Soziologie
0914
2011
978-3-8385-3616-3
978-3-8252-3616-8
UTB
Prof. Dr. Hermann Korte
Prof. Dr. Stefanie Ernst
Soziologie kurz gefasst: Das basics-Lehrbuch in aktualisierter Neuauflage für das Grundstudium. Hier finden Sie kompaktes Basiswissen über:
- die Entstehung des Fachs
- wichtige theoretische Positionen
- Beispiele für aktuelle soziologische Debatten
Die Autoren stellen die Grundlagen von Comte bis Weber dar und vermitteln einen Überblick zu Handlungstheorie, Systemtheorie, Kritischer Theorie und Geschlechterforschung. Soziale Ungleichheit, Individualisierung/Globalisierung sowie die empirische Sozialforschung und ihre Methoden werden als Beispiele für aktuelle soziologische Debatten vorgestellt.
Der moderne didaktische Aufbau des Bandes ermöglicht durch Kapitelübersichten und Zusammenfassungen die schnelle Orientierung. Arbeitsaufgaben mit Lösungen erlauben eine rasche Überprüfung des Gelernten. Grafische Elemente erleichtern die Leserführung und strukturieren den Soff, und Stichworte, Glossare, Definitionen, Merksätze und ausführliche Register ermöglichen den direkten Zugriff auf einzelne Passagen zum Nachlesen und Wiederholen.
<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Orell Füssli Verlag · Zürich Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/ Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich UTB 2518 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 1 <?page no="2"?> UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 2 <?page no="3"?> basics H E R M A N N K O R T E , S T E F A N I E E R N S T Soziologie 2., überarbeitete Auflage UVK Verlagsgesellschaft mbH UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 3 <?page no="4"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8252-3616-8 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. 1. Auflage 2004 2. Auflage 2011 © Hermann Korte, Stefanie Ernst, 2011 Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandfoto: getty images, John Millar Satz und Layout: Susanne Fuellhaas, Konstanz, weisssdesign.de Druck: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstraße 24 · D-78462 Konstanz Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de Zu den Autoren: Hermann Korte (em.) lehrte als Professor für Soziologie an den Universitäten Bielefeld, Bochum und Hamburg. Stefanie Ernst ist Juniorprofessorin für Soziologie mit den Schwerpunkten Arbeit, Organisation und Geschlechterverhältnisse am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg. Impressum UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 4 <?page no="5"?> Für Jens-Anders und Inga Milena Widmung UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 5 <?page no="6"?> 7 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9 Zum Gebrauch dieses Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .10 1 Die Entstehung des Fachs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .13 1.1 Von den Anfängen der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .13 1.2 Die Anfänge der nationalen Soziologien im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .33 1.3 Max Weber (1864-1920) - der eigentliche Beginn der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .53 2 Wichtige theoretische Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .67 2.1 Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .67 2.2 Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .79 2.3 Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .94 2.4 Frauen- und Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .105 2.5 Die Zusammenführung von System- und Handlungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .121 3 Aktuelle soziologische Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .141 3.1 Klassen, Schichten, soziale Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .141 3.2 Individualisierung und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .155 3.3 Empirische Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .169 Gesamtliteraturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .184 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .188 Zum Schluss: Vielerlei Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .191 Inhalt UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 7 <?page no="7"?> UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 8 <?page no="8"?> 9 Zum Gebrauch dieses Buches Diese Einführung in die Soziologie ist durch zwei Rahmenbedingungen bestimmt. Einmal soll ein Überblick über das Fach gegeben werden, dies aber zum anderen in einer Weise, dass der Stoff im zeitlichen Rahmen eines Semesters gelernt werden kann. Diese beiden Bedingungen bestimmen den Inhalt und auch den Umfang dieses Buches, das in drei Abschnitte unterteilt ist: • die Entstehung des Faches, • wichtige theoretische Positionen, • Beispiele für aktuelle soziologische Debatten. Die Entstehung des Faches ist deshalb ein notwendiger Bestandteil, weil viele der heutigen Probleme der Soziologie noch aus der Entstehungszeit herrühren. Außerdem ist es für die Einsicht in die Reichweite soziologischer Forschung hilfreich, die Entstehungsgeschichte zu kennen. Viele Debatten, zum Beispiel die über die Frage, wie es zu sozialer Ungleichheit kommt zwischen Menschen und zwischen den Gesellschaften, die diese miteinander bilden, standen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts und verstärkt zum Ende des 19. Jahrhunderts im Mittelpunkt soziologischer Diskurse. Die Kapitel 1.1 bis 1.3 sind deshalb der Entwicklung des Faches gewidmet, die mit der soziologischen Handlungslehre von Max Weber einen ersten Abschluss fand. Der zweite Teil stellt Theorieansätze in ihren Grundlagen vor. Es gibt in der Soziologie keinen eindimensionalen theoretischen Zugang, sondern miteinander konkurrierende Ansätze. Die Einteilung in Systemtheorien und Handlungstheorien hätte als Grobgliederung zwar eine gewisse Plausibilität. Sie reicht aber nicht aus, die heutige »Theorielandschaft« halbwegs abzubilden. Deshalb wird neben System- und Handlungstheorien die Kritische Theorie als eine Variante, die sich auf beide Ansätze beziehen kann, vorgestellt. Während dieser Ansatz, der zentral auf Karl Marx zurückgeht, schon in den 1920er Jahren entwickelt wurde, sind die beiden anderen Forschungsstrategien - sie werden in den Kapiteln 2.1 und 2.3 dargestellt - relativ neu. Einleitung Gliederung des Buches UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 9 <?page no="9"?> 10 Seit den 1970er Jahren hat sich in der Soziologie zunächst unter der Bezeichnung Frauenforschung ein neuer Arbeitszweig entwickelt, der auch neue soziologische Ansätze enthält. Im Verlauf der letzten 20 Jahre hat sich die Frauenforschung, und das wird in Kapitel 2.4 dargestellt, zur Geschlechterforschung weiterentwickelt. Schließlich werden in Kapitel 2.5 die Arbeiten von Norbert Elias und Pierre Bourdieu als Beispiele abgehandelt, in denen Systemtheorie und Handlungstheorie auf einer höheren Syntheseebene zusammengeführt werden. Der dritte Abschnitt dieses Einführungsbuches nimmt aktuelle Debatten zum Anlass, die Reichweite soziologischen Arbeitens darzustellen. Dabei zeigt sich dann bei den Beispielen Soziale Ungleichheit (Kapitel 3.1) und Individualisierung / Globalisierung (Kapitel 3.2), dass die heutigen Debatten sich immer wieder in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Gleiches gilt für die Art und Weise der empirischen Sozialforschung (Kapitel 3.3) und die Methoden, die sie verwendet. Weiterführende Literatur Bei den Rahmenbedingungen, die zu Anfang genannt wurden, liegt auf der Hand, dass die einzelnen Kapitel Übersichtscharakter haben, nicht aber die Breite und die Tiefe, die etwa ein Lehrbuch für Studierende des Faches im Hauptstudium aufweisen würde. Deshalb sind am Ende eines jeden Kapitels in einem Informationsteil wichtige Texte zu den behandelten Themen genannt. Dabei ist darauf geachtet worden, möglichst preisgünstige Ausgaben zu nennen. Außerdem finden sich am Ende jedes Kapitels Lernkontrollfragen. Diese sollten ohne das Buch zur Hilfe zu nehmen - gewissermaßen als Übungs-Klausur - bearbeitet werden. Dabei ist die Lektüre von Originaltexten und der angeratenen weiterführenden Literatur allerdings von Nutzen. In jedem Fall sollten sich Studierende schon im Grundstudium eine kleine Bibliothek anlegen. Dies gilt besonders für Lexika und Nachschlagewerke. An erster Stelle ist dabei auf die »Grundbegriffe der Soziologie« hinzuweisen, die Bernhard Schäfers herausgegeben hat. Anders als dieses Lehrbuch, das sich an klassischen Texten und Autoren und zentralen Debatten orientiert, ist das Taschenbuchlexikon von Schäfers für die Erklärung verschiedener zentraler Be- Lexika UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 10 <?page no="10"?> 11 griffe eine große Hilfe. Das Buch wird regelmäßig überarbeitet, deshalb sollte immer nach der neuesten Ausgabe gesucht werden. Dieser Hinweis gilt im Übrigen auch für die anderen noch zu nennenden Lexika. Hier ist auf das von Karl-Heinz Hillmann herausgegebene »Wörterbuch der Soziologie« besonders hinzuweisen, da es als Einziges sowohl Sachwörter erklärt als auch Angaben zu Personen, Soziologen und Soziologinnen macht. Das umfassendste Nachschlagewerk für die sozialwissenschaftliche Fachsprache ist das von Werner Fuchs-Heinritz et al. herausgegebene »Lexikon zur Soziologie« das allerdings nur Sachbegriffe enthält. Schließlich sei noch auf das umfangreiche »Handbuch Soziologie« (2008 hrsg. von Nina Baur et al.) hingewiesen, das 25 Übersichtsartikel zu zentralen Begriffen der Soziologie enthält. 1999 ist ein lange vergriffenes Werk über »Klassiker der Soziologie« neu erschienen, das Dirk Kaesler herausgegeben hat und das zwei Bände umfasst. Der erste Band beginnt bei Auguste Comte und geht bis Norbert Elias, der zweite von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu. Dort finden sich, mit Ausnahme der wichtigen Autorinnen zur Frauen- und Geschlechterforschung, sehr informative, jeweils etwa 20 Seiten lange Beiträge zu soziologischen Klassikern, geschrieben von jeweiligen Spezialisten, wobei der Herausgeber sein Bestes getan hat, den akademischen Schreibstil mancher Autoren zu mildern. Im Jahre 2000 ist ein weiteres Sammelwerk unter der Herausgabe von Dirk Kaesler und Ludgera Vogt erschienen, in dem etwa 100 klassische Texte in ihrer Entstehung, den zentralen Argumenten und der jeweiligen Bedeutung für das Fach vorgestellt werden. Auf diese Nachschlagewerke wird am Ende der einzelnen Kapitel nicht mehr im Einzelnen hingewiesen. Dort werden, wie schon gesagt, lediglich wichtige Originaltexte und weiterführende Beiträge zu dem jeweiligen Spezialthema genannt werden. Alle in den einzelnen Kapiteln erwähnten Aufsätze und Bücher, sei es im Text oder im Infoteil, sind in das Literaturverzeichnis am Ende des Buches aufgenommen worden. Die soziologische scientific community hat in Deutschland eine Reihe von Zeitschriften. Dabei handelt es sich um die üblichen Organe wissenschaftlicher Richtungen, wie sie auch andere Fächer kennen. Sie sind in der Übersicht am Ende aufgeführt. Es schadet nichts, gelegentlich in einer Universitäts- oder Institutsbibliothek Klassiker Fachzeitschriften UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 11 <?page no="11"?> 12 das eine oder andere Heft in die Hand zu nehmen. Besonders interessant für die derzeitige Gestalt des Faches ist die »Soziologische Revue«, in der nur neu erschienene Bücher besprochen werden, wobei die Spanne von umfangreichen Essays zu Teil- oder Spezialgebieten des Faches bis zu kurz gehaltenen Übersichtsbesprechungen reicht. Infoteil Bibliographische Hinweise zu den hier im Text genannten Lexika, Klassikertexten und Zeitschriften. Lexika Baur, Nina et al. (Hg.): Handbuch Soziologie, Wiesbaden: VS Verlag, 2008. Fuchs-Heinritz, Werner, et al. (Hg.): Lexikon zur Soziologie, Wiesbaden: VS Verlag, 2010 (5. überarb. Aufl.). Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart: Kröner Verlag, 2007 (5. vollst. überarb. und erw. Aufl.). Schäfers, Bernhard, Kopp, Johannes (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie, Wiesbaden: VS Verlag, 2006 (9., grundlegend überarb. und aktualisierte Aufl.). Klassiker Kaesler, Dirk (Hg.): Klassiker der Soziologie, Bd. 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias, München, C.H. Beck Verlag, 2006, Bd. 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, München C.H. Beck Verlag, 2007 (5., überarb., aktualisierte und erw. Auflage). Kaesler, Dirk, Vogt, Ludgera (Hg.): Hauptwerke der Soziologie, Stuttgart, Kröner Verlag, 2007 (2. durchgesehene Auflage). Zeitschriften Berliner Journal für Soziologie, Wiesbaden: VS Verlag. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wiesbaden: VS Verlag. Soziologische Revue: Besprechungen neuerer Literatur, München: Oldenbourg Verlag. Soziale Welt: Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. Zeitschrift für Soziologie, Stuttgart: Lucius & Lucius. UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 12 <?page no="12"?> 13 Die Entstehung des Fachs Von den Anfängen der Soziologie Die Anfänge der nationalen Soziologien im 19. Jahrhundert Max Weber (1864-1920) - der eigentliche Beginn der Soziologie 1.1 1.2 1.3 Inhalt | 1.1 | 1.1.1 | 1 Von den Anfängen der Soziologie Was hat »Der Name der Rose« mit der Entstehung des Faches Soziologie zu tun? Der Roman »Der Name der Rose« von Umberto Eco ist nicht nur ein spannender Kriminalroman, sondern auch die lehrreiche Darstellung einer Phase in der Geschichte, die für die Entstehung der Soziologie wichtig war. Das ist die Story: In einer Cluniazenser-Abtei an den Hängen des Apennin erscheint 1327 William von Baskerville, ein gelehrter Franziskanermönch aus England. Er kommt als Sonderbotschafter des Kaisers in einer höchst delikaten Mission. Er soll ein schwieriges politisches Treffen zwischen den der Ketzerei verdächtigten Minoriten und den Abgesandten des Papstes organisieren. Die Minoriten legen die Heilige Schrift so aus, dass Priester arm sein sollen und die Reichtümer der Kirche an die Armen verteilt werden müssen. Der Papst besteht - auch mit Argumenten der Bibel - auf dem feudalen System des Kirchenstaates. Kaum ist Baskerville in der Abtei angekommen, geschehen dort mehrere Morde. Baskerville löst die Mordfälle mit quasi-naturwissenschaftlichen Methoden. Dies wird dem Leser dadurch deutlich, dass er UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 13 <?page no="13"?> eine Reihe naturwissenschaftlicher Beweisverfahren anwendet. Er glaubt nur das, was er sieht und was er beobachten kann. Wir haben es hier mit dem Vorabend einer neuen Zeit zu tun, die vor allem dadurch gekennzeichnet ist, dass die Naturwissenschaften nach und nach mythologische und theologische Glaubenssysteme in Frage stellen. Das Problem der Mächtigen der damaligen Zeit, und insbesondere der mächtigen Disziplin der Theologie, besteht darin, dass immer deutlicher wird, dass es für den Ablauf in der Natur Gesetze gibt. Diese lassen sich aufschreiben und sind mit wiederholbaren und intersubjektiv überprüfbaren Versuchen zu beweisen. Baskerville sagt zu seinem jungen Begleiter: »Der Zweifel ist der Feind des Glaubens.« So bekommen die Interpretationen, dass Gott alles regiert und determiniert, erste Brüche. Je mehr diese Einsicht voranschreitet, umso mehr entwickelt sich die Vorstellung, dass unter Umständen die Art und Weise, wie die Menschen in Gottes Namen regiert werden, nicht von Gott bestimmt ist, sondern dass es ein Naturrecht gibt. D.h. Menschen können aus sich heraus und nicht durch Gottes Fügung ihr Leben regeln. Nach und nach bekommt die alte Welt der Mythen und Symbole Risse. Die bohrenden und zugleich befreienden Zweifel an den tradierten Wirklichkeiten nehmen zu. Die alten Sozialstrukturen aber wissen sich zu wehren: Inquisition, Hexenverfolgung, Religionskriege, die Bastille. Vielfältige Unterdrückungsmöglichkeiten und auslöschende Maßnahmen stehen den Herrschenden zur Verfügung und werden, wie wir aus der Geschichte wissen, auch angewendet. 14 Der Zweifel nagt am Glauben Die Idee des mündigen Menschen Definition ˘ Unter Naturrecht wird im Allgemeinen eine bereits von Sokrates, Platon und den Kynikern vorbereitete Auffassung verstanden, wonach das Recht in der Natur, also im Wesen der Menschen, begründet ist. Insbesondere in der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts wurde - allen voran durch Kant - dieser Gedanke wieder aufgegriffen. Die Aufklärer gingen davon aus, dass in allen Menschen dieselbe Weltvernunft wirksam ist und dass deshalb das Naturrecht für alle Menschen gleich, unabhängig von Zeit und Ort sowie unabänderlich ist. Y Ableitung der Menschenrechte Naturrecht UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 14 <?page no="14"?> 15 Bevor »die Gesellschaft« als eigenständiger Forschungsgegenstand der Soziologie in den Blick rücken kann, steht zunächst das Verhältnis Mensch - Natur - Gott zur Diskussion. Dies ist das zentrale Thema der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert. Der emanzipative Geist der Aufklärung führte zu der Einsicht, dass es gesellschaftliche Handlungszusammenhänge gibt, die sich selbst regulieren und daher nicht vom Staat oder von der Kirche reguliert werden müssen. Vor allem Philosophen und Rechtsgelehrte beschäftigten sich mit der Frage, nach welchen Regeln, Gesetzen und Entwicklungsprinzipien Gesellschaften funktionieren. Die gesellschaftliche Ordnung wurde als Repräsentation einer natürlichen Ordnung verstanden. Der Gedanke, dass die Art und Weise, wie eine Gesellschaft funktioniert, sich in erster Linie aus den gesellschaftlichen Bedingungen selbst erklären lässt, war aber noch unbekannt. Für alle, die zu der damaligen Zeit darüber nachdachten, bestand das Ausgangsproblem im Wandel der Werte und Institutionen, die man im Absolutismus als selbstverständlich und unveränderbar vorausgesetzt hatte (Monarchie, Ständestaat, Feudalsystem). Die Vorstellung eines gesetzmäßigen gesellschaftlichen Zusammenhanges, dessen Erforschung im 18. Jahrhundert und dann massiv im 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt rückt, ist von Anfang an mit der Erkenntnis verbunden, dass gesellschaftliche Eigengesetzlichkeiten mit bestimmten institutionellen Voraussetzungen verbunden sind. So hat zum Beispiel der Engländer Thomas Hobbes (1588-1679) erkannt, dass ein verhältnismäßig friedliches Zusammenleben der Mitglieder einer Gesellschaft nur möglich ist, wenn der Einzelne auf die Ausübung von Gewalt verzichtet und sie dem Staat überträgt. Der Staat hat dafür im Gegenzug für seine 17. und 18. Jahrhundert Wie funktioniert die Gesellschaft? Thomas Hobbes Definition ˘ Die Aufklärung war eine Kultur- und Geistesbewegung mit dem Ziel, Anschauungen, die auf religiöser oder politischer Autorität beruhten, durch solche zu ersetzen, die sich aus der Betätigung der menschlichen Vernunft ergeben und die der vernunftgemäßen Kritik jedes einzelnen Menschen standhalten. Damit war ein sich in ganz Europa vollziehender Umschichtungsprozess in Richtung Säkularisierung verbunden. Aufklärung UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 15 <?page no="15"?> Bürger zu sorgen. Der Franzose Charles de Montesquieu (1689- 1755), für den das Vertragsprinzip bereits die Grundlage gesellschaftlichen Zusammenlebens darstellt, versucht in seinem Hauptwerk »L’esprit des lois« der Frage nachzuspüren: Warum organisieren die Menschen in einer Gesellschaft ihr Zusammenleben auf die sich in den Gesetzen manifestierende Weise, und unterscheiden sie sich dadurch von anderen Gesellschaften? Das große Thema des 19. Jahrhunderts ist die Suche nach Naturgesetzen des menschlichen Zusammenlebens und der gesellschaftlichen Entwicklung. Der Unterschied zwischen Gesellschafts- und Naturwissenschaften ist dabei kein prinzipieller mehr, sondern er liegt in der Vielzahl der Datenphänomene und Faktoren begründet, mit denen die Gesellschaftswissenschaften umzugehen haben. Dabei orientieren sich die frühen Gesellschaftswissenschaften an den Forschungsmethoden und den Regeln der Beweisführung der Naturwissenschaften. Dies wird in den Gesellschaftswissenschaften von Anbeginn als Positivismus verstanden. Die Sozialwissenschaften sollen somit dieselben Methoden verwenden wie die Naturwissenschaften. Das bewegt die Fächer bis heute und wird in den einzelnen Fächern sehr unterschiedlich beantwortet. In der Psychologie z.B. hatte sich über längere Zeit die Meinung durchgesetzt, dass es einheitliche wissenschaftliche Methoden gibt, dass es keinen Unterschied gibt zwischen Psychologie und Physik, sondern dass alle nach den gleichen Prinzipien vorgehen - ein positivistisches Verständnis von Psychologie also. Auch in der Soziologie gibt es WissenschaftlerInnen, die darauf bestehen, dass es keine Unterschiede in den Methoden gibt. Davon unterscheiden sich die anderen Richtungen, die die Soziologie als eine relativ autonome Wissenschaft mit eigenen Verfahren verstehen. 16 Definition ˘ Die Suche nach den Naturgesetzen des menschlichen Umgangs und der gesellschaftlichen Entwicklung soll mit Hilfe von beobachtbaren, erfahrbaren Tatsachen erfolgen. Der Unterschied zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften ist kein prinzipieller, sondern nur durch die Vielzahl der Daten, Phänomene und Faktoren begründet, mit denen die Gesellschaftswissenschaften umzugehen haben. Positivismus Charles de Montesquieu 19. Jahrhundert Eine Wissenschaft oder mehrere Wissenschaften? UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 16 <?page no="16"?> 17 An dieser Stelle kann Auguste Comte, der Begründer des Faches Soziologie, die Szene betreten. Er verwendete als Erster das Wort Soziologie für die spezielle Wissenschaft vom gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen. Aber das ist nicht so wichtig wie die Tatsache, dass er als Erster eine Begründung für die Veränderung von gesellschaftlichen Systemen fand, die nicht von außen an die Gesellschaft herangetragen wurde, sondern aus spezifischen Elementen des menschlichen Zusammenlebens selbst entstand. Der erste Soziologe: Auguste Comte (1798-1857) 1798, neun Jahre nach der Französischen Revolution geboren, hat er ein sehr bewegtes Leben voller Miseren und seelischer Qualen geführt. Er schreibt bereits mit 24 Jahren ein großes Buch: »Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für die Reformen der Gesellschaft notwendig sind«. Anschließend lebt er in dem Gefühl, ein bedeutender Wissenschaftler zu sein. Er hat aber offensichtlich nicht die persönlichen Möglichkeiten, dieses anderen Menschen mitzuteilen, ohne sie zu kränken. Dies führt dazu, dass er sich - etwa seit 1830 - durch Privatvorlesungen in seiner Wohnung in der Rue Monsieur-le-Prince 10 in Paris in der Nähe der Sorbonne über Wasser halten muss. Dort gibt es noch heute ein Auguste- Comte-Museum, in dem zu besichtigen ist, dass sich der Arbeitsplatz von Comte vor einem großen Spiegel befand. Diese Metapher - über die Gesellschaft schreibend sieht er immer auch sich selbst - versinnbildlicht ein Problem, mit dem es Soziologen und Soziologinnen bis heute zu tun haben. Wenn wir über Gesellschaft schreiben, schreiben wir immer auch über uns selbst. Comte ist für uns deshalb von Interesse, weil er der Erste ist, der eine nicht-naturwissenschaftliche und nicht-philosophische oder metaphysisch-religiöse Erklärung für die Veränderung von Gesellschaft gibt. Sein allgemein-historisches Fortschrittskonzept erklärt die geistige Höher- und Weiterentwicklung der Menschheit und eine daraus resultierende intellektuelle Emanzipation von vorwissenschaftlichen Denkgewohnheiten. Um in der komplexen Welt den individuellen Freiheitsspielraum erweitern zu können, ist das Individuum gezwungen, sich an positiven Tatsachen und immer komplizierter werdenden Tatsachenzusammenhängen zu orientieren. | 1.1.2 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 17 <?page no="17"?> Das Dreistadiengesetz Comte sucht also als Erster systematisch nach einem Grund für die Entwicklung von Gesellschaften. Er findet ihn in der zunehmenden Erkenntnis und dem gleichsam akkumulierten menschlichen Wissen. Es ist ein Prozess, den er in drei Stadien unterteilt: 1. Das theologische Stadium: Innerhalb dieses Stadiums entwickelt sich die Gesellschaft in drei Phasen vom Fetischismus über den Polytheismus zum Monotheismus. Während dieser Phasen ist das menschliche Denk- und Erklärungssystem vorwiegend geprägt von Geisterglaube, Mythen und Sagen. Die Differenzierung in drei Phasen verweist bereits auf einen zunehmenden Intellektualisierungsgrad. Der gegenstandsgebundene Götterglaube des Fetischismus wird allmählich durch wachsende Kommunikationsdichte und zunehmende Information von abstrakteren Vorstellungen über personalisierte Götter ersetzt bis hin zum Monotheismus. 2. Das metaphysische Stadium: Dies ist ein Zwischenstadium, in dem bereits Naturrechtvorstellungen entstehen. Der Monotheismus wird in der Renaissance mit der Eigengesetzlichkeit der Natur konfrontiert und beginnt an Überzeugungskraft zu verlieren. 3. Das wissenschaftlich-positive Stadium: Comte beschreibt, wie sich aus der Kumulation von Wissen der Übergang in das dritte, das wissenschaftlich-positive, Stadium ergibt. In diesem Stadium herrschen Produktion und Industrie vor. Getragen wird diese Entwicklung von der zunehmenden Spezialisierung der Arbeitsfelder und der zunehmenden Komplexität von organisatorischen Gebilden. Die allgemeinen Umstände einer sich spezialisierenden Welt zwingen den Menschen in der Industrialisierung, ein neues wissenschaftsorientiertes Denksystem zu entwickeln. Industrielle Revolution und positiver Geist sind bei Comte untrennbar miteinander verbunden. Diese neue geistige Orientierung macht neue Disziplinen in der Wissenschaft, zunehmend spezialisierte Produktionen sowie Differenzierung des sozialen Lebens durch eine Vielzahl neuer Berufe möglich. Und hier hat nun die Soziologie ihren Platz. 18 Die Entwicklung der Gesellschaft wird erklärt 1.1.3 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 18 <?page no="18"?> 19 Ganz Kind seiner Zeit, war Comte der festen Meinung, mit dem wissenschaftlich-positiven Stadium sei der höchste Grad der Entwicklung menschlicher Gesellschaften erreicht und weitere Steigerungen seien nicht vorstellbar. Diese als Evolutionismus bezeichnete Denkhaltung bleibt der Soziologie lange erhalten. Stets von neuem waren die Soziologen von der Reife ihrer eigenen Zeit überzeugt und konnten oder wollten sich eine weitere Phase der gesellschaftlichen Entwicklung nicht vorstellen. Aber so wie Wissen neues Wissen produziert - das Thema Comtes - so entstehen aus gesellschaftlichen Errungenschaften und Lebensweisen neue Formen und Inhalte des Zusammenlebens der Menschen. Welche Gründe es dafür gibt und wie das Zusammenleben der Menschen verbessert werden kann, auch dieses Thema ist seit Comte existent. Comte hat ein vitales Interesse, die politischen Verhältnisse seines Landes, die im nachrevolutionären Frankreich sehr instabil und wechselhaft sind, darauf hin zu untersuchen, wie es gelingen kann, dass Menschen in geordneten, friedlichen Verhältnissen leben können. Er vermutet - das kommt in seinen Schriften immer wieder zum Ausdruck -, dass die Rationalität der Neuzeit und die Definition ˘ 1. Theologisches Stadium (Fetischismus, Polytheismus, Monotheismus) Das Denken ist durch mythisch-magische Vorstellungen und Geisterglaube geprägt. 2. Metaphysisches Stadium Zwischenstadium, in dem der Monotheismus abgelöst wird durch Naturrechtvorstellungen. Dem Götterglauben wird die Eigengesetzlichkeit der Natur gegenübergestellt (Renaissance). 3. Wissenschaftlich-positives Stadium Produktion und Industrie sind vorherrschend und werden wissenschaftlichsystematisch begleitet. - Neue geistige Orientierungen, - neue Disziplinen in den Wissenschaften, - zunehmend spezialisierte Produktion und - Differenzierung des sozialen Lebens durch eine Vielzahl neuer Berufe gestalten die Lebensordnung der Menschheit um. Das Dreistadiengesetz Y Y Der Traum von Fortschritt und Ordnung UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 19 <?page no="19"?> tiefen Spuren, die sie bei ihrer Durchsetzung in der Gesellschaft hinterlassen hat, insgesamt wenig geeignet ist, eine neue, dauerhafte Ordnung zu schaffen. Aber er sieht auch, dass sich ohne klare Orientierung eine neue Ordnung nicht herstellen lässt. Er will jene Verbindung von Fortschritt einerseits und Ordnung andererseits herbeiführen, die er für notwendig hält, damit Menschen über lange Zeit friedlich und produktiv zusammen arbeiten und gemeinsam leben können. In einem geordneten Verhältnis von sozialer Statik und sozialer Dynamik sieht er die soziologisch begründete Lösung. Soziale Statik und soziale Dynamik Die nach Gleichgewicht strebenden Kräfte des Sozialen sind für Comte die soziale Statik und die soziale Dynamik. Die soziale Statik befasst sich mit den konstanten Voraussetzungen der gesellschaftlichen Ordnung sowie mit den damit einhergehenden notwendigen sozialen Zwängen: Herrschaft, Unterordnung, Tradition. Im Gegensatz zu den statischen Elementen sind die dynamischen diejenigen, die von Natur aus Veränderungen und Wandlungen im sozialen Bereich herbeiführen. 20 Definition ˘ Soziale Statik: Die soziale Statik befasst sich mit den konstanten Voraussetzungen der gesellschaftlichen Ordnung sowie mit ihren notwendigen sozialen Zwängen. Gemeint waren damit Herrschaft, Unterordnung, Tradition. Comte unterscheidet dabei eine natürliche Ordnung auf Basis »sympathischer Instinkte« von einer eher abstrakten Ordnung auf Basis von Arbeitsteilung und »sachlich bedingter Hierarchie«. Soziale Dynamik: Im Gegensatz zu den statischen Elementen von Gesellschaft sind die dynamischen diejenigen, die - ebenfalls von der Natur aus - Veränderungen und Wandlungen im sozialen Bereich herbeiführen. Insbesondere: • das individuelle Streben nach Glück, • die Kürze der Lebensdauer, • das Anwachsen der Bevölkerung, • die geistige Entwicklung (= zunehmende Anerkennung der Vernunft gegenüber den Leidenschaften, Spekulationen und kritiklosen Denkgewohnheiten). Soziale Statik / soziale Dynamik 1.1.4 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 20 <?page no="20"?> 21 Comte sieht eine Lösung für die Balance zwischen sozialer Dynamik und sozialer Statik in einer Art Regentschaft von 100 bis 200 besonders klugen Menschen, hauptsächlich Soziologen. Das darf uns nicht überraschen. Es muss eine Gruppe geben, die relativ unabhängig ist, und wer könnte das aufgrund der geistigen Ausstattung besser machen als Soziologen? Soziologie ist möglich geworden, weil die Gesellschaft als Produkt ihres eigenen Handelns begriffen wurde. Gleichzeitig macht das eine Unterordnung der sozialen Tatsachen unter andere analytische Ordnungen notwendig. Die Allmachtsvorstellungen des frühen Soziologen Comte haben sich nicht erhalten. Wichtig ist uns an Comtes Überlegungen aber, dass es für die Entwicklung der Gesellschaft offensichtlich spezielle Kenntnisse geben muss und dass diese sich auch beschreiben lassen. Soziologen und Soziologinnen versuchen seither aus den Erkenntnissen, die sie über die Gesellschaft gewonnen haben, Beiträge dafür zu leisten, dass das Zusammenleben der Menschen nicht von Katastrophen begleitet wird. Wie können Soziologen und Soziologinnen dazu beitragen, dass Gesellschaften sich auf Dauer ein friedliches Zusammenleben ermöglichen? Das ist nach wie vor eine ungelöste Frage, die eigentlich jeden Soziologen und jede Soziologin beschäftigt, und selbstverständlich hat jeder und jede von ihnen dazu eine Antwort. Insofern ist Comte nicht nur der erste Soziologe, weil er einen Grund angibt für die Entwicklung von Gesellschaft, sondern auch deshalb, weil er den Zusammenhang zwischen soziologischer Praxis und seiner individuellen wissenschaftlichen, theoretischen Arbeit herstellt und begründet. Abschließend sollen die vier Punkte zusammengefasst werden, welche die Bedeutung Auguste Comtes für die Entstehung der Soziologie ausmachen: 1. Sein Blick auf die Gesellschaft ist ein langfristiger. Er untersucht nicht nur die Klassengegensätze oder die Konflikte in seiner Zeit. Er richtet gleichzeitig seinen Blick auf die langfristigen Entwicklungen, was sich im Dreistadiengesetz niederschlägt. 2. Er entwickelt eine eigene spezielle Methode, die Soziologie. 3. Er steht für die relative Autonomie des Faches Soziologie. Es ist ein relativ eigenständiges Fach und bei ihm die Krönung aller Wissenschaften. Herrschaft der Soziologen? Comte zusammengefasst UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 21 <?page no="21"?> 4. Er hat ein Interesse daran, die politischen Verhältnisse seines Landes, also die politische Instabilität im nachrevolutionären Frankreich, daraufhin zu untersuchen, wie die Menschen in geordneteren Verhältnissen leben können. Die Fragen, die Comte am Anfang der Soziologie gestellt hatte, blieben zentrale Themen dieser Wissenschaft. Erst recht, nachdem Karl Marx sie ausgeweitet und kritischer beantwortet hatte. Hiervon handelt der zweite Teil des Kapitels. Karl Marx (1818-1883) Karl Marx studiert erst Jura, dann Philosophie. 1841 promoviert er mit einer Arbeit über »Die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie«. Neben der griechischen interessiert ihn insbesondere die Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1831). Er beschäftigt sich eingehend mit der Idee Hegels, dass der bürgerliche Staat die Spitze der Entwicklung darstelle und dass sich im bürgerlichen Staat alles realisiere, was in der Geschichte und im Menschen angelegt sei. Dies führt ihn zu Auseinandersetzungen mit Hegel und den Junghegelianern und darüber hinaus zu einer kritischen Opposition gegenüber dem, was zu jener Zeit in Deutschland an Politik betrieben wird. Marx wird Chefredakteur der »Rheinischen Zeitung«, ein sehr liberales Blatt, das 1843 verboten wurde. Er muss nach Paris ausweichen. Dort trifft er das erste Mal Friedrich Engels, den Sohn einer Wuppertaler Fabrikantenfamilie. Der junge Mann ist im Gegensatz zu Karl Marx sehr wohlhabend und begleitet ihn von nun an sein Leben lang nicht nur intellektuell, sondern unterstützt ihn auch finanziell. Auch in Paris kann Marx nicht bleiben: Er zieht nach Brüssel. Dort entsteht das berühmte »Manifest der Kommunistischen Partei«. Auch dort wird er 1848 ausgewiesen. Daraufhin nimmt er zunächst noch einmal ein Jahr eine Stellung bei der »Rheinischen Zeitung« an, die nun »Neue Rheinische Zeitung« heißt. 1849 geht er endgültig ins Exil nach England, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1883 lebt. Im Lesesaal des Britischen Museums, das damals wie heute eine der besten Bibliotheken der Welt besitzt, sitzt Marx jeden Tag, den er in London ist - er reist auch manchmal innerhalb Englands -, schreibt und exzerpiert, wälzt Statistiken. Er produziert hand- 22 Biographie 1.1.5 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 22 <?page no="22"?> 23 schriftlich über 40 Bände. 1859 wird »Die Kritik der politischen Ökonomie« als Vorbote seines Hauptwerkes veröffentlicht, und 1867 erscheint der erste Band des »Kapitals«. Die anderen Bände erscheinen zum Teil posthum. Auch Marx findet eine Erklärung für die Veränderungen von Gesellschaften im historischen Prozess. Aber anders als Comte, der die Akkumulation von Wissen als eigentliche Triebkraft ausmacht, erklärt Marx den gesellschaftlichen Wandel grundsätzlicher und ist in seinen gesellschaftskritischen Analysen umfassender. Um seinen Ansatz zu verstehen, müssen wir zunächst einige Grundannahmen, die er formulierte, kennen lernen. Grundannahmen Erste Annahme: Geschichte ist von den Menschen gemacht. Dieser Satz ist für das weitere Prozedere, für die weitere Entwicklung der Theorie von entscheidender Bedeutung. Marx ist der Ansicht, dass es die freie bewusste Tätigkeit des Menschen ist, die Geschichte konstituiert. Dies spiegelt sich in einem berühmten Zitat wider: »Die Geschichte tut nichts. Sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum, sie kämpft keine Kämpfe. Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft.« Da der Mensch aber nicht allein auf der Welt ist, sondern mit anderen Menschen zusammenlebt, ist die Art des Zusammenlebens der Menschen auch für den weiteren Ablauf der Geschichte, für die Gesellschaften und für die Menschen, die diese Gesellschaften miteinander bilden, von entscheidender Bedeutung. Die zweite Annahme beschreibt die materiellen Grundlagen der Existenz der Menschen. Sie müssen, um am Leben zu bleiben, arbeiten und produzieren. Friedrich Engels hat das einmal so ausgedrückt: »Sie müssen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden, bevor irgend etwas anderes passiert, sei es Wissenschaft, sei es Politik; erst einmal müssen sie die materielle Produktion ihres Lebens sicherstellen, und aus dem folgt alles andere.« | 1.1.6 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 23 <?page no="23"?> Aus dieser Feststellung entwickelt Marx seine dritte, grundlegende Annahme: Wenn die Produktion die Basis des menschlichen Lebens ist, dann ist die Frage, wie produziert wird, welche Produktionsweise eine Gesellschaft besitzt, von ganz entscheidender Bedeutung. Die Produktionsweise charakterisiert die jeweilige Gesellschaftsform. Aus ihr lassen sich die Gründe für Ungleichheit in der Gesellschaft und für das Verhältnis der Basis des Lebens zu den gesellschaftlichen Institutionen systematisch entwickeln. Deshalb beschäftigt sich Marx ausführlich mit der Produktionsweise. Den in der Definition unter 3. zitierten Satz formuliert Marx im Hinblick auf seine Vorgänger, auf alle, die vor ihm über Gesellschaften nachgedacht hatten. Selbstverständlich kennt Marx die Schriften Comtes und anderer wichtiger Autoren des 18. Und 19. Jahrhunderts. Die Neuartigkeit seiner Gedanken besteht darin, dass er eine Verbindung zwischen den drei Grundannahmen herstellt. Er hat herausgefun- 24 Defintion ˘ 1. Geschichte ist von den Menschen gemacht. »Geschichte tut nichts. Sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum; sie kämpft keine Kämpfe. Es ist vielmehr der Mensch, der wirklich lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft.« 2. Arbeit und Produktion ist die Basis des Lebens der Menschen. »Sie müssen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden, bevor irgend etwas anderes passiert, sei es Wirtschaft, sei es Politik; erst einmal müssen sie die materielle Produktion ihres Lebens sicherstellen, und aus dem folgt alles andere.« 3. Die Produktionsweise charakterisiert die jeweilige Gesellschaftsform. »Was ich neu tat, war erstens, nachzuweisen, dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; zweitens, dass der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; drittens, dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen bildet, und zu einer klassenlosen Gesellschaft führt.« Marx’ Grundannahmen UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 24 <?page no="24"?> 25 den, dass die einzelnen Phasen der bisherigen gesellschaftlichen Entwicklung nicht wie bei Comte an die Entwicklung des Wissens, sondern an unterschiedliche Formen der Produktion gebunden sind. Die Produktionsweise einer bestimmten Gesellschaft erklärt Marx aus ihrer je spezifischen Ausprägung, die er mit den jeweiligen Produktivkräften und den jeweiligen Produktionsverhältnissen beschreiben kann. Die Produktionsweise Die Produktivkräfte sind zunächst Werkzeuge und Maschinen, Kapital und Boden sowie die menschliche Arbeitskraft. Mit Hilfe der Produktionsmittel, die der Einzelne besitzt, kann er sich seinen Lebensunterhalt verdienen. Das Besondere bei Marx ist nun, dass er danach fragt, wer in der Gesellschaft über welche Produktionsmittel verfügt, denn die Eigentumsverhältnisse sind Verteilungsverhältnisse und bestimmen somit darüber, wer wie viel der gesellschaftlichen Produktion bekommt. Die Produktivkräfte können für jede Gesellschaftsformation beschrieben werden. Dabei stellen sich die folgenden Fragen: Wer verfügt über Produktionsmittel? Welchen Stellenwert hat die menschliche Arbeitskraft? Welche Möglichkeiten haben Menschen, ihre Arbeitskraft auf einem Markt anzubieten und Lohn dafür zu bekommen? Die Lohnarbeiter z.B. können im Kapitalismus nur ihre eigene Arbeitskraft anbieten und vermarkten, während die anderen Produktionsmittel in der Hand der Kapitalisten, der Bourgeoisie, sind. Die Analyse der Produktivkräfte allein reicht jedoch nicht aus zur Beschreibung und zum Verständnis einer Gesellschaft. Ebenfalls eine Rolle spielen die Produktionsverhältnisse, d.h. die Organisation der Menschen; die Formen der Arbeitsteilung; ob in Gruppen gearbeitet wird oder ob jeder für sich arbeitet; die Art, wie die Güter verteilt werden; ob es die Möglichkeit gibt, Güter weit zu verschiffen oder ob man sie nur an nahen Orten umverteilen kann; welche Möglichkeiten den Menschen zur Konsumption gegeben sind; wie die Konsumption organisiert ist; was erlaubt ist, was nicht erlaubt ist; vielfältige Überlegungen zu verderblichen Gütern, nicht verderblichen Gütern; die Eigentumsverhältnisse an Produktionsmitteln usw. Die zentrale Bedeutung der Produktionsverhältnisse ergibt sich aus der Wirkung zwischen der geschichtlich spezifischen Weise, wie sich die gesellschaftliche Pro- Die Produktivkräfte | 1.1.7 Die Produktionsverhältnisse UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 25 <?page no="25"?> 26 duktion vollzieht, und der Beschaffenheit aller übrigen Erscheinungen und Beziehungen, die von jener abhängt. Wie die Menschen durch ihre Produktion die Umwelt und damit die weiteren Bedingungen ihrer Produktion verändern, so verändern sie sich auch selbst. Ein Beispiel soll diese Abhängigkeit verdeutlichen: Im vorindustriellen Arbeitszusammenhang wohnen die Menschen in dörflichen oder kleinstädtischen Gruppen zusammen. An Ort und Stelle arbeiten sie gegen Naturallöhne, vielleicht als Leibeigene oder als Freigesetzte. In dem Moment, in dem 10 km weiter eine Fabrik gebaut wird, in der Webstühle stehen, müssen die Arbeiter früh morgens den Weg zur Fabrik laufen, dort 8, 10 oder 12 Stunden in einem festen Rhythmus arbeiten und wieder zurücklaufen. Die Form, in der die Menschen arbeiten und leben, verändert sich und so hat die Form der Produktionsverhältnisse eine enorme Auswirkung auf das alltägliche und persönliche Leben der Menschen. Die Kombination aus Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ergibt die jeweilige Produktionsweise. Dabei interessiert Marx nun zunächst vor allem folgende Frage: Was passiert im Verhältnis zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel und denjenigen, die menschliche Arbeitskraft anbieten? Definition ˘ 1. Produktivkräfte Produktionsmittel menschl. Arbeitskraft • Kapital (Werkzeuge, Maschinen) • Boden Fragen, mit denen sich für jede Gesellschaftsformation die Produktivkräfte beschreiben lassen: • Wer verfügt über die Produktionsmittel? • Welchen Stellenwert hat die menschliche Arbeitskraft? • Welche Möglichkeiten haben Menschen, ihre Arbeitskraft auf dem Markt anzubieten und Lohn dafür zu bekommen? 2. Produktionsverhältnisse Sie bezeichnen die Formen der Arbeitsteilung und die Beziehungen der Menschen untereinander, die für Marx aus den jeweiligen Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen resultieren. Die Produktionsverhältnisse gelten als die für den Aufbau und die weitere Entwicklung einer Gesellschaft grundlegenden Verhältnisse. Produktionsweise UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 26 <?page no="26"?> 27 Mit den drei Grundannahmen lässt sich der bisherige Verlauf der Gesellschaftsgeschichte erklären und lassen sich die einzelnen Phasen beschreiben. Dabei kommt Marx - das kann kaum verwundern - zu einer anderen Einteilung als Comte im Dreistadiengesetz. Das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen definiert die jeweilige Produktionsweise. Die Produktionsweise ist davon bestimmt, wie die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln in der jeweiligen Gesellschaftsformation geregelt sind und welchen Stellenwert die menschliche Arbeitskraft hat. Die Entwicklung der verschiedenen Gesellschaftsformationen Marx’ Vorstellung von der Urgesellschaft ist stark von der Ethnologie des 18. und 19. Jahrhunderts geprägt: Es gab Reisen zu Gesellschaften, zu Völkern, die anders entwickelt waren als die zentraleuropäischen Gesellschaften. Marx hat mit den ihm zur Verfügung stehenden Materialien beschrieben, dass es Gesellschaften gibt, in denen die Produktivkräfte noch relativ einfach sind und deren Produktionsverhältnisse eine geringe Ausdifferenzierung haben. Die Menschen der Urgesellschaft arbeiten gemeinsam, und die Produktionsmittel gehören allen. Es gibt noch keine Unterscheidung zwischen Eigentümern und Nichteigentümern an Produktionsmitteln. Wie kommt es nun von der Urgesellschaft zur nächsten Gesellschaftsformation? Im Verlauf ihrer gemeinsamen Arbeit machen Menschen Erfindungen und Entdeckungen, die es ermöglichen, die eingesetzte Arbeitskraft so zu nutzen, dass sich mehr produzieren Definition Fazit: Die zentrale Bedeutung der Produktionsverhältnisse ergibt sich nach marxistischer Theorie daraus, dass von der geschichtlich spezifischen Weise, wie sich die gesellschaftliche Produktion vollzieht, auch die Beschaffenheit aller übrigen gesellschaftlichen Erscheinungen und Beziehungen abhängt. In der Weise, wie sie durch ihre Produktion die Umwelt und damit die weiteren Bedingungen ihrer Produktion verändern, verändern sich die Menschen auch selbst. | 1.1.8 Die Ausdifferenzierung der Produktionsverhältnisse UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 27 <?page no="27"?> 28 lässt, als zunächst für den Konsum notwendig ist. In diesem Fall gibt es zwei Möglichkeiten, die erhöhte Produktion zu verwenden: Man kann einerseits anfangen, Handel zu treiben mit anderen Urgesellschaften. Man kann andererseits auch die Gesellschaftsorganisation intern ändern: Von nun an gibt es zwar immer noch Menschen, die produzieren. Aber aus der bis dahin gemeinsam arbeitenden Gruppe scheiden einige aus, die sich nur noch mit der Verwaltung, mit der Deutung der Welt, mit mythischen Diensten usw. beschäftigen. Marx’ These ist nun, dass diese Arbeitsteilung zu einer Sklavenhaltergesellschaft führt. Weil ein bestimmter Anteil der Produktionsmittel in der Hand einiger weniger Personen ist, ist es möglich, Arbeiter anzustellen und in dieser frühen Form nicht gegen Lohn arbeiten zu lassen, sondern sie als Zwangsarbeiter zu beschäftigen. Die Gesellschaft im antiken Rom, über die es im 19. Jahrhundert viele Untersuchungen und Literatur gegeben hat, bestand zu 80 % aus Sklavinnen und Sklaven. Auch auf dieser Entwicklungsstufe werden die Produktivkräfte weiter entwickelt, und daraus entsteht die nächste Gesellschaftsformation, der Feudalismus. Im Feudalismus sind aus den Sklavenhaltern Feudalherren geworden, die jetzt nicht mehr an einer bestimmten Stelle Sklaven halten, sondern über größere Territorien verfügen. Deshalb werden aus den Sklaven Leibeigene, d.h. sie haben einen etwas größeren Freiheitsraum, sind aber nach wie vor Abhängige. Auch im Feudalismus werden aufgrund z.B. des Bankwesens, bestimmter Entwicklungen des Geldverkehrs, aber auch einer ganzen Reihe von Entdeckungen - z.B. des Schießpulvers, der Buchdruckerkunst usw. - Produktionsmittel frei, die eingesetzt werden können für die Produktion von Gütern. Dies führt dazu, dass sich die Produktionsmittel schließlich und endlich in der Hand einiger weniger befinden. Diesen Zustand beschreibt Marx als bürgerliche Gesellschaft bzw. als Kapitalismus. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf der einen Seite und die daraus hervorgehende enorme Entfaltung der Produktivkräfte auf der anderen Seite führen zur Entstehung nationaler Wirtschaftskreisläufe und des Welthandels. Im Kapitalismus stehen sich - im Gegensatz zu anderen Gesellschaftsformationen - nur noch die Besitzer der Produktionsmittel (Kapitalisten) und die Lohnarbeiter (Proletarier) gegenüber. Marx hält es für eindeutig, dass sich die Lage derjenigen, die einzig und allein über die Produktivkraft Arbeit verfügen, im Kapitalismus nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Sklavenhaltergesellschaft Feudalismus Bürgerliche Gesellschaft Kapitalismus UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 28 <?page no="28"?> 29 Diese Erkenntnis ist das Ergebnis seines Lebens in England, wo sich Industrialisierung und Kapitalismus wesentlich früher als in Deutschland oder Frankreich entwickelten. Das Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« von Friedrich Engels beschreibt die damaligen Verhältnisse: die Mietskasernen, die großen Vorstädte, Kinderarbeit, achtzehnstündige Arbeitstage, schlechte Entlohnung. All dies untersucht Marx, und es schlägt sich in der Beschreibung des Klassengegensatzes zwischen Kapitalisten und Proletarier nieder. Aus seiner Beobachtung einer Gesellschaft, in der sich nur noch zwei Klassen gegenüberstehen - nämlich die Proletarier und die Kapitalisten -, entwickelt Marx die These, dass die Kapitalisten durch die ihnen aufgezwungene Konkurrenz untereinander und den sinkenden Fall der Profitrate im Prinzip dazu gezwungen werden, sich selbst zu zerstören. Marx verlässt hier den festen Boden der wissenschaftlichen Analyse und begibt sich in das Feld der Vermutungen und Prophezeiungen. Erst recht, wenn er glaubt, dass aus den Gründen der fallenden Profitrate der Sozialismus bzw. das, was Marx »Diktatur des Proletariats« nennt, entstehen wird. Den Kommunismus, der dem Sozialismus folgt, hat Marx nicht prophezeit. Er nimmt aber an, dass aus dem Vorangegangenen wahrscheinlich die klassenlose Gesellschaft entstehen wird. Diese bedeute Freiheit für alle. Marx ist sehr vorsichtig, für die übernächste Stufe - den Kommunismus - Vorhersagen zu treffen. Er hat es aber als wünschenswertes Ziel angesehen, dass man vormittags Arbeiter und nachmittags Historiker sein kann. England als Beispiel Gesellschaftsformation Stellenwert menschlicher Arbeitskraft Urgesellschaft Klassenlos, kein politischer Apparat Sklavenhalterordnung Sklavenhalter Sklaven Feudalismus Herren Leibeigene Kapitalismus Kapitalisten Proletarier Sozialismus Diktatur des Proletariats Kommunismus Klassenlos, Freiheit für alle ZY ZY ZY Diktatur des Proletariats UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 29 <?page no="29"?