unterschiedliche Potenz der deutschen Länder hinsichtlich materieller Ressourcen macht sich, so die gängige These, in einer mehr oder minder intensiven Präsenz regionaler Interessen auf der europäischen Ebene bemerkbar. Fehlende administrative und finanzielle Ressourcen bedeuten gezwungenermaßen die selektive und weniger intensive Wahrnehmung regionaler Interessen, so etwa in der Entsendung von Ländervertretern in die deutsche Delegation oder die personelle Besetzung der Verbindungsbüros der Länder. Ebenso wichtig ist jedoch die politische Potenz eines Landes, die ebenfalls eine Ressource darstellt (vgl. Knodt 1998a). So ist dem Land Nordrhein-Westfahlen schon alleine aufgrund seiner Größe eine andere politische Potenz zuzuschreiben als dem Stadtstaat Bremen, zudem können gleiche parteipolitische Ausrichtungen die Potenz eines Landes beeinflussen. Daher lässt sich als eine erste Hypothese formulieren: H 1 : Je mehr Ressourcen ein Land und damit das Informationsbüro besitzen, desto eher wird Letzteres erfolgreich im Sinne der Einflussnahme auf europäische Organe sein. Neuere Forschungsergebnisse haben jedoch gezeigt, dass es neben der Bedeutung der administrativen und finanziellen Ressourcen einer Region noch weitere Fähigkeiten gibt, die über die Verfolgung regionaler Interessen und die zugrunde liegende Strategiewahl entscheiden (vgl. Knodt 1998a). Dies ist vor allem die je nach Region stark 84 Umfrage unter allen 15 Vertretungen der deutschen Länder, durchgeführt im Rahmen der Studie von Michèle Knodt und Martin Große Hüttmann im Jahr 2007. Die in diesem Kapitel verwendeten Daten entstammen dieser Umfrage. Im Folgenden zitiert als »Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007«. <?page no="185"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 186 186 6. Interessenvermittlung variierende Fähigkeit regionaler Akteure, mit relevanten Akteuren in anderen Regionen und auf der europäischen Ebene zu interagieren. Die damit verbundene vielfältige Vernetzung der Region mit der europäischen Ebene wie auch mit anderen Regionen ist aber elementar für die Kommunikation regionaler Interessen (vgl. Knodt 1998a und 2000). Vor allem in Mehrebenensystemen sind Akteure nämlich gezwungen, auf unterschiedlichen Kanälen gleichzeitig ihre Interessen zu vermitteln, so wie bereits oben dargestellt. Daher sollte ein Land gut vernetzt sein, um erfolgreich handeln zu können. Die Vernetzung und damit die Kontakte auf allen Ebenen des Mehrebenensystems stellen somit die zweite unabhängige Variable dar (UV 2 ). Im Anschluss daran lässt sich eine zweite Hypothese aufstellen: H 2 : Je stärker ein Land auf allen Ebenen des Mehrebenensystems vernetzt ist, desto erfolgreicher wird es seine Interessen in die europäischen Organe hinein vermitteln und deren Entscheidungen beeinflussen. Im folgenden Kapitel werden diese Hypothesen empirisch untersucht. 6.3 Erklärung des Einflusses deutscher Länder im interaktiven europäischen System aus einer Perspektive der Interessenvermittlung Durch die Dynamik der Europäischen Integration wurde die Handlungsfähigkeit der Länder zum einen in Form europäischer Eingriffe in die Entscheidungsbereiche der Länder eingeschränkt, zum anderen jedoch durch die zunehmende Anerkennung einer aktiven Rolle subnationaler Einheiten auf europäischer Ebene ausgeweitet. Wie oben gezeigt, haben die Länder mit unterschiedlichen Strategien reagiert. Hier soll stellvertretend der Aufbau und die Arbeit der Informations- und Verbindungsbüros der deutschen Länder untersucht werden. 85 Die Analyse vollzieht sich in drei Schritten: In einem ersten Schritt werden die Arbeit der Informationsbüros und die von ihnen ausgeübten Funktionen sowie deren Wandel im Laufe der Zeit vorgestellt. Zweitens wird untersucht, wie erfolgreich sich die Informationsbüros in der Ausübung der Funktionen darstellen. Der dritte Schritt gibt eine Antwort auf die Frage, weshalb manche Informationsbüros erfolgreicher sind bzw. sich als erfolgreicher wahrnehmen als andere. Zunächst wird nun die Arbeit der Informationsbüros im Zeitverlauf betrachtet, um so ihre Möglichkeiten der Interessenvermittlung und Einflussnahme zu verdeutlichen. Die Errichtung der Büros als Strategie der direkten Interessenvertretung war 85 Kapitel 5.3 beruht auf den Ergebnissen der Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007 sowie der Veröffentlichung der Ergebnisse in Knodt/ Große Hüttmann/ Kotzian 2011. <?page no="186"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 187 6.3 Erklärung aus Sicht der Interessenvermittlung 187 keinesfalls unumstritten, sondern löste im Gegenteil eine heftige Diskussion aus. Unter dem Stichwort »Nebenaußenpolitik der deutschen Länder« (Nass 1986) sah sich die Bundesregierung in ihrem außenpolitischen Monopol bedroht. Im Mittelpunkt insbesondere der rechtlichen Diskussion außenpolitischer Aktivitäten der Länder steht die Interpretation des Art. 32 GG, demgemäß »die Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten […] Sache des Bundes« ist. Die Länder sind nach Art. 32 Abs. 3 GG lediglich befugt, im Rahmen ihrer Gesetzgebungskompetenzen »mit Zustimmung der Bundesregierung mit auswärtigen Staaten Verträge« abzuschließen. Durch die Zustimmung des Bundes soll die Einheitlichkeit der Außenpolitik gewährleistet werden. Vor allem während der Verhandlungen über die Bund-Länder-Vereinbarung vom 17. Dezember 1987 wollte der Bund die Länder auf eine nicht-hoheitliche Organisation festlegen und verlangte von ihnen, dass sie Anträge und Mitteilungen an die Organe und Institutionen der EG über die Bundesregierung leiten. Die Aufgabengebiete der Büros sollten auf Informationsbeschaffung, Wirtschaftsförderung, Betreuung von EG-Projekten in den Ländern und Besucherbetreuung beschränkt bleiben (Fastenrath 1990). Eine Einschränkung, die ihre Wirkung auf die Funktion der Büros vor allem zu Anfang ihrer Brüsseler Zeit nicht verfehlte. Mittlerweile haben sich die Wogen der Entrüstung auf Bundesebene längst gelegt und die Länderbüros haben sich in Repräsentationen respektive Vertretungen der Länder bei der EU umbenannt. Auf die alltägliche Arbeit der Büros wirkt sich dieser Wechsel offensichtlich kaum aus. Wichtiger als der Rechtsstatus ist die finanzielle und personelle Entwicklung der Büros. Aus den ursprünglich als »Informations- und Verbindungsbüros« bezeichneten Einrichtungen haben sich in den letzten Jahren- - zumindest bei den »großen« Ländern wie Bayern, Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen-- eine Art »Mini-Botschaften« (vgl. Heichlinger 1999 : 12) entwickelt, die zusammen mehr Personal aufbieten können als die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EU, die es immerhin auf etwa 160 Mitarbeiter bringt. 86 Die durchschnittliche Mitarbeiterzahl in einem solchen Länderbüro beträgt 15, davon neun Referenten, die für die inhaltliche Arbeit sowie den Kontakt zu den europäischen Institutionen zuständig sind. Die Ressourcenausstattung der Büros schwankt zwischen rund 50.000 EUR im Fall Berlins als Vertretung mit dem kleinsten Budget bis hin zum bayerischen Budget von rund 450.000 EUR. Bereits dieser erste Eindruck über die Ausstattung der Büros legt die Vermutung nahe, dass sich in den 20 Jahren seit ihrer Entstehung einige Veränderungen ergeben haben, die sich auch in der Art der Interessenvermittlung widerspiegeln. Insgesamt stellt sich dies als eine Ausweitung der Interessenrepräsentation innerhalb des Politikzyklus vom Agenda-Setting bis zur Implementation dar-- schematisch in der folgenden Grafik dargestellt. 86 Darauf hat der deutsche EU-Botschafter, Wilhelm Schönfelder, bereits im Jahr 2000 hingewiesen (Schönfelder 2000 : 79). <?page no="187"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 188 188 6. Interessenvermittlung In der Tat ist eine Verschiebung der Funktionswahrnehmung der Büros im Politikzyklus zu beobachten, die sich stark auf die Strategien der Interessenvermittlung auswirkt. Die im Zuge der politischen Diskussion um den Status der Büros vom Bund geforderte Beschränkung auf die Funktionen der Informationsbeschaffung, Wirtschaftsförderung, Betreuung von EG-Projekten in den Ländern und Besucherbetreuung deckt in etwa den Funktionskanon in den ersten Jahren der Büros ab. 87 Zu Beginn waren die Länderbüros in erster Linie mit der Aufbauarbeit in Sachen »Europabewusstsein« in den Ländern beschäftigt. Das Alltagsgeschäft in der Frühphase war dadurch bestimmt, sowohl der Öffentlichkeit als auch den Landesministerien und -beamten »Europa« als politischen und gesellschaftlichen Bezugsraum zu vermitteln und die Bedeutung der EG für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu erläutern. Das bis Anfang der 1990er Jahre vorherrschende Desinteresse an Europa sollte durch ein Europabewusstsein ersetzt werden, so dass die »Europakampagnen« einen wichtigen Teil der Arbeit der Verbindungsbüros ausmachten-- eine Aufgabe, die heute noch in einigen Ländern als wichtig eingeschätzt wird. 88 Daneben stand der Aufbau von Verteilungsstrukturen für die Informationen aus Brüssel innerhalb der Länderverwaltungen in den Anfangsjahren ganz oben auf der Tagesordnung. Pionierarbeit musste jedoch auch in Richtung Brüssel geleistet werden: So warben die Büros vor allem in der Europäischen Kommission für Verständnis für zu erwartende Probleme bei der Implementation europäischer Regelungen und versorgten sie mit entsprechenden Informationen-- wie unser obiges Beispiel der Fleischproduktrichtlinie gezeigt hat. Diese Art der »Sensibilisierung« 89 sowohl der Länder über Europa als 87 Interview in Brüssel, Januar 2006. 88 Interviews in Brüssel, März 2006. 89 Bei Bauer (1996) noch eine der zentralen Funktionen. Politikzyklus Interessenrepräsentation 1990 Interessenrepräsentation heute Agenda-Setting Politikformulierung Entscheidung Implementation Quelle: eigene Darstellung Grafik 13: Ausweitung der Funktionswahrnehmung im Politikzyklus seit den 1990 Jahren <?page no="188"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 189 6.3 Erklärung aus Sicht der Interessenvermittlung 189 auch der EU über die deutschen Länderbelange kann inzwischen als zweitrangig betrachtet werden. Seit den 1990er ist dabei von folgendem Standard-Funktionskanon der Ländervertretungen auszugehen, der jedoch im Zeitverlauf eine entscheidende Verschiebung erfahren hat. Insgesamt lassen sich acht Funktionen unterscheiden: (1) die Informationssammlung für die Landesregierung; (2) die Funktion eines Filters für die Weitergabe von Informationen; (3) die Vertretung als »Frühwarnsystem« für neue Initiativen der EU; (4) die Beratung von Landespolitikern; (5) der Aufbau und die Pflege von eigenständigen Kanälen in die Institutionen der EU; (6) die Information der Landesbevölkerung über die EU; (7) der Aufbau einer Partnerschaft mit der Wirtschaft im Bundesland; und (8) das Durchführen von Imagekampagnen und Public Relations für das Bundesland in der EU. Diese Funktionen sind unterschiedlich wichtig und haben sich im Laufe der Zeit verändert. (1) Informationssammlung für die Landesregierung: Der wichtige Faktor »Zeit« im Rahmen der Länderbeteiligung an der europäischen Politikgestaltung veranlasste diese dazu, nach neuen Wegen der Interessenvertretung zu suchen und eigenständige Informationskanäle zur Europäischen Gemeinschaft aufzubauen. Oft kamen Informationen vor dem Aufbau der Büros zu spät oder auch zu spärlich auf der Länderebene an, weswegen sie zur Sammlung aller relevanten Informationen für die Landesregierung dienen sollten. (2) Filter für die Weitergabe von Informationen: Mit der Filterfunktion verbunden ist ein Problem, das sich seit den 1990er Jahren herauskristallisiert hat. War es noch in den 1980er Jahren der Informationsmangel, der den Ländern zu schaffen machte, so ist es mittlerweile die tägliche Informationsflut, die Länderbehörden vor große Kapazitätsprobleme stellt. Daher kommt den Büros heute vor allem eine Filterfunktion zu, um die für das Land wichtigen von den unwichtigen Informationen zu trennen. Diese richtet sich zuvorderst an die Ministerien und liefert den Beamten wichtige Fachinformationen. Dazu dienen die von den Vertretungsbüros regelmäßig verfassten und zum Teil auch öffentlich zugänglichen »Wochenberichte«, die in der Regel über einen großen E-Mail-Verteiler verschickt und als wichtige Informationsquelle genutzt werden. (3) »Frühwarnsystem« für die Initiativen der EU: Wollen die Länder nicht negativ von einer europäischen Maßnahme betroffen sein, bzw. wollen sie zumindest die Chance haben, für sie negative Maßnahmen abzuwehren, oder aber an jeglichen Maßnahmen gestaltend teilnehmen, ist eine frühzeitige Information über anstehende Vorhaben wichtig. In diesem Sinne fungieren die Büros der Länder vor allem heute als »Frühwarnsystem«. (4) Beratung von »Landespolitikern«: Eine unterstützende Funktion nehmen die Büros wahr, indem sie als Anlaufstelle und Dienstleister für diejenigen Politiker und Wirtschaftsvertreter aus dem Land dienen, die in Brüssel Gespräche führen und von den Vertretungsbüros vorab unterrichtet werden. Diese Vorgehensweise bietet Gelegenheiten dazu, das jeweilige Land oder den Minister der Öffentlichkeit und den Landeswww.claudia-wild.de: <?page no="189"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 190 190 6. Interessenvermittlung journalisten als wichtigen Mitspieler auf europäischer Ebene »zu verkaufen«. Der Auftritt des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) im März 2006 und seine weit über die Grenzen Bayerns hinaus vernommene kritische Position in Bezug auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei steht beispielhaft für diese PR-Funktion. 90 Dazu gehören auch die von der überregionalen Presse begleiteten Amtseinführungen neuer Leiter der Vertretungsbüros oder auch die Einweihung der neuen baden-württembergischen Vertretung bzw. die Eröffnung des als »Neuwahnstein« bekannt gewordenen Gebäudes, in dem die bayerische Vertretung seit 2004 untergebracht ist. 91 (5) Aufbau und Pflege von eigenständigen Kanälen in die Institutionen der EU: Zu den Aufgaben zählt das klassische Lobbying, also der direkte Kontakt zu den aus Sicht der Länderbüros wichtigen Beamten und Entscheidungsträgern in der Kommission. Aufgrund der wachsenden Bedeutung des Europäischen Parlaments gehört dazu ebenso der direkte Kontakt zu den »eigenen« Mitgliedern im EP. Gleichzeitig sind die europäischen Organe, insbesondere die Kommission und das EP, stark auf Informationen von außen angewiesen. Daher stellen die Länderbüros- - wie andere Interessenverbände auch-- eine Informationsquelle für die europäischen Organe dar. Diese Informationsweitergabe ist mit den Lobbying-Bemühungen der Länder verbunden. Die direkte Einflussnahme ist dabei seit der Gründung der Büros, wie oben erwähnt, immer stärker in den Vordergrund getreten. 92 Für diese Lobbying-Tätigkeit ist insbesondere eine Funktion der Büros wichtig, nämlich der Aufbau von eigenständigen Kanälen zum einen in die europäischen Institutionen und zum anderen in die Landesbehörden hinein. (6) Information der Landesbevölkerung über die EU: Sie kann durch Kampagnen der Büros im Bundesland stattfinden. Dies gilt aber auch für Besuchergruppen aus dem Land, die über die Vertretungen des Landes einen Einblick in die Arbeit der Europäischen Union und die Rolle »ihrer« Landesregierung erhalten können. (7) Partnerschaft mit der Wirtschaft im Bundesland: Diese insgesamt eher untergeordnete Funktion ist erst in der letzten Zeit wichtiger geworden und kann in Einzelfällen enorm an Bedeutung gewinnen. Verdeutlichen lässt sich dies etwa am Streit um die Weinmarktreform, die in ihrer ursprünglichen Form »Apfelwein« nicht als Wein auswies. Hier gab es eine enge Kooperation zwischen der hessischen Vertretung und den hessischen Apfelweinherstellern. (8) Imagekampagnen bzw. Public Relations für das Bundesland in der EU: Schließlich ist auch die »Werbungsfunktion« nicht zu unterschätzen, die sich etwa in der Darstellung des Landes, hier vor allem seiner Wirtschaft und Kultur, zeigt. 90 Vgl. Stoiber: »Beitritt der Türkei kommt nicht in Frage«, in: Süddeutsche Zeitung, 22.03.2006, S. 1. 91 Vgl. dazu stellvertretend: »Europa-Fähigkeit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (F. A.Z.), 14.03.2006, S. 23; »Wir sind die Brüsseler Plattform für Hessen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (F. A.Z.), 31.01.2006, S. 19 und: Stoiber eröffnet »Schloss Neuwahnstein«, in: Süddeutsche Zeitung, 29.09.2004, S. 37. 92 Interviews in Brüssel, Januar 2006. <?page no="190"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 191 6.3 Erklärung aus Sicht der Interessenvermittlung 191 Insgesamt hat die empirische Untersuchung der Informationsbüros gezeigt, dass die Funktionen als Informationssammler, Filter und Frühwarnsystem sowie der Aufbau und Unterhalt der Kontakte zu den EU-Institutionen im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht. Dagegen wird die Beratung der regionalen Politiker, das Informieren der Landesbevölkerung, die Kooperation mit der Wirtschaft sowie die PR-Funktion für die Region als sekundär eingestuft. Die Informationsbeschaffung war hierbei von Anfang an eine wichtige Komponente der Funktionen der Büros und überlappt sich mit einigen anderen Funktionen. Dennoch ist die Bedeutung dieser Funktion im Laufe der Zeit eher zurückgegangen. Die Vorarbeit der Informationsbeschaffung ist jedoch auch weiterhin notwendig, um die EU-Gesetzgebung rechtzeitig in die eigene Rechtsprechung und Praxis einbeziehen sowie um bereits früh auf mögliche Vorhaben reagieren zu können. Zur Informationsbeschaffung sind die Büros sowohl auf veröffentlichte Informationen als auch insbesondere auf informelle Kontakte in der Kommission und im Europäischen Parlament angewiesen. Daneben wird der Informationsfluss durch die regelmäßigen Treffen der Referenten und Büroleiter der anderen deutschen Länder unterstützt. Die Informationsbeschaffung für die Landesregierung war vor allem in den 1990er Jahren eng mit der Aufklärungsarbeit für potenzielle Antragsteller verbunden, die über die Möglichkeiten der finanziellen Förderung durch die EU informiert werden sollten. Ziel war und ist es weiterhin, Unternehmen, Universitäten und Forschungseinrichtungen über Ausschreibungen zu informieren und sie auf dem Weg der Antragstellung zu begleiten. Hier fällt die Anfangsphase der Arbeit der Länderbüros mit der Etablierung einer eigenständigen Forschungs- und Technologiepolitik sowie der reformierten Regionalpolitik der EG mit ihrer projektbezogenen Förderung zusammen. Im Laufe der 1990er Jahre ist dieser Teil der europäischen Politik professionalisiert worden: Dies erfolgte auf der Bundesebene über die Länder hinweg mit der zentralen Beratungsstelle für die Antragstellung bei der Deutschen Luft- und Raumfahrtgesellschaft und durch die Angebote der Koordinierungsstelle EG der Wissenschaftsorganisationen (KoWi), die vom Verein zur Förderung europäischer und internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit e. V. getragen wird, den die Deutsche Forschungsgemeinschaft als »Hilfseinrichtung der Forschung« finanziert. Aber auch in den Ländern verstärkten und professionalisierten sich die Bemühungen um Beratung: Hierzu wurden unterschiedliche Strategien verfolgt und verschiedene Beratungsstellen eingerichtet- - mit großem Erfolg, wie sich etwa in Baden- Württemberg und anderen Ländern zeigt. Nicht nur universitäre und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, sondern auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU) profitieren von der zunehmenden »Europäisierung« der Forschungs- und Technologiepolitik, wie die Europaberichte der Landesregierungen in den letzten Jahren vermelden konnten. Der Erfolg hängt freilich davon ab, ob in den Landesvertretungen Ansprechpartner sitzen, die Kontakte in die Kommission vermitteln können. Gerade die »größeren« Büros haben hier aufgrund ihrer Personalstärke auf diesem Feld, das <?page no="191"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 192 192 6. Interessenvermittlung für die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit eines Landes von zentraler Bedeutung ist, einen Vorsprung, der sich auch »auszahlt«. Mit diesen beiden Hinweisen wurde jedoch deutlich, dass sich ein großer Teil der Informationsbeschaffung auf die Implementationsphase europäischer Politik bezieht. Dieser Teil ist jedoch in der Arbeit der Länderbüros aus den oben genannten Gründen immer unwichtiger geworden. Im nächsten Schritt sollen die Informationsbüros auf Unterschiede hinsichtlich der Funktionsausübung analysiert werden, und zwar sowohl zur Zeit ihrer Gründung als auch in ihrer aktuellen Arbeit. Im Vergleich der 1990er Jahre mit dem heutigen Stand hat sich jedoch eine bemerkenswerte Verschiebung ergeben. Gehen wir vom Politikzyklus von Agenda-Setting, Politikformulierung, Entscheidung und Implementation aus, so lässt sich feststellen, dass die Funktionen des Frühwarnsystems und der aktiven Vernetzung mit EU-Institutionen den höchsten Bedeutungszuwachs erfahren haben. Beides sind Funktionen, die man vor allem bei der Beeinflussung des Agenda-Settings, der Politikformulierung und Entscheidung braucht. Es ist von großer Bedeutung für die Länder, bereits vor der Diskussion über neue Richtlinien oder Verordnungen wie auch vor dem Auflegen von Förderprogrammen vor allem in der Kommission Bescheid zu wissen. Ebenso wichtig ist selbstverständlich auch die Beeinflussung der Politikformulierung und Entscheidung. Der neue Leiter der hessischen EU-Vertretung, Friedrich von Heusinger, bezeichnete es anlässlich seiner Amtseinführung im Januar 2006 als zentrale Aufgabe, die eigene »Landesregierung so früh wie möglich über Entwicklungen auf der EU-Ebene zu informieren, diese zu verfolgen und mitzugestalten«. 93 Damit hat sich eine Verschiebung der Funktionen der Ländervertreter von einer Konzentration eher auf die Implementationsphase hin zu den frühen Phasen des Agenda-Settings und der Politikformulierung vollzogen. Die Einflussnahme setzt schon relativ früh in der Vorphase des Entscheidungsprozesses auf europäischer Ebene an. Dies hängt auch damit zusammen, dass einige Länder inzwischen durch gezielte Personalpolitik und die Entsendung von Landesbeamten in die Dienststellen der Kommission ein ausgebautes Netzwerk von direkten Ansprechpartnern und Informationsquellen besitzen (Knodt/ Große Hüttmann/ Kotzian 2011). 94 Die folgende Grafik zeigt die Veränderungen in der Wichtigkeit der Funktionen im Vergleich der 1990er zu den 2000er Jahren. 93 Frankfurter Allgemeine Zeitung (F. A.Z.), 31.01.2006, S. 19. Friedrich von Heusinger arbeitete vor seiner Ernennung durch den hessischen Ministerpräsidenten 14 Jahre in Brüssel bei der EU-Vertretung Bayerns, zuletzt als stellvertretender Leiter. 94 Interviews in Brüssel, April 2006. Einige Länder, wie z. B. Baden-Württemberg, haben in der jüngeren Vergangenheit einen Personalpool mit EU-Experten aufgebaut, aus dem bei Bedarf entsprechendes Personal der Landesverwaltung mit dem notwendigen technischen Wissen abgeordnet werden kann. <?page no="192"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 193 6.3 Erklärung aus Sicht der Interessenvermittlung 193 Interessant hieran ist auch die wichtiger werdende Funktion der Kooperation mit der Wirtschaft, was sich an zwei Beispielen zeigen lässt: Zum einen können wir uns die Landesvertretung Baden-Württembergs ansehen, in deren Gebäude sich ebenfalls einige europäische Vertretungen der baden-württembergischen Wirtschaft befinden. Ein weiteres Beispiel der gelungenen Kooperation 95 betrifft den Lobbyisten der Fraport AG, der Aktiengesellschaft des Frankfurter Flughafens. Dieser zog in das Gebäude der hessischen Landesvertretung ein, um von dort aus die Belange des Unternehmens in Brüssel zu vertreten. Da der weitere Ausbau des Flughafens zum einen wirtschaftlich hoch relevant für das Land Hessen und zum zweiten nicht ganz unabhängig von der europäischen Gesetzgebung ist, bietet sich diese Allianz aus Sicht beider Kooperationspartner an. So zumindest lautete die Stellungnahme des Leiters der Landesvertretung Hessens, Friedrich von Heusinger, der vor seinem Wechsel nach Hessen 14 Jahre lang die bayerische Vertretung leitete. Er nennt jedoch auch noch weitere Unternehmenskooperationen: Als sich beispielsweise der Kasseler Konzern »Kali & Salz« gegen die drohende Einfuhr von russischem Dünger zu Dumpingpreisen zur Wehr setzen wollte, 95 Veränderungen als Mittelwert der einer Funktion zugeschriebenen Wichtigkeit, Skalierung 1-- 4, N =-15; Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007. -0,400 -0,200 -0,000 0,200 0,400 0,600 0,800 Informationsbescha ung Filterfunktion Frühwarnsystem Beratung Landespolitiker Aufbau & P ege Kontakte Information Landesbevölkerung Wirtschaftskooperation Image Kampagnen Quelle: Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007, Knodt/ Große Hüttmann/ Kotzian 2011 Grafik 14: Veränderungen in der Wichtigkeit der Funktionen im Vergleich der 1990er zu den 2000er Jahren 95 <?page no="193"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 194 194 6. Interessenvermittlung weil der Verlust von Arbeitsplätzen in Nordhessen drohte, arbeitete er eng mit der Landesvertretung zusammen, so von Heusinger. 