> 30 Von der »Klasse an sich« zur »Klasse für sich« Marx stellt fest, dass die Klasse der Proletarier von ihrem Schicksal nichts weiß. Er spricht von einer »Klasse an sich«. Diese kann erst selbst an ihrer Befreiung mitarbeiten, wenn sie eine »Klasse für sich« ist. Als Wissenschaftler, der im Dienste des Proletariats steht, sieht er sich in der Lage, die ökonomischen Bedingungen des Zusammenlebens aufzudecken. Das bedeutet nicht, dass sich daraus automatisch eine revolutionäre Bewegung der Proletarier ergibt. Die Proletarier müssen sich ihrer Lage zunächst bewusst werden. Dieser Punkt ist für die Entwicklung des Marxismus, des Marxismus-Leninismus, des Maoismus usw. von entscheidender Bedeutung gewesen. Ein zentrales Problem der verschiedenen kommunistischen und sozialistischen Bewegungen, die sich auf die Marx`sche Theorie berufen, ist stets gewesen: Wie erklärt man den Menschen, dass sie sich in einem Unterdrückungsverhältnis befinden? Auf diese Frage gab es zwei unterschiedliche Antworten: Die Bildungswerke der Sozialdemokratie seit dem späten 19. Jahrhundert hatten zum Ziel, Arbeiter durch Bildungseinrichtungen in die Lage zu versetzen, ihre Situation selbst zu erkennen und sich daraufhin zu vereinigen. Alle anderen Versuche - der Leninismus oder der bürokratische Sozialismus der DDR - hatten zum Ziel, diese Entwicklung von der »Klasse an sich« zur »Klasse für sich« vorwegzunehmen, indem sie behaupteten, es gebe eine Avantgarde, die über die gesellschaftlichen Verhältnisse schon Bescheid wisse und die die Entwicklung zum Sozialismus nun für die Arbeiter durchführe. Alle anderen haben von der Avantgarde zu lernen, was richtig ist. (»Von der Partei lernen, heißt siegen lernen.«) Wer nicht lernt, muss erzogen werden. Wer nicht erzogen werden kann, muss beseitigt werden. Es sollte also immer zwischen drei Punkten unterschieden werden: • erstens, was Marx wissenschaftlich untersucht hat, welche analytischen Kategorien zur Beschreibung der Gesellschaft er entwickelt hat, • zweitens, was er selbst an Prophezeiungen daraus gemacht hat, • und drittens, welche Nutzanwendung für ihre Politik marxistische Parteien in verschiedenen Gesellschaften in dieser Welt daraus gezogen haben. Vom Bewusstsein der Arbeiter 1.1.9 | Die Partei als Avantgarde UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 30 <?page no="30"?> 31 Wir beschäftigen uns hier im Wesentlichen mit den analytischen Kategorien: Wie lässt es sich erklären, dass Gesellschaften sich bisher verändert haben? Zentral ist bei Marx, wie gesagt, die Veränderung der Produktionsverhältnisse, und hiermit kommen wir zu einem weiteren Punkt. Das Verhältnis von Basis und Überbau Selbstverständlich gibt es nicht nur die Basis des Lebens, die Produktion, sondern auch Staatsformen, Gesetze, Verwaltung, Kunst und Religion. Diese Bereiche gehören nicht direkt zur Produktion des täglichen Lebens, sondern bilden nach Marx den Überbau. Marx stellt die These auf, dass der Überbau die Basis, nämlich die Produktionsweise, widerspiegelt. Von dieser These ist der klassische Satz »Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein« abgeleitet. Seiner Meinung nach gibt es eine unmittelbare Widerspiegelung der Basis nur im politischem Überbau. Es gibt aber auch mittelbare Zusammenhänge zwischen Basis und Überbau, also etwa Kunst, Religion, Verwaltungsformen usw. Nach Marx’ Tod entbrennt ein heftiger Streit darum, wie linear das Verhältnis zwischen Basis und Überbau ist. Ist es wirklich so, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt oder kann nicht auch das Bewusstsein das Sein weiter entwickeln? Schon Engels hat in einem späten Brief darauf hingewiesen, dass es Wechselverhältnisse zwischen Basis und Überbau gebe. Heute wird auch in denjenigen wissenschaftlichen Kreisen, die sich noch auf Marx beziehen, nicht mehr bestritten, dass es ganz eindeutig auch eine Sphäre im Überbau gibt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie die Basis mit beeinflusst und dass es durchaus Wechselwirkungen gibt. Marx’ Bedeutung für die Soziologie Frühzeitig war das bürgerliche Urteil über Karl Marx gesprochen. Dies lässt sich wunderschön durch eine Stelle in Meyers Konversationslexikon von 1890, eine Fundgrube bürgerlicher Bildung, illustrieren: Das Stichwort zu dem 1883 verstorbenen Karl Marx, der dort als sozialistischer Agitator und Schriftsteller bezeichnet wird, schließt mit der folgenden Feststellung: »Das Werk ist zwar das wissenschaftlich bedeutendste der sozialistischen Literatur, aber doch von geringerem Wert als Marx und seine Anhänger wähnen.« | 1.1.10 | 1.1.11 Hat Marx uns heute noch etwas zu sagen? UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 31 <?page no="31"?> Marx' Einfluss auf die Soziologie 32 Für die Soziologie kann das so nicht gelten. Alles, was in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren in der Soziologie passiert - d.h. im Wesentlichen die frühe englische, französische und deutsche Soziologie -, muss sich mit den Grundannahmen von Karl Marx auseinandersetzen. Dabei geht es hauptsächlich um folgende Probleme: Erstens, wodurch wird Gesellschaftsgeschichte bestimmt? Von Menschen, wie Marx sagt, oder von Ideen, wie Hegel dachte? Zweitens, wie ist die Arbeit, die Produktion als das Zentrum des Lebens organisiert, und wie verhält sich der Überbau zur Produktionsweise? Bestimmt das gesellschaftliche Sein wirklich das Bewusstsein? Drittens, lassen sich gesellschaftliche Entwicklungen auch mit anderen Kategorien erklären als mit denen, die Marx vorgegeben hat? Viertens, wie wird sich die Gesellschaft weiter entwickeln und wie ist diese Entwicklung zu bewerten? Marx hat ein ganz eindeutiges Bewertungskriterium: Da der Kapitalismus die Proletarier ausbeutet und ihnen ein Teil dessen, was sie produzieren, vorenthält, sie also von ihren Produkten entfremdet, muss dies aufhören. Er macht ganz eindeutig einen therapeutischen Vorschlag gegen Fehlentwicklungen der Gesellschaft. Jeder Mensch, der sich nach Marx mit Soziologie beschäftigt, versucht, eine Antwort auf diese Fragen zu geben. Was die anderen, die nach Marx kommen, hierzu sagen, wird Gegenstand der nächsten Kapitel sein. Lernkontrollfragen Warum wird Auguste Comte häufig als erster Soziologe bezeichnet? Was besagt das Dreistadiengesetz? Welche Rolle sollen Soziologen im positiv-wissenschaftlichen Stadium spielen? Welche Grundannahmen formuliert Marx für die wissenschaftliche Untersuchung von Gesellschaft? Durch welche Faktoren wird die Produktionsweise bestimmt? Erläutern Sie den Unterschied zwischen »Klasse an sich« und »Klasse für sich«. Wie begründet Marx die Abfolge der Gesellschaftsformationen? 1 2 3 4 5 6 7 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 32 <?page no="32"?> 33 Die Anfänge der nationalen Soziologien im 19. Jahrhundert Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, sind bis Mitte des 19. Jahrhunderts Gesellschaftstheorie, soziologische Vorstellungen von den Regelmäßigkeiten und Gründen der Entwicklung von Gesellschaften und der sozialen Ungleichheit in ersten Konturen vorhanden. Dabei spielte Auguste Comte eine geringe, um nicht zu sagen unbedeutende Rolle. Auf Karl Marx - diese Kolossalfigur - mussten die nächsten Generationen früher Soziologen eine eigene Infoteil Den Roman Der Name der Rose von Umberto Eco gibt es als Taschenbuch. Wer sich für den Roman und die Absichten des Autors interessiert, sollte auch Ecos Nachschrift zum Namen der Rose lesen. Dort finden sich weitere Hinweise zur Bedeutung der Entwicklungen im Mittelalter und zur Konstruktion des Romans. Die philosophischen Trends im Mittelalter und zur Aufklärung werden in verschiedenen Lexika und Handbüchern zur Philosophie dargestellt. Für dieses Buch ist das Philosophische Wörterbuch von Martin Gessmann, 2009, 23. vollst. überarb. Auflage, aus dem Kröner Verlag benutzt worden. Zur Geschichte der Soziologie - nicht nur im 19. Jahrhundert - sei auf Hermann Korte: Einführung in die Geschichte der Soziologie, Wiesbaden: VS Verlag, 2011 (11. überarb. Auflage), hingewiesen. Dort werden die hier in den Kapiteln 2 bis 4 komprimiert dargestellten Entwicklungen ausführlicher erläutert. Von den Schriften Auguste Comtes ist zurzeit seine Rede über den Geist des Positivismus, eingeleitet und herausgegeben von Iring Fetscher, Hamburg: Meiner Verlag, 1994, erhältlich, sowie der Band System der positiven Politik, Wien, Turia und Kant Verlag 2008. Eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk findet sich in Werner Fuchs-Heinritz: Auguste Comte. Einführung in Leben und Werk. Bd. 2 der Hagener Studientexte zur Soziologie, Opladen; Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 1998. Die Fülle der Literatur zu Karl Marx und Friedrich Engels ist im Gegensatz zu Comte überwältigend. Die Marx-Engels Gesamtausgabe (MEGA) von 1975 hatte 43 Bände, die endgültige, an der immer noch gearbeitet wird, soll 114 Bände umfassen, von denen bisher 57 erschienen sind. Eine Auswahl der Schriften findet sich in der fünfbändigen Studienausgabe - hrsg. von Iring Fetscher, Berlin: Aufbau Verlag, 2004. Band I Philosophie Band II Politische Ökonomie Band III Geschichte und Politik 1 Band IV Geschichte und Politik 2 Band V Prognose und Utopie. In: Das große Lesebuch hrsg. von Iring Fetscher, sind ebenfalls wichtige Schriften von Karl Marx versammelt, Frankfurt a. M.: 2008, Fischer Taschenbuch Verlag. Lesenswert ist auch die Biografie und Rezeptionsgeschichte von Wolfgang Wippermann: Der Wiedergänger. Die vier Leben des Karl Marx, Wien: K & S Verlag, 2008. | 1.2 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 33 <?page no="33"?> 34 Antwort finden. Jeder auf Marx folgende Gesellschaftswissenschaftler musste sich mit Marx’ Theorie auseinandersetzen und, wenn er diese nicht akzeptierte, andere Erklärungen finden. Am Ende des 19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Reaktionen auf Marx sehr nationenspezifisch. In England, Frankreich und Deutschland bildete sich die Soziologie als Fach allmählich heraus: Herbert Spencer in England, Emile Durkheim in Frankreich, Georg Simmel und Ferdinand Tönnies in Deutschland. Diese Namen sind wichtig für die weitere Entwicklung, bevor am Anfang des 20. Jahrhunderts Max Weber bis heute wichtige Grundlagen der akademischen Disziplin formulierte. Sie alle waren keine »gelernten« Soziologen, aber allesamt an der Erklärung von Gesellschaft interessiert und fühlten sich von Karl Marx herausgefordert. Herbert Spencer (1820-1903) »Den Taugenichts auf Kosten des Guten zu hegen, ist die äußerste Grausamkeit. Es ist ein vorsätzliches Aufspeichern von Elend für künftige Generationen.« Als Herbert Spencer dies 1896 schrieb, war er in England seit gut vierzig Jahren ein bekannter Mann. Wir würden heute sagen: Er war der Chefideologe der Gegner jeglicher Sozialpolitik, über die es öffentliche Debatten im England des späten 19. Jahrhunderts gab. Die schon von Friedrich Engels beschriebene Not der Arbeiterschaft, die von Karl Marx in ihren Ursachen untersucht wurde, hatte in England, vor allem am Regierungssitz London, zu einer Debatte über die Grenzen dessen geführt, was bis heute Manchester-Kapitalismus heißt. In dieser Debatte ergreift Spencer Partei gegen jede Art von staatlicher Sozialpolitik, und er tut dies mit Argumenten der von ihm entwickelten Systemtheorie, die eine stark utilitaristische Prägung hat. Eine Systemtheorie, die für eine spätere Phase der Soziologie, die funktionalistische Systemtheorie Talcott Parsons’ (siehe Kapitel 2.1) wichtige Impulse liefert. Das Organismusmodell Spencers Ausgangspunkt ist die Grundüberzeugung, dass es keine gravierenden Unterschiede zwischen der Evolution der Natur und der Entwicklung der Gesellschaft gebe. Beide seien durch einen Wandel von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Verschiedenheit geprägt. 1.2.1 | 1.2.2 | Natur und Gesellschaft Herausforderung der Gesellschaftstheorie durch Marx UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 34 <?page no="34"?> 35 Die Triebkräfte in der Natur und in Gesellschaften sieht Spencer im Kampf ums Dasein jedes Lebewesens. Seinen Ansatz, die naturwissenschaftliche Denkweise für die Gesellschaftstheorie nutzbar zu machen, verband er deshalb mit einem philosophischen Ansatz, dem Utilitarismus. Porträt ˘ Im Gegensatz zu Marx verwendet Spencer fast keine ökonomischen Daten, sondern arbeitet sich durch die Vielzahl ethnographischer Veröffentlichungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts hindurch, um hieraus Belege für den Analogieschluss von der Natur auf Gesellschaft zu gewinnen. Spencer lässt in seiner Argumentation auf die Darstellung naturwissenschaftlicher Evolutionstatbestände immer den Analogieschluss vom Biologischen zum Sozialen folgen. Seine Argumentation schließt er regelmäßig mit der Bemerkung ab: »Und so ist es auch in Gesellschaften«. Das ist Spencers Methode, die man vom heutigen Kenntnisstand her durchaus kritisieren kann, vor allem die mangelnde wissenschaftliche Beweiskraft des Analogieschlusses. Denn es handelt sich meist nicht um einen Vergleich, von dem Spencer behauptet, dass er der Kern seiner Methode sei, sondern um eine Setzung, um eine logische Wahrscheinlichkeit, die von der Ähnlichkeit oder Übereinstimmung verschiedener Phänomene mit verschiedenen Merkmalen ausgeht. HAUPTWERKE: Social Statistics (1850) Einleitung in das Studium der Soziologie (1875) Principles of Sociology (1876 -1896) ZENTRALE THESEN: 1. Gesellschaft als Organismus (sozialdarwinistische Vorstellung; biologistische Übernahme von Lamarck) 2. Organismus versucht zu überleben, Prinzip: »survival of the fittest« 3. Evolutionsgesetz: von unzusammenhängender Gleichförmigkeit zu zusammenhängender Ungleichförmigkeit 4. Bewegungsprinzipien der Gesellschaft: Wachstum, strukturelle Differenzierung und funktionale Interdependenz 5. Ablehnung von Sozialpolitik Herbert Spencer UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 35 <?page no="35"?> 36 Utilitarismus Der Utilitarismus wird im 18. Jahrhundert hauptsächlich von John Bentham, John Stewart Mill und David Ricardo begründet. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass der einzelne Mensch sich im Prozess der Sozialisation nicht Werte und Normen aneignet, die durch bestimmte Institutionen vermittelt werden, sondern dass er mit Hilfe seines Bewusstseins Erfahrungen sammelt, die entsprechend ihrer Lustqualitäten und Nützlichkeiten zur Grundlage des Handelns werden. Auf die für die damalige Zeit revolutionäre These, dass der Mensch kulturunabhängig sein Leben nach ausschließlich hedonistischen Prinzipien ausrichtet, also sein Handeln weitgehend von rationalem Zweckkalkül bestimmen lässt, folgt der utilitaristische Ansatz, der den Menschen auf eine bestimmte ökonomische Natur festlegt. Dieser Denkansatz richtet sich im 18. Jahrhundert vor allem gegen die feudalen Herrschaftsstrukturen und die in ihnen wirkenden Normen der Institutionen. Der Spätabsolutismus ist nicht in der Lage, die wirtschaftlichen und politischen Probleme zu lösen, die dadurch entstanden sind, dass Menschen zum einen durch das Kontraktprinzip in die Freiheit entlassen werden, also etwa über die Freisetzung von ehemaligen Leibeigenen, zum anderen aber die regulierenden Institutionen noch nicht auf den individualistisch handelnden Menschen eingerichtet sind. In Frankreich und England erzeugt überdies die wachsende Bevölkerung Versorgungsprobleme, die es erforderlich machen, den einzelnen Menschen in die Lage zu versetzen, seine Probleme selbst zu lösen. Dazu gehören für die Utilitaristen Forderungen nach Freihandel, Wahlrecht, Meinungsfreiheit und Justizreform. Trotz des reformerischen Ansatzes kommt der Utilitarismus über eine radikale Institutionenkritik aber nicht hinaus, weil er das Problem gesellschaftlicher Integration nicht lösen kann. Bei Bentham und Mill bleibt der Mensch auf die zwanghafte Naturhaftigkeit seines Handelns reduziert. Soziale Eigengesetzlichkeiten muss der Entwurf ignorieren, weil Kultur, Werte und Normen in diesem Denkgebäude nicht existieren. Der utilitaristische Gesellschaftsentwurf bleibt auf die Forderung nach dem größten Glück für die größte Anzahl an Menschen beschränkt. Der Mensch verfolgt seinen Nutzen und strebt nach Lustgewinn Gesellschaftliche Integration als Leerstelle 1.2.3 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 36 <?page no="36"?> 37 Es gibt heute dennoch eine ganze Richtung in den Sozialwissenschaften, die unter der Überschrift »Rational-Choice« im Rückgriff auf den Utilitarismus eine forschungsrelevante Rolle spielt. Im Mittelpunkt steht dabei die These, dass nur die sozial-ökonomischen Vorteile und Nachteile das Handeln des Einzelnen bestimmen und nichts anderes. Daraus lassen sich eine Reihe von Forschungsstrategien entwickeln. Dies soll später wieder aufgegriffen werden, wenn von den heutigen Theorie- und Forschungsrichtungen in der Soziologie die Rede sein wird (siehe Kapitel 2). Sozialdarwinismus Indem Spencer die naturwissenschaftliche Evolutionslehre mit utilitaristischem Gedankengut verbindet, entwickelt er eine theoretische Position, die im nachhinein als »Sozialdarwinismus« bezeichnet wurde, was aber irreführend ist. Charles Darwin, der über die Evolution des Menschen das Buch »The Origin of the Species« (1859) verfasst hatte, hatte sich stets gegen die Übertragung seiner biologischen Theorie auf soziale Prozesse gewehrt; außerdem erschien Spencers Hauptwerk »Social Statistics« bereits 1850. Auch die These »survival of the fittest« ist nicht von Darwin, sondern von Spencer. Bei Spencer hat der Kampf ums Dasein die zentrale Bedeutung, den Gesamtorganismus Gesellschaft voranzubringen. Das Streben des Einzelnen ist nicht mehr Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Das individuelle Schicksal wird den Erfordernissen des organistischen Gesellschaftskörpers untergeordnet. Dabei entwickelt sich die Gesellschaft nach den Entwicklungsgesetzen der Biologie durch Anpassung und Differenzierung. | 1.2.4 Anpassung und Differenzierung Definition ˘ Handlungstheoretischer Ansatz, wonach das Handeln der Menschen nicht durch Werte und Normen geleitet ist, die im Laufe der Sozialisation erworben werden, sondern ausschließlich aus nutzenorientierten Motiven heraus erfolgt. Der Mensch ist durch seine ökonomische Natur determiniert. Sie bestimmt sein Handeln. Er folgt ausschließlich dem Prinzip des maximalen (Lust-) Gewinns bei minimalem Aufwand. Utilitarismus UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 37 <?page no="37"?> 38 Die Idee der sozialen Auslese ist die Grundlage für die daran anknüpfenden Ideen des Imperialismus und kruder Rassentheorien, die bis heute nachwirken. Der Sozialdarwinismus hat aber auch einen seriösen Theoriestrang der Gegenwartssoziologie geprägt: die Systemtheorie. Nach Spencer besteht »eine wirkliche Analogie« zwischen einem individuellen und einem sozialen Organismus, die begründet wird durch die funktionale Abhängigkeit zwischen den einzelnen Teilen des Organismus. Exakt das ist auch eine der zentralen Annahmen der nordamerikanischen Systemtheorie, auf die später näher eingegangen wird (siehe Kapitel 2.1). In England blieb Spencer allerdings ohne wesentliche Wirkung auf die weitere Entwicklung der Soziologie. Nachdem sich in den innen- und sozialpolitischen Debatten die Befürworter einer staatlichen Sozialpolitik durchgesetzt hatten, verlagerte sich auch die sozialwissenschaftliche Forschung und Lehre auf die moralischwissenschaftliche Unterstützung des englischen Sozialstaates. Bis in die 1940er Jahre gab es nur eine soziologische Professur, und zwar an der London School of Economics (LSE). Lehrstuhlinhaber war Morris Ginsberg, ein Moralphilosoph. In Frankreich dagegen hatte Emile Durkheim einen nachhaltigen Einfluss. Definition ˘ 1. Organistischer Denkansatz: Die Gesellschaft ist ein Organismus, dessen Entwicklung aus dem Streben nach innerem und äußerem Gleichgewicht durch Differenzierung und Anpassung zu erklären ist. Dieses Streben stellt sich für die einzelnen Elemente (Menschen, soziale Gruppen) als »Kampf ums Dasein« dar. 2. Der »Kampf ums Dasein« ist ein Kampf verschiedener Gruppen miteinander, in dem sich die »bessere Moral«, die »bessere Rasse« durchsetzt. Es entstehen Nationen, in denen bestimmte Erbanlagen verfestigt werden, und der Kampf setzt sich auf höherer Ebene als Kampf zwischen Völkern fort. Die Ursache für Fortschritt liegt darin, dass die Starken über die Schwachen siegen. Der Einzelne, das handelnde Individuum spielt nur noch insoweit eine Rolle, wie es den gesellschaftlichen Organismus voranbringt. Spencers »survival of the fittest« Spencers Wirkung auf andere Soziologen UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 38 <?page no="38"?> 39 Emile Durkheim (1858-1917) Emile Durkheim wurde in eine strenggläubige jüdische Familie geboren, löste sich jedoch von dieser und von der Religion seiner Eltern. Er studiert Philosophie und Geschichte, findet aber relativ früh die Aufmerksamkeit der französischen Regierung und wird 1885/ 86 nach Deutschland geschickt, um zu untersuchen, wie dort das Erziehungssystem und die Ausbildung der Lehrer organisiert ist. Die französische Gesellschaft leidet noch unter dem Schock des verlorenen Krieges von 1870/ 71. Durkheims Aufgabe ist es, herauszufinden, ob die militärische Überlegenheit der Deutschen mit dem Schulsystem, mit dem Wissenschaftssystem, mit der Ausbildung zusammenhängen könnte. Er lernt dabei eine ganze Reihe deutscher Wissenschaftler kennen, darunter auch Ferdinand Tönnies. 1896 erhält Durkheim zunächst eine Dozentur und später eine Professur an der Pädagogischen Hochschule in Bordeaux. Er ist seitdem nicht nur als Soziologe tätig - und insbesondere als Motor einer französischen Soziologie -, sondern auch der Chefdenker der französischen Lehrerausbildung. Grundfragen zur Bildung einer Gesellschaft Die Situation in Frankreich ist nach 1870 durch Unruhe, viele Unklarheiten, Ungewissheiten und Unsicherheiten gekennzeichnet, durch die Konfrontation der Royalisten und der Befürworter der Dritten Republik. In dieser Situation der französischen Gesellschaft stellt sich Durkheim folgende zentralen Fragen: . Wie kommt es, dass eine Masse von Einzelpersonen eine Gesell schaft bildet? . Auf welche Weise gelingt es diesen Einzelpersonen, einen Konsens als die Voraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft herzustellen? Dahinter verbirgt sich die Vorstellung, dass die alten Muster der Gesellschaft nicht mehr gültig sind. Durkheim weiß sehr wohl, wie noch im 18. Jahrhundert während des Absolutismus die Masse von Einzelpersonen eine Gesellschaft bilden konnte. Der Konsens war damals der König: Der König bestimmte alles, alle hatten sich danach zu richten, und das wurde notfalls mit Gewalt durchgesetzt. Aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist dieser Konsens in Frankreich verschwunden. Es gibt unterschiedliche konkurrie- | 1.2.6 Zentral: Bildung und Erziehung | 1.2.5 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 39 <?page no="39"?> 40 rende Gruppen. Durkheim fragt sich deshalb: Warum? Wie kann man theoretisch erklären, dass diese Gesellschaft funktioniert, und - insbesondere - wie kommt es zu einem Konsens? Gesellschaftliche Entwicklung von der mechanischen zur organischen Solidarität Durkheim beschreibt die Entwicklung der Gesellschaft von einer mechanischen Solidarität zu einer organischen Solidarität. Diese bilden zwei Pole der gesellschaftlichen Entwicklung, die in diesen reinen Formen nicht vorkommen müssen. Die beiden Begriffe sind Abstraktionen, Denkfiguren. Irgendwo zwischen den beiden Polen befinden sich die jeweiligen Gesellschaften, die Durkheim untersucht. Als Gegensatz ist die Unterscheidung zwischen organischer und mechanischer Solidarität dennoch wichtig, weil die mechanische Solidarität eine Solidarität durch Ähnlichkeit ist. Bei der entgegengesetzten Form der Solidarität, der organischen, resultiert der Konsens aus der Differenzierung. Dabei ist für das Durkheim`sche Werk die Überlegung besonders wichtig, dass Differenzierung auch ein Vorteil sein kann, und, so wie er diesen Gedanken dann weiter entwickelt, auch die Grundlage für Moral bildet. Was Marx als die Entwicklung der verschiedenen Gesellschaftsformationen beschreibt - also Urhorde, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus usw. -, wird bei Durkheim als ein Kontinuum von mechanischer Solidarität - das wäre die Urhorde in der reinsten Form - hin zu organischer Solidarität beschrieben. Die wichtigsten Kriterien für Durkheim sind dabei Ähnlichkeit und Verschiedenheit. Ähnlichkeit bedeutet, dass die Menschen ein Kollektiv bilden, das die Welt in gleicher Weise deutet. Im Zustand der Verschiedenheit ist die Arbeitsteilung zentral. Die Individuen sind nicht ein Kollektiv, in dem alle gleich sind, sondern ergänzen sich in der Arbeitsteilung untereinander. Verbrechen gelten hier nicht mehr als Verletzung der Kollektivgefühle, sondern sind Vertragsverletzungen. Während im Zustand der Ähnlichkeit verletzte Gefühle wiederhergestellt werden, also z.B. durch Sühne oder Rache, gilt dagegen Wiedergutmachung als Prinzip im Zustand der Verschiedenheit - der entstandene Schaden muss ersetzt werden. Das Individuum ist im Zustand der Ähnlichkeit direkt der Gesellschaft gegenübergestellt. Im Zustand der Verschiedenheit tritt das Individuum der Gesellschaft über Intermediäre gegenüber: Das sind bei uns heute Ähnlichkeit versus Verschiedenheit 1.2.7 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 40 <?page no="40"?> 41 Kollektivbewusstsein und soziale Tatsachen Durkheim geht davon aus, dass Menschen in allen gesellschaftlichen Zuständen ein bestimmtes Kollektivbewusstsein haben. Dies ist kein völlig neuer Gedanke in der Soziologie bzw. in den Sozialwissenschaften (siehe K. Marx). Durkheim unterscheidet das Bewusstsein des einzelnen Menschen von einem Kollektivbewusstsein, das im Inneren der Menschen existiert, das sie sich jedoch nicht selbst auswählen können. Kollektivbewusstsein sind »die gemeinsamen Überzeugungen und Gefühle der Durchschnittsmitglieder einer Gesellschaft«. Es wird ihnen mit der Sozialisation vermittelt und sie orientieren sich an ihm. Wichtig hierbei ist, dass dieses Kollektivbewusstsein den Menschen gewissermaßen von außen entgegentritt und Zwang ausübt. Es ist eine soziale Tatsache. Das Kollektivbewusstsein ist in einzelnen Gesellschaften verschieden stark verbreitet und wirksam, wobei in der Form der mechanischen Solidarität, in der Form der Ähnlichkeit, das Kollektivbewusstsein ganz eindeutig ist: Das Kollektiv, in dem man lebt, hat ein gemeinsames Bewusstsein, und das Kollektivbewusstsein erfasst die Mehrzahl der Individuen. Ähnlichkeiten Verschiedenheiten Kollektiv, das die Welt in gleicher Weise deutet Arbeitsteilung: Individuen ergänzen einander Verbrechen verletzt Kollektivgefühle; Verbrechen sind Vertragsverletzungen; Wiederherstellung verletzter Gefühle Wiedergutmachung Individuum ist der Gesellschaft direkt Individuum ist mit der Gesellschaft über gegenübergestellt intermediäre Organisationen verbunden keine Wahl in den sozialen Beziehungen Wahlfreiheit der Beziehung mechanische Solidarität organische Solidarität | 1.2.8 Das Kollektivbewusstsein als zentrale Kategorie Gewerkschaften, Parteien etc. Der Mensch hat in der mechanischen Solidarität keine Wahl, mit wem er kooperieren will. Das ist festgelegt. Man gehört zu seinem Kollektiv und hat mit allen gesellschaftliche Kontakte. In der organischen Solidarität besteht bis zu einem gewissen Grad Wahlfreiheit der Beziehung. UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 41 <?page no="41"?> 42 Durkheim hat nun das Problem zu erklären, was das neue Kollektivbewusstsein in der Industriegesellschaft im Zustand der Verschiedenheit ist. In den differenzierten Gesellschaften ist es dem Einzelnen überlassen, das zu glauben und zu tun, was er möchte. Nun stellt sich für Durkheim die Frage, auf welche Weise es gelingt, einen Konsens als die Voraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft herzustellen. Auf welche Weise gelingt es zu organisieren, dass die Menschen in einer Gesellschaft zusammen leben und arbeiten können? Um das herauszufinden, entwickelt er die Idee der Anomie. Anomie Durkheim versucht, eine neue Moral zu formulieren, und damit ihm das gelingt, geht er den Umweg über Pathologien, d.h. er untersucht nicht, in welchen Fällen das Kollektivbewusstsein funktioniert, sondern er untersucht Fälle, in denen es nicht funktioniert. Dies ist ein in den Sozialwissenschaften seitdem gern benutztes Forschungsschema: Man versucht herauszufinden, wann etwas nicht funktioniert, um dann Rückschlüsse daraus zu ziehen, wie es eigentlich funktionieren sollte bzw. wie es im positiven Falle gut funktioniert. Diese Pathologien nennt Durkheim Anomie und meint damit z. B. das Abrücken der Beschäftigten von gesellschaftlichen Normen wie Arbeitsmoral. Durkheim nennt verschiedene Formen der Anomie: Erstens gibt es den Gegensatz von Kapital und Arbeit. Er zerstört Solidarität, indem sich einige auf Kosten anderer bereichern. Wege der Kooperation werden nicht beachtet, dies führt zu Konflikten, Definition ˘ 1. Ein sozialer Tatbestand ist jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns als kollektives Phänomen. 2. Soziologen müssen diesen äußeren Zwangscharakter sozialer Tatbestände erfassen und beschreiben. 3. Die äußeren Zwänge, auf die die einzelnen Individuen nur bedingt Einfluss nehmen können, bezeichnet Durkheim als moralisch verpflichtend wirkendes Kollektivbewusstsein, das sich weder einseitig auf ökonomische Faktoren noch einseitig auf psychologische Faktoren zurückführen lässt. 4. Das Kollektivbewusstsein wird deshalb zur entscheidenden soziologischen Kategorie. Es ist das Gewissen, die Moral der Gesellschaft, die sich in Sitten, Religion und Recht ausdrückt und durch Erziehung vermittelt wird (fait social). Kollektivbewusstsein/ soziale Tatsachen Wie gelingt Integration? 1.2.9 | Kapital und Arbeit UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 42 <?page no="42"?> 43 und das ist dann eine Form von Anomie. Diese Form der Anomie besteht also aus einer Verletzung der Regeln für Kooperationen. Es gibt an bestimmten Stellen in der Industriegesellschaft ein Zuwenig an Regeln, und deswegen kommt es zu anomischen Formen. Eine zweite Form der Anomie ist ein Zuviel an Regeln. Wenn zu viele Regeln bestehen, sind sie nicht länger eine angemessene Wiedergabe naturgegebener Ungleichheit. Statt dessen besteht eine unnatürlich geschaffene Ungleichheit durch Regeln, die falsch, da zu zahlreich und damit wenig kooperationsstiftend sind. Wenn es ein Übermaß an Regeln gibt, haben die Menschen zu wenig Freiheit. Es gibt zu wenig spontane Solidaritätsverbindungen in sinnvoller Kooperation, und man kann die Arbeitsteilung nicht gestalten. Schließlich gibt es noch eine dritte Form von Anomie, nämlich das Verkümmern der Funktionen sowie überflüssige Aktivitäten und Beschäftigung. Durkheim geht also - wie Spencer - von einem Organismusmodell aus. Dies ist eine Vorstellung, die vielen Theoretikern seiner Zeit gemeinsam ist. Wenn einzelne oder wichtige Teile des Organismus verkümmern, ist dies ebenfalls eine Form von Anomie. Man kann laut Durkheim an der Zahl und an der Art der anomischen Situationen den Zustand einer Gesellschaft ablesen. Ihm kommt es darauf an, Anomien zu verhindern, Regeln zu schaffen, an die sich alle halten können, und dem Einzelnen zu vermitteln, welche Ansprüche und Erwartungen an ihn gestellt werden. Wenn das nicht funktioniert, kann es zu Selbstmord kommen. Hierüber hat Durkheim eine berühmte Studie geschrieben (»Der Selbstmord«), die bis heute lesenswert und wichtig ist. Zu viele Regelungen Das Modell des Organismus Definition ˘ 1. Die Bestimmung dessen, was »normal« ist, untersucht Durkheim durch die Festlegung dessen, was als Abweichung vom durchschnittlichen Verhalten der Gesellschaftsmitglieder gelten kann. 2. Anomie meint die Erschütterung der Gruppenmoral und damit auch der Gruppenordnung: Das Kollektivbewusstsein ist nicht mehr in der Lage, gesellschaftliche Integration zu sichern. 3. Soziale Tatsachen sind als objektive Gegebenheit und moralische Verpflichtung auch im abweichenden Verhalten erkennbar. 4. Aufgabe der Soziologie ist es, anhand empirischer Daten Theorien zu enwickeln, die helfen, Ursachen für anomische Zustände aufzudecken und gesellschaftliches Verhalten aus rein sozialen Faktoren abzuleiten (Selbstmordstudie). Anomie UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 43 <?page no="43"?> 44 Arbeitsteilung als neue Moral Wenn es so ist, dass es diese anomischen Formen geben kann, und wenn man aus diesen anomischen Formen ableiten kann, dass es so etwas wie eine gemeinsame Moral geben muss, dann kann man diese Moral auch beeinflussen und verändern, zum Beispiel durch Erziehung, durch Gesellschaftspolitik und durch Sozialpolitik. Durkheim wendet die Entwicklung der Industriegesellschaft nicht wie Marx ins Negative. Marx war der Ansicht, dass die Menschen durch Arbeitsteilung entfremdet werden von dem Produkt ihrer Arbeit, von ihren Kollegen und im Prinzip auch von sich selbst. Durkheim hat ein anderes Konzept: Dadurch, dass es Arbeitsteilung gibt, kann jeder nach seinen Möglichkeiten am Arbeitsprozess teilnehmen, auch schafft die Arbeitsteilung Kooperation zwischen den Menschen. Gerade weil man in der arbeitsteiligen Gesellschaft aufeinander angewiesen ist, muss man kooperieren. Für diese Kooperation muss man Regeln schaffen. Das ist die neue Moral. Arbeitsteilung ersetzt im Prinzip die Moral des Kollektivs in der mechanischen Solidarität. Durkheim liefert also eine Interpretation eines gesellschaftlichen Zustandes, die nicht in Kritik mündet, sondern in die positive Wertung dessen, was er sieht. Die Lehrerausbildung Wem vermittelt man diese Vorstellungen am besten? Denjenigen, die die nächste heranwachsende Generation unterrichten, also den Lehrern. Deswegen wird Durkheim neben einer umfangreichen publizistischen Tätigkeit in der Soziologie gewissermaßen der Chefdenker der Lehrerausbildung in Frankreich. Bereits 1901 hatte die Dritte Republik im Gefolge der Dreyfus-Affäre, in der Durkheim an der Seite Zolas stand, den geistlichen Orden die Unterrichtserlaubnis entzogen. 1905 folgte die strikte Trennung von Kirche und Staat. Durkheim wird 1906 nach Paris berufen und erhält dort einen Lehrstuhl für Erziehungswissenschaften und Soziologie. Jeder Lehramtsstudent in Paris muss bis zu Durkheims Tod 1917 an seinen Kursen teilnehmen. Da Paris die Zentrale des Landes ist, färben seine Lehren auf alle anderen Lehrerstudiengänge ab. Durkheim lehrt, dass Arbeitsteilung die Grundlage auch der Demokratie ist. Das hat im republikanischen Frankreich große Bedeutung, wo es immer noch Kämpfe zwischen Monarchisten und Re- 1.2.10 | Durkheims positive Sicht der arbeitsteiligen Gesellschaft 1.2.11 | Arbeitsteilung und Demokratie UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 44 <?page no="44"?> 45 publikanern gibt. Durkheim ist ein wirklicher Sinnstifter. Man könnte sagen, er vermittelt das ideologische Rüstzeug für die Unterrichtung der Menschen der nachkommenden Generation, damit diese in der Industriegesellschaft gut miteinander kooperieren können. Durkheim stirbt 1917 aus Gram - wie es in den Biographien heißt - über den Tod seines einzigen Sohnes im 1. Weltkrieg. Nach seinem Tod gibt es in den 1920er und 1930er Jahren in Frankreich nur Marcel Mauss und Maurice Halbwachs, die seine Art von Soziologie fortsetzen. In einem Interview hat Halbwachs erklärt, das hänge im Wesentlichen damit zusammen, dass der größere Teil des sozialwissenschaftlichen Nachwuchses, überhaupt des wissenschaftlichen Nachwuchses, den so genannten »Heldentod« im Ersten Weltkrieg gefunden und es anschließend eine Lücke in der Weiterentwicklung der Soziologie in Frankreich gegeben habe. Diese lebt erst in den 1940er und 1950er Jahren wieder auf. Die Auswirkungen des 1. Weltkrieges sind für die Entwicklung der Soziologie in Deutschland nicht so gravierend, da hier schon mehr und insbesondere früher Jüngere nachgerückt waren, die die Soziologie fortsetzten. Im Übrigen wirkt sich dieser Effekt auch deshalb in Deutschland nicht so stark aus, weil es nicht eine alles Zusammenfassung ˘ 1. Theoretisches Konzept: Entwicklung der Gesellschaft von mechanischer zur organischen Solidarität 2. Grund für diese Entwicklung: Zunehmende Zahl der Gesellschaftsmitglieder (Bevölkerungswachstum) als Ursache für zunehmende Differenzierung und Arbeitsteilung. Arbeitsteilung ist der zentrale Faktor für gesellschaftliche Differenzierung. 3. Paradigmenwechsel: Während bei der mechanischen Solidarität gesellschaftliche Integration durch gemeinsame Anschauungen und Gefühle erzeugt wird, treten in der Phase organischer Solidarität kontraktuelle, vertragsmäßige Elemente in den Vordergrund. Soziale Solidarität entsteht durch die Anerkennung einer gemeinsamen Moral, die darin mündet, dass jeder auf jeden angewiesen ist. Daraus resultiert eine moralische Verpflichtung, die eigenen Fähigkeiten zur Förderung des Ganzen zu verwenden. Durkheims Soziologie Frankreich und Deutschland nach dem 1. Weltkrieg UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 45 <?page no="45"?> 46 dominierende Stadt wie Paris gibt, sondern viele kleine Universitätsstädte, in denen sehr unterschiedliche Entwicklungen in der Soziologie stattfanden, also z.B. Tübingen, Marburg, Heidelberg, Berlin, Hamburg, Kiel. Eine Rezeption der Arbeiten Durkheims war schon in den 1920er Jahren und dann im Nationalsozialismus in Deutschland kaum erfolgt. Insofern war der Entwicklungsstrang der Durkheim`schen Soziologie insbesondere für die deutsche Soziologie so gut wie abgeschnitten. Durkheim hatte eher Einfluss auf die amerikanische Systemtheorie, z.B. bei der Frage, wie das System der Arbeitsteilung organisiert ist. Ferdinand Tönnies (1855-1936) Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung am 30. Januar 1933 musste Ferdinand Tönnies vom Vorsitz der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, den er seit deren Gründung 1909 innegehabt hatte, zurücktreten. Er war als Kritiker der Nationalsozialisten öffentlich aufgetreten, bis ihm die Regierung in Berlin die Pension auf ein Drittel kürzte und ihm Lehre und Forschung verbot. Am 11.4.1936 starb er verarmt und verbittert in Kiel. Tönnies studierte Philosophie, promovierte und habilitierte sich und wurde nach einer längeren Zeit als Privatdozent schließlich 1909 Ordinarius in Kiel. Der Lehrstuhl, den er inne hatte, trug die Bezeichnung »Soziologie«. 1912 erschien die zweite Auflage seines Buches »Gemeinschaft und Gesellschaft« mit dem neuen Untertitel »Grundbegriffe der reinen Soziologie«. In der ersten Auflage 1887 lautete der Untertitel noch »Abhandlung des Communismus und des Sozialismus als empirische Kulturformen«. An den Untertiteln lässt sich einiges von Tönnies’ Absichten erkennen. Er wollte die neuen politischen und sozialen Entwicklungen in der ersten Hauptphase der Industrialisierung in Deutschland untersuchen und systematisch auf den Begriff bringen. Mit den beiden Begriffen »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« hat er versucht, den sich in Deutschland im 19. Jahrhundert vollziehenden Übergang von einer traditional-feudalen Gesellschaftsordnung zu einer modernen bürgerlichen Gesellschaft zu beschreiben. Die beiden Begriffe charakterisieren bestimmte Formen des Zusammenlebens von Menschen, ein Zusammenleben, das durch unterschiedliche Formen der mitmenschlichen Vertrautheit und seelischen Verbundenheit gekennzeichnet ist. 1.2.12 | Biographie UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 46 <?page no="46"?> 47 Von der Gemeinschaft zur Gesellschaft Tönnies, der Durkheim persönlich kannte und auch dessen Arbeiten in Zeitschriften besprochen hat, verwendet ebenso wie dieser die Begriffe »organisch« und »mechanisch« als kennzeichnende Aspekte einer Gesamtwirklichkeit. Die Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft ist auch hier nicht als Gegensatz gemeint, sondern als Kontinuum. Im frühen Mittelalter leben die Menschen meist als Gemeinschaft in einer Familie, in einer Großfamilie, in einem Dorf mit überschaubaren Regeln und mit Traditionen, die Verwandtschaftsbeziehungen stehen im Mittelpunkt usw. In der Gesellschaft leben Menschen eher in Großstädten, arbeiten entfremdet in der Fabrik, unterhalten zweckmäßige Beziehungen, und an die Stelle von Sitte und Religion ist die Politik getreten. Diese Vorstellung ähnelt der Durkheims, wobei interessanterweise die Bezeichnungen für die Gesellschaftsformen bei Tönnies umgekehrt sind. Was Durkheim mechanisch nennt, heißt hier organisch. Tönnies ist sehr geprägt von der deutschen Situation: Die Industrialisierung ist noch nicht sehr weit fortgeschritten. Das Deutsche Kaiserreich wird erst 1871 ausgerufen. Es gibt nicht die eine Metropole, sondern mehrere konkurrierende Städte. In diesem Klima spielen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Liberalismus und Idealismus, die Figuren, die wir aus der Literatur kennen, aus der Romantik und dem Sturm und Drang, noch eine viel größere Rolle als die gesellschaftswissenschaftliche Analyse. Tönnies beschreibt die Entwicklung von der Gemeinschaft zur Gesell- | 1.2.13 Vom Dorf zur Großstadt Gemeinschaft Gesellschaft Familie Fabrik Dorf Großstadt Verwandtschaftsbeziehungen Zweckinteresse affektive Nähe Tausch gemeinsame Überzeugungen Öffentliche Meinung Eintracht - Sitte - Religion Politik Organische Solidarität Mechanische Solidarität UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 47 <?page no="47"?> 48 schaft, aber anders als bei Durkheim wird dies nun nicht in ein Erziehungskonzept oder in Formen von Gesellschaftspolitik umgesetzt, sondern mit einem Ausdruck des Bedauerns offen gelassen. Tönnies’ Ziele sind nicht gesellschaftspolitisch oder erziehungswissenschaftlich wie bei Durkheim, sondern im Wesentlichen fachintern: Er versucht, die Ausbildung von Soziologen an den Universitäten zu systematisieren, und ihm haben wir die Unterscheidung in Allgemeine und Spezielle Soziologie zu verdanken. Tönnies gehört zu jenen deutschen Bildungsbürgern, die zwar ein Verständnis für die Situation der Gesellschaft entwickeln, durchaus auch die Schriften von Marx kennen, aber ihr idealistisches, pietistisches Erbe lässt sie doch sehr kulturkritisch gegenüber diesen Entwicklungen sein. Das kann am Beispiel des Wortes »Gemeinschaft« erklärt werden. Die Verantwortlichkeit des Soziologen für sein Werk Betrachten wir nochmals die obige Tabelle, lesen die Begriffe »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«, und stellen uns vor, wir wüssten nicht, wer die Gegenüberstellung entworfen hat. Aus welchem Gedankenkreis stammt diese Gegenüberstellung? Der eine oder andere würde auf die Idee kommen, dass das Begrifflichkeiten sind, die im Nationalsozialismus auch eine Rolle gespielt haben, nämlich als Gegenüberstellung der »guten« alten Gemeinschaft und der »bösen« modernen Gesellschaft. Und tatsächlich nahmen die Nationalsozialisten Ferdinand Tönnies für ihre Thesen in Anspruch. Sie entfernen ihn zwar aus Amt und Pension. Das hindert sie aber nicht daran, seine Theorie zu verwenden. Er versucht, sich dagegen zu wehren, denn er sieht sich falsch interpretiert, und hier kommen wir zu dem Problem der Verantwortlichkeit des Sozialwissenschaftlers für sein Werk. Immerhin ist Tönnies’ Buch in achtfacher Auflage erschienen. Es ist ein Bestseller bis in die 1930er Jahre hinein. Tönnies versucht nicht, das Erscheinen der achten Auflage des Buches 1935 zu verhindern, sondern schreibt ein Vorwort und distanziert sich davon, dass dieses Buch von anderen, wie er sagt, in schlauer Weise interpretiert werde. Man tut Ferdinand Tönnies Unrecht, wenn man ihn in die Nähe des Nationalsozialismus bringt. Gleichwohl ist dies ein geeigneter Anlass, auf die Verantwortung von Sozialwissenschaftlern hinzuweisen. Im Übrigen ist er kein Einzelfall. Die Antrittsrede »Der Na- 1.2.14 | Ansätze von Kulturkritik Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten Die Ausbildung von Soziologen UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 48 <?page no="48"?> 49 tionalstaat und die Volkswirtschaftspolitik« des großen Max Weber vom 3.5.1895 ist eine Abhandlung über die Notwendigkeit, jede fremde Konkurrenz aus Deutschland herauszuhalten, um die eigene Volkswirtschaft zu schützen. Aus unserer Perspektive ist dies nationalistisch. Diese Einstellung ist in den bürgerlichen Kreisen im späten 19. Jahrhundert die Regel. Insofern ist das, was Ferdinand Tönnies betreibt, eher noch eine relativ wertfreie Systematik. Dass er an die »Gesellschaft« nicht geglaubt hat, war seine persönliche Interpretation. Diese Interpretation wollen wir ihm nachsehen. Georg Simmel (1858-1918) Georg Simmel stammte aus einer reichen Familie, sein Vater besaß zeitweise die Schokoladenfabrik Sarotti. Simmel wurde christlich getauft, aber dennoch führte seine ursprünglich jüdische Herkunft dazu, dass er in Berlin, wo er promovierte und habilitierte, keine Stelle erhielt. Er blieb statt dessen Privatdozent, finanzierte sich selbst, schrieb Bücher und bekam im Ausland Ehrendoktorwürden, bevor er 1916 in Deutschland schließlich doch noch in Straßburg einen Lehrstuhl erhielt. Er starb 1918 an Leberkrebs. Max Weber hatte versucht, ihm zu helfen, eine Professur in Heidelberg oder Freiburg zu bekommen. Im Hintergrund wurden jedoch Geheimgutachten geschrieben: »Dieser Israelit wird die deutsche Wissenschaft zerstören«. Die Universitäten im wilhelminischen Kaiserreich waren von starken antisemitischen Strömungen geprägt, und außerdem neideten ihm die Kollegen seine Popularität. Er muss ein begeisternder Redner gewesen sein. Er hielt öffentliche Vorlesungen, zu denen auch die feine Gesellschaft Berlins erschien. (Das waren die so genannten »Schleierkollegs«, zu denen die Damen der besseren Gesellschaft mit einem Schleier vor dem Gesicht, vom Hut heruntergeklappt, erschienen.) Vergesellschaftung Simmel ist der erste, der die Veränderung einer Gesellschaft als den Normalfall bezeichnet. Deswegen heißt es bei ihm nicht »Gesellschaft«, sondern »Vergesellschaftung«. Dies ist ein Prozessbegriff, der etwas bezeichnet, das im Gange ist. Simmel stellt sich vor, dass jedes Individuum, jede Gruppe, jede Organisation in ständiger Wechselwirkung mit anderen steht und dadurch Gesellschaft zustande Antisemitismus an deutschen Universitäten | 1.2.15 | 1.2.16 Wechselwirkungen UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 49 <?page no="49"?> 50 kommt: nämlich durch die Wiederholung bestimmter Wechselwirkungen, durch die Strukturierung bestimmter Wechselwirkungen und eben auch z.B. durch auf Dauer gestellte Wechselwirkungen. Form und Inhalt Gesellschaft entsteht erst in der Vergesellschaftung, aber sie kann von Soziologen nur dann untersucht werden, wenn methodisch ein Unterschied gemacht wird zwischen Form und Inhalt. Damit ist folgendes gemeint: Zunächst ist das, was Menschen inhaltlich tun, historisch vorgeprägt und Gegenstand von Geschichte, von philosophischer Interpretation oder ähnlichen Fächern. Wenn die Soziologie eine eigenständige Position einnehmen will, dann muss sie einen eigenen Gegenstand haben. Das kann nach Simmel nicht etwas sein, womit sich die anderen Wissenschaften auch alle beschäftigen, nämlich mit den Inhalten menschlichen Tuns, sondern es kann nur die Form sein, in der die Menschen etwas tun. Deswegen untersucht die Soziologie die Form. Das soll am Beispiel des Begriffs der Gruppe näher erläutert werden. Die Gruppe Simmel sieht, dass die Zahl der Mitglieder einer Gruppe etwas mit der Bedeutung und Durchsetzung von Inhalten zu tun hat. Die Ausbildung von Regel- und Organisationsformen z.B. hängt von der Zahl der Mitglieder der Organisation ab. Erst ab einer bestimmten Größe strukturieren sich Gruppen und bilden arbeitsteilige Organe. In der Familiensoziologie und in der Entwicklungspsychologie Definition ˘ 1. Gesellschaft beruht auf Wechselwirkungen zwischen Menschen. Der Mensch steht in der arbeitsteiligen Gesellschaft zunehmend im Schnittpunkt verschiedener sozialer Kreise. Daraus resultiert Vergesellschaftung. 2. Form ist vom Inhalt zu trennen. Soziologie hat die sich verändernden Formen der Vergesellschaftung zu untersuchen. 3. Als Formen von Vergesellschaftung untersucht Simmel gesellschaftliche Erscheinungen wie Opposition, Wettbewerb, Eifersucht, Neid, Geld und soziale Gruppen. Vergesellschaftung 1.2.17 | Die Aufgaben soziologischer Forschungsarbeit 1.2.18 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 50 <?page no="50"?> 51 wird dies immer am Beispiel der Veränderung einer Ehe zu einer Kleinfamilie besprochen. Solange lediglich die beiden Ehepartner da sind, ist es nicht möglich, eine zahlenmäßige Mehrheit zu schaffen. Es gibt dann zwar andere Methoden sich durchzusetzen, die aber - laut Simmel - nicht Thema der Soziologie sind. Für die Soziologie wird es dann interessant, wenn das erste Kind dazu kommt und es so die Möglichkeit gibt, Mehrheiten zu bilden. Solche Prozesse, in denen die Form, die Größe der Gruppe zunächst entscheidend ist für das, was in der Gruppe möglich ist, interessieren Simmel. Er erklärt das an weiteren Beispielen. Er hat z.B. die Vorstellung, dass eine sozialistische Gesellschaft nur ganz kleine Gruppen kennen kann, weil nur dann Gerechtigkeit in der Verteilung möglich ist, sowohl des Leistens als auch des Genießens. Das Christentum dagegen richtet sich an alle. Da kann die Gruppe sehr groß sein. Simmel geht bei der Untersuchung von Gruppen von der Zahl aus. Er beschreibt immer die verschiedenen Regeln und die Formen der Organisation und hat damit für die Gruppensoziologie, aber auch für die Gruppenpsychologie, eine Reihe wichtiger Grundlagen geschaffen. Aber die Gruppe ist auch etwas, das den Menschen gegenübertritt - und da sei an Durkheim erinnert, der auch die sozialen Tatsachen als etwas Selbständiges, außerhalb der Menschen Befindliches verstand. Es ist durchaus möglich, dass die Mitglieder einer Gruppe wechseln und die Gruppe trotzdem erhalten bleibt. Sie ist also ein soziales Gebilde, das für sich untersucht werden kann, ohne die Aktionen der Mitglieder im Einzelnen erheben, untersuchen und bewerten zu müssen. So findet Simmel einen Weg zwischen der Tatsache, dass das Leben der Menschen in ihren jeweiligen sozialen Organisationen in Gruppen historisch vorgeformt ist und dass dieses Leben in seinen Formen soziologisch verstehbar ist. Es gibt damit sowohl eine kausale Erklärung für das, was von der Form her in einer Gruppe abläuft, als auch für die Möglichkeit, das Handeln der einzelnen Menschen in dieser Gruppe im Hinblick auf ihre persönlichen Ziele oder auf die Ziele von Gruppen zu untersuchen. In der Soziologie ist Simmel schon in den 1920er Jahren so gut wie vergessen, in den 1930er Jahren oder im Nationalsozialismus darf er gar nicht unterrichtet werden, und so ist seine Bedeutung für die Soziologie lange Zeit relativ unentdeckt geblieben. Jürgen Habermas hat ihn hingegen als einen brillanten philosophierenden Zeitdiagnostiker bezeichnet, und in den letzten Jahren hat Simmels Werk wieder eine gewisse Renaissance erlebt. Erst drei sind eine Gruppe Form und Inhalt einer Gruppe UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 51 <?page no="51"?> 52 Zusammenfassung ˘ SPENCER: Gesellschaft ist ein Organismus, der sich durch Differenzierung und Anpassung weiterentwickelt. DU RKH EIM: Gesellschaftliche Differenzierung erfolgt durch Arbeitsteilung. Die Gesellschaft hat ein Kollektivbewusstsein (fait social), das als eigenständig Soziales nicht auf andere Ursachen rückführbar ist. TÖNNI ES: Von der Gemeinschaft zur Gesellschaft. Kulturkritische Einflüsse. SIMMEL: Das Soziale entsteht durch Wechselwirkungen zwischen Menschen in sozialen Gruppen. Soziologie untersucht die vom Inhalt bestimmten Formen von Vergesellschaftung. Die vorgestellten soziologischen Theorien in Stichworten Lernkontrollfragen Welche Bedeutung hat es, wenn Herbert Spencer über Gesellschaften in Analogie zur Natur argumentiert? Erläutern Sie die unterschiedliche Verwendung der Begriffe »organisch« und »mechanisch« bei Durkheim und Tönnies. Erläutern Sie am Beispiel der sozialen Gruppe, wie Simmel den Unterschied von Form und Inhalt festlegt. 1 2 3 Infoteil Von Herbert Spencer gibt es in den Buchhandlungen nur wenige Originalwerke in deutscher Fassung. Zurzeit sind erhältlich: Einleitung in das Studium der Sociologie/ Der Klassiker ohne Gemeinde und eine Bibliographie und Biographie, Göttingen, Augsburg: WiSoMed Verlag, Cromm Verlag, 1996 und Die ersten Prinzipien der Philosophie, Pähl: Jolandos Verlag, 2007 (2. Aufl.). Die drei wichtigsten Bücher Emile Durkheims sind als Suhrkamp-Taschenbücher erhältlich. Zu dem zentralen Werk Über soziale Arbeitsteilung hat Niklas Luhmann (siehe Kapitel 2.1) eine Einleitung geschrieben. Bei Georg Simmel ist die Literaturlage wesentlich besser. Von Otthein Rammstedt herausgegeben, ist beim Suhrkamp Verlag eine Gesamtausgabe in 24 Bänden erschienen, darunter als Band 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1992. Bei der Sekundärliteratur sticht Klaus Lichtblaus Auseinandersetzung mit Biografie und Gesamtwerk hervor; das Buch heißt Georg Simmel und ist 1997 im Campus Verlag erschienen. Das wichtigste Buch von Ferdinand Tönnies - Gemeinschaft und Gesellschaft: Grundbegriffe der reinen Soziologie - ist 2010 bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft als Nachdruck der 8. Auflage von 1935 wieder aufgelegt worden. Von der geplanten Gesamtausgabe sind bei de Gruyter bereits einige Bände erschienen. UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 52 <?page no="52"?> 53 Max Weber (1864 - 1920) - der eigentliche Beginn der Soziologie Einleitung Im Herbst 1998 veranstaltete die International Sociological Association (ISA) unter ihren Mitgliedern eine weltweite Umfrage nach den für die Soziologie zehn einflussreichsten Büchern im 20. Jahrhundert. Ein Autor ist auf dieser Hitliste mit zwei Werken vertreten: Max Weber. Spitzenreiter ist »Wirtschaft und Gesellschaft«, auf Platz drei folgt »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«. Diese beiden Bücher waren für die Soziologie des 20. Jahrhunderts tatsächlich sehr wichtig. Ihr Einfluss zeigt sich auch darin, dass die übrigen acht Werke auf der ISA-Liste sich direkt oder indirekt auf das Werk Webers beziehen und seine Vorgaben und Anregungen aufzunehmen und weiterzuentwickeln versuchen. Karl Marx hatte die Entstehung des Industriekapitalismus westeuropäisch-nordamerikanischer Prägung an der Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsbedingungen erklärt. Weber zeigt, dass für die erfolgreiche Durchsetzung kapitalistischer Produktionsmethoden die parallele Entstehung einer berufsbürgerlichen Ethik notwendig war. Das Werk »Wirtschaft und Gesellschaft« entfaltet auf fast 1.000 Seiten ein umfassendes Forschungsprogramm auf der Basis der Grundlegung einer Theorie sozialen Handelns und einer spezifisch soziologischen Forschungsmethode. Biographisches Max Webers Eltern waren wohlhabende Leute. Sie gehörten zu einem unternehmerisch sehr erfolgreichen Familienverband. Der Vater war Abgeordneter im preußischen Reichstag und zeitweise Vorsitzender der Haushaltskommission des preußischen Landtages. Max Weber kennt schon als Kind über den Vater viele Geistesgrößen seiner Zeit. Ihm ist die Karriere in die Wiege gelegt. Weber promoviert mit 25 Jahren in Jura. Er habilitiert sich in Rechtswissenschaften. Parallel zu den Arbeiten an der Habilitationsschrift (»Die Römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht«) wertet er eine Umfrage des »Vereins für Socialpolitik« aus und schreibt den 900 Seiten langen Bericht »Die Verhältnisse der Landarbeiter im Ostelbischen Deutschland«. | 1.3 | 1.3.1 Max Weber - weltweit beachtet | 1.3.2 Großbürgerliches Elternhaus UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 53 <?page no="53"?> 54 Das ist auch der Grund für seine erste Berufung (mit 29 Jahren! ) auf einen Lehrstuhl, noch nicht für Soziologie, sondern für Volkswirtschaftslehre. 1896 wird er nach Heidelberg berufen, nun auf einen Lehrstuhl für Soziologie. Er lehrt aber nur eine kurze Phase von 1893 bis 1899. Allein über die Gründe, warum er seine Lehrtätigkeit einstellte, haben Max Weber-Spezialisten ganze Bücher geschrieben. Ob es einfach nur die Arbeitsüberlastung war oder weil er mit seinem familiären Hintergrund nicht zurecht kam - es gibt die unterschiedlichsten Ansichten zu diesem Thema. In Heidelberg wird Weber 1903 gänzlich entpflichtet. Obgleich er nur noch Honorarprofessor ist, entwickelt er in der deutschen Geistesgeschichte und in der Soziologie schon zu Lebzeiten eine enorme Wirkung, die nicht zuletzt auch durch seine charismatische Persönlichkeit zu erklären ist. Dirk Kaesler hat ihn als den »Mythos von Heidelberg« bezeichnet. Max Weber war ein Sinnstifter. Er schreibt oft in der Frankfurter Zeitung und ist nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg 1918 auch Mitglied der deutschen Delegation in Versailles. Seine Frau Marianne wird Abgeordnete im Badischen Landtag. In dieser Zeit liegen die Finanzen des Weberschen Familienverbandes danieder, und so ist er gezwungen, wieder zu arbeiten. Er übernimmt 1918 eine Professur in Wien, wechselt aber bereits 1919 auf einen renommierten Lehrstuhl für Gesellschaftswissenschaften, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie an der Münchner Universität. 1920 stirbt Weber in München an der Spanischen Grippe. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus Max Weber hat die Frage von Karl Marx aufgegriffen, wie es zum Kapitalismus gekommen ist und welche Auswirkungen dieser Prozess der Entstehung des Kapitalismus für die Menschen seiner Zeit hat. Weber zeigt in der Studie »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«, dass der Kapitalismus im Leben der Menschen selbst angelegt ist, und zwar in der rationalen Organisation ihres alltäglichen Lebens. Darüber hinaus zeigt er, dass die Rationalisierung der praktischen Lebensführung für die Menschen nach und nach Folgen hat. Er beginnt mit einem empirischen Faktum: Es sei offensichtlich, so schreibt er, dass sich in protestantischen und insbesondere in den pietistisch-calvinistischen Regionen Westeuropas die Wirtschaft erfolgreicher entwickelt habe als in katholischen Gegenden. Dar- Schnelle Karriere und ein jähes Ende 1.3.3 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 54 <?page no="54"?> 55 aus entwickelt er zunächst eine sehr umfangreiche Argumentation, die auf folgendes hinausläuft: Im Protestantismus kann der Mensch die Gnade Gottes nicht vorhersehen, er kann sie nicht durch Ablass oder Beichte instrumentell erlangen. Die so genannte Prädestinationslehre der Calvinisten sagt darüber hinaus, dass es dem Menschen vorbestimmt ist, ob er in den Himmel kommt oder nicht. Als Indiz der Auserwähltheit wird der Verzicht auf alles interpretiert, was von der Arbeit ablenkt. So ist das calvinistische Ideal, sich dieser Gunst durch ständiges Arbeiten als würdig zu zeigen. Weber zeigt nun, wie sich diese Arbeitshaltung nach und nach verselbstständigt. Er beginnt mit Luthers Vorstellungen vom Berufsethos und zur Berufsarbeit, geht über die Calvinisten zu den Methodisten des 19. Jahrhunderts, bei denen das Berufsethos noch vorhanden ist, d.h. alle gehen nach wie vor Tag für Tag mit großem Fleiß ihrer täglichen Arbeit nach, die pietistisch-religiöse Orientierung aber in den Hintergrund getreten ist. Das Ethos wird unabhängig von religiösen Motiven. Diese Arbeitshaltung ist nach Weber nicht etwas, was die Menschen zufällig oder freiwillig haben. Ihnen bleibt gar keine Wahl, sich anders zu verhalten als fleißig zu sein und dadurch die ökonomische Entwicklung, und das heißt den Kapitalismus, zu stärken. An einer Stelle heißt es: »Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es.« Weber spricht in diesem Zusammenhang auch von dem »stahlharten Gehäuse«, in das der Kapitalismus die Menschen hineinzwinge: »Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmend und schließlich unentrinnbar Macht über die Menschen.« Es ist für die Soziologie eine interessante und bis heute wichtige Frage, ob es sich hierbei um eine Antithese zu Marx handelt. Als Weber mit der Arbeit 1905 begann, stand die These von Basis und Überbau - Produktionsverhältnisse bestimmen die Entwicklung der Gesellschaft - noch zentral in den Debatten. Am Ende seines Werkes sagt Weber, dass es nicht seine Absicht gewesen sei, zu behaupten, die anderen Einflüsse gebe es nicht. Seine Absicht sei lediglich, zu zeigen, dass es auch anderes, nämlich religiös-geistige Strömungen gibt, die den Fortgang der Gesellschaft beeinflussen und mitbestimmen. Daraus wird dann insbesondere in den 1970er Jahren, als es nach der Marx-Rezeption in der deutschen Soziologie eine Weber- Renaissance gibt, geschlossen, dass Weber der Meinung gewesen sei, die These von Basis und Überbau stimme nicht. Das kann man Die Entstehung der Berufsarbeit Die Zwänge des Kapitalismus Eine Gegenthese zu Marx UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 55 <?page no="55"?> 56 so sehen, muss man aber nicht. Man könnte auch sagen, dass Weber eine weitere Erklärung dafür liefert, wie es von einer Gesellschaftsformation zur anderen kommt, nämlich vom Feudalismus zum Kapitalismus; wie es dazu kommt, dass in der Gesellschaft der Menschen sich Institutionen und Verhaltensweisen ausbilden, die der Kapitalismus allein so nicht erzeugen konnte bzw., wenn er sie hätte erzeugen wollen, wesentlich länger zu ihrer Durchsetzung gebraucht hätte. Die Idee des Berufsethos, dass man seinem Beruf regelmäßig nachgeht, ist schon vor dem Kapitalismus vorhanden, und sie ist sogar eine der wichtigen Voraussetzungen dafür, dass so etwas wie Kapitalismus und Spätkapitalismus überhaupt funktionieren können. Weber legt damit offen, dass es auch andere, z. B. religiöse, Verhaltensweisen gibt, die aus sich heraus weitere ganz bestimmte Verhaltensweisen produzieren. Er zeigt damit, dass es eben nicht nur wirtschaftliche Entwicklungen gibt - das ist nun schon eine Kritik an Marx - , die den Fortgang einer Gesellschaft beeinflussen. Eine bestimmte religiöse Grundhaltung macht es überhaupt erst möglich, in der notwendigen Weise kapitalistische, d. h. rationale Organisationsformen in eine ehemals agrarisch-feudale Gesellschaft einzuführen. Das ist der zentrale Erkenntnisgewinn. Dabei ist Weber dem Kapitalismus gegenüber recht kritisch: »Zum Einzug braucht er kein Kapital, aber der Einzug des Kapitalismus war nie ein friedlicher.« Definition ˘ FORSCHUNGSTH EMA: Was sind die Wurzeln des okzidentalen Kapitalismus? DATENBASIS: Empirische Studie eines Weber-Schülers über die konfessionelle Berufsschichtung in Baden, die einen überproportionalen Anteil von Protestanten bei Kapitalbesitzern, Unternehmern und höher qualifiziertem kaufmännischen und technischen Personal auswies. FORSCHUNGSTH ESE: »In diesen Fällen liegt zweifellos das Kausalverhältnis so, dass die anerzogene geistige Eigenart, und zwar hier die durch die religiöse Atmosphäre der Heimat und des Elternhauses bedingte Richtung der Erziehung, die Berufswahl und die weiteren beruflichen Schicksale bestimmt hat.« Die Protestanten hatten demnach eine spezifische Neigung zum ökonomischen Rationalismus. »Es würde also darauf ankommen […] zu untersuchen, welches diejenigen Elemente jener Eigenart der Konfessionen sind oder waren, die in der vorstehend geschilderten Richtung gewirkt haben und teilweise noch wirken.« Die Webersche Kapitalismus- These UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 56 <?page no="56"?> 57 Soziales Handeln als Kern der Soziologie Im ersten Kapitel von »Wirtschaft und Gesellschaft« formuliert Weber eine systematische Definition der Soziologie, die jetzt nicht mehr, wie etwa bei Comte, Marx, Simmel oder Durkheim, in Abgrenzung zur Philosophie geschieht. Er formuliert vielmehr eine eigenständige Aufgabe für die Soziologie: »Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. Handeln soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. Soziales Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer und daran in seinem Ablauf orientiert ist.« Dieser berühmte § 1 der soziologischen Kategorienlehre wird auf vielen Seiten faktenreich erläutert. Den knapp formulierten Kernthesen folgen in dem opus magnum stets ausführende Erklärungen und Belege. Wir beschränken uns hier auf die erläuternden Anmerkungen zu drei Punkten: 1. Ursächlich soll heißen, dass man tatsächlich nachweisen kann, dass A B erzeugt hat, d. h. dass die Berufshaltung aus dem Pietismus einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Berufsethos im Kapitalismus hat. 2. Subjektiver Sinn: Jedes Handeln, das einen Mensch mit einem anderen verbindet, hat einen Sinn; und die menschliche Kommunikation oder die Kommunikation in Gesellschaften basiert darauf, dass Definition FORSCHUNGSBEDINGUNG: »Dennoch muss diese der Eigenart des Kapitalismus angepasste Art der Lebensführung und Berufsauffassung historisch entstanden sein, und zwar nicht in einzelnen isolierten Individuen, sondern als Anschauungsweise, die von Menschengruppen getragen wurde. Diese Entstehung ist also das eigentlich zu Erklärende.« Die Webersche Kapitalismus- These | 1.3.4 Definition der Soziologie UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 57 <?page no="57"?> 58 der andere diesen Sinn halbwegs versteht, sonst ist es nicht möglich, mit ihm zu kommunizieren. Der Sinn, den der Einzelne dem anderen durch eine Handlung, durch eine Grimasse, durch eine Handbewegung oder durch Mimik mitteilen will, hat zwar immer auch etwas Subjektives, aber der andere muss es wenigstens in Grundzügen verstehen. 3. Nur soziales Handeln als Teil des gesamten Handelns ist der Gegenstandsbereich der Soziologie. Ein Beispiel, das in den Erläuterungen zu § 1 vorkommt: Wenn jemand über die Straße geht und es zu regnen anfängt, dann spannt er einen Regenschirm auf. Dieses Verhalten ist nach Weber (dem subjektiven Sinn nach) nicht auf andere gerichtet und ist deswegen kein soziales Handeln. Folgende Bedingungen müssen dafür erfüllt sein: 1. Es muss sich um eine Gesellschaft handeln, in der es Regenschirme gibt. 2. Es muss sich um eine Gesellschaft handeln, wo es selbstverständlich ist, dass man den Regenschirm aufspannt, wenn es regnet. Daran kann man schon sehen, wie schwierig es ist, das soziale Handeln vom allgemeinen Handeln abzugrenzen. Ob jemand den Regenschirm aufspannt oder nicht, hängt sehr davon ab, in welcher Gesellschaft er oder sie mit welchen anderen Menschen zusammenlebt. Dann kann das Aufspannen eines Regenschirms durchaus auch soziales Handeln sein. Mit diesen Kategorien sozialen Handelns muss sich von nun an, so wie mit der Marxsch`en Klassentheorie und mit der These von Basis und Überbau, jeder Soziologe und jede Soziologin auf der Welt auseinandersetzen, wenn es um soziologische Theorie geht. Soziales Handeln Definition ˘ »Soziologie (im hier verstandenen Sinne dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.« »Handeln soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiv gemeinten Sinn verbinden.« »Soziales Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer und daran in seinem Ablauf orientiert ist.« Die Kategorien sozialen Handelns UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 58 <?page no="58"?> 59 Weber hat noch eine weitere Systematik eingeführt: Es gibt zweckrationales, wertrationales, affektuelles und traditionelles Verhalten. Diese vier Motive bestimmen soziales Handeln. Sie lassen sich auf jede Gesellschaft, die Weber kennt und die wir bisher kennengelernt haben, anwenden. Das ist für den allgemeinen Anspruch einer Soziologie ganz besonders wichtig: Es handelt sich jetzt nicht mehr um national orientierte Soziologie, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts von Durkheim, Spencer, Simmel und Tönnies thematisiert wird, sondern es handelt sich hier ganz eindeutig um eine These, die immer und für alle Gesellschaften gelten soll. Wer heutzutage über Motive in Gesellschaften oder über das Handeln von Individuen forscht, kann sich zwar andere Motive ausdenken, aber zunächst müssen diese abgearbeitet werden. Dies ist der Standard der Wissenschaft und das ist ein weiterer Punkt der Bedeutung von Max Weber. Im Prinzip kann man sagen: Hier ist der Beginn der modernen Soziologie. Es wird das erste Mal - ausdrücklicher als bei allen seinen Vorgängern und Zeigenossen - der Versuch unternommen, eine theoretische Fassung des Gegenstandsbereiches der Soziologie vorzunehmen. Max Weber ist an einer Wissenschaft interessiert, die soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich erklären will. Im Übrigen hatte Weber über die Soziologie seiner Zeit eine ganz eindeutige Meinung. »Das Meiste, was unter dem Namen Soziologie einhergeht, ist Schwindel.« Die Forschungsmethode: Der Idealtypus Der Idealtypus ist ein schwieriges Forschungsinstrument, weil es dazu verleitet, das Wort Ideal so zu übersetzen, als meine Max Weber Vier Formen von sozialem Handeln Definition ˘ 1. ZWECKRATIONAL entweder bezogen auf die Verhaltenserwartungen der anderen oder ›Mittel‹ für eigene, abgewogene Zwecke. 2. WERTRATIONAL durch bewussten Glauben an den Eigenwert eines Sachverhaltes - unabhängig vom Erfolg. 3. AFFEKTU ELL, insbesondere emotional. 4. TRADITIONAL durch eingelebte Gewohnheit. Motive bzw. Sinnzusammenhang für soziales Handeln Universeller Anspruch | 1.3.5 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 59 <?page no="59"?> 60 damit, es sei der beste Typus. Das ist nicht der Fall. Max Weber versucht, einen gedachten Verlauf nachzuvollziehen, also wie der gemeinte Sinn auf jemand anderen in einem sozialen Handeln gerichtet ist. Er möchte herausfinden, was ursächlich passiert. Dazu benötigt er einen Parameter, an dem er misst, ob es funktioniert oder nicht. Das ist der Grund für die Konstruktion eines Idealtypus. Es ist also eine Art Messinstrument. Durch die gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit bis hin zu einer Utopie dieses Handelns zieht er einen Vergleich mit der Realität. Aus dieser Differenz entwickelt er dann die Beurteilung für die jeweiligen Handlungen. Dann überprüft er, was dabei fehlt bzw. was dazugekommen ist. Hat das historische Gründe? Ist das eine Ausnahme? Oder muss man das Zukünftig immer dazurechnen? Sinnadäquanz und Kausaladäquanz Für die Forschungspraxis und für das, was Max Weber den Idealtypus nennt, sind zwei weitere Begriffe von ganz entscheidender Bedeutung: Sinnadäquanz und Kausaladäquanz. Sinnadäquanz meint ein optimales, möglichst hundertprozentiges Verstehen des Sinnzusammenhanges des Verhaltens, das man untersucht. Das ist das Ziel. Nun weiß Weber, dass dies in den meisten Fällen nicht möglich ist. Wenn Untersuchungen durchgeführt werden, muss es deshalb wenigstens so etwas wie Kausaladäquanz geben, nämlich ein Mindestmaß an empirischer Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Handlungen. Die Soziologin oder der Soziologe können nie Ideal und Wirklichkeit Definition ˘ 1. Aufgabe: »[…] die chaotische Vielfalt individueller Erscheinungen hypothetisch einem »idealen«, d. h. einem gedachten Verlauf zuzurechnen.« 2. Funktion: Parameter/ Messinstrument, mit dem soziales Handeln soziologisch relevant verortet werden soll durch Begriffsbildung und Typisierungen. 3. Konstruktion eines Idealtypus: a) Durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit bis hin zur Utopie. b) Orientiert an »Ideen«, die für das Handeln der Menschen und Gruppen als leitend interpretiert werden. c) Gewonnen aus der historischen Wirklichkeit. Idealtypus 1.3.6 | Regeln für die Forschungspraxis UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 60 <?page no="60"?> 61 ganz sicher sein, ob etwas hundertprozentig vorhanden ist, aber es muss wenigstens so etwas wie Kausaladäquanz geben, es muss sozusagen ein hinreichender Verdacht bestehen. Das Forschungsfeld Herrschaft Sehr ausführlich hat Weber die verschiedenen Formen von Herrschaft untersucht. Dabei grenzt er Herrschaft von Macht und Disziplin ab. Definition ˘ SINNADÄQUANZ meint: Ein optimales, möglichst hundertprozentiges Verstehen des Sinnzusammenhanges (Verhalten), den man untersucht. KAUSALADÄQUANZ meint: ein Mindestmaß an empirischer Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Handlungen. METHODISCH ES ZI EL: Verbindung von Kausal- und Sinnadäquanz: »Nur solche statistischen Regelmäßigkeiten, welche einem verständlich gemeinten Sinn eines sozialen Handelns entsprechen, sind verständliche Handlungstypen, also soziologische Regeln. Nur solche rationalen Konstruktionen eines sinnhaft verständlichen Handelns sind soziologische Typen realen Geschehens, welche in der Realität wenigstens in irgendeiner Annäherung beobachtet werden können.« Forschungsregeln | 1.3.7 Definition ˘ »Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden; « »Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht; « »Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielfalt von Menschen zu finden.« Webers Herrschaftssoziologie UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 61 <?page no="61"?> 62 Weber unterscheidet idealtypisch drei Formen von Herrschaft: die legale, die traditionale und die charismatische. Die legale Herrschaft ist das, was wir in unseren Gesellschaften kennen. Die Herrschaft durch die Bundes- und Landesregierung (legitimiert durch das Volk) beruht auf der Geltung des so genannten positiven Rechts. Es gibt aber auch Gesellschaften, in denen ein Machthaber oder eine kleine Gruppe sich gegenüber den Beherrschten durchsetzt, unabhängig davon, ob sie an die Legitimität dieser Herrschaft glauben. Ein Beispiel für traditionale Herrschaft ist die des Papstes über die katholische Kirche. Die charismatische Herrschaft zeigt sich etwa auf Kuba: Fidel Castro in der Rolle des Maximo Lider. Kuba ist ein typisches Beispiel für die Aufrechterhaltung einer Herrschaft, in der alle anderen Bedingungen bereits nicht mehr existieren, das Charisma aber noch vorhanden ist und die Gesellschaft immer noch auf dem einmal vorgegebenen Weg hält. Werturteilsfreiheit Zu den Regeln und Methoden der soziologischen Forschung gehört bei Max Weber die Werturteilsfreiheit. Ihm ging es grundsätzlich darum, zunächst einmal systematisch und analytisch mit den Mitteln der soziologischen Kategorienlehre das, was es zu untersuchen gibt, aufzuarbeiten und erst dann dazu Stellung zu nehmen. Erst gilt es, herauszufinden, welche Herrschaftsformen es gibt, bevor dazu eine bewertende Aussage möglich ist. Herrschaftsformen Definition ˘ Drei Formen von Herrschaft - unterschieden nach ihrer Legitimitätsgeltung: 1. LEGALE / RATIONALE H ERRSCHAFT • Glaube an Legalität gesetzter Ordnung • Anweisungsrecht der zur Ausübung Berufenen (Parlament, Verwaltungsstab). 2. TRADITIONALE H ERRSCHAFT • Glaube an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen • Glaube an die Legitimität der durch sie zur Autorität Berufenen. 3. CHARISMATISCH E H ERRSCHAFT Außeralltägliche Hingabe an die Heiligkeit, Heldenkraft oder Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie geschaffenen Ordnung. REALITÄT: Vermischung aller drei Herrschaftsformen! Herrschaftsformen 1.3.8 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 62 <?page no="62"?> 63 »Was aber heute der Student […] vor allen […] Dingen lernen sollte, ist: […] Tatsachen, auch gerade persönlich unbequeme Tatsachen, zunächst einmal anzuerkennen […]«. Das kann jeder auf seine eigenen Arbeiten leicht übertragen, und wenn wir unsere nicht-wissenschaftlichen Äußerungen im Leben gegenüber Ereignissen kritisch betrachten, dann werden wir feststellen, dass wir uns mit unbequemen persönlichen Tatsachen oft überhaupt nicht abfinden wollen und diese auch verdrängen. Die Psychoanalyse gibt es nur, weil Menschen sich mit unbequemen Tatsachen nicht abfinden wollen und diese verdrängen. Aber in der Wissenschaft müssen diese Tatsachen reflektiert werden. Max Weber meinte mit seinem Zitat, »Das meiste, was unter dem Namen Soziologie einhergeht, ist Schwindel«, vor allen Dingen jene Art von Soziologie, die immer gleich und vorschnell zu Bewertungen kommt. Es gibt in der damaligen Zeit ernst zu nehmende Sozialpolitiker und Sozialwissenschaftler, die sagen, dass man auch vom Katheder aus für bestimmte politische Positionen werben muss. Das waren die so genannten Katheder-Sozialisten. Diese sind Weber ein Greuel. Öffentliche politische Äußerungen von Professoren hat er überhaupt nicht vorgesehen. Für die akademischen Lehrer gilt also ein noch größeres »Reinheitsgebot« als für den einzelnen soziologisch Forschenden. Werte und Bewertungen Zusammenfassung ˘ Max Weber hat drei Leitlinien für die Soziologie des 20. Jahrhunderts formuliert: ERSTENS die langfristige Untersuchung der Entstehung der rationalen Welt und der sich verbindenden Strömungen der Lebensführung und der Entstehung des Kapitalismus. ZWEITENS die Formulierung einer systematisch angelegten Soziologie und einer ihr angemessenen Forschungsmethode. DRITTENS die klare Trennung von privater Meinung und wissenschaftlicher Aussage. Drei Leitlinien für die Soziologie UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 63 <?page no="63"?> 64 Heutzutage gibt es keinen Zweifel, dass Weber in die erste Reihe der soziologischen Klassiker gehört. Zur Zeit seines Todes war das durchaus noch nicht so: Hatte er doch weniger als akademischer Lehrer, sondern vielmehr als Intellektueller Rang und Namen gehabt. Das große Werk »Wirtschaft und Gesellschaft« erschien posthum, von seiner Witwe Marianne Weber organisiert und von Johannes Winckelmann, einem der wenigen Schüler, herausgegeben. In der Weimarer Republik gaben andere den Ton in der Soziologie an, und im Dritten Reich hatten deutschnationale Soziologen das Wort. Erst in den 1960er Jahren kehrte die Lehre Max Webers allgemein an die deutschen Universitäten zurück - auf dem Umweg über die USA. Dort war in den 1930er Jahren die so genannte strukturfunktionale Systemtheorie entstanden, die in den 1950er Jahren die Soziologie dominierte (siehe Kapitel 2.1). Der Begründer und Motor dieser Theorie - Talcott Parsons - hatte u.a. in Deutschland studiert, die Handlungstheorie Max Webers zu einem Fundament seiner Theorie gemacht und »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« sowie Teile von »Wirtschaft und Gesellschaft« ins Englische übersetzt. Es gibt eine Reihe von Gründen, z.B. die Dominanz der USA im Westen, für den Siegeszug der strukturfunktionalen Theorie - insbesondere in Deutschland, wo die re-education-Bemühungen der USA nach dem 2. Weltkrieg zusätzliche Motivation schufen, sich mit dieser Theorie zu beschäftigen. Max Weber hatte die Grundlagen des Faches geschaffen; die Systemtheorie, die im folgenden Kapitel behandelt wird, schuf eine in sich geschlossene Gesellschaftstheorie, die das Fach Soziologie an den Universitäten endgültig als eigenständige Disziplin etablierte und einen ersten Professionalisierungsschub freisetzte. Aber das alleine hätte als Erklärung nicht ausgereicht. Hauptgrund war, dass mit der strukturfunktionalen Systemtheorie die erste soziologische Großtheorie auf dem Markt war, die Forschung und Lehre umfassend möglich machte und gleichzeitig für die Anwendung in der Praxis bestens geeignet schien. Hinzu kam, dass Parsons in Harvard lehrte, einer der renommiertesten Universitäten nicht nur in den USA, sondern auf der gesamten Welt. Die Bedeutung Max Webers für die Soziologie des 20. Jahrhunderts UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 64 <?page no="64"?> 65 Lernkontrollfragen Erklären Sie den Handlungsbegriff bei Max Weber und zeigen Sie auf, inwieweit sich Max Weber mit seinem Begriff des »sozialen Handelns« von Karl Marx unterscheidet. Erläutern Sie den Idealtypus am Beispiel von Webers Herrschaftssoziologie. Max Weber hat in »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« ebenfalls versucht, eine Theorie gesellschaftlicher Entwicklung aufzustellen. Skizzieren Sie diese Theorie und versuchen Sie herauszufinden, wodurch sich Weber in (erkenntnis-)theoretischer Hinsicht von Comte und Marx unterscheidet. 1 2 3 Infoteil Das umfangreiche Werk von Max Weber ist einmal in zahlreichen Reprints der Ausgaben zu Lebzeiten und in einer Gesamtausgabe, deren Bände nach und nach erscheinen, erhältlich. Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus ist 2010 in einer vollständigen Ausgabe, eingeleitet und herausgegeben von Dirk Kaesler, erschienen, München: Beck Verlag, 2010 (3. Aufl.). Eine sehr gut zusammengestellte Auswahl der Werke Max Webers findet sich in: Max Weber. Schriften 1894-1922. Ausgewählt und eingeleitet von Dirk Kaesler, Stuttgart: Kröner Verlag, 2002. Als Sekundärliteratur herausragend ist die Einführung von Dirk Kaesler: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt a. M., New York: Campus Verlag, 2003 (3. Aufl.). Dort finden Interessierte auch eine vollständige Bibliographie der Werke Max Webers. UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 65 <?page no="65"?> UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 66 <?page no="66"?> 67 Systemtheorie Talcott Parsons (1902-1979) - Der Begründer der strukturfunktionalen Systemtheorie Talcott Parsons, am 13.12.1902 in Colorado Springs als Sohn eines Pfarrers geboren, studierte zunächst Biologie. Nach dem ersten Examen 1924 ging er nach Europa, eine damals durchaus übliche Fortsetzung des Universitätsstudiums. Zuerst verbrachte er ein halbes Jahr an der London School of Economics, wo er vor allem bei dem Kulturanthropologen Bronislaw Malinowski hörte, der auf der Basis umfangreichen ethnologischen Materials Kultur als instrumentellen Apparat verstand, mit dem Menschen ihre Probleme funktional lösen. Spätestens in London, aber wahrscheinlich schon während des Biologiestudiums, nahm Parsons die wichtigsten Ideen Herbert Spencers (siehe Kapitel 1.2) auf, der Gesellschaft als Organismus verstand, der im Gleichgewicht bleiben muss, um seine Aufgaben optimal zu erfüllen. Wichtige theoretische Positionen Systemtheorie Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule Handlungstheorie Frauen- und Geschlechterforschung Die Zusammenführung von System- und Handlungstheorie 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 Inhalt | 2.1 | 2.1.1 | 2 Frühe Einflüsse UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 67 <?page no="67"?> 68 Mit der Kulturtheorie und der Organismustheorie sind bereits zwei in Europa entstandene Bausteine der Systemtheorie benannt. Hinzukommen muss noch Emile Durkheims (siehe Kapitel 1.2) These von der Existenz der sozialen Tatsachen außerhalb des Menschen sowie seine Beschreibung der Arbeitsteilung als Grund für gesellschaftliche Differenzierung - ein Beispiel für eine soziale Tatsache. Im Laufe des Jahres 1925 trifft Parsons in Heidelberg ein, wo er bei Alfred Weber, dem jüngeren Bruder Max Webers, studiert und dann auch promoviert (mit einer Arbeit über den Kapitalismusbegriff bei Max Weber und Werner Sombart). Mit der Handlungstheorie Max Webers findet Parsons den Ansatz, der es ihm erlaubt, die Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Lebens mit dem Handeln der Individuen in einer Theorie zusammenzuführen. Parsons geht aus systematischer Überlegung davon aus, dass Strukturen, Funktionen und Wirkungszusammenhänge der Konstruktionskern einer soziologischen Theorie der Gesellschaft sind. Dadurch sind nicht das Individuum und sein Handeln, sondern die Strukturen, in denen es handelt, das eigentlich Interessante. Die grundlegende Idee ist, dass jede soziale Handlung zwischen Individuen einen strukturellen Stellenwert im gesellschaftlichen System hat und jedes soziale Phänomen eine Bedeutung für das System hat und rückgekoppelt werden kann. Unter System versteht Parsons eine (Teil-) Menge untereinander in Beziehung stehender Elemente, die als Einheit begriffen werden und von denen die übrigen Elemente als Systemumwelt abgegrenzt werden. Studium in Heidelberg Definition ˘ H ERBERT SPENC ER: Gesellschaft als ORGANISMUS BRONISLAW MALINOWSKI: Kultur als Funktionszusammenhang; Kultur als INSTRUMENTELLER APPARAT, mit dem der Mensch seine Probleme lösen und seine Bedürfnisse befriedigen kann (Funktionalismus). EMI LE DURKH EIM: Gesellschaftliche DI FFERENZI ERUNG DURCH ARBEITS- TEI LUNG als überindividuelle, eigenständige soziale Tatsache. MAX WEBER: HANDLUNGSTH EORI E: Gesellschaft bildet sich durch motivational bedingtes soziales Handeln von Individuen. Wichtige theoretische Einflüsse Die Struktur sozialer Systeme UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 68 <?page no="68"?> 69 Das AGIL-Schema Parsons hat das soziale Handeln als einzelnes Element eines Vernetzungszusammenhangs verstanden. Die soziologische Systemtheorie erklärt das Handeln des Einzelnen aus dem jeweiligen Systemzusammenhang. Es gibt ein Ordnungsgefüge aus Systemstrukturen und Systemfunktionen. Parsons stellt in den Mittelpunkt seiner weiteren soziologischen Denk- und Forschungsarbeit die Frage, wie es das jeweilige System schafft, sich zu erhalten. Wie kommt es, fragt Parsons, dass Systeme über längere Zeit stabil bleiben? Seine Antwort ist, dass in jedem System vier Aufgaben erfüllt sein müssen. Diese sind im sogenannten AGIL- Schema beschrieben. Die Aufgaben sind Anpassung, Zielerreichung, Integration und Strukturerhaltung. Definition ˘ Jedes soziale Phänomen kann mit dem Zustand des sozialen Systems ständig rückgekoppelt werden. Jede Handlung lässt sich in Bezug auf ihren strukturellen Stellenwert im System und in Bezug auf ihren Beitrag für das System analysieren. Ein System ist eine (Teil-)Menge untereinander in Beziehung stehender Elemente, die als Einheit begriffen werden und von denen die übrigen Elemente als Systemumwelt abgegrenzt werden. Systemtheorie Systembegriff | 2.1.2 Definition ˘ Jedes soziale (Sub-)System muss vier Funktionen erfüllen, um sich zu erhalten: A: Adaptation (Anpassung) G: Goal Attainment (Zielerreichung) I: Integration L: Latent Pattern Maintenance (Strukturerhaltung) Im Einzelnen: AN PASSUNGSFUN KTION meint die Aufnahme und Bereitstellung von Ressourcen und Energien aus der Umwelt des Systems. ZI ELERREICHUNGSFUNKTION meint die Orientierung an Systemzielen. INTEGRATIONSFUNKTION bezieht sich auf die Koordinierung der einzelnen Systemelemente miteinander. STRUKTUR-/ NORMEN ERHALTUNGSFUNKTION bezeichnet die Sicherung der Systemstruktur. AGIL-Schema Wie erhalten sich soziale Systeme? UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 69 <?page no="69"?> 70 Es gibt verschiedene Arten von Systemen: den Verhaltensorganismus, das Persönlichkeitssystem, das soziale System und das kulturelle System. Diese sind nun wieder dem AGIL-Schema zugeordnet. Das Subsystem des Verhaltens- und Organismussystems ist im Prinzip für die Anpassung zuständig. Das Persönlichkeitssystem ist für die Zielverwirklichung, das soziale System für die Integration und das kulturelle System für die Normerhaltung zuständig. Jedes dieser Subsysteme hat in sich aber auch wieder ein AGIL-Schema. Die Prämisse dabei ist, dass alle sozialen Systeme das Ziel und die Aufgabe der Strukturerhaltung haben. Hauptfunktion Adaptation: Anpassung Mittelbeschaffung Goal Attainment: Zielerreichung, Steuerung Integration: Soziale Integration Latent pattern maintenance: Struktur und Werterhaltung Strukturkomponenten Rolle Soziale Gesamtheit Normen Werte Subsysteme Verhaltensmuster Persönlichkeitssystem Soziales System Kulturelles System Subsysteme der Subsysteme A: Motivation (ES) G: Ziele und Interessen (Ich) I: Werterhaltung, normative Orientierung (Über-Ich) L: Identität A: Wirtschaft, Markt, Geld G: Politisches Gemeinwesen, Recht, Organisation, Macht I: Gesellschaftliche Gemeinschaft, Solidarität, Verwandtschaft, Soziale Schichtung L: Normerhaltung, Wissenschaft, Religion Funktion der Subsysteme Aufnahme/ Bereitstellung von Ressourcen + Energien aus der Umwelt des Systems Teleologische Orientierung an den Systemzielen Koordinierung der einzelnen Systemelemente mit- und untereinander Aufrechterhaltung und Sicherung der Systemstruktur ˘ Beispiel für das Subsystem Integration UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 70 <?page no="70"?> 71 Forschungsfragen Bei der Bedeutung, die Parsons der Systemerhaltung beimisst, bleibt zunächst offen, wie Veränderung in die Welt kommt. Das ist ein Problem dieser Systemtheorie. Zunächst ist Parsons allerdings, bevor dieses Problem debattiert wird, mit seinen Arbeiten sehr erfolgreich. Mitte der 1950er Jahre wird in der US-amerikanischen Soziologie sogar die Ansicht vertreten, man brauche nicht mehr Soziologie zu sagen, es reiche, wenn man Systemtheorie sage. Dies ist insofern interessant, als wir es hier mit einem Entwicklungsschritt hin zu einer professionalisierten Soziologie zu tun haben. In den 1950er und 1960er Jahren gibt es unzählige Untersuchungen z.B. darüber, wie ein Krankenhaus funktioniert, wie das Arzt-Patienten- Verhältnis mit dem AGIL- Schema zu beschreiben ist, wie ein Industriebetrieb mit dem AGIL-Schema zu betreiben ist. D.h. die Soziologie wird erstmals eine Profession, bis dahin gab es keine Berufssoziologen. Es entstehen viele Lehrstühle für Soziologie, es gibt viele Soziologen, später auch Soziologinnen, die Soziologie tritt gewissermaßen ihren Siegeszug in den westlichen Gesellschaften an. Die Aufrechterhaltung des Systems ist bei Parsons mit den Jahren dann nicht mehr nur an dem System selbst orientiert, sondern auch an den allgemeinen Werten. Er unterstellt mit zunehmender Berühmtheit und auch mit zunehmender Durchsetzung seiner Theorie, dass z.B. das System der Marktwirtschaft der westlichen Industrienationen die richtige Art und Weise sei, wie sich dieses System erhalten müsse. Er geht mit den Jahren immer stärker davon aus, dass es übergeordnete, kulturelle Werte gibt, insbesondere in der L-Funktion, die über das kulturelle System vermittelt werden müssen, weil das kulturelle System dafür Sorge trägt, dass Menschen sich in das System der Normen fügen. Hier vermengt sich die soziologische Theorie mit der Überzeugung der amerikanischen Mittelklassegesellschaft der 1950er Jahre in Bezug auf das, was gut und richtig ist. Bedeutung für die deutsche Soziologie Für die Soziologie in der BRD wird die Systemtheorie aus zweierlei Gründen bedeutend: Zum einen, weil die Amerikaner nach Kriegsende eine größere Gruppe von soziologisch vorgebildeten oder ausgebildeten Offizieren im Rahmen von re-education-Programmen nach Westdeutschland schicken, insbesondere in die amerikanische | 2.1.3 | 2.1.4 Soziologie als Profession UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 71 <?page no="71"?> 72 Zone. So kommt Parsons’ Systemtheorie nach Deutschland, wo sie bis 1945 in der Soziologie keine Rolle spielte. Zum anderen ist der Rückgriff der Systemtheorie auf Max Weber bedeutend, der bis dahin in der deutschen Soziologie noch gar nicht richtig rezipiert wurde. Wir erinnern uns (siehe Kapitel 1.3): In den 1920er Jahren spielt Max Weber in der Soziologie in Deutschland eine eher untergeordnete Rolle. Die Systemtheorie wird in ausdifferenzierten Einzelheiten gelehrt. Es ist eine Theorie, die zum ersten Mal eine eigenständige Position nicht nur beansprucht, sondern auch durchsetzt, und dem Fach eine relative Autonomie verschafft. 150 Jahre nach Auguste Comte kann Soziologie erstmals an den Universitäten richtig gelernt werden. Das verdankt nicht nur die deutsche Soziologie Talcott Parsons. Seit den 1960er Jahren versucht die Systemtheorie, die Veränderungen der amerikanischen Gesellschaft in diese Überlegungen miteinzubeziehen. Parallel dazu entwickeln sich die handlungstheoretischen Ansätze (siehe Kapitel 2.3). Auch diese gehen bis in die 1930er Jahre zurück, aber erst Ende der 1960er Jahre, als selbst die Parsonianer zugeben müssen, dass man sich mit der Frage beschäftigen muss, wie es denn nun zu Veränderungen von Personen und von Gesellschaften kommt, wird diese Frage intensiver verfolgt. Die Systemtheorie, wie sie Parsons vertrat, ist heute in den Hintergrund getreten. Zwar gibt es Ansätze einer neo-strukturfunktionalen Systemtheorie, etwa durch den US-Amerikaner Jeffrey Alexander. In Deutschland hat der heute in Bamberg lehrende Soziologe Richard Münch den Ansatz von Parsons differenziert weiterentwickelt, dabei aber den Grundsatz, dass Systeme im Mittelpunkt soziologischer Theorie und Forschung stehen müssen, beibehalten. Die relative Bedeutungslosigkeit einer Systemtheorie, wie Parsons sie verstand, hat auch mit der Weiterentwicklung der Systemtheorie durch Niklas Luhmann zu tun, die dieser grundsätzlichen Richtung der Soziologie neue Impulse und neuen Inhalt gab. Niklas Luhmann (1927-1998) - Funktion tritt an die Stelle von Struktur Mitte der 1960er Jahre stand die Systemtheorie an vielen deutschen Universitäten im Mittelpunkt der Lehre im Fach Soziologie. So auch in Münster, neben Köln der für die Soziologie jener Zeit bedeutendste Standort. Zu Münster gehörte die große Sozialforschungs- Parsons' Einfluss in Deutschland nach 1945 2.1.5 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 72 <?page no="72"?> 73 stelle in Dortmund, an der der damalige Leiter Helmut Schelsky 1965 einem Juristen eine Abteilungsleiterstelle angeboten hatte. Es war Niklas Luhmann, der sich von dieser Stelle aus an die Spitze der deutschen Soziologie hinaufarbeitete. Niklas Luhmann, geboren 1927, hatte in Freiburg Rechtswissenschaft studiert, war Beamter im niedersächsischen Kultusministerium gewesen, bis ihm 1960/ 61 ein Stipendium ein Studium in Harvard und damit bei Talcott Parsons ermöglichte. Luhmann wurde Forschungsreferent am Forschungsinstitut der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Dort schrieb er »Funktionen und Folgen formaler Organisationen«. In diesem Buch entwickelte Luhmann erstmals ausführlich seine theoretische Grundlegung einer Systemtheorie, bei der die Funktion und nicht die Struktur im Mittelpunkt steht. Bei Parsons ist der Begriff der Struktur dem Begriff der Funktion vorgeordnet. Er hat deshalb eine strukturfunktionale Theorie entwickelt. Parsons’ Überlegung, wie sich ein soziales System erhält, mündet immer in die Frage des Bestandsproblems. Luhmann dagegen sagt, es kommt vielmehr darauf an zu untersuchen, wie die sozialen Systeme entstehen und wie sie entsprechende Funktionen ausbilden. Luhmann will genau wie Parsons einen universellen theoretischen Denkrahmen für soziologische Forschung entwickeln. Konkrete soziologische Fragestellungen sind sekundäre Anwendungsfelder für eine Theorie, die erklären will, nach welchen Funktionsprinzipien sich die Welt immer wieder neu organisiert. Sein Anspruch ist, dem »Theoriedesaster«, das die Soziologie als Folge der Einführung der empirischen Sozialforschung erlebt hat, einen Entwurf entgegenzusetzen, für den auf wissenschaftstheoretischer Ebene ein universeller Anspruch geltend gemacht werden kann. Ausgangspunkt ist dabei die Unterscheidung von System und Umwelt. Von der Struktur zur Funktion des Systems Universeller Anspruch Definition ˘ TALCOTT PARSONS prägte den Begriff des STRUKTURFUNKTIONALISMUS: Die Funktion dient dazu, den Bestand konkreter Sozialsysteme zu sichern. Ein System besteht aus einem Ganzen und seinen Teilen; es weist also bestimmte Strukturen auf. Gesellschaft besteht aus Wirtschaftssystem, Verwaltung, sozialem System etc. Der Systembegriff bei Parsons und Luhmann UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 73 <?page no="73"?> 74 Soziale Systeme entstehen durch sinnhaftes Handeln Die erste Grundannahme von Luhmann ist, dass soziale Systeme durch (sinnhaftes) Handeln entstehen. Dieses sinnhafte Handeln besteht aus Kommunikation. Der Hauptunterschied zwischen Luhmann und Parsons ist dabei folgender: Während es bei Parsons bereits eine soziale Struktur gibt, in der ein Austausch stattfindet, und zwar nach dem AGIL-Schema, geht Luhmann von der Grundüberlegung aus, dass soziale Systeme durch Handlungen der Menschen erst entstehen. Dies ist ein nicht-normativer Umgang mit sozialen Systemen. Bei Luhmann gehören alle Handlungen, die sinnhaft aufeinander verweisen, zu dem jeweiligen sozialen System. Soziale Systeme sind immer solche, die durch Kommunikation entstehen. Alle übrigen Handlungen, die keine Beziehungen zu dem jeweiligen Systemsinnzusammenhang unterhalten, gehören zur Umwelt. Das Hauptproblem, das in den ersten Jahren Luhmanns theoretisches Arbeiten bestimmt, ist die Frage, wie soziale Systeme mit Änderungen der komplexen Umweltbedingungen umgehen. Dies können die jeweiligen Systeme nur, indem sie Komplexität reduzieren. In einem sozialen System wird Komplexität reduziert Jedes System ist darauf ausgerichtet, eine Reduktion von Komplexität vorzunehmen. Dadurch, dass soziale Systeme Komplexität reduzieren, geben sie gleichzeitig den beteiligten Personen eine Orientierungshilfe an die Hand. Soziale Systeme bilden also Inseln Definition NI KLAS LUHMANN prägte den Begriff der FUN KTIONAL-STRUKTU R ELLEN SYSTEMTH EORI E Ein System entsteht erst in der Abgrenzung von seiner Umwelt durch die Wahrnehmung bestimmter Funktionen. Nicht die Struktur ist entscheidend, sondern das Verhältnis zwischen einzelnen Systemen und wie sie funktionieren. Parsons’ konstitutives Merkmal ist die Einheit, die durch Systemintegration entsteht. Luhmanns konstitutives Merkmal ist die Differenz, die dadurch entsteht, dass es in einer hochkomplexen Welt immer mehr Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten gibt, als aktualisiert werden können. Der Systembegriff bei Parsons und Luhmann Die Bedeutung von Kommunikation 2.1.6 | 2.1.7 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 74 <?page no="74"?> 75 geringerer Komplexität. Die Umwelt ist stets komplexer. Das ist die Hauptüberlegung. Nun stellt sich das Problem, dass sich die einzelnen sozialen Systeme auf Änderungen einstellen müssen. Dabei können durchaus unterschiedliche Funktionsänderungen vorgenommen werden. Luhmann nennt diesen Sachverhalt funktionale Äquivalenz. Komplexität und Funktion Komplexität ist also die Haupteigenschaft von Gesellschaften, Reduktion von Komplexität die Hauptaufgabe eines Systems. Komplexität wird durch funktionale Differenzierung strukturiert und verstärkt sich dadurch weiter. Luhmann untersucht, wie die funktionale Differenzierung im Verlauf der Moderne immer weiter fortschreitet, d.h. es gibt immer mehr Unterschiede zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Formationen, zwischen sozialen Gruppen. Das führt auch dazu, dass es immer mehr Subsysteme gibt, die wechselseitig dann wiederum voneinander abhängig sind. Je stärker sich also eine Gesellschaft als soziales System funktional ausdifferenziert, desto bedeutungsloser werden die Strukturen für die Erklärung gesellschaftlicher Zustände. Der Grad funktioneller Ausdifferenzierung ist das entscheidende Kriterium für gesellschaftlichen Fortschritt. Hier haben wir eine theoretische Kennzeichnung dessen, was gesellschaftliche Entwicklung ausmacht: Je differenzierter, je funktional ausdifferenzierter eine Gesellschaft ist, um so entwickelter ist sie. Man kann das auch gesellschaftlichen Fortschritt nennen, wenn man mit dem Begriff »Fortschritt« nicht eine lineare Bewegung verbindet. Nicht nur in der Umkehrung der Bedeutung der Begriffe Struktur und Funktion unterscheidet sich Luhmann von Parsons, auch seine Erklärung für gesellschaftliche Veränderungen, für die Entstehung der modernen Welt reicht weiter. | 2.1.8 Funktionale Differenzierung Definition ˘ 1. Merkmal: Moderne Gesellschaften sind übermäßig komplexe Gebilde durch Industrialisierung und Ausdifferenzierung von Wissenschaften. Komplexität ist die Haupteigenschaft von Gesellschaften als soziale Systeme; Reduktion von Komplexität ist ihre Hauptaufgabe. Komplexität und Funktion UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 75 <?page no="75"?> 76 Dieses theoretische Konzept hat Luhmann bis in die späten 1970er Jahre verfolgt und ausgearbeitet. Es gibt von ihm 1.800 Veröffentlichungen, davon sind ungefähr 1.200 aus der ersten Phase. Wenn Kommunikation das zentrale Medium ist zum Erkennen eines sozialen Systems, kann von der Liebe bis zur Umweltproblematik jedes Thema systemtheoretisch behandelt werden, denn es handelt sich dabei immer um Kommunikation, um Binnendifferenzierung, um Reduktion von Komplexität nach innen, um Erhalten der Funktionen in einem System. Autopoietische Systeme reproduzieren sich aus sich selbst Luhmann war auch sehr an interdisziplinären Forschungsergebnissen interessiert. Er befasste sich immer auch mit Fragen kybernetischer Systeme. Die Biologie hatte herausgefunden, dass es Organismen gibt, die sich aus sich selbst heraus weiterentwickeln, die also keine Umweltbedingungen, wie etwa einen Partner, brauchen. Diese Überlegung, dass lebende Zellen sich aus sich selbst reproduzieren, hat Luhmann in seine Systemtheorie übernommen. Er nennt diesen Vorgang »Autopoiesis«. Bei Systemen lassen sich psychische und soziale Strukturen unterscheiden. Luhmann stellt seine Systemtheorie noch einmal um. Er übernimmt das Modell des menschlichen Bewusstseins, das denkt und über das Gehirn mit Wahrnehmung versorgt wird und sich mit Hilfe dieser Wahrnehmung von außen ein neues Bild von der Definition 2. Merkmal: Komplexität wird durch funktionale Differenzierung strukturiert und verstärkt sich dadurch weiter. Funktionale Differenzierung meint die Spezialisierung von Subsystemen und deren wechselseitige funktionale Abhängigkeit: Je stärker sich eine Gesellschaft als soziales System funktional ausdifferenziert, desto bedeutungsloser werden die Strukturen für die Erklärung gesellschaftlicher Zustände. 