96 Für die Genehmigung von Landesbeihilfen für den Bau des Regionalflughafens Kassel-Calden ist die EU-Kommission dabei genauso zuständig wie für die Zustimmung zu einem möglichen Verbundsystem des Frankfurter Flughafens mit dem Flughafen Hahn im Hunsrück: »Im Fall Calden hat Hessen sogar dezidiert andere Interessen als beispielsweise Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, die das Kasseler Flughafen-Projekt ablehnen«, sagt Heusinger. Die Hafen- und Werftenpolitik der EU wiederum spielt für Hessen im Vergleich zu Hamburg eine eher untergeordnete Rolle. Und spätestens sobald es an die Verteilung von Beihilfen geht, kämpft Heusinger zufolge jedes deutsche Bundesland für sich allein und im Verbund mit der Industrie 97 (vgl. Knodt/ Große Hüttmann/ Kotzian 2011). Nachdem deutlich geworden ist, welche Funktionen die Informationsbüros ausüben und wie sich diese über die Zeit verändert haben, soll nun in einem zweiten Schritt untersucht werden, wie erfolgreich die Informationsbüros ihre Funktionen wahrnehmen bzw. für wie erfolgreich sie sich in der Wahrnehmung ihrer Funktionen einschätzen. Wie oben dargelegt lässt sich Erfolg nur schwierig messen, weswegen sich die Messung in der hier zugrunde liegenden Studie auf die Selbstwahrnehmung des Erfolgs bezog. Die Büros wurden somit nach der Wahrnehmung ihres eigenen Erfolges in der Ausübung ihrer Funktionen befragt. Grafik 15 zeigt den wahrgenommenen Erfolg in einer neuen 0-1-Skalierung. Dabei bedeutet der Wert «1«, dass die Funktion erfolgreich ausgeführt wurde; «0« bedeutet, dass die Funktion nicht zu einem befriedigenden Ausmaß erfüllt wurde. Um herauszufinden, ob dies auch einen Unterschied macht, wurde diese Einschätzung mit der zuvor erhobenen Wichtigkeit der Funktion gewichtet. Dies ergibt den gewichteten Erfolg. Dahinter steht die Annahme, dass es selbstverständlich von Bedeutung ist, ob man in einer Funktion Erfolg hat, die man selbst als wichtig einschätzt oder in einer nachrangigen unwichtigen Funktion. Die Grafik zeigt beide Erfolgsmessungen im Vergleich. Dabei kann man erkennen, dass die wichtigsten Funktionen in der Wahrnehmung der Länder auch im Großen und Ganzen erfolgreich erfüllt werden. Die Funktionen, die als weniger erfolgreich erfüllt gelten, zeigen im Vergleich auch deutlich, dass sie als weniger wichtig eingeschätzt werden. Damit erscheint ihre erfolgreiche Erfüllung auch weniger wichtig für die Länder zu sein. 96 DPA-Meldung, »Hessische Landesvertretung in Brüssel begleitet Flughafenausbau«, Rhein-Main- Net, 10.06.2007. 97 FAZ.NET vom 8. Mai 2009. <?page no="194"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 195 6.3 Erklärung aus Sicht der Interessenvermittlung 195 Im Vergleich der Länder untereinander zeigen sich in dieser aggregierten Form kaum signifikante Unterschiede. Die Stadtstaaten, die eigene Büros unterhalten, schneiden dabei etwas schlechter ab-- ansonsten ergeben sich jedoch kaum Unterschiede in der Beurteilung der Funktionen. Daher greifen wir uns die Funktion »Aufbau und Pflege der Kontakte in die EU-Organe hinein« heraus: Aus der eben skizzierten Phasenverschiebung wird deutlich, wie wichtig vor allem informelle Kontakte zu den unterschiedlichen Institutionen sind und wie dabei die direkte Einflussnahme immer stärker in den Vordergrund 98 getreten ist. 99 Das Lobbying in die Kommission und das Europäische Parlament hinein zeigt den komplementären Charakter der Europapolitik der Länder. Die unterschiedlichen Kanäle nutzend, versuchen die Länder sowohl über den Weg des kooperativen Föderalismus und der Beteiligung an EU-Angelegenheiten europapolitische Entscheidungen in ihrem Sinne zu lenken als auch direkt über die Länderbüros Einfluss zu nehmen. Dies wird deutlich in Grafik 16, welche die Kontakte der Ländervertretungen mit den europäischen Organen zeigt. In der Frage nach deren Wichtigkeit wurde die Kommission eindeutig als das wichtigste Organ eingeschätzt, gefolgt vom Parlament. 98 Erfolg: Mittelwert des wahrgenommenen Erfolgs einer Funktionsausübung; gewichteter Erfolg: wahrgenommener Erfolg gewichtet nach Wichtigkeit der Funktion, beides neu skaliert in einer 0-1- Skala, N =-15; Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007. 99 Interviews in Brüssel, Januar 2006. 0,90 0,85 0,80 0,75 0,70 0,65 0,60 0,55 0,50 0,45 0,40 Erfolg gewichteter Erfolg Filterfunktion Frühwarnsystem Beratung Landespolitiker Aufbau & P ege Kontakte Information Landesbevölkerung Wirtschaftskooperation Image Kampagnen Informationsbescha ung Quelle: Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007, Knodt/ Große Hüttmann/ Kotzian 2011 Grafik 15: Wahrgenommener Erfolg in der Funktionsausübung 98 <?page no="195"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 196 196 6. Interessenvermittlung Auch hier wurden die angegebenen faktischen Kontakte mit der Wichtigkeit der Organe in Verbindung gebracht, wie die nächste Grafik zeigt. Aus ihr geht ebenfalls hervor, dass die Büros mit ihren Kontakten zur Kommission als dem am wichtigsten angesehenen Organ zufrieden sein müssen. 100101 100 Mittelwert bei Skala 1 =-selten bis 5 =-häufig, N =-15, Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007. 101 Mittelwert bei Skala 1 =-selten bis 5 =-häufig Kontakt; 1 =-sehr wichtig bis 5 =-nicht wichtig; N =-15, Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007. 6 5 4 3 2 1 0 Europäische Kommission Europäisches Parlament Rat der EU Europäischer Rat Ausschuss der Regionen WSA Quelle: Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007, Knodt/ Große Hüttmann/ Kotzian 2011 Grafik 16: Kontakte zu europäischen Organen 100 5 EU Kom EP Rat der EU Europäischer Rat AdR WSA 4,5 4 3,5 2,5 3 2 1,5 1 0,5 0 Wichtigkeit Kontakt Quelle: Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007, Knodt/ Große Hüttmann/ Kotzian 2011 Grafik 17: Vergleich Wichtigkeit und Kontakt zu europäischen Organen 101 <?page no="196"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 197 6.3 Erklärung aus Sicht der Interessenvermittlung 197 Gemäß Grafik 17 richtet sich der Grad des Kontakts nach der zugeschriebenen Wichtigkeit der Organe. Wird ein Organ als sehr wichtig eingestuft, so pflegen die Büros auch häufiger Kontakt mit diesem. Schauen wir uns das Netzwerk der Ländervertretungen mit anderen Akteuren auf der europäischen Ebene etwas genauer an: Grafik 18 stellt eine Tendenz dar, die sich in der gesamten Interessenvermittlung im europäischen Mehrebenensystem abzeichnet. Wollen Akteure erfolgreich sein, so sind sie gezwungen, mit Redundanzen und komplementären Strategien zu arbeiten. Sie müssen alle möglichen Wege der Interessenrepräsentation einschlagen-- so auch die Informationsbüros, die sowohl direkt an die europäischen Organe herantreten als auch über die nationale Ebene hinweg bzw. transnational agieren. Die Grafik offenbart zudem die Kontakte mit anderen Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen des europäischen Mehrebenensystems. Sie setzt den Akteur, mit dem die Büros den meisten Kontakt haben und der ihnen am wichtigsten ist-- in diesem Fall die Europäische Kommission- - in die Mitte des Netzes. Je näher ein Akteur am Zentrum ist, desto mehr Kontakt haben die Büros mit diesem auch. Deutlich lassen sich dieser Grafik einige logische Nähen entnehmen, wie die des Ausschusses der Regionen, des Bundesrates sowie die oben bereits abgebildete Bedeutung des Europäischen Parlaments. Sie legt aber auch andere überraschend deutliche Ergebnisse nahe, so etwa die hohe Relevanz von Kontakten zu weiteren Informationsbüros. Neben der oben bereits erwähnten Tatsache, dass die Ländervertretungen in KOM 4 3 3 2 2 1 10 EP Rat der EU Europäischer Rat AdR WSA Bundesregierung Bundestag Bundesrat Andere Landesregierungen Andere dt. Informationsbüros Andere Regionen Andere Regionen (LEXREG) Kommunale Verbände (nat.) Wirtschaftsverbände (nat.) Wirtschaftsverbände (EU) Gewerkschaften (EU) Gewerkschaften (nat.) NGO (nat.) NGO (EU) Kommunale Verbände (EU) Quelle: Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007, Knodt/ Große Hüttmann/ Kotzian 2011 Grafik 18: Relativer Aufmerksamkeitsfokus der Informationsbüros (verglichen mit der Kommission) <?page no="197"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 198 198 6. Interessenvermittlung Wirtschaftsangelegenheiten durchaus miteinander konkurrieren, kommt der Kooperation der Ländervertretungen offenbar eine ebenso große Bedeutung zu. In der Anfangsphase der Verbindungsbüros stand dagegen die »egoistische« Interessenrepräsentation des jeweiligen Landes im Mittelpunkt der Arbeit. Demnach waren sowohl eine Koordination der Aktivitäten der Länderbüros als auch eine tiefer gehende Kooperation der Länder in besonderen Angelegenheiten die Ausnahme. Denn die Länderbüros traten in Brüssel als Einzelkämpfer auf; Informationen wurden nicht systematisch ausgetauscht und es herrschte eine starke Konkurrenz um »Insiderinformationen«. Erst Anfang der 1990er Jahre ging man dazu über, die Arbeit der Büros besser zu koordinieren (Bauer 1996). Dies geschah zum einen aus dem Bewusstsein heraus, dass eine Bündelung der Informationen und das gemeinsame Vorgehen einen Zugewinn für alle bedeutet; zum anderen erschien ein konzertiertes Vorgehen opportun, weil die »ear time« von Kommissionsbeamten nicht durch Mehrfachkonsultationen über Gebühr strapaziert werden sollte. Mittlerweile hat sich die Zusammenarbeit der Länderbüros institutionalisiert und gestaltet sich wesentlich transparenter. 102 Die Kontakte finden dabei auf den unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Form statt. Auf Referentenebene wurden feste Arbeitskreise eingerichtet und auch die Spitze der Büros trifft sich regelmäßig in der sogenannten »Leiterrunde«. Zu den Arbeitskreistreffen werden regelmäßig Kommissionsvertreter oder auch Mitglieder des Europäischen Parlaments geladen, um mit den Ländervertretern die anstehenden Entscheidungen und Vorhaben der EU zu diskutieren. Durch diese Kooperation ergibt sich meist auch die Möglichkeit der gemeinsamen Veranstaltung zur Präsentation eines speziellen Problems (vgl. Hertner 2005). Ergänzt wird dies durch die Kooperation mit anderen Regionen. Diese Kooperation wurde noch Mitte der 1990er Jahre als defizitär und damit als Handicap des Länderlobbyings identifiziert (vgl. Bauer 1996, Heichlinger 1999). Allerdings gab es hier mittlerweile deutliche Veränderungen: Die Erwartungen, denen zufolge der Ausschuss der Regionen oder die Versammlung der Regionen die am besten geeignete Plattform der transnationalen Kooperation seien, haben sich nicht erfüllt. Die bisherige Entwicklung verweist vielmehr auf einen Trend zu projekt- und problembezogener Kooperation zwischen etablierten oder ad hoc errichteten regionalen Netzwerken. Die Umfrage bei allen deutschen Landesvertretungen hat weiterhin ergeben, dass die internationale Kooperation mit anderen Regionenvertretungen von Bedeutung ist und dass in etwas abgeschwächter Form die Kooperation mit Regionenvertretern in den kompetenzstarken Regionen ebenfalls eine wichtigere Rolle spielt. Schließlich hat ebenso die projektbezogene Kooperation einzelner Länder an Bedeutung gewonnen, die in gleicher Form von spezifischen EU-Maßnahmen betroffen ist. So lässt sich etwa die Ostseekooperation erwähnen, in die mehrere Länder 102 Interviews in Brüssel, Januar 2006. <?page no="198"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 199 6.3 Erklärung aus Sicht der Interessenvermittlung 199 einbezogen wurden, die jedoch auch eine transnationale Dimension aufweist; oder auch die erfolgreiche Zusammenarbeit und das Lobbying der Regionen, die im Zuge der Osterweiterung ihre Strukturförderung zu verlieren drohten. In diesem Zusammenhang wurde etwa das Brüsseler Büro der Landesregierung von Thüringen bereits in den Jahren 2002 bis 2003 tätig, um mit 13 anderen europäischen Regionen die Kommission und das Europäische Parlament zu überzeugen, dass für diese Regionen in der Förderperiode 2007 bis 2013 Sonderregelungen nötig sind. 103 In den letzten Jahren wurde die projektbezogene Kooperation der Länder mit Regionen anderer EU-Mitgliedstaaten ausgebaut. Die Literatur geht auf diese Art der Kooperation hingegen kaum ein: Marks et al. verstehen unter dieser Art der Kooperation die institutionalisierte Zusammenarbeit im Rahmen europäischer Netzwerke, die auf die Gemeinschaftsinitiative INTERREG zur Förderung interregionaler Zusammenarbeit zurückgehen (Marks et al. 2002 : 4 f.). Aus vorliegender Sicht weisen diese Beispiele jedoch noch kein transnationales Networking nach, da hier die Ländervertretungen kaum eingebunden werden und selbst nicht als Träger der Maßnahmen fungieren. Dennoch existieren Kooperationsformen, die stark an den Partnerregionen orientiert sind, so etwa die sichtbare Zusammenarbeit Hessens mit anderen Regionen im gleichen Haus in Brüssel. Dort teilen sich die Partnerregionen Hessen, Aquitaine (Frankreich), Emilia-Romagna (Italien) und Wielkopolska (Polen) ein Gebäude für die Repräsentation ihrer Interessen. Zusammenfassend illustriert diese Art der transnationalen projektbezogenen Kooperation den Übergang von der allgemeinen informationsbezogenen Arbeit hin zur projektorientierten Zusammenarbeit. In einem dritten Schritt fragen wir nun, weshalb einige Informationsbüros erfolgreicher sind als andere-- zumindest in ihrer Wahrnehmung. Wie übersetzten sich diese Strategien der Kooperation und des Kontakts in erfolgreiches regionales Lobbying? Was können wir über die Determinanten von Erfolg sagen? Tabelle 10 zeigt die Korrelation von drei Indikatoren von Erfolg mit spezifischen Ressourcen der Länder, die den Erfolg bestimmen können. Die erste Ressourcenkategorie ist die Wirtschaftskraft eines Landes, gemessen am BIP. Ein wirtschaftlich starkes Land kann viele Kanäle benutzen, um Kontakte aufzubauen und seine Interessen zu Gehör zu bringen: Je höher somit die Wirtschaftskraft, desto höher müsste demnach der Einfluss des Landes auf die europäischen Organe sein. Eine nächste Ressource ist die politische Potenz eines Landes, gemessen an seiner Bevölkerungsgröße, die wiederum direkt die Stimmgewichtung im Bundesrat beeinflusst. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass vor allem die größeren Länder über 103 Vgl. Rede des Thüringer Ministers für Bundes- und Europaangelegenheiten und Chefs der Thüringer Staatskanzlei, Jürgen Gnauck, am 17.02.2003 anlässlich der Tagung der Reflection Group on the Future of Cohesion Policy und das Positionspapier der vom »statistischen Effekt« betroffenen Regionen zur Zukunft der EU-Strukturpolitik nach 2006. <?page no="199"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 200 200 6. Interessenvermittlung den Bundesrat oder im direkten Kontakt mit der Bundesregierung ihre Interessen im Ministerrat oder auch im Europäischen Rat durchzusetzen versuchen. Damit ergibt sich die These: Je potenter das Land in dieser Hinsicht, desto höher dessen Einfluss. Eng mit den zuvor aufgelisteten Faktoren verbunden ist die direkte finanzielle und administrative Ressourcenausstattung der Informationsbüros: Hierbei liegt ebenso die Beobachtung zugrunde, dass je größer das operationelle Budget und die Personalausstattung ist, desto einflussreicher auch das Informationsbüro. Erfolg wurde, wie bereits oben dargestellt, an der Selbsteinschätzung des Einflusses der Büros auf europäische Organe gemessen. Zunächst wurde dabei die Kommission berücksichtigt, als dasjenige Organ, das im Zentrum des Agenda-Settings und der Politikformulierung steht. Da die Informationsbüros ihren Fokus von der reinen Implementation auf den gesamten Politikzyklus und hier insbesondere auf die Agenda-Setting- und Politikformulierungsphase gelegt haben, stellt die Kommission einen der wichtigsten Ansprechpartner dar. An zweiter Stelle steht bei den Büros das Europäische Parlament, das zwar in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung im Gesetzgebungsprozess gewonnen hat, jedoch in der Interessenvermittlung als Ansprechpartner hinter der Kommission rangiert. Zuletzt wird der Rat der EU als maßgeblicher Spieler im Gesetzgebungsprozess berücksichtigt. Der Zugang befindet sich in diesem Fall jedoch zumeist auf der nationalen Ebene. Die Kontakte zwischen den Büros und der ständigen Vertretung in Brüssel sind dagegen nicht sehr ausgeprägt. Diese nationale Schiene der Interessenvermittlung ist vor allem für die ressourcenstarken Länder von Bedeutung. Die erste Feststellung, die aufgrund der Ergebnisse in Tabelle 10 getroffen werden kann, lautet, dass Ressourcen offensichtlich keinen Einfluss besitzen- - zumindest nicht auf europäischer Ebene. Den einzigen Einfluss, den eine hohe Ressourcenausstattung zeigt, bezieht sich auf den Rat der EU und somit vor allem auf den nationalen Weg der Interessenrepräsentation. Somit sind all diejenigen Länder mit einer hohen Ressourcenausstattung in der Ausübung von Einfluss im Vorteil, da sie nicht nur die europäische Ebene als Ziel ihrer Interessenvermittlung in Betracht ziehen, sondern die europäische Ebene vor allem auch über die nationale Schiene und ihr dortiges Gewicht beeinflussen. Dieses Ergebnis zeigt sich auch in dem Fakt, dass die Länder fast ausschließlich angegeben haben, über ausreichende Kontakte zur Kommission und zum Europäischen Parlament zu verfügen. Der Unterschied zwischen den Ländern liegt jedoch im Kontakt zum Rat sowie zur Bundesregierung und betrifft damit die nationale Schiene als Weg der Interessenrepräsentation- - hier unterschieden sich die Länder stark voneinander. Dies korrespondiert mit den Annahmen über die Charakteristika der Interessenvermittlung in Mehrebenensystemen: Nur wer über alle Kanäle verfügt, besitzt die Möglichkeit, seine Interessen wirksam repräsentieren zu lassen. Damit erscheint es offensichtlich, dass alle Länder von der Kommission und dem EP gehört werden. Doch nur, wer sich auch über die nationale Regierung und damit den Rat Gehör verschaffen kann, wird seine Interessen erfolgreich durchsetzen. <?page no="200"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 201 6.3 Erklärung aus Sicht der Interessenvermittlung 201 Somit zählt nicht nur der direkte Kontakt in die europäischen Organe hinein, sondern auch die Performanz der Länder innerhalb des nationalen Kontextes und damit deren Einfluss auf die Bundesregierung. Dies gilt für alle Bereiche der europäischen Politik, aber eben auch in der Regionalpolitik, die einen großen Teil der Interessenvermittlung der Informationsbüros ausmacht. Tabelle 10: Faktoren für die erfolgreiche Beeinflussung europäischer Organe Einfluss auf Kommission EP Rat Länderressourcen Einwohnerzahl (politische Macht) 0.26 0.31 0.46 BIP (Wirtschaftsmacht) 0.25 0.31 0.48 BIP pro Kopf (Wirtschaftsmacht) -0.17 0.06 0.09 Ressourcen der Länderbüros Administrative Ressourcen 0.28 0.38 0.49 Operatives Budget 0.00 0.40 0.45 Netzwerk-Ressourcen: Kontaktintensität mit-… Europäische Kommission 0.00 -0.02 -0.16 Europäisches Parlament 0.00 0.20 -0.24 Europäischer Rat 0.48 0.71 0.68 Rat der EU 0.25 0.43 0.50 AdR -0.15 0.23 -0.19 WSA 0.00 0.57 0.12 Kontakt mit nationalen Institutionen Bundesregierung 0.53 0.32 0.47 Bundestag 0.52 0.35 0.47 Bundesrat 0.51 0.36 0.46 Andere Länderregierungen 0.52 0.34 0.46 Andere europäische Informationsbüros 0.00 0.18 0.27 Andere ausgewählte europäische Regionen (LEXREG) 0.49 0.43 0.64 Kontakt mit europäischen Interessenvertretungen Wirtschaftsverbände (EU-Ebene) 0.33 0.63 0.35 Gewerkschaften (EU-Ebene) 0.34 0.54 0.26 NGOs (EU-Ebene) -0.38 -0.01 -0.15 Quelle: Studie Knodt/ Große Hüttmann 2007, Knodt/ Große Hüttmann/ Kotzian 2011 <?page no="201"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 202 202 6. Interessenvermittlung 6.4 Fazit In diesem Kapitel haben wir uns dem Thema der Interessenvermittlung in der Regionalpolitik gewidmet. Gleich zu Anfang wurde angemerkt, dass es im Bereich der Interessenvermittlung keine ausformulierte Theorie gibt, die man exemplarisch anwenden könnte- - es dominieren vielmehr unterschiedliche Ansätze und Ansatzpunkte. In der Regionalpolitik sind es vor allem die Regionen, die als territoriale Akteure Interessenvermittlung betreiben. Es wurde gezeigt, dass Regionen höchst unterschiedliche Strategien der Interessenvermittlung im Mehrebenensystem anwenden. Insbesondere wurde dabei auf die Informationsbüros der deutschen Länder eingegangen. Dieses Kapitel widmete sich der Frage, welche Strategien der Interessenvermittlung angewandt werden und wie erfolgreich diese sind. Dabei wurde thematisiert, wie schwierig es ist, Erfolg zu messen. Vorliegend geschah dies in Form einer empirisch erhobenen Selbsteinschätzung der Informationsbüros. Doch weist auch diese Methode spezifische Schwierigkeiten auf, weil die individuelle Ein- oder eventuell Überschätzung nicht überprüft werden kann, so dass sich hier im Rahmen der Selbstdarstellung durchaus Verzerrungen ergeben können. Darüber hinaus wurde gefragt, wie sich Unterschiede in der erfolgreichen Interessenvermittlung erklären lassen. Zwar macht die Ressourcenausstattung auf europäischer Ebene zunächst einmal keinen großen Unterschied, jedoch wird dies dadurch wieder relativiert, dass sich die gut ausgestatteten Regionen neben der europäischen auch auf der nationalen Ebene Gehör verschaffen und durch die Nutzung des zusätzlichen nationalen Kanals ihre Interessen erfolgreicher durchsetzen können. Somit ist die Vernetzung mit Akteuren unterschiedlicher Ebenen die erfolgversprechendste Strategie im europäischen Mehrebenensystem. Dazu brauchen die Regionen allerdings eine gute Ressourcenausstattung. Nur so können sie ihre Vorstellung beispielsweise in der europäischen Regionalpolitik zur Geltung bringen. Angesichts immer knapper werdender europäischer Ressourcen und zunehmender Konkurrenz der Regionen untereinander wird dies in Zukunft zu einer stärkeren Divergenz in der regionalen Entwicklung der Regionen führen- - eine Entwicklung, die der europäischen Zielvorstellung der Kohäsion europäischer Regionen entgegensteht. In diesem Kapitel wurde analysiert, welchen Bedingungen die regionale Interessenvermittlung im Mehrebenensystem der EU unterworfen ist, sowie die Vor- und Nachteile von Strategien der Interessenvermittlung aufgezeigt und die Gemeinsamkeiten privater und öffentlicher Interessenvermittlern adressiert. Nicht analysiert wurde im Rahmen der gewählten Fragestellung hingegen, welchen Anteil die Regionen am Zustandekommen von Strukturfondsprogrammen und der Strukturfondspolitik allgemein aufweisen. Wir haben darüber hinaus nicht reflektiert, welche Interessen und Perspektiven die jeweils adressierten EU-Organe vertreten und welche Strategien der Einbindung diese verfolgen. Ebenso wenig wurde die Rückwirkung der Interaktion mit dem EU-System auf Paradigmen, Politikstile, Norwww.claudia-wild.de: <?page no="202"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 203 6.4 Fazit 203 men regionaler Akteure wie die Europäisierung durch Angebote, Einbindung und andere untersucht. Solche Untersuchungsgegenstände wurden zum Teil noch nicht eingehend beleuchtet- - deshalb existiert hier weiterer Bedarf nach entsprechenden empirischen Studien, aber auch der Entwicklung von theoretischen Ansätzen, die einen Schwerpunkt auf Akteure der Interessenvermittlung setzen. Literatur Addison, John/ Siebert, W. Stanley 1991: The Social Charter of the European Community, in: Industrial and Labor Relations Review 44 : 4, 597-625. 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Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz und die Legitimierung regionalpolitischer Prozesse in der Europäischen Union Auch zivilgesellschaftstheoretische Ansätze, die sich auf eine Demokratisierung von EU-Politikprozessen durch die Einbindung über zivilgesellschaftliche Akteure beziehen, können auf Fragestellungen im Bereich der Strukturfondsförderung angewandt werden. Dieses Kapitel stellt zunächst Überlegungen zu möglichen Legitimationseffekten der Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure vor. Dazu wird bekannt idealtypisch vorgegangen: Im ersten Schritt erfolgt die deduktive Erarbeitung von Typen zivilgesellschaftlicher Einbindung. Anschließend werden diese mit der Empirie der Einbindungsstrategien vor allem der Europäischen Kommission konfrontiert, um dann zuletzt eine Einschätzung über den vorherrschenden Typ zivilgesellschaftlicher Einbindung in der EU geben zu können. 104 7.1 Legitimationseffekte zivilgesellschaftlicher Beteiligung Je stärker die europäische Politik im Laufe der Zeit in die Freiheitsrechte des Einzelnen eingriff, desto lauter wurden sowohl aus der akademischen als auch der Welt der Politik die Klagen über eine mangelnde demokratische Legitimation des europäischen Herrschaftssystems und die Rufe nach Lösungen dieses Defizits. Insgesamt macht sich diese Klage in der heutigen Diskussion an Defiziten in der Repräsentation, Zurechenbarkeit von Verantwortung, Transparenz und Unterstützung durch die Bürger fest. Solange die Europäische Gemeinschaft überwiegend als reiner »Zweckverband funktioneller Integration« (Ipsen 1972) oder als »Wirtschaftsverfassung« (Mestmäcker 1994) interpretiert wurde, die sachbezogen ihr übertragene, klar abgegrenzte Aufgaben erledigte, bestand keinerlei Notwendigkeit einer über die Ermächtigung durch die demokratisch legitimierten Regierungen der Mitgliedstaaten hinausgehenden Legitimation (ausführlich dazu vgl. Kohler-Koch/ Conzelmann/ Knodt 2004: Kapitel 10). Auch die lange Zeit vorherrschende Fokussierung auf die Output-Dimension der Legitimation des politischen Systems der EU ist zunehmend in die Kritik geraten. 105 104 Wir danken Hubert Heinelt für seine Anmerkungen zu diesem Kapitel. 105 Geht man nach der systemtheoretischen dichotomen Konstruktion des Politikprozesses in eine Input- und Output-Dimension (Easton 1965), so kann man-- wie Scharpf (1999) dies getan hat-- politischen Prozessen eine Input- (»citizen participation«) und Output-Legitimation (»system effectiveness«) zurechnen (vgl. zur Marginalisierung von citizen participation aufgrund einer Fokussierung auf system effectiveness Dahl 1994). <?page no="207"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 208 208 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz Dies zum einen, weil die Beurteilung der Output-Legitimation durchaus unterschiedlich und nicht immer positiv ausfällt (vgl. Scharpf 1999) und Umfragewerte einer empirischen Legitimation der EU ein ernüchterndes Bild ergeben. Das Fazit der meisten Analysen der Umfrageforschung lässt nämlich einen schwindenden »permissive consensus« (Lindberg/ Scheingold 1970) erkennen (vgl. Schmidberger 1997). Zum anderen wird seit Mitte der neunziger Jahre die Trennung von Input- und Output- Legitimation immer stärker angezweifelt. Kritiker wie Abromeit gehen davon aus, dass sich Politik nicht aus sich selbst heraus legitimiert (Abromeit 2002 : 18 f.). Die »Herrschaft für das Volk« lässt sich somit nicht so einfach von der »Herrschaft durch das Volk« abtrennen. Ferner wird auf eine enge Verschränkung unterschiedlicher Formen der Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen und der Effektivität von Politik verwiesen. 106 Dieser Zusammenhang wird, so die Analyse der Kritiker, in der heutigen EU noch nicht genügend berücksichtigt. Die Vorschläge zur Behebung dieses Defizits konzentrieren sich zum einen auf eine Verbesserung der parlamentarischen Repräsentation der EU und reichen von einer Parlamentarisierung durch die weitere Stärkung des Europäischen Parlaments über eine unterschiedlich ausgestaltete Einbeziehung nationaler und regionaler Parlamente in Form von Kammern bis zur Aufwertung des Kommissionspräsidenten durch eine Direktwahl und somit Präsidialisierung des EU-Systems. 107 Ausgehend von der Tatsache, dass jedoch auch im nationalstaatlichen Kontext die Ansprüche der parlamentarischen Demokratie immer weniger erfüllt werden, hat sich mit Blick auf die EU eine Diskussion entfaltet, die nach Alternativen sucht. Die Vorschläge reichen vom Modell eines Post-Parlamentarismus mit lose gekoppelten Arenen (Benz 2000), über deliberative (z. B. Schmalz- Bruns 1999, Cohen/ Sabel 1997, Eriksen/ Fossum 2000) und partizipative Modelle (Heinelt et al. 2002, Grote/ Gbikpi 2002) bis zu Vorschlägen der Einbringung direktdemokratischer Elemente (Abromeit 2002). Vor allem die Vorschläge der partizipativen Modelle haben ihren Weg in die Politik der EU gefunden. Seit Ende der 1990er Jahre fand in allen Organen der EU eine Diskussion zu alternativen Strategien ihrer demokratischen Legitimation statt, die sich auf die Analyse des demokratischen Defizits und der Krise des verschwindenden permissive consensus bezog. Dabei wurde in der Diskussion neuer Konzepte legitimer Ordnung sogar auf das Vokabular der Wissenschaft zurückgegriffen (vgl. dazu das »Weißbuch zum Europäischen Regieren«, Kommission 2001). Wissenschaftliche Arbeiten zum legitimen Regieren in der EU sind im Rahmen der Diskussion über legitimes Regieren jenseits des Nationalstaates unter Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure entstanden. 108 Es wurden Überlegungen zur Rolle zivil- 106 Vgl. dazu Heinelt 1997 und 1998 (mit Bezug auf Lindblom 1965), Cohen/ Sabel 1997 : 320, Schmalz-Bruns 2002b: 59 f. 107 Für eine kritische Würdigung der einzelnen Vorschläge vgl. Abromeit 2002 : 21-28. 108 Vgl. dazu z. B. Rosenau/ Czempiel 1992, Kohler-Koch 1993, Held 1996. <?page no="208"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 209 7.1 Legitimationseffekte zivilgesellschaftlicher Beteiligung 209 gesellschaftlicher Akteure und Nichtregierungsorganisationen (NROs) als eigenständige Akteure im globalen Regieren angestellt, die ihnen in Umfang und Qualität unterschiedliche Funktionen in internationalen Organisationen zuwiesen. 109 Proteste gegen internationale Politiken im Rahmen unter anderem des Multilateralen Investitionsabkommens (MAI, 1998), der WTO-Konferenz in Seattle (1999), des G8-Gipfels in Genua und des Europäischen Gipfels in Göteborg (beide 2001) begleiteten die Diskussion. Sowohl die theoretischen Überlegungen als auch der lautstarke Protest haben in den internationalen Organisationen ebenfalls zu einer Diskussion um die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure auf internationaler Ebene geführt. Zwei zentrale Begriffe sollen an dieser Stelle geklärt werden: erstens die Einbindung von Akteuren in Politikprozesse; und zweitens »Zivilgesellschaft«. Der Begriff der Einbindung ist bewusst gewählt, denn er soll den für die Analyse gewählten Ausschnitt der zivilgesellschaftlichen Einbindung verdeutlichen. Es geht hier um die von öffentlichen Akteuren verfolgten Einbindungsstrategien. Wohl wissend, dass die Partizipation von zivilgesellschaftlichen Akteuren einen interaktiven Vorgang darstellt, wird im Weiteren nur die einseitige Perspektive aus Sicht der öffentlichen Akteure eingenommen. Die zweite Begriffsklärung bezieht sich auf den Begriff der Zivilgesellschaft. Analytisch sind in der Diskussion um Zivilgesellschaft zwei Komponenten zu unterscheiden (vgl. dazu Trenz 2005): Zum einen geht es um die »Zivilgesellschaft als Akteur« und damit um ein Akteurskonzept; zum anderen wird von »Zivilgesellschaft als Diskurs« ausgegangen und damit auf den ideellen Gehalt zivilgesellschaftlicher Entwürfe abgehoben: »Auch in der EU findet sich diese Doppeldeutung von ›organisierter Zivilgesellschaft‹ als Herausforderer und potentieller Teilhaber europäischen Regierens sowie von ›Zivilgesellschaft als Diskurs‹ zur Erhebung von normativen Ansprüchen nach ›Zivilisierung‹ des europäischen Entscheidungshandelns« (Trenz 2005 : 62). Wenn im Weiteren der Begriff der Zivilgesellschaft benutzt wird, so geschieht dies ausschließlich mit Bezug auf Akteure, weshalb der Begriff auch dementsprechend verwendet wird. Allerdings wird der Begriff Zivilgesellschaft sowohl in der Politikwissenschaft als auch in der EU auf unterschiedliche Akteure angewandt (vgl. dazu Kohler-Koch/ Quittkat 2009). Die EU benutzt den Begriff in einem unspezifischen Sinne und subsumiert unter Zivilgesellschaft nicht-profitorientierte Organisationen im Sinne von klassischen NROs, aber auch wirtschaftsnahe Interessenverbände oder im Einzelfall sogar Unternehmen. Doch damit nicht genug: In Veröffentlichungen der 109 Für einen Überblick vgl. z. B. Weiss/ Gordenker 1996, Beisheim 1997, Altvater et al. 2000 und Wolf 2002. <?page no="209"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 210 210 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz verschiedenen EU-Institutionen wird der Begriff ebenfalls nicht einheitlich benutzt. Die Begriffsverwendung der Europäischen Union entspricht zudem kaum derjenigen, die in der stark normativ orientierten theoretischen Literatur gebraucht wird. 7.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem zivilgesellschaftstheoretischen Ansatz Die europäische Strukturfondsförderung begann als klassische Ausgleichspolitik mit der Einrichtung des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung im Januar 1975. Das Instrumentarium beinhaltete die Bereitstellung von Subventionen für Investitionen in vorab abgegrenzten Problemgebieten. Gefördert wurden Industrieansiedlungen, Teile des tertiären Sektors sowie Infrastrukturmaßnahmen, die der wirtschaftlichen Entwicklung eines Gebietes dienen sollten. Die wesentlichen Charakteristika der frühen Strukturfondsförderung bestanden darin, dass zum einen die Mittelvergabe aufgrund der Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten-- und nicht zwischen einzelnen Regionen-- nach einem Länderschlüssel erfolgte. Zum anderen wurde die EG-Politik aufgrund der fehlenden Kompetenzen als ergänzend zu den Politiken der Mitgliedstaaten konzipiert. Letzteres sicherte man durch das Prinzip der Kofinanzierung. Danach förderte die Gemeinschaft nur noch solche Projekte, die auch auf nationalem Niveau öffentliche Unterstützung im Rahmen regionaler Fördermaßnahmen erfuhren. Damit machte sich die Gemeinschaft von den unterschiedlichen Systemen der Förderung, der Rahmenplanungen und der Implementation in den Mitgliedstaaten abhängig. Anstoß und Zielsetzung des 1979 begonnenen Reformprozesses der europäischen Strukturfondsförderung war es, diese Defizite aufzuarbeiten. Mit der Reform der Strukturfonds im Jahr 1988 erfolgten entscheidende Änderungen: (1) Alle Strukturfonds sowie die übrigen Finanzierungsinstrumente der Gemeinschaft sollten regionalpolitischen Zielsetzungen zu Gute kommen; (2) die Mittel der Fonds sollten ausschließlich über Programme eingesetzt werden; (3) die Beziehung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten sollte durch das Prinzip der Partnerschaft geregelt werden (vgl. Rat 1988). 110 Für dieses Kapitel ist vor allem der letzte Punkt ausschlaggebend: Das 1988 neu eingeführte Prinzip der Partnerschaft war als »enge Konzertierung zwischen der Kommission, dem betreffenden Mitgliedstaat und von ihm bezeichneten, auf nationaler, regionaler, lokaler oder sonstiger Ebene zuständigen Behörden« definiert, in der »alle Parteien als Partner ein gemeinsames Ziel verfolgen« sollten (ebd.). Das Prinzip erstreckt sich auf die Vorbereitung, Finanzierung, Begleitung und Bewertung der Programme sowie der durch sie geförderten Projekte bzw. Aktionen, so dass sich die Kommission in der Realisierung der Programme zusätzlich zu ihrer Initiativfunktion 110 Vgl. zu dieser Reform das Kapitel zum (liberalen) Intergouvernementalismus. <?page no="210"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 211 7.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 211 eine Kontrollfunktion bei der Politikimplementation sicherte. Ausgeweitet wurde das Partnerschaftsprinzip 1993 dadurch, dass auch die Wirtschafts- und Sozialpartner in den Prozess der Programmplanung und Politikimplementation einschließlich der Begleitung und Bewertung der Programme einbezogen werden mussten. Zum einen war die Aufnahme dieser Akteure in das Prinzip der Partnerschaft ein Zugeständnis an die Forderungen des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses (WSA), zum anderen versuchte die Kommission über die Einbeziehung der dezentralen (Implementations-)Ebene die Programmentwicklung stärker auf konkrete Problemlagen zu beziehen und neue Akteure als potenzielle Träger der europäischen Förderpolitik zu aktivieren. Mittlerweile hat sich die Einbindung dezentraler Akteure in der Strukturfondspolitik mit der Diskussion um eine Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure verbunden. Die Institutionen der EU begannen Ende der 1990er Jahre damit, verstärkt auf die Debatte um das Demokratiedefizit der EU zu reagieren. Vor allem die Kommission und der WSA (vgl. Smismans 2005) entdeckten die Zivilgesellschaft als Legitimationsressource europäischen Regierens und entwickelten Konzepte und Strategien zur verbesserten Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure, die vielerorts auf das deliberative Demokratiemodell 111 Bezug nahmen, ohne jedoch ein kohärentes Konzept zu entwickeln (vgl. Kohler-Koch 2003, Kohler-Koch/ Quittkat 2011 sowie Joerges et al. 2001). Im Weißbuch zum europäischen Regieren wird zwar-- durchaus im Sinne des deliberativen Modells- - auf den notwendigen Zusammenhang von Demokratie, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft hingewiesen und gefordert, dass die Institutionen der EU »aktiver mit der breiten Öffentlichkeit über Europafragen kommunizieren« (Kommission 2001 : 15) und dabei auf Netzwerke und gesellschaftliche Basisgruppen zurückgreifen sollen. Wenn jedoch anschließend festgestellt wird, dass der Kontakt zur europäischen Öffentlichkeit den Politikern dabei helfen könne, ihren »Rückhalt in der Bevölkerung« (ebd.: 16) zu verbessern, wird deutlich, dass die Kommission eine von zivilgesellschaftlichen Assoziationen getragene europäische Öffentlichkeit eher als Instrument zur Verbesserung ihrer politischen Akzeptanz denn als gesellschaftliches Korrektiv politischer Herrschaft betrachtet. Tatsächlich wird der Begriff der Zivilgesellschaft in der täglichen Arbeit der Generaldirektionen häufig synonym für die im Umfeld der Kommission tätigen verschiedenen Lobby-Akteure verwandt (vgl. Knodt 2005). Genau diesem Spannungsverhältnis zwischen Legitimationsanspruch und Einbindungswirklichkeit geht dieses Kapitel nach. Die vorliegend zu untersuchende Fragestellung lautet: Unter welchen Bedingungen führt die Einbindung der Zivilgesell- 111 Deliberative Demokratietheorien konzipieren die Partizipation der Betroffenen am Diskurs über politische Themen. Die Theorien sehen im öffentlichen Diskurs legitimatorisches Potenzial für demokratische Entscheidungsprozesse wie sie unter anderem Habermas (1992) konzipiert. <?page no="211"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 212 212 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz schaft in die Strukturfondsförderung zu einem Legitimationsgewinn und kann die derzeitige Einbindung der Zivilgesellschaft durch die EU einen solchen Legitimationsgewinn erreichen? Daraus folgend ist als abhängige Variable der Legitimationsgewinn durch die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure zu bestimmen (AV). Die Identifizierung und Analyse von Leitideen und Konzepten, die sich in Organisationen entwickeln und sich schließlich in ihnen durchsetzen-- so wie hier die Strategien einer Einbindung der Zivilgesellschaft- - ist keine leichte Aufgabe. Um sie zu bewältigen, wird im Folgenden der Weg über die Bildung von Idealtypen gegangen und es werden zwei Typen zivilgesellschaftlicher Einbindung erarbeitet. 112 Mit Bezug auf diese Typen lässt sich die Einbindung der Zivilgesellschaft in die EU-Strukturfondspolitik beurteilen. Die Idealtypen zivilgesellschaftlicher Einbindung werden anhand der Ausprägung von fünf Dimensionen gebildet, die im Folgenden als unabhängige Variablen operationalisiert werden: (a) Zugang zivilgesellschaftlicher Akteure zur europäischen Politik (UV 1 ): Die Rolle der Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen ist bei der Frage nach der Art des Zugangs von entscheidender Bedeutung. Sie können den Zugang verweigern und auf die nationale Politik als Ort der zivilgesellschaftlichen Einbindung verweisen oder aber aktiv eine Beteiligung für zivilgesellschaftliche Akteure auf allen Ebenen europäischer Politik erlauben. Wird der Zugang gewährt, kann dieser durch die Mitgliedstaaten oder die EU-Institutionen kontrolliert und gegebenenfalls auch nur fallweise zugestanden werden. Die Auswahl zivilgesellschaftlicher Akteure erfolgt dabei danach, ob sie zur Effektivität der Politikgestaltung beitragen, wobei vor allem pragmatische Gründe eine Rolle spielen-- wie beispielsweise die Erweiterung der Wissensbasis durch zivilgesellschaftliche Expertise. Das Einbeziehen zivilgesellschaftlicher Expertise oder anderer Ressourcen geschieht dabei je nach Bedarf und aufgrund des Ermessens der politischen Akteure bei einer anstehenden Problemlösung. Somit besteht kein Interesse an einer beständigen, breiten und nicht-selektiven Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure. Ein solcher begrenzter Zugang ist an unregelmäßig stattfindender Einbindung sowie an fehlenden institutionalisierten Regelungen des Zugangs zu erkennen. Oder in anderen Worten: Der Zugang zivilgesellschaftlicher Akteure erfolgt ad hoc und selektiv nach Ermessen des jeweils zuständigen politischen Akteurs. Der Zugang kann jedoch auch rechtlich abgesichert und somit institutionalisiert erfolgen. Der Zugang zu Entscheidungsverfahren dient hier nicht nur der Effektivierung von Entscheidungen, sondern auch ihrer demokratischen Legitimierung. Die Legitimität des Modells beruht dabei auf der prozeduralen Strukturierung der Kommunikationsprozesse. Das zentrale Kriterium ist der freie und institutionell gesicherte 112 Die Herleitung der Typen lehnt sich stark an Knodt 2005 an. <?page no="212"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 213 7.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 213 Zugang für alle vorzubringenden Argumente und damit eine Entscheidung auf der Basis eines breiten Spektrums »guter Gründe«. Ein Problem stellt dabei die im Vergleich zu anderen Akteuren möglicherweise unzureichende Ausstattung zivilgesellschaftlicher Akteure mit Ressourcen dar, gute Gründe zu generieren und in Debatten zur Geltung zu bringen. Diese kann zum einen von sozialen Ungleichheiten, wie z. B. Status, Bildung und Einkommen abhängen. Zum anderen kann sie ebenso aus kommunikativen Ungleichheiten resultieren, also z. B. aus asymmetrisch verteilten Zugangschancen zur Öffentlichkeit, die ihrerseits nicht nur von materiellen Ressourcen, sondern ebenfalls etwa von dominierenden Formen »diskursiver Rationalität« (Schmalz-Bruns 2002a: 278) abhängen können. Gegen diese möglichen Einschränkungen einer von zivilgesellschaftlichen Akteuren mitgetragenen Deliberation haben Autoren wie Estlund und Schmalz-Bruns Vorschläge in die Diskussion eingebracht. So skizziert Estlund grundlegende prozedurale Regelungen, welche die Offenheit von Diskussionsarenen, die Zugänglichkeit und Qualität von Argumenten, die Art des Argumentierens sowie die Repräsentativität der Teilnehmer betreffen (Estlund 1997). Schmalz-Bruns (2002a) weist ebenfalls darauf hin, dass die Ausgestaltung der Verfahren und Institutionen der deliberativen Demokratie dafür Sorge tragen müssen, vorhandene Ungleichheiten abzufangen und somit einen inklusiven Kommunikationsprozess unter möglichst repräsentativer Teilnahme aller Betroffenen zu organisieren. Er hebt in diesem Zusammenhang vier Merkmale einer (auch für zivilgesellschaftliche Akteure) offenen Deliberation hervor (Schmalz-Bruns 2002a: 279 f.): (1) Inklusivität bzw. keine Zugangsbeschränkungen; (2) horizontale Formen der Willensbildung, die besser als vertikale geeignet seien, »der Multiperspektivität und Multivalenz der von Beteiligten im Rahmen von Verständigungs- oder kooperativen Problemlösungsprozessen geltend gemachten Gesichtspunkten im Hinblick auf das Verständigungsziel auch gerecht werden« (ebd.: 279 f.) zu können; (3) Stärkung moralischer gegenüber strategischer Orientierung und kein Vermischen beider; sowie (4) Möglichkeiten zur Erhebung »reziproker Einwände« (ebd.). Die Zugänglichkeit deliberativer Prozesse sowie die Mobilisierung eines möglichst breiten Spektrums guter Gründe sind somit entscheidend für die Beurteilung der demokratischen Legitimation eines Systems. Letztlich kommt es darauf an, ob ein offener Zugang rechtlich geregelt oder in irgendeiner anderen Form verbindlich institutionalisiert ist und entsprechend bestimmten Argumenten und damit Akteuren nicht systematisch der Zugang verwehrt wird. (b) Steuerungsmechanismen politischer Problemlösung (UV 2 ): Bei einer Unterscheidung zwischen einerseits hoheitlicher und eher hierarchischer sowie andererseits gesellschaftlicher Steuerung geht es um die Frage, welche Steuerungsform dominant ist. Konkreter: Haben wir es eher mit hoheitlicher Steuerung und einer selektiven Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Kräfte zu tun oder entwickeln gesellschaftliche Gruppen Handlungsautonomie und öffnen sich politische Willensbildungsprozesse für <?page no="213"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 214 214 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz zivilgesellschaftliche Akteure? Die EU wird dabei als Forum für die Beteiligung von zivilgesellschaftlichen Akteuren konzeptionalisiert und dient der Kommunikation und dem Austausch von Argumenten zwischen zivilgesellschaftlichen und politischen Akteuren (vgl. Schaber 1996, March/ Olsen 1989). Den zivilgesellschaftlichen Akteuren kommt dabei eine den öffentlichen Akteuren gleichwertige Rolle zu. 113 Die gesellschaftliche Steuerung ist demnach an der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure in allen Phasen des Politikzyklus abzulesen. (c) Konzeption zivilgesellschaftlicher Akteure (UV 3 ): Zentral bei der Erarbeitung von Idealtypen der Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure ist deren Konzeptionalisierung. Die Akteurskonzepte sind dabei mit zwei verschiedenen Handlungsansätzen und mit ihnen verbundenen Modi der Interessenvermittlung verknüpft. Zum einen können zivilgesellschaftliche Akteure als (eigen-)rationale Agenten konzipiert werden, die ihre individuellen Präferenzen einbringen. Dies läuft nach Schmalz-Bruns (2002b: 64) auf einen voluntaristischen Vermittlungsmodus hinaus-- und zwar in dem Sinne, dass »in der Verfolgung primär privater Interessen die damit verbundenen Präferenzen wirksam zur Geltung zu bringen« (Schmalz-Bruns 2002a: 276) sind und jedermann die gleiche Chance hat, seine Präferenzen in entscheidender Weise vorzubringen. Eine solche voluntaristische Sichtweise betrachtet zivilgesellschaftliche Akteure als Träger von Partikularinteressen, die hinreichend mit Ressourcen und Qualitäten ausgestattet sind, um ihre Interessen wirkungsvoll zur Geltung zu bringen. Sie sind für politische Akteure von Interesse, weil sie die Effektivität von Politikprozessen verbessern helfen. Folglich werden Vertreter der Zivilgesellschaft eingebunden, um ihre Expertise im Entscheidungsprozess zu mobilisieren oder aber zur intendierten Implementierung der beschlossenen Politikinhalte und -ziele beizutragen. Schmitter (2002 : 62 f.) hat für Akteure, die potenziell für eine Teilhabe an politischen Prozessen in Frage kommen, den Begriff »holder« geprägt (2002 : 62). 114 Holder müssen, um in Politikprozesse einbezogen zu werden, mit bestimmten Attributen 113 Vgl. dazu die Studien zu zivilgesellschaftlichen Akteuren bzw. Nichtregierungsorganisationen als eigenständige Akteure im globalen Regieren. Diese Studien waren lange unterrepräsentiert, oft stark normativ präskriptiv angelegt und empirisch weniger gut abgesichert (vgl. z. B. Walker 1988 und Falk 1995). Inzwischen liegen auch systematisch angelegte empirische Analysen vor (vgl. z. B. Willets 1996, Weiss/ Gordenker 1996). Darüber hinaus werden gerade die Akteursqualitäten von NROs und die Frage nach ihrem Beitrag zur Legitimation internationaler Politik verstärkt diskutiert (vgl. z. B. Görg/ Hirsch 1998, Beisheim 1997, Schmidt/ Take 1997, Albert et al. 2000, Brand et al. 2001, Brühl et al. 2001, Franz/ Zimmer 2002, Nanz/ Steffek 2005). 114 Der Holder-Ansatz wurde in den 1980er Jahren in der Analyse von Managementstrategien erarbeitet. Er stellt einen Ansatz dar, »for gaining an understanding of a system by means of identifying the key actors or stakeholders in the system, and assessing their respective interests in that system« (Grimble/ Man-Kwun 1995 : 114, zit. nach Gbikpi/ Grote 2002 : 24)-- und zwar mit der Perspektive, Management effektiver und partizipativer zu gestalten. <?page no="214"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 215 7.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 215 ausgestattet sein bzw. bestimmte Qualitäten und Ressourcen besitzen. Diese Attribute reichen von dem Wissen, das für Problemlösungen relevant ist (»knowledge holder«), über (staatsbürgerliche) Beteiligungs- (»right holder«) und Eigentumsrechte (»share holder«) bis hin zu Betroffenen (»stake holder«), d. h. all denjenigen, die »regardless of where they live, what their nationality is or what their level of information/ skills may be-- that could be materially or even spiritually affected by a given measure« (Schmitter 2002 : 63). Wenn politische Akteure entsprechend dieser Überlegungen zivilgesellschaftliche Akteure in Politikprozesse einbinden, so geht es dabei um deren spezifische Attribute und Ressourcen, mit deren Hilfe die Effektivität und Legitimation von Politikprozessen erhöht werden kann- - was im Regelfall vom Inhalt und Kontext einzelner Politikprozesse oder von einem bestimmten Instrument und seinen Einsatzmöglichkeiten abhängt. Dem steht die Konzeption der Bürger als vernunftbegabte Akteure gegenüber, die mit der Fähigkeit des Verstehens und der Begründung ihres Handelns ausgestattet sind. Auf dieser Annahme beruht die Kategorie des epistemischen Vermittlungsmodus (Schmalz-Bruns 2002a: 276 f.). Personen sind als autonome Personen am besten in ihrer Fähigkeit repräsentiert, voneinander Begründungen des Handelns zu fordern und gegenseitig vorzutragen. Damit wird das Verständnis von Freiheit und Gleichheit normativ durch die Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs erweitert und die Bedingung der Reziprozität der öffentlichen Argumentationspraxis im Sinne der wechselseitigen Anerkennung von Beteiligten als Freie und Gleiche eingeführt (ebd.: 276 f.). In einer Ausprägung, die dem prozeduralen Kommunikationsmodell zugrunde liegt, kann die Konzeption des vernunftbegabten zivilgesellschaftlichen Akteurs als Sachwalter legitimer Interessen gesehen werden. 115 Dort wird der Staatsbürger als ein verantwortliches Subjekt konzipiert. Er ist vernunftbegabt und verständigungsorientiert. Ein verständigungs- und problemlösungsorientierter öffentlicher Austausch von guten-- d. h. von einsehbaren und zumutbaren- - Argumenten ist insofern mit zivilgesellschaftlichen Akteuren in Verbindung zu bringen, als diese Foren der politischen Selbstartikulation und des öffentlichen argumentativen Austausches offerierend, die auf »nicht-staatlichen und nicht-ökonomischen Zusammenschlüssen und Assoziationen auf freiwilliger Basis [beruhen bzw. jene] mehr oder weniger spontan entstandenen Vereinigungen, Organisationen und Bewegungen [darstellen], welche die Resonanz, die die gesellschaftlichen Problemlagen in den privaten Lebensbereichen finden, aufnehmen, kondensieren und lautverstärkend an die politische Öffentlichkeit weiterleiten« (Habermas 1992 : 443). 115 Diese Sichtweise spiegelt sich auch in dem Demokratiemodell des prozeduralen Republikanismus, in Estlunds Begrifflichkeit eines epistemischen Prozeduralismus (Estlund 1997) oder auch der deliberativen Demokratietheorie (Elster 1998; Habermas 1992; Schmalz-Bruns 1999; Dryzek 1990; Eriksen/ Fossum 2000) wider. <?page no="215"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 216 216 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses, das zivilgesellschaftliche Akteure als ein »Assoziationswesen [begreift], das problemlösende Diskurse zu Fragen allgemeinen Interesses im Rahmen veranstalteter Öffentlichkeiten institutionalisiert« (vgl. ebd.: 443 f.), sind diese als Agenten eines öffentlichen Vernunftgebrauchs und Sachwalter legitimer Interessen zu begreifen. Wichtig ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Bereitschaft zum Austausch vor allem bei strittigen Themen vorhanden sein muss. Zudem bedürfen die Argumente auch einer gewissen Qualität, um den Austausch zu ermöglichen und einen Lernprozess anzustoßen. Wichtiges Element ist zudem die gegenseitige Anerkennung des jeweils Anderen als Gleicher und dessen Gründe als gleichwertig, da sonst die intendierten Lerneffekte durch den Austausch eben dieser Gründe nicht realisierbar sind. Die Bereitschaft zu solchen Lernprozessen muss artikuliert werden. Die Notwendigkeit einer solchen Akteurskonzeption wird dabei vor allem im Abschnitt zur Dimension der Funktion von Öffentlichkeit deutlich, da dort der Austausch guter Begründungen für die vorgebrachten Interessen stattfindet. (d) Funktionen im Politikprozess (UV 4 ): Bei der Differenzierung unterschiedlicher Funktionen zivilgesellschaftlicher Akteure und ihrer Einbindung in den politischen Prozess kann insgesamt zwischen sachbereichsspezifischen und übergreifenden Leistungen unterschieden werden (vgl. Wolf 2002). Sachbereichsspezifische Leistungen enthalten Beiträge zur Problemidentifikation, der Beisteuerung problemlösungsrelevanter Ressourcen, der Normsetzung sowie der Regeldurchsetzung. Übergreifende Leistungen tragen zur Gemeinwohlorientierung der politischen Steuerung, zur Herstellung und Bewahrung des konstitutionellen Rahmens für das eigene Wirken, zur Vermeidung negativer Externalitäten und zur Beschaffung von Legitimation für das politische System insgesamt bei (vgl. ebd.: 190). Werden die zivilgesellschaftlichen Akteure als mit Ressourcen ausgestattete holder konzipiert, so soll das Einbringen ihrer Expertise und Sichtweisen als Ressourcen vor allem zu einer verbesserten Qualität der Sachentscheidung führen. Sie erbringen somit in erster Linie sachbereichsspezifische Leistungen. 116 Dabei übernehmen zivilgesellschaftliche Akteure vor allem operative Funktionen, wie die Beratung politischer Akteure und die Implementation oder die Überwachung der Implementation von politischen Entscheidungen. Zudem werden sie bei der Mobilisierung öffentlicher Unterstützung herangezogen. Die Funktion von zivilgesellschaftlichen Akteuren besteht darin, als Transmissionsriemen zwischen der zivilgesellschaftlichen Expertise und den politischen Entscheidern zu fungieren. Sie sollen Expertise aus der Zivilgesellschaft in die Politikformulierung hineintransportieren und Informationen zu dieser Politik in die Zivilgesellschaft vermitteln. Gleichzei- 116 Diese Konzeption knüpft unter anderem an Lindbloms (1965) Überlegungen an, dass die in demokratischen Politikprozessen größere Beteiligung (beispielsweise durch die Mobilisierung entscheidungsrelevanten Wissens) zu besseren Ergebnisse führe (Heinelt 2002 : 17 f.). <?page no="216"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 217 7.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 217 tig sollen sie bei der Umsetzung politischer Entscheidungen gesellschaftliche Folgebereitschaft und Akzeptanz schaffen. Konzipiert man zivilgesellschaftliche Akteure als verständigungsorientierte Sachwalter von Interessen und gleichberechtigte Partner, können sie durch das Einbringen von guten Gründen zur Orientierung von Entscheidungen am Gemeinwohl beitragen. Ein in solcher Weise institutionalisiertes Prozedere erhöht zudem die Legitimation des entsprechenden politischen Handlungszusammenhangs. Zivilgesellschaftliche Akteure erbringen somit nicht nur sachbereichsspezifische Leistungen, sondern tragen auch zu übergreifenden Leistungen der Gemeinwohlorientierung und Legitimation bei. Diese legitimierende Funktion können zivilgesellschaftliche Akteure jedoch nur wahrnehmen, wenn sie freien Zugang zu den deliberativen Arenen erhalten. Der Fokus liegt damit auf den Kommunikationsbedingungen und Verfahren zur Meinungs- und Willensbildung, die ihre Legitimation durch den spezifisch diskursiven Charakter institutionalisierter politischer Interaktionen erhalten. Das demokratische Verfahren zieht somit »seine legitimierende Kraft nicht mehr nur, und nicht einmal in erster Linie, aus Partizipation und Willensäußerung, sondern aus der allgemeinen Zugänglichkeit eines deliberativen Prozesses, dessen Beschaffenheit die Erwartung auf rational akzeptable Ergebnisse begründet« (Habermas 1998 : 166). Es wird angenommen, dass durch die auf breiter Basis geschaffenen deliberativen Kommunikationsbedingungen vernünftige und auf verallgemeinerbaren Gründen basierende Ergebnisse erzielt werden. Institutionalisierte Regulierungen werden hier als notwendige Bedingung dafür gesehen, dass die anspruchsvollen Kommunikationsbedingungen deliberativer Verfahren implementiert werden können. Dies geschieht sowohl in »institutionalisierten Formen der Beratungen in parlamentarischen Körperschaften sowie andererseits im Kommunikationsnetz politischer Öffentlichkeiten« (Habermas 1992 : 23). Somit vollzieht sich die Meinungs- und Willensbildung über gesamtgesellschaftlich relevante Themen und regulierungsbedürftige Materien in Arenen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der auf gesellschaftlich verbindliche Beschlussfassung ausgerichteten Körperschaften stattfinden. Vor allem die öffentlichen Arenen sind auf internationaler Ebene bedeutsam, da auf parlamentarische Legitimation nicht zurückgegriffen werden kann. (e) Funktion von Öffentlichkeit bei der Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure (UV 5 ): In den unterschiedlichen Modellen spielt Öffentlichkeit ganz unterschiedliche Rollen. Werden zivilgesellschaftliche Akteure nur fallweise und aufgrund ihrer Ressourcen einbezogen, um die Qualität der Entscheidungsprozesse zu verbessern, so hat Öffentlichkeit bei der Entscheidungsfindung lediglich einen untergeordneten Stellenwert. Trenz (2005 : 67) nennt diesen Typ »Regieren mit Zivilgesellschaft und ohne Öffentlichkeit«, das als kooperatives oder Netzwerkregieren in Erscheinung tritt. <?page no="217"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 218 218 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz Genau genommen treten in diesem Modell die Entscheidungsakteure und Vertreter von Betroffenen in unmittelbare Verhandlungsbeziehungen und können auf die Vermittlungsleistungen der Öffentlichkeit weitgehend verzichten: »Die Einheit zwischen Regieren, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft löst sich auf zugunsten einer fortschreitenden Differenzierung, die zwar noch organisierte Zivilgesellschaften(en) als potentielle Partner funktionaler Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse anerkennt, sich dabei aber von kommunikativen oder gar massenmedialen Vermittlungsprozessen zum Publikum zunehmend loslöst« (Trenz 2005 : 67 f.). Öffentlichkeit wird indes allenfalls durch die Informationsweitergabe an zivilgesellschaftliche Akteure durch politische Akteure hergestellt. Hierbei wird Öffentlichkeit jedoch strategisch genutzt, um Unterstützung für getroffene Entscheidungen zu mobilisieren. Zivilgesellschaftlichen Akteuren kommt dabei die bereits angesprochene Rolle eines Transmissionsriemens zwischen der politischen Entscheidungsebene und der Öffentlichkeit zu. Beruht die Einbindung auf deliberativen Verfahren, ist die Öffentlichkeit dieser Kommunikationsprozesse dagegen zentraler Bestandteil der Legitimation. 117 Die Voraussetzung für Öffentlichkeit ist kein über geteilte Werte vermitteltes Kollektiv oder eine Gemeinschaft, sondern die kooperativen Anstrengungen all derjenigen, die über gemeinsame Probleme und die Folgen von Handlungen miteinander verbunden sind (vgl. Schmalz-Bruns 2002a: 277). 118 Für die vorliegende Analyse verweist das zum einen darauf, dass das Interaktionsmuster der Akteure in öffentlichen Foren für diesen Typ konstitutiv ist und die Kompetenzen solcher Foren auf Dauer gewährt sein müssen, um Erfahrungen wirksam werden zu lassen. Öffentlichkeit muss damit nicht per se eine einheitlich gestaltete Öffentlichkeit sein, sondern kann sich in multiple Teilöffentlichkeiten ausdifferenzieren. Problemspezifische und sektorale Kommunikationsräume als funktionale Teilöffentlichkeiten können sich entweder »von unten« als Netzwerköffentlichkeit transnational vernetzter Interessen konstituieren oder »von oben« konstituiert werden (vgl. z. B. Eder/ Hellmann/ Trenz 1998). Die so entstehenden Problemlösungsgemeinschaften sind nicht streng voneinander abgegrenzt, sondern stellen Teilöffentlichkeiten eines sich überlappenden Verbundsystems dar. 119 In 117 Öffentlichkeit determiniert zum einen die prozeduralen Vorgaben der Deliberation und bestimmt zum anderen den Typus von »akzeptablen Gründen, denn nur solche Gründe werden akzeptiert, die alle Beteiligten sich reziprok-allgemein zumuten können und deren Akzeptanz deshalb auch unter moralischen Gesichtspunkten erwartet werden darf« (Schmalz-Bruns 2002a: 277). 118 Dabei spielen Erfahrungen gemeinschaftlicher Kooperation eine wichtige Rolle, wie Schmalz-Bruns (2002a: 281-284) mit Rekurs auf Dewey ausführlich diskutiert. 119 Die theoretisch-konzeptionelle Erarbeitung des Zusammenhangs zwischen Öffentlichkeit und der organisierten Zivilgesellschaft geschieht durch die Auseinandersetzung mit dem konstatierten europäwww.claudia-wild.de: <?page no="218"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 219 7.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 219 der Literatur wird zudem in strong und weak oder general publics (Fraser 1992; vgl. Eriksen/ Fossum 2002) unterschieden. Als starke Öffentlichkeit wird dabei jene bezeichnet, die Diskurse sowohl in der Phase der Meinungsbildung wie auch Entscheidung einbezieht. Schwache Öffentlichkeiten sind dagegen in keinerlei Entscheidungsfindung eingebunden (Fraser 1992 : 134). Eriksen/ Fossum stellen drei Kriterien auf, um starke Öffentlichkeiten zu identifizieren, die auch hier als Indikatoren gelten sollen: (1) die Existenz institutionalisierter Foren für die Diskussion von gemeinsamen Problemlagen und gemeinsamer Entscheidungen; (2) dass der Entscheidungsfindung deliberative Interaktionen vorausgehen und Entscheidungen durch das Geben von Gründen gerechtfertigt werden; und (3) die Zurechenbarkeit der Entscheidung, so dass potenziell die von einer Entscheidung Betroffenen eine Einspruchsmöglichkeit haben und Entscheider zur Rechenschaft gezogen werden können (Eriksen/ Fossum 2002 : 406). Insgesamt lassen sich zwei Idealtypen anhand der unterschiedlichen Ausprägung dieser als unabhängige Variablen operationalisierten Merkmale unterscheiden: zum einen ein selektives Konsultationsmodell und zum anderen ein prozedurales Kommunikationsmodell. 120 Sie stellen somit Idealtypen dar, die sich aus einer aggregierten Kombination spezifischer Ausprägungen der fünf Dimensionen ergeben. Die Modelle werden in Tabelle 11 zusammenfassend dargestellt. Im selektiven Konsultationsmodell wird ad hoc und selektiv über den Zugang zivilgesellschaftlicher Akteure zur Politikgestaltung entschieden. Der vorherrschende Steuerungsmechanismus ist die hoheitliche Steuerung unter selektivem Einbezug gesellschaftlicher Kräfte (vgl. Kohler-Koch/ Knodt 1999). Zivilgesellschaftliche Akteure sind für die Mitgliedstaaten und EU-Institutionen nur aufgrund ihrer Ressourcen- - wie etwa Expertise- - interessant. Ihr Einbeziehen soll die Qualität von Sachentscheidungen erhöhen und die Implementation von Politikinhalten erleichtern helfen. Zudem sollen zivilgesellschaftliche Akteure als Transmissionsriemen in die Öffentlichkeit hineinwirken und dort für Unterstützung der getroffenen politiischen Öffentlichkeitsdefizit. Durch die Auseinandersetzung mit der europäischen Öffentlichkeit stellt Trenz die Bedingungen heraus, unter denen die Zivilgesellschaft zur Öffentlichkeit beitragen kann. Die Defizite in der EU sind dabei dadurch gekennzeichnet, dass erstens statt spontaner Selbstorganisation häufig die Fremdorganisation durch politische Institutionen auf der Suche nach potenziellen Partnern und Verbündeten zu beobachten sei. Zweitens ließen sich statt einer lauten Protestkultur eher ein stiller Lobbyismus und eine erhöhte Kooperationsbereitschaft der beteiligten Organisationen feststellen. Drittens fördere die EU eher die Herausbildung eines supranational geschlossenen Handlungsfeldes, dem es an der vertikalen Vernetzung und an der Vermittlung von Inhalten mit den Initiativen vor Ort mangele. Dies zeige, dass die organisierte europäische Zivilgesellschaft nicht bereits die Lösung des Öffentlichkeitsdefizits der Europäischen Union darstellen könne, sondern sich vielmehr selbst um die Herstellung einer europäischen Öffentlichkeit bemühen müsse (Trenz 2003). 120 Für die ausführliche deduktive Herleitung der Idealtypen vgl. Knodt 2005, Kapitel 4.1. <?page no="219"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 220 220 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz schen Entscheidungen werben. Öffentlichkeit ist dabei der Ort der Mobilisierung von Unterstützung für Entscheidungen auf mitgliedstaatlicher oder der EU-Ebene (Knodt 2005 : 131). Im prozeduralen Kommunikationsmodell dagegen erfahren zivilgesellschaftliche Akteure eine breite Einbindung in politische Entscheidungsprozesse. Dieses Modell zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass Einbindung verrechtlicht wurde und somit ein institutionalisierter Zugang zu Entscheidungsprozessen existiert. Hoheitliche Steuerung ist daher stark mit gesellschaftlicher Steuerung gekoppelt. Der Umgang der politischen und gesellschaftlichen Akteure miteinander ist durch eine verständigungsorientierte Interaktionsweise geprägt und zivilgesellschaftliche Akteure werden als Sachwalter legitimer Interessen gesehen. Besonderer Wert wird dabei auf integrative Foren des Austauschs von Argumenten gelegt, die sich durch ihren offe- Tabelle 11: Idealtypen zivilgesellschaftlicher Einbindung Dimensionen der Einbindungstypen Selektives Konsultationsmodell Prozedurales Kommunikationsmodell Zugang (UV 1 ) fallweise und selektiv; abhängig von Expertise der Akteure, Qualität der Information institutionalisierte Einbindungsrechte; kaum selektiv; Repräsentativität der Akteure ist zu gewährleisten Steuerungsmechanismen (UV 2 ) hoheitliche Steuerung unter selektivem Einbezug gesellschaftlicher Kräfte Kopplung von hoheitlicher und gesellschaftlicher Steuerung Konzept zivilgesellschaftlicher Akteure (UV 3 ) mit bestimmten Ressourcen und Qualitäten ausgestattete »holder« verständigungsorientierte Sachwalter legitimer Interessen Funktionen zivilgesellschaftlicher Akteure (UV 4 ) Sachbereichsspezifische Leistungen: Verbesserung der Qualität der Entscheidungen; Übernahme operativer Funktionen (unter anderem Implementation, Transmissionsriemen in die Öffentlichkeit) Sachbereichsspezifische und übergreifende Leistungen: Beitrag zur Gemeinwohlorientierung und zur Legitimation durch Zugänglichkeit des deliberativen Prozesses Funktion von Öffentlichkeit (UV 5 ) Ort der Mobilisierung von Unterstützung für Entscheidungen deliberative Kommunikation in autonomen Öffentlichkeiten zum Austausch von Begründungen Quelle: eigene Darstellung <?page no="220"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 221 7.3 Erklärung aus Sicht des zivilgesellschaftstheoretischen Ansatzes 221 nen und deliberativen Charakter auszeichnen. Man geht davon aus, dass dadurch Gemeinwohl erzeugt sowie die Qualität der Sachentscheidung verbessert wird. Als übergreifende Leistung dieser Prozedere wird die Legitimität der Entscheidung erhöht. Öffentlichkeit gilt als Ort deliberativer Kommunikation zum öffentlichen Austausch von Begründungen. Damit lehnt sich dieser Idealtyp eng an die in der Demokratietheorie formulierten Kriterien für politische Entscheidungen in deliberativen Foren an (vgl. Habermas 1998, Schmalz-Bruns 2002a und 2002b, Trenz 2005) und kann die in der Diskussion um das Demokratiedefizit in der EU geforderte fehlende Legitimierung des Systems zumindest teilweise abbauen helfen. Wenn die oben beschriebenen Dimensionen als unabhängige Variablen zur Erklärung der Legitimität der EU-Politik dienen, lässt sich von folgenden hypothetischen Zusammenhängen- - vorliegend als These und Antithese formuliert- - zwischen den auf Grundlage spezifischer Ausprägungen der fünf Dimensionen aggregierten Einbindungstypen und einem Legitimationsgewinn der EU ausgehen: H 1 : Eine Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure erhöht die Legitimität der Europäischen Union, wenn sie sich eher am Typ des prozeduralen Kommunikationsmodells orientiert. H 2 : Hingegen erhöht eine Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure die Legitimität der Europäischen Union nicht, wenn sie sich eher am Typ des selektiven Konsultationsmodells orientiert. Im Folgenden wird die empirische Realität der Einbindungsstrategien der EU in der Strukturfondsförderung anhand der hier entwickelten Typen analysiert. 7.3 Zivilgesellschaftstheoretische Erklärung von Partizipationseffekten in der Strukturfondsförderung Zuerst muss geklärt werden, an welcher Stelle der Strukturfondsförderung zivilgesellschaftliche Partizipation zu erwarten ist. Es gibt zwei Ansatzpunkte zur Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure: Zum einen erfolgt Lobbying (im weitesten Sinne) zivilgesellschaftlicher Akteure bei der Reform der Strukturfondsförderung. Zum anderen findet sich die Partizipation zivilgesellschaftlicher Akteure in der Programmplanung und Implementation der Förderung. In diesem Kapitel soll die zweite Form der Beteiligung untersucht werden- - mithilfe eines Blicks auf den Ablauf des Förderprozesses. Wie bereits dargelegt, hat sich die Strukturfondsförderung von einer mitgliedstaatlich dominierten Förderung über die Reform von 1988 hin zu einem sich über mehrere Ebenen erstreckenden Verhandlungssystem unter Beteiligung gesellschaftlicher Akteure (das <?page no="221"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 222 222 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz Partnerschaftsprinzip, siehe unten) entwickelt. Da die Umsetzung des Partnerschaftsprinzips in den Mitgliedstaaten unterschiedlich gestaltet ist und es selbst regionale Unterschiede in einzelnen Mitgliedstaaten gibt, kann keine allgemein gültige Aussage für die EU getroffen werden. Dies wird sogar in den Verordnungen anerkannt. So heißt es in Art. 11 der Verordnung für die Förderperiode 2007 bis 2013: »Jeder Mitgliedstaat organisiert gegebenenfalls im Rahmen seiner geltenden Regelungen und seiner Gepflogenheiten eine Partnerschaft mit Behörden und Stellen« (Rat 2006). Die offiziellen Verhandlungen über die Programmplanung erfolgen in der deutschen Strukturfondsförderung grundsätzlich über die zuständigen Bundesministerien, die allerdings nur als Vermittler im Auftrag der Bundesländer fungieren. Die eigentliche Planung und Erstellung der Förderkonzepte liegt bei den entsprechenden Ministerien der Länder. Dort hat je nach Zuständigkeit-- für den Sozialfonds ist das meist das Sozialministerium und für den Regionalfonds das Wirtschaftsministerium- - ein Ministerium die Federführung bei der Planung und Implementation, weitere inhaltlich betroffene Ministerien werden eingebunden (vgl. Knodt 1998: Kapitel 5.4). Der Ablauf der Programmplanung hat sich im Zuge der Reformen verändert, die zu erstellenden Dokumente haben ihre Bezeichnung geändert und wurden zum Teil zusammengefasst. Die inhaltliche Arbeit jedoch ist in etwa gleich geblieben. An dieser Stelle greift seit der Reform 1988 das mit jeder neuen Förderperiode ausgeweitete Partnerschaftsprinzip. Waren es zunächst nur die regionalen staatlichen Akteure, die in der 1988er Reform im Partnerschaftsprinzip erfasst wurden, so kamen mit der Reform von 1993 die Wirtschafts- und Sozialpartner dazu. Die Reform von 1999 erweiterte den Kreis der zu beteiligenden Akteure dann um solche, die etwa in den Bereichen Umweltschutz und Chancengleichheit engagiert sind. Die aktuellste Reform für den Förderzeitraum 2007 bis 2013 führt explizit die »Zivilgesellschaft, die Partner des Umweltbereichs, Nichtregierungsorganisationen sowie Einrichtungen zur Förderung der Gleichstellung von Männern und Frauen« (Rat 2006) auf. Die Landesverwaltung muss in Zusammenarbeit mit den Kommunen, Landkreisen, Wirtschafts- und Sozialpartnern- - sprich Gewerkschaften, Verbänden, Unternehmen, unterschiedlichen Kammern- - sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren gemeinsam die Programmplanung erarbeiten, wie in Grafik 19 schematisch dargestellt. Die Art der Einbindung in die Planung gestaltet sich wie angedeutet in den deutschen Ländern durchaus verschieden. So ist zwar der Ort der Partizipation durch das Prozedere vorgegeben, dessen Ausgestaltung jedoch nicht. Die Ministerien arbeiten in manchen deutschen Ländern in Zusammenarbeit mit privaten Consultants, die für die Ministerien die Organisation der Programmplanung übernehmen. In anderen Ländern sind bereits existierende Landeseinrichtungen oder etwa das Ministerium selbst zuständig. <?page no="222"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 223 7.3 Erklärung aus Sicht des zivilgesellschaftstheoretischen Ansatzes 223 Die gleichen privaten Akteure sind darüber hinaus in der Besetzung der Begleitausschüsse angesprochen, die den gesamten Prozess der Programmplanung und dann der späteren Implementation begleiten und überwachen sollen. Zum Teil sind private Akteure auch in der Implementation bei der Auswahl der zu fördernden Einzelprojekte beteiligt. Im Folgenden steht jedoch die Programmplanung im Vordergrund. Es stellt sich nun die Frage, wie diese Einbindung nach den oben erarbeiteten Kriterien einzuschätzen ist. Um dem Problem der Varianz in den Ländern Rechnung zu tragen, skizzieren wir drei sich deutlich voneinander unterscheidende Vorgehensweisen in den Ländern Berlin, Niedersachsen und Baden-Württemberg. Allerdings wird im Fall Berlin auch eine Veränderung in den unterschiedlichen Förderperioden deutlich, die hier jeweils mitskizziert wird. Insgesamt gleich angelegt ist der von der Kommission vorgegebene Zugang zur europäischen Politik, so wie er oben bereits dargestellt wurde. Dieser ist institutionalisiert und auf Dauer angelegt, so dass hier der Indikator auf das prozedurale Kommunikationsmodell hinweist. Bundesministerien Landesministerien Kommission Kreise + Gemeinden Kammern (IHK, HK, LK) Gewerkschaften, Verbände Unternehmen sonstige zivilgesell. Akteure delegiert Koordinationsfunktion zur Porgrammplanung Einbindung gegenseitige Information und Konsultation Partner Quelle: Knodt 1998 : 199, bearbeitet Grafik 19: Allgemeines Ablaufschema der Programmplanung <?page no="223"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 224 224 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz Die detaillierte Ausgestaltung dieser Einbindung stellt sich jedoch in den deutschen Ländern zum Teil stark unterschiedlich dar, auch wenn in einigen Punkten Gemeinsamkeiten zu finden sind. Mit Blick auf die Steuerungsmechanismen der Programmplanung hat in Niedersachsen jeweils ein Ministerium die Federführung übernommen. Dieses lädt Vertreter der anderen beteiligten Ministerien zu Arbeitsgesprächen bzw. nicht-institutionalisierten Arbeitsgruppen ein. In Niedersachsen ist das Wirtschaftsministerium zuständig für Ziel-2-Maßnahmen und das Landwirtschaftsministerium für die Ziel-5b-Förderung. Die Einbindung anderer, durch die fondsübergreifende Gestaltung der europäischen Strukturpolitik betroffener Ministerien wird durch den integrativen Ansatz der EU-Strukturfondsförderung gefordert. Dieser dient allgemein dazu, politikfeldübergreifend Maßnahmen zu verwirklichen. In der konkreten Programmplanung werden die »beteiligten Ministerien« ad hoc zur Abstimmung von Detailfragen und zur Informationsbeschaffung einbezogen. Eine gemeinsame Planung, so wie von der EU angedacht, findet in keinem Fall statt; die Planung wird stets von dem federführenden Ministerium alleine durchgeführt. Wenn es zur Koordination kommt, so hauptsächlich aufgrund der betroffenen unterschiedlichen Finanztöpfe und der nötigen Abstimmung in diesem Bereich, oder zur Mithilfe in Spezialbereichen. Dies geschieht etwa bei der Ziel-2-Planung des Wirtschaftsministeriums und der Mitarbeit des Wissenschaftsministeriums zur Planung der Kooperationen im Bereich der Fachhochschulen, Universitäten, etc. im Bereich Forschung und Entwicklung der Ziel-2-Förderung. Was hier zu Tage tritt, ist der bekannte Ressortpartikularismus der bundesdeutschen Länderadministrationen-- gleiches gilt auch für die Bundesebene. Da in den Ministerien die Mittel aus Brüssel den Finanzressourcen des jeweils führenden Ministeriums zugeschlagen und somit als »eigen« definiert werden, sollen andere Ministerien darauf-- vor allem auch in Hinblick auf zukünftige Zuweisungen-- keinen Zugriff haben. Der Gedanke einer »gemeinsamen« Planung im Sinne eines gemeinsam zu erarbeitenden Konzepts zum Erzielen von Synergieeffekten hielt an diesem Punkt kaum Einzug in das Verwaltungsdenken. Dieser Ressortpartikularismus und die dadurch bedingte Vorgehensweise der Federführung sind allen deutschen Ländern bei der Programmplanung gemein. In Niedersachsen wurde die Zuarbeit in der ersten Förderperiode nach der Reform an die Bezirksregierungen delegiert, das endgültige Programm dann im Ministerium zusammengestellt und geschrieben. Doch nicht jede Bezirksregierung war in Zusammenarbeit mit den Städten und Kommunen dazu in der Lage, so dass es zum Einsatz von privaten Consultants kam. Dabei verpflichtete man im Bezirk Weser-Ems zur Lösung des Problems ein Consultant-Büro, die Mcon GmbH in Oldenburg: »Dem Consultant wurde die aktive Einbeziehung der Kreise, Gemeinden und Sozialpartner sowie die Verfassung des Programmdokuments nach Vorgaben des Ministeriums übertragen. Mcon schrieb die in Frage kommenden Gemeinden und <?page no="224"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 225 7.3 Erklärung aus Sicht des zivilgesellschaftstheoretischen Ansatzes 225 Kreise an und bat um Stellungnahme, Interessensbekundung und Vorschläge einer Beteiligung. In bezug auf die Einbeziehung der Sozialpartner waren die ›wichtigsten wie die Gewerkschaften, die Landwirtschaftskammern und der Bauernverband angeschrieben worden, mit der Bitte auch als Multiplikator zu wirken und ihrerseits Verbände anzusprechen‹« (Knodt 1998 : 197). Die privaten und damit auch die zivilgesellschaftlichen Akteure konnten hier eine gleichwertige Rolle spielen. Allerdings hat sich der Gedanke der Partnerschaft in Niedersachsen erst langsam durchgesetzt. Endete Partnerschaft für die Landesverwaltung meist auf der Landesebene, so zeichnete sich in der ersten Förderperiode ein Umdenken ab, das zu konkreten Änderungen in den Planungsabläufen führte. Zuvor trat die Landesadministration zwar vehement für die Mitsprache der Länder in der EU-Strukturfondsförderung ein, eine Weitergabe von verantwortlichen Mitgestaltungsrechten an die Bezirksregierungen und Kommunen war für sie darin jedoch zunächst nicht enthalten. Im Fall der Einbindung der Sozialpartner bereitete die Umsetzung des Partnerschaftsgedankens dagegen während der ersten Förderperiode noch erhebliche Schwierigkeiten. In der zweiten Förderperiode wurde dem Consultant Mcon die aktive Einbeziehung der Kreise, Gemeinden und Sozialpartner sowie die Verfassung des Programmdokuments nach Vorgaben des Ministeriums übertragen. Mcon schrieb die in Frage kommenden Gemeinden und Kreise an und bat um Stellungnahme, Interessensbekundung und Vorschläge einer Beteiligung. In Bezug auf die Einbeziehung der Sozialpartner waren die »wichtigsten wie die Gewerkschaften, die Landwirtschaftskammern und der Bauernverband angeschrieben worden, mit der Bitte auch als Multiplikator zu wirken und ihrerseits Verbände anzusprechen« (Interview 12.12.1995f, Knodt 1998). Die Diskussion der Programmplanung geschah am Runden Tisch mit den Beteiligten. Der erst mit der Revision 1993 in die Strukturfondsförderung integrierte Ansatz der Einbeziehung der Sozialpartner hatte sich zum Ende der zweiten Förderperiode noch nicht in systematischer Art und Weise durchgesetzt. Durch die Auslagerung der Planungsaufgaben an einen Mittler entstand in Niedersachsen ein informelles Netzwerk, das stark durch den privaten Akteur Mcon geprägt war (Knodt 1998 : 202 f.). Demgegenüber lässt sich in Berlin in den 1990er Jahren eine stark hierarchische Steuerung erkennen. Die Vorschläge für die Programmplanung-- sowohl des regionalen Entwicklungsplans als auch des »Operativen Programms«-- wurden hier von den zuständigen Fachreferaten stark vorstrukturiert und von der Senatsverwaltung für Wirtschaft unter Berücksichtigung eingeholter Gutachten den Berliner Bezirken als Repräsentanten der lokalen Ebene sowie den zivilgesellschaftlichen Akteuren in einem weit fortgeschrittenen Entwurf vorgelegt (Lang 2005 : 165). Für die Förderperiode 2000 bis 2006 jedoch lassen sich auch in Berlin Veränderungen feststellen. Für den dann zu erstellenden Regionalentwicklungsplan schrieben die Senatsverwaltungen für Wirtschaft und für Arbeit diesmal nur kurze Skizzen für das künftige Programm, die <?page no="225"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 226 226 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz im Dezember 1998 von rund 150 öffentlichen und privaten Akteuren-- sowohl beteiligte Verwaltungseinheiten, intermediäre Organisationen, Kammern, Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbände als auch Organisationen des Dritten Sektors-- auf einer öffentlichen Konferenz diskutiert wurden. Auch die Erarbeitung der Operationellen Programme geschah in Zusammenarbeit mit interessierten Akteuren aus dieser Gruppe (Lang 2005 : 168 f.). Ganz anders stellte sich hingegen die Situation in Baden-Württemberg dar: In der Phase der Programmplanung lud das Ministerium für den Ländlichen Raum bereits relativ früh Landkreisvertreter zu einem ersten Gespräch ein, um sie über die Ziel- 5b-Förderung zu informieren und sich selbst ein Bild über die »Stimmung vor Ort« zu machen (Interview 6.3.1996, Knodt 1998). Durch die Ausweitung der Fördergebiete bestand ein erheblicher Informationsbedarf bei den bisher nicht von der Strukturfondsförderung betroffenen Gebietskörperschaften. Diese wurden »mit dem Auftrag entlassen« (ebd.), zusammen mit den potentiellen Maßnahmenträgern-- insbesondere waren hier die Landwirtschaftsverbände angesprochen- - Ideen zu entwickeln und Vorschläge für das spätere »Einheitliche Programmplanungsdokument« zu erarbeiten. In einem zweiten Treffen in Form eines Runden Tisches wurden neben den Landkreisen auch alle anderen potentiellen Maßnahmenträger sowie die späteren Bewilligungsbehörden und die Landesanstalt für Entwicklung der Landwirtschaft und der ländlichen Räume (LEL) eingeladen. Diese zweite Runde mit allen potentiellen Antragstellern veranstaltete das Ministerium, um zu verhindern, dass die Erwartungshaltung der späteren Antragsteller auf ein unrealistisches Maß anstieg: »An dieser Stelle gab es einen Klärungsbedarf, der den unterschiedlichen Interessenten, und wenn man so will Konkurrenten, klar machte, was mit welchen Töpfen finanzierbar ist und was nicht« (ebd.). Für die konkrete Erstellung des Einheitlichen Programmplanungsdokuments bündelte das Ministerium die betroffenen Landkreise nach den drei Fördergebieten. In jedem zusammenhängenden Fördergebiet wurde ein Landratsamt mit der Federführung der Planung betraut. Die drei federführenden Landratsämter formulierten in Zusammenarbeit mit den betroffenen Kreisen, Gemeinden und privaten Akteure vor Ort ihre Zielvorstellungen für das zu erstellende Planungsdokument für ihren Teil des Ziel-5b-Fördergebietes. Diese dienten dann als Grundlage für die Erstellung des Einheitlichen Programmplanungsdokuments. Die LEL spielte in Baden-Württemberg dabei eine ähnliche Rolle wie die Mcon in Niedersachsen. Vor allem beriet sie das Ministerium bei der Programmplanung für den allgemeinen Teil und half bei der Erstellung des Einheitlichen Programmplanungsdokuments. Ihr kam wie der Mcon eine Koordinierungsrolle zu, in der ihr das Ministerium »freie Hand gelassen hat« (Interview 6.3.1996, Knodt 1998). Während die Mcon jedoch in direktem Kontakt mit den Kommunen und Kreisen unter anderem die Programmplanung durchführte, stand die LEL nicht in direktem Kontakt zu den Maßnahmenträgern, sondern koordinierte die bereits durch die Kreise aggregierten Vorschläge. Der direkte Kontakt der späteren Antragsteller lief dagegen hauptwww.claudia-wild.de: <?page no="226"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 227 7.3 Erklärung aus Sicht des zivilgesellschaftstheoretischen Ansatzes 227 sächlich über die Landkreise oder durch den Runden Tisch beim Ministerium zu Beginn der Planung. Sie übernahm dabei keine ähnlich zentrale Funktion der Koordination wie der niedersächsische Consultant. Die LEL ist im Gegensatz zur Mcon zudem keine private Gesellschaft, sondern eine nachgeordnete Landesbehörde. In der Implementationsphase respektive bei der Bewilligung der Mittel besitzt die LEL keinerlei Zuständigkeiten. Im Gegensatz zu Niedersachsen stand darüber hinaus auch kein erfahrenes Beratungsunternehmen zur Verfügung, das wie die Mcon bereits Routine in der Planung europäischer Förderung ausgebildet hatte, wesentlich vertrauter mit den Prinzipien und Anforderungen der Strukturfondsförderung war und direkte Kontakte in die Kommission besaß. Private Beratungsunternehmen wurden in keinem Fall in der baden-württembergischen Planungsphase eingesetzt, auch nicht auf subregionaler Ebene. Eine breite Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure fand ebenfalls nicht statt- - hier zeigt sich die stark hierarchische Steuerung, die Baden- Württemberg in vielen Gebieten zu eigen ist (Knodt 1998 : 206 f.). Diese Unterschiede lassen sich auch in der Konzeption zivilgesellschaftlicher Akteure festmachen. Sie wurden in Niedersachsen innerhalb eines epistemischen Vermittlungsmodus als eigenständige und vernunftbegabte Akteure wahrgenommen. Vor allem in der über den Consultant vermittelten Programmplanung zeigte sich die Anerkennung der zivilgesellschaftlichen Akteure als gleichberechtigte Kooperationspartner bei der Erstellung der Konzepte zur Programmplanung. Die Landesregierung selbst gab sich etwas skeptischer, akzeptierte aber letztlich die Umsetzung des Partnerschaftsprinzips durch den privaten Vermittler. In der Regierung herrschte lange Zeit die Meinung vor, dass Verbände, Kammern und Gewerkschaften ohnehin nicht an der EU-Förderung interessiert seien (Interviews 12.12.1995f/ 14.12.1995a-e, Knodt 1998). Insgesamt wurde auf Ebene der Landesministerien deutlich, dass die Interpretation der beiden Prinzipien »Partnerschaft« und »Subsidiarität« für viele der Verwaltungsbeamten noch Mitte der 1990er Jahre kollidierten. So wurden die Partnerschaftsanforderungen der EU zwar ansatzweise erfüllt, für die meisten Landesbeamten endete Partnerschaft allerdings im Grunde genommen auf der Landesebene (Knodt 1998 : 203). In Berlin hingegen wurden sie im voluntaristischen Modus als holder spezifischer Interessen konzipiert, deren Fähigkeiten und Ressourcen man im Prozess zum Teil anzweifelte: »Der Entwurf des Landes für das Berliner OP wurde auf Grundlage des Beitrags zum REP […] formuliert. Allerdings wurden […] Kammern, Gewerkschaften, Unternehmensverband und Bezirksbürgermeister um Stellungnahmen gebeten. Nach Einschätzung aller Beteiligten war diese Konsultation allerdings nicht effektiv, weil seitens der Verwaltung weder Zeit noch Bereitschaft für Änderungen am Entwurf bestanden und zugleich die Konsultierten kaum Ressourcen und Fähigkeiten für qualifizierte Stellungnahmen hatten« (Lang 2005 : 165). <?page no="227"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 228 228 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz Allerdings ergaben sich dabei auch Veränderungen durch die oben beschriebene Abänderung des Steuerungsmodus in der Förderperiode 2000 bis 2006 hin zu einem eher epistemischen Vermittlungsmodus. In der Auswahl der zivilgesellschaftlichen Akteure, die zur Programmplanung eingeladen wurden, zeigte sich bereits die Haltung zur Konzeption zivilgesellschaftlicher Akteure in Baden-Württemberg. Die öffentlichen Akteure wurden angehalten, vor allem die Landwirtschaftsverbände zu kontaktieren. Von ihnen versprach man sich die hilfreichsten Informationen über notwendige Maßnahmen im Rahmen der Strukturfondsförderung. Somit befand sich Baden-Württemberg in der Konzeption im voluntaristischen Modus und sah zivilgesellschaftliche Akteure als holder spezifischer Interessen an. In Bezug auf die Funktion und Leistung im Prozess sind keine Unterschiede feststellbar, sie sollten immer sachbereichsspezifische Leistungen erbringen. In Bezug auf die Funktion der Öffentlichkeit gab es Unterschiede: In Niedersachsen, wo die etablierte Teilöffentlichkeit durch den Diskurs zu ihren Vorschlägen gelangte, kann der Öffentlichkeit zumindest teilweise ein deliberativer Charakter zugeschrieben werden, auch wenn die Vorschläge dann noch vom Landesministerium entschieden werden mussten. Zumindest gilt dies für die vom privaten Consultant Mcon durchgeführten Runden Tische. Im Fall Berlins dagegen spielte der Diskurs über die Dokumente in der entsprechenden Teilöffentlichkeit keine Rolle. Auch in Baden-Württemberg kam dem öffentlichen Diskurs in der Programmplanung keine besondere Bedeutung zu. Hier sollten vor allem zukünftige potentielle Maßnahmenträger-- vor allem jedoch Akteure der öffentlichen Seite-- eingebunden werden. Tatsächliche Entscheidungskompetenzen wurden den beteiligten Akteuren allerdings in keinem Fall übertragen. 7.4 Fazit Dieses Kapitel analysierte die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure in die Regionalpolitik der EU. Die Frage lautete, ob die EU durch die Einbindung dieser Akteure in die Regionalpolitik einen Zuwachs an demokratischer Legitimität verzeichnen kann. Um dies zu beantworten, wurden zwei Idealtypen der Einbindung entwickelt, wobei die Orientierung am prozeduralen Kommunikationsmodell in Einklang mit der zugrunde liegenden These Legitimationsgewinne verspricht. Verglichen wurden beispielhaft drei deutsche Länder. In Tabelle 12 sind die Ergebnisse der empirischen Analyse hinsichtlich der Bewertung der einzelnen Dimensionen der Typen in den drei untersuchten Regionen dargestellt. <?page no="228"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 229 7.4 Fazit 229 Ordnet man nun den Ländern und basierend auf den gewählten Indikatoren die jeweiligen Typen zu, kommt man zu folgendem Ergebnis: Auch wenn in Niedersachsen noch Defizite zu erkennen sind, entspricht das Bundesland eher dem Typ des prozeduralen Kommunikationsmodells, so dass in diesem Fall eher legitimationserhöhende Effekte für die Planung und Implementation der Strukturfondsförderung festzustellen sind. Berlin hingegen ähnelt eher noch dem selektiven Konsultationsmodell, allerdings mit Tendenzen hin zum Kommunikationsmodell. Generalisierbare Aussagen zur regionalen Einordnung von Einbindungstypen können aus diesen beiden Fallbeispielen nicht gezogen werden. Baden-Württemberg befindet sich hingegen am anderen Ende einer gedachten Skala, die von »eher dem kommunikativen Typ zugeordnet« (Niedersachsen) bis »dem konsultativen Typ zugeordnet« (Baden-Württemberg) reicht. Um eine Aussage bezüglich der Legitimationseffekte für die EU insge- Tabelle 12: Zivilgesellschaftliche Einbindungstypen im Vergleich Dimensionen der Einbindungstypen Niedersachsen Berlin Baden- Württemberg Zugang Institutionalisierter und offener Zugang Institutionalisierter und eher offener Zugang Institutionalisierter, aber eher selektiver Zugang Steuerungsmechanismen Kopplung von hoheitlicher und gesellschaftlicher Steuerung; kooperativer Modus hoheitliche, hierarchische Steuerung unter selektivem Einbezug gesellschaftlicher Kräfte mit Tendenz zur Kopplung ab 2000 hoheitliche, hierarchische Steuerung unter sehr selektivem Einbezug gesellschaftlicher Kräfte Konzept zivilgesellschaftlicher Akteure verständigungsorientierte Sachwalter legitimer Interessen, epistemischer Vermittlungsmodus mit Ressourcen und Qualitäten ausgestattete holder, eher voluntaristischer Vermittlungsmodus mit Tendenz zum epist. Modus mit Ressourcen und Qualitäten ausgestattete holder, eher voluntaristischer Vermittlungsmodus Funktionen/ Leistung zivilgesellschaftlicher Akteure eher sachbereichsspezifische Leistungen klare sachbereichsspezifische Leistungen klare sachbereichsspezifische Leistungen Funktion von Öffentlichkeit öffentlicher Diskurs zum Austausch von Begründungen öffentlicher Diskurs spielte keine Rolle öffentlicher Diskurs spielte keine Rolle Quelle: eigene Darstellung <?page no="229"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 230 230 7. Zivilgesellschaftstheoretischer Ansatz samt treffen zu können, müsste eine größere Anzahl von regionalen Typen bestimmt werden. Dies lässt sich hier nicht leisten. Von der Analyse des vorliegend betrachteten Ausschnitts eines einzelnen Politikfeldes und der Einbindung auf regionaler Ebene auf Legitimationsgewinne des Gesamtsystems zu schließen, ist indes nicht möglich. An dieser Stelle sollte vielmehr die zugrunde liegende Vorgehensweise exemplarisch dargelegt werden. Aussagen über den inhaltlichen Einfluss einzelner zivilgesellschaftlicher Akteure auf die Programmplanung konnten mit dieser Herangehensweise ebenfalls nicht getroffen werden. Schließlich wurde zwar keine Begründung für die unterschiedlichen Typen der Einbindung angegeben, dies stand in der vorliegend verfolgten Fragestellung allerdings auch nicht im Fokus der Betrachtung. Literatur Abromeit, Heidrun 2002: Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie. Opladen. Albert, Matthias/ Brock, Lothar/ Wolf, Klaus Dieter (Hg.) 2000: Civilizing World Politics: Society and Community beyond the State. Oxford. Altvater, Elmar et al. (Hg.) 2000: Vernetzt und Verstrickt. Nicht-Regierungs-Organisationen als gesellschaftliche Produktivkraft. Münster. 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Dazu wird zunächst in den Theoriestrang des Neo-Gramscianismus eingeführt und besprochen, wie er sich in die integrationstheoretische Landschaft einfügt. Sodann erfolgt die Ableitung von Hypothesen aus einer für uns geeigneten Perspektive auf diesen Ansatz und mit Blick auf die Heranführungshilfen als Teil der EU-Regionalpolitik. Zuletzt wird der vorliegend gewählte Ausschnitt der Regionalpolitik aus theoretischer Sicht erklärt. Dabei gilt es zu beachten, dass sich der Neo-Gramscianismus aufgrund seiner kritischen Herangehensweise vom Großteil der gängigen Theorien und Ansätze wesentlich unterscheidet. Näheres dazu wird im Laufe des Kapitels erläutert. 121 8.1 Die Perspektive des Neo-Gramscianismus Ursprünglich wurde der Neo-Gramscianismus als kritische Perspektive der Internationalen Beziehungen und der Internationalen Politischen Ökonomie entwickelt und erst später auf die EU angewandt. In diesem Zusammenhang geht es Neo-Gramscianisten um die transnationale 122 historische Analyse der europäischen Integration. Dabei nehmen Ansätze dieser an den italienischen Marxisten Antonio Gramsci anknüpfenden Tradition europäische Strukturen und Institutionen im Gegensatz zu anderen Integrationstheorien nicht als gegeben hin, sondern fragen nach den Widersprüchen und Problemkonstellationen, die eben jene Strukturen verursachen. Ähnlich wie im Falle der Europäisierung handelt es sich nicht um eine einheitliche Theorie, sondern vielmehr um eine Sammlung von Versuchen, die europäische Integration mit Bezug auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu betrachten. Dabei besteht das Ziel letztlich in der Entwicklung einer kritischen Theorie der euro- 121 Wir danken Hans-Jürgen Bieling für seine präzisierenden Anmerkungen zur vorliegenden Argumentation und insbesondere für die Hinweise zur Rolle der »passiven Revolution« im vorliegenden Kontext. 122 »Transnational« impliziert im hier zugrunde liegenden Verständnis die Einbeziehung mindestens eines gesellschaftlichen Akteurs über die Grenzen eines einzelnen Staates hinweg. <?page no="235"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 236 236 8. Neo-Gramscianismus päischen Integration. Den meisten Autoren dieser Strömung sind nach Bieling/ Steinhilber (2000 : 13 f.) folgende Grundannahmen gemein: 1. Neo-Gramscianismus analysiert die europäische Integration stets im historischen Kontext und unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft, weil nur so deren Macht- und Kräfteverhältnisse 123 sowie Konflikt- und Kooperationsmuster adäquat erfasst werden können. 2. Europäische Integration erschließt sich neben den Institutionen, Mehrebenen- Strukturen und Politiken stets auch über die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und den damit zusammenhängenden inneren Krisen und der Akkumulation von Kapital. 3. Politische, ökonomische und soziale Strukturen werden als hegemoniale Strukturen aufgefasst, innerhalb derer die nationalen und transnationalen gesellschaftlichen Akteure um die vorherrschende politische Deutung konkurrieren. Der Hegemoniebegriff beschreibt hierbei sowohl die sozioökonomischen Gegebenheiten der als relativ stabil angesehenen gesellschaftlichen Strukturen, zeigt aber zugleich auch innere Widersprüche und Probleme auf, indem die politischen und sozialen Macht- und Kräfteverhältnisse analysiert werden. In diesem Zusammenhang sei ein grundlegender Hinweis zum Verständnis neogramscianischer Analysen genannt: Im Gegensatz zu anderen Integrationstheorien sind neo-gramscianische Ansätze darauf ausgelegt, Prozesse der europäischen Integration kritisch zu hinterfragen, historische Entwicklungen nachzuvollziehen und innere Widersprüche aufzudecken. Sie unterscheiden sich also in ihrer theoretischen Herangehensweise deutlich vom »Mainstream« der gängigen Erklärungsansätze, weil sie nicht innerhalb der bestehenden Strukturen nach Wegen suchen, politikfeldspezifische Problemlösungen anzubieten. Die problemlösungsorientierte Erklärung wird somit durch eine kritische Perspektive ersetzt-- dazu weiter unten mehr. Gramsci war zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Journalist und später als Politiker an der Gründung der Kommunistischen Partei Italiens beteiligt, die im Gegensatz zur faschistischen Bewegung Mussolinis stand. In diesem Zusammenhang entstanden seine in marxistischer Tradition stehenden philosophischen Überlegungen. 124 Sie ent- 123 In neo-gramscianischen Analysen wird dieser Terminus häufig verwendet, zumeist bleibt er jedoch vage und wird nicht präzise definiert. Für die vorliegende Betrachtung erscheint es ausreichend darauf hinzuweisen, dass der Machtbegriff »vor allem auf die Fähigkeit rekurriert, die jeweils partikularen Interessen [einer Klasse, die Verf.] zu ›universalisieren‹« (Scherrer 1998 : 160). Macht verweist also auf das Vermögen von politischen und gesellschaftlichen Akteuren, ihre Interessen zu verallgemeinern. Das Kapital wird dabei als wichtigste Ressource und Ermöglichungsbedingung für solche Verallgemeinerungsbestrebungen angesehen. 124 Hervorzuheben sind insbesondere die »Gefängnishefte«, die während seiner Inhaftierung (allerdings erst 1929) entstanden sind (vgl. Gramsci 1991 ff.). <?page no="236"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 237 8.1 Die Perspektive des Neo-Gramscianismus 237 wickelten sich um ein historisch eingebettetes Konzept von Hegemonie herum, das die Widersprüche der politischen und gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu seiner Zeit aufzeigen sollte (vgl. Bieling 2002 : 441 ff.). Hegemonie bedeutet dabei mehr als nur die politische Vorherrschaft einer spezifischen Elite, sie beinhaltet neben der allgemeinen Akzeptanz einer politischen Ideologie gerade auch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Dabei ist zu beachten, dass Gramscis Konzepte sehr vage und offen bleiben, weshalb ihre Präzisierung und Operationalisierung im Rahmen spezifischer Untersuchungsgegenstände die eigentliche Herausforderung darstellen (vgl. ebd.: 460 f.). Cox hat die wesentlichen Ideen Gramscis auf die Internationalen Beziehungen übertragen und mit seinen Arbeiten »Social Forces, States, and World Orders« (1981) und »Gramsci, Hegemony, and International Relations« (1983) die Grundlage für die heutigen neo-gramscianischen Integrationsansätze geschaffen (als Überblick vgl. Cox/ Sinclair 1996). Vorreiter und wichtige Autoren dieses Ansatzes der europäischen Integration sind zum einen der Cox-Schüler Gill und zum anderen die sogenannte »Amsterdamer Schule« (vgl. van der Pijl 1998, Overbeek 2000, Holman 2001). Vor allem Gill fokussiert sich darauf, zumindest ein grobes analytisches Raster für die historisch eingebettete Analyse der europäischen Integration zu entwickeln, das zugleich den globalen politischen Kontext mit einbezieht. Aus diesem Grund sollen seine Arbeiten (insbesondere Gill 2000, 2001 und 2003) als Grundlage für die theoretische Rekonstruktion dienen. Wie ursprünglich Gramsci geht auch Gill davon aus, dass »the theoretical and practical object of political science is the historical situation« (Gill 2003 : 50). Im Gegensatz zu anderen Theorien der Internationalen Beziehungen und der europäischen Integration wird jegliches ahistorisches Verständnis von Politik verneint. Neo-Gramscianer gehen also davon aus, dass Formen internationaler Politik und supranationaler Integration nur im konkreten historischen Umfeld verstanden werden können und dass von zeitlichen Kontexten unabhängige Voraussagen keine Erklärungskraft besitzen. Um die relevanten Ereignisse eines spezifischen historischen Kontextes erfassen zu können, müssen aber-- so Gill nach Gramsci-- die gesellschaftlichen Macht- und Kräfteverhältnisse berücksichtigt werden. Diese werden auf drei Ebenen untersucht: 1. auf der strukturellen Ebene (d. h. bezüglich der an die institutionelle Struktur gebundenen gesellschaftlichen Kräfte); 2. der politischen Ebene (d. h. bezüglich ökonomischer, solidarischer und hegemonialer Aspekte); 3. sowie der strategischen Ebene (d. h. bezüglich des Verhältnisses zwischen militärischen Kräften). Strukturell betont Gill, dass die Unterschiede zwischen der Situation im neuen Jahrtausend und zu Gramscis Zeiten in den 1930er Jahren darin liegen, dass die heutige Massenarbeitslosigkeit nicht mit den gleichen gesellschaftlichen Verwerfungen einwww.claudia-wild.de: <?page no="237"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 238 238 8. Neo-Gramscianismus hergeht wie noch zu Zeiten der Great Depression. Auch weil inzwischen ein Großteil der Beschäftigten im Dienstleistungssektor und nicht mehr in der Produktion tätig ist und es prozentual betrachtet größere Transferzahlungen gibt, wird heute nicht allgemein von einer gleichartigen Krise des Kapitalismus gesprochen (ebd.: 53). Politisch hebt Gill die Konsolidierung und weitgehende Universalisierung (d. h. Ausbreitung) der liberaldemokratischen Herrschaftsform in Europa hervor. Sozialistische und sozialdemokratische Kräfte präsentierten laut einer neo-gramscianischen Argumentation im Allgemeinen keine Alternative zum kapitalistischen System, sondern traten lediglich für eine soziale Abfederung der bestehenden kapitalistischen Produktionsweise ein. In Verbindung mit zunehmenden Regulierungsbestrebungen von staatlicher Seite kam es deswegen zu einer Legitimierung und Stabilisierung dieses Systems, so Gill (ebd.: 54). Strategisch verweist er hingegen auf den zunehmenden Einfluss der Vereinigten Staaten seit den frühen 1990er Jahren. Dieser hat bis heute Bestand, und zwar zum einen trotz gegenläufiger Entwicklungen in aufstrebenden Ländern wie Russland und China. Zum anderen konnten Gill zufolge auch Tendenzen im Zuge der europäischen Integration, die einen Ausgleich zum amerikanischen Einfluss anstreben, keine wirksame Gegenposition etablieren. Er nennt in diesem Zusammenhang die Einführung einer einheitlichen Währung im europäischen Raum, die Entwicklung der NATO und das militärische Vorgehen auf dem Balkan als wichtige Beispiele. In diese Reihe ließen sich in Übereinstimmung mit Gills Argumentation die militärischen Bestrebungen der Vereinigten Staaten seit dem 11. September 2001 und im Irak seit 2003 nennen. Damit in Verbindung steht Gills Annahme, dass mit dieser zunehmend stärkeren strategischen Machtposition auch die partielle Abkehr von völkerrechtlicher Akzeptanz einhergeht (ebd.: 55). Die zentrale Frage dieser und anderer neo-gramscianischer Analysen lautet dementsprechend: Wie lassen sich »die Ursachen und tragenden Strukturen von transnationalen Kooperations-, Macht- und Gewaltverhältnissen« (Bieling/ Deppe 1996 : 730) begründen? Die Grundlagen zur Beantwortung dieser Frage finden sich in den hegemonialen Strukturen der transnationalen politischen Gemeinschaften einer Region. Diese Strukturen beinhalten die politischen sowie gesellschaftlichen Macht- und Kräfteverhältnisse und damit auch Klassenbeziehungen, ideologische Konflikte und Herrschaftsformen. Bieling/ Deppe (1996 : 730 ff.) nennen fünf Aspekte, die für den Neo-Gramscianismus zur Untersuchung hegemonialer Strukturen entscheidend sind und als Erweiterung der Grundannahmen zu Beginn des Kapitels zu verstehen sind: Erstens bezieht die Hegemoniekonzeption stets den historischen Kontext mit ein. Demzufolge geht sie nicht davon aus, dass hegemoniale Mächte zyklisch aufsteigen und wieder untergehen, wie dies beispielsweise der Neorealismus als Theorie der Internationalen Beziehungen annimmt. Neue historische Kontexte erzeugen also stets auch neue Voraussetzungen dafür, dass hegemoniale Mächte entstehen oder untergehen können. Zweitens wird mit Blick auf den Staat immer zuerst nach den gesellschaftlichen Interessen <?page no="238"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 239 8.1 Die Perspektive des Neo-Gramscianismus 239 gefragt, die durch diesen vertreten werden. Damit entspricht die Situation auf internationaler Ebene derjenigen in den Nationalstaaten: Im Gegensatz zum Neorealismus steht nicht das nationalstaatliche Streben nach Einfluss im anarchischen internationalen Umfeld im Zentrum der Betrachtung, sondern die sozialen Macht- und Kräfteverhältnisse und der gesellschaftliche, kulturelle und politische Umgang mit diesen Verhältnissen. Damit in Verbindung findet sich die neo-gramscianische Prämisse, dass der Staat sowohl eine politische als auch eine zivilgesellschaftliche Komponente beinhaltet. Auf den neo-gramscianischen Staatsbegriff wird weiter unten noch eingegangen. Drittens äußert sich der Hegemoniebegriff in einer Konzeption des internationalen (bei Gill: transnationalen) »historischen Blocks«. Solche Blöcke existieren dann, wenn mehrere Staaten miteinander kompatible gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Strukturen besitzen, die durch ein Geflecht internationaler sozialer Beziehungen verbunden sind. Hegemonien zeichnen sich durch gemeinsame Normen, Institutionen und Instrumente aus, die Verhaltensregeln für Staaten und über Staatengrenzen hinweg agierende (also transnationale) zivilgesellschaftliche Akteure festlegen. Hegemonien breiten sich viertens in Form einer »passiven Revolution« aus. Das bedeutet, dass Interessen hegemonialer Kräfte mithilfe von allgemein anerkannten Normen, Werten, Regeln und Institutionen verbreitet und damit universalisiert werden. Zudem integriert man periphere Staaten sowohl ideologisch als auch materiell, um die Verfolgung gegenläufiger Interessen zu verhindern. Fünftens will der Neo- Gramscianismus schließlich Widersprüche in existierenden Macht- und Herrschaftsstrukturen aufdecken, um Alternativen präsentieren zu können, mit denen die bestehenden Verhältnisse transformiert werden sollen. Folglich dient die Idee des historischen Blocks nicht lediglich der Beschreibung, sondern umfasst implizit stets den Versuch, gesellschaftliche Umbrüche und Transformationspotenziale zu erkennen. Folgt man Gill mit Bezug auf den zuletzt genannten Aspekt, bestünde das normative Ziel Gramscis in der heutigen Zeit also darin zu fragen, »how to create not a new form of state as such, but a new transnational political community in the European space; and how to construct a radical democratic hegemony within that space« (Gill 2003 : 60 f.). Die moderne Perspektive neo-gramscianischer Kritik besteht demzufolge also darin, eine radikaldemokratische Hegemonie im europäischen Kulturraum normativ zu begründen und auf diese Weise den als mangelbehaftet wahrgenommenen neoliberalen historischen Block abzulösen. Vorliegend ist indes die Analyse von existierenden Strukturen und deren Widersprüchen wichtiger als die normativen Schlussfolgerungen, die an eine solche Untersuchung anschließen. Um die neo-gramscianischen Überlegungen für eine Analyse fruchtbar zu machen, spielt zunächst die im dritten Aspekt angesprochene Konzeption des transnationalen historischen Blocks eine wichtige Rolle: Diese Konzeption beschreibt die Grundlagen einer Staatsform und ihre Herrschafts- und Führungskapazitäten. Sie geht dabei von einer Allianz der herrschenden Klassen aus, berücksichtigt aber zugleich auch die Möglichkeit, dass der kollektive Wille gesellschaftlicher <?page no="239"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 240 240 8. Neo-Gramscianismus Gruppen zum jeweiligen historischen Block gehört. Es handelt sich zusammengefasst um ein »kohärentes Zusammenspiel sozialökonomischer Basis sowie politischer und ziviler Gesellschaft« (Bieling/ Deppe 1996 : 731) im Verhältnis mehrerer Nationen untereinander und stets bezogen auf eine spezifische Epoche. Gill sieht den derzeitigen transnationalen historischen Block in der hochintegrierten globalen politischen Ökonomie, die seit Anfang der 1990er Jahre mit Fokus auf die USA entstanden ist. Im Wesentlichen wird dieser Block von den G7-Staaten 125 und durch das Kapital geführt, welches an hochentwickelte Sektoren in der Produktion, den internationalen Investment- und Finanzsektor sowie an »accumulation patterns of virtual industries« (Gill 2003 : 63) 126 gebunden ist. Dies geht gesellschaftlich laut Gill mit einem drastischen Anstieg der sozialen Ungleichheit und Ausbeutung der Natur einher. Politisch assoziiert er einen Trend zu neoliberalen Regierungsformen, die einen Großteil der Bevölkerung zunehmend dem Einfluss von Marktkräften unterwerfen. Er bekräftigt in diesem Zusammenhang die sogenannte »ideologische Hypothese«, der zufolge in der heutigen Zeit weniger eine voll ausgeprägte Hegemonie in Gramscis Sinne existiert, als vielmehr eine neoliberale Politik der Vorherrschaft: »Mit dieser Situation ist die Herrschaft eines nicht-hegemonialen Blocks von Kräften gemeint, der gegenüber einer augenscheinlich fragmentierten Bevölkerung solange dominant ist, wie keine kohärente Opposition entsteht« (Gill 2000 : 41). Da aber vermehrt Probleme innerhalb des neoliberalen Blocks zutage treten und sich zunehmend Unzufriedenheit in der Bevölkerung bemerkbar macht, handelt es sich Gill zufolge somit nicht um eine Hegemonie im Sinne Gramscis, sondern lediglich um den vorherrschenden transnationalen Block in der heutigen Zeit. Zu der von Gill angesprochenen gesellschaftlichen Desintegration in den Ländern Mittel- und Osteuropas ließe sich in Einklang mit einer neo-gramscianischen Argumentation anbringen, dass gerade der EU- Beitritt dieser Staaten als Instrument einer solchen neoliberalen Vorherrschaft dazu dient, eine kohärente Opposition zu verhindern-- dazu mehr im nächsten Unterkapitel. Da Gill von einem transnationalen Block spricht, wundert es nicht, dass er oligopolistische Unternehmen als wichtige Elemente bezeichnet, welche diesen Block durch die Einflussnahme auf lokale und globale politische Strukturen erhalten. Das Argument hierzu lautet demnach: Indem die »kapitalistische Disziplin« in Politik und 125 Vor allem im Zuge der im Jahr 2007 aufkommenden Finanz- und Wirtschaftskrise wurde das Forum G7/ G8 politisch weitgehend durch die G20 ersetzt. Dies lässt sich aus neo-gramscianischer Sicht als zunehmende neoliberale Disziplinierung von Schwellenländern auffassen, die im Austausch für ein Mitspracherecht in Fragen der globalen Wirtschaft näher an die vorherrschenden Kräfte gekoppelt werden. Folgt man dieser Argumentation, findet auf diese Weise zumindest langfristig eine weitere Universalisierung des westlichen historischen Blocks statt. 126 »Virtuell« verweist im Marx’schen Sinne mit Bezug auf Kapital darauf, dass Produktion ein (Geld-) Wert zugewiesen wird, bevor sie überhaupt real existiert. Diese Vorstellung bezieht sich z. B. auf Formen des Finanzkapitals, umfasst aber auch Wissen sowie Informations- und Telekommunikationstechnologien als Faktoren des Kapitals. <?page no="240"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 241 8.1 Die Perspektive des Neo-Gramscianismus 241 Zivilgesellschaft aufrechterhalten wird, steigen die langfristigen Profite der vorherrschenden Akteure. Diese Auffassung politischer Vorherrschaft lässt sich besser verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass sie eng mit Gramscis Konzept des »integralen Staates« (stato integrale) zusammenhängt. Er begreift den Staat als Kombination von politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft, wobei Ersteres den öffentlichen (Regierung, Verwaltung, Recht, Sicherheit etc.) und Letzteres den privaten Bereich (Unternehmertum, Gewerkschaften, Parteien etc.) beschreibt (ebd.: 42). Ein weiterer wichtiger Aspekt neo-gramscianischer Analysen ist die disziplinierende Wirkung des Neoliberalismus, mit deren Hilfe laut Gill Muster der Akkumulation und Regulierung »rekonfiguriert«, also umstrukturiert werden. In dieser Rekonfiguration sieht er eine von drei Dimensionen des strukturellen Wandels zu Beginn des 21. Jahrhunderts. So beinhalte der disziplinierende Neoliberalismus drei Hauptelemente: Erstens zielen Gill zufolge die Regierungen inzwischen vor allem darauf ab, ihre Glaubwürdigkeit zu verteidigen (credibility), zweitens wird eine konsequente Politik verfolgt (consistency), die drittens das Vertrauen der Investoren (confidence) in diese Politik stärken soll. Als Beispiel nennt Gill genau auf diese drei Aspekte ausgerichtete Empfehlungen der Weltbank, die den Staaten als Anhaltspunkte dienen sollen, um in den Augen von ausländischen Investoren als zuverlässiger und sicherer Investitionsstandort gelten zu können. Dies alles trägt ihm zufolge letztlich dazu bei, die Formen der Regulierung und Akkumulation auf makro- und mikroökonomischer Ebene im Sinne eines disziplinierenden Neoliberalismus umzustrukturieren. Konkret äußert sich ein solches Vorgehen in der »redefinition of continental European corporate governance (with its involvement of stakeholders) in ways that prioritize shareholder value and the discipline of capital markets along Anglo-American lines« (Gill 2003 : 65). Gill argumentiert in diesem Zusammenhang, dass es dadurch zur Bildung einer neuen Gesellschaftsform in Europa kommt, die zwar auf eigenverantwortlichen Individualismus ausgelegt ist, in der die Erwartungen und Anreizsysteme von Akteuren allerdings durch die Kräfte des Marktes und andere processes of normalization gesteuert und damit »diszipliniert« werden (ebd.). Die zweite Dimension des strukturellen Wandels betrifft die Rekonfiguration von Staatsformen mithilfe der Prinzipien und Praktiken des sogenannten »neuen Konstitutionalismus«. Diese beinhalten nach Gill eine Abkehr vom sozial geprägten Markt und einen Rückzug aus der umfassenden Planung des Marktes. Ziel ist es in diesem Zusammenhang, unter Ausschluss demokratischer Verantwortung den neoliberalen Staat für die Zukunft zu erhalten. Er weist darauf hin, dass es sich hierbei um einen eher unbewussten Versuch handelt, Reformen durchzuführen, die den Handlungsspielraum für politische Akteure langfristig festschreiben. Als Beispiele nennt er den Vertrag von Maastricht, die Etablierung einer unabhängigen Europäischen Zentralbank, die Zentralisierung der exekutiven Macht in der EU und der dazugehörigen Bürokratie sowie nicht zuletzt die zunehmende Einflussnahme internationaler Organisationen wie der WTO (Gill 2003 : 66). Kurz gesagt: <?page no="241"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 242 242 8. Neo-Gramscianismus »Der neue Konstitutionalismus ist mithin die politisch-rechtliche Dimension des umfassenden Diskurses des disziplinierenden Neoliberalismus. In diesem Diskurs geht es vor allem darum, Eigentumsrechte und Freiheiten der Investoren zu sichern und den Staat und die Arbeit unter die Disziplin des Marktes zu unterwerfen.« (Gill 2000 : 44). Die letzte Dimension des strukturellen Wandels betrifft laut Gill schließlich die Rekonfiguration der Zivilgesellschaft mit dem Ziel, eine »Kultur des Marktes« zu schaffen. Hiermit bezeichnet er die Verbreitung von auf Privateigentum ausgerichtetem Individualismus, Privatisierung und die marktgerechte Ausgestaltung von Institutionen, um so letztlich eine von Marktprinzipien durchzogene Gesellschaft hervorzubringen. Empirisch lässt sich diese Entwicklung dem Autor zufolge an der universalen Ausbreitung des Privatfernsehens, der Werbung und des Merchandisings nachvollziehen (Gill 2003 : 66). 8.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen aus dem Neo-Gramscianismus Sehen wir uns auch hier zunächst das Problem an, das mithilfe des Neo-Gramscianismus erklärt werden soll. Es betrifft die strukturpolitischen Maßnahmen im Allgemeinen sowie die finanziellen Hilfsinstrumente der EU im Speziellen, die den neuen Mitgliedstaaten Mittel- und Osteuropas in den Beitrittsvorbereitungen bereitgestellt wurden. Als Teil europäischer Regionalpolitik waren dies bis Ende 2006 die Programme PHARE (Poland and Hungary: Aid for Restructuring of the Economies), SAPARD (Special Accession Programme for Agriculture and Rural Development) und ISPA (Instrument for Structural Policies for Pre-Accession). Sie wurden im Jahr 2007 durch ein einheitliches Instrument ersetzt: IPA (Instrument for Pre-Accession Assistance). PHARE umfasste als zentrales Instrument ab 1989 insbesondere Hilfen zum Aufbau von Verwaltungsstrukturen und Institutionen, Infrastrukturhilfe sowie Mittel zur Regionalentwicklung. Es diente im Wesentlichen dazu, den Anpassungsprozess und die Übernahme des acquis communautaire 127 zu erleichtern. Ursprünglich nur für Polen und Ungarn vorgesehen, wurde es im Laufe der Zeit auf zahlreiche weitere Staaten ausgeweitet, im Jahr 2006 zuletzt Rumänien, Bulgarien und Kroatien. Das Programm SAPARD stellte im Zeitraum von 2000 bis 2006 hingegen Mittel zur Förderung der ländlichen Entwicklung und Landwirtschaft bereit, vor allem um die Gemeinsame Agrarpolitik in den Kandidatenländern zu verwirklichen. SAPARD wurde auf Grundlage der 1999 in Berlin verabschiedeten Agenda 2000, die Reformen in den Bereichen Agrar- 127 Mit »acquis communautaire« wird der gemeinsame vertragliche Besitzstand der EU bezeichnet. <?page no="242"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 243 8.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 243 und Regionalpolitik sowie bezüglich des Finanzrahmens für die Osterweiterung der EU in Aussicht stellte, eingeführt. ISPA war schließlich für die strukturelle Entwicklung ausgelegt, ebenfalls im Zeitraum von 2000 bis 2006. Das Programm beinhaltete Infrastrukturprojekte sowie Maßnahmen für die soziale und wirtschaftliche Kohäsion, jedoch ausschließlich in den Bereichen Umwelt und Verkehr. Das Instrument hatte zum Ziel, die Beitrittskandidaten dabei zu unterstützen, sich an die EU- Umweltnormen anzupassen und ihre Anbindung an die europäischen Verkehrsnetze zu verbessern. Im Jahr 2007 wurden alle Instrumente der Heranführungshilfe durch IPA abgelöst. Dies betraf die drei bereits erwähnten Instrumente, das für im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess befindliche Staaten des westlichen Balkans gedachte Instrument CARDS (Community Assistance for Reconstruction, Development, and Stabilisation) sowie die finanzielle Heranführungshilfe zugunsten der Türkei. IPA adressiert als einheitlicher Hilfsrahmen sowohl Kandidatenländer (derzeit Island, Kroatien, Mazedonien, Montenegro und die Türkei) als auch potenzielle Beitrittskandidaten 128 (derzeit Albanien, Bosnien und Herzegowina, Serbien und der Kosovo laut UN-Resolution 1244) und ist für den Zeitraum von 2007 bis 2013 ausgelegt. Die Zuwendungen hängen dabei mit dem Fortschritt in den jeweiligen Staaten und ihren Bedürfnissen zusammen, die anhand von Evaluierungen und jährlichen Strategiedokumenten bestimmt werden. Förderungsfähig sind fünf Bereiche, wobei nur die Bereiche »Übergangshilfe und Aufbau von Institutionen« sowie »grenzüberschreitende Zusammenarbeit« für alle Staaten gelten. Ausschließlich Kandidatenländer haben indes Anspruch auf die Bereiche »regionale Entwicklung«, »Entwicklung der Humanressourcen« sowie »Entwicklung des ländlichen Raums«. 129 Die Frage aus Sichtweise des Neo-Gramscianismus kann demzufolge lauten: Warum stellt die Europäische Union den Kandidatenländern und potenziellen Beitrittskandidaten Heranführungshilfen in großem finanziellen Ausmaß und über einen längeren Zeitraum (mit Beginn im Jahr 1989) bereit? Zuvor ist noch eine Anmerkung zur Einordnung neo-gramscianischer Untersuchungen nötig: Bisher wurden innerhalb der neo-gramscianischen Strömung aufgrund ihrer methodischen Vorgehensweise noch keine so detaillierten Analysekriterien entwickelt, wie dies im Falle anderer Integrationstheorien bereits geschehen ist. Cox (1981 : 128 ff.) führt die Unterscheidung von problemlösungsorientierten und kritischen Theorien ein, um auf genau diesen Aspekt hinzuweisen: Wie bereits ange- 128 Die in den Institutionen der EU gebräuchliche Bezeichnung für Staaten, mit denen bereits ein Beitrittsverfahren eröffnet wurde, lautet »Kandidatenländer«. Staaten, denen ein zukünftiger Beitritt in Aussicht gestellt wird, ohne jedoch bereits das Beitrittsverfahren eröffnet zu haben, werden hingegen als »(potenzielle) Beitrittskandidaten« bezeichnet. 129 Der für Erweiterung zuständigen Seite der Europäischen Kommission entnommen, vgl. http: / / ec.europa.eu/ enlargement/ how-does-it-work/ financial-assistance/ instrument-pre-accession_de.htm, zuletzt am 31.12.2011. <?page no="243"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 244 244 8. Neo-Gramscianismus sprochen sucht der Neo-Gramscianismus nicht lediglich nach Verbesserungsmöglichkeiten innerhalb des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Status quo, sondern stellt diesen ja gerade mit dem Ziel in Frage, innere Widersprüche hervorzuheben. Am Ende dieser Logik steht der normative Anspruch, radikaldemokratische Alternativen zum als mangelhaft wahrgenommenen »neoliberalen Block« vorzuschlagen. Neo-gramscianische Analysen beinhalten also zumindest implizit zwei Komponenten: Zum einen werden strukturelle Veränderungen analysiert und die dahinter stehenden Kräfteverhältnisse aufgedeckt. Dies geschieht in Anknüpfung an die soeben genannte Unterscheidung von Cox weithin ohne eine explizite Operationalisierung der Variablen. Zum anderen werden anschließend im Idealfall normative Schlussfolgerungen gezogen und Vorschläge erarbeitet, wie die Kräfteverhältnisse im positiven Sinne verändert oder überwunden werden können. Auch wenn dieser zweite Bestandteil als zentral für eine kritische Herangehensweise gilt, wird er in der Literatur dennoch häufig vernachlässigt. Ziel dieses Lehrbuchs ist jedoch ohnehin keine vollständige Übernahme einzelnerTheorieansätze, sondern lediglich die pointierte Anwendung erklärungsrelevanter Aspekte auf die Regionalpolitik der EU. Selbst wenn der Neo- Gramscianismus zuvorderst als kritischer und nicht erklärender Ansatz verstanden wird, weist er implizit stets auch eine erklärende Komponente auf. Diese bezieht sich zwar zumeist auf umfassende strukturelle politische und gesellschaftliche Veränderungen, bleibt allerdings der hier vertretenen Sichtweise zufolge auch auf Teilaspekte solcher Wandlungsprozesse anwendbar. Aufgrund dessen soll nun versucht werden, der vorliegenden Erklärung zumindest grob strukturierte Variablen zuzuordnen. Damit ist die abhängige Variable die Bereitstellung von Heranführungshilfe für Kandidatenländer und potenzielle Beitrittskandidaten als Teil der gesamten strukturpolitischen Maßnahmen (AV). Um die erklärenden, also unabhängigen Variablen zu bestimmen, muss ein geeigneter Erklärungsansatz innerhalb der neo-gramscianischen Vorgehensweise ausgewählt werden. Gills bereits vorgestelltes Analyseraster bietet sich dabei für die folgende Betrachtung an. Hierbei spielt zunächst die Vorstellung eine wichtige Rolle, dass die EU Teil eines westlich-neoliberalen transnationalen historischen Blocks ist. Die herrschenden Kräfte dieses Blocks versuchen, so die zugrunde liegende Argumentation, nach Ende des Ost-West-Konflikts in die neue europäische Peripherie einzudringen, um sie an den neoliberalen Block zu binden. Dieser Vorgang und die damit verbundenen strukturellen Rekonfigurationsprozesse breiten sich diesem Argument folgend im Rahmen einer passiven Revolution aus: »Passive revolution, according to Gramsci, occurs in a situation where (transnational) bourgeois class formations increase their social power in locations where no previous bourgeois hegemony has been consolidated.« (Gill 2003 : 57). Gill folgert daraus, dass nach dem Abklingen der verschiedenen revolutionären Bewegungen in den Staaten Mittel- und Osteuropas schließlich Restrukturiewww.claudia-wild.de: <?page no="244"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 245 8.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 245 rungsprozesse in Gang gekommen sind, welche die Macht des Kapitals dort wieder hergestellt haben. Die von internen sowie externen Kräften durchgeführten konstitutionellen und politischen Reformen wurden der Bevölkerung jedoch von den Eliten top down vorgeschrieben. Aus neo-gramscianischer Perspektive besteht das Ziel dieser Bestrebungen darin, die Herrschaft des Kapitals dauerhaft festzuschreiben und in der Bevölkerung zu legitimieren. Das Konzept der passiven Revolution dient in diesem Kapitel als übergreifender Argumentationsrahmen, innerhalb dessen die einzelnen Variablen verortet werden müssen. Zudem macht es darauf aufmerksam, dass mit Blick auf die EU-Osterweiterung ein Mischungsverhältnis zwischen disziplinierenden und konsensualen Praktiken existiert, stets ausgehend von den Triebkräften des neoliberalen (aber nur beschränkt hegemonialen) 130 historischen Blocks. Zum einen wird die Kultivierung von Wettbewerb als zentrales Element der neoliberalen Disziplinierung verfolgt. Zum anderen werden wissensbasierte und finanzielle Hilfsleistungen als konsensuale Elemente der passiven Revolution bereitgestellt, um die neoliberalen Vorstellungen vom integralen Staat auch faktisch durchsetzen zu können. Weil sich nämlich Ideen nicht einfach durchsetzen, sondern auf Widerstände treffen und sich stets im konkreten politischen sowie gesellschaftlichen Kontext ausbreiten, sind in der Praxis Kompromisse und materielle Zugeständnisse unausweichlich. Diese Hilfen zeichnen sich jedoch durch ihre Konditionalität aus, d. h. die Adressaten müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllen, um sie in Anspruch nehmen zu können. Genau dadurch, dass die betroffenen Länder weitgehende politische, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Vorgaben umzusetzen haben, werden die Hilfsleistungen aber zum Instrument disziplinierender Maßnahmen und tragen somit dazu bei, die hegemonialen Verhältnisse im Sinne des westlichen historischen Blocks zu modifizieren. 131 Was bedeuten diese Ausführungen für unsere unabhängigen Variablen? Zunächst einmal argumentieren neo-gramscianische Ansätze dergestalt, dass die Anpassung an die Strukturen, Politiken und gesellschaftlichen Verhältnisse eines transnationalen historischen Blocks sich als Folge der disziplinierenden Wirkung des Neoliberalismus 130 Vgl. hierzu die Erläuterungen zum Hegemonie-Begriff im vorherigen Kapitelabschnitt. 131 Im Rahmen dieser Argumentationsweise sind Heranführungshilfen und die dazu gehörenden Hilfsprogramme genauer und in der Sprache Gramscis als Instrumente der Kooptation subalterner Staaten und sozialer Kräfte zu bezeichnen, durch die hegemoniale Verhältnisse modifiziert und neu strukturiert werden. Die Hilfen dienen also dazu, diejenigen Staaten und sozialen Kräfte in den westlichen historischen Block einzubinden (Kooptation), die dem hegemonialen Teil der Gesellschaft untergeordnet sind (Subalternität). Dies lässt sich in Anknüpfung an Cox/ Sinclair (1996 : 130) als eine Form der passiven Revolution verstehen, die Gramsci mit dem Begriff trasformismo konnotiert, weil die Hegemonie in Folge der transformativen Anbindung peripherer Gebiete zugleich legitimiert und stabilisiert wird. Im Falle der EU ergibt sich daraus folgend ein mehrstufiger Transformationsprozess, weil diese kontinuierlich subalterne Staaten zu neuen Mitgliedern macht und gleichzeitig weitere Staaten assoziiert oder als potenzielle Beitrittskandidaten etabliert. <?page no="245"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 246 246 8. Neo-Gramscianismus darstellt. Damit hängt sowohl dessen rechtliche Verankerung in Form des neuen Konstitutionalismus als auch die zivilgesellschaftliche Dimension des erweiterten Staates zusammen, weswegen die dazugehörigen Prozesse der Restrukturierung ebenfalls Erklärungsfaktoren darstellen. Genau jene Elemente des strukturellen Wandels, die Gill in seinen Arbeiten als Erklärungsfaktoren für die umfassenden Anpassungs- und Wandlungsprozesse in der heutigen Zeit herausstellt, lassen sich gleichzeitig auch zur Analyse spezifischer Untersuchungsgegenstände verwenden. Aus den bisherigen Überlegungen lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die von Gill konzeptualisierten drei Dimensionen des strukturellen Wandels in Europa als zentrale Bereiche und damit als unabhängige Variablen der Erklärung herangezogen werden können: 1. disziplinierender Neoliberalismus (UV 1 ); 2. neuer Konstitutionalismus (UV 2 ); 3. universelle Marktkultur (UV 3 ). Mit diesen drei Bereichen lassen sich diejenigen Prozesse der Rekonfiguration aufzeigen, die vom Neo-Gramscianismus als Hauptmerkmale des strukturellen Wandels angesehen werden. Für die empirische Untersuchung ergibt sich nun, dass die genannten Erklärungsfaktoren mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand, hier die Strukturfondspolitik, aufgelistet werden müssen. Daraus lassen sich Hypothesen ableiten, die am konkreten Fall getestet werden können. Dem folgend betrachten wir nun die Variablen: ad 1) disziplinierender Neoliberalismus Zunächst spielt die Rekonfiguration der politisch-wirtschaftlichen Ebene eine wichtige Rolle. Sie äußert sich konkret in der Form des disziplinierenden Neoliberalismus, der nicht nur eine politische Ideologie oder ein ökonomisches Programm beschreibt, sondern zugleich auch die Veränderung von Herrschaftsverhältnissen und im Verhalten von kollektiven und individuellen Akteuren beinhaltet. Die disziplinierende Wirkung des Neoliberalismus bleibt in einer neo-gramscianischen Betrachtung dabei stets an die »strukturelle Macht des Kapitals« (Bohle 2006 : 201) gebunden. Die Restrukturierung Mittel- und Osteuropas äußert sich des Weiteren in einer zunehmenden Dominanz angelsächsischer Wirtschaftspraktiken im Stile der New Economy, wie Holman betont. Daneben weist er auf den als doppelte Transformation bezeichneten Wandel in dieser Region hin: Zum einen gibt es eine Transformation von Planzu Marktwirtschaft. Zum anderen tritt ein Wandel von autoritärer Herrschaft hin zu parlamentarischer Demokratie ein, der den Primat wirtschaftlicher Liberalisierung vor der Idee des sozialen Zusammenhalts zu etablieren sucht (Holman 2001 : 162). <?page no="246"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 247 8.2 Das Problem, die Fragestellung und die Ableitung der Hypothesen 247 ad 2) neuer Konstitutionalismus Die Rekonfiguration der politisch-rechtlichen Ebene als zweite Dimension des strukturellen Wandels zeigt sich in der Form des neuen Konstitutionalismus. Gill verwendet den Begriff »Konstitutionalismus« aus einer politikökonomischen Perspektive und damit nicht in der gleichen Weise, wie dies Vertreter anderer Integrationstheorien tun. Ihm geht es laut Bohle also nicht darum, dass sich im Mehrebenensystem der EU zunehmend verfassungsähnliche Strukturen ausbilden, sondern vielmehr um eine »neue europäische Governance-Struktur, die den neoliberalen Umbau politischrechtlich absichert und der demokratischen Verantwortlichkeit tendenziell entzieht« (Bohle 2006 : 202 f.). Bohle selbst bezeichnet das neoliberale Integrationsprojekt der EU als »europäischen Wettbewerbsstaat«, um so die Bedeutung der supranationalen Ebene hervorzuheben (Bohle 2000 : 305 ff.). ad 3) universelle Marktkultur Schließlich muss laut Gill die Rekonfiguration der Zivilgesellschaft zur Schaffung einer universellen Marktkultur berücksichtigt werden, weil nur unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft Staaten in ihrer integralen bzw. erweiterten Form verstanden werden können. Folgt man Gill, so baut der westliche transnationale Block auf der Prämisse auf, dass alleine die Idee des Marktes als prägendes Element der Gesellschaft imstande ist, einen allgemeinen Konsens in der Bevölkerung im Sinne des neoliberalen Diskurses zu erreichen (Gill 2003 : 67). Gemäß den bisherigen Ausführungen lassen sich folgende Thesen aus einer neogramscianischen Perspektive heraus formulieren: H 1 : Strukturelle Hilfen werden in umso größerem Umfang geleistet, je weniger die politischen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Macht- und Kräfteverhältnisse (und damit auch die Strukturen und Prozesse) in einem Kandidatenland oder einem potenziellen Beitrittskandidaten an die drei Hauptelemente des strukturellen Wandels angepasst sind. H 2 : Je weiter konträre Interessen, Ideologien oder Gegenbewegungen in den Kandidatenländern und potenziellen Beitrittskandidaten bereits verbreitet sind, desto weniger ausgeprägt ist die disziplinierende Wirkung des Neoliberalismus, die von Seiten der EU ausgeht, und desto mehr Defizite treten in der Anpassung an den als neuen Konstitutionalismus bezeichneten acquis communautaire auf. Sehen wir uns die Variablen nun bezüglich dieser Aussagen an und testen die aufgestellten Hypothesen anhand der Empirie der Regionalpolitik. <?page no="247"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 248 248 8. Neo-Gramscianismus 8.3 Neo-gramscianische Untersuchung der Heranführungshilfen für Kandidatenländer der Europäischen Union Disziplinierender Neoliberalismus Wie Bohle (2000 : 307 f.) argumentiert, unterliegt die europäische Struktur- und Regionalpolitik dem Ziel, einen gesamteuropäischen Wettbewerbsstaat zu konstruieren. Demzufolge verfolgt die Politik »nicht mehr so sehr die Homogenisierung der sozialen und räumlichen Entwicklungsmuster, sondern unterstützt in den Peripherien primär einen selektiven Modernisierungsprozeß unter der Prämisse der Standortkonkurrenz« (ebd.: 307). Mit diesem von Tömmel (1994 und 1995) gestützten Argument verweist Bohle darauf, dass die EU in Mittel- und Osteuropa weniger darauf abzielt, lediglich Finanzhilfen bereitzustellen und in ressourcenschwache Regionen umzuverteilen. Vielmehr geht es insbesondere darum, die Peripherie Europas durch indirekte Steuerungsprozesse an den Westen heranzuführen und wirtschaftlich konkurrenzfähig zu machen. In Erweiterung zu Bohles Verständnis lässt sich darüber hinaus anbringen, dass dies zugleich eine direkte Wirkung des disziplinierenden Neoliberalismus darstellt, weil die betroffenen Staaten in diesem Prozess einerseits wirtschaftlich rekonfiguriert und andererseits in den westlichen historischen Block integriert werden. Während die wirtschaftliche Rekonfiguration ja genau das Ziel ist, das in einer neo-gramscianischen Perspektive mit neoliberalen Strategien verfolgt wird, zeigt sich an dieser Stelle auch die transnationale Komponente. Die angestrebte wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit zielt vor allem auf Unternehmen ab, die aus vormals staatssozialistischen Strukturen in angelsächsische Formen der Marktwirtschaft überführt werden sollen. Dies kann jedoch nur gelingen, wenn sie dabei unter dem Schirm der disziplinierenden Wirkung westlicher Strategien unterstützt werden. Des Weiteren stellt Bohle in diesem Zusammenhang die These auf, dass die »hegemoniale Durchsetzung des europäischen Projekts« (ebd.: 308) weiterhin ein wichtiges Ziel der Europäischen Union bleibt. Möchte man dieses Projekt jedoch nachhaltig auf den Osten Europas ausdehnen, muss die allgemeine Heranführung der marktwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit an westliche Standards gewährleistet werden, weil diese einen zentralen Bestandteil eben jenes Projekts darstellt. Dies äußert sich auch und gerade in der Bereitstellung erheblicher struktureller Hilfen für diese Länder seit Ende des Ost/ West-Konflikts. Aus neo-gramscianischer Sicht zeigt sich die Notwendigkeit, östliche Ökonomien an die westlichen heranzuführen, am deutlichsten mit Blick auf das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Hierin besteht seit den frühen 1990er Jahren eines der wesentlichen Probleme potenzieller Beitrittskandidaten: Nimmt man das BIP pro Kopf als einen Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Staates, wird schnell ersichtlich, warum den 2004 und 2007 erfolgten Beitritten ein langwieriger Heranführungsprozess voranging. Waren die planwirtschaftlich geprägten Ökonomien der mittel- und osteuropäischen Staaten aus Sicht der EU nahezu <?page no="248"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 249 8.3 Erklärung aus Sicht des Neo-Gramscianismus 249 hoffnungslos »heruntergewirtschaftet«, weist ein Großteil der osteuropäischen NUTS- 2-Regionen auch im Jahr 2006 ein BIP pro Kopf von weniger als 50 Prozent des EU- 27-Durchschnitts auf. Vergleicht man diese Regionen direkt mit den Ländern der Eurozone, fallen die Unterschiede noch drastischer aus. In Tabelle 13 lässt sich die länderabhängige Veränderung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Kaufkraftstandards (KKS) je Einwohner in Prozent des Durchschnitts aller EU-Mitglieder einsehen. Tabelle 13: BIP in Kaufkraftstandards (KKS) je Einwohner in % des EU-27-Durchschnitts 1995 2000 2003 2004 *2005 2006 2007 2008 2009 EU (27 Länder) 100 100 100 100 100 100 100 100 100 EU (25 Länder) 105 105 104 104 104 104 104 103 103 EU (15 Länder) 116 115 114 113 113 112 112 111 111 Euroraum (16 Länder) 114 112 111 109 110 109 109 108 108 Deutschland 129 118 116 116 117 116 116 115 116 Vereinigtes Königreich 113 119 122 124 122 120 117 116 116 Bulgarien 32 28 34 35 37 38 40 43 X Tschechische Republik 73 68 73 75 76 77 80 80 80 Estland *36 45 54 57 62 66 70 68 63 Lettland 31 37 43 46 49 52 56 57 49 Litauen 36 39 49 50 53 55 59 62 53 Ungarn 52 55 63 63 63 63 62 65 63 Malta 86 84 78 77 78 77 77 77 78 Polen 43 48 49 51 51 52 54 57 61 Rumänien X 26 31 34 35 38 42 48 45 Slowenien 74 80 83 86 87 88 88 *91 *88 Slowakei 48 50 55 57 60 63 67 72 71 Zypern 88 89 89 90 91 91 93 96 98 Island 133 132 125 131 130 123 122 121 120 Kroatien 46 49 54 56 57 57 60 63 X Republik Mazedonien X 27 26 27 28 30 32 34 X Türkei 30 42 36 40 42 44 44 46 X Schweiz (p) 153 145 137 135 133 136 140 141 144 Japan 129 117 112 113 113 110 109 X X Vereinigte Staaten 159 161 156 157 159 154 151 147 147 Quelle: Eurostat, bearbeitet Legende: X =-nicht verfügbar; * =-Reihenunterbrechung; p =-vorläufige Werte <?page no="249"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 250 250 8. Neo-Gramscianismus Aus der Tabelle lässt sich schlussfolgern, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit in Bezug auf die gesamte heutige EU vor allem in »unterentwickelten« Staaten gestiegen ist. Dies manifestiert sich zuvorderst in den Zeiträumen seit Einführung der Hilfen der Agenda 2000: So stieg beispielsweise das BIP pro Kopf in KKS in Rumänien von 26 Prozent des EU-27-Durchschnitts im Jahr 2000 bis 2008 auf 48 Prozent, in Estland von 45 auf 68 Prozent, in Litauen von 29 auf 62 Prozent und in der Slowakei von 50 auf 72 Prozent. Weitet man den Vergleich auf alle neuen Mitglieder aus, bestätigt sich dieser Trend: Da das BIP pro Kopf in KKS innerhalb der EU-15 im Zeitraum von 2000 bis 2008 von 115 auf 111 Prozent gefallen ist, stieg es im gleichen Zeitraum in den zwölf neuen Mitgliedstaaten von 46 Prozent des EU-27-Durchschnitts auf 58 Prozent. 132 Dies lässt sich auch grafisch verdeutlichen: In Grafik 20 erfolgt eine Aufgliederung der obigen Werte nach NUTS-2-Regionen, und zwar für das Jahr 2008. Man erkennt auf den ersten Blick, dass das BIP in KKS je Einwohner in zahlreichen Regionen der neuen Mitgliedstaaten weiterhin unter 60 Prozent des EU-27-Durchschnitts liegt und es gerade in den ärmeren Ländern kaum Ausnahmen gibt. Insgesamt lässt sich somit festhalten, dass die ökonomische Angleichung an westliche Standards noch längst nicht abgeschlossen ist. Bezieht man die bisherigen Erkenntnisse auf die Heranführungshilfen der EU, wird deren Funktion innerhalb des disziplinierenden Neoliberalismus schnell ersichtlich. Ein Hauptziel von PHARE bestand darin, in die wirtschaftliche und soziale Kohäsion der Beitrittskandidaten zu investieren, um so »the functioning of the market economy and the capacity to cope with competitive pressure and market forces within the EU« (Commission 2002 : 8) zu gewährleisten. Damit lässt sich aus neo-gramscianischer Sichtweise argumentieren, dass das PHARE-Programm als Instrument des disziplinierenden Neoliberalismus dazu dient, in den zukünftigen Mitgliedstaaten eine funktionierende Marktwirtschaft nach angelsächsischem Vorbild zu schaffen, die dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften der EU standhalten kann. Dies beschreibt aber genau das, was Gill als wirtschaftliche Rekonfiguration Europas mithilfe disziplinierender Maßnahmen und Bohle als Schaffung eines gesamteuropäischen Wettbewerbsstaats bezeichnet hat. Die Programme SAPARD und ISPA erweitern diesen Fokus speziell für die Bereiche Landwirtschaft und Infrastruktur. Zum einen spielen insbesondere die Agrarpolitik und damit zusammenhängend die ländliche Entwicklung eine finanziell wich- 132 Im Jahr 2000 betrug der Bevölkerungsanteil der EU-15 an der Gesamtbevölkerung der heutigen EU-27 78,2 %, womit die zwölf Staaten Mittel- und Osteuropas 21,8 % ausmachten. Im Jahr 2008 lautete das Verhältnis 79,1 % zu 20,9 %. Betrachtet man das prozentuale BIP pro Kopf in KKS der EU-15 in Abhängigkeit des dazugehörigen prozentualen Bevölkerungsanteils an der gesamten EU-27, ergibt sich bezüglich der MOEL im Jahr 2000 ein Wert von 46,2 % und im Jahr 2008 ein Wert von 58,4 % für das prozentuale BIP pro Kopf in KKS. <?page no="250"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 251 8.3 Erklärung aus Sicht des Neo-Gramscianismus 251 tige Rolle innerhalb der EU, weswegen zukünftige Mitglieder speziell auf die Angleichung an westliche Standards vorbereitet werden müssen. Zum anderen trägt die Unterstützung der Infrastruktur und Transportwege als wichtige Grundlage des Warenverkehrs und Handels ganz wesentlich dazu bei, die ökonomischen Ziele der EU überhaupt in Angriff nehmen zu können. Dazu kommen die erheblichen Kosten, die gerade in den Bereichen Umwelt und Transport für neue Mitgliedstaaten im Rahmen der Übernahme entsprechender Rechtsakte entstehen: So betragen beispielsweise die Aufwendungen bezogen auf die zehn im Jahr 2004 beigetretenen Staaten für eben jene Bereiche insgesamt rund 100 Milliarden Euro (Commission 2006b: 6). Quelle: Eurostat, bearbeitet Grafik 20: Regionales BIP in KKS je Einwohner in % des EU-27-Durchschnitts, nach NUTS-2 <?page no="251"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 252 252 8. Neo-Gramscianismus Neuer Konstitutionalismus Bezüglich der Einbindung peripherer Staaten in den neuen westlichen Konstitutionalismus verhält sich die Situation ähnlich wie im Falle des disziplinierenden Neoliberalismus. Als zentraler Bestandteil dienen die »Kopenhagener Kriterien«, die potenzielle Beitrittsländer zur EU erfüllen müssen. Diese Kriterien beinhalten neben allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Kriterien- - im Wesentlichen abgedeckt durch den Erklärungsfaktor »disziplinierender Neoliberalismus«-- auch das Acquis-Kriterium. Als acquis communautaire wird der »gemeinschaftliche Besitzstand« der Europäischen Union bezeichnet. Dieser beinhaltet insbesondere a) die Verträge der EU als Primärrecht; b) Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse als Sekundärrecht; c) die Urteile des Europäischen Gerichtshofs und des Gerichts der Europäischen Union (ehemals Gericht erster Instanz); d) Entschließungen und Erklärungen; e) Verträge und Abkommen, welche die EU mit anderen internationalen Rechtssubjekten schließt. Nun besteht eine zentrale Bedingung für den EU-Beitritt darin, den gemeinschaftlichen Besitzstand in die nationale politische Ordnung zu integrieren. Die EU unterstützt potenzielle Beitrittskandidaten und Kandidatenländer bei der Vorbereitung auf die Übernahme des acquis ganz gezielt durch die verschiedenen Programme der Heranführungshilfe. Ein weiteres Hauptziel von PHARE besteht in der Mitfinanzierung von »investment in the countries’ regulatory framework to strengthen the regulatory infrastructure needed to ensure compliance with the acquis« (Commission 2002 : 8; Herv. im Orig.). Die Heranführungshilfe soll die Kandidatenländer also dabei unterstützen, eine Infrastruktur aufzubauen, mit welcher der gemeinsame Binnenmarkt verwirklicht werden kann. Dazu gehören Bereiche wie Lebensmittelsicherheit, Verbraucherschutz und Grenzsicherung. Darüber hinaus dient PHARE auch zum Aufbau von nationalen wie auch regionalen Institutionen und Instrumenten, die als Rahmen zur Umsetzung des gemeinsamen Marktes und entsprechender Praktiken dienen. Diese institutionelle Struktur wird dabei definiert als »the process of helping the candidate countries to develop the structures, strategies, human resources and management skills needed to strengthen their economic, social, regulatory and administrative capacity« (ebd.). Diese Aussage verdeutlicht, dass es sich bei den Heranführungshilfen nicht lediglich um Programme handelt, durch welche die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Staaten Mittel- und Osteuropas an westliche Standards herangeführt werden soll. Vielmehr ist die Zielsetzung innerhalb der vorliegend gewählten Argumentationsweise umfangreicher zu verstehen: Es geht aus einer neo-gramscianischen Perspektive um die vollständige Rekonfiguration der politischen und rechtlichen Sphäre auf nationaler und regionaler Ebene, unter besonderer Berücksichtigung eines (neoliberalen) ökonomischen Schwerpunkts. Die Hilfen werden ja gerade dafür bereitgestellt, institutionell-regulatorische Strukturen, Verfahren und Kapazitäten zu schaffen, die im Sinne der bestehenden neoliberalen Marktkultur der EU geprägt werden sollen. Für die Übernahme des acquis von entscheidender Bedeutung ist das sogenannte »Twinning« als ein Instrument, mit dessen Hilfe der bereits erwähnte Aufbau von natiwww.claudia-wild.de: <?page no="252"?> Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 253 8.3 Erklärung aus Sicht des Neo-Gramscianismus 253 onalen und regionalen Institutionen forciert werden soll. Das Twinning-Instrument wurde 1998 im Rahmen von PHARE eingeführt und inzwischen auch auf Staaten ohne direkte Beitrittsperspektive ausgeweitet. Im Jahre 2009 endeten die letzten Twinning- Projekte für existierende Mitglieder, und zwar in der Form von Twinning-light-Projekten mit beschränkter Zielsetzung, namentlich in Rumänien und Bulgarien. Bei den entsprechenden Projekten geht es allgemein darum, dass Experten aus Mitgliedstaaten der EU langfristig in potenzielle Beitrittskandidaten und Kandidatenländer abgeordnet werden und sie dabei unterstützen, Verwaltungsinstitutionen und -verfahren auf die Übernahme, Implementierung und Durchsetzung europäischer Rechtsakte und Gerichtsurteile vorzubereiten. Dadurch wird also ein wesentlicher Beitrag geleistet, um die administrativen Kräfte zukünftiger Mitgliedstaaten auf einen EU-konformen Kurs zu bringen und somit auf die Implementation des neuen Konstitutionalismus vorzubereiten. Hierbei spielt insbesondere auch die Transformation regelungsrelevanter Strukturen auf regionaler und kommunaler Ebene eine wichtige Rolle, weil traditionelle Verhaltensweisen dort noch stärker festsitzen, als auf der exponierten nationalen Ebene. Darüber hinaus wird auf diese Weise aber auch verhindert, dass die administrative Umsetzung vornehmlich nach den Regeln und Strukturen der jeweiligen Staaten und deren Verwaltungstraditionen geschieht, weil die Experten ja bereits Teil des neoliberalen Integrationsprojekts sind und damit die gewünschten Strukturen, Arbeitsweisen und Verfahren in die Kandidatenländer einbringen können. Dies verweist bereits auf die dritte erklärende Variable »universelle Marktkultur«, die sich zwar bei Gill auf gesellschaftliche Akteure und Individuen bezieht, aber in Erweiterung dazu auch eine politische Dimension in sich trägt. 133 In Tabelle 14 findet sich zur Veranschaulichung eine Übersicht der Twinning-Projekte nach Sektoren im Zeitraum von 1998 bis 2006. Der Tabelle lässt sich gut die hohe Zahl und sektorale Breite der Twinning-Projekte entnehmen, die im Rahmen des Programms PHARE und der sogenannten »Übergangsfazilität« finanziert wurden. Abgedeckt werden dabei alle zentralen Politikbereiche der EU mit Schwerpunkt auf Finanzen und Binnenmarkt sowie Justiz und Innenpolitik. Dies dürfte aus Sicht des Neo-Gramscianismus nicht weiter verwundern, weil diese Bereiche als entscheidend zur Durchsetzung des neoliberalen Projekts gelten. Zum einen geht es hier um die Anpassung der jeweiligen Märkte an EU-Standards, und zum anderen um die innere Stabilität und rechtliche Sicherheit, mit deren Hilfe die neue Marktordnung für die Zukunft aufrechterhalten werden kann. Twinning- Projekte betreffen dabei im hohen Maße auch die regionalpolitische Komponente der öffentlichen Verwaltung, ohne die eine Anpassung an EU-Standards nicht möglich erscheint. Darüber hinaus zeigt die Tabelle auch, dass ein Teil der Projekte explizit den Umgang mit Strukturfonds und den dazu gehörenden Maßnahmen betrifft, um so deren korrekte Anwendung und somit Erfolg zu sichern. 133 Vgl. hierzu den folgenden Abschnitt zur universellen Marktkultur. <?page no="253"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 254 254 8. Neo-Gramscianismus Die soeben erwähnten Übergangsfinanzierungen betreffen die neuen Mitgliedstaaten, die von 2004 bis 2006 keine Strukturfondsmittel erhielten. Ziel dieser zusätzlichen Hilfen ist es dabei explizit, »den Ausbau der administrativen Kapazitäten, die zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts erforderlich sind, und den Austausch bewährter Verfahren unter Fachleuten [zu] fördern«. 134 Dies ist regionalpolitisch insbesondere mit Blick auf regionale Regierungen und öffentliche Verwaltungen höchst relevant, aber ebenso bezüglich Verbandsvertreter sowie regional tätiger Regulierungs- und Aufsichtsbehörden. Wie man sieht, geht es auch hier darum, neben der »korrekten« Anwendung des Gemeinschaftsrechts auch bewährte Verfahren der EU in die neuen Mitgliedstaaten zu transportieren. Dies dient aus einer neo-gramscianischen Sichtweise wiederum dazu, als unerwünscht wahrgenommene traditionelle Verfahren der neuen Mitglieder erst gar nicht zuzulassen, sondern von vornherein durch eigene Praktiken zu ersetzen. 134 Dem Glossar der für Erweiterung zuständigen Seite der Europäischen Kommission zum Begriff »Übergangsfazilität« entnommen. Vgl. http: / / ec.europa.eu/ enlargement/ glossary/ terms/ transitionfacility_de.htm, zuletzt am 31.12.2011. Tabelle 14: PHARE-/ Transitional-Facility-Twinning-Projekte 1998-- 2006 nach Sektor Sektor BG CZ CY EE HU LV LT MT PL RO SK SI TR Total Landwirtschaft & Fischerei 17 8 0 11 14 7 22 8 40 29 9 10 8 184 Umwelt 21 12 0 9 11 5 2 5 22 17 12 3 9 128 Strukturfonds 9 6 0 2 5 3 3 1 21 25 3 7 1 86 Konsens & Sozialpolitik 10 21 0 10 11 7 6 1 16 15 11 2 2 112 Finanzen & Binnenmarkt 34 14 1 11 8 14 17 1 27 42 10 9 11 204 Justiz & Innenpolitik 42 26 1 18 14 18 18 1 27 50 18 10 21 266 Verkehr, Energie & TK 10 6 0 2 5 2 8 1 9 6 5 4 6 65 Standardisierung 1 0 0 0 0 8 2 0 17 1 2 7 8 46 Andere 4 15 0 7 2 5 7 3 17 22 7 1 2 95 Total 148 108 2 70 70 69 85 21 196 207 77 53 68 1186 Quelle: GD Erweiterung (Twinning and Sigma Co-ordination Team), bearbeitet <?page no="254"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 255 8.3 Erklärung aus Sicht des Neo-Gramscianismus 255 Noch mehr als im Falle des disziplinierenden Neoliberalismus spielt das Programm SAPARD eine wichtige Rolle für die Durchsetzung des neuen Konstitutionalismus, weil es speziell darauf ausgerichtet ist, Kandidatenländer auf die Übernahme des acquis in den Bereichen Landwirtschaft und ländliche Entwicklung vorzubereiten. Hierzu existieren neben der Umsetzung der gemeinsamen Agrar- und Regionalpolitik der EU auch finanzielle Gründe: Agrarsubventionen sowie auch die Strukturfondsförderung spielen weiterhin eine herausragende Rolle im EU-Budget, weshalb die Einbindung des Agrarsektors und der regionalen Wirtschaftsförderung neuer Mitgliedstaaten in die existierende europäische Struktur von essentieller Bedeutung ist. Schließlich sollten die umfangreichen Monitoring- und Evaluationsbestrebungen seitens der EU nicht unerwähnt bleiben, die positive wie negative Fortschritte dokumentieren und auf Fehlstellen in der Umsetzung hinweisen (Commission 2006a: 8 f.). Dies dient aus neo-gramscianischer Perspektive freilich nur dazu, jegliche Weiterführung traditioneller Handlungsweisen zu verdrängen und diese im Sinne eines ökonomischen Primats, der dem neuen Konstitutionalismus zugrunde liegt, zu disziplinieren. Universelle Marktkultur Gill versteht die Schaffung einer universellen Marktkultur als wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Zivilgesellschaft im Sinne des neoliberalen Integrationsprojekts rekonfiguriert werden kann. Dies zielt insbesondere auf Gramscis Konzept eines integralen Staates, der neben dem politischen Bereich auch die Zivilgesellschaft in sein Staatsverständnis mit aufnimmt. Es ist jedoch ebenso anzunehmen, dass sich nicht nur in der zivilgesellschaftlichen Sphäre eine Marktkultur in Affirmation des neoliberalen Projekts etablieren muss. Gleichzeitig sollte innerhalb einer neo-gramscianischen Erklärung nicht vernachlässigt werden, dass auch all diejenigen Akteure sich eine solche Marktkultur zu eigen machen müssen, die mit der Implementation und Durchsetzung des acquis communautaire betraut sind- - im Wesentlichen also die Bürokratie bzw. öffentliche Verwaltung. In Erweiterung zur Argumentation Gills lässt sich daher anbringen, dass ein bevölkerungsweiter Konsens im Sinne des neoliberalen Diskurses zunächst einen Konsens auf der politisch-administrativen Ebene voraussetzt. Dass die EU eben dieses Ziel verfolgt, lässt sich beispielhaft am Twinning-Instrument verdeutlichen. Dieses dient ja gerade dazu, bürokratisches Expertenwissen aus etablierten Mitgliedstaaten in Kandidatenländern und potenziellen Beitrittskandidaten verfügbar zu machen und die Verwaltungsakteure auf nationaler sowie regionaler Ebene im Sinne des neoliberalen Projekts zu disziplinieren, indem Strukturen, Prozesse und Handlungsweisen übertragen werden. <?page no="255"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 256 256 8. Neo-Gramscianismus Tabelle 15: Konsumausgaben der privaten Haushalte zu jeweiligen Preisen in KKS je Einwohner - 1995 2000 2003 2004 *2005 2006 2007 2008 2009 EU (27 Länder) 8400 11000 11900 12400 12900 13500 14000 14100 13500 EU (25 Länder) 8700 11500 12400 12900 13400 14000 14500 14600 13900 EU (15 Länder) 9700 12600 13500 13900 14500 15100 15600 15600 14900 Euroraum (16 Länder) 9500 12200 13000 13400 14000 14600 15100 15200 14500 Deutschland 10400 12600 13600 14100 14700 15200 15600 15600 15200 Vereinigtes Königreich 10100 14200 15600 16400 16900 17300 17600 17700 17000 Bulgarien 3300 3900 4900 5300 5700 6300 6800 7300 X Estland *2800 4700 6200 6800 7500 8400 9300 9100 7400 Lettland 2900 4200 5500 6100 6600 7700 8400 8700 6900 Litauen 3300 4900 6600 7200 7800 8500 9400 10000 8500 Malta 9900 12200 12200 12800 13200 13100 13400 13800 12900 Polen 3700 5800 6600 7000 7200 7600 8100 8600 8600 Rumänien X 3300 4200 5000 5400 6100 6800 7700 X Slowakei 3600 5300 6400 6900 7600 8400 9300 10100 10000 Slowenien 6700 9000 9900 10600 11200 11500 12200 *12800 *12000 Tschechische Republik 5600 7100 8100 8400 8700 9200 9900 10300 9800 Ungarn 4300 5900 7400 7500 7800 8100 8400 8800 7900 Zypern 10700 14100 14300 14800 15500 16200 17800 18600 X Island 10600 13900 13800 14900 15800 15300 15700 14700 13800 Republik Mazedonien X 3700 4100 4600 5000 5500 5900 6600 X Türkei 3100 6000 5700 6500 7200 7800 8300 X X Schweiz (p) 13000 16000 16700 17100 17500 18200 X X X Legende: X =-nicht verfügbar; * =-Reihenunterbrechung; p =-vorläufige Werte Quelle: Eurostat, bearbeitet <?page no="256"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 257 8.4 Fazit 257 Gills Verständnis der Kultur des Marktes lässt sich beispielsweise an den gestiegenen privaten Konsumausgaben in den neuen Mitgliedstaaten verdeutlichen, die aufgrund ihres Bezugs auf das Individuum stets auch eine regionale Bedeutung aufweisen. Konsum lässt sich nämlich als ein wichtiges Kriterium von auf Privateigentum ausgerichtetem Individualismus heranziehen, obgleich in den Werten auch die Grundversorgung in Form von Nahrungsmitteln, Wohnung und Bekleidung enthalten ist. In Tabelle 15 sind die privaten Konsumausgaben zu jeweiligen Preisen in Kaufkraftstandards (KKS) je Einwohner aufgelistet, der Einfachheit halber jedoch lediglich nach Staaten und nicht nach einzelnen Regionen. Während die privaten Konsumausgaben in den westlichen EU-Mitgliedstaaten zwischen 2000 und 2008 um durchschnittlich knapp 24 Prozent von 12600 auf 15600 KKS je Einwohner gestiegen sind, stiegen sie in den neuen Mitgliedstaaten im gleichen Zeitraum um durchschnittlich gut 60 Prozent von umgerechnet 5261 auf 8423 KKS je Einwohner. 135 Andererseits liegt der Konsum privater Haushalte in den neuen Mitgliedstaaten weiterhin deutlich unter demjenigen der westlichen Mitglieder; er beträgt im Jahr 2008 nämlich nur rund 54 Prozent. Weil die Konsumausgaben aber in den Ländern Mittel- und Osteuropas im Verhältnis zum Westen deutlich stärker ansteigen, lässt sich die neo-gramscianische Argumentation in dieser Hinsicht bestätigen. Hierbei handelt es sich somit um ein gutes Indiz für die These, dass sich auch in diesen Staaten zunehmend eine Kultur des Marktes ausbreitet. Gleichzeitig besteht aber weiterhin eine große Diskrepanz zwischen West und Ost, was nahelegt, dass die Rekonfigurationsprozesse der mittel- und osteuropäischen Peripherie bei Weitem noch nicht abgeschlossen sind. 8.4 Fazit Zusammenfassend wurde in diesem Kapitel gezeigt, dass die Europäische Union aus der Sicht neo-gramscianischer Ansätze als Teil eines westlichen transnationalen historischen Blocks interpretiert werden kann und auch mit Hilfe von Maßnahmen der Regionalpolitik im Allgemeinen sowie der Strukturfondspolitik im Speziellen ein neoliberales Integrationsprojekt verfolgt. Dieses Projekt lässt sich Gill zufolge zwar nicht als Hegemonie bezeichnen, konstituiert aber gleichwohl eine vorherrschende politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Instanz. Es reicht insofern sowohl über eine rein politische Ideologie als auch ein ausschließlich ökonomisches Vorhaben hinaus und nimmt innerhalb des umfassenden neoliberalen Diskurses eine zentrale Stellung in allen Lebensbereichen ein. Anhand dreier Rekonfigurationsprozesse wurde 135 Berechnung analog zu Tabelle 13; als Basis dienen die Werte der Tabelle und die Bevölkerungsanteile von ebenda. <?page no="257"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 258 258 8. Neo-Gramscianismus verdeutlicht, dass die EU mithilfe von disziplinierenden Instrumenten versucht, die mittel- und osteuropäischen Kandidatenländer und potenziellen Beitrittskandidaten in den bestehenden »neoliberalen Schirm« zu integrieren und somit alternative Entwicklungspfade für diese Staaten zu verdrängen. Es wurde in diesem Zusammenhang festgestellt, dass die Heranführungshilfen PHARE, SAPARD und ISPA (bzw. seit 2007 IPA als einziges Nachfolgeinstrument) tatsächlich als Instrumente betrachtet werden können, die erstens im Sinne des disziplinierenden Neoliberalismus dazu geeignet sind, entsprechende Staaten politisch an die EU zu binden. Zweitens dienen sie dazu, den aus neo-gramscianischer Perspektive als neuen Konstitutionalismus bezeichneten gemeinsamen vertraglichen Besitzstand leichter in die jeweiligen rechtlichen Ordnungen übertragen zu können. Drittens werden die Heranführungshilfen schließlich dazu verwendet, eine Kultur des Marktes auf einer individuellen zivilgesellschaftlichen, aber in Erweiterung zu Gill auch auf einer politischen Ebene auszubreiten, um so den umfassenden Diskurs des Neoliberalismus in beiden Dimensionen des integralen Staates festzuschreiben. Dieses Kapitel sollte verdeutlichen, wie durch die theoretische Wahl des Neo- Gramscianismus bereits das zu untersuchende Phänomen wie auch zumindest implizit die Fragestellung und die zu erklärenden Variablen determiniert worden sind. Dabei muss berücksichtigt werden, dass trotz des grundsätzlich kritischen Anspruchs neo-gramscianischer Perspektiven stets auch erklärende Elemente enthalten sind, die im vorliegenden Kapitel analytisch lediglich konkretisiert wurden. Es wäre also beispielsweise nicht möglich gewesen, die unterschiedlichen Eigeninteressen der Mitgliedstaaten zur Schaffung der Strukturfonds als Erklärungsgegenstand auszuwählen. Dies widerspricht der kritischen Herangehensweise des theoretischen Konzepts und dessen Fokus, Widersprüche innerhalb existierender Macht- und Kräfteverhältnisse aufzudecken. Was wurde demnach nicht untersucht und erklärt? Mit dem Versuch, strukturelle Veränderungsprozesse innerhalb des europäischen Integrationsprojekts aufzudecken und infrage zu stellen, bleibt kaum eine Möglichkeit, »klassische« empirische Analysen von spezifischen Politikprozessen innerhalb der Europäischen Union durchzuführen. Neo-gramscianischen Ansätzen ist ja gerade gemein, dass sie sich nicht als problemlösungsorientiert begreifen, insofern also einen genuin anderen Anspruch besitzen. Lässt man diese generelle Beobachtung und die daraus potenziell resultierenden Kritikpunkte außer Acht und konzentriert sich auf den strukturellen Fokus, stellen sich vor allem die Interaktionen einzelner politischer Akteure innerhalb spezifischer Politikprozesse als problematisch heraus, weil diese nicht auf einer strukturellen Ebene angesiedelt sind. Zwar spielen zwischenstaatliche Konflikte durchaus eine Rolle, jedoch geraten die Eigeninteressen von Staaten häufig in den Hintergrund. Ähnlich wie im Falle des Neo-Funktionalismus werden also intentionale politische Entscheidungen nicht ausreichend berücksichtigt, zumindest wenn das Ziel darin besteht, unterschiedliche Positionen politischer Einzelakteure zu begründen. <?page no="258"?> www.claudia-wild.de: Knodt__Europaeische_Integration__III/ 11.04.2012/ Seite 259 8.4 Fazit 259 Darüber hinaus stand in der vorliegenden Betrachtung nicht im Vordergrund, dass der Neo-Gramscianismus einen Schwerpunkt auf die Bedeutung zivilgesellschaftlicher (und nicht politischer) Akteure legt. Diese werden jedoch ihrerseits weniger mit NGOs oder anderen gesellschaftlichen Vereinigungen identifiziert, wie dies im theoretischen »Mainstream« geschieht, sondern eher in transnationalen intellektuellen Eliten aus Politik und Wirtschaft verortet (vgl. z. B. Gill 2008 : 183 ff.). Dieses spezifische Verständnis liefert eine weitere Begründung dafür, warum zahlreiche Einflussfaktoren, die auf politische Prozesse wirken, keine Berücksichtigung finden. In diesem Zusammenhang muss jedoch betont werden, dass darin auch nicht der Anspruch kritischer neo-gramscianischer Analysen zu sehen ist. Literatur Bieling, Hans-Jürgen 2002: Die politische Theorie des Neomarxismus: Antonio Gramsci, in: Brodocz, Andre/ Schaal, Gary S. (Hg.): Politische Theorien der Gegenwart I. Opladen, 439- 470. Bieling, Hans-Jürgen/ Deppe, Frank 1996: Neo-Gramscianismus in der internationalen politischen Ökonomie-- eine Problemskizze, in: Das Argument 217, 729-740. Bieling, Hans-Jürgen/ Steinhilber, Jochen 2000: Einleitung: Theorie und Kritik der europäischen Integration, in: dies. (Hg.): Die Konfiguration Europas. Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie. Münster, 7-22. 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Das Buch richtet sich in Darstellung und Stil konsequent an Studierende der ersten Semester und bietet so einen hervorragenden Einstieg in eines der Kerngebiete des politikwissenschaftlichen Studiums. • Definitionen, Dokumentenauszüge und Hintergrundinformationen erleichtern das Lernen • zahlreiche Tabellen und Abbildungen machen Fakten deutlich • Lernkontrollfragen fördern das Verständnis • mit weiterführenden kommentierten Literaturangaben und Weblinks • ein Register bietet zusätzliche Orientierung • ideal für die Prüfungsvorbereitung Stefan Marschall ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Düsseldorf. <?page no="261"?> Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Wilhelm Hofmann, Nicolai Dose, Dieter Wolf Politikwissenschaft 2007, 304 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-2837-8 UTB Basics : Weiterlesen bei UTB Eine umfassende Einführung in das Fach Politikwissenschaft. Verständlich und anschaulich führen die Autoren in die drei zentralen Bereiche »Politische Theorie«, »Politisches System« und »Internationale Beziehungen« ein. Sie vermitteln die grundlegenden Begriffe und machen komplexe Theorieansätze auch für Studierende ohne Vorkenntnisse leicht nachvollziehbar. Den Studierenden soll so eine schnelle Orientierung im Fach sowie ein darauf aufbauendes, zielgerichtetes Studium ermöglicht werden. Wilhelm Hofmann ist Professor für politische Wissenschaft an der TU München. Nicolai Dose ist Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaft an der Universität Siegen. Dieter Wolf ist Dozent an der Universität Bremen. <?page no="262"?> Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Reinhard Wesel Internationale Regime und Organisationen 2012, 250 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-3359-4 UTB M-Format : Weiterlesen bei UTB Sicherheit und Abrüstung, Welthandel und Weltwirtschaft, Ernährung, Menschenrechte, Umweltschutz und Klimawandel sind für uns und unsere Zukunft globale Probleme größter Bedeutung. Reinhard Wesel erklärt in dieser Einführung, welche (wachsende) Rolle internationale Organisationen und Regime spielen und beschreibt ihre theoretischen Grundlagen, Strukturen und Funktionsweisen. Schaubilder, Synopsen, Tabellen und Pro-/ Contra-Listen veranschaulichen das nötige Informationswissen. Reinhard Wesel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Marburg. <?page no="263"?> Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de : Weiterlesen bei UTB Petrus Han Soziologie der Migration Erklärungsmodelle, Fakten, Politische Konsequenzen, Perspektiven 3., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2010, 408 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-2118-8 UTB M-Format Seit Jahrzehnten nehmen die Migrationsbewegungen weltweit stetig zu und erfassen die gesamten Weltregionen. Die einstige Einteilung zwischen den sog. Aus- und Einwanderungsländern relativiert sich. Vor diesem Hintergrund beschreibt das vorliegende Buch als Einführung die komplexen Themenbereiche der Migrationssoziologie. Petrus Han Frauen und Migration Strukturelle Bedingungen, Fakten und soziale Folgen der Frauenmigration 2003, 326 Seiten 21 s/ w Abb., broschiert ISBN 978-3-8252-2390-8 UTB S-Format Petrus Han Theorien zur internationalen Migration Ausgewählte interdisziplinäre Migrationstheorien und deren zentrale Aussagen 2006, 300 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-2814-9 UTB S-Format Ingrid Oswald Migrationssoziologie 2007, 224 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-2901-6 UTB M-Format Im Zuge der Globalisierung werden Nationalstaatsgrenzen durchlässiger und internationale Migrationen zur Norm. Diese sind mehr als nur räumliche Bewegungsvorgänge und führen zu erheblichen Veränderungen in der Sozialstruktur einer Gesellschaft. Ingrid Oswald legt eine soziologische Einführung in das Themenfeld Migration vor: Grundlegende Begriffserklärungen, ein historischer Abriss und die Darstellung der wichtigsten Migrationstheorien werden ergänzt durch aktuelle Themengebiete wie Ethnizität, Integrationsforschung, Postkolonialismus und Globalisierung sowie Migrationsregime/ Migrationsinstitutionen. »›Migrationssoziologie‹ ist ein gutes Lehrbuch, das nicht nur für Studentinnen und Studenten, sondern für alle, die sich über dieses Thema informieren wollen, ein Gewinn sein dürfte.« Soziologische Revue