3. Merkmal: Der Grad funktioneller Ausdifferenzierung ist das entscheidende Kriterium für gesellschaftlichen Fortschritt. Komplexität und Funktion Ein bedeutsamer Paradigmenwechsel 2.1.9 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 76 <?page no="76"?> 77 Welt schaffen kann, ohne dass es Kommunikation mit Dritten gibt. Die Unterscheidung psychischer und sozialer Systeme ist ganz wichtig. Psychische Systeme sind mit sozialen Systemen gekoppelt und über den Versuch, die psychischen Ereignisse über Selbstkommunikation in die Theorie hineinzubringen, kommt man zu einer anderen Erklärung sozialer Systeme. Zusammenfassung zu Luhmann Luhmann geht es um die Entwicklung einer Theorie, wie die Welt - für ihn identisch mit der Gesellschaft - funktioniert. Sein letztes großes Buch hat den Titel »Die Gesellschaft der Gesellschaft«. Dabei verhält er sich, wie er selbst sagt, wie jemand, der auf einer dritten Ebene beobachtet, d.h. er beobachtet einen Zweiten, der eine andere Person beobachtet. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die historisch zu beobachtende stetige Zunahme von Komplexität. Je »moderner« Gesellschaften sind, so seine These, umso komplexer sind sie. Die eigentliche Aufgabe sozialer Systeme sei die Reduktion dieser Komplexität. Definition ˘ Luhmanns eigener Paradigmenwechsel seit 1980: Systeme sind nicht mehr nur durch die System-Umwelt-Differenz gekennzeichnet, sondern können hauptsächlich durch Selbstreferenz oder Autopoiesis charakterisiert werden. Zentrale Annahmen: • Im Zuge funktionaler Differenzierung werden Selektionsprozesse, die zur Systembildung führen, immer anspruchsvoller. • Systeme werden tendenziell immer geschlossener, beziehen sich auf sich selbst und organisieren sich aus sich selbst heraus (Autopoiesis). • Soziale Systeme bestehen aus Kommunikation. • Kommunikation ist kein Mitteilungsakt, sondern die Art und Weise, wie sich das autopoietische System beschreibt und reproduziert. Kommunikation zwischen einzelnen Systemen ist prinzipiell nicht möglich. • Kommunikation als Akt der Selbstreferenz ist eine Syntheseleistung dreier Selektionen - Information, Mitteilung und Verstehen - und ist nicht an Sprache gebunden. Autopoiesis und Kommunikation | 2.1.10 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 77 <?page no="77"?> 78 Dies können aber nur selbstreferentielle Systeme leisten, das heißt Systeme, die über sich selbst nachdenken können. Menschen kommen in diesem Zusammenhang zunächst nur als psychische Systeme vor. Im zweiten Schritt werden sie dann konkret eingeführt, weil man nur so selbstreferentielle Systeme der Menschen behaupten kann. Es braucht immer zwei Systeme, das psychische und das soziale Ego eines Menschen, damit aus einer Situation etwas neues entwickelt werden kann - unter Umständen auch ausschließlich durch Nachdenken, ohne äußere Einflüsse oder Anlässe. Soziale Systeme entwickeln und verändern sich, indem sie aus der unendlichen Zahl der Möglichkeiten diejenigen auswählen und aktualisieren, die ihrer Selbstschöpfung und Selbsterhaltung dienen. Das geschieht auf der Basis von Beobachtung und Kommunikation. Gegen Luhmann sind mit verschiedenen Argumenten kritische Einwände erhoben worden. Diese lassen sich grob in zwei Gruppen unterteilen. Die eine Gruppe umfasst diejenigen, die andere Grundpositionen als Luhmann vertreten. Die Handlungstheorien (siehe Kapitel 2.3) gehen anders als jede Systemtheorie davon aus, dass das Individuum der Konstruktionskern jeder Gesellschaftstheorie ist. Auch wer wie Norbert Elias soziale Prozesse und Figurationen oder wie Pierre Bourdieu Habitus und sozialer Raum (siehe Kapitel 2.5) als zentral für die Soziologie betrachtet, kann mit Strukturen und Funktionen wenig anfangen. Bei den Anhängern Luhmanns stößt dies auf Unverständnis, eine Haltung, die sich vor allem nach dem Tod Luhmanns am 6.11.1998 verfestigt hat. Luhmann selbst hatte immer sehr darauf geachtet, keine ideologisierende Position einzunehmen, sondern auf den intellektuellen Diskurs gesetzt. Die zweite Art der Kritik richtet sich dagegen, dass es in Luhmanns Systemtheorie, weder in der ersten noch in der zweiten Phase, kein übergeordnetes Wertesystem gibt, wie etwa Aufklärung und Emanzipation, beides zumindest seit Karl Marx, aber eigentlich auch schon bei Auguste Comte (siehe Kapitel 1.1) wichtige Bestandteile der Soziologie. Immer ging es den Soziologen auch darum, den Menschen zu helfen, sie über die Risiken der Moderne aufzuklären, und ihnen dann zumindest Möglichkeiten für Wege der Befreiung aus Klassenstrukturen (Marx) oder aus dem stahlharten Gehäuse der Moderne (Max Weber) aufzuzeigen. Gegen diesen Mangel, wie es Kritiker aus dieser Argumentationstradition verstanden, erhob vor allem Jürgen Habermas entschiedenen Widerspruch. Er stellt neben das System die Lebenswelt der Men- Selbstreferentielle Systeme Kritische Einwände UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 78 <?page no="78"?> 79 schen. Damit wird nicht nur die Frage der Werte wieder aufgenommen, sondern auch Luhmanns These, dass der Mensch nicht im Zentrum einer soziologischen Theorie der Gesellschaft stehe, sondern zur Umwelt gehöre, kritisch entgegengetreten. Um diese Kritik darstellen zu können, ist es zunächst notwendig, die theoretische Herkunft von Jürgen Habermas, die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, darzustellen, was im nächsten Kapitel geschieht. Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule Handlungstheorie und Systemtheorie sind auf die Definition, die Max Weber für die Soziologie gefunden hatte: »Soziologie soll heißen …« (siehe Kapitel 1.3) zumindest im Grundansatz zurückzuführen. Neben den beiden Theorierichtungen, die gelegentlich auch Lernkontrollfragen Was ist das AGIL-Schema und welche Bedeutung hat es für die Erklärung von gesellschaftlichen Systemen? Erklären Sie den Unterschied zwischen Parsons’ Strukturfunktionalismus und Luhmanns funktional-struktureller Systemtheorie. Was ist Reduktion von Komplexität? Was bedeutet Autopoiesis bzw. welche Konsequenzen hat der Wechsel vom Konzept offener Systeme zu geschlossenen Systemen für die Beschreibung von Gesellschaft aus der Sicht Luhmanns? 1 2 3 4 Infoteil In den Bibliotheken der soziologischen Institute und den Universitätsbibliotheken finden sich die meisten Bücher von Parsons auf Englisch, was bis in die 1970er Jahre die Regel war. Erst danach wurden einige zentrale Werke von Parsons ins Deutsche übersetzt, darunter Das System moderner Gesellschaften, Weinheim, München: Juventa Verlag, 2009 (7. Aufl.). Von Richard Münch ist ebenfalls eine Theorie sozialer Systeme, Opladen 1976, erschienen. Viele Bücher von Niklas Luhmann sind als Taschenbücher erschienen. Für Anfänger sind die Texte etwas schwierig zu lesen, da Luhmann sich der theoretischen Reflexion verpflichtet fühlte; didaktische Überlegungen waren ihm eher nebensächlich. Es gibt aber mehrere Einführungen. Für das Grundstudium gut geeignet ist: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme von Georg Kneer und Armin Nassehi, Paderborn: W. Fink Verlag, 2000 (4., unveränd. Aufl.), aber auch Margot Berghaus, Luhmann leicht gemacht, Köln, Weimar: Böhlau Verlag, 2011 (3., überarb. und erg. Aufl.). | 2.2 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 79 <?page no="79"?> 80 als Mikrotheorie bzw. Makrotheorie bezeichnet werden, gibt es noch eine weitere Richtung, die als »Kritische Theorie« bezeichnet wird, gelegentlich mit dem Zusatz der Frankfurter Schule. Dies ist ein Ansatz, der in den 1920er Jahren mit der Absicht entstand, marxistische Studien doch noch möglich zu machen. Denn nach dem 1. Weltkrieg, der gescheiterten Revolution in Deutschland und der Oktoberrevolution in Russland war die Lehre von Karl Marx in den bürgerlich-wissenschaftlichen Kreisen erst recht verpönt. In der Soziologie setzte sich die Sichtweise durch, die schon Ferdinand Tönnies und Georg Simmel, aber insbesondere Max Weber in Hinblick auf die Lehre von Marx entwickelt hatten. Es entstanden auch neue Versuche, z.B. eine relativ abstrakte Beziehungslehre des in Köln lehrenden Soziologen Leopold von Wiese. Es gab eine spezielle Entwicklung, welche die Entstehung spezifischer Methoden empirischer Sozialforschung betraf, wie sie etwa von Theodor Geiger in Braunschweig genutzt und weiterentwickelt, aber auch von Andreas Walter in Hamburg missbraucht wurden (siehe Kapitel 3.3). Der Horkheimer-Kreis und die Gründung des Instituts für Sozialforschung Die Abneigung der etablierten Soziologie gegen marxistische Studien wurde nicht von allen Studierenden geteilt. In der jüngeren Generation gab es durchaus ein entsprechendes Interesse. So entstand aus einer sich spontan bildenden Studentengruppe, die sich 1922 das erste Mal traf, um ihr Interesse an marxistischen Studien zum Ausdruck zu bringen, zunächst der Horkheimer-Kreis, und dann ab 1923 die Stiftung des Instituts für Sozialforschung, das 1924 offiziell an der Frankfurter Universität gegründet wurde. Dieses Institut hatte zur Aufgabe, marxistische Studien zu betreiben, was im Bürgertum Frankfurts nicht ohne Widerspruch blieb. Andererseits stammten die Betreiber dieser Idee fast alle aus wohlhabenden großbürgerlichen Familien, so dass dieses Institut zunächst mehr als Spleen angesehen wurde und durchaus einige gesellschaftliche Anerkennung fand. Die zentrale Frage, welche die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung Mitte der 1920er Jahre beschäftigte, war vor allem das Problem, warum die Arbeiterschaft nicht in der Lage war, sich gegen die Ausbeutung durch das Kapital zu wehren. Hierzu wurden Zurück zu Marx 2.2.1 | Im Mittelpunkt: die Lage der Arbeiterschaft UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 80 <?page no="80"?> 81 eine Reihe von an Marx orientierten Studien erarbeitet, die dann aber in den Hintergrund traten, als 1930 Max Horkheimer (1895- 1973) Direktor des Instituts für Sozialforschung wurde. Horkheimer orientierte sich stärker an einer sozialphilosophischen Sichtweise und betonte insbesondere die Notwendigkeit interdisziplinärer Projekte, um die Rolle der Arbeiterschaft und der Arbeiterklasse zu untersuchen und über die Zukunft der Gesellschaft nachzudenken. Das Wort »Klasse« vermied Horkheimer zum damaligen Zeitpunkt. Das änderte sich erst im Exil. Exil Die Mitglieder des Instituts für Sozialforschung sowie andere linke und jüdische Sozialwissenschaftler, die in Frankfurt und anderswo lehrten und arbeiteten, mussten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 ins Ausland flüchten. Das Institut für Sozialforschung wurde geschlossen und von der SA besetzt. Vier Wochen später existierte es nicht mehr. Allerdings hatten die Mitglieder des Instituts in weiser Voraussicht einen Teil ihres Kapitals schon vorher ins Ausland transferiert. Das Institut übersiedelte zunächst nach Genf, und ab 1934 ging der größere Teil seiner Mitglieder nach New York, wo sie an der New York University die »New School for Social Research« gründeten. Dieses renommierte Forschungs- und Lehrinstitut gibt es auch heute noch, und es ist nach wie vor ein Ort der Kritischen Theorie. Die »New School« war im übrigen nicht nur ein Refugium für Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, sondern auch das einzige große Forschungsinstitut in den USA, das sich in den 1940er und 1950er Jahren nicht der Systemtheorie (Kapitel 2.1) verschrieben hatte. Das Schicksal des Exils betraf zwar hauptsächlich Juden, aber auch viele andere, die dem Nationalsozialismus kritisch gegenüberstanden. In der Bundesrepublik wurde vor allem in den 1950/ 60er Jahren in diesem Zusammenhang gerne von Emigration gesprochen. Wir wissen von Exilanten, dass sie das Wort Emigration nicht angemessen finden, weil es eine Art von Freiwilligkeit und Gemütlichkeit beinhaltet. Norbert Elias (siehe Kapitel 2.5) musste z.B. im Widerspruch zu dieser Implikation innerhalb eines Tages Deutschland verlassen. Er hatte eine Reiseschreibmaschine und eine kleine Reisetasche dabei und hat Deutschland erst nach 27 Jahren wiedergesehen. | 2.2.2 Ein Refugium in New York: New School of Social Research UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 81 <?page no="81"?> 82 Hauptmerkmale der Kritischen Theorie In New York erschien weiterhin die Zeitschrift für Sozialforschung, in den Frankfurter Jahren das Publikationsorgan des Instituts. In dieser Zeitschrift veröffentlichte Max Horkheimer 1937 den Aufsatz »Von der traditionellen zur kritischen Theorie«, eine für die weitere Entwicklung der Soziologie wichtige Schrift. Für Horkheimer ist die traditionelle Theorie mit den Namen von Tönnies und Weber, Simmel und Durkheim und all den anderen verbunden, die seiner Meinung nach versuchen, eine Wissenschaft von der Gesellschaft zu betreiben, welche selbst nicht Teil der Gesellschaft ist. Was diese traditionellen Theoretiker seiner Meinung nach tun, ist der erfolglose Versuch, wissenschaftliche Aussagen von der Wirklichkeit zu trennen. Das macht er an einzelnen Beispielen deutlich und stellt die Gegenthese auf, dass, was Soziologen und Soziologinnen auch unternehmen, ihre wissenschaftlichen Aussagen immer auch gesellschaftliche Tatsachen sind. Diese Überlegung geht über die allgemeine wissenssoziologische Überlegung, dass Soziologen zur Gesellschaft und damit zu ihrem eigenen Untersuchungsgegenstand gehören, weit hinaus. Theorie, das ist die eigentliche Schlussfolgerung aus dieser These, ist immer auch eine Form von gesellschaftlicher Praxis. Die Vereinigung von Theorie und Praxis muss deshalb in der Gesellschaftsanalyse mit inbegriffen sein, weil auch der Wissenschaftler selbst Ziele und Vorstellungen hat. Horkheimer bestreitet also, dass es im Sinne von Max Weber so etwas wie Wertfreiheit wissenschaftlicher Aussagen gibt. Seiner Meinung nach haben wissenschaftliche Aussagen immer das Ziel, zu sagen, wie die Gesellschaft sein soll, und insofern verändert wissenschaftliche Praxis als gesellschaftliche Praxis auch immer die Gesellschaft. Wenn der Zusammenhang von Theorie und Praxis wie oben beschrieben wird, dann stellt sich allerdings die Frage, auf welchen Grundlagen Gesellschaftsanalyse erfolgen darf bzw. erfolgen muss. Horkheimer schließt sich hier Marx an, wenn er sagt, es komme darauf an, die Dialektik der Geschichte zu verstehen, die Dialektik der Geschichte in der Entwicklung der verschiedenen Gesellschaftsformationen. Der Kapitalismus ist eben nicht ohne die Entstehung aus dem Feudalismus zu verstehen, und der Kapitalismus hat in sich selbst ebenfalls dialektische Verhältnisse, nämlich die zwischen Arbeit und Kapital. Diese Dialektik muss immer in die Unter- 2.2.3 | Zeitschrift für Sozialforschung Wissenschaft als gesellschaftliche Praxis UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 82 <?page no="82"?> 83 suchungen mit einbezogen sein. Wenn es so ist, dass jede gesellschaftliche Aussage auch etwas mit der Zukunft zu tun hat, dann muss diese Aussage auch verbunden sein mit der bisherigen Entwicklung, die zu dem gegenwärtigen Zustand geführt hat. Horkheimer besteht also auf der Geschichtsinterpretation von Karl Marx und bezieht selbst eindeutig und positiv Stellung zum Marxismus. Bei seiner Antrittsrede als Direktor des Instituts für Sozialforschung im Jahre 1931 hatte er aus Rücksichtnahme auf die Universität, auf das Bürgertum in Frankfurt, auf Geldgeber und Sponsoren die Frage der Klassenanalyse bzw. des Klassenbewusstseins etwas im Hintergrund gehalten. Jetzt, nach einigen Jahren im Exil, unter dem Eindruck des NS-Terrors änderte sich das radikal. Die Totalität der historischen Bewegung Bei der Beurteilung der jeweils aktuellen Situation und bei der Überlegung einer möglichen zukünftigen guten Entwicklung besteht das Problem, dass die Standards der Bewertung selbst wieder historisch vermittelt sind. Das Gefüge von Klassen und Gruppen bestimmt die Werte, nach denen entschieden wird. Auch dies muss untersucht werden. Deshalb ist Horkheimer der Ansicht, dass es gilt, die historische Totalität der jeweiligen Situation zu erfassen. Es komme nicht so sehr darauf an, Einzelphänomene zu untersuchen, wie es die traditionelle Soziologie tue, sondern die Aufgabe der Sozialwissenschaftler, die einer kritischen Theorie verpflichtet seien, bestehe darin, den Gesamtzusammenhang zu erkennen - die Totalität der gesellschaftlichen Entwicklung. Dies bedeutet, aus den Bewegungsgesetzen der Gesellschaft heraus muss erkannt werden, was die bisherige Vernunft der Entwicklung war, ob das tatsächlich vernünftig war und ist und ob es nicht geändert werden sollte. Mit der These, dass es darauf ankomme, das sich entfaltende Bild des Ganzen, das in die Geschichte einbezogene Existentialurteil zu erkennen, wird allen Einzelwissenschaften und einem am naturwissenschaftlichen Denken orientierten Positivismus eine Absage erteilt. Ziel der Veränderung ist eine Gesellschaft, in der - um die Marxsche Formel zu gebrauchen - die Menschen ihre Geschichte selbst machen. Bei Horkheimer ist von der Assoziation freier Menschen die Rede, in der jeder die gleiche Möglichkeit hat, sich frei zu entfalten. Das sei nicht irgendeine Idee, sondern ergebe sich aus dem bereits erreichten Stand der Produktivkräfte, und es kom- Zentral: die Geschichtsinterpretation des Marxismus | 2.2.4 Menschen sollen ihre Geschiche selbst machen UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 83 <?page no="83"?> 84 me nur darauf an, gemeinsam mit der klassenbewussten Arbeiterschaft die Transformation des gesellschaftlichen Ganzen zu betreiben. Was sich schon in Frankfurt angedeutet hatte, nahm nun, nicht zuletzt unter den Erfahrungen des deutschen Faschismus und der Situation im Exil, schärfere Züge an. Die historisch-materialistische Geschichtsauffassung, welche ihren Kern aus der Lehre von Karl Marx nimmt, stellt einen deutlichen Trennungsstrich zur gesamten Soziologie seit Marx dar und verwirft die verschiedenen Versuche, Soziologie als relativ autonome Einzeldisziplin im Wissenschaftsbetrieb zu etablieren. Unterschiede zu Marx Es gibt eine wichtige Unterscheidung zu Marx, insbesondere im Verhältnis von Basis und Überbau. Anders als Marx, der das Bewusstsein vom Sein bestimmt sah und ausschließlich darüber nachdachte, wie die Arbeiter in den Besitz der Produktionsmittel kommen können, um dadurch den Überbau zu bestimmen, geht die Kritische Theorie davon aus, dass es eine Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau gibt. Es ist deshalb notwendig, die Kultur einer Gesellschaft zu untersuchen, um herauszufinden, wie von dort aus die gesellschaftlichen Verhältnisse mitbestimmt bzw. aufrechterhalten werden und wie sie unter Umständen von dorther auch reformiert werden können. Die gesamte Kultur ist in die geschichtliche Dynamik einbezogen. Gewohnheiten, Sitten, Wissen, Kunst, Religion, Philosophie bilden in ihrer Verflechtung jeweils dynamische Faktoren bei der Aufrechterhaltung oder Auflösung einer bestimmten Gesellschaftsformation. Es darf nicht nur die Basis betrachtet werden, sondern auch die Überbauphänomene müssen erkannt werden, damit sie unter Umständen verändert werden können, um dadurch auch die Basis zu beeinflussen. Definition ˘ 1. Wissenschaftliche Aussagen sind (auch) gesellschaftliche Tatsachen. 2. Vereinigung von Theorie und Praxis. 3. Historische Analyse ist Grundlage der kritischen Bewertung. 4. Totalität der historischen Bewegung. Merkmale der Kritischen Theorie 2.2.5 | Eine andere Auffassung zum Verhältnis von Basis und Überbau UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 84 <?page no="84"?> 85 Von den anderen damaligen Wissenschaften wurde deshalb die Psychoanalyse gewissermaßen als Hilfswissenschaft akzeptiert. Sie war der Schlüssel zur Bearbeitung der Überbauphänomene. Sie ist auch einer der Schlüssel für die Erklärung der nicht zu leugnenden schnellen Anpassung der deutschen Arbeiterschaft an das nationalsozialistische Herrschaftssystem. Hier drängte sich eine Verbindung von sozioökonomischen Strukturen und sozialpsychologischen Dispositionen geradezu auf. Die Bedeutung der Psychoanalyse wird vor allem in den »Studien über Autorität und Familie« deutlich. Autorität und Familie Die vielfältigen Forschungen des Instituts wurden in dem umfangreichen Band »Studien über Autorität und Familie« zusammengefasst, der 1936 im Exil in Paris erschien. Wesentliche Bestandteile dieses großangelegten Projektes waren primär- und sekundärstatistische Erhebungen (zu den verschiedenen Ansätzen empirischer Sozialforschung siehe Kapitel 3.3). Den Forschungsberichten waren Grundsatzartikel vorangestellt, die Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Erich Fromm schrieben, dazu gab es eine Reihe von Enquêten und Literaturberichten. In dem Aufsatz von Horkheimer geht es vor allem darum, welche Rolle ein System kultureller Institutionen spielt, wie diese dafür sorgen, dass bestimmte Zusammenhänge sich in der Gesellschaft wiederholen und reproduzieren, sodass die kapitalistische Produktionsweise erhalten bleibt. Hier wird das im Vergleich zu Marx anders eingeschätzte Verhältnis von Basis und Überbau aufgegriffen. Es wird untersucht, wie es in hochkomplexen Industriegesellschaften gelingt, die Herrschaft von Menschen über Menschen so zu organisieren, dass die Strukturen des Kapitalismus er- Definition ˘ MARX KRITISCH E TH EORI E Überbau Überbau Basis Basis Verhältnis Basis - Überbau Y Y Y Y | 2.2.6 Die Familie reproduziert kapitalistische Herrschaft UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 85 <?page no="85"?> 86 halten bleiben. Horkheimer geht dabei durchaus davon aus, dass es immer Herrschaft von Menschen über Menschen gegeben hat und dass auch zukünftige Gesellschaften nicht ganz ohne Herrschaft von Menschen über Menschen auskommen werden. Herrschaft ist mit Autorität verbunden. Diese sorgt dafür, dass Herrschaft Gehorsam findet. Horkheimer zeigt nun auf, dass es einen Zusammenhang zwischen Institutionen, kulturellen Faktoren und den Verhaltensorientierungen gibt, die man auch in psychoanalytischen Kategorien beschreiben kann. Diesen Zusammenhang erkennt er über den zentralen Begriff der Autorität. Autorität ist ambivalent. Sie sagt als solche noch nichts darüber aus, welche Wirkungen erzielt werden. Autorität kann also positiv sein, wenn sie im Sinne der Bewegungsgesetze der Geschichte vernünftig eingesetzt wird - z.B. für Aufklärung der Arbeiterklasse über ihre Situation - und zur Emanzipation der Menschen beiträgt. So kann es sich einerseits um eine fortschrittliche Abhängigkeit von bestimmten Zielen handeln. Autorität kann aber auch dazu benutzt werden, überholte, überkommene, unwahr gewordene Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Das ist das Problem der Entfremdung innerhalb des Kapitalismus. In diesem sind für Horkheimer Verhältnisse eingetreten, in denen die Autorität dazu genutzt wird, bestimmte Situationen aufrechtzuerhalten, um den Prozess der Entfremdung der Menschen von der Arbeit, von den Arbeitskollegen und von sich selbst zu verstärken. Im Kapitalismus herrscht deshalb eine vollständige Anpassung an die verdinglichte Autorität der Ökonomie. Das ist das, was Horkheimer ein Existentialurteil nennt. Es beschreibt eine Gesamtsituation und bringt sie auf einen bestimmten Begriff. Dahinter verbirgt sich die Überlegung, dass in der Fabrik selbst, in den technischen Abläufen, in der Notwendigkeit, die produzierten Dinge auch zu verkaufen, der Arbeiter die Autorität der wirtschaftlichen Tatsachen anerkennen muss und, indem er das tut, faktisch die Machtstellung des Unternehmers anerkennt. Erziehung in der Familie ist klassenspezifisch und herrschaftsstabilisierend Es ist nicht alleine die Autorität des Unternehmers, welche die Unterwerfung der Arbeiter hervorruft. Die Akzeptanz dessen, was Horkheimer die »Autorität der wirtschaftlichen Tatsachen« nennt, wird in der Familie begründet, entwickelt und verfestigt. Autorität ist ambivalent Existentialurteil 2.2.7 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 86 <?page no="86"?> 87 Der Vater hat eine scheinbare »natürliche« Macht, denn er ist derjenige, der das Geld verdient und sich dafür außerhalb der Familie der verdinglichten Autorität der Ökonomie unterworfen hat. Er ist innerhalb der Familie in doppelter Hinsicht stark: sowohl ökonomisch als auch rechtlich. Denn das Familienrecht hatte im BGB vom 1.1.1900 festgeschrieben, dass der Mann alleine in der Familie über Geldausgaben entscheiden darf. Diese doppelte Wurzel der Autorität - ökonomische Stärke von außen und rechtlich, psychische Stärke nach innen - bildeten in der Erziehung eine ausgezeichnete Schule für das Leben in einer kapitalistischen Gesellschaft. Die Familie ist die Re-Produzentin von bestimmten autoritären Charaktertypen und hat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft die unentbehrliche Aufgabe, Herrschaft zu stabilisieren. Horkheimer nimmt dann die auch in der sonstigen Literatur beschriebenen Veränderungen in den Familienformen und im Familienleben auf, also das, was in der Familiensoziologie allgemein als Funktionswandel der modernen Kleinfamilie beschrieben wird. Je kleiner die Familien werden, umso eher kann auf das Glück des Einzelnen eingegangen werden, Emotionalität und Intimität in der Familie erfahren und gelebt werden. Dadurch entsteht aber ein Gegensatz zwischen der Innerlichkeit, der emotionalen Orientierung der Familienmitglieder zueinander, und der notwendigen bürgerlichen Autorität in Hinblick auf die ökonomischen Verhältnisse. Da Emotionalität und Intimität die ökonomische Autorität untergraben können, muss der Staat der Familie bei der Reproduktion der notwendigen Strukturen und der notwendigen Unterordnung »helfen«. Die Folge ist, dass der Staat eingreift, indem er bestimmte Auflagen macht, unter denen Kinder in Familien erzogen werden müssen, z.B. die Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Die Volksschulpflicht in Preußen wurde, das sei nur am Rande angemerkt, deshalb eingeführt, weil das preußische Militär den Bildungsgrad verbessern und die frühe körperliche Ausbeutung der Kinder in den Fabriken verhindern wollte. Sozialisation in Arbeiterfamilien erzeugt massenhaft Ohnmachtsgefühle Es gibt also bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, die für entsprechende Entwicklungen verantwortlich gemacht werden können. Horkheimers These, Erziehung in der Familie sei klassenspe- Die Innerlichkeit der Mutter Die Autorität des Vaters | 2.2.8 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 87 <?page no="87"?> 88 zifisch und herrschaftserhaltend, wird in der Studie einen Schritt weitergeführt, denn diese These erklärt nicht, warum sich die Arbeiterklasse so ohnmächtig dem Nationalsozialismus auslieferte. Hier tritt die »sozialpsychologische«, stark psychoanalytisch orientierte Untersuchung von Erich Fromm hinzu. Er zeigt, dass diejenigen, die Autorität haben, nämlich die arbeitenden Väter, immer Angst um ihre Arbeitsplätze haben, ihre Autorität ist folglich ständig bedroht. Fromm argumentiert, dass sich Autorität auf Angst begründet. In der Familie hat man Angst vor dem Verlust der Zuneigung der Eltern, in der Fabrik hat der Vater Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Da sich die unteren Schichten mangels entsprechender Mittel kaum von der Angst befreien können, ist es unwahrscheinlich, dass sie Selbstvertrauen und Ich- Stärke entwickeln. So wird die Sozialisation in den Arbeiterfamilien zu einer Rekonstruktion der ohnmächtigen Hilflosigkeit der Arbeiterklasse im Kapitalismus, in dem es einer kleinen Schicht von Kapitalisten gelingt, anonym massenhaft Ohnmachtsgefühle zu erzeugen. In den Arbeiterfamilien werden diese Ohnmachtsgefühle erzeugt, während im Gegensatz dazu bei den Kapitalisten in einer entsprechenden Erziehung Machtgefühle vermittelt werden. Die Söhne des Großgrundbesitzers und des Fabrikherrn lernen in der Regel, dass sie Autorität über andere haben. Sie lernen, dass sie vielleicht Angst haben müssen, ihr Geld zu verlieren, dass sie auch Autoritätsprobleme bekommen können, dass sie dabei aber nicht ohnmächtig sind. Dagegen führt die Sozialisation in den Arbeiterfamilien dazu, Ohnmachtsgefühle zu erzeugen, die sich dann auch in Ohnmacht gegenüber politischen Verhältnissen zeigen. Autorität in der Familie und die Wurzeln des Faschismus Die Ohnmacht der Arbeiterschaft Definition ˘ 1. Autorität ist ambivalent. 2. Entfremdung ist die allgemeine Bedingung der gesellschaftlichen Existenz im Kapitalismus. 3. Erziehung in der Familie ist klassen- und schichtspezifisch und daher herrschaftsstabilisierend. 4. Sozialisation in Arbeiterfamilien erzeugt massenhaft Ohnmachtsgefühle. Studien über Autorität und Familie UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 88 <?page no="88"?> 89 Die Studien über Autorität und Familie hatten große Auswirkungen, insbesondere für die Studentenbewegung. Dabei spielten zwei Bücher von Herbert Marcuse eine wichtige Rolle. In ihnen wurden die marxistischen Ansätze mit psychoanalytischen kombiniert. Triebstruktur und Gesellschaft Marcuse erklärt den Zusammenhang von kapitalistischen Produktionsmethoden und den Ausformungen des alltäglichen Lebens, z.B. in seinem Buch »Der eindimensionale Mensch« oder in dem anderen vielgelesenen Buch der damaligen Jahre »Triebstruktur und Gesellschaft«. In ihnen beschreibt er die Durchdringung, wie er es verstand, die Korrumpierung der Arbeiterschaft durch den ihr zugeteilten Wohlstand und zog daraus den Schluss, dass die Arbeiterschaft als revolutionäre Klasse ungeeignet, für immer verloren sei. Hoffnung auf Besserung in der Gesellschaft könne nur noch von »freischwebenden« Kräften kommen, den Studenten und Intellektuellen oder anderen Außenseitern wie Slumbewohnern, Arbeitslosen, Obdachlosen. Nur solche Gruppen seien Hoffnungsträger gesellschaftlicher Entwicklung. Dies hatte erheblichen Einfluss auf die studentischen Aktionsgruppen in den 1960er Jahren, und das große Interesse der Studierenden an den ersten entstehenden Bürgerinitiativen vor allem in den Slum- und Sanierungsgebieten hatte hier eine seiner Wurzeln. Studentenbewegung Dies ist der Hintergrund für das in der Öffentlichkeit immer wiederholte Argument, die Kritische Theorie der Frankfurter Schule habe der Studentenbewegung das Material geliefert. Richtig ist dabei, dass Herbert Marcuse, anders als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, sich auch in der Öffentlichkeit sehr dezidiert geäußert hat. Anders als diese beiden war Marcuse aber in den USA geblieben, Horkheimer und Adorno kehrten Anfang der 1950er Jahre nach Westdeutschland zurück. Sie waren bereits seit Anfang der 1940er Jahre voller Pessimismus über das Schicksal der Menschen und deren Welt, nicht zuletzt auch über die Rolle der Intellektuellen dabei. Aus Max Webers stahlhartem Gehäuse der Moderne war mit dem Holocaust eine »Wirklichkeit als Hölle« geworden. Im Übrigen gerieten sie, als sie Anfang der 1950er nach Deutschland kamen, in | 2.2.9 Außenseiter als Hoffnungsträger | 2.2.10 Geprägt vom Holocaust UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 89 <?page no="89"?> 90 eine streng antikommunistisch denkende Gesellschaft. Deshalb waren sie sehr vorsichtig und behielten die marxistischen Wurzeln ihres Denkens im Hintergrund. Trotzdem waren sie vor allem in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren die Mentoren einer akademischen Linken, die zum Kern der Bewegung wurde, die in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die Phase der Restauration in der BRD beendete. Horkheimer und Adorno werden in der Öffentlichkeit immer wieder als »Väter der Studentenbewegung« bezeichnet. Das ist nur zum Teil zutreffend. Richtig ist, dass ihr Einfluss in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren unter kritischen Intellektuellen allgemein recht groß war, denn sie waren eigentlich die einzigen renommierten Wissenschaftler, die den Fortschrittsglauben der westlichen Wohlfahrtsstaaten hinterfragten. Die Vorstellung, das sei die beste aller Welten, konfrontierten sie mit der Frage, ob eine Welt, die den Holocaust hervorbracht hatte, nicht doch noch verbesserungswürdig sei. Die kritischen frühen Schriften Horkheimers und auch die »Dialektik der Aufklärung« mussten die Studenten jener Jahre sich freilich als Raubdrucke oder private Kopien besorgen. Strukturwandel der Öffentlichkeit: Jürgen Habermas Die Arbeit dieser kritischen Intellektuellen ist dann bis heute von Jürgen Habermas (geb. 1929) fortgeführt worden. Habermas’ erste Arbeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung hatte den Titel »Strukturwandel der Öffentlichkeit«. Mit ihr habilitierte er sich in Marburg bei Wolfgang Abendroth, da Horkheimer die Arbeit nicht als Habilitationsschrift akzeptierte. In der Studie untersucht Habermas mit vielen historischen Beispielen und Fakten, was sich in der Geschichte der westeuropäischen Staaten seit dem 18. Jahrhundert verändert hat. Er wählt als Ausgangspunkt die bürgerliche Öffentlichkeit. Diese entsteht im späten 18. Jahrhundert, als mit dem langsamen Niedergang und dem schließlichen Ende des Feudalismus Staat und Gesellschaft nicht länger identisch sind, sondern zwei verschiedene Sphären darstellen. Erst mit dem Abbau des Absolutismus kann das Individuum in der Öffentlichkeit auftreten und am Prozess der Ausbildung einer öffentlichen Meinung teilnehmen. Denn Habermas versteht unter dem Begriff »Öffentlichkeit« den Bereich des gesellschaftlichen Lebens, in dem sich die zum Publikum gewordenen Bürger versam- Die Kritische Theorie und die 68er 2.2.11 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 90 <?page no="90"?> 91 meln. Öffentlichkeit war das Medium, mit dem eine bestimmte Gruppe, das Bürgertum, dem Staat seine Interessen vermittelte. Mit dem Aufstieg der Arbeiterschaft, d.h. mit dem Auftreten weiterer Gruppen, die um gleiche Chancen wie das Bürgertum kämpften, musste die Bedeutung der bürgerlichen Öffentlichkeit als eine politische Kraft abnehmen. Habermas beschreibt in diesem Buch den Zerfall der bürgerlichen Öffentlichkeit und plädiert bereits hier für den normativen Anspruch einer kommunikativen Rationalität. Er setzt voraus, dass die Vernunftbezogenheit aller Diskussion der einzige Weg ist, an dem Anspruch der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule festzuhalten und dabei gleichzeitig die verschiedenen theoretischen und historischen Entwicklungen in einer Theorie zu vereinen. Lebenswelt und herrschaftsfreier Diskurs Im weiteren Verlauf seiner Arbeiten bezieht Habermas immer stärker den Einzelnen, das Subjekt in seine Analysen mit ein, rückt es in den Vordergrund und untersucht jetzt insbesondere, wie das Subjekt sich von ungewollten Herrschaftszwängen befreien kann bzw. wie das Entstehen, das Sich-Fortsetzen, das Sich-Verstärken dieser Zwänge verhindert werden kann. Für ihn ist dies nur möglich, wenn die Kommunikation zwischen den jeweils handelnden Menschen untersucht wird. Deswegen beginnt die Darstellung der theoretischen Ableitung in der »Theorie des kommunikativen Handelns« auch mit Max Weber. Habermas verbindet dieses soziale Handeln mit einer Utopie, nämlich mit dem herrschaftsfreien Diskurs. Das Ziel der Emanzipation von ungewollten, unnötigen Herrschaftszwängen kann das Subjekt nur in der Form eines herrschaftsfreien Diskurses erreichen. Dieses Ziel ist der Mittelpunkt des demokratischen Prozesses, in dem alle Beteiligten ihre Interessen einbringen können. Das ist eine klassische, demokratietheoretische Position, die davon ausgeht, dass alle Beteiligten gleich sind oder gleich sein sollten und dadurch so etwas wie der herrschaftsfreie Diskurs zustande kommen kann. Gesellschaft ist zugleich System und Lebenswelt. Die Lebenswelt umfasst die subjektiven Erlebnisse und ihre Deutung. Die Systeme sind der Staat, die mediatisierten Bereiche, vielleicht auch die Wirtschaft; sie sind es, die, wie Habermas das nennt, die Lebenswelt immer stärker kolonisieren. Damit ist gemeint, dass alle mensch- Die Emanzipation des Bürgertums | 2.2.12 Auf der Suche nach dem herrschaftsfreien Diskurs Gesellschaft in Lebenswelt und System UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 91 <?page no="91"?> 92 lichen Äußerungen in viel stärkerer Weise als früher dadurch charakterisiert sind, dass sie nicht mehr individuell entwickelt werden, sondern immer schon vorgeprägt sind. Die Regeln des Systems verhindern auch, dass es so etwas wie einen herrschaftsfreien Diskurs gibt. Habermas’ These ist, dass kritische Gesellschaftstheorie nur kommunikatives Handeln im Sinne von Aufklärung sein kann. Deshalb sind auch die Soziologin und der Soziologe, wenn sie schreiben, auf Kommunikation angewiesen. Um die Menschen, die eine Gesellschaft miteinander bilden, aufzuklären und ihnen zu helfen, einen herrschaftsfreien Diskurs zu führen, müssen die Soziologin und der Soziologe mit diesen Menschen kommunizieren. Der Sprache kommt dabei eine große Bedeutung zu. In dem Buch »Theorie des kommunikativen Handelns« werden sehr ausführlich die sprachtheoretischen und sprachsoziologischen Forschungsergebnisse aufgearbeitet. Nur durch Sprache ist ein herrschaftsfreier Diskurs möglich, der ein rationales Einverständnis aller Beteiligten zum Ziel hat. Kritik an Luhmann Diese Position lässt sich - und damit kommen wir noch einmal auf das Ende von Kapitel 2.1 zurück - mit der von Luhmann nicht in Einklang bringen. Ganz allgemein wirft Habermas Luhmann vor, er würde sich, indem er den Systembegriff verwende, dem schon existierenden Zwang unterordnen, und eben gerade das, was an Kolonisierung der Lebenswelt bereits existiere, durch die theoretische Produktion seiner Systemtheorie verstärken und bestätigen. Diese Praxis führe im Prinzip eben gerade nicht zur Emanzipation der Menschen, sondern zur Entpolitisierung und zur Herrschaftslegitimierung der schon existierenden Systeme, was wiederum die Lebenswelt stark beeinflusse. Habermas formuliert aber auch immanente Kritikpunkte an Luhmanns Theorie. Er zeigt z.B. den Widerspruch zwischen der komplexitätsreduzierenden Funktion, die soziale Systeme nach Luhmann haben sollen, und dem Zuwachs an Komplexität, den sie selbst bewirken. Luhmann betrachtet die Situation immer von der Systeminnenseite her. Aber was die einzelnen Handlungen der Menschen, die einzelnen Reduktionen von Komplexität für die Welt außen bedeuten, ob sie nicht unter Umständen dort viel größere Komplexität hervorrufen, wird nicht diskutiert. Auch fragt Haber- Die zentrale Rolle der Sprache 2.2.13 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 92 <?page no="92"?> 93 mas, wie man unterscheiden kann zwischen systemtheoretischer Bestandserhaltung und der Durchsetzung politischer und sozialer Herrschaftsinteressen über die Kolonisierung der Lebenswelt. Werte der Aufklärung - Freiheit, Emanzipation von Herrschaft, Demokratie - werden von Habermas als universell unterstellt. Das ist etwas, das Luhmann theoretisch nicht interessiert. Aber Habermas meint, dass die Gesellschaftswissenschaften auch die Bedingung der Unterdrückung dieser Werte untersuchen und die Möglichkeit ihrer Realisierung aufzeigen müssen. Das Prinzip der Parteilichkeit ist hier zentral. Habermas ist der Meinung, der Wissenschaftler müsse Partei nehmen. Ohne Habermas’ Intervention hätte es z.B. das, was in der bundesrepublikanischen Geschichte der späten 1980er Jahre der Historikerstreit heißt, überhaupt nicht gegeben. Jürgen Habermas interveniert als kritischer Intellektueller, dessen Ziel es ist, die Menschen zu befähigen, sich zu emanzipieren. Für eine engagierte Wissenschaft Lernkontrollfragen Erläutern Sie wichtige Merkmale der Kritischen Theorie. Warum ist Erziehung in der Familie herrschaftsstabilisierend? Was versteht Jürgen Habermas unter »Strukturwandel der Öffentlichkeit«? Welche Kritik übt Habermas an der Systemtheorie von Luhmann? 1 2 3 4 Infoteil Über die Geschichte der Frankfurter Schule schreibt Rolf Wiggershaus in seinem Buch Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2008, (7. Aufl.). Die Studie von Jürgen Habermas zum Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft aus dem Jahr 1962 ist mit einem Vorwort von Habermas 1990 neu aufgelegt worden, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1999 (6. Aufl.). Sein derzeit wichtigstes Werk Theorie des kommunikativen Handelns liegt als Taschenbuch in zwei Bänden vor. Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalität; Band 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, 1995. Hingewiesen sei auf das auch für das Grundstudium gut geeignete Einführungsbuch von Helmut Dubiel: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas, Weinheim, München: Juventa Verlag, 2001 (3. Aufl.). UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 93 <?page no="93"?> 94 Handlungstheorie In Systemtheorien steht der Bestand der Gesellschaft, stehen ihre Organisationen und Funktionen im Mittelpunkt des soziologischen Interesses. Bei Talcott Parsons war das sehr ausgeprägt, bei Luhmann ist es intellektuell stärker vermittelt und universalisiert, aber auch bei ihm handelt es sich um eine Gesellschaftstheorie, in der erklärt wird, wie und warum soziale Systeme in einer sich ausdifferenzierenden Welt über Komplexitätsreduktion ihren Fortbestand sichern. Handlungstheorien gehen dagegen vom Handeln der einzelnen Individuen aus. Am Beispiel Erziehung lässt sich das erklären. Systemtheorien interessieren sich dafür, wie verschiedene Teilsysteme dafür sorgen, dass aus einem neugeborenen Menschen - umgangssprachlich ausgedrückt - ein »nützliches« Mitglied der Gesellschaft wird. Handlungstheorien interessieren sich dafür, wie aus dem Neugeborenen eine individuelle Persönlichkeit wird, obgleich es wie alle anderen Neugeborenen in den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen aufgezogen und erzogen wurde. Seit den 1980er Jahren sind Handlungstheorien ein fester Bestandteil der soziologischen Theorie- und Forschungslandschaft. Vorher war das anders. Vor allem in den USA, aber auch in Deutschland hatte die strukturfunktionale Systemtheorie eine dominierende Stellung und für die akademischen Karrieren junger Soziologen und Soziologinnen war es wenig vielversprechend, etwas anderes laut zu denken. Dabei war dieser Ansatz schon seit dem späten 19. Jahrhundert, vor allem aber seit Max Webers Bestimmung der Soziologie zumindest als Richtung denkbar. Denn seine Definition, »Soziologie soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will«, lässt sich sowohl systemtheoretisch als auch handlungstheoretisch weiterdenken. Parsons hat das für die Systemtheorie getan. Die Dominanz seiner Theorie hat die andere Richtung lange in den Hintergrund gedrängt, obgleich in den 1920er Jahren z.B. George Herbert Mead und Herbert Blumer an handlungstheoretischen Perspektiven gearbeitet haben. Auf der bereits erwähnten Hitliste der zehn einflussreichsten soziologischen Bücher des 20. Jahrhunderts findet sich auch das der Autoren Peter L. Berger und Thomas Luckmann »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit« aus dem Jahr 1966, das die Initialzündung für eine handlungstheoretische Debatte gab. 2.3 | Wie wird man ein nützliches Mitglied der Gesellschaft? Zurück zu Weber Wie entsteht soziale Wirklichkeit? UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 94 <?page no="94"?> 95 Die beiden in Europa geborenen Soziologen - Berger 1929 in Wien, Luckmann 1927 im slowenischen Jesenice - hatten zeitweise an der »New School« in New York studiert und dort wissenschaftliche Abschlüsse erworben. Wie in Kapitel 2.2 berichtet, war die »New School« eine der wenigen universitären Lehr- und Forschungseinrichtungen in den USA, an der die Systemtheorie keine dominante Stellung hatte. Trotzdem war es für die beiden Soziologen in Hinblick auf eine akademische Karriere nicht ganz ohne Risiko, einen gänzlich anderen theoretischen Ansatz in die Soziologie einzuführen. Dass aber ein neuer Ansatz vorgestellt wurde, war andererseits auch ein Zeichen dafür, dass die strukturfunktionale Systemtheorie in die Jahre gekommen war. Sie verlor in den USA an Bedeutung, verschwand aber weder dort noch in Deutschland aus der Theoriediskussion. Neostrukturalistische Ansätze - in den USA vor allem durch Jeffrey Alexander, in Deutschland durch Richard Münch vertreten - hielten an den Grundüberlegungen fest, auch wenn diese weiterentwickelt wurden. Die starke Stellung der funktionalistischen Systemtheorie Niklas Luhmanns hat die neostrukturalistischen Ansätze hierzulande aber in den Hintergrund gedrängt. Gleichwohl hat auch in Deutschland die Systemtheorie ihre dominante Stellung in der Soziologie verloren. Grundannahmen einer Handlungstheorie Alle soziologisch-theoretischen Ansätze, die das Handeln von Individuen in den Mittelpunkt stellen, gehen von zwei Grundannahmen aus: 1. Gesellschaft besteht aus Individuen. 2. Das Individuum ist der systematische Kern jeder Gesellschaftstheorie. Es gibt dazu verschiedene Ansätze, die aber alle von der Grundüberzeugung ausgehen, dass es ausreicht, das Handeln der Individuen zu untersuchen, zu analysieren und theoretisch zusammenzufassen, um über eine Gesellschaft die notwendigen Informationen zu bekommen, insbesondere auch über Konflikte und deren Lösung, über die Entstehung von Institutionen und über gesellschaftliche Prozesse. Zwei wichtige, gleichzeitig aber auch zwei sehr unterschiedlich Ansätze sollen im Folgenden erklärt werden. Die Systemtheorie verliert an Bedeutung | 2.3.1 Im Mittelpunkt: das Individuum UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 95 <?page no="95"?> 96 Die Rational-Choice-Theorie als Beispiel einer Handlungstheorie Die Rational-Choice-Theorien haben ihren Ursprung im Utilitarismus des 19. Jahrhunderts, also etwa im klassischen Liberalismus, wie er von Adam Smith verstanden wird. Seine Grundannahme lautet: Das Handeln der Menschen ist nicht durch Werte und Normen geleitet, die im Laufe der Sozialisation erworben werden, sondern ausschließlich von nutzenorientierten Motiven. Der Mensch ist durch seine ökonomische Natur determiniert; sie bestimmt sein Handeln. Diese Form einer Handlungstheorie ist eine Art Austauschtheorie, die aus dem Ökonomischen kommt, aber heute in der Soziologie einen gewichtigen Anteil hat. Der »homo oeconomicus« folgt ausschließlich dem Prinzip des maximalen Lustgewinns bei minimalem Aufwand. Eine solche These für menschliches Handeln hat etwas für sich, weil jeder bei allen einzelnen Handlungen Motive und Motivabwägungen entdecken kann. Ist es mir das wert? Ist es mir das nicht wert? Erfahre ich in der Vorlesung bei X genügend, um dort anderthalb Stunden zu verbringen, oder kann ich mit dieser Zeit etwas Besseres anstellen? Dieses Kalkül kennen alle. Definition ˘ 1. Gemeinsame Grundannahme aller Handlungstheorien: Gesellschaft besteht aus Individuen. Das Individuum ist der systematische Kern jeder Gesellschaft(stheorie). 2. Handlungstheoretische Varianten: Rational-Choice Interpretatives Programm Annahmen und Varianten der Handlungstheorie 2.3.2 | Nutzenorientiert: der homo oeconomicus Definition ˘ Jedes Individuum handelt so, dass die Vorteile maximiert und die Nachteile minimiert werden. Kernannahme in Rational-Choice- Theorien UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 96 <?page no="96"?> 97 Das Beispiel deutet aber auch darauf hin, dass Entscheidungen in bestimmten gesellschaftlichen Kontexten vollzogen werden und dass die einzelnen Handelnden unterschiedliche Voraussetzungen haben. Es muss bereits eine Universität geben und der Zutritt zu ihr durch eine Eignungsqualifikation erworben worden sein, bevor man sich für ein Studium individuell entscheiden kann. Es gibt also externe, außerhalb der einzelnen Individuen liegende Handlungseinflüsse, bzw. eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten. Auch muss der Handelnde mental in der Lage sein, die Situation, in der er sich entscheiden soll oder will, angemessen einzuschätzen. Schließlich spielt auch die persönliche Motivationsstruktur eine Rolle. Diese Voraussetzungen können zwar ebenfalls auf Entscheidungen zurückgeführt werden, aber diese Form einer soziologischen Handlungstheorie ist immer in Gefahr, systematisch größere gesellschaftliche Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren. Das Forschungskalkül ist immer auf das Handeln einzelner Menschen konzentriert, was in einem Paradebeispiel dieses Ansatzes - dem Gefangenen-Dilemma - gut deutlich wird. Bei diesem Zwei-Personen-Stück werden zwei Täter getrennt voneinander zu einem gemeinsam begangenen Verbrechen verhört. Gestehen beide die Tat, haben sie eine mittelschwere Strafe zu befürchten. Gesteht dagegen einer allein, wird er freigelassen, den anderen erwartet eine harte Strafe. Leugnen aber beide die Tat, erhalten beide eine milde Strafe. Das Gefangenen-Dilemma wird als Ausgangsbeispiel für die Untersuchung rationaler Entscheidungen in Konfliktund/ oder Lernsituationen benutzt. Da die Vertreter des Rational-Choice-Ansatzes zur Untermauerung ihrer Wissenschaftlichkeit oft aus der mathematischen Statistik entwickelte Formeln verwenden, liest sich das oben erklärte »Häftlingsdilemmaspiel« im Lexikon zur Soziologie (hrg. von Fuchs- Heinritz u.a.) dann so: Das Gefangenendilemma | Abb 1 Ein Beispiel für die Mathematisierung der Soziologie Spieler 2 ß 1 ß 2 (-a 11 , -b 11 ) (-a 12 , b 12 ) (a 21 , -b 21 ) (a 22 , b 22 ) a 21 > a 22 > a 11 > a 12 b 12 > b 22 > b 11 > b 21 Spieler 1 Bedingung: bzw. α 1 α 2 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 97 <?page no="97"?> 98 Zum Nachdenken über Handlungsmöglichkeiten, zur wissenschaftlichen Analyse von konfliktbeladenen Handlungen ist das Beispiel sicher gut geeignet. Ein Problem besteht aber darin, eine solche Herangehensweise, die Vorteile zu maximieren und Nachteile zu minimieren, zum Kern einer soziologischen Handlungstheorie zu entwickeln, denn damit interessiert man sich ausschließlich für das Handeln einzelner Menschen und verliert systematisch größere Zusammenhänge aus dem Blick. Die Vertreter dieser Richtung bestehen aber darauf, dass es zum Verständnis von Gesellschaft zunächst ausreicht, in Erfahrung zu bringen, wie Individuen rational handeln und entscheiden. Kritische Einwände richten sich deshalb auch auf den universalistischen Erklärungsanspruch, den die Rational-Choice-Theorien bzw. ihre Vertreter erheben. Der in Hamburg lehrende Soziologe Max Miller sieht in diesem Ansatz nur die banale Fortschreibung einer »alltäglich wahrnehmbaren Buchhalter- und Ellbogenmentalität«, die durch die Theorie des rationalen Nutzenkalküls eine wissenschaftlich abgesicherte Berechtigung erhalte. Die Arbeiten von Vertretern der Rational-Choice-Theorie enthalten immer interessante Beispiele, und sie geben auch weiterführende Einsichten in das Entscheidungshandeln von Menschen. Es sind eher die ungelösten Fragen nach dem Entstehen rechtlicher oder moralischer Grundnormen in einer Gesellschaft, die schließlich doch die Macht einzelner Akteure eingrenzen und Kooperation an Stelle der Durchsetzung egoistischer Ziele erzwingen, die Anlass für Kritik sind. Das Interpretative Programm als ein anderes Beispiel einer Handlungstheorie Im Interpretativen Programm heißt es nicht: Jedes Individuum handelt so, dass die Vorteile maximiert und die Nachteile minimiert werden, sondern jetzt heißt es: Menschen handeln auf der Grundlage von Bedeutungen. Bedeutungen entstehen aus sozialen Interaktionen. Bedeutungen werden verändert und situationsadäquat interpretiert. Es geht nicht mehr nur einfach um den ökonomischen, den utilitaristischen oder rationalen Nutzen, sondern um die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass Menschen mit anderen Menschen in der Gesellschaft sinnvoll handeln können. Vor- und Nachteile der Fokussierung auf das Individuum Der interpretative Ansatz 2.3.3 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 98 <?page no="98"?> 99 Zentral ist zunächst die Frage, wie Interaktion überhaupt zustande kommt, bevor man ein rationales utilitaristisches Kalkül anstellen kann. Ein Beispiel: Gelegentlich sieht ein Professor in seiner Vorlesung Menschen, die gähnen. Manche gähnen sehr diskret, andere sind dabei hemmungslos. Es ist eine Frage, welche Bedeutung er dem beimisst. Es hängt von der eigenen Vorerfahrung und Vorstrukturierung ab. Er kann z. B. denken: »Der Gähner leidet unter Sauerstoffmangel, es hat nichts mit mir zu tun, der Gähner ist müde«. Er könnte auch auf die Idee kommen - was bei Professoren eher selten ist -, es hätte etwas mit seinem Vortragsstil zu tun. Es kommt also sehr darauf an, welche Bedeutung er der Aktivität eines anderen Individuums beimisst. Welche Bedeutung das ist, hängt von seinen Vorerfahrungen ab. Die Vertreter des interpretativen Ansatzes interessieren sich deshalb für zwei Fragen: 1. Wie kommt Interaktion überhaupt zustande? und 2. Wie ist das Handeln der an einer Interaktion Beteiligten aufeinander bezogen? Jede Interaktion hat eine dynamische Struktur, die auch die Vergangenheit durch die Vorerfahrungen miteinbezieht. Systematisch betrachtet, führt der Prozess der Kommunikation dazu, dass das Individuum am Ende jeder Kommunikation - theoretisch wohlgemerkt - ein anderes ist als vorher. Jede Interaktion führt dazu, dass eine neue Form von Vorerfahrung existiert, weil das Individuum als solches bei jeder Interaktion Erfahrungen sammelt, seien diese positiv oder negativ, marginal oder intensiv. Jede große Liebe, Definition ˘ Grundannahmen: Menschen handeln auf der Grundlage von Bedeutungen. Bedeutungen entstehen aus sozialer Interaktion. Bedeutungen werden verändert und situationsadäquat interpretiert. Das Interpretative Programm Weshalb gähnt jemand in der Vorlesung? Definition ˘ Wie kommt Interaktion überhaupt zustande? Wie ist das Handeln der an einer Interaktion Beteiligten aufeinander bezogen? Zwei Forschungsfragen Jede Interaktion hat eine Vorgeschichte UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 99 <?page no="99"?> 100 jede kleine Liebe in unserem Leben z.B. ist durch die Vorerfahrung mitbestimmt. Die neu gemachten Erfahrungen werden in die vorhandene Vorerfahrung mit einbezogen und ergeben somit eine neue, anders strukturierte Vorerfahrung. Me, Self and I George Herbert Mead (1863-1931) hat gesagt, dass das Individuum am Interaktionsprozess in dreifacher Hinsicht beteiligt ist: durch das I, das Self und das Me. Das I steht für die Individualität, das Me steht für die Vergesellschaftung, also für die gesellschaftliche Vorerfahrung. Die jeweiligen individuellen und gesellschaftlichen Eindrücke werden im Self - der Persönlichkeit - zusammengefasst. Dies ist ein wichtiger systematischer Beitrag zur Erforschung des Handelns und der Ergebnisse der lebenslangen Sozialisation von Individuen. Significant others und generalized others Jedes Individuum wird in eine Gesellschaft hineingeboren und muss danach in die Gesellschaft eingeführt werden. Das beginnt mit der primären Sozialisation, in der das Kind Rollen und Einstellungen übernimmt, und zwar die der significant others. Das sind die elementaren Bezugspersonen, ohne die ein Säugling z.B. nicht überleben würde, Menschen, die erste Gefühle von Geborgenheit vermitteln, Nahrung geben und emotionale Zuwendung. Dabei hat ein Kind, das auf dem Lande in einer katholischen Familie geboren wird, einen anderen Beginn seiner Sozialisation als eines, das in einem liberalen Wissenschaftlerhaushalt in einer Großstadt zur Welt kommt. Das sagt noch nichts über die weiteren Entwicklun- 2.3.4 | Abb 2 | Der Interaktionsprozess I Me Self Individualität Vergesellschaftung Das Interpretative Programm Die Struktur der Persönlichkeit 2.3.5 | Die Entwicklung der Persönlichkeit Die ersten Bezugspersonen UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 100 <?page no="100"?> 101 gen, aber jedenfalls unterscheidet sich der Anfang. Allein die Frage, ob von vorneherein mit dem Kind in ganzen Sätzen gesprochen wird, kann für die spätere Biographie sehr wichtig sein. In der zweiten Phase treten dann die generalized others auf, die Vertreter der Gesellschaft. Die Heranwachsenden treffen nun auf andere Menschen außerhalb ihres engen Lebenskreises - meistens ist das immer noch die Familie - und lernen allgemeine Regeln, Prinzipien der Vergesellschaftung. Unsere Gesellschaften sind dadurch gekennzeichnet, dass der Zeitpunkt, an dem junge Menschen mit diesem Bereich in Berührung kommen, immer früher liegt. Die Kinder der bildungsbürgerlichen Mittel- und Oberschicht in Preußen betraten erst mit neun Jahren das erste Mal eine Schule. Heutzutage verlassen die meisten Kinder den engen Kreis der Familie bereits mit 3 1/ 2 Jahren oder mit 4 Jahren, um in den Kindergarten zu gehen. Significant others lassen sich austauschen. Wenn z. B. die Eltern zufällig bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen sollten, können die Kinder in einer anderen Familie diese Phase fortführen. Die generalized others, also die Vertreter des Staates, des Grundgesetzes, unserer Bürokratie, unsere Leistungsorientierung, werden durch allgemeine Institutionen sichergestellt. Die Kumulation der Lernprozesse führt dazu, dass nach und nach die Einzelnen eigene Persönlichkeiten entwickeln. Individualität hat immer auch eine Vorgeschichte, ist über unsere Person in die Vergesellschaftung eingebunden und ist immer in Veränderungsprozessen begriffen. Der wesentliche Unterschied, um es noch einmal zusammenzufassen, zwischen den Systemtheorien und den Handlungstheorien besteht in den Gründen für den gelungenen Ablauf einer Handlung. Die Systemtheorien gehen davon aus, dass die Handlung in einem normativen Gefüge von Erwartungen und Dispositionen in gesellschaftlichen Teilsystemen erfolgt und das Gelingen daran gemessen wird, ob die gemeinsame Handlung der beteiligten Individuen diesen entspricht. Bei den Handlungstheorien kommt es dagegen zu einer gegenseitigen Interpretation der jeweils für bedeutungsvoll gehaltenen Äußerungen des Gegenüber. Das können Worte sein, Gesten, Mimik oder ganz allgemeine Indikatoren wie Aussehen, Körperhaltung oder noch allgemeiner - wie es gelegentlich auch verstanden wird - die Summe von Symbolen, der sich jeder Handelnde gegenüber sieht und die er selber einbringt. Deshalb wird für diese Rich- Der Staat tritt in das Leben Der zentrale Unterschied zwischen System- und Handlungstheorien UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 101 <?page no="101"?> 102 tung der Handlungstheorie auch die Überschrift Symbolischer Interaktionismus verwendet. Bei dieser Bezeichnung gerät allerdings der Vorgang der Interpretation von Bedeutungen in den Hintergrund. Forschungsansätze Es liegt auf der Hand, dass eine der Theorie entsprechende soziologische Forschung bestimmte Fragen stellt und sie die jeweils angemessenen Methode verwenden muss. Ohne Kapitel 3.3 vorgreifen zu wollen, soll doch der wichtige Unterschied deutlich gemacht werden. Systemtheoretische Untersuchungen von Handlungen können zu Normen Soll- und Ist-Vergleiche anstellen, um gelungene oder misslungene Handlungen von Individuen in einem sozialen System zu beschreiben. Diese Fragen lassen sich mit den so genannten quantitativen Methoden angemessen bearbeiten (siehe Kapitel 3.3). Für das interpretative Programm hängt der Ablauf von Handlungen von dem individuellen und gegenseitigen Verständnis der Bedeutungsmuster ab. Es sind daher ganz andere, dem Forschungsgegenstand angemessene Methoden notwendig, die allgemein als qualitative Methoden verstanden werden. Die Beobachtung und Entschlüsselung einzelner Handlungssequenzen ist mit der klassischen Umfragetechnik der quantitativen Verfahren nicht angemessen möglich. Der nordamerikanische Soziologe Erving Goffman hat zwei verschiedene Ansätze praktiziert. Einmal hat er pathologische Handlungsformen am Beispiel von Schizophrenen untersucht und zweitens hat er versucht, das Modell des Theaters auf soziologische Forschung zu übertragen. Goffman hat - der erste Ansatz - pathologische Formen des Zusammenlebens untersucht, um herauszufinden, was das »Normale« ist. Jeder Einzelne durchläuft ständig Interaktionsprozesse, und in der Regel unterstellen wir, dass dieser andauernde Prozess, der hier beschrieben worden ist, aus uns allen relativ vernünftige, sozial akzeptable Menschen macht. Wenn wir anfangen zu erkennen, dass jemand psychisch gänzlich anders ist, dass er bestimmte Formen von Konflikten nicht aushält, wenn z.B. ein Universitätsdozent bei der ersten kritischen Nachfrage in Tränen ausbricht und den Hörsaal verlässt, dann würden wir sagen, seine Sozialisation als Hochschullehrer ist gescheitert. Dieses Programm sucht nach Regeln der Interaktion, kann allerdings keine Aussagen über die Zukunft machen. Es lassen sich 2.3.6 | Quantitative und qualitative Forschungsansätze Über die Zukunft lässt sich wenig sagen UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 102 <?page no="102"?> 103 sicherlich in bestimmten gesellschaftlichen Situationen für einzelne Persönlichkeitstypen Zukunftsprognosen erstellen, aber es lassen sich keine allgemeinen Prognosen erstellen, und deshalb reduziert dieser Ansatz von sich aus schon die Ansprüche der Soziologie an gesellschaftliche Prognose und Praxis. Was aus dem Dozenten wird, wie die Prozesse der Vergesellschaftung weitergehen werden, ist mit diesem Ansatz nicht zu erklären. Gesellschaft als Theater Der andere Ansatz von Goffman, »Wir alle spielen Theater«, macht aus den Handelnden Schauspieler. Er versteht hier das Leben als Theatervorstellung. Es gibt eine Dramaturgie, Bühnenbilder, eine Souffleuse, technische Effekte. Wie bei modernem Regie-Verständnis ist der Text des Schauspielers schon seit längerem bekannt, aber die Zuschauer sind von den Interpretationen der Dramaturgie oder der Schauspieler immer wieder überrascht, positiv (minutenlanger Beifall) oder negativ (Buhrufe, Trillerpfeifen). Das ist alles sehr anregend. Aber für Soziologen und Soziologinnen stellt sich dann doch gelegentlich die Frage: Wer hat eigentlich das Stück geschrieben? Überhaupt müssen sich die individualistischen Handlungstheorien, speziell das Interpretative Programm (oder der Symbolische Interaktionismus) die kritische Frage nach dem Ergebnis der jeweiligen Handlungen gefallen lassen. So wie bei Luhmann bei der Reduktion von Komplexität durch ein soziales System in der Folge die Komplexität in der Umwelt des Systems gesteigert wird, so haben auch gelungene individuelle Handlungen Folgen für andere, vielleicht sogar ganz unbeteiligte Dritte, ohne dass diese systematisch mit untersucht werden. Die Konzentration der Handlungstheorien auf den Ablauf gegenseitiger Bedeutungsinterpretationen führt dazu, dass die Inhalte der Bedeutungen aus den Augen verloren gehen, wobei fraglich ist, ob das überhaupt mitbedacht worden ist. Ganz sicher lassen sich durch die zum Teil minutiösen Untersuchungen und Beschreibungen einzelner Interaktionen faszinierende Einzelheiten in Erfahrung bringen. Auch haben die für handlungstheoretische Untersuchungen entwickelten qualitativen Forschungsmethoden in ihrem subtilen Aufbau einen großen Einfluss auf soziologische Forschungsmethoden allgemein. Aber die Frage, die sich seit August Comte die meisten Soziologen gestellt haben: »Wie ist die Gesellschaft von | 2.3.7 Der Handelnde als Schauspieler Woraus besteht eine Handlung? UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 103 <?page no="103"?> 104 Menschen möglich, wie bleibt sie stabil, warum verändert sie sich? «, lässt sich mit diesen Ansätzen allein nur schwer beantworten. Inzwischen gibt es eine Reihe von Versuchen, den Gegensatz von Makrotheorien (System) und Mikrotheorien (Handlung) aufzuheben. Als Beispiel werden in Kapitel 2.5 die Ansätze von Norbert Elias und Pierre Bourdieu diskutiert. Vorher aber, im nächsten Kapitel, muss noch eine Entwicklung in der Soziologie dargestellt werden, die manche neue Sichtweise erbracht hat und gleichzeitig auch noch einmal eine Entwicklung von makro- und mikrotheoretischen Ansätzen zu einem beiden Richtungen verbundenen Verständnis zeigt. Gemeint ist das Aufkommen der Frauenforschung in den 1970er Jahren und ihre Veränderung zur Geschlechterforschung. Die Brücke zwischen System- und Handlungstheorien Lernkontrollfragen Erläutern Sie am Beispiel des Gefangenen-Dilemmas Grundüberlegungen der Rational-Choice-Theorie. Denken Sie dabei auch darüber nach, wie Sie sich verhalten würden, wären Sie einer der Gefangenen. Beschreiben Sie die (rationalen? ) Kalküle, die Sie dabei anstellen. Erläutern Sie den Interaktionsprozess, indem Sie die Begriffe I, Me und Self zueinander in Beziehung setzen. Diskutieren Sie die Reichweite der Forschungsansätze von Erving Goffman. 1 2 3 Infoteil Die klassische Schrift von Peter L. Berger und Thomas Luckmann Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit gibt es als Taschenbuch, 2009 in der 23. Auflage bei Fischer erschienen. Zur Einführung in die Rational-Choice-Theorie sei auf das gleichnamige Buch von Paul B. Hill hingewiesen, Bielefeld: Transcript Verlag, 2002. Ein Beispiel für eine kritische Auseinandersetzung mit der Rational-Choice-Theorie ist der Aufsatz von Max Miller: Ellbogenmentalität und ihre theoretische Apotheose in der Zeitschrift Soziale Welt, Heft 1/ 1994, S. 5-15. Zur Information über soziologische Handlungstheorien sei neben den in der Einleitung dieses Buches genannten Nachschlagewerken und dem Buch von Annette Treibel: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, Wiesbaden : VS Verlag, 2006 (7., aktualisierte Aufl.), auch auf Christian Etzrodt Sozialwissenschaftliche Handlungstheorien. Eine Einführung, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2003, hingewiesen. Erving Goffmans Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag liegt in der 20. Auflage vor, München, Zürich: Piper Verlag, 2010. UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 104 <?page no="104"?> 105 Frauen- und Geschlechterforschung Die theoretischen Richtungen, die in den beiden letzten Kapiteln behandelt worden sind - Systemtheorien und Handlungstheorien -, haben sich über einen langen Zeitraum entwickelt, jedenfalls fast über die gesamte Zeit seit der Entstehung der Soziologie. Seit dem späten 19. Jahrhundert sind diese beiden Positionen vorhanden gewesen, wenn auch noch nicht dezidiert als Richtungen ausgearbeitet. Es ist in den beiden vorangegangenen Kapiteln darauf hingewiesen worden, dass die Formulierung von Max Weber »Soziologie soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« sowohl in die systemtheoretische als auch in die handlungstheoretische Perspektive münden kann. Die Forschungsrichtung, die mit »Frauen- und Geschlechterforschung« überschrieben ist, ist dagegen relativ neu. Es gibt sie eigentlich erst seit den frühen 1970er Jahren. Das mag vielleicht überraschen, denn es ist bekannt, dass es eine Frauenbewegung mit ihren auf Gleichberechtigung von Mann und Frau drängenden Kräften seit der Aufklärung, d.h. seit dem späten 18. Jahrhundert gegeben hat. Wenn also in diesem Kapitel eine neue, innovative Richtung der Soziologie in ihren Grundzügen erklärt werden soll, dann ist es notwendig, die Vorgeschichte der Frauenbewegung kurz darzustellen. Kurzer Überblick über die Geschichte der Frauenbewegung »Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Mann gleich in allen Rechten«. Diese These, die Olympe de Gouges 1791 während der Französischen Revolution formulierte, ist das Grundthema der Frauenbewegung seit jener Zeit. Olympe de Gouges hat sie jedoch nicht lange überlebt, sie wurde 1793 auf der Guillotine geköpft. Knapp zweihundert Jahre später ergab eine Studie der Zeitschrift Brigitte für das Jahr 1988 folgende Zahlen: 95 % voll erwerbstätig, 60 % nicht erwerbstätig. Die erste Zahl betrifft die Männer und die zweite Zahl betrifft die Frauen. Bis 2007 ist die Zahl weiblicher Erwerbstätiger jedoch auf 70 % angestiegen, während die Erwerbsquote der Männer auf 76 % gesunken ist (Allmendinger 2010: 16). Zwar gibt es den Satz von Olympe de Gouges in veränderter Form auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, aber es kann noch keine Eine neue Forschungsrichtung | 2.4 | 2.4.1 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 105 <?page no="105"?> 106 Rede davon sein, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer. Frauen sind nach wie vor gesellschaftlich benachteiligt und müssen für ihre Positionen kämpfen. Das war seit der Aufklärung so, und das gilt auch für die bürgerliche Variante der Frauenbewegung um die Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters, die ein humanistisch-aufklärerisches Konzept vertrat. Sie forderte im Zusammenhang mit den Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts auch Freiheit für Frauen. Gegen Ende des 19. bzw. im frühen 20. Jahrhundert gibt es dann eine sehr stark ausgeprägte marxistisch-sozialistische Richtung. Die proletarische Frauenbewegung, vertreten durch Frauen wie Clara Zetkin, hat von Anfang an für die Abschaffung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung als Quelle der Unterdrückung der Menschheit und damit auch der Frauen gekämpft. In der gesamten marxistischen Debatte war die Frauenfrage immer eine sekundäre, ein so genannter Nebenwiderspruch. Völlige Emanzipation der Frauen ist für diesen Ansatz erst nach Erreichen einer veränderten Gesellschaftsordnung, also etwa mit der Diktatur des Proletariates oder wenigstens in einer sozialistischen Gesellschaft möglich. Nach dem 1. Weltkrieg, nach dem Scheitern der kommunistischen Revolution 1918/ 19 und der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gab es dann im Wesentlichen nur die bürgerliche Frauenbewegung, die mit einem Gleichberechtigungskonzept für die Verbesserung der Lage der Frauen stritt. Vor allen Dingen der organisierten bürgerlichen Frauenbewegung geht es in den 1920er Jahren um eine bessere Schulbildung für Mädchen, insbesondere durch die Einführung von Realschulen für Mädchen. Helene Lange war eine Verfechterin dieses, auch auf ein spezifisches Mütterlichkeitsideal setzenden, Konzeptes. Fast in jeder größeren Stadt gibt es eine Schule, die nach ihr benannt ist. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden die verschiedenen Frauenbewegungen zunächst gleichgeschaltet und - wenn sie das Mütterideal nicht in vollem Umfang auf ihre Fahnen geschrieben hatten - auch verboten. Mütterlichkeit, die Frau als Lebensborn der arischen Rasse, stand im Mittelpunkt der Ideologie des Dritten Reiches. So bekamen Frauen, die sechs Kinder zur Welt brachten, das Mutterkreuz in Gold. Höhere Schulbildung für Mädchen UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 106 <?page no="106"?> 107 Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gab es vor allem in der Bundesrepublik Deutschland zwei verschiedene Phasen. Die erste Phase war davon geprägt, dass viele Ehemänner lange Zeit von zu Hause abwesend waren und erst im Krieg und dann in der Gefangenschaft gelitten hatten. Viele Eheleute, die während des Krieges geheiratet hatten, waren nur wenige Tage zusammen gewesen und kannten sich kaum. Die Rückkehr dieser Männer in die Familien war mit großen Schwierigkeiten und Problemen verbunden. Männlichkeit war vorübergehend in die Krise geraten. Einerseits hatten sich die Frauen in bestimmter Weise emanzipiert, denn sie hatten zur Mutterrolle auch noch die des pater familias übernehmen müssen, der für das materielle Wohl der Familie verantwortlich ist. Auch mussten sie bei den Aufräumarbeiten und dem Wiederaufbau der Produktion einen Teil der Männer ersetzen, wie übrigens auch schon bei der Waffenproduktion in den letzten Kriegsjahren. Die in der Literatur und in der Presse gelegentlich thematisierten »Trümmerfrauen« waren jene Frauen, die zu einem großen Teil nicht nur die Familien über Wasser hielten, sondern auch halfen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Zweitens hatten sich die Menschen auch in ihrem Äußeren, d.h. in ihrer physischen und psychischen Gesundheit verändert. Die Kriegs- und Nachkriegsjahre waren an den Frauen nicht spurlos vorübergegangen. Sie hatten wenig Muße und Geld für Körperpflege, die Männer waren in der Kriegsgefangenschaft über lange Jahre durch Zwangsarbeit und schlechte Ernährung ausgemergelt. Wer sich z.B. die Bilder der Kriegsgefangenen ansieht, die 1955 nach dem Besuch Konrad Adenauers in Moskau als Letzte aus Russland zurückkamen, sieht dort ausgemergelte, scheinbar sehr alte Männer, die doch alle noch keine vierzig, viele noch keine dreißig Jahre alt waren. Die aus dem Krieg bzw. aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Männer konnten aus gesundheitlichen Gründen oft nicht arbeiten. Sie fanden zunächst auch keinen Arbeitsplatz. Die Belastungen in den Ehen waren groß. Erst gegen Mitte der 50er Jahre, und damit beginnt dann die zweite Phase in der Bundesrepublik, begannen sich die Verhältnisse zu normalisieren. Es gab wieder genügend Arbeitsplätze. Die Männer wurden wieder die Alleinverdiener und nach und nach fanden die Familien zu den alten, patri- | 2.4.2 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 107 <?page no="107"?> 108 archalischen Strukturen zurück: Der Vater ist berufstätig und verdient das Einkommen, die Ehefrau kümmert sich um Küche und Kinder. In dieser Zeit kommt es dann zu einem Wiederaufleben der Gleichberechtigungsdebatten und zu ersten Ansätzen, das Postulat des Grundgesetzes »Männer und Frauen sind gleich« zu realisieren. So wurde etwa 1957 das Bürgerliche Gesetzbuch geändert. Bis dahin hatten Ehefrauen nur die so genannte Schlüsselgewalt, d.h. sie konnten nur Geld ausgeben und Kleinstverträge abschließen, wenn es die Haushaltsführung betraf. Alle anderen Verträge, so auch zum Beispiel den Arbeitsvertrag, konnte allein der Ehemann unterschreiben. Er entschied auch z.B. über die Berufswege oder die Schulausbildung, die die Kinder einschlagen sollten. Frauen in der »68er Bewegung« Anfang der 1960er Jahre präsentiert sich die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland dann als eine sehr wohlhabende, in der langsam all das nachgeholt wird, was die Kriegs- und Nachkriegsjahre den Menschen weggenommen und vorenthalten hatten. Aber dann kommt es zu dem, was heute die 68er-Bewegung heißt. Das war nun kein schlagartiges Ereignis, das von einem Jahr auf das andere auftrat, sondern es deutete sich schon über die ganzen 1960er Jahre hinweg an. Bereits in den 1950er Jahren gab es erste Ansätze, die sich später radikalisierten. Nach und nach wurden immer öfter die Grundlagen der bundesrepublikanischen Adenauer- Republik in Frage gestellt. Schon in der ersten Hälfte der 60er Jahre gab es in Westdeutschland, besonders an den Universitäten, kritische Debatten über den Zustand der Gesellschaft, die sich vor allem am Vietnam- Krieg entzündeten. Aber auch die Rolle der Eltern, insbesondere der Väter, im Dritten Reich wurde aus Anlass der Auschwitz-Prozesse thematisiert. Die große Koalition und die dann entstehende Außerparlamentarische Opposition sind weitere Meilensteine auf dem Weg hin zu dem, was dann 1967/ 68 zu der so genannten »Studentenrevolte« führte, was im heutigen Jargon mit dem Kürzel »die 68er« genannt wird. Diese Phase des Umbruchs führte zu vielen Veränderungen und Reformen in der Gesellschaft und auf eine etwas indirekte Weise zur Innovation der Frauen-/ Geschlechterforschung in der Soziologie. 2.4.3 | Die »Adenauer-Republik« wird in Frage gestellt Kritische Debatten in den 1960er Jahren Die »Trümmerfrauen«: Zurück zu Heim und Herd UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 108 <?page no="108"?> 109 Trotz der langen Geschichte der Frauenbewegung hatten Frauen und insbesondere Frauenforschung und Frauenfragen zwar in der Gesellschaft eine bestimmte Rolle gespielt, jedoch nicht in den Wissenschaften und schon gar nicht an den Universitäten. Es gab zwar die Frage nach der Gleichberechtigung der Frauen, die insbesondere durch die steigende Anzahl von Studentinnen nach der Bildungsreform der frühen 1960er Jahre einen gewissen Ausgleich fand, aber es gab noch kein radikal-feministisches Konzept. An dieser Stelle muss dem Eindruck entgegengetreten werden, die Entwicklungen in den 1960er Jahren seien eine ausschließlich deutsche Angelegenheit gewesen. Es gab spezifisch deutsche Umstände (die Nachkriegszeit zum Beispiel), aber die Frage nach der Rolle der Frauen wurde in allen westlichen Demokratien gestellt und führte auch an Universitäten in diesen Ländern zu entsprechenden Konflikten und Konzepten. Die Gleichheitspostulate der Verfassungen ließen sich mit der erlebten Differenz nicht länger in Einklang bringen. Diese Problematik entstand zuerst und am konsequentesten in den Bürgerrechtsbewegungen in den USA, sprang aber bald nach Westeuropa über. Eine Initialzündung zu den weiteren Entwicklungen in Deutschland waren Konflikte in den Führungsgremien des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Rudi Dutschke und die anderen Anführer des SDS waren der Öffentlichkeit sehr bekannt, aber im SDS arbeiteten auch Frauen mit. Diese Frauen begannen sich 1968 zu fragen, warum eigentlich immer nur die Männer redeten und nicht auch einmal die Frauen. Auf einem SDS-Kongress im November 1968 kam es dann zu einer Auseinandersetzung zwischen Männern und Frauen im SDS. Es ist kein Zufall, dass der Konflikt in den Führungsgremien des SDS ausbrach, weil hier die Diskrepanz zwischen intellektuellpräziser Analyse des Gesamtzusammenhanges und dem konkreten Verhalten der im Wesentlichen aus Männern bestehenden Führungskollektive die Problematik besonders deutlich werden ließ. Hier hat die feministische Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre einen ihrer Anfänge. Zunächst bildete sich ein Aktionsrat zur Befreiung der Frauen innerhalb des SDS, der bei der Bundesdelegiertenkonferenz 1968 dann erstmals auftrat. Hier wurden an den Verhältnissen im SDS und an dem Verhalten der führenden Genossen gegenüber Frauen heftige Kritik geübt und vor allem auch darauf hingewiesen, dass die männlichen Führungsgremien trotz der Ein internationaler Trend Warum eigentlich immer nur die Männer? UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 109 <?page no="109"?> 110 von ihnen immer behaupteten Progressivität überhaupt nicht erkannt hatten, dass die Organisation der Frauen bereits einen Umfang erreicht hatte, der sie zu Jubelschreien verleitet hätte, wenn es sich um Arbeiter gehandelt hätte. Diesem ersten Auftritt des Aktionsrates folgte dann die Gründung des so genannten Weiberrates, der bereits einen Monat später im November 1968 bei einer Bundesdelegiertenkonferenz in Hannover ein an aggressiver Kritik kaum noch zu überbietendes Flugblatt verteilte. Das Flugblatt bestand zum Teil aus einer zeichnerischen Darstellung abgehackter Genitalien, die wie Rehgehörne als Trophäen an der Wand hingen. Darunter eine Frau mit einem großen Beil als Scharfrichterin. Den einzelnen Genitalien waren die Namen der führenden SDS-Funktionäre zugeordnet. Der Text des Flugblattes, der unter dem Motto stand: »Befreit die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen« beklagte die väterliche Betulichkeit und das sozialistische Schulterklopfen, wehrte sich vehement gegen die männliche Unterdrückung und stellte zum Schluss fest: Frauen sind anders. Und unter diesem Motto ging die Entwicklung sehr schnell voran. Es wurde zum ersten Mal das Verhältnis von Privatleben und Gesellschaft analysiert. So galt die so genannte sexuelle Revolution vorrangig als eine, die zugunsten der Männer ausfiel, die nach dem Credo handelten: »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment! « Es galt, die Unterdrückung im Privatleben nicht als private zu begreifen, sondern als politisch-ökonomisch bedingte. Hier ziehen nun die Frauen im SDS und sehr bald viele mehr die Konsequenzen aus dem, was sie bei Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Erich Fromm über Autorität und Familie gelesen hatten: dass es nämlich darauf ankommt, diesen Zusammenhang zu durchbrechen. In den folgenden Jahren entstehen vielerlei Initiativen, wie die Kinderläden oder die Aktionen gegen den § 218 mit Slogans wie »Mein Bauch gehört mir! «, die die Verfügung der Frau über ihren eigenen Körper betonten. Von Anfang an bestand in der gesamten neuen Frauenbewegung allerdings eine große Skepsis gegenüber jeder traditionellen Organisationsform. Frauenforschung an den Universitäten Erst zu dieser Zeit lässt sich überhaupt so etwas wie der Übergang Die Aktion gegen den § 218 2.4.4 | Der »Weiberrat«: radikal-feministische Forderungen UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 110 <?page no="110"?> 111 der Frauenbewegung in Frauenforschung an den Universitäten feststellen. Es war nämlich so, dass auch die Analysen, die die Frauen im SDS und in anderen studentischen Organisationen führten, immer noch im Wesentlichen außerhalb der Universitäten stattfanden. Erst danach wurden diese Themen in die Seminare getragen. Es werden Fragestellungen entwickelt und insbesondere die Forderung gestellt, es müsse untersucht werden, wie männlich die Wissenschaft sei. Wieso kommen Frauen eigentlich in der Wissenschaft nicht vor? - wurde gefragt -, wieso wird alles nur aus der männlichen, d.h. androzentrischen Perspektive betrachtet? Und dies ist der eigentliche Ansatz für die Entwicklung dieses relativ neuen, und man muss auch hinzufügen: innovativen Teiles der Soziologie. Dort fängt er an, macht dann aber auch vor allen anderen universitären Disziplinen nicht halt, wenngleich Natur- und Ingenieurwissenschaften sich immer noch lange mit relativem Erfolg gegen frauenspezifische Fragen wehrten. Erst als in den 1990er Jahren die Nachfrage nach Ingenieurstudien plätzen relativ stark abnahm, begannen die entsprechenden Fakultäten, sich für die Anwerbung von Frauen auch unter der Überschrift frauenspezifischer Studiengänge zu interessieren. Damit beginnt in der Soziologie Anfang der 1970er Jahre ein neuer Abschnitt, der das weitere Thema dieses Kapitels ist. Es liegt uns sehr viel daran, deutlich zu machen, dass es für die Frauenbewegung zwar eine lange Vorgeschichte gibt, dass aber an den Universitäten diese Themen zum ersten Mal in den frühen 1970er Jahren behandelt werden. Vor allem die damals noch stark die soziologisch-universitäre Ausbildung dominierende Systemtheorie nach Talcott Parsons war ein besonders geeignetes Beispiel, um zu zeigen, welche Fragen notwendigerweise gestellt werden mussten. In dem Kapitel über die Systemtheorie ist erklärt worden, dass Parsons ein bestimmtes Modell der Gesellschaft unterstellt. Das galt auch für seine Schüler, die dieses Modell beispielsweise auf die Familie und klassische Strukturen der Familien übertrugen. In allen Arbeiten wurde die Notwendigkeit geschlechtlicher Arbeitsteilung in der Familie einfach unterstellt. Der Mann ist berufstätig und die Frau ist zuständig für die Erziehung der Kinder und die emotionale Versorgung der Familienmitglieder. Hier wurden mittelschichtsstereotype Eigenschaften einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung festgeschrieben. Die »Frauenfrage« erreicht die Hochschulen Ist die gesellschaftliche Arbeitsteilung vorgegeben? UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 111 <?page no="111"?> 112 Die doppelte Belastung der Frauen Aus Sicht der ersten kapitalismuskritischen Untersuchungen ließ sich sehr schnell feststellen, dass diese Festschreibung nicht der Komplexität des weiblichen Lebenszusammenhanges entspricht, denn auch Frauen arbeiten. In diesem Zusammenhang wurde weiter gefragt, was eigentlich diese Doppelbelastung bedeutet. Ganz allgemein wurde festgestellt, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung offensichtlich durchgängig in der bisherigen Geschichte der Menschen war, dass aber eben gerade sie eine spezielle Basis für den Kapitalismus ist. An diesem Punkt beginnt dann langsam das, was zunächst Frauenforschung und später dann feministische Soziologie genannt wird, wobei das eine schwerpunktmäßig auf das andere folgte, ohne dass man sagen kann, es habe das eine zu Anfang nicht gegeben und das andere sei heute verschwunden. Heute wird im Wesentlichen von Geschlechterforschung gesprochen. Das obige Beispiel aus der Systemtheorie zeigt im Übrigen, dass es eigentlich sinnvoll wäre, die Geschlechterperspektive in die einzelnen Ansätze einzuarbeiten. Dass dies nicht geschieht, sondern Frauen-/ Geschlechterforschung als gesondertes Kapitel behandelt wird, hat einmal damit zu tun, dass dann die einzelnen Kapitel sehr komplex würden, andererseits aber auch, weil zumindest Wissenschaftlerinnen, die jüngere Ansätze der Geschlechterforschung vertreten, sogleich widersprechen würden, da sie, wie wir noch sehen werden, in der Geschlechterforschung eine gleichberechtigte Position neben System- und Handlungstheorien sehen. Seither lassen sich drei aufeinander folgende Phasen der Entwicklung einer feministischen Soziologie beschreiben. Im ersten Abschnitt, der vor allem marxistisch orientiert war, wurde Regeneration und Reproduktion politisch-ökonomisch analysiert. In der darauf folgenden zweiten Phase wurde vor allem handlungstheoretisch argumentiert und die Frage nach der Entstehung der Geschlechterdichotomie gestellt, und schließlich in der dritten, noch andauernden Phase wird vor allem mit dem methodischen Mittel der Dekonstruktion bezweifelt, dass es nur zwei Geschlechter - Männer und Frauen - gibt. Dies wird derzeit von der Debatte um die vielfache Verschränkung mehrerer Ungleichheitsdimensionen wie zum Beispiel Herkunft, Milieu, Alter, sexuelle Orientierung etc., weitergeführt, die je nach Kontext eine Situation unterschiedlich überlagern können (Winker/ Degele 2009). Phasen feministischer Soziologie Die Komplexität weiblicher Lebenszusammenhänge wird zum Forschungsthema 2.4.5 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 112 <?page no="112"?> 113 Marxistisch orientierte Ansätze In diesem ersten Schritt zu einer eigenständigen Frauenforschung in der Soziologie, zu einer, wie es manche andere verstehen, feministischen Soziologie, wurden vor allem die marxistisch orientierten Ansätze von Maria Mies und der »Bielefelder Ansatz« von Ursula Beer und Veronika Bennholdt-Thomson diskutiert. Ausgangspunkt waren Analysen, die sich an der Abfolge der Gesellschaftsformationen bei Karl Marx (siehe Kapitel 1.1) orientierten. Schon in der ersten Formation der Jäger und Sammler ergab sich wegen der unterschiedlichen biologischen Ausstattung von Männern und Frauen eine geschlechtliche Arbeitsteilung. Frauen gebären mit ihrem Körper - Mies spricht in diesem Zusammenhang von primärer Arbeit -, Männer benötigen zur körperlichen Arbeit Hände, Kopf und Werkzeuge. Diese einfache Arbeitsteilung mündet dann bald in ein Patriarchat, da die Männer ein Monopol auf Waffen zur Unterdrückung anderer Menschen und eben auch der Frauen haben. Die Abwesenheit von Männern (Raubzüge, Kriege, Entdeckungsreisen) ermöglicht den Frauen die Übernahme von Aufgaben der Männer. Die biedermeierliche Stilisierung einer grundsätzlich wesensbedingten Unterschiedlichkeit existiert noch nicht. Die weitgehend agrarische Produktionsweise wird als diejenige »im ganzen Haus« bezeichnet, d.h. Produktion und Reproduktion finden zumindest idealtypisch unter einem Dach statt. Freilich gilt im proletarischen und adeligen Haushalt eine gänzlich andere Geschlechterordnung Das ändert sich mit der Entstehung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Als im Merkantilismus und in der Zeit der Frühindustrialisierung erste Manufakturen und Fabriken und damit außerhäusliche Produktionsstätten entstehen, muss der Mann zum Zweck der Lohnarbeit in Fabriken nach vorgegebenem Zeittakt arbeiten. Dieser Einschnitt hatte weitreichende Folgen, die im Übrigen in der Soziologie immer wieder thematisiert worden sind. In der Frauenforschung wird hierbei das Augenmerk vor allem auf die Tatsache gelenkt, dass nicht nur zwei Arbeitssphären mit unterschiedlichen Anforderungen entstehen - das wussten auch schon Karl Marx, Ferdinand Tönnies und Emile Durkheim -, sondern dass es jetzt zu einer Aufteilung in die außerhäusliche Lohnarbeit des Mannes und die unbezahlte Reproduktion(sarbeit) der Frau im Haus kommt. Hieraus entwickelt sich nach und nach die ideologische Vorstellung ei- Noch einmal zurück zu Marx Die Bedeutung der Fabrikarbeit | 2.4.6 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 113 <?page no="113"?> 114 Solange die Trennung der Bereiche Arbeit und Haushalt besteht, bezeichnen die Forscherinnen dies als einfachen oder auch ständischen Patriarchalismus. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind neben den ohnehin berufstätigen Fabrikarbeiterinnen auch bürgerliche Frauen zunehmend gezwungen, durch eigene Lohnarbeit zum Lebensunterhalt ihrer Familien beizutragen, ohne dass sie zum einen entsprechende Rechte der Männer erhalten. Zum anderen sind sie auf bestimmte sittlich-schickliche Berufe wie Telefonistin, Krankenschwester, Sekretärin oder Gouvernante beschränkt. Dies wird als doppelter Sekundärpatriarchalismus bezeichnet. Ausdruck findet dies auch in rechtlichen Vorschriften. So sah das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) von 1900 vor, dass nur der Ehemann über die Einkünfte der Familie verfügen durfte. Dieser Passus wurde erst 1957 geändert. Trennung von Arbeit und Haushalt Definition ˘ 1. Phase: Einfacher, ständischer Primärpatriarchalismus Der Mann arbeitet; die Frau versorgt das Haus Phasen der Unterdrückung Männlich Weiblich Produktion Reproduktion Öffentlichkeit Privatheit Kultur Natur Geist Körper Rationalität Emotionalität ˘ Zuschreibung geschlechtsspezifischer Eigenschaften ner fundamentalen Unterschiedlichkeit. Es geht nicht mehr nur um graduelle biologische und anatomische Differenzen, sondern es geht darum, dass Frauen grundsätzlich dem Manne nachgeordnet sind. Dabei werden vor allem im 19. Jahrhundert die männlichen Lebensbereiche (Lohn-, Erwerbsarbeit) zunehmend höher bewertet, und es kommt zu dichotomisch ausgeprägten Begriffshierarchien zwischen männlichen und weiblichen Eigenschaften und Lebensbereichen. UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 114 <?page no="114"?> 115 Die doppelte Vergesellschaftung der Frau Die Frau, so war die Schlussfolgerung im Hannoveraner Ansatz um Regina Becker-Schmidt, ist doppelt vergesellschaftet. Einmal durch die Existenz im Kapitalismus und zum zweiten durch das Geschlechterverhältnis. Aus dieser grundsätzlichen Benachteiligung ergeben sich dann die bekannten Merkmale, die bis heute die Situation vieler Frauen kennzeichnet. Dies drückt sich vor allem im System der Beschäftigung aus. Frauen finden nur in bestimmten, ihren vermuteten Eigenschaften (s.o.) entsprechenden Segmenten eine Arbeit, sie haben geringere Aufstiegschancen als Männer, dafür aber ein höheres Risiko, arbeitslos zu werden. Bei der Frage, wie die Folgen des beschriebenen historischen Prozesses von der Trennung der Sphären der außerhäuslichen Erwerbsarbeit und der unbezahlten Hausarbeit hin zu den ideologischen, hierarchisch beschriebenen Unterschieden zwischen Mann und Frau führen, orientierten sich die Vertreterinnen der marxistisch orientierten Ansätze an den Strukturen der internationalen Arbeitsteilung. So etwa an den Analysen des Nordamerikaners Immanuel Wallerstein, der festgestellt hatte, dass in der kapitalistischen Weltwirtschaft alle Staaten durch ein einziges System internationaler Arbeitsteilung ökonomisch und strukturell verflochten sind. So wie der Kapitalismus ein Weltstrukturmerkmal ist, so ist, folgerten die Frauenforscherinnen der ersten Phase, die Unterdrückung der Frau ein Merkmal des Kapitalismus. Im großen Weltmaßstab und im kleinen der Familie ist eine asymmetrische, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung das vorherrschende Muster. Die Länder der Dritten Welt wurden und werden kolonisiert, Frauen »hausfrauisiert«. Der kleine, weiße, ausgebeutete Mann erhielt im Zuge Frauen sind immer (noch) doppelt belastet Definition 2. Phase: Doppelter Sekundärpatriarchalismus (Räumliche)Trennung von Berufsarbeit und Privatleben durch Marktökonomie Doppelte Vergesellschaftung von Frauen durch Erwerbsarbeit und unbezahlte Hausarbeit (Reproduktionsarbeit) Emotionalisierung der Hausarbeit (Frauen sind liebevoll und fu ̈ rsorglich) Festschreibung biologischer Geschlechtscharaktere Internationale und geschlechtliche Arbeitsteilung | 2.4.7 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 115 <?page no="115"?> 116 Ein Perspektivenwechsel Gegen Ende der 1970er Jahre veränderte sich die zentrale Frage der Frauenforschung. Die erste Phase hatte die in den 1970er Jahren wieder entdeckte marxistische Theorie zu gesamtgesellschaftlichen Analysen vorwiegend ökonomischer Prozesse genutzt. Das war ein notwendiger erster Schritt, um die Vorstellung einer »natürlichen« Differenz von Männern und Frauen zu problematisieren. Nach einigen Jahren traten die marxistischen Studien zur Geschlechterdifferenz in den Hintergrund. Dies aus zwei Gründen: Erstens nahm die Faszination, die die Wiederentdeckung der marxistischen Theorie einige Jahre in der soziologischen Welt entfacht hatte, langsam wieder ab, ohne dass ihr notwendiger Anteil 2.4.8 | Die Familie ist die Kolonie des kleinen weißen Mannes Feminismus und »Die Grünen« des oben beschriebenen historischen Prozesses seine eigene kleine Kolonie: die domestizierte Hausfrau und Familie. Gegenwärtig ist infolge der Debatte um multiple Ungleichheitsstrukturen und Ethnizität die These von der dreifachen Vergesellschaftung von Frauen aufgekommen (Lenz 2009). Aus dieser Verknüpfung von internationaler und geschlechtlicher Arbeitsteilung entstand schließlich das Gegenmodell einer ökologisch-feministischen Gesellschaft, in der Arbeitsteilung und Patriarchat abgeschafft sind. Wissenschaft muss praxisbezogen sein, so die These, sie muss Partei ergreifen für eine friedliche, ökologische Welt, in der die Frauen nicht länger unterdrückt werden. Das war im Übrigen eine der Wurzeln der Partei »Die Grünen«, jedenfalls in ihrer Anfangszeit, in der fundamentalistische Positionen vorherrschten. Definition ˘ In der kapitalistischen Weltwirtschaft sind alle Staaten durch ein einziges System internationaler Arbeitsteilung ökonomisch und strukturell aneinander gekoppelt. Geschlechtlich-asymmetrische Arbeitsteilung ist das vorherrschende Muster und ein strukturelles Prinzip, mit dem sowohl Völker kolonisiert als auch Frauen hausfrauisiert werden. Der kleine weiße Mann erhielt im Zuge kapitalistischer Expansion ebenfalls seine Kolonie, nämlich die domestizierte Hausfrau. Internationale und geschlechtliche Arbeitsteilung UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 116 <?page no="116"?> 117 Die Konstruktion der Wirklichkeit, die das interpretative Programm (siehe Kapitel 2.3) nachvollzieht, wurde nun auf die Untersuchung der alltäglichen Bedingungen von Geschlechtlichkeit angewendet und vor allem die Zuschreibung und Übernahme von Geschlechterrollen minutiös untersucht. Einer breiteren Öffentlichkeit ist dieser gedankliche Ansatz durch das Bestseller-Taschenbuch von Ursula Scheu »Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht« bekannt geworden. Von diesem ersten Schritt aus wurde dann weiter gefragt, welche Bedeutung bipolare Geschlechts- Die Entstehung von Geschlechtlichkeit Was unterscheidet Frauen und Männer? Definition ˘ MAKRO: Gesamtgesellschaftliche Analyse vorwiegend ökonomischer Prozesse und deren institutionelle Absicherung MIKRO: Untersuchung der alltäglichen Bedingungen von Geschlechterverhältnissen: Wie werden Frauen und Männer als solche erkannt? Wie nehmen Frauen und Männer sich selber wahr? Welche Voraussetzungen haben Geschlechtszuschreibungen? Von der Makrobetrachtung zur feministischen Mikrotheorie an gesamtgesellschaftlichen Studien vergessen wurde. Aber es wurde doch in der Breite der soziologischen Forschung, und von der zeitweiligen Konjunktur der marxistischen Studien war kein Teilbereich ausgespart worden, relativ schnell deutlich, dass eine Konzentration allein auf ökonomische Faktoren nicht ausreicht. Zweitens gab es aber auch speziell in der Frauenforschung deutlichen Widerspruch. In der ersten Phase waren die »natürlichen« Unterschiede, eine unterschiedliche biologische Ausstattung von Männern und Frauen gleichsam unterstellt worden. Gegen diese Vorstellung erhob sich vor allem aus handlungstheoretischer Perspektive Widerspruch. Wie kommt es eigentlich zu einer solchen Vorstellung? - wurde gefragt und auch, wieso es im Verlauf der Sozialisation immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Am Ende gibt es nämlich Männer und Frauen. Die klassische Sozialisationsforschung, auch die handlungstheoretisch orientierte, hatte diese Frage bis dahin nicht gestellt, sondern das in der systemtheoretischen Familiensoziologie unterstellte Modell der Kernfamilie (Vater, Mutter, Sohn, Tochter) eher kritiklos übernommen. UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 117 <?page no="117"?> 118 zugehörigkeiten für unser alltägliches Handeln haben. Grundlage jeder Handlung ist, dass Bedeutungen im Interaktionsprozess bekannt sind oder erkannt werden können. Jedenfalls ist dies die Voraussetzung jeder Art des Verstehens. Die Frauenforschung dieser zweiten Forschungsphase hat gezeigt, dass soziale Interaktionen erst in Gang kommen können, wenn die Beteiligten wissen, wen sie vor sich haben, also eine Frau oder einen Mann, was die Verpflichtung einschließt, entweder Mann oder Frau zu sein. Hier spricht zum Beispiel Erving Goffman 1977 vom Arrangement der Geschlechter, während Helga Bilden 1998 vielfache Agenten und Peers im Prozess geschlechtsspezifischer Sozialisation aufzeigt. Das macht immer erneute Anpassungsleistungen notwendig. Entsprechende Studien haben gezeigt, dass dabei für die Identifikation eines Mannes oder einer Frau im Vergleich zu körperlichen Geschlechtsmerkmalen eher »weibliche« und »männliche« Verhaltensweisen wichtig sind, die durch das soziale Umfeld entstehen. Deshalb wurde anstelle des Begriffs Geschlecht von gender gesprochen. Mit diesem Begriff soll der Tatsache, dass Geschlechtlichkeit eine soziale Konstruktion ist, Rechnung getragen werden. Die immer erneute Anpassung im alltäglichen Interaktionsprozess wurde als »doing gender« verstanden. Dieser prozessorientierte Begriff bestimmte für einige Jahre die Forschungslandschaft. Aus zwei Geschlechtern werden viele Eine Hamburger Kollegin beginnt ihre Übersichtsvorlesung zur Entwicklung der Frauen-/ Geschlechterforschung mit der Anrede »Meine Herren und Damen«, was noch als relativ normal gilt, und endet dann aber mit »Auf Wiedersehen, ihr Geschlechter«. Hierin drückt sich ein erneuter Perspektivenwechsel aus, der die aktuellen Debatten bestimmt. Nachdem die Möglichkeiten der handlungstheoretischen Forschungsrichtung ausgereizt waren, wurde erneut nach der Berechtigung der Annahme bipolarer Geschlechtlichkeit gefragt, die auch noch dem gender-Ansatz zugrunde lag. Zentrale Erkenntnis war nun, dass Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern nicht nur das Verhältnis von Männern und Frauen bestimmen, sondern eine heterosexuelle Matrix - wie Judith Butler es nennt - die Normen des Zusammenlebens regelt. Einzelne Studien zum Gefühlshaushalt von Frauen und Männern, zu Homosexualität, inter- und transsexuellen Lebensbedingungen legten Wie viele Geschlechter gibt es eigentlich? 2.4.9 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 118 <?page no="118"?> 119 die Einsicht nahe, dass es nicht zwei, sondern wahrscheinlich viele Geschlechter gibt, und dass in jeder Person weibliche und männliche Elemente zu unterschiedlichen Teilen vorhanden sind. Diese Einsicht führte folgerichtig zu ideologiekritischen Ansätzen, wie sie z.B. von Sandra Harding formuliert wurden: »Aber als nächstes ist es genauso notwendig, von der Konzentration feministischen Denkens und feministischer Politik auf weiße, ökonomisch abgesicherte, heterosexuelle, westliche Feministinnen wegzukommen. Deren Bedürfnisse, Interessen, Wünsche und Visionen sollten nicht länger als Maßstab für feministische Visionen des Menschlichen gesetzt werden und so viel Aufmerksamkeit in der feministischen Literatur genießen. … Die Geschlechterbeziehungen in einer bestimmten Gruppe sind darüber hinaus nicht nur von den Frauen und Männern in dieser Gruppe geprägt, sondern auch davon, wie Frauen und Männer in benachbarten Rassen, Klassen und Kulturen definiert werden.« (Sandra Harding: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu. Frankfurt/ M. - New York 1994, S. 25 f.) Nach gut zwanzig Jahren war nun aus der Frauenforschung Geschlechterforschung geworden. In vielfältigen Studien werden z.Zt. multiple Identitäten und Gefühlsnormen untersucht. Und dabei ist die Bipolarität Frau - Mann nicht länger der unreflektierte Ausgangspunkt. Forschungsgegenstand sind die verschiedenen Dimensionen der Machtbeziehungen, die Verflechtungen von kulturellen Definition ˘ 1. Bipolare Geschlechtszugehörigkeit ist für alltägliches Handeln omnirelevant. Die meisten sozialen Interaktionen kommen erst dann in Gang, wenn wir wissen, wen wir vor uns haben. (Verpflichtung, entweder Mann oder Frau zu sein) 2. Gesellschaftlicher Konsens über dichotome Geschlechtlichkeit führt zu Anpassungsleistungen (Transsexuellen-Studie). 3. Wichtiger für die Geschlechtsidentifikation sind im Vergleich zu körperlichen Genitalien »weibliche« und »männliche« Verhaltensweisen (= kulturelle Genitalien). 4. Geschlecht wird im alltäglichen Interaktionsprozess permanent hergestellt (doing gender). Fazit: Geschlechtlichkeit ist eine soziale Konstruktion und kann nicht simpel auf biologische Unterschiede zurückgeführt werden. Geschlecht als soziale Konstruktion Aus Frauenforschung wird Geschlechterforschung UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 119 <?page no="119"?> 120 Infoteil Die internationale Entwicklung behandelt Ilona Ostner in ihrem Aufsatz Soziale Ungleichheit, Ressentiment und Frauenbewegung. Eine unendliche Geschichte im Sonderheft 38/ 1998 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie zum Thema: Die Diagnosefähigkeit der Soziologie (Hrsg. von J. Friedrichs et al.) Opladen: Westdeutscher Verlag, 1998, S. 383-403. Der ersten Phase der Frauen-/ Geschlechterforschung sind noch am ehesten Publikationen zuzuordnen. Hier seien drei Bücher genannt: Beck-Gernsheim, Elisabeth: Der geschlechtsspezifische Arbeitsmarkt, Frankfurt a. M., New York: Campus Verlag, 1981. (2. Aufl.). Über die Schwierigkeit, »normal« zu sein Leitbildern und Diskursen, das jeweilige soziale Geschlecht als Teil gesellschaftlicher Machtpraktiken, die sozial, symbolisch und körperlich mit der Existenz der Geschlechter verbunden sind. Diese Perspektive hat sich als sehr innovativ erwiesen nicht nur für den engen Bereich der Geschlechterforschung, sondern für die soziologische Forschung allgemein. Elisabeth Beck-Gernsheim, die seit Mitte der 1970er Jahre zur Frauen- und dann zur Geschlechterforschung viele Bücher und Aufsätze geschrieben hat, publizierte im Jahr 2000 das Buch »Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften«, in dem sie zeigt, wie in globalen, postnationalen Gesellschaften (siehe hierzu auch Kapitel 3.2) die Menschen gezwungen sind, ihre nationalen und kulturellen Identitäten neu zu formulieren. Menschen sind in diesem Ansatz nicht mehr, was sie sind, sondern was der andere nicht ist, und dem anderen geht es ebenso. Beck-Gernsheim zeigt, wie »normale« Menschen im alltäglichen Leben ständig mit Umdefinitionen, Neukonstruktionen, Erfindungen und Neuerfindungen beschäftigt sind. Nationale, kulturelle und ethnische Identitäten erweisen sich so als gesellschaftlich bedingte Konstruktionen. Das heißt nicht, dass sie unnütz oder unwirksam sind, sondern nur, dass die naive Annahme einer Identität als Deutscher, Jude, Mann oder Frau der Soziologie den Blick verstellt für die Mechanismen politischer, kultureller und sozialer Auseinandersetzungen. Lernkontrollfragen Was wird unter doppeltem Sekundärpatriarchalismus verstanden? Wie unterscheiden sich sex und gender? Welche Argumente können gegen die Annahme bipolarer Geschlechtlichkeit vorgebracht werden? 1 2 3 Geschlechterbeziehungen sind Machtbeziehungen UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 120 <?page no="120"?> 121 Die Zusammenführung von System- und Handlungstheorie Norbert Elias: Soziale Prozesse und Figurationen Als die Stadt Frankfurt am Main 1977 zum ersten Mal den Theodor- W.-Adorno-Preis vergab, hieß der Preisträger Norbert Elias. Das war auf den ersten Blick eine Überraschung, denn der so Geehrte gehörte keineswegs zur Frankfurter Schule. Aber schnell stellte sich heraus, dass mit Norbert Elias ein Wissenschaftler ausgezeichnet wurde, der - wie der Kreis um Adorno und Horkheimer seit den 1920er Jahren - an der Frage gearbeitet hat, wie die Entstehung der Moderne zu erklären sei, wie die langfristigen Veränderungen im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen einzuschätzen seien und ob und wie man den sozialen und psychischen Zwängen der Moderne in eine bessere Zukunft entkommen könne. 1. Adorno-Preis 1977 Infoteil Mies, Maria: Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung, Zürich: Rotpunktverlag, 1996 (5. Aufl.). Für die zweite, die mikro- und handlungstheoretische Perspektive sei hingewiesen auf den Ansatz von Regine Gildemeister: Die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit, der in dem Sammelband von Sabine Hark (Hrsg.): Dis/ Kontinuitäten, S. 51-68, Opladen: VS Verlag, 2007 (2., akt. u. erw. Auflage). Zum Übergang von der zweiten zur dritten Phase finden sich eine Reihe interessanter Aufsätze in Klein, Gabriele, und Liebsch, Katharina (Hg.): Zivilisierung des weiblichen Ich, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997. Einen guten Überblick über die Debatten zur aktuellsten Phase der Frauen- und Geschlechterforschung liefert das von Ruth Becker und Beate Kortendiek, 2010 in dritter Auflage herausgegebene Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden: VS Verlag. Insbesondere die durch die Intersectionality Studies eingeschlagene Erweiterung der Geschlechterforschung stellen Gabriele Winker und Nina Degele in ihrem Band Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld: Transcript Verlag vor. Paula-Irene Villa hat nach Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper. Opladen (3. Aufl. 2006) inzwischen auch eine lesenswerte neuaufgelegte Einführung in das Werk von Judith Butler, einer Kultfigur des aktuellen Feminismus, veröffentlicht: Judith Butler, Frankfurt/ Main 2011. Verschiedene Werke von Judith Butler zu Geschlechterrollen und sexueller Identität sind mittlerweile in deutscher Übersetzung erhältlich. Ihre Studie zur Konstruktion sexueller Identität Das Unbehagen der Geschlechter erschien 2003 beim Suhrkamp Verlag. | 2.5.1 | 2.5 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 121 <?page no="121"?> 122 Biographisches Geboren am 22.6.1897 in Breslau, als einziges Kind jüdischer Eltern, studiert Elias nach dem 1. Weltkrieg zunächst Medizin, wechselt dann zur Philosophie und promoviert bei dem Neukantianer Hönigswald 1924 mit der Dissertationsschrift »Idee und Individuum. Eine kritische Untersuchung zum Problem der Geschichte«. Ab 1925 lebt er in Heidelberg, wo er zeitweise gemeinsam mit Talcott Parsons (siehe Kapitel 2.1) Alfred Webers kultursoziologische Seminare besucht. Und er arbeitet mit dem etwa gleichaltrigen Karl Mannheim zusammen. Als dieser 1930 den Lehrstuhl für Soziologie in Frankfurt übernimmt, wird Elias sein Assistent. Das Institut für Soziologie ist im Haus des »Instituts für Sozialforschung« untergebracht, dessen Direktor Max Horkheimer gerade geworden war. Elias schreibt bei Mannheim seine Habilitationsschrift »Der höfische Mensch«, die erst 1969 in einer überarbeiteten Form als »Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie« erscheint. Das Verfahren der Habilitation, damals wie heute die wichtigste Qualifikation für deutsche Akademiker, die an der Universität unterrichten wollen, kann Elias nicht zum Abschluss bringen: Nach der Machtergreifung am 30.1.1933 muss Elias - wie viele seiner sozialwissenschaftlichen Kollegen - vor den Nazis ins Exil flüchten. Er geht zunächst nach Paris, dann im Herbst 1935 nach England. In den folgenden zwei Jahren schreibt er im traditionsreichen Lesesaal des Britischen Museums sein klassisches Werk »Über den Prozess der Zivilisation«. Ein Exilverlag in der Schweiz druckt 1939 eine kleine Auflage des Buches, das allerdings lange Zeit sowohl in der angelsächsischen Welt, da auf deutsch geschrieben, als auch auf dem europäischen Kontinent, da von einem deutschen Juden geschrieben, nur wenigen bekannt wird. Elias erhält dann nach bitteren Jahren des Exils schließlich 1954 - als 57jähriger - eine Dozentenstelle am neugegründeten Department of Sociology der University of Leicester, wo er bis 1962 unterrichtet. Viele der heutigen britischen Soziologieprofessoren haben in jener Zeit bei ihm studiert, u.a. Martin Albrow, Eric Dunning und Anthony Giddens. Nach einem zweijährigen Gastaufenthalt an der Universität von Ghana kehrt Elias 1965 das erste Mal seit seiner Flucht nach Deutschland zurück: als Gastprofessor an die Universität Münster. Von der Philosophie zur Soziologie Untersuchungen zum höfischen Leben Ein Klassiker entsteht im Exil 2.5.2 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 122 <?page no="122"?> 123 Aber auch zu dem damaligen Zeitpunkt ist »Über den Prozess der Zivilisation« weitgehend unbekannt, ein Geheimtipp unter Kennern. Auch eine zweite Auflage 1969 ändert daran nichts. Das liegt nicht nur an dem prohibitiv hohen Preis der Leinenausgabe, sondern vor allem daran, dass der Zeitpunkt sehr ungünstig ist. In Westdeutschland sind die Sozialwissenschaften - und nicht nur sie - zu dieser Zeit mit einer intensiven Marx-Rezeption beschäftigt. Erst als sich die Erklärungskraft der historisch-materialistischen Analysen als weit geringer erweist als in der ersten Euphorie geglaubt, kann »Der Prozess der Zivilisation« ins Blickfeld und in das Bewusstsein der Sozialwissenschaftler rücken. Als 1976 eine Taschenbuchausgabe erscheint, werden binnen weniger Monate über 20.000 Exemplare verkauft. Der Verkaufserfolg des Buches hält bis heute an und hat sich in den mehr als zwanzig Sprachen, in die das Buch mittlerweile übersetzt worden ist, fortgesetzt. In den Sozialwissenschaften ist es der Bestseller überhaupt. Inzwischen liegt seit 1993 als Band 3 der Gesammelten Schriften eine kritisch durchgesehene Ausgabe vor. Das Œuvre von Elias ist weit gespannt: von wissenssoziologischen Themen zu Fragen der Weltgesellschaft, von Analysen der deutschen Katastrophen zu kunstsoziologischen Schriften, von Untersuchungen der Gesellschaft am Hofe Ludwig XIV. bis zu urban studies. Aber die Kernthesen all dieser Arbeiten hat er in den 1930er Jahren in »Über den Prozess der Zivilisation« entwickelt. Psychogenese Der erste Band von »Über den Prozess der Zivilisation« beschäftigt sich im Wesentlichen mit dem empirischen Material von Manieren-Büchern. Es gibt z.B. ein Kapitel über den Gebrauch der Gabel Lange Zeit ein Geheimtipp Wichtigste Veröffentlichungen 1937 Über den Prozess der Zivilisation, 2 Bände (Neuauflage 1997) 1969 Die höfische Gesellschaft (Neuauflage 2002) 1983 Engagement und Distanzierung 1987 Die Gesellschaft der Individuen (Neuauflage 2001) 1989 Studien über die Deutschen (Neuauflage 2005) 1990 Etablierte und Außenseiter (englische Erstausgabe 1963) (Neuauflage 2002) Über die Veränderung des menschlichen Verhaltens | 2.5.3 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 123 <?page no="123"?> 124 beim Essen. Elias geht der Frage nach, warum es uns heute unzivilisiert, unerzogen, barbarisch und kannibalisch erschiene, wenn wir am Tisch sitzen und die Spaghetti mit den Fingern aus dem Topf herausnehmen, aufrollen und dann essen würden. »Die Gabel«, so schreibt Elias, »ist nichts anderes als die Inkarnation eines bestimmten Affekt- und Peinlichkeitsstandards. Als Hintergrund der Wandlung, die sich in der Esstechnik vom Mittelalter zur Neuzeit hin vollzieht, taucht immer wieder die gleiche Erscheinung auf, die auch in der Analyse anderer Inkarnate dieser Art zutage trat: eine Wandlung des Trieb- und Affekthaushaltes.« (I, 171) Der langfristige Prozess von der öffentlichen Kontrolle hin zur Selbstkontrolle ist auch als Prozess der Umwandlung von Fremdzwängen zu Selbstzwängen zu verstehen. Elias fasst zusammen: »Auf diese Weise vollzieht sich also der geschichtlich-gesellschaftliche Prozess von Jahrhunderten, in dessen Verlauf der Standard der Scham- und Peinlichkeitsgefühle langsam vorrückt, in dem einzelnen Menschen in abgekürzter Form von neuem. Wenn man darauf aus wäre, wiederkehrende Prozesse als Gesetz auszudrücken, könnte man in Parallele zu dem biogenetischen von einem soziogenetischen und psychogenetischen Grundgesetz sprechen.« (I, 174) Aus dem vorstehenden Zitat wird eine der Grundregeln deutlich, nach denen Elias vorgeht. Gesellschaftliche Regelungen und individuelle Handlungsweisen, ihre Inhalte und Formen sowie deren Veränderungen lassen sich nur dann adäquat untersuchen und verstehen, wenn die Langfristigkeit des »geschichtlich-gesellschaftlichen Prozesses von Jahrhunderten« zentral wird. Dabei handelt es sich nicht lediglich um eine methodische Grundregel, denn das würde die Einsicht in die Notwendigkeit der Untersuchung langfristiger gesellschaftlicher Veränderungen fälschlicherweise auf nur einen, sicherlich vorhandenen, Aspekt begrenzen. Es ist die Feststellung eines empirischen Sachverhaltes und gleichzeitig auch eine theoretische Aussage. Die Veränderung des menschlichen Verhaltens der Empfindungen und Affekte wird als ein Teil des Prozesses der Zivilisation verstanden. Zivilisation ist somit zunächst die langfristige Umwandlung der Außenzwängen in Innenzwänge. Das Interessante an dieser Theorie ist, dass Elias diese psychogenetischen Veränderungen in Beziehung setzt zu den soziogenetischen Veränderungen, insbesondere zu dem Staatenbildungsprozess in Europa. Dass man langfristige Entwicklungen in allgemeine Prozessmo- Von der Fremdzur Selbstkontrolle Im Mittelpunkt: langfristige Prozesse UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 124 <?page no="124"?> 125 delle zusammenfassen kann, ist eine in der Soziologie durchaus nicht immer geteilte Position. Gleiches gilt für die darin enthaltene Feststellung, dass Veränderungen der Gesellschaft das Normale sind und nicht etwa Abweichungen von der gesellschaftlichen Norm darstellen, wie es strukturfunktionale Theorien des sozialen Wandels behaupten. Nicht ohne Ironie und Ärger schreibt Elias in der Einleitung der zweiten Auflage von 1969, dass die Soziologie sich den Irrweg der nordamerikanischen Systemtheorie strukturfunktionaler Ausprägung hätte ersparen können, wenn man seine Ausführungen aus den 1930er Jahren rechtzeitig zur Kenntnis genommen hätte. Die Veränderung des menschlichen Verhaltens, der Empfindungen und Affekte wird von Elias als ein Teil des Prozesses der Zivilisation dargestellt. Es ist ein Prozess, der nicht nach einem rationalen Plan zielgerichtet verläuft. Dessen bisherige Struktur und Richtung kann aber erforscht, dargestellt und für die Analyse und Diagnose gegenwärtiger und die Prognose zukünftiger Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung genutzt werden. Der Prozess der Zivilisation orientiert sich also nicht an einem festgelegten, statischen Zivilisationsbegriff. Er ist, um an Max Webers Forschungsmethode anzuknüpfen, kein Idealtypus. Elias beschreibt Zivilisation vielmehr mit der prozesshaften Ausbildung individueller Selbstregulierung trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse. Nicht die Zivilisation ist das eigentlich fest Bestehende, sondern der sich verändernde Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen individueller Selbstregulierungen im Zusammenleben mit anderen Menschen. Die Aufdeckung dieses Prozesses und das Modell langfristiger Veränderung der Affekte und Triebe wäre allein schon eine Pionier- Definition ˘ Betrachtung des langfristigen Zivilisationsprozesses als ungeplanter, unendlicher und offener Prozess, in dessen Verlauf FR EMDZWÄNGE ZU SELBST- ZWÄNGEN werden. SELBSTZWANG = Standard an SCHAM- UND PEIN LICHKEITSGEFÜH LEN Quellen: Etikettebücher, Manierenschriften, Bilddokumente, literarische Erzeugnisse der feudalen französischen Gesellschaft der frühen Neuzeit und des Absolutismus. Empirischtheoretische Vorgehensweise Veränderungen in Gesellschaften sind normal UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 125 <?page no="125"?> 126 tat gewesen und müsste als große und innovative Leistung in der Geschichte der Soziologie eingestuft werden. Es wird deutlich, dass bei aller Bedeutung des dargestellten Modells des Zivilisationsprozesses die eigentliche Leistung von Elias darin besteht, dass er mit seiner Prozesstheorie die langfristigen Verhaltensänderungen der einzelnen Menschen in Beziehung zu den langfristigen Veränderungen der Gesellschaft bringt. Dabei reicht schon der Begriff »Beziehung« nicht aus, um den von Elias dargestellten Tatbestand angemessen zu bezeichnen. Vielmehr müsste man, um genauer zu formulieren, von einer Verflechtung, einer Figuration sprechen. Das Wort Beziehung verleitet nämlich dazu, voreilig einseitige Bezüge zu vermuten, hierarchische oder zeitliche Abfolgen im Sinne von »erstens - zweitens« oder »wichtig - weniger wichtig« zu unterstellen. Es ist jedoch so, dass die Veränderungen der Verhaltensstandards der einzelnen Menschen mit bestimmten Veränderungen im Aufbau der Menschengesellschaft verflochten sind - und umgekehrt. Dies macht den einen Teil des zweiten Bandes von »Über den Prozess der Zivilisation« aus, in dem die Soziogenese von stabilen Zentralorganen in Form von Gewalt- und Steuermonopolen dargestellt und erörtert wird. Soziogenese Bei der Entstehung von stabilen Zentralorganen handelt es sich um einen Prozess der sozioökonomischen Funktionsteilung und der Staatenbildung, den man auch mit den Begriffen »Konkurrenz« und »Interdependenz« kennzeichnen könnte. Die Entwicklung der mittelalterlichen Feudalgesellschaft zu den europäischen absolutistischen Staaten ist ein Ausschnitt aus dem langfristig strukturierten, ungeplanten Prozess der Zivilisation. Wenn Elias bei seiner Analyse der abendländischen Staatenbildung bei den mitteleuropäischen Feudalgesellschaften des frühen Mittelalters beginnt, darf man dies nicht so verstehen, als sei dies der Anfang der Entwicklung, gewissermaßen der Nullpunkt. Auch dieser Entwicklungsschritt hat Vorläufer: Es fällt deshalb schwer, einen Anfang festzulegen. Die frühe Phase der Entwicklung ist gegenüber späteren europäischen Entwicklungsphasen durch die Dominanz der Naturalwirtschaft, den geringen Grad des Geldgebrauchs, der Handelsverflechtungen, der Arbeitsteilung, einen geringen Grad der Staatsbildung und der Pazifizierung bestimmt, wobei Letztere vor allem auf den Vom Raubrittertum zur staatlichen Ordnung 2.5.4 | Verknüpfung von individuellem und gesellschaftlichem Handeln UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 126 <?page no="126"?> 127 geringen Grad der Monopolisierung von psychischer Gewalt und ein entsprechend hohes Maß an körperlicher Bedrohung und beständiger Unsicherheit des Einzelnen zurückzuführen ist. In dieser historischen Situation ist der König oder ein ihm vergleichbarer Zentralherr, entsprechend seiner eingeschränkten militärischen und ökonomischen Stärke, den Territorialherren nicht überlegen. Wer ständig bedroht ist, kann nicht langfristig planen; wer ständig kämpfen muss, für den ist eine Zivilisierung der Angriffslust gefährlich oder sogar tödlich. In dieser Phase der Entwicklung bestimmen Fremdzwänge das Leben der Menschen. Aber gerade aus der Verpflichtung zum Kampf, aus der Konkurrenz mit anderen, ergibt sich eine Dynamik der Entwicklung, die von den einzelnen Beteiligten nicht planvoll gesteuert werden kann, sondern in die sie eingebunden, mit der sie verflochten sind. Die Entwicklungsdynamik, die der Konkurrenzsituation eigen ist, kann nur deshalb ihre langfristige Wirkung erzielen, weil die beteiligten Menschen interdependent sind. Sie können nicht ohne die anderen Menschen denken und handeln. Der langfristige, ungeplante soziale Prozess der Staatsbildung in Europa führt zunächst zu einer Verkleinerung der Zahl der Konkurrenten, dann zur Monopolstellung einzelner Fürsten und schließlich zur Herausbildung des absolutistischen Staates mit der Monopolisierung der physischen Gewalt durch die Institutionen des Königtums. Der Prozess der Staatsbildung ist verflochten mit den Prozessen der sozioökonomischen Funktionsteilung, dem Übergang von der Naturalzur Geldwirtschaft, der Zunahme der Arbeitsteilung, der Handelsverflechtungen, der Verstädterung und somit dem sozialen Aufstieg des Bürgertums, des dritten Standes. Aber er ist auch verflochten mit dem anderen Strang des Zivilisationsprozesses, der Veränderung der psychischen Strukturen der beteiligten Menschen. Von nun an muss man planen statt kämpfen. Das Gewaltmonopol des Staates erlaubt Langsicht und entsprechend lange Handlungsketten. Andererseits ermöglicht die Zügelung der Affekte eine Erweiterung der Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Die höfischen Menschen sind die ersten, die ein Verhalten praktizieren, das auf Langsicht, Kalkül und Selbstbeherrschung basiert. Sie sind, so gesehen, die ersten »modernen« Menschen einer neuen Zeit. Die Bedeutung des staatlichen Gewaltmonopols UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 127 <?page no="127"?> 128 Elias’ Bedeutung für die Soziologie Langfristige Veränderungen im Verhalten einzelner Menschen und der gesellschaftlichen Figurationen, die die Menschen miteinander bilden, also das, was Elias den Prozess der Zivilisation nennt, erhalten ihre Antriebe aus der Konkurrenz interdependenter Menschen und Menschengruppen um Macht. Elias schreibt: »Die Angst vor dem Verlust oder auch nur vor der Minderung des gesellschaftlichen Prestiges ist einer der stärksten Motoren zur Umwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge.« (II, 366) Es ist also die Interdependenz der Menschen, die den Zivilisationsprozess bestimmt und ihm, wie Elias feststellt, »eine Ordnung von ganz spezifischer Art« aufzwingt. Es ist »eine Ordnung, die zwingender und stärker ist, als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden. Es ist diese Verflechtungsordnung, die den Gang des geschichtlichen Wandels bestimmt; sie ist es, die dem Prozess der Zivilisation zugrunde liegt« (II, 314) und damit, so muss hinzugefügt werden, allen gesellschaftlichen Veränderungen. Zentral: die Verflechtungen der Menschen untereinander 2.5.5 | Definition ˘ Differenzierungs- und Integrationsprozesse auf ökonomischer, demographischer, politischer und sozialer Ebene: Bevölkerungswachstum; Arbeitsteilung und Konkurrenz; Konzentration, Ausscheidungskämpfe und Monopolisierung innerhalb der Aristokratie; Herausbildung des staatlichen GEWALT- UND STEU ERMONOPOLS; Herausbildung des wachsenden Verwaltungsapparates; Entstehung neuer FIGU RATION EN und Abhängigkeiten (VERGESELLSCHAF- TUNG DES H ERRSCHAFTSMONOPOLS); Machtkämpfe zwischen altem Kriegeradel und aufsteigendem Bürgertum um ökonomische Ressourcen, Prestige und Status; Angleichung der Machtposition beider Stände und dadurch bedingt: exponierte Machtchancen/ -stellung des absolutistischen Königs (KÖNIGSMECHA- NISMUS); Der absolutistische Hof wird zum Schauplatz ständiger Machtkämpfe; für die einzelnen Höflinge erhält die Perfektionierung der eigenen Trieb- und Affektkontrolle existentielle Bedeutung. Soziogenese (Staatenbildungsprozess) UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 128 <?page no="128"?> 129 Hieraus ergeben sich für die Soziologie Folgerungen, von denen die wichtigste die ist, dass im Mittelpunkt aller Forschung Menschen und die gesellschaftlichen Verflechtungen, die sie miteinander bilden, stehen müssen: »Die ›Umstände‹, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von ›außen‹ an den Menschen herankommt; die ›Umstände‹, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.« (II, 377) Elias’ Bedeutung für die Soziologie im engeren und die Sozialwissenschaften im weiteren Sinne liegt zunächst darin, dass er einen Weg weist zu inhaltsreicheren und objektadäquateren Begriffen und damit die Möglichkeit eröffnet, auf einer höheren Syntheseebene zu einem besseren Verständnis der Menschengesellschaften zu gelangen. Wenn er nicht mehr vom Monopolkapitalismus und den ihm unterstellten Mechanismen, sondern vom Prozess der Monopolisierung spricht, erreicht er ein höheres Syntheseniveau, das frühere Erklärungen einerseits einschließt, sie andererseits aber ausweitet und gleichzeitig überholt. Weiterhin bricht Elias mit der traditionellen soziologischen Begriffsbildung, die gleichzeitig Ausdruck bestimmter Vorstellungen von den Gesellschaften ist, die Menschen miteinander bilden. Wobei das herausragende Merkmal ist, dass Elias keine begrifflichen Unterschiede zwischen Individuum und Gesellschaft macht. Er bricht mit der lang gehegten Vorstellung, es gebe »die Gesellschaft« und »das selbstständige Individuum«. Für seine 1987 erschienenen Untersuchungen über »Die Gesellschaft der Individuen« bedarf es deshalb auch nicht länger des Unterschiedes zwischen einer strukturfunktionalen und einer handlungstheoretischen Ebene. Es gibt mittlerweile keinen Bereich mehr, in dem nicht versucht wird, mit Hilfe der Zivilisationstheorie soziologische Forschungsfragen zu bearbeiten und zu beantworten. Elias’ Theorie gehört weltweit zum festen Repertoire der Soziologie, in den 1990er Jahren mehr als je zuvor. Das hat auch ein wenig damit zu tun, dass nach dem Tod von Elias seine Theorie nun kanonisiert werden kann, ohne dass länger die Gefahr besteht, vom Urheber öffentlich korrigiert zu werden. Ganz allgemein ist es wohl die nachdrückliche Orientierung an gesellschaftlichen Prozessen, die die eigentliche Anziehungskraft dieser Theorie vor allem auf jüngere Sozialwissenschaftler ausübt. »Die Zivilisation, sie ist noch nicht zu Ende« steht auf dem Titelblatt der ersten und zweiten Auflage. Und ebenso lautet der letzte Satz am Ende des zweiten Bandes. Und das heißt: Die Es gibt keine Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 129 <?page no="129"?> 130 Zukunft ist offen, die der Individuen und die der Gesellschaften, die sie miteinander bilden. Nichts ist endgültig und festgelegt. In diesem Punkt unterscheidet sich Elias von Vorgängern und Zeitgenossen. Georg Simmel beklagte die »Tragödie der Kultur«, Max Weber sah sich und die Gesellschaft in einem »stahlharten Gehäuse« gefangen und Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatte der Holocaust die Worte genommen. Die Zivilisationstheorie eröffnet uns eine Chance, und darin liegt - neben wissenschaftlichen Gründen - gewiss auch die Attraktivität der Prozesstheorie begründet: Sie lässt die Hoffnung, verändernd in den Lauf der Geschichte einzugreifen. Die Untersuchungen von Elias haben auch Kritik hervorgerufen. Diese bezieht sich u.a. darauf, dass die Konzentration auf die historischen Phasen vor dem Kapitalismus die Hauptgebiete des soziologischen Interesse seit Beginn des 19. Jahrhunderts vernachlässige. Diese Kritik ist in der Beschreibung des Tatbestandes korrekt, trifft aber nicht den Kern der Absichten des Autors. Wenn Elias die Aristokratie des absolutistischen Staates in den Mittelpunkt rückt, geschieht dies als eine bewusste Dramaturgie der Analyse. Kritische Einwände Zusammenfassung ˘ Entwicklungsgeschichtliche Synthese der Genese psychischer und sozialer Strukturen; Herausstellung der wechselseitigen Abhängigkeit (Interdependenz) einzelner Menschen, sozialer Gruppen und Schichten als grundlegendes Merkmal gesellschaftlicher Entwicklung; Nachweis von komplexen und langen Interdependenzketten als Ergebnis und gleichsam auch weitere Ursache der Verlagerung von Fremdzur Selbstkontrolle; Gesellschaftliche Entwicklung (= Zunahme der Differenzierung und Integration) verläuft ungeplant, weist aber dennoch eine im Nachhinein erkennbare Struktur und Richtung auf; Neubestimmung des Verhältnisses von Mensch und Gesellschaft durch den Figurationsbegriff: Einzelne, handelnde Menschen sind der Gesellschaft nicht gegenübergestellt; sie sind vielmehr in interdependente Verflechtungszusammenhänge (Figurationen) eingebunden. Soziologische Analyse hat die Bildung und Veränderung von Figurationen als langfristigen Prozess zum Thema. Soziologische Leistung und Ergebnisse Die Zukunft ist offen UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 130 <?page no="130"?> 131 Analyse gegenwärtiger Gesellschaften Indem Elias der immanenten Struktur einer zurückliegenden Epoche nachspürt, entfernt er sich ein wenig von den aktuellen politischen Auseinandersetzungen. Wenn er der berufsbürgerlichen Gesellschaft das zivilisatorische und kulturelle Gepräge der höfischen Gesellschaft gegenüberstellt, will er zugleich auch einen Zugang zu einem besseren Verständnis gegenwärtig existierender Kulturen und zivilisatorischer Formen des Zusammenlebens schaffen. Durch den Verzicht auf den direkten Zugriff auf aktuelle Entwicklungen wird der unvorbereitete Leser nicht unmittelbar angesprochen. Das ist ein gewichtiger Unterschied zu manchen Publikationen Gleichaltriger, wie z.B. Herbert Marcuse, der sich ebenfalls mit Problemen von Kultur und Gesellschaft, aber zentral im Kapitalismus, beschäftigte. Obwohl Elias bis in die 1980er Jahre zeitgenössische Probleme umging, bedeutet dies keineswegs, dass seine empirischen und theoretischen Modelle nicht geeignet wären, diese zu erklären oder Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Mit seinen Büchern »Humana conditio« und »Studien über die Deutschen« hat er gezeigt, dass er durchaus in der Lage ist, seine langfristigen Analysen aus vergangenen Epochen in aktuelle Probleme der Weltpolitik zu verlängern. Auch die Untersuchung, die unter dem Titel »Etablierte und Außenseiter« veröffentlicht worden ist, zeigt deutlich, dass die ambivalenten Spannungsverhältnisse zwischen verschiedenen mächtigen Gruppen und Personen sich nicht nur am Hofe Ludwig XIV., sondern auch zwischen mächtigeren, etablierten und machtschwächeren Einwohnergruppen nachweisen lassen. Es gibt inzwischen zahlreiche Studien, die langfristige Entwicklungen und aktuelle Situationen mit dem theoretisch-empirischen Werkzeug untersuchen, das Elias vorgeschlagen und vorgeführt hat. Dabei geht es nicht mehr nur um Menschen der Oberschicht. Der niederländische Soziologe Johan Goudsblom z.B. hat die Entwicklung von Fremd- und Selbstkontrolle der Menschen im Umgang mit Feuer untersucht. Da in Agrarwie auch in Industriegesellschaften Arbeit mit dem Feuer zumeist zu den Aufgaben der unteren sozialen Schichten gehört, widmet sich dieses Buch der Rolle der Bauern und Arbeiter im Prozess der Zivilisation. Da die Entwicklung der Feuerkontrollen sich in allen Teilen der bewohnten Welt vollzogen hat, wird in »Feuer und Zivilisation« nicht nur - wie bei Elias - der westeuropäische Raum betrachtet, sondern eine globale Perspektive gewählt. Beschäftigung mit heutigen Problemen Der Zivilisationsprozess am Beispiel der Kontrolle des Feuers | 2.5.6 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 131 <?page no="131"?> 132 Pierre Bourdieu: Habitus und sozialer Raum Prozess und Figuration sind die Eckpunkte des theoretisch-empirischen Entwurfes von Elias. Mit ihnen lässt sich das Gewordensein bestimmter gesellschaftlicher Gegebenheiten gut untersuchen und mit der Kenntnis der bisherigen Entwicklung über mögliche Varianten der Zukunft nachdenken. Auch lassen sich Einsichten über die Binnenstruktur von Gesellschaften gewinnen, was bei Elias aber nicht im Vordergrund steht. Dies gelingt besser mit dem Begriffspaar Habitus und Sozialer Raum, die der französische Soziologe Pierre Bourdieu entwickelt hat. Er betrachtet gewissermaßen die andere Seite der Medaille. Die Verbindung zu Elias hat er mehrfach betont, unter anderem im Vorwort seines ersten großen Buches »Die feinen Unterschiede«. Dort und in Fernsehinterviews hat er festgehalten, er habe von keinem zeitgenössischen Autor so viel gelernt wie von Elias. Biographisches Pierre Bourdieu wurde am 1. August 1930 in einer bürgerlichen Familie in Deguin, einem Dorf in den Pyrenäen, geboren, besuchte das Gymnasium und bestand nach einem Studium an der Sorbonne die Aufnahmeprüfung an der renommierten Ecole Normale Supérieur. Die Grandes Ecoles bilden nach wie vor die wissenschaftliche und geistige Führungsschicht in Frankreich aus. Ob Konservativer oder Kommunist, die Parteienführer kennen sich aus gemeinsamen Studienzeiten. Einer der wenigen Spitzenpolitiker Frankreichs, die nicht diesen Weg genommen haben, ist Jacques Delors, der langjährige Präsident der Europäischen Union. Von 1955 bis 1957 ist Bourdieu Gymnasiallehrer, eine für ENS-Absolventen unvermeidliche Position, wenn sie Hochschullehrer werden wollen. 1958 beginnt er mit Forschungsarbeiten in Algerien, wird 1964 Professor an einer Forschungseinrichtung und nach einigen weiteren Kommerzschritten Professor auf Lebenszeit an einer überaus prestigeträchtigen französischen Bildungseinrichtung, dem Collège de France. Pierre Bourdieu starb am 23.01.2002. 2.5.8 | Eine französische Biographie Professor am Collège de France 2.5.7 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 132 <?page no="132"?> 133 An der französischen Politik nimmt er als Intellektueller regen Anteil. Die Rolle der Intellektuellen in Frankreich unterscheidet sich von derjenigen in Deutschland. Paris ist unbestrittenes Zentrum des Landes - und das seit dem absolutistischen König Ludwig XIV. und folgende. So haben Soziologen immer auch an den öffentlichen Debatten einen wichtigen Anteil, das war schon bei Auguste Comte und Emile Durkheim so. Ein differenzierter Klassenbegriff Bourdieu ist ein linker Intellektueller, jedenfalls was seine kritische Position, aber auch seine Anknüpfung an Karl Marx betrifft. Im Rückgriff auf dessen Klassentheorie untersucht Bourdieu Gründe und Strukturen für soziale Ungleichheit. Von Marx übernimmt er zunächst das Unterscheidungsmerkmal der zwei antagonistischen Klassen, widergespiegelt in den materiellen Eigentumsverhältnissen. Denn Klassen sind definiert durch ihre Stellung im Produktionsprozess. Aber Bourdieu macht auch Gebrauch von Max Webers Unterscheidung zwischen Klasse und Stand (siehe Kapitel 3.1). Mit Stand bezeichnet er spezifische Formen der Lebensführung, die von der Klassenlage relativ unabhängig sind und auch auf der Wertschätzung sozialer Akteure untereinander beruhen. Aus diesen beiden Vorgaben entwickelt Bourdieu einen differenzierten Kapitalbegriff, der neben ökonomischem auch soziales und kulturelles Kapital kennt. Ganz grob lassen sich die Kapital- »Sorten« Untersuchungen zur sozialen Ungleichheit Der Kapitalbegriff wird differenziert Wichtigste Veröffentlichungen in deutschsprachigen Ausgaben 1972 Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft 1974 Zur Soziologie der symbolischen Formen 1979 Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft 1980 Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft 1989 Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung der Intellektuellen 1992 Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zur Politik und Kultur 1997 Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft | 2.5.9 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 133 <?page no="133"?> 134 wie folgt unterscheiden. Das ökonomische Kapital umfasst die materiellen Besitztümer, das kulturelle Kapital die erworbenen Erziehungsleistungen und das soziale Kapital beschreibt die Summe der Beziehungen, die ein Mensch hat. Die objektiven Vorgaben, die er in Anlehnung an Marx beschreibt, und die subjektiven Wertschätzungen, auf die Max Weber hinwies, nutzt Bourdieu für ein theoretisches Konzept und die empirische Untersuchung sozialer Ungleichheit. Die zentralen Begriffe sind Sozialer Raum und Habitus. Der Soziale Raum wird durch zwei Komponenten bestimmt: durch objektive soziale Positionen und Lebensstile. Die objektiven sozialen Positionen sind zunächst durch das zur Verfügung stehende, individuell nutzbare Kapitalvolumen bestimmt, also durch den Umfang an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital, über das eine Klasse und die Menschen, die zu dieser Klasse gehören, verfügen. So hat das Besitzbürgertum z.B. viel ökonomisches und soziales Kapital, das Bildungsbürgertum eher kulturelles und soziales. Diese Unterschiede im relativen Verhältnis der Kapitalsorten zueinander drücken sich in dem aus, was Bourdieu die Kapitalstruktur nennt. Arbeiter verfügen über relativ wenig ökonomisches Kapital, ihr kulturelles Kapital ist eher gruppenspezifisch, desgleichen das soziale Kapital. Für die objektive Position ist auch so etwas wie die soziale Karriere einer Klasse mit entscheidend. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine Mittelschicht aus Angestellten (siehe auch Kapitel 3.1), deren sozialer Aufstieg inzwischen zu Ende ist, Teile Die Bedeutung des objektiven sozialen Raums Klassenfraktionen Besitzbürgertum ökonomisches Kapital Bildungsbürgertum kulturelles Kapital altes und absteigendes Kleinbürgertum Erfüllung vorgegebener Normen, abnehmendes soziales Kapital neues und aufsteigendes Kleinbürgertum penetrante Nichterfüllung vorgegebener Normen Facharbeiter geringes ökonomisches Kapital, gruppenspezifische kulturelle und soziale Kapitalien UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 134 <?page no="134"?> 135 der Mittelschicht erleben seitdem wieder einen sozialen Abstieg. Diese differenzierte Darstellung objektiver sozialer Positionen ist jener Teil des Ansatzes von Bourdieu, der eher den gesamtgesellschaftlichen Theorien, wie sie Systemtheorien repräsentieren, zugeordnet werden kann. Bei Elias gibt es neben der Entwicklung des Staates und stabiler Gewaltmonopole (Soziogenese) auch individuelle Verhaltensstrukturen (Psychogenese). Bourdieu stellt neben den Raum der objektiven sozialen Positionen den Raum der Lebensstile. Subjektive Lebensstile Mit der Kategorie des Lebensstils greift Bourdieu auf unsere Alltagserfahrung zurück. In der Beobachtung des Lebens anderer Menschen unterscheiden wir nach Kriterien, von denen wir glauben, dass sie allgemein geteilt werden. Wir sprechen von dem Arbeiter, der Karrierefrau, dem Yuppie, und in der Mensa unterscheiden wir zwischen JurastudentInnen und Studierenden des Faches Soziologie. Immer wird dabei eine unterstellte ökonomische Basis mitgedacht. Dabei sind gerade die Unterschiede zwischen Studierenden viel weniger von ökonomischen als von solchen Kriterien wie Kleidung, Auftreten, Körpersprache bestimmt. Diese individuell gelebten Merkmale der Lebensführung nennt Bourdieu Lebensstil. Der Lebensstil lässt sich nicht auf ökonomische objektive Bedingungen allein zurückführen, sondern ist die individuelle, die »subjektive« Gestaltung des Lebens. Bestimmte Sportarten verbinden sich mit bestimmten Typen kultureller Veranstaltungen. Die einen spielen Monopoly, die anderen Mensch-ärger-dich-nicht. Und wenn wir genauer hinsehen, dann werden solche Kombinationen durch bestimmte Essgewohnheiten, die Vorlieben oder Abneigungen bei Autos oder spezifischen Wohnformen abgerundet. Habitus Jedes Individuum ist durch eine objektive soziale Position und durch einen Lebensstil charakterisierbar. So wie Elias Soziogenese und Psychogenese verknüpft, zeigt Bourdieu, dass zwischen dem Raum der objektiven sozialen Positionen und dem der Lebensstile Wechselbeziehungen bestehen, die zwar nicht streng kausal, aber sehr wahrscheinlich sind. Bourdieu bezeichnet den Ausdruck dieser Verbindung als Habitus. | 2.5.11 Die Bedeutung der subjektiven Lebensstile | 2.5.10 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 135 <?page no="135"?> 136 In dem Buch »Die feinen Unterschiede« entwickelt er diesen soziologischen Zugang zu Ursachen und Formen sozialer Ungleichheit. Und er zeigt, dass sich der Habitus eines Menschen an seinem Geschmack, an seiner Distinktion gegenüber anderen Menschen ablesen lässt. Dabei ist der Geschmack die individuelle Ausgestaltung eines klassenspezifisch geprägten Lebensstils. Im Alltag haben wir dafür zahlreiche Sprichwörter: von »Adel verpflichtet« - zu einem besonderen Geschmack bis zu »gleich und gleich gesellt sich gern« - im Fanblock des Fußballstadions. Praxis Die Verbindung von Lebensstil und tatsächlicher Lebensweise bezeichnet Bourdieu als Praxis. Ihr kommt insofern eine besondere Bedeutung zu, als sich in ihr der Habitus umsetzt und auch bestätigt. Praxis entfaltet sich im Sozialen Raum, das heißt in bestimmten Kreisen der Gesellschaft (Adel, Mittelschicht, Arbeiterklasse), bestimmten Wohnvierteln (z.B. der Gartenstadt, dem Dichterviertel, der Hafengasse, der Werksiedlung) und bestimmten Vereinen (Polo, Fußball, Brieftauben). So werden »Die feinen Unterschiede« gelebt und gleichzeitig auch bestätigt, soziologisch gesprochen: reproduziert. In der folgenden Grafik sind aus den vielfältigen Beispielen, die Bourdieu in Schaubildern zusammenfasst, einige Beispiele ausgewählt worden, um sie lesbar zu machen. Die vier Pfeile geben dabei nicht absolute Werte, sondern Tendenzen an: höheres oder niedrigeres Kapitalvolumen, zusammengesetzt aus mehr oder weniger ökonomischem und kulturellem Kapital. In den Tätigkeiten (fett gedruckt) drückt sich der Geschmack der sozialen Positionen und des jeweiligen Lebensstils aus. 2.5.12 | Der Habitus als Unterscheidungsmerkmal Die feinen Unterschiede Definition ˘ Der HABITUS eines Menschen ist nicht sein persönlicher, individueller Ausdruck im Handeln, sondern bringt das zum Vorschein, was ihn zum gesellschaftlichen Wesen macht: seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Klasse und die Prägung, die er durch diese Zugehörigkeit erfahren hat. Im Habitus zeigen sich »DIE FEINEN UNTERSCHIEDE«. Habitus UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 136 <?page no="136"?> 137 Für die soziologische Betrachtung einer Gesellschaft ist die Verbindung von objektiven Gegebenheiten und ihren individuellen Ausprägungen sehr informativ. Auch kann man lernen, wie soziale Unterschiede sich ausdrücken und bestätigen. Allerdings setzt hier auch die Kritik an Bourdieu ein. Ganz abgesehen davon, dass im vom Zentralismus geprägten Frankreich die Rolle der Führungsgruppen in Paris einen direkten Vergleich mit dem föderalen Deutschland nicht erlaubt, bleiben auch noch Fragen nach den Möglichkeiten der Menschen, die Verbindungen von objektiven sozialen Lagen und kulturellen Selbstdeutungen zu durchbrechen. Wie kann die Welt erkannt und verändert werden? Kritische Einwände WARHOL OPER KLAVI ER GEMÄLDESAMMLUNG Universitätsprofessor Unternehmer BRECHT WHISKEY JAGD CHAMPAGN ER ABENDKURSE BRI EFMARKENSAMMELN LI EBESGESCHICHTEN Büroangestellter Handwerker WAGEN PFLEGE FERNSEH EN PERNOD FUßBALL Landarbeiter BRIGITTE BARDOT Die Struktur des sozialen Raumes KAPITALVOLUMEN + + KULTURELLES KAPITAL -ÖKONOMISCH ES KAPITAL ÖKONOMISCH ES KAPITAL + KULTURELLES KAPITAL - KAPITALVOLUMEN - | Abb 3 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 137 <?page no="137"?> 138 Kritische Analyse der Gesellschaft Auf den ersten Blick könnte man meinen, Bourdieu habe sich - um mit Auguste Comte (siehe Kapitel 1.1) zu sprechen - nur der sozialen Statik und nicht der sozialen Dynamik gewidmet. Das ist aber nicht ganz richtig. Erstens war sein vordringliches Ziel, ein theoretisches Konzept und eine empirische Analyse sozialer Ungleichheit zu entwickeln und dabei objektive und subjektive Strukturen miteinander zu verbinden. Darüber hinaus nimmt er als kritischer Intellektueller an den politischen und sozialen Debatten in Frankreich engagiert Anteil. In dem Buch »Das Elend der Welt« hat Bourdieu, gemeinsam mit vielen SoziologInnen, zahlreiche Beschreibungen des Lebens vieler Menschen geliefert, die über ein eher geringes Kapitalvolumen verfügen. Das Buch erschien 1993 in Frankreich (deutsch 1998) und war für Bourdieu der Beleg für die Notwendigkeit einer intellektuelle Gegenposition zu politischen Trends. Er setzt auf die Intellektuellen, die er als Mahner und Kritiker sieht, und auf die Gewerkschaften, die er im Kampf um eine Anhebung des Kapitalvolumens der unteren Schichten unterstützt. Im neoliberalen Denken der 1990er Jahre sieht er eine deutliche Gefahr, denn die Entgrenzung der Nationalstaaten im Prozess der Globalisierung (siehe Kapitel 3.2) unterminiert sowohl die Stellung der Intellektuellen als auch der immer noch national organisierten Gewerkschaften. Mit der Arbeit an einem theoretischen Konzept sozialer Ungleichheit und entsprechenden empirischen Untersuchungen widmet sich Pierre Bourdieu einem Thema, das seit Beginn der Soziologie immer sehr wichtig gewesen ist. Ähnlich prominent ist eigentlich nur die Debatte über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Diese beiden zentralen Arbeitsgebiete werden nun in den nächsten beiden Kapiteln in Längsschnittbetrachtungen dargestellt. Der Intellektuelle Mahner und Vorkämpfer Lernkontrollfragen Was versteht Norbert Elias unter der Monopolisierung von Gewalt? Erläutern Sie den Zusammenhang zwischen Psychogenese und Soziogenese an einem selbstgewählten Beispiel. Wie versteht Bourdieu den Begriff »Kapital«? Erklären Sie den Begriff »Habitus« und seine Bedeutung für die soziale Praxis. 1 2 3 4 2.5.13 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 138 <?page no="138"?> 139 Infoteil Alle Arbeiten von Norbert Elias sind beim Suhrkamp Verlag in den Gesammelten Schriften erschienen. Vor allem bei dem zweibändigen Werk Über den Prozess der Zivilisation ist darauf zu achten, die Ausgabe der Gesammelten Schriften zu benutzen, da diese 1997 erschienene Ausgabe kritisch durchgesehen ist und alle altfranzösischen, englischen und lateinischen Zitate ins Deutsche übertragen wurden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 1997 (20., neu durchges. und erw. Aufl.). Als Werkbiographie sei auf Hermann Korte: Über Norbert Elias, Das Werden eines Menschenwissenschaftlers, Opladen: Leske und Budrich, 1997 hingewiesen. Dort findet sich auch eine annotierte Bibliographie weiterführender Literatur. Seit 2008 liegt von Annette Treibel eine gut geschriebene Einführung in Die Soziologie von Norbert Elias vor. Wiesbaden: VS Verlag, 2008. Das zentrale Werk von Pierre Bourdieu Die feinen Unterschiede - Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft ist als Taschenbuch erhältlich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2003. Als Werkeinführung kann das Buch von Boike Rehbein: Die Soziologie Pierre Bourdieus, empfohlen werden. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2011 (2., überarb. Aufl.) Die deutsche Übersetzung von La misère du monde - Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft - ist 2010 als gekürzte Studienausgabe in der 2. Auflage bei UTB erschienen. UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 139 <?page no="139"?> 140 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 140 <?page no="140"?> 141 Klassen, Schichten, soziale Milieus Die soziologische Untersuchung von sozialer Ungleichheit Zu Beginn der Soziologie bei Auguste Comte hatte das Thema soziale Ungleichheit noch keinen prominenten Platz. Ihn interessierte mehr der Zustand der Gesellschaft und die Frage, wie im nachrevolutionären Frankreich Ordnung und Fortschritt miteinander verbunden werden konnten. Soziale Ungleichheit war für ihn eher eine akzeptierte Tatsache. Darin war Comte noch ganz Kind des Absolutismus und der feudalen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts. Das ändert sich mit Karl Marx. Klassen Angesichts des Elends der Arbeiterschaft in England, wo Mitte des 19. Jahrhunderts die Industrialisierung schon fast 100 Jahre alt war, nimmt er u.a. Friedrich Engels’ Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« und sehr viele eigene empirische Arbeiten als Beleg dafür, dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft eine Klassengesellschaft ist. In der Klassenformation der kapitalistischbürgerlichen Gesellschaft stehen sich zwei antagonistische Klassen gegenüber, nämlich diejenigen, die über die Produktionsmittel ver- Aktuelle soziologische Debatten Klassen, Schichten, soziale Milieus Individualisierung und Globalisierung Empirische Sozialforschung 3.1 3.2 3.3 Inhalt | 3.1 | 3.1.1 | 3 | 3.1.2 Bei Marx: die Lage der arbeitenden Klasse im 19. Jahrhundert UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 141 <?page no="141"?> 142 fügen, die Kapitalisten, und diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können, die Proletarier, die arbeitende Klasse. Das entscheidende Differenzierungskriterium der sozialen Ungleichheit ist ein objektiv ökonomisches, nämlich entweder besitzt jemand Produktionsmittel oder er besitzt sie nicht. Es handelt sich um rein materielle Eigentumsverhältnisse, und die Zuordnung erfolgt ausschließlich anhand der objektiven Stellung im Produktionsprozess. Der Zusammenhang mit den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen und der jeweiligen soziologischen Analyse zu Gründen und Formen sozialer Ungleichheit darf nicht außer Acht gelassen werden. Die soziologischen Vorstellungen über die soziale Gliederung der Gesellschaft hatten sich schon bei Max Weber verändert. Zwar geht Weber auch noch davon aus, dass es in der Gesellschaft Klassen gibt, aber im Preußen des beginnenden 20. Jahrhunderts boomt die Wirtschaft. Es gibt ein durch sozialen Aufstieg reich gewordenes Bürgertum, das, was Max Weber »Besitzklassen« nennt. Und daneben gibt es Erwerbsklassen. Das sind die Menschen, die arbeiten. Aber Weber ergänzt die ökonomische Lage der Klassen noch durch eine Aufgliederung nach sozialen Klassen, also etwa nach der Arbeiterschaft, dem Kleinbürgertum, der Intelligenz und den Besitzenden und durch Bildung Privilegierten. Zu dem Klassenkonzept kommen also noch Stände und Parteien hinzu. Mit dem Begriff Stand knüpft er an mittelalterliche Kriterien der sozialen Aufgliederung der Gesellschaft an. Damals bestimmte die Geburt, welchem Stand man angehörte. Die soziale Mobilität war eingeschränkt. Der Aufbau der Stände vom Adel über den Klerus, die Ritter bis hin zu den freien Bauern und schließlich den bäuerlichen und städtischen Handwerkern war klar gegliedert. Aus dieser Zeit übernimmt Weber allerdings nur den Begriff, denn er unterscheidet Stände nach der Lebensführung, nach der Erziehung und nach Beruf und Abstammung. Da es zu Beginn des 20. Jahrhunderts mittlerweile auch in der politischen Vergesellschaftung Unterschiede gab, wurde auch der Begriff Parteien als Kriterium für eine soziologische Position von Weber hinzugenommen. Bei Weber: Klassen und Stände Definition ˘ Ökonomische Lage: Besitz - Erwerb - soziale Klassen Soziale Gemeinschaft: Berufsstände - Geburtsstände - politische Stände Politische Vergesellschaftung: Politische Vereine, Parteien, Gewerkschaften Weber: Klassen und Stände UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 142 <?page no="142"?> 143 Weber entwickelte diese Überlegungen nicht mit der Unterstützung dessen, was wir heute eine empirische Untersuchung nennen würden. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sehr viel empirisches Material zusammenführte. Die Enquête zur Lage der ostelbischen Landarbeiter, seine religionssoziologischen Studien oder seine Untersuchungen zur Bürokratie sind alle sehr faktenreich, wenn auch noch nicht mit einem Konzept der Sozialforschung erarbeitet, wie wir das heute verstehen. Das geschieht zum ersten Mal durch Theodor Geiger (1891- 1952), der Mitte der 1920er Jahre eine große Studie »Die soziale Schichtung des deutschen Volkes« veröffentlichte. Geiger war nach dem 1. Weltkrieg einige Jahre Direktor der Arbeiterhochschule in Berlin und interessierte sich sehr für die soziale Position der Menschen, die er unterrichtete. Er fand, dass weder der Marx`sche Klassenbegriff noch die Weber`schen Kategorien ausreichend geeignet seien, um verschiedene Differenzen zwischen einzelnen sozialen Gruppen, mit denen er zu tun hatte, zu erklären. Die Untersuchung führt im Titel zwar den Begriff Schichtung, aber im Kern geht es Geiger um eine Differenzierung der Klassentheorie. Und so begann er eine große Studie, die vor allem bemerkenswert ist, weil er die Volkszählung von 1925 auswertet. Er verfügte über die Befragungsbögen und entwickelte daraus große statistische Zahlenwerke. Das erste Ergebnis war tatsächlich eine klassische Unterteilung nach Klassen. Er nennt das die kapitalistische Lage und die proletarische Lage. Das Interessante dabei ist, dass er etwa 25 % der Untersuchten der so genannten mittleren Lage zuordnet, was bei Marx Mittelschicht genannt wurde, von welcher er annahm, dass sie mit den Jahren durch Auf- und Abstieg zwischen Kapitalisten und Proletariern aufgerieben würde. Zusätzlich fand Geiger heraus, dass die jeweilige Klassenlage nicht nur von ökonomischen Verhältnissen bestimmt wird, sondern auch ein Ergebnis subjektiver Einschätzung ist. Dies ist in der zweiten Stufe der Betrachtung, in der so genannten Tiefengliederung - und das ist der eigentliche ökonomisch-soziologische Ansatz - dargestellt. Geiger differenziert hier in mittlere und kleinere Unternehmer, also in den klassischen Mittelstand, in Tagewerker, die für eigene Rechnung arbeiten - er nennt sie Proletaroide oder an anderen Stellen auch den »abgeglittenen Mittelstand« -, und schließlich in Lohn- und Gehaltsbezieher höherer Qualifikation, das, was er den neuen Mittelstand nennt. Bei Geiger: Kapitalistische Lage, Mittelschicht, proletarische Lage Eine Ausdifferenzierung des Klassenschemas UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 143 <?page no="143"?> 144 Die Unterscheidung in Lohnabhängige und Gehaltsbezieher einerseits und Nicht-Lohnabhängige, wie sie etwa in der marxistischen Theorie gemacht wurde, entsprach also, und das war das Ergebnis von Geigers Untersuchungen, nicht mehr der realen, der viel differenzierteren Gesellschaftsstruktur. Aus diesen Jahren gibt es auch erste soziologische Arbeiten über die neue Berufsgruppe der Angestellten, etwa von Hans Speyer, der 1928 mit diesem Thema in Heidelberg promovierte. Der Marx´sche Klassenantagonismus, bei dem sich nur zwei in sich jeweils homogene Gruppen gegenüberstehen, kommt Geiger etwas simpel vor, denn die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Auch wenn Geigers Analyse noch relativ statistisch ist, da er einfach nur die Zahlen aufgliedert, findet er doch zu einer Frage, die von nun an für die Soziologie und insbesondere für die Untersuchung von sozialer Ungleichheit von großer Bedeutung ist. Menschen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer ökonomischen Klassenlage, sondern auch hinsichtlich ihrer Mentalität. Deshalb reicht für Geiger der Begriff Mittelstand allein nicht aus, um die spezifischen Unterschiede in der Arbeitsbevölkerung deutlich zu machen. Es kommt eben nicht nur auf das Einkommen und auf die soziale Lage an, sondern auch auf die Mentalität, darauf, wie die einzelnen Menschen sich selbst verstehen und sich empfinden. Man kann deutlich sehen, dass z.B. die Lohn- und Gehaltsbezieher höherer Qualifikation sich mental noch zur mittleren Lage rechnen, dass aber die Tagewerker sich mental zur proletarischen Rohgliederung Tiefengliederung I. Kapitalistische Lage 0,84 % I. »Kapitalisten« II. Mittlere und kleine Unternehmer (»alter Mittelstand«) 18,33 % II. Mittlere Lage 24,39 % III. Tagewerker für eigene Rechung (Proletaroide) (abgeglittener Mittelstand) 13,76 % IV. Lohn- und Gehaltsbezieher höherer Qualifikation (neuer Mittelstand) 16,04 % III. Proletarische Lage 74,77% V. Lohn- und Gehaltsbezieher minderer Qualifikation (Proletariat) 51,03 % ˘ Übersicht: Soziale Schichtung nach Erwerbstätigkeit Ökonomische Lage und Mentalität UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 144 <?page no="144"?> 145 Lage bekennen. Die Aufgliederung ist also nicht eindimensional von oben nach unten, und es gibt eine Reihe von vertikalen Veränderungsprozessen, die für die beteiligten Menschen Fragen wie »Gehöre ich schon nach oben? «, »Bin ich schon abgerutscht? «, »Fühle ich mich dieser Gruppe noch zugehörig, obgleich ich die ökonomischen Mittel nicht mehr habe? « aufwerfen. Alle diese Befindlichkeiten werden von Geiger in die Untersuchung von sozialer Ungleichheit eingeführt. Später treten dann auch noch horizontale Verschiebungen hinzu, auf die im Verlauf dieses Kapitels noch zurückgekommen wird. Geiger, das sei doch angemerkt, gehörte zu jenen nicht-jüdischen Soziologen, die 1933 ins Exil gingen. Er war Professor in Braunschweig. Braunschweig war damals eigentlich ein Freistaat, der nicht zu Preußen gehörte, aber Regierungspräsident dieses Freistaates war kein Geringerer als der spätere Reichsmarschall Hermann Göring. Geiger wurde im September 1933 die Professur entzogen, weil er sich geweigert hatte, nationalsozialistische Inhalte in seine Soziologie- Vorlesungen aufzunehmen. Er ist daraufhin nach Dänemark ins Exil gegangen und später im Verlauf des Krieges in ein zweites Exil nach Schweden. Nach 1945 ist er nicht nach Deutschland zurückgekehrt. Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass er sich der dänischen Universität Aarhus verpflichtet fühlte, die ihm auch während seines zweiten Exils in Schweden das Gehalt weiter gezahlt hatte. Sein Werk ist erst in den 1970er Jahren posthum wieder entdeckt worden. »Die soziale Schichtung des deutschen Volkes« gehört heute zu den Klassikern der soziologischen Ungleichheitsforschung. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 ging das Interesse an Analysen der sozialen Ungleichheit zurück, insbesondere auch an Untersuchungen von Klassenlagen. Dieser soziologi- Jahr Theoretiker Gliederungs kriterium Merkmale sozialer Ungleichheit 1848 Karl Marx Klassen Stellung im Produktionsprozess 1905 Max Weber Klassen (Erwerb, Besitz), Einkommen, Vermögen 1910 Stände, Parteien 1925 Theodor Geiger Soziallagen Mehrdimensionale Ungleichheiten ˘ Theorien sozialer Ungleichheit - 1. Übersicht Widerstand gegen Forderungen des Nationalsozialismus und Exil UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 145 <?page no="145"?> 146 sche Ansatz widersprach der nationalsozialistischen Ideologie von einem Volk und einem Führer. Es gab zwar in der Zeit zwischen 1933 und 1945 weiterhin Soziologie, die aber einerseits einen sehr deutschnationalen Charakter hatte und sich zum anderen bei den empirischen Erhebungen in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie und später der Repression stellte. Auf das Beispiel des Hamburger Soziologen Andreas Walter als ein typisches Beispiel dieser Zeit wird im übernächsten Kapitel eingegangen. Mit dem Nationalsozialismus fanden auch die Klassenstudien ihr vorläufiges Ende. Im Mittelpunkt der Untersuchungen stand nun der soziologische Begriff der Schicht oder Schichtung. Diese Debatte begann in den 1950er Jahren mit dem von Helmut Schelsky (1912-1984) geprägten Begriff der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«. Schelsky war der Meinung, dass eine Klassenanalyse keinen Sinn mehr mache, da seit Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche soziale Prozesse vorangekommen seien, die eben gerade die antagonistische Situation zwischen zwei Klassen aufgehoben und gleichzeitig dafür gesorgt hätten, dass sich neue soziale Strukturen und Gesetzlichkeiten entwickelt hätten, die als die dominanten und entwicklungsleitenden Strukturen herausgearbeitet werden müssten. Schelsky wertete eine Reihe von empirischen Untersuchungen der westdeutschen Gesellschaft der frühen 1950er Jahre aus und entwickelte aus ihnen die These, dass der größte Teil der Gesellschaft mit dem Begriff »Mittelstand« bezeichnet werden könnte. Und um deutlich zu machen, dass es in dieser großen Gruppe in der Gesellschaft keine wirklichen Konflikte gebe, fügte er das Wort »nivelliert« hinzu. In der sozialen Hierarchie gibt es über der nivellierten Mittelstandsgesellschaft eine kleine Gruppe sehr reicher Menschen und unter ihr auf der unteren Stufe eine kleine Gruppe ganz armer Menschen. Schelsky formuliert also eine Großtheorie, die von der These ausgeht, dass alle zum Mittelstand gehören. Es gibt zwar gewisse vertikale und horizontale Bewegungen, aber immer nur innerhalb dieses Mittelstandes. Das war in gewisser Weise die Fortsetzung der Geigerschen Theorie, dass nämlich die mittlere gesellschaftliche Gruppe immer stärker wird, d.h. im Gegensatz zu den Prophezeiungen von Marx verschwindet der Mittelstand nicht nur nicht, sondern wird bei Schelsky im fortgeschrittenen Kapitalismus immer größer, bis er fast alle Mitglieder der Gesellschaft umfasst. Soziologie im 3. Reich Von der Klassenanalyse zur sozialen Schichtung Die »nivellierte« Mittelstandsgesellschaft UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 146 <?page no="146"?> 147 In die Betrachtung dieser These muss man die zeithistorischen Bedingungen mit einbeziehen, will man das Ganze mit einem gewissen Abstand und vor dem Hintergrund dessen, was mittlerweile über die weitere Entwicklung der Soziologie bekannt ist, betrachten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland, genauer im Westdeutschland der zweiten Hälfte der 1950er Jahre waren dadurch geprägt, dass es eine aus den Trümmern auferstandene und zu immer mehr Wohlstand gekommene Gesellschaft gab, in der Vollbeschäftigung herrschte und materielle Not weitgehend behoben war. Die Menschen konnten mit ihrem Leben recht zufrieden sein, wenn da nicht die Korea-Krise gewesen wäre oder der Ungarn-Aufstand 1956 und auf der anderen Seite des »Eisernen Vorhanges« nicht die sozialistischen Länder, in denen eine politische Avantgarde versuchte, die Theorie von Karl Marx und politische Theorien wie die von Lenin mit Gewalt durchzusetzen. Später hieß das etwas harmloser die »staatsbürokratische« Form des Kapitalismus. Mittelstandsgesellschaft dagegen bedeutete politisch: In den westlichen Demokratien gibt es keine Klassengegensätze mehr. Es gibt nur noch eine Mittelschicht, in der jeder Schulbildung, Einkommen und Status im Beruf erwerben kann und in der es nur von der persönlichen Tüchtigkeit des Einzelnen und keineswegs von irgendwelchen Klassenlagen oder etwa von kapitalistischen Ausbeutungssystemen abhängt, was aus ihm wird. Das war die politische Botschaft des soziologischen Begriffes nivellierte Mittelstandsgesellschaft. Schelsky war ein sehr erfolgreicher und sehr bekannter Soziologe. Er lehrte zunächst in Hamburg, ging dann 1959 an die Universität Münster und wurde gleichzeitig Direktor der angeschlossenen Sozialforschungsstelle Dortmund. Münster gehörte neben Köln zu den wichtigsten Ausbildungsstätten für Soziologen. Man kann sagen, dass etwa die Hälfte der Professorenstellen in den 1970er Jahren mit Soziologen aus Münster oder der Sozialforschungsstelle Dortmund besetzt wurden. Die Sozialforschungsstelle war eine wirkmächtige Einrichtung mit einem auf Sinnstiftung ausgerichteten Chef, nämlich Helmut Schelsky. Das, was Schelsky vortrug, kann man zwar ähnlich wie bei Weber im weitesten Sinne als Empirie bezeichnen, aber wirklich empirisch waren seine Thesen nicht belegt. Das geschieht dann in den 1960er Jahren vor allem in München unter Karl Martin Bolte. Westdeutsche Soziologie im »Kalten Krieg« Jederman ist seines Glückes Schmied? UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 147 <?page no="147"?> 148 In der Literatur taucht immer wieder der Begriff der »Boltesche(n) Zwiebel« auf, die das Ergebnis seiner genaueren Untersuchungen darstellt und eine Ausdifferenzierung dessen bedeutete, was Schelsky großzügig die nivellierte Mittelstandsgesellschaft genannt hatte. An der Graphik wird schnell sichtbar, dass neben den klaren Schichtungen auch andere Strukturen existieren. Auch kann man eine eindeutige Strukturierung von oben nach unten nicht mehr ausmachen, sondern es gibt bereits einzelne, soziale Hierarchiestufen überlappende Teile. Grundsätzlich gibt es bei Bolte die Oberschicht, die obere Mitte und die mittlere Mittelschicht. Wenn er die unterste Kategorie mit »sozial verachtet« beschreibt, dann handelt es sich dabei um eine soziologische Kategorie, die heute so nicht mehr verwendet würde, da diese Kategorie nicht nur beschreibt, sondern auch wertet. Ergebnis empirischer Untersuchungen zur sozialen Schichtung: das Zwiebelmodell Abb 1 | Bezeichnung der Statuszone Anteil Oberschicht ca. 2 v. H. obere Mitte ca. 5 v. H. mittlere Mitte ca. 14 v. H. untere Mitte ca. (29) unterste Mitte/ oberes Unten ca. (29) Unten ca. 17 v. H. Sozialer Bodensatz ca. 4 v. H. K.M. Boltes »Zwiebel«- Modell des Prestige-Statusaufbaus ) 58 v. H. Die Markierungen in der breiten Mitte bedeuten: Angehörige des sogenannten neuen Mittelstands Angehörige des sogenannten alten Mittelstands Angehörige der Arbeiterschaft Punkte zeigen an, dass ein bestimmter gesellschaftlicher Status fixiert werden kann Senkrechte Striche weisen darauf hin, dass nur eine Zone bezeichnet werden kann, innerhalb derer jemand etwa im Statusaufbau liegt Mittlere Mitte nach den Vorstellungen der Bevölkerung Mitte nach der Verteilung der Bevölkerung 50 v. H. liegen oberhalb bzw. unterhalb im Statusaufbau Quelle: Hradil 1999, S. 352 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 148 <?page no="148"?> 149 Die Boltesche Zwiebel ist alles in allem die klassische Darstellung des Statusaufbaus der westdeutschen Bevölkerung in den 1960er Jahren. Status setzt sich in diesem Fall aus Einkommen, Berufsposition und Prestige zusammen. Man war nicht mehr so naiv, sich nur auf objektive Faktoren zu beschränken, sondern es wurde auch nach der Selbsteinschätzung gefragt, und dann wurden Fremdeinschätzung und Selbsteinschätzung miteinander verglichen. Die Boltesche Zwiebel konkurrierte mit einer anderen Variante, die damals entwickelt wurde und die in der Literatur als das »Dahrendorfsche Haus« sozialer Schichtung bezeichnet wird. | Abb 2 Andere Modelle sozialer Schichtung Das Dahrendorfsche Haus Eliten u. 1 % Mittelstand 20 % Arbeiterschicht 45 % Unterschicht 5 % Arbeiterelite 5 % “Falscher Mittelstand” 12 % Dienstklasse 12 % Quelle: Hradil 1999, S. 361 • Die »Arbeiterelite«: Meister, Spitzenverdiener • Die »Arbeiterschicht« • Der »falsche Mittelstand«: sozial weniger gut gestellte Angestellte, die sich gleichwohl zur Mittelschicht rechnen • Die Unterschicht: Dauererwerbslose, Kriminelle etc. UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 149 <?page no="149"?> 150 Hier zeigt sich eine etwas andere Sichtweise. Es gibt nicht mehr nur Unterteilungen auf der vertikalen Ebene, sondern es gibt beispielsweise auch eine Dienstklasse oder einen »falschen Mittelstand«, also Personen, die Nebenkarrieren in der Gesellschaft machen. Eine solche Nebenkarriere kann etwa auf sportlichen Fähigkeiten (Fußball, Tennis) beruhen. Alles in allem ist dies jedoch eine sehr unsichere Kategorie, aus der man sehr schnell auch wieder herausfallen kann. Die »Arbeiterelite« ist ein Ergebnis der Untersuchungen, die Dahrendorf durchgeführt hat. Damit bezeichnet er eine langsam größer werdende Gruppe von mächtigen Gewerkschaftsfunktionären, Vorarbeitern in den Firmen oder freigestellten Betriebsräten. Die Struktur ist bei Dahrendorf alles in allem etwas weniger hierarchisch, aber man kann doch immer noch deutlich Schichten identifizieren. Jenseits von Klasse und Schicht: Die Risikogesellschaft Die Vorstellung einer differenzierten Schichtung der Gesellschaft bekam Anfang der 1970er Jahre zwischenzeitlich noch einmal Konkurrenz durch die wieder entdeckten bzw. neu entdeckten Möglichkeiten des marxistischen Ansatzes. Dies hielt in der Soziologie (siehe Kapitel 2.4) einige Jahre an, wurde dann aber sehr bald wieder von der Erkenntnis abgelöst, dass ökonomische Ursachen allein für Entwicklungen und Zustände in der Gesellschaft nicht verantwortlich gemacht werden können. In den 1970er Jahren arbeitete über die Fragen der objektiven und subjektiven Gründe für soziale Ungleichheit an der Universität München eine größere Forschungsgruppe, ein sogenannter Sonderforschungsbereich der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der von Karl Martin Bolte initiiert und über viele Jahre geleitet wurde. Aus diesem Forschungszusammen- Eine neue Gruppe im Schichtungsgefüge: die Arbeiterelite Jahr Theoretiker Gliederungskriterium Merkmale sozialer Ungleichheit Ca. 1955 Helmut Schelsky Nivellierte Mittelstands- Schulausbildung, Einkommen, gesellschaft Status im Beruf Ca. 1965 Karl Martin Bolte, Soziale Schichtung Schulausbildung, Einkommen, Ralf Dahrendorf Status im Beruf ˘ Theorien sozialer Ungleichheit - 2. Übersicht 3.1.3 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 150 <?page no="150"?> 151 hang sind eine Reihe Wissenschaftler hervorgegangen, die inzwischen als Professoren an deutschen und ausländischen Universitäten lehren. Hier sollen nun im Folgenden für den dritten Abschnitt der Beschäftigung der Soziologie mit Gründen und Formen sozialer Ungleichheit zwei dieser Soziologen mit ihren Arbeiten vorgestellt werden, nämlich Ulrich Beck und Stefan Hradil. Mitte der 1970er Jahre veröffentlichte Ulrich Beck einen Aufsatz mit dem Titel »Jenseits von Klasse und Schicht«. Darin vertritt er die These, dass die Abstände zwischen den sozialen Schichten, ob sie nun mit dem Dahrendorfschen oder mit dem Bolteschen Modell beschrieben werden, sich nicht verändert haben. Wohl habe sich aber das Wohlstandsniveau verändert. Das Ganze sei mit einem sogenannten »Fahrstuhleffekt« in der Wohlstandsleiter insgesamt nach oben gefahren, wobei allerdings die Abstände zwischen den Gruppen weitgehend erhalten geblieben seien. Die »message« dieser These aus »Jenseits von Klasse und Schicht« könnte man so verallgemeinern: Der Wohlstand ergreift alle. Allerdings fand Beck dann noch zu einer zweiten These, die er in dem Buch »Die Risikogesellschaft« vorstellte. Dieses Buch wurde in der Bundesrepublik auch deshalb ein Bestseller, weil es die Möglichkeit bot, nach Tschernobyl bestimmte Bedrohungen der Gesellschaft auf den Punkt zu bringen. Was heißt nun Risikogesellschaft? Es ist die Verlängerung der These von »Jenseits von Klasse und Schicht« und bedeutet nichts anderes, als dass es in fortgeschrittenen Industriegesellschaften - Ulrich Beck nennt dies die »reflexive Moderne« - selbst erzeugte Risiken gibt, die einen jeden betreffen. Beck macht das vor allen Dingen an Umweltproblemen deutlich und verbindet dies dann mit einem anderen Ereignis dieser reflexiven oder, wie er das auch an anderen Stellen genannt hat, »zweiten« Moderne, nämlich der Individualisierung der Menschen in der Gesellschaft. Einerseits sind alle Mitglieder der Gesellschaft von übergreifenden Risiken betroffen und bedroht, andererseits bietet der fortschreitende Wohlstand und die damit verbundene Ausdifferenzierung der Gesellschaft immer mehr Möglichkeiten, sich alten Zwängen und Traditionen zu entziehen. So nimmt beispielsweise das arbeiterspezifische Bewusstsein an Bedeutung ab, was die Gewerkschaften nicht nur am Rückgang ihrer Mitgliederzahlen merken, sondern auch an der veränderten Interessenlage ihrer Mitglieder. Fahrstuhl zum Wohlstand Tschernobyl und die Folgen Individualität in der 2. Moderne UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 151 <?page no="151"?> 152 Es kommt auch zu einer Enttraditionalisierung, z.B. tragen Universitätsprofessoren keine Talare mehr. Dies hat Ulrich Beck im Einzelnen nachgezeichnet. Die Zuordnungen zu einer bestimmten sozialen Gruppe nehmen langsam ab. Zusammen mit der Individualisierung von Lebenslagen entsteht nach und nach etwas, das er »Bastelbiographien« nennt. Der Ausbau des Bildungssystems, zunehmendes Wohnen in sozial heterogenen, urbanen Siedlungen und ähnliche Faktoren führen dazu, dass es unterschiedliche Ausdrucksformen des Lebens gibt, die allerdings immer wieder gefährdet sind. Im nächsten Kapitel, in dem es um die langfristigen Prozesse der Individualisierung und der Globalisierung geht, wird dieses Thema noch einmal aufgegriffen. Lebenslagen und soziale Milieus Der zweite Autor, auf den eingegangen werden soll, ist Stefan Hradil. Dessen Buch »Soziale Ungleichheit in Deutschland« ist 1999 in der 7. Auflage neu bearbeitet erschienen. Hradils These ist, dass es durch neue Dimensionen des Lebens und neue Zuweisungsmerkmale sozialer Ungleichheit überhaupt keine klar erkennbaren Strukturen mehr gibt. Man könne nicht länger einzelne Positionen auf einer vertikalen oder horizontalen Achse abtragen. Die alten Merkmale der Klassen- oder Schichtungstheorie, Ungleichheit des Einkommens, Ungleichheit von Machtteilhabe, Ungleichheit von Bildungsanteilen und Ungleichheit von Berufsprestige werden durch neue Dimensionen abgelöst, wie z.B. Arbeits- und Freizeitbedingungen, Wohn- und Wohnumfeldbedingungen, auch die Formen der sozialen Sicherheit (Arbeitsplatz, Gesundheit) und die Ungleichheit in der Behandlung in der Öffentlichkeit (Vorurteile, Stigmatisierungen, Diskriminierungen) liefern eine ganz andere Darstellung des sozialen Aufbaus und der sozialen Differenzierung einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Das ist nicht mehr die Gesellschaft der 1950er Jahre, sondern eine weit fortgeschrittene Industriegesellschaft in einer sich globalisierenden Welt, die sich immer stärker ausdifferenziert. 3.1.4 | Von der Schichtungsanalyse zur Untersuchung von Lebenslagen und Milieus Bastelbiographien UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 152 <?page no="152"?> 153 Das, was ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre vor allem die soziale Ungleichheit bestimmt, ist die Frage, ob jemand einen Arbeitsplatz hat und wie sicher dieser ist; ob man vollbeschäftigt ist oder einen Teilzeitarbeitsplatz hat; ob man in einer alten Industrie beschäftigt ist oder in einer Zukunftsbranche. Auch die Freizeitbedingungen, Wohn- und Umweltbedingungen hängen sehr davon ab, ob man in einem Wohnblock mit 300 Wohnungen oder in einem Einfamilienhaus in einer teuren Wohngegend lebt. Im letzten Jahrhundert war völlig klar: Wer Arbeiter war, der lebte in beengten Wohnverhältnissen, hatte kaum Freizeitmöglichkeiten und wenn, dann solche, die klassenspezifisch begrenzt waren. Diese Einschränkungen gibt es nicht mehr, und so hängt es sehr davon ab, welche Freizeitmöglichkeiten sich eröffnen und welche man sich leisten kann. Auch die soziale Sicherheit ist unterschiedlich ausgeprägt und schließlich stellt sich auch die Frage der Ungleichbehandlung aufgrund von Geschlecht, regionaler Zugehörigkeit, Nationalität, Ethnie. Ob man z.B. als Gemüsehändler zur Mittelschicht gehört, hängt eben auch davon ab, ob man diesen Beruf in der dritten Generation in einer Hamburger oder Münchener Familie oder in der zweiten Generation türkischer Zuwanderer ausübt. Die neuen Zuweisungsmerkmale wurden in den letzen zehn Jahren sehr genau herausgearbeitet. In Bezug auf regionale Unterschiede vermutete man in den 1980er Jahren der BRD ein Süd-Nord-Ge- | Abb 3 Soziale Milieus und Lebenslagen Quelle: SINUS Institut Heidelberg, 2010 Ungleichheit hat viele Formen Lebenschancen sind ungleich verteilt UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 153 <?page no="153"?> 154 fälle. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass dies so nicht mehr stimmt. Dagegen gibt es jetzt ein Ost-West-Gefälle. Die Region, in der jemand aufwächst, entscheidet mit über seine Zukunftschancen. Ebenso sind bestimmte Lebensformen, insbesondere Alleinerziehende, besonders benachteiligt. Auch Alter und Geburtenzeitraum sind von Bedeutung. Ob jemand in einer Zeit geburtenschwacher oder in einer Zeit geburtenstarker Jahrgänge geboren worden ist, hat Einfluss auf Lebenschancen, denn die geburtenstarken Jahrgänge haben nach zwanzig Jahren größere Probleme, einen Ausbildungsplatz und später einen Arbeitsplatz zu finden, als diejenigen, die in geburtenschwachen Jahrgängen geboren wurden. Schließlich spielt die Frage der Nationalität in unserer Gesellschaft eine große Rolle. Es gibt also eine ganze Reihe neuer Zuweisungsmerkmale, die bis in die 1970er Jahre nicht diese Rolle gespielt haben und auch bei den umfangreichen empirischen Untersuchungen so nicht aufgefunden wurden. Sie kommen erst Mitte der 1980er Jahre zum Vorschein und haben dazu geführt, dass eben auch die Darstellung der Milieus und Lebensstile sich von den Grafiken, wie sie Theodor Geiger, Karl Martin Bolte oder Ralf Dahrendorf verwendeten, deutlich unterscheidet. Am Ende des 20. Jahrhunderts haben die Industriegesellschaften eine andere Struktur als am Ende des 19. Jahrhunderts. Entsprechend dem Prozess der Veränderung hat sich auch die soziologische Erforschung der Gründe und Formen sozialer Ungleichheit weiterentwickelt. Dabei lassen sich noch immer national spezifische Unterschiede feststellen, wobei es ohne eine Verknüpfung von objektiven Gegebenheiten und subjektiven Bewertungen keine angemessene Konzeption geben kann. Die Globalisierung vermischt nationale Formen sozialer Ungleichheit Jahr Theoretiker Gliederungskriterium Merkmale sozialer Ungleichheit Ca. 1985 Ulrich Beck Lebenslagen jenseits von Mix von Schulbildung, Einkommen, Klasse und Schicht Status im Beruf und (individuellen) Milieus, »Bastelbiographie« Ca. 1998 Stefan Hradil Soziale Lagen und Handlungschancen und Lebensziele, soziale Milieus Neue Zuweisungsmerkmale und Dimensionen ˘ Theorien sozialer Ungleichheit - 3. Übersicht UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 154 <?page no="154"?> 155 Ob sich die noch existierenden nationalen Unterschiede im Zuge der zu Beginn des 21. Jahrhunderts heftig diskutierten »neuen« Entwicklung, der Globalisierung, ganz auflösen werden, kann noch nicht prognostiziert werden, denn welche Auswirkungen die Globalisierung haben wird, steht noch nicht fest. Neben den Begriff Individualisierung ist der der Globalisierung getreten. Die Öffentlichkeit nutzt diese Wörter, um die gegenwärtige Phase der gesellschaftlichen Entwicklung zu kennzeichnen und gleichzeitig Perspektiven der Zukunft zu formulieren. Mit den beiden Begriffen und ihrer Bedeutung beschäftigt sich das nächste Kapitel. Individualisierung und Globalisierung Mit den Begriffen Individualisierung und Globalisierung verbinden sich in den öffentlichen Diskussionen, in denen sie häufig benutzt werden, bestimmte Vorstellungen, mal positive Zukunftsvisionen, mal schlimme Befürchtungen. In so ziemlich jeder gesellschaftspolitischen Debatte - vor allem in Talkshows mit PolitikerInnen - tauchen in schöner Regelmäßigkeit Sätze auf wie: »Die Individualisie- Lernkontrollfragen Wie differenziert Theodor Geiger den Klassenbegriff von Marx? Welche soziologischen und politischen Dimensionen hatte Schelskys nivellierte Mittelstandsgesellschaft? Vergleichen Sie »Boltes Zwiebel« mit »Dahrendorfs Haus«. Diskutieren Sie neue Zuweisungsmerkmale und neue Dimensionen sozialer Ungleichheit. 1 2 3 4 Infoteil Zur Sozialstruktur Deutschlands liegt seit 2008 das sehr informative und gut lesbare Lehrbuch von Johannes Huinink und Torsten Schröder vor. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2008. Zur Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich sei auf das gleichnamige Buch von Stefan Hradil hingewiesen. Wiesbaden: VS Verlag, 2010 (3., überarb. Aufl.). Eine ausführliche Darstellung der Sozialstruktur Deutschland findet sich bei Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands: Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung. Wiesbaden: VS Verlag, 2010 (6. Aufl.). | 3.2 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 155 <?page no="155"?> 156 rung hat das Leben der Menschen verändert«, oder: »Wir müssen die Chancen der Globalisierung nutzen«. Die beiden Begriffe gehören auch zum Repertoire der Soziologie, wobei der Begriff »Individualisierung« schon in den Anfängen der Soziologie geprägt wurde, während »Globalisierung« eher ein neues Modewort ist, das auch von der Soziologie aufgegriffen wurde. Sozialwissenschaftliche Kategorien bzw. soziologische Begriffe, die für bestimmte Phasen der Entwicklung sowie für die Beschreibung von Zuständen gesellschaftlicher Teilgruppen genutzt werden, sind einem dialektischen Prozess unterworfen. Je genauer und je anschaulicher sie sind, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen, die mit ihnen konfrontiert werden, sie für die Realität halten. Wir haben es hier mit einem Problem zu tun, das in Kapitel 1.3 zu Max Weber bereits einmal erörtert wurde. Mit Webers Worten gesprochen handelt es sich dabei um Begriffe, die eine hohe Kausal- und eine hohe Sinnadäquanz haben. Das führt leicht dazu, dass sie für die Realität gehalten werden, in dem Sinne, dass Max Webers Idealtypen dann für ideale Typen gehalten werden. Soziologische Begriffe haben die tückische Eigenschaft, die Grenzen zwischen Realität und wissenschaftlicher Analyse aufzuweichen und zu verwischen. Das hat auch damit zu tun, dass Soziologen und Soziologinnen dem Gegenstand ihrer Untersuchung, nämlich der Gesellschaft, selbst angehören. Meistens gelingt es auch nicht, die Formulierung der Begriffe und ihre Anwendung hundertprozentig von persönlichen Vorstellungen, Wünschen und Ängsten freizuhalten. Das ist auch ein Problem im Umgang mit Begriffen wie Individualisierung und Globalisierung. Individualisierung Dies zeigt sich schon bei der Untersuchung zu entsprechenden gesellschaftlichen Prozessen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurden. Eigentlich haben alle Soziologen, die wir in den ersten Kapiteln kennengelernt haben, die gesellschaftlichen Veränderungen vom Mittelalter in die Neuzeit untersucht. Wenn Emile Durkheim die Veränderungen so beschreibt, dass die Menschen nicht länger in mechanischer Solidarität, sondern in organischer Solidarität leben, dann kommt er ebenso wie Ferdinand Tönnies zu der Feststellung, dass sich die alten, festgefügten Strukturen, die dem Einzelnen Halt und Schutz gewährten, aufgelöst haben. Die Die Schwierigkeiten soziologischer Begriffsbildung 3.2.1 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 156 <?page no="156"?> 157 Menschen der industriellen Zeit müssen sich als vereinzeltes Individuum in gesellschaftlicher Arbeitsteilung zurechtfinden und leben in großen unpersönlichen Städten. Den Verlust gemeinschaftlicher Orientierungen nennt dann Georg Simmel erstmals Individualisierung. Gerade die Soziologen der frühen Phase gehen meist aber auch davon aus, dass dies eine zu kritisierende oder jedenfalls nicht sehr erfreuliche Entwicklung für die Menschen sei. Distanzierter, wenn auch immer noch besorgt über die Neurosen der modernen Menschen, ist Norbert Elias. In »Über den Prozess der Zivilisation« hat er den Prozess der Entstehung moderner, zentral regierter Staaten beschrieben und erklärt. Im Zusammenhang mit dem Entstehen dieser Staaten, die von Industrialisierung, einem Geflecht von Arbeitsteilung und Marktbeziehungen sowie einer Zunahme von Mobilitätschancen begleitet waren und den Menschen immer mehr Konsumchancen ermöglichten, werden die Menschen nach und nach selbständiger, und das heißt auch, sie werden individueller und können sich der Klassen- und Schichtzugehörigkeit wenigstens zum Teil entziehen. Im vorigen Kapitel ist gezeigt worden, wie bedeutsam diese Entwicklungen auch für die theoretischen Konzepte der Soziologie sind. Aber das eigentliche Problem entsteht außerhalb der Soziologie. In der Öffentlichkeit hat sich der soziologische Begriff der Individualisierung, mit dem langfristige Veränderungen gekennzeichnet werden, mittlerweile zu einem sozialpolitischen Programm verändert. Von der Rede über »Individualisierung« bis hin zu der Feststellung »Individualisierte Menschen sind für sich selbst verantwortlich« ist es nur ein kleiner Schritt. Das klingt recht harmlos, ist aber in der Konsequenz mit dem Abbau bzw. mit einer Verringerung der sozialen Sicherungssysteme verbunden und im Übrigen eine Schlussfolgerung zur Individualisierung, die bereits Herbert Spencer um 1880 vertrat. Die These von der Bastelbiographie Im Verlauf seiner Untersuchungen zu Gesellschaften jenseits von Klasse und Schicht hat Ulrich Beck davon gesprochen, dass die Individualisierung heutzutage Bastelbiographien ermögliche. Damit will er auf die Tatsache aufmerksam machen, dass alte Gewissheiten, die »von der Wiege bis zur Bahre« reichten, sich auflösen und sich damit neue Gestaltungsmöglichkeiten, aber - und das wird oft Individuen in gesellschaftlicher Arbeitsteilung Eine janusköpfige Entwicklung Individualisierung als Ideologie | 3.2.2 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 157 <?page no="157"?> 158 übersehen - auch neue Handlungszwänge ergeben. Leider wird in den öffentlichen Debatten fast nur der erste Teil gesehen, aber es gibt nicht nur Gewinner in diesem Spiel. Es ist sicher richtig, dass immer mehr Menschen mit einer immer besseren Ausbildung größere Möglichkeiten haben, ihre Biographien zu gestalten. Das kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nach wie vor bestimmte Lebenslagen und bestimmte Lebensstile gibt, in denen doch eine größere Zahl von Menschen zusammengefasst werden kann. Wer seine eigene Existenz betrachtet, wird schnell merken, dass es so viel zum Basteln gar nicht gibt. Es gibt kaum noch einen Beruf, den man erlernt und dann 40 Jahre ausübt. Einerseits wird das als Vorteil angesehen, und es wird auch unterstellt, dass die Menschen damit produktiv umgehen können. Meistens hören wir das von denjenigen, die von dem, was mit Individualisierung oder Bastelbiographie beschrieben wird, profitieren. Selbstverständlich ist der Manager, der Global Player der Meinung, dass er sich sein Leben selbst gestaltet. Aber wenn seine Arbeitnehmer auf die Idee kommen, andere Werte einzufordern als die traditionellen der Industriearbeiterschaft wie Fleiß und Unterordnung, ertönt schnell die Kritik, dass die Individualisierung die traditionellen Werte beschädige. Hochkonjunktur hatte der Begriff Individualisierung in der BRD in den 1980er Jahren. In der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts wurde sehr heftig über Individualisierungsprozesse debattiert, vor allem im Zusammenhang mit der Reduzierung sozialer Sicherungssysteme. Nach 1989/ 90 wurde einige Jahre über die Probleme der Wiedervereinigung diskutiert. Inzwischen ist aus der Individualisierungsdebatte die Globalisierungsdebatte geworden, aber die Strukturen der Debatten sind relativ ähnlich. Auch bei dem Begriff »Globalisierung« muss man zwischen empirischer Realität und sozialem Programm unterscheiden. Ökonomische Grundlagen der Globalisierung Ganz allgemein gesprochen ist Globalisierung eine weitere Internationalisierung der Produktion und der Kapitalströme. Es ist eine Veränderung der internationalen Arbeitsteilung bei flexiblerem Kapitaleinsatz zu beobachten, und dies hat auch für die räumliche Basis von Produktion und Kapitaleinsatz eine Bedeutung. Das ist eine relativ ökonomische Beschreibung, aber als Folge kann man eine buntere Mischung sehen: die Industrialisierung Bastelbiographien sind riskant Unterscheidung von empirischer Realität und sozialem Programm 3.2.3 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 158 <?page no="158"?> 159 neuer Räume, die De-Industrialisierung alter Produktionsstandorte, die Re-Industrialisierung ehemaliger Produktionsstandorte. Es gibt keine einheitlichen Entwicklungen, sondern nur unterschiedliche Richtungen eines allgemeinen Prozesses. Dieser Prozess hat die industrielle Entwicklung der letzten 150 bis 180 Jahre begleitet. Immer wenn eine technologische Innovation sich durchsetzte, veränderte sich auch die Organisation der Menschen in der Produktion, ihre soziale Hierarchie. Nehmen wir das Beispiel der Dampfmaschine. Mit ihr konnten plötzlich 40 Webstühle gleichzeitig betrieben werden, damit veränderte sich auch die Arbeitsorganisation und die Möglichkeit der sozialen Kontrolle der Arbeiter. Globalisierung bedeutet, dass die neu entstandenen Technologien international simultan anwendbar und vermarktbar sind und auch Massenproduktionen unter nahezu jeder Voraussetzung, d.h. nahezu an jedem Ort der Welt, möglich geworden sind. Globalisierung ist so gesehen Teil eines langfristigen gesellschaftlichen Prozesses, dessen Vorgeschichte mögliche Zukünfte mitbestimmt. Das öffentliche Reden über Globalisierung war und ist für die meisten Beteiligten eine rhetorische Strategie, mit der Mehrheiten gewonnen und Verhältnisse und Verhaltensweisen verändert werden sollen. Die Debatte über Globalisierung kann daher für die Entscheidung der Akteure wichtiger sein als die tatsächlich zugrunde liegenden Fakten, gerade wenn zu jedem Trend auch ein Gegentrend zu existieren scheint. In Deutschland fühlt man sich darüber hinaus eher als Opfer und Verlierer der Globalisierung, obwohl die Zahlen der Außenhandelsüberschüsse oder die Höhe der Direktinvestitionen von Ausländern diese Einschätzung nicht bestätigen. Eine Situation aber, die von Menschen als real verstanden wird, hat auch reale Konsequenzen. Globalisierung wird in Deutschland als relevantes, aber schwer kontrollierbares Phänomen wahrgenommen. Länder, die größere Anpassungen schon hinter sich gebracht haben wie Großbritannien oder solche, die sich aufgrund ihrer geringen Größe schon immer an internationale Trends anpassen mussten wie z.B. die Niederlande oder die sich in der Rolle der Gestalter der Globalisierung fühlen wie die USA, weisen deutlich andere Formen von Debatten über die Globalisierung auf als westeuropäische Staaten wie Frankreich oder Deutschland. Wie ist diese unterschiedliche Einschätzung zu erklären? De-Industrialisierung Massenproduktion an jedem Ort der Welt möglich Die Globalisierungsdebatte als rhetorische Strategie UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 159 <?page no="159"?> 160 Entgrenzung und Beschleunigung Menschen, und die kleinen und großen Gesellschaften, die sie miteinander bilden, definieren sich über Grenzen, durch Unterscheidungen zur jeweiligen Umwelt. Grenzen schaffen Identitäten, sie bestimmen darüber, wer zu etwas gehört und wer ausgegrenzt wird. Das gilt von der kleinen Einheit der Familie über Unternehmen bis hin zu Nationen. Grenzen definieren Wirkungszusammenhänge und Handlungsräume und ermöglichen Zuordnungen von Verantwortlichkeiten für Entscheidungen. Und, auch das ist sehr wichtig, Grenzen ermöglichen das Erkennen und Unterscheiden von Differenzen. Das zentrale Kennzeichen der Globalisierung ist, dass die bisherigen Grenzen verschwimmen. Das lässt diesen Prozess als etwas ganz Neues erscheinen. Es bleibt zwar vorläufig noch die Systemgrenze unseres Planeten, aber bei allen anderen Grenzen wird durch die gestiegene Zahl und Intensität der Interaktionen der Unterschied zwischen »drinnen und draußen«, zwischen »uns« und den »anderen« zunächst verwischt, und damit auch das, was eine Grenze ausmacht. Dabei können durchaus neue, kleinere Grenzen entstehen, wenn die großen fallen, wie es etwa nach dem Fall der Mauer in Deutschland gewesen ist. Es ist nicht so, dass Europa nun grenzenlos wäre. Veränderungen und Auflösungen von Grenzen sind an sich weder gut noch schlecht, sie müssen aber in ihren jeweiligen Konsequenzen verstanden werden, seien sie nun weitreichend oder marginal. Die Veränderung scheint dabei eine eigene Beschleunigung zu entwickeln. Alles geht viel schneller, von der Produktentwicklung bis zum Aufkommen und Verschwinden politischer Ideen oder Managementmethoden. Und auch hier gibt es wieder gegenläufige Tendenzen, nämlich den Versuch, sich an gestern erfolgreichen Methoden zu orientieren. Deshalb sind sich alle Beteiligten - Individuen, Organisationen, Unternehmen, politische Parteien - eben auch gar nicht sicher, wie sie auf die Herausforderungen, die sich mit diesen Entwicklungen verbinden, reagieren sollen. Das sind typische Probleme eines Übergangs, in dem das Alte nicht mehr wirkungsmächtig genug ist, das Neue sich aber noch nicht klar herausgebildet hat. Die Konsequenz daraus ist die Notwendigkeit, mit Ambivalenzen, Unsicherheiten und Überraschungen umgehen zu lernen. In der Wirtschaft wird das gerne Flexibilität genannt, Grenzen schaffen Identitäten Die alten Grenzen verschwimmen Alles geht jetzt viel schneller 3.2.4 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 160 <?page no="160"?> 161 wenn stabile, prognostizierbare Handlungsmuster fehlen. Dies gilt auch für die Debatte, die in der deutschen Gesellschaft über die Globalisierung geführt wird. Wie soll sich die Soziologie zu diesen Entwicklungen äußern, bzw. welche Zugänge gibt es? Es sind im Wesentlichen gesamtgesellschaftliche Probleme, um die es geht, was nahelegt, sich bei jenen soziologischen Ansätzen umzusehen, die sich mit gesellschaftlichen Entwicklungen befassen und entsprechende Theorien formulieren. Dies soll im Folgenden anhand zweier solcher Ansätze versucht werden, nämlich der Systemtheorie von Niklas Luhmann und der Prozesstheorie von Norbert Elias. Globalisierung - systemtheoretisch Niklas Luhmann hat in seinen Betrachtungen der gesellschaftlichen Entwicklung schon seit Anfang der 1980er Jahre nicht mehr davon gesprochen, dass es Nationalstaaten gibt, die mit dem sozialen System Gesellschaft identisch sind. Da Kommunikation die Grundeinheit sozialer Systeme bildet und die Möglichkeiten der Kommunikationstechnologien weit über die Ländergrenzen hinausreichen, war er schon seit längerem der Meinung, dass das soziale System Gesellschaft nicht mehr durch nationalstaatliche, geografische Grenzen bestimmt werden kann. Luhmann ging im Gegenteil davon aus, dass Menschen prinzipiell weltweit interagieren können. Er stellte eine weltweite öffentliche Meinung fest, beschrieb großräumige, zum Teil weltweite wirtschaftliche Verflechtungen sowie eine allgemeine Befriedung der Welt, die auch über die Grenzen hinweg funktionieren sollte. Dabei ging er nicht davon aus, dass wirklich jeder Mensch auf der Welt mit jedem anderen kommunizieren kann, also etwa ein Bewohner in einem brasilianischen Armenviertel mit einem Frankfurter Banker. Es geht Luhmann um die prinzipielle Möglichkeit, die auch innerhalb von Staaten nicht immer realisiert werden kann. Insgesamt haben sich die Zugangsvoraussetzungen zur weltweiten Interaktion verändert. Während es früher eher davon abhing, über welche Geldmittel jemand verfügte, wie hoch sein privates Vermögen war, das ihm diverse Zugänge zu anderen Ländern und anderen Menschen ermöglichte, so scheint sich dies mittlerweile einerseits durch die Zugehörigkeit zu weltweiten Organisationen, aber auch durch die Kommunikationstechnologie geändert | 3.2.5 Kommunikation bestimmt die Grenzen der sozialen Systeme Die Bedeutung der Kommunikationstechnologien UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 161 <?page no="161"?> 162 zu haben. Das lässt sich an einem einfachen Beispiel erklären. Italienische Auswanderer in die Vereinigten Staaten schrieben zu Beginn des vergangen Jahrhunderts einmal im Jahr einen Brief nach Hause, soweit sie jemanden fanden, der ihnen diesen Brief aufsetzte, und nach zwei Jahren kam dann vielleicht ein Antwortbrief und brachte Nachrichten aus Corleone, aber ansonsten gab es keine Kommunikation. Heute ist das ganz anders. Telefon und Internet machen es möglich, jederzeit mit Mitgliedern der Heimatgemeinde in Kontakt zu treten und Informationen über das Leben jenseits und diesseits des Atlantik auszutauschen. Diese neue Kommunikationssituation ist für Luhmann von großer Bedeutung. In einfachen, gering differenzierten Gesellschaften dominiert die Interaktion und Kommunikation unter Anwesenden. Interagieren, kommunizieren kann man nur mit jemandem, der sich am selben Ort befindet. Dies kann im Konfliktfall zur Bedrohung für den Fortbestand des Systems, der Gesellschaft führen. In solchen direkten Interaktionen können Konflikte nämlich nur vermieden oder direkt ausgetragen werden; sie können nicht auf einem Nebenschauplatz ausgetragen werden. Da Interaktionssysteme themenzentriert und sequenziell ablaufen, heißt dies automatisch, dass ein Konflikt alle Aufmerksamkeit und alle Ressourcen der Beteiligten auf sich zieht. Für Luhmann ist ein wesentliches Merkmal der heutigen Weltgesellschaft die Möglichkeit von Kommunikation bei Abwesenheit, oder wie er das ausdrückt: der Differenz von Interaktion und Gesellschaft. Damit kommt es zu einer Normalisierung von Konfliktverhalten. Zwar nehmen die Möglichkeiten zu Konflikten in ausdifferenzierten Gesellschaften zu, da mit zunehmender gesellschaftlicher Komplexität eine Differenzierung der Interessen und Perspektiven einhergeht, gleichzeitig ergibt sich aber auch die Möglichkeit, Konflikte auf Nebenschauplätzen auszutragen. Es können also Hauptinteressen weiterverfolgt werden, ohne dass die gesamte Aufmerksamkeit und alle Ressourcen des Systems in die Konfliktbewältigung eingebunden werden. So ist das Funktionieren der Gesellschaft nicht mehr vom Abbruch einzelner Interaktions- und Kommunikationsstrukturen bedroht. Das bedeutet auf der anderen Seite, dass in ausdifferenzierten Gesellschaften die Möglichkeit von Konflikten auch deshalb zunimmt, weil es nun relativ ungefährlich geworden ist, Teilkonflikte auszutragen. In dem Moment, in dem es nicht mehr lebensbedroh- Die Differenz von Interaktion und Gesellschaft Konflikte nehmen zu UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 162 <?page no="162"?> 163 lich für eine kleine Gruppe ist, interne Konflikte auszutragen, nimmt deren Zahl zu, da es die Möglichkeit gibt, diese Konflikte neben den Gesellschaften herlaufen zu lassen. Es können partikulare Interessen verfolgt werden, ohne die gesamte Aufmerksamkeit, ohne sämtliche Ressourcen des Systems zu binden. Wenn man das auf die öffentliche Debatte über Globalisierung überträgt, dann sieht man, dass die Unternehmer z.B. die Ziele ihrer Globalisierungsstrategien, wie etwa den Grad der internationalen Verflechtungen zu erhöhen, verfolgen, ohne dass es darüber zu einer intensiven Debatte in der Öffentlichkeit kommt. Luhmann hat deutlich gemacht, dass dies für ihn ein Prozess ist, der nicht rückgängig gemacht werden kann. Er glaubt zwar nicht, dass sich regionale Besonderheiten ganz auflösen; politische Forderungen werden nach wie vor an den Staat gerichtet, aber die interne Sanktion, auf welcher der Nationenbegriff beruht, löst sich in der Weltgesellschaft auf. Für ihn ist es von elementarer Bedeutung, diesen evolutionären Charakter der Weltgesellschaft zu verstehen. Regionale Gesellschaften werden, wie gesagt nicht, verschwinden, aber in der Weltgesellschaft an Bedeutung verlieren. Indem Luhmann die Kommunikation mit Abwesenden zum zentralen Kennzeichen einer ausdifferenzierten Weltgesellschaft erklärt, macht er es gleichzeitig möglich, die internen Abläufe innerhalb der beteiligten Gesellschaften im Globalisierungsprozess besser zu verstehen. Wenn Kommunikation die zentrale Kategorie in der Theorie ist, dann müssen diese unterschiedlichen Kommunikationsformen zur Erklärung gesellschaftlicher Zustände und Veränderungen herangezogen werden. Globalisierung - prozesstheoretisch Die zweite Möglichkeit, den Globalisierungsprozess soziologisch zu interpretieren, ergibt sich aus der Prozesstheorie von Elias. In seinem Buch »Über den Prozess der Zivilisation« zeigt er, dass die Entwicklung vom frühen Mittelalter bis in die frühe Neuzeit einmal durch den engen Zusammenhang von Psychogenese und Soziogenese in langfristiger Hinsicht bestimmt war und dass man mit kurzfristigen statischen Betrachtungen die eigentliche Dynamik der Figurationen, in welchen die Menschen der jeweiligen Zeit eingebunden waren, nicht erkennen kann. Aus seiner Perspektive kann Globalisierung die jüngste Phase eines Prozesses der fortschreiten- Weltgesellschaft Kommunikation als zentrale Kategorie Globalisierung: jüngste Phase in einem langfristigen Prozess? | 3.2.6 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 163 <?page no="163"?> 164 den Integration von Menschen sein, in dem die Verhaltensweisen der Menschen sowie die Organisationsformen menschlicher Gruppen, die zudem zahlenmäßig und von ihrer geografischen Ausdehnung her immer größer werden, spezifischen Wandlungen unterliegen. Man kann dazu drei Ebenen analytisch unterscheiden: 1. Die Ausweitung des Handlungsradius, zumeist als Folge technischer Innovationen. 2. Die Zunahme der Interdependenz als Folge gesellschaftlicher Differenzierung. 3. Das Größenwachstum der gesellschaftlichen Einheit. Elias hat dies für die verschiedenen Phasen der Entwicklung als strukturierten Prozess beschrieben. In diesem können wiederum jeweils die Reaktionen der Menschen untersucht werden. Für die Neuzeit hat er dies in seinem Buch »Die Gesellschaft der Individuen« in Teil drei: »Wandlungen der Wir-Ich-Balance« beschrieben bzw. aufgrund seiner soziologischen Analyse prognostiziert. Es sind im Wesentlichen drei Veränderungen, die die einzelnen Integrationsschübe für die Individuen mit sich bringen, nämlich jeweils die Frage, • ob sie einen individuellen Machtverlust erleiden, • ob es eine fortschreitende Individualisierung gibt und • ob es etwa eine Bedrohung der kollektiven Identität gibt. Bei der Analyse der Auswirkungen der Globalisierung auf unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft ist von Bedeutung, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft im gleichen Maße von den Folgen der Globalisierung betroffen sind. Dabei spielen die Ressourcen, über welche die Individuen verfügen, eine Schlüsselrolle. Unter Ressourcen kann unter Anlehnung an Pierre Bourdieu nicht nur das ökonomische Kapital, sondern auch das kulturelle und soziale verstanden werden. Globalisierung - soziale Lagen und Milieus Untersucht man die drei Veränderungsprozesse, dann lassen sich in der deutschen Gesellschaft grob drei Gruppen unterscheiden: • die politisch-ökonomische Elite, • die kritisch-intellektuelle Elite und • die gegen Lohn arbeitende Bevölkerung. Wir-Ich-Balancen verschieben sich Es geht immer um Ressourcen von Macht 3.2.7 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 164 <?page no="164"?> 165 Die politisch-ökonomische Elite entfernt sich immer mehr vom Großteil der Bevölkerung. Zum Leben dieser Menschen gehört, dass sie häufig mit Menschen anderer ethnischer Zugehörigkeit verhandeln müssen. Sie sprechen fremde Sprachen, Arbeitsplatz und Wohnort können im Laufe eines Berufslebens in mehreren Erdteilen liegen. Gewinne entstehen zunehmend auch oder ausschließlich außerhalb des eigenen Geburtslandes, lassen sich ohne grenzüberschreitenden Verkehr kaum noch erwirtschaften. In diesem Sinne sind für sie globale Entwicklungen häufig von größerer Bedeutung als nationale. Im Alltag bewegen sich diese Menschen zunehmend abgetrennt vom gesellschaftlichen Alltag der Mehrzahl der Bevölkerung. Sie benutzen selten öffentliche Nahverkehrssysteme, wohnen relativ abgesondert, residieren in oberen Etagen von repräsentativen Bürotürmen. Die Sorgen und Nöte der Mehrheit der Bevölkerung wie Wohnungsnot, Kindergartenplatzmangel, Steuerbelastung, Konkurrenz um knappe Güter erfahren sie, wenn überhaupt, aus den Medien, wobei offen bleiben kann, was sie dort tatsächlich erfahren. Zwischen dieser Gruppe und dem Großteil der Bevölkerung liegt als Puffer die ebenso engagierte wie hilflose kritisch-intellektuelle Elite. Diese Menschen leben in einer nicht ganz so stark segregierten Situation wie die politisch-ökonomische Elite, befinden sich auch nicht in einer direkten Wettbewerbsposition, etwa zu ethnischen Minderheiten. Aus humanitären, ökologischen, religiösen und/ oder utopischen Idealen - im Allgemeinen aus einer Verknüpfung mehrerer dieser Motive - fühlen sie sich als Teil der Einen Welt. Ihr Engagement gilt der Sensibilisierung der nationalen Öffentlichkeiten für globale Zusammenhänge sowie der Mobilisierung nationenübergreifender Initiativen und Bewegungen. Dabei herrscht in dieser Gruppe angesichts der politischen Umstrukturierungen und der Initiativen der politisch-ökonomischen Elite eine gewisse Verunsicherung vor. Alte Überzeugungen werden erneut hinterfragt, statt einheitlicher Positionen sind tiefe Spaltungsprozesse zu beobachten. Zu bemerken ist dies bei Fragen wie Umweltschutz in Dritte-Welt-Nationen oder bei humanitären Aktionen in Bürgerkriegsgebieten, wie z.B. im Kosovo. Die Folge ist das weitgehende Fehlen einer öffentlichen Gegenposition zur nationalen Politik- und Medienwelt sowie eine weitgehende machtpolitische Bedeutungslosigkeit dieser Gruppe. Die Lebenswelt der politisch-ökonomischen Elite Die kritischintellektuelle Elite Engagement für die »eine« Welt Die Gesellschaft ist gespalten UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 165 <?page no="165"?> 166 Aber die beiden ersten Gruppen haben doch immer noch die Vorstellung, sich aktiv an der Gestaltung des gemeinsamen Lebens beteiligen zu können. Dies unterscheidet und spaltet sie ab von dem größeren Teil der Bevölkerung - von einem Rest kann dabei kaum gesprochen werden. Das sind im Wesentlichen jene Menschen, die gemeint sind, wenn in der Öffentlichkeit von der »Gesellschaft« oder der »Bevölkerung« gesprochen wird. Diese Gruppe ist allerdings nicht homogen, sondern in sich wiederum gespalten. Sei es in Mittel- und Unterschicht, sei es in diejenigen, die Arbeit haben, und diejenigen, die ohne Beschäftigung sind, sei es in Inländer mit Pass und Ausländer ohne Pass, sei es in solche, die eine Wohnung haben, und solche, die wohnungslos sind oder - wenn man dem französischen Mode-Autor Michel Houllebecq folgen will - in solche, die täglich Sex haben, und solche, die nie welchen haben. Die Erfahrung hat diese Menschen gelehrt, dass Veränderungen meist Verschlechterungen ihrer Lebensumstände bedeuten. Sie stehen in einem harten Wettbewerb um die knappen Güter des Lebens - in ihrer Wahrnehmung vor allem mit Menschen anderer ethnischer Zugehörigkeit. Sie sind keineswegs global orientiert, sondern ziemlich hilflos dem ausgesetzt, was mit Entgrenzung und Beschleunigung als globale Herausforderung in den Wirtschafts- und Kulturteilen der Medien so gepriesen wird. Persönlicher Machtverlust und Individualisierungsschub lassen sich auch mit der Erforschung von Lebensstilen vor allem in Großstädten verbinden. Dort, wo sich wirtschaftliche und politische Kontrollfunktionen mit Medien- und Bildungseinrichtungen bündeln und sich demzufolge die ressourcenmächtigeren Menschen konzentrieren, sind seit Jahren neue Konsum- und Freizeiteinrichtungen entstanden. Der Großteil der Bevölkerung kann an diesen neuen Formen der Individualisierung nur beschränkt teilnehmen. Zwischen den Ressourcen einer Person und eines Haushaltes und den Möglichkeiten, den aus der sozialen Globalisierung resultierenden Individualisierungsschub zu nutzen, besteht oft eine große Kluft. Globalisierung und Re-Nationalisierung Aus der prozesstheoretischen und der Milieuforschungsperspektive lassen sich nicht nur für den persönlichen Machtverlust und die Individualisierungsschübe soziologische Einsichten gewinnen, Veränderungen bedeuten für viele Menschen Verschlechterungen 3.2.8 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 166 <?page no="166"?> 167 sondern auch für die Bedrohung der kollektiven Wir-Identität. Auch hier können gruppenspezifische Unterschiede festgestellt werden. Und auch hier ist es wieder der Großteil der Bevölkerung, der besonders bedroht ist bzw. sich besonders bedroht fühlt. Problematisch für die nationale Wir-Identität ist das Verschwimmen der Grenzen zwischen deutsch und nicht-deutsch: Menschen mit türkischen Namen als Fußballspieler mit deutschem Pass, manchmal sogar als Parlaments-Abgeordnete, perfekt deutsch sprechende Jugendliche ohne deutsche Staatsbürgerschaft, deutschstämmige AussiedlerInnen mit deutschem Pass, die gebrochen deutsch sprechen. Es ist immer schwieriger geworden, die nationale Wir-Ebene klar zu bestimmen. Gleichzeitig scheint das Deutsch-Sein in einem sich integrierenden Europa kaum noch von Bedeutung zu sein. In einer ökonomisch schwierigen Zeit ist eine derartige Verunsicherung besonders schwer zu ertragen. Besonders stark ist die Verunsicherung bei den aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten oder von der Ausgrenzung und von dem damit verbundenen sozialen Abstieg bedrohten Menschen. Sie erfahren im Alltag immer stärker die Entsolidarisierung ihrer Mitmenschen. In mancherlei Hinsicht - etwa in der Konkurrenz um Sozialwohnungen oder Kindergartenplätze - erhalten sie den Eindruck, mit Menschen fremder Herkunft, die aus ihrer Sicht nicht Teil des eigenen Wir-Bildes sind, gleichgestellt zu sein oder ihnen gegenüber sogar benachteiligt zu werden. Und so kommt es zu fremdenfeindlichen Einstellungen und Vorfällen. Das erklärt sich als Reaktion auf die Verunsicherung, auf die Bedrohung der kollektiven Identität, die dann zu einer stärkeren Betonung der nationalen Identität führt. Als Reaktion auf die Bedrohung des eigenen Wir-Bildes wird dieses überbetont. Nationale Symbole bekommen Hochkonjunktur. Für die beiden kleineren, elitären Gruppen der Gesellschaft, die über mehr Ressourcen verfügen, gilt diese Verunsicherung in viel geringerem Maße. Interessant ist dabei die Rolle, die die kritischintellektuelle Elite spielt. Auf der einen Seite ist sie Trägerin des Bewusstseins von der Einen Welt. Menschenrechtsaktivitäten, weltweite Umweltschutzaktivitäten und Friedensinitiativen gehen häufig von dieser Gruppe der Bevölkerung aus. Auf der anderen Seite kann spätestens seit der deutschen Wiedervereinigung hierzulande ebenfalls eine gewisse Verunsicherung über das nationale Wir beobachtet werden, beispielsweise bei SchriftstellerInnen oder Der Gedanke an die eigene Nation ist noch vorhanden Verunsicherung und Fremdenfeindlichkeit UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 167 <?page no="167"?> 168 wenn es um die Frage geht, ob es noch Utopien gibt. Bei der politischökonomischen Elite kann dagegen schon seit längerem eine emotionale Entnationalisierung beobachtet werden, die in dem Modewort »global player« ihren Ausdruck findet. Eine Bedrohung der kollektiven Identität wird von dieser Gruppe kaum empfunden. Lernkontrollfragen Was verstehen die soziologischen Autoren des späten 19. Jahrhunderts unter Individualisierung und wie bewerten sie diesen Vorgang? Vergleichen Sie die Ansätze von Niklas Luhmann und Norbert Elias bei der Erklärung von Globalisierung. 1 2 Zusammenfassung ˘ Am Schluss dieses Kapitels lässt sich festhalten, dass gesellschaftliche Entwicklungen und ihre aktuellen Ausprägungen sich mit den Möglichkeiten der verschiedenen Ansätze soziologisch-theoretischen Arbeitens durchaus erklären und besser verstehen lassen. Selbstverständlich wäre es auch denkbar, nun in Fortsetzung der Analyse der systemtheoretisch, prozesstheoretisch und aus der Perspektive der Milieu- und Lagenforschung gewonnenen Einsichten weitere Überlegungen zu dem Fortgang von Gesellschaften in einer sich globalisierenden Welt anzustellen. Dies würde den Rahmen dieser Einführung jedoch bei weitem überschreiten. Es soll nur darauf hingewiesen werden, dass über die Zukunft durchaus systematisch nachgedacht werden kann, wenn zuvor die Struktur der zurückliegenden Prozesse analysiert und der gegenwärtige Zustand genau untersucht wird. Der größere Teil der soziologischen Forschungsarbeit besteht im Wesentlichen immer wieder in genau dieser Aufgabenstellung. Allerdings sind die Auffassungen bei denjenigen, die empirische Sozialforschung betreiben und sich dabei damit befassen, wie solche Untersuchungen durchgeführt werden, sehr unterschiedlich. Von Anfang an haben die soziologischen Autoren versucht, ihre theoretischen Überlegungen mit empirischen Fakten zu unterlegen. So gesehen hat die empirische Sozialforschung eine lange Tradition. Im letzten Kapitel soll nun diese Tradition und ihre derzeitigen Ausprägungen noch einmal in einer Längsschnittanalyse und einer Querschnittsbetrachtung vorgestellt werden. Soziologie als Hilfe zum Verstehen der Globalisierung Wie lässt sich über die Zukunft nachdenken? UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 168 <?page no="168"?> 169 Empirische Sozialforschung Untersuchungen zum täglichen Leben der Menschen, zu ihren Vorlieben, ihren Abneigungen, ihren Einstellungen zu politischen Ereignissen oder Persönlichkeiten in der Politik begegnen uns täglich. Inzwischen gibt es kein Produkt mehr, das nicht im Hinblick auf seine Akzeptanz vorher auf dem Markt getestet wird. Es gibt keine Wahl, bei der nicht alle 14 Tage, manchmal wöchentlich, im Vorhinein die Einstellungen der Wählerinnen und Wähler erfragt werden. Von Einschlafgewohnheiten über sexuelle Praktiken bis hin zu Formen der Altersvorsorge - alles wird erfragt, untersucht und dann berichtet. Grundlage dieser Berichte sind in den allermeisten Fällen Befragungen einer ausgewählten Gruppe von Menschen innerhalb der Gesellschaft. Sie werden entweder mit einem Fragebogen konfrontiert oder die notwendigen Fragen werden per Telefoninterview erhoben. Dann gibt es noch die Auswertung von statistischem Material, wie es etwa das Statistische Bundesamt monatlich, vierteljährlich und jährlich veröffentlicht. Diese Zahlenwerke sind eine reiche Fundgrube für die Sozialforschung. Mit diesen drei Quellen: Fragebogen, Telefoninterview, statistische Erhebungen wird der Groß- Infoteil Eine kritische Auseinandersetzung zum Umgang mit dem Thema Individualisierung hat Markus Schroer im Übersichtsartikel Individualisierung vorgelegt, der im Handbuch Soziologie von Nina Baur et al. (Hg.) enthalten ist. Interdisziplinäre Forschungsergebnisse zur Globalisierung finden sich bei Helmut Berking in seinem Beitrag Globalisierung, ebenfalls im Handbuch Soziologie. Internationale Zusammenhänge und Strategien werden von Ulrich Beck in Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2009 untersucht. Lernkontrollfragen Setzen Sie sich kritisch mit dem Begriff »Bastelbiographie« auseinander. Wie lässt sich die Parallelität von Globalisierung und der Zunahme nationaler Symbole erklären? 3 4 | 3.3 Die alltägliche Marktforschung Instrumente der Sozialforschung UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 169 <?page no="169"?> 170 teil der sozialwissenschaftlichen empirischen Forschung bestritten. Dies ist allerdings eine Sozialforschung, die im Wesentlichen außerhalb der universitären Sozialforschung stattfindet. Die großen kommerziellen Institute arbeiten gründlich, aber sie wollen auch effizient-ökonomisch sein und konzentrieren sich deshalb auf Verfahren, die in relativ kurzer Zeit zu einem Ergebnis führen. Die soziologische Forschung, die an den Universitäten betrieben wird, deren Ergebnisse z.B. in dem Kapitel über soziale Ungleichheit vorgestellt wurden, brauchen längere Zeit und eine größere Spannweite von Forschungsmethoden, die auch tatsächlich existiert. Sozialforschung im 19. Jahrhundert Die neue Wissenschaft Soziologie, das war die These von Auguste Comte, braucht für ihre Aussagen über die Gesellschaft empirische Belege. Das war die zusätzliche Anforderung, die er für die Soziologie formulierte. Im modernen, dem positiven Wissenschaftszeitalter sollten sich soziologische Arbeiten vor allem auf die Erfassung und Erklärung beobachtbarer und erfahrbarer Tatsachen konzentrieren. Er selbst hat persönliche Beobachtungen und Erfahrungen aus Quellen Dritter in seinen langfristigen Studien verwendet. Bei Karl Marx geht es anders als bei Comte nicht länger um die Einführung einer spezifisch soziologischen Arbeitsmethode, sondern um den Beleg der Generalthese und vieler daraus entwickelter Unterhypothesen, dass die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen sei. Marx verwendet sekundärstatistisches Material, d.h. Wirtschaftsstatistiken, ethnologische Reiseberichte, Informationen über die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse in verschiedenen Ländern. Er findet diese Unterlagen alle in der British Library. Das ist der Grund, warum er und viele nach ihm in dem berühmten reading room des Britischen Museums, zu dem die British Library gehört, gearbeitet haben. Diese große Bibliothek hat bis in die 1950er Jahre jedes gedruckte Werk, das auf der Welt erschien, in seinen Bestand aufgenommen und war schon deshalb für die Sozialforschung immer ein wichtiger Ort, insbesondere aber für die Untersuchung von historischen Entwicklungen zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert. Der nächste der Autoren aus der Geschichte der Soziologie, die wir im ersten Teil dieses Einführungsbuches behandelt haben, ist Beobachtung Datensammeln 3.3.1 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 170 <?page no="170"?> 171 Emile Durkheim mit seiner Studie über den Selbstmord. Es war die erste soziologisch-empirische Studie zu diesem Thema. Sie ist auch heute noch lesenswert und nicht in jeder Hinsicht überholt. Durkheim hatte festgestellt, dass es in verschiedenen Staaten und in den verschiedenen geschichtlichen Phasen einer Gesellschaft Unterschiede in den Selbstmordraten gab. Er überprüfte alle denkbaren Faktoren - von geografischen über ökonomische bis zu psychologischen - mit dem Ergebnis, dass nur eine soziologische Antwort befriedigen kann. Das war auch als Abgrenzung zu den anderen Wissenschaften gedacht. Indem deren Unfähigkeit aufgezeigt wurde, soziale Tatbestände zu erklären, konnte die Soziologie leichter als eigenes Fach erfolgreich etabliert werden. Durkheim findet drei verschiedene Formen von Selbstmord heraus. Der egoistische Selbstmord erklärt sich dadurch, dass Menschen im Leben keinen Sinn mehr sehen, der altruistische Selbstmord, dass den Menschen, die sich umbringen, dieser Sinn nur außerhalb des eigenen Lebens möglich zu sein scheint. Die dritte Form von Selbstmord, die er ganz besonders für die Neuzeit belegt sah, wird von Menschen vollzogen, denen ihr Handeln regellos erscheint und die darunter leiden. Den Ursprung dieses Selbstmordes nennt er anomisch. Wie auch bei seinen anderen zentralen Arbeiten über die Gesellschaft kommt er hier auf die anomischen Zustände zurück, die dann zu einem anomischen Verhalten führen. In Kapitel 1.3 dieses Buches, das sich der Soziologie Max Webers widmet, ist auch die Landarbeiterstudie erwähnt worden, die im vollen Titel »Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland« heißt. Weber wertete eine große Fragebogenaktion des »Vereins für Socialpolitik« aus. Insgesamt waren in einer ersten Welle 3.180 landwirtschaftliche Arbeitgeber befragt worden. Die Fragebögen waren sehr ausführlich und erfassten alle Fragen von der Größe des Betriebes über Arten und Verfahren des Anbaus bis hin zu der Entlohnung der Knechte und Mägde und der Verwendung des Gewinns. Weber wertete diejenigen Fragebögen aus, die das ostelbische Deutschland betrafen. Bei der Auswertung dieser ersten Befragungsaktion wurde ihm bald klar, dass die Antworten der landwirtschaftlichen Arbeitgeber durch deren Sicht geprägt waren. Er hat deshalb parallel eine Befragung aller evangelischen Pfarrer in Deutschland durchgeführt, an die etwa 15.000 Fragebögen gesandt wurden. Davon kamen etwa 1.000 zurück. Bei die- Studie zum Selbstmord Befragung der Landarbeiter in Preußen Der anomische Selbstmord UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 171 <?page no="171"?> 172 sen Fragebögen übernahm Weber dann wieder die Auswertung der Fragebögen, die Ostelbien betrafen. An dieser Stelle kann bereits über mögliche Fehlerquoten bei sozialwissenschaftlichen Untersuchungen gesprochen werden. Schon bei der Erhebung von Emile Durkheim muss unterstellt werden, dass die Daten, die in den einzelnen Ländern und in den verschiedenen Phasen der Entwicklung einer einzelnen Gesellschaft erhoben wurden, nach den gleichen Kriterien erhoben worden sind. Die Definition von Selbstmord muss immer gleich sein. Das konnte Durkheim so gar nicht überprüfen. Er hat durch die Fülle des Materials wahrscheinlich das Glück gehabt, doch eine halbwegs richtige Antwort zu finden. Aber gerade aus der Untersuchung von Geburt und Tod sind in der Literatur die wunderlichsten Ergebnisse berichtet worden. So hat ein Bevölkerungswissenschaftler durch die Auswertung von Kirchenbüchern die interessante Feststellung gemacht, dass über viele Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts in England die Kinder immer in der ersten Woche des Monates geboren wurden und daraus dann eine sozialwissenschaftliche These zu Arbeitsorganisation und Geburtenhäufigkeit entwickelt. Später musste er dann zu seiner Überraschung feststellen, dass die Ergebnisse dadurch zustande kamen, dass es in den Kirchengemeinden üblich war, immer am ersten Sonntag im Monat die Geburten der letzten vier Wochen ins Kirchenbuch einzutragen. Quellen von Fehlinterpretationen ergaben sich bei der Landarbeiterstudie dadurch, dass überhaupt nicht kontrolliert werden konnte, ob die Angaben, die die ländlichen Arbeitgeber über ihr Personal machten und auch über alle anderen Umstände ihres ökonomischen Handelns, den Tatsachen entsprachen oder etwa eine spezifische Schlagseite hatten, d.h. das, was heute in der Sozialforschung als bias bezeichnet wird. Sozialforschung in den 1920er Jahren In Deutschland ist aus dieser Zeit zunächst auf die Untersuchungen von Theodor Geiger zur sozialen Schichtung des deutschen Volkes hinzuweisen. Es war in Kapitel 3.1 bereits berichtet worden, dass er Volkszählungsbögen interpretiert hat und auf der Basis von Beobachtung und Erfahrung zu der Überlegung kam, dass es neben einer sozialen Einteilung in drei Klassen noch fünf Schichten Mögliche Fehlerquellen 3.3.2 | Untersuchungen zu Klassen und Schichten UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 172 <?page no="172"?> 173 gibt, die sich vor allen Dingen durch ihre Mentalität bestimmen lassen. Geiger griff zu der Zeit schon auf erste Arbeiten zurück, die in den USA entstanden waren. Arbeiten zur soziologischen Theorie waren im frühen 20. Jahrhundert in den USA eher selten. Soziologie bestand eher aus einer Mischung aus christlicher Gesinnung, Wissenschaft und Weltverbesserung, die in der Literatur als »social gospel« bezeichnet wird. Im Vordergrund stand die Auswertung und Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Lösung sozialer Probleme. Die Masseneinwanderungen aus allen Teilen der Welt, vor allem aus Europa, das rasche Wachstum der großen Städte und die Rassengegensätze waren hierzu Anlass genug. Hinzu kam, dass es in den USA schon damals kaum sozialpolitische Absicherungen und Regelungen gab. Und auch Sozial- und Krankenversicherung sowie Einrichtungen der Krankenversorgung und der Wohlfahrtspflege fehlten. Dabei wurde vor allem auf europäische Soziologen zurückgegriffen. Wir haben auf den Einfluss von Herbert Spencer hingewiesen. Auch wurden Ferdinand Tönnies und Max Weber angehört, wenn sie die USA besuchten. Großen Einfluss hatte Georg Simmel. Von ihm gibt es eine direkte Verbindung zur Chicagoer Schule, der ersten bedeutenden und einer bis heute bekannten Richtung der amerikanischen Soziologie mit einem Schwerpunkt in der empirischen Sozialforschung. Sie entstand am Department of Sociology der University of Chicago. Dort orientierte man sich an deutschen Beispielen. Grundlagenforschung stand im Vordergrund. Einer der wichtigsten Professoren, Robert E. Park, hatte bei Georg Simmel studiert und sich vor allem für die Einwanderung und die Entwicklung der großen Städte interessiert. Das Buch »The City« von Robert E. Park und seinen Kollegen Ernest W. Burgess und William McKenzie ist bis heute ein Klassiker in der Soziologie und einer speziellen Richtung, der Sozialökologie. Die Chicagoer Schule entwickelte nicht nur Verfahren zur besseren Untersuchung von Städten, sondern tat dies im Rahmen einer sozialökologischen Theorie, die davon ausging, dass das wesentliche Organisationsmerkmal innerhalb menschlicher Gesellschaften die Konkurrenz ist. Hier erfolgt eine Übernahme der Thesen von Charles Darwin und Herbert Spencer. Konkurrenz ist auch in pflanzlichen und tierischen Populationen beobachtbar, aber Park zeigt, dass es für menschliche Gesellschaften eine besondere Ebene gibt, die er mit den Begriffen Kommunikation und Kultur be- Die Chicago School Konkurrenz, Kommunikation und Kultur UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 173 <?page no="173"?> 174 schreibt und dann für die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zu dem Begriff »competitive cooperation« verknüpft. Seine These ist, dass die Entstehung bestimmter räumlicher Strukturen ein Reflex auf diese, wie er es nennt, biotischen Strukturen ist. Das Ergebnis bestimmter, auf den Wettbewerb zurückzuführender Prozesse sind in der Stadt einzelne Quartiere, Ghettos oder andere Siedlungsformen. Parks ursprüngliches Ziel war es gewesen, eine stärkere Orientierung der Sozialwissenschaften an empirischen Methoden zu erreichen. Am Beispiel des Stadtentwicklungsmodells seines Kollegen Burgess kann man sehen, wie die von ihnen gemeinsam entwickelte Sozialraumanalyse ausschließlich zu bestimmten einzelnen Kriterien wie Beschäftigung, Ausbildung, Miete, Fruchtbarkeit, Frauenerwerbsquote, Einfamilien- und Ausländeranteil kommt, die dann wiederum noch zu drei Indikatoren, nämlich sozialer Rang, Urbanisation und Segregation städtischer Differenzierung zusammengefasst werden. So konnten Park und seine Kollegen auf empirisch-methodologischem Gebiet erreichen, dass die Effektivität statistischer Erhebungen und vor allem die Auswertung sekundärstatistischen Materials verbessert und verfeinert werden konnte. Die Arbeiten der Chicagoer Schule sind insbesondere in der soziologischen Stadtforschung bis heute ein wichtiges Datum und ein Ausgangspunkt für Forschungsüberlegungen, insbesondere zur Veränderung von Stadtteilen, wie sie etwa durch die Veränderung der Bevölkerung oder aber auch bestimmter Industriestrukturen zu beobachten sind. Dabei hat sich z.B. bei einer Untersuchung in Bern durch Bernd Hamm in den 1970er Jahren gezeigt, dass die von der nordamerikanischen Sozialökologie gefundenen drei Hauptindikatoren sozialer Rang, Urbanisation und Segregation nicht in dieser Breite Verwendung finden müssen. Sozialer Rang und Urbanisation können ohne Informationsverlust durch die Variablen Bodenpreis und Miete ersetzt werden. Sozialforschung in den 1930er Jahren Um 1930 waren die meisten Methoden und Verfahren sozialwissenschaftlicher Forschung bekannt und in verschiedener Hinsicht angewendet worden. Allerdings zeigte sich bald, dass mit den Methoden noch keine Entscheidung über den Inhalt der jeweiligen Forschungsfrage getroffen war. Das hing wie eh und je von der Fra- Kriterien der Sozialraumanalyse 3.3.3 | UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 174 <?page no="174"?> 175 gestellung ab, die der einzelne Sozialforscher bzw. eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern entwickelte. Dies kann an zwei sehr gegensätzlichen Beispielen aus den 1930er Jahren gezeigt werden. Das erste Beispiel ist die Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal«, die Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel Anfang der 1930er Jahre in einem kleinen Ort an der Donau, eine halbe Bahnstunde von Wien entfernt gelegen, durchführten. Das Besondere an diesem Ort war, dass die Menschen dort seit etwa 1830 in einer Flachsspinnerei arbeiteten, die bis 1926 ständig wuchs, nach einer ersten Krise 1926, in der die Belegschaft zunächst halbiert wurde, dann nach einem neuerlichen Aufschwung 1930 schließlich doch geschlossen werden musste. Diese Situation, dass ein größerer Teil der Menschen in einem Dorf die Arbeit verliert, ist etwas, was auch heutzutage immer wieder beobachtet und berichtet wird. Die Untersuchung, die damals in dem Ort Marienthal durchgeführt wurde, ist auch heute noch lesenswert, und nur wenige Untersuchungen, die heutzutage durchgeführt werden, haben einen so intensiven Eindruck von dem materiellen und ideellen Elend von Arbeitslosigkeit widerspiegeln können. Die Methoden und Verfahren, die die Mitglieder der Forschungsgruppe anwandten, waren einmal eher als das zu charakterisieren, was heutzutage quantitative Methoden heißt. Es wurden Katasterblätter ausgewertet, an die Familien wurden Zeitverwendungsbögen ausgeteilt, die dort ausgefüllt wurden, Anzeigen und Beschwerden wurden geprüft, die Bestandteile der Mahlzeiten wurden notiert, Protokolle geschrieben, statistische Daten wurden erhoben und die Bevölkerungsstatistik ausgewertet. Ein Kleinod soziologischer Forschung Quantitative und qualitative Forschung Quantitativ Qualitativ Katasterblätter Tagebücher Bevölkerungsstatistik Schulaufsätze Statistische Daten Geschichte der Familie Zeitverwendungsbögen Preisausschreiben Zahl der Rechtsfälle ˘ Erhebungsmerkmale in Marienthal UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 175 <?page no="175"?> 176 Unter qualitativen Forschungsmethoden würden heute das Aufschreiben von Lebensgeschichten und die Nutzung der Möglichkeit verstanden werden, in der Schule von den Kindern Aufsätze über ihre Situation schreiben zu lassen. Es wurde ein Preisausschreiben veranstaltet, in dem die besten Berichte prämiert wurden, historische Angaben wurden überprüft, und die Forscher führten ein eigenes Tagebuch. Die Arbeitslosen von Marienthal werden von der Forschungsgruppe als eine »ermüdete Gemeinschaft« gekennzeichnet. Dies kann an zwei kleinen zusammenfassenden Grafiken belegt werden. Einmal die Unterschiede, die in dem täglichen Ablauf in den Aktivitäten entstehen, wenn nur noch Arbeitslosengeld und dann nach einigen Monaten vielleicht nur noch eine geringe Arbeitslosenhilfe zur Verfügung steht. Dann gibt es noch eine zweite, sehr interessante Interpretation des alltäglichen Lebens. Es wurde nämlich die Geschwindigkeit von Passanten auf der Straße gemessen. Man stellte deutliche Unterschiede fest, insbesondere bei denjenigen, die resigniert und verzweifelt waren. Diese Menschen haben einen viel langsameren Schritt, und die Sozialforschungsgruppe dokumentierte, dass mehr als die Hälfte der Männer relativ langsam die Dorfstraße entlang gingen, während die Frauen, die den Haushalt führen mussten, noch zügig unterwegs waren. Eine »ermüdete« Gesellschaft Bei Lohnarbeit Bei Arbeitslosigkeit Regelmäßige Einkaufsfahrten nach Wien Zugfahrt nicht länger erschwinglich Teilnahme an Festen und Feiern Keine größeren Veranstaltungen mehr Gepflegter Stadtpark Stadtpark vernachlässigt und abgeholzt Kindergarten für alle Kinder Kindergartenpersonal nicht länger finanzierbar Vereinszugehörigkeit Starker Mitgliederrückgang UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 176 <?page no="176"?> 177 Vor allem die Verwendung der durch den Wegfall der Arbeit frei werdenden Zeit hatte die Gruppe um Marie Jahoda besonders interessiert und in diesem Zusammenhang eben auch, wie nach und nach die Widerstandskraft der Menschen nachlässt. Zu Beginn der Arbeitslosigkeit gab es noch Hoffnung und eine Zeit lang auch finanzielle Widerstandskraft durch kleinere Ersparnisse. Aber je länger die Arbeitslosigkeit dauerte, umso mehr nutzten sich Kleidung und Haushaltsgegenstände ab. Außerdem beobachtete die Wiener Gruppe, dass die Arbeitslosigkeit die positiven und negativen Qualitäten einer Ehebeziehung verstärkte, dass, weil die Eltern mehr Zeit hatten, die Kinder in der Regel besser versorgt wurden, dass es unterschiedliche individuelle Ausprägungen des Umgangs mit Arbeitslosigkeit gibt und dass als letzte Widerstandsmöglichkeit die Leugnung des tatsächlichen Zustandes auftritt. Während die Studie über die »Arbeitslosen von Marienthal« seitdem als ein Klassiker der Gemeindeforschung und der Untersuchung der Folgen von Arbeitslosigkeit gilt und auf keiner Literaturliste fehlt, ist es bei dem zweiten Beispiel aus den 1930er Jahren ganz anders. 1927 wurde an der Hamburger Universität ein Lehrstuhl für Soziologie eingerichtet und mit dem Soziologen Andreas Walther besetzt. Andreas Walther setzte sich für eine stark empirische Ausrichtung der Soziologie ein, u.a. ausgelöst durch eine Forschungsreise in die USA, wo er 1926 in intensiven Kontakt mit den Mitgliedern der Chicagoer Schule kam. Er führte erste großstadtsoziologische Untersuchungen nach dem Muster durch, das Park, Burgess und McKenzie entwickelt hatten. Andreas Walther gehörte aber auch zu einer Gruppe von Soziologen, die sich während der Zeit der Weimarer Republik für eine so genannte »deutsche« Soziologie stark machten, in der es vor allen Dingen um die Untersuchung der Verhältnisse in Deutschland, aber auch die Nutzbarmachung der Soziologie für deutsche Politik Gehgeschwindigkeit Männer Frauen 5 Km/ h 21 % 59 % 4 Km/ h 24 % 18 % 3 Km/ h 55 % 23 % Psycho-soziale Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 177 <?page no="177"?> 178 ging. So war es nicht verwunderlich, dass er einerseits 1933 in die NSDAP eintrat und auf der anderen Seite die Soziologie in Hamburg von den Nationalsozialisten stark gefördert wurde. Andreas Walter gehörte zu jenen Sozialwissenschaftlern, die mit ihren Ergebnissen der Partei und dem Staat dienen wollten und die Soziologie als eine empirische Volks- und Gemeinschaftslehre verstanden. Dazu gehörten auch die Arbeiten, die er unter dem Titel »Neue Wege zur Großstadtsanierung« 1936 veröffentlichte. Allerdings ist der Titel mit unserem heutigen Verständnis von Sanierung nicht in Einklang zu bringen, denn bei Walter ging es nicht nur allein um Wohngegenden, die sich in einem schlechten baulichen und hygienischen Zustand befanden, sondern vor allen Dingen um solche Teile der Stadt, in denen »gemeinschädigende« bzw. »volksschädliche Elemente« wohnten. Solche Wohnviertel, in denen überdurchschnittlich viele Kommunisten, Homosexuelle, Fürsorgezöglinge, Langzeitarbeitslose, Alkoholiker, Drogenabhängige, Prostituierte oder Zuhälter lebten, wurden als »gemeinschädigende« Gegenden lokalisiert. Vor allem sollten so genannte »Schädlingsnester« lokalisiert werden und dann die eigentliche soziale Stadtsanierung beginnen. Walther wollte zuerst die »gesund Gebliebenen« aus den »gemeinschädigenden« Häusern herausnehmen. Die »nur Angesteckten« sollten in »gesunde Lebenskreise«, vorwiegend in ländliche Siedlungen verpflanzt werden. Die »nicht Besserungsfähigen« blieben zurück und konnten so gezielt unter Kontrolle gestellt werden. Für Walter war für diese Personen entweder Sicherungsverwahrung (Konzentrationslager) oder für diejenigen mit biologischen Defekten »Unfruchtbarmachung« (Zwangssterilisation) angezeigt. Schließlich sollten die »volksschädigenden« Häuser abgerissen werden. In der Breite der zur Anwendung kommenden Forschungsmethoden und in dem Fantasiereichtum der Erhebungsverfahren sind beide Studien, »Die Arbeitslosen von Marienthal« und die Großstadtsanierungsstudie von Walter, durchaus vergleichbar. Nicht jedoch in der Anlage der Untersuchung und ihrer Zielsetzung. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass die sozialwissenschaftlichen Methoden und Erhebungsverfahren gegenüber dem Inhalt der Forschung unspezifisch sind. Es kommt also sehr darauf an, mit welchem Grad an Verantwortung der einzelne Sozialforscher oder die Sozialforscherin an die Forschungsaufgabe herangeht. Soziologie im Nationalsozialismus Auf der Suche nach »Volksschädlingen« Es kommt auf die Fragestellung, nicht auf Methoden der Forschung an UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 178 <?page no="178"?> 179 Die Einführung der Stichprobe als Auswahlverfahren Die Methoden der empirischen Sozialforschung waren in den frühen 1930er Jahren weitgehend entwickelt. Allerdings fehlte noch ein Verfahren, das heute viele Untersuchungen mit strukturiert. Bis dahin hatten die Forscher entweder eine umfangreiche Erhebung aller ihnen zugänglichen Quellen vorgenommen wie etwa Karl Marx, Vollerhebungen durchgeführt wie der »Verein für Socialpolitik« bei der Enquête zur Lage der Landarbeiter oder kleinere Untersuchungseinheiten gewählt wie z.B. Marienthal oder Hamburger Stadtteile. Im Zusammenhang mit der Entstehung und der Verfeinerung der Umfrageforschung in den USA gegen Ende der 1930er und in den frühen 1940er Jahren wurde ein Verfahren entwickelt, das sich auf die Befragung eines ausgewählten Teiles der Bevölkerung beschränkt und dabei auf eine hohe Wahrscheinlichkeit bei der Richtigkeit der Ergebnisse setzt. Die Berechnung der Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse von Befragungen einer ausgewählten Gruppe nimmt heute einen großen Teil des Unterrichts in Statistik und Methoden ein, den allen Studierende der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fächer erfolgreich absolvieren müssen. Dabei ist die Grundidee relativ simpel. Es ist forschungsökonomisch sinnvoll, nur einen Ausschnitt der Bevölkerung, der Einwohner einer Stadt oder der Benutzer von feuchtem Toilettenpapier zu befragen, wenn angenommen werden kann, dass die erhaltenen Antworten mit hoher Wahrscheinlichkeit die Meinung der jeweiligen Gesamtheit wiedergeben, d.h. repräsentativ sind. Oft wird auch die mögliche Abweichung der Ergebnisse mit genannt. Das ist besonders entscheidend bei der Wahlforschung und den Prognosen über Stimmanteile. Wenn angegeben wird, dass die Richtigkeit der Prognose um zwei Prozent nach oben oder unten abweichen kann, dann bedeutet das für kleinere Parteien wenig Sicherheit über den Einzug ins Parlament (drei Prozent, fünf Prozent, sieben Prozent) oder bei großen Parteien über die Gewinnung der Mehrheit (36 Prozent, 38 Prozent, 40 Prozent). Die Sozialforschung, die z.B. die Ergebnisse der heutigen Ungleichheitsforschung erarbeitet, wendet nach wie vor ein breites Spektrum von Methoden an, darunter sicher auch die Befragung oder Beobachtung von speziell oder repräsentativ ausgewählten Teilgruppen. Das ist der normale Standard, der sowohl in einbändigen Ein weiterer Meilenstein: die Einführung der Stichprobe Die Risiken der Wahlforschung | 3.3.4 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 179 <?page no="179"?> 180 Lehrbüchern als auch in umfangreichen Darstellungen, die bis zu acht Bände umfassen, nachgelesen werden kann. Diskussionen gibt es einmal über Fragen der Qualitätssicherung und zweitens darüber, welche Vorteile quantitative bzw. qualitative Forschungsmethoden haben. Kriterien der Qualitätssicherung Die drei wichtigsten Kriterien für die Qualität empirischer Sozialforschung sind Objektivität, Zuverlässigkeit und Gültigkeit. Unter Objektivität wird vor allem verstanden, in welchem Ausmaß die Ergebnisse einer Untersuchung unabhängig sind von der Person, die diese Untersuchung durchgeführt hat. Dazu gibt es eine Reihe von Tests, wobei eine hohe Objektivität dann vorliegt, wenn zwei unterschiedliche Personen die gewählten Untersuchungsmethoden an dem gleichen Forschungsobjekt anwenden und zu übereinstimmenden Resultaten kommen. Dies wird in so genannten Korrelationskoeffizienten gemessen, wobei die Skala von der vollständigen Übereinstimmung der ersten und der zweiten Messung bis zur vollständigen Nichtübereinstimmung der beiden Messungen reicht. Die Verwendung des Wortes »Messung« bzw. »Messinstrument« deutet schon an, dass es sich hierbei um die Übernahme eines Qualitätsmerkmales handelt, das aus den Naturwissenschaften stammt. Bei der Anlage von naturwissenschaftlichen Experimenten ist jedoch die Objektivität wesentlich einfacher zu messen als bei einer Befragung unter Obdachlosen in verschiedenen Städten Deutschlands. Das Gleiche gilt für die Frage der Zuverlässigkeit. Als zuverlässig gelten Methoden, die bei wiederholter Anwendung auch durch verschiedene Forschungsinstitutionen oder auch einzelne Forschungspersönlichkeiten gleiche Ergebnisse erbringen. Während sich das Kriterium Objektivität auf das Verfahren bezieht, ist die Frage der Zuverlässigkeit mit den Ergebnissen verbunden. Dies lässt sich auch wieder mit einem Beispiel aus naturwissenschaftlichen Experimenten erklären. Die Messung einer Entfernung kann durch ein Maßband, durch Radarstrahlen oder auch durch Laserstrahlen erfolgen, und zuverlässig sind die Ergebnisse dann, wenn sie übereinstimmen. Auch dieses ist ein Kriterium, das im Wesentlichen aus der naturwissenschaftlich-experimentellen Forschung in die Sozialwissenschaften übernommen worden ist. Wobei für die beiden Qualitätsmerkmale Objektivität und Zuverlässigkeit bei strenger Objektivität 3.3.5 | Zuverlässigkeit UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 180 <?page no="180"?> 181 Anwendung das Ergebnis sein kann, dass sozialwissenschaftliche Ergebnisse lediglich in der Bestätigung von Sprichwörtern wie »gleich und gleich gesellt sich gern« oder anderer Lebensweisheiten bestehen. Das dritte Qualitätsmerkmal ist die Gültigkeit eines Ergebnisses. Dies lässt sich ebenfalls wieder an einem einfachen Beispiel erklären. Mit den beiden ersten Verfahren lassen sich sehr gut Intelligenztests erstellen, die in beiden Fällen hohe Werte der Übereinstimmung erzielen. Dabei ist aber immer noch nicht geklärt, ob es sich bei dem, was gemessen wurde, um Intelligenz handelt. Erstens könnte es bei den Sozialforschern ein Missverständnis darüber geben, was Intelligenz ist, oder aber diejenigen Personen, die Intelligenztests besonders gut handhaben können, produzieren besonders gute Ergebnisse, was das Ergebnis ebenfalls verfälschen würde. An dieser Stelle hat sich die Debatte entzündet, ob eher quantitative oder eher qualitative Methoden zur Anwendung kommen sollen. Nicht zuletzt durch die Entwicklung der Frauen-/ Geschlechterforschung hat sich gezeigt, dass die von Männern entwickelten Forschungsmethoden unter Umständen gerade eben nicht jene Gültigkeit der Ergebnisse produzieren, die der Lage der Frauen in der Gesellschaft gerecht werden. Gerade in diesem Forschungsfeld hat sich das Argument ausgebildet, dass es darauf ankommt, die befragten Personen nicht einfach nur als Objekte der Sozialforschung zu betrachten, sondern sie in ihrer Subjektivität in die Untersuchungen mit einzubeziehen und so zu einem Forschungsprozess zu kommen, in dem die ursprünglichen Forschungsfragen durch die Mitarbeit der Untersuchten relativiert und neu operationalisiert werden. Eine solche Vorgehensweise halten die strengen Verfechter der quantitativen Sozialforschung für völlig verfehlt. Sie bezweifeln, dass auf diese Art und Weise noch objektive und zuverlässige Aussagen möglich sind, und sind der Meinung, dass das Ganze in einer Art Spekulation endet, die dem Fach eher schadet als nützt. Dieser Konflikt hat unter anderem dazu geführt, dass sich in der Gesellschaft für Soziologie von der Sektion »Empirische Methoden«, die lange Zeit von den Päpsten der quantitativen Forschung beherrscht wurde, seit 1996 eine neue Sektion »Qualitative Sozialforschung« abgespalten hat, in deren Vorstand - das überrascht sicher nicht - sich im Wesentlichen Frauen befinden. Inzwischen ist die Frage der Einbeziehung der Beforschten aber zu einem Standardthema in der soziologischen Forschung im enge- Gültigkeit Der Streit über quantitative und qualitative Methoden UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 181 <?page no="181"?> 182 ren, aber auch der Sozialforschung im weiteren Sinne geworden. Es hat sich bei vielen Untersuchungen gezeigt, dass eine Metapher, die Theodor W. Adorno zugeschrieben wird, sich allzu häufig in der Praxis der Forschung bewahrheitet. Adorno soll gesagt haben, es sei unsinnig zu glauben, dass man bei der Sozialforschung durch die Linse eines Fotoapparates schaut und dann mit einer kurzen Belichtung ein »objektives« Bild aufnimmt. Vielmehr sei es so, dass sich erstens trotz der kurzen Belichtungszeit die Personen auf dem Bild bewegen, und zweitens man unter Umständen feststelle, dass man sich als Fotograf selber auf dem Bild wiederfinde. Von daher ist der Gegensatz zwischen quantitativer und qualitativer Sozialforschung eher ein abstrakter Schulenstreit. In der Realität der Sozialforschung wird überdies fast immer ein Mix verschiedener Methoden zur Anwendung kommen, je nachdem, welche Forschungsfrage untersucht werden soll. Im Übrigen ist die Frage, ob zuerst die empirische Forschung und dann die theoretische Reflexion oder erst die theoretische Arbeit und dann die empirische Anwendung kommt, eine so genannte Henne-Ei- Frage. Soziologische Forschung ist ohne Theoriearbeit und entsprechende soziale Phantasie ebenso wenig denkbar wie ohne gründliche Untersuchungen gesellschaftlicher Prozesse und Situationen. In jedem Fall sollte aber bedacht werden, was einer der Hauptvertreter der so genannten quantitativen Schule, Jürgen Friedrichs, festgehalten hat: »Die Methoden der empirischen Sozialforschung mögen weitgehend wertfrei sein; ohne die soziale Reflexion und politischen Intentionen des Forschers bleiben sie jedoch abstrakt.«. So war es, seit es das Fach Soziologie gibt, und so wird es auch in Zukunft sein. Der Fotograf ist mit auf dem Bild Die Forschungsfrage bestimmt den Methodenmix Lernkontrollfragen Was unterscheidet die empirische Sozialforschung der 1920er Jahre von jener in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts? Überprüfen Sie, was Sie über die Lage der heutigen Arbeitslosen wissen und entwickeln Sie ein entsprechendes Forschungsprogramm. Welche grundsätzlichen Unterschiede lassen sich zwischen quantitativen und qualitativen Methoden feststellen? 1 2 3 UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 182 <?page no="182"?> 183 Infoteil Die Studie Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit von Marie Jahoda et al. ist als Taschenbuch erhältlich, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2009 (22. Aufl.). Die quantitativen Methoden sind zu finden bei Jürgen Friedrichs: Methoden empirischer Sozialforschung, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1990 (14. Aufl.); sowie bei Rainer Schnell, Paul B. Hill und Elke Esser: Methoden der empirischen Sozialforschung, München: Oldenbourg, 2008 (8., unveränd. Aufl.). Zu den qualitativen Methoden sei auf Uwe Flick: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung, Reinbek bei Hamburg : Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2009 (vollst. überarb. und erw. Neuausg., 2. Aufl.) verwiesen. Das Verhältnis von qualitativer und quantitativer Forschung untersuchten Christian Seipel und Peter Rieker in Integrative Sozialforschung. Konzepte und Methoden der qualitativen und quantitativen empirischen Forschung, Weinheim ; München: Juventa Verlag, 2003. Die Methoden und die Probleme soziologischer Forschungsprozesse sind zur Einführung gut zu studieren mit dem Buch von Helmut Kromrey: Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung, Stuttgart: Lucius & Lucius, 2009 (12., überarb. und erg. Aufl.). Nützliche Software und Fundorte für Daten finden sich im gleichnamigen Kapitel (S. 127-132) in dem von Nina Baur und Sabine Fromm herausgegebenen Buch Datenanalyse und SPSS für Fortgeschrittene. Ein Arbeitsbuch, Wiesbaden: VS Verlag, 2008 (2., überarb. und erw. Aufl.). UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 183 <?page no="183"?> 184 Allmendinger, Jutta: Verschenkte Potenziale? Lebensverläufe nicht erwerbstätiger Frauen. Frankfurt/ Main/ New York 2010. Baur, Nina et al. (Hrsg.): Handbuch Soziologie. Wiesbaden 2008. Baur, Nina; Fromm, Sabine: Nützliche Software und Fundorte für Daten, in: diess.: Datenanalyse und SPSS für Fortgeschrittene. Ein Arbeitsbuch. Wiesbaden 2008 (2., überarb. und erg. Auflage). Beck, Ulrich: Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderband 2). Göttingen 1983, S. 35-74. Beck, Ulrich: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Frankfurt/ Main 2009. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/ Main 2003. Becker, Ruth/ Kortendiek Beate (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden 2010 (3. Aufl.). Beck-Gernsheim, Elisabeth: Juden, Deutsche und andere Erinnerungslandschaften. Im Dschungel der ethnischen Kategorien. Frankfurt/ Main 1999. Beck-Gernsheim, Elisabeth: Der geschlechtsspezifische Arbeitsmarkt. Frankfurt/ Main 1981 (2. Aufl.). Berger, Peter L./ Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/ Main 2009 (23. Aufl.). Berghaus, Margot: Luhmann leicht gemacht. Stuttgart 2011 (3., überarb. und erg. Aufl.). Berking, Helmut: Globalisierung, in: Baur, Nina et al. (Hrsg.): Handbuch Soziologie, Wiesbaden 2008. Bilden, Helga: Geschlechtsspezifische Sozialisation. In: Klaus Hurrelmann (Hg.): Einführung in die Sozialisationstheorie. Weinheim 1998 (5. Aufl.): Beltz, S. 279-301. Bourdieu, Pierre: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz 2010 (2. Aufl.). Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/ Main 2003. Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg 1992. Bourdieu, Pierre: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt/ Main 1979. Bourdieu, Pierre: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellektuellen. Frankfurt/ Main 1989. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/ Main 1993 Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt/ Main 1975. Burgess, Ernest W./ Janowitz M./ Park Robert E.: The City. Chicago 1984. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/ Main 2003. Comte, Auguste: Rede über den Geist des Positivismus. Hamburg, 1994. Comte, Auguste: System der positiven Politik, Wien 2004. Darwin, Charles: The Origin of the Species. New York 1998. Dubiel, Helmut: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas. Weinheim/ München 1992 (2., erw. Aufl.). Durkheim, Emile: Der Selbstmord. Frankfurt/ Main 2002. Gesamtliteraturverzeichnis UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 184 <?page no="184"?> 185 Durkheim, Emile: Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt/ Main 1992. Eco, Umberto: Der Name der Rose. München 1986. Eco, Umberto: Nachschrift zum Namen der Rose. München 1986. Elias, Norbert: Humana conditio. Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Frankfurt/ Main 2002. Elias, Norbert: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt/ Main 1983. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Frankfurt/ Main 2003. Elias, Norbert: Engagement und Distanzierung. Frankfurt/ Main 1990 (2. Aufl.). Elias, Norbert: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt/ Main 2002 ( Neuaufl.). Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Frankfurt/ Main 2003 (22. Aufl.). Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. München 1973. Engels, Friedrich/ Marx, Karl (Hrsg. von Iring Fetscher): Studienausgabe in vier Bänden. Frankfurt/ Main 1990. Etzrodt, Christian: Sozialwissenschaftliche Handlungstheorien. Konstanz 2003. Flick, Uwe: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Reinbek bei Hamburg 2004 (2. Aufl.). Friedrichs, Jürgen: Methoden der empirischen Sozialforschung. Opladen 1990 (14. Aufl.). Fuchs-Heinritz, Werner: Auguste Comte. Einführung in Leben und Werk. Opladen 1998. Fuchs-Heinritz, Werner, et al. (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie, Wiesbaden 2011 (5., grundlegend überarb. Aufl.). Geiger, Theodor: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage. Stuttgart 1987. Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Zwischenbilanz zur Vereinigung. Opladen 2002 (3. Aufl.). Gildemeister, Regine: Die soziale Konstruktion von Geschlechtlichkeit. In: Hark, Sabine (Hrsg.) Dis/ Kontinuitäten, S. 51-68, Wiesbaden 2007 (2. Aufl.). Goffman, Erving: The Arrangement between the Sexes. In: Theory and Society 4,3. S. 301- 331. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag. München 2010 (20. Aufl.). Goudsblom, Johan: Feuer und Zivilisation. Frankfurt/ Main 1995. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt/ Main 1999 (6. Aufl.). Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/ Main 1995. Harding, Sandra: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken die Wissenschaft neu. Frankfurt/ New York 1994. Hill, Paul B.: Rational Choice Theorie. Bielefeld 2002. Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 2007 (5., vollständig überarb. und erw. Aufl.). Horkheimer, Max: Von der traditionellen zur kritischen Theorie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Paris: Alcan, 1937, wieder abgedruckt im Band 4 der Gesammelten Schriften, Frankfurt/ Main 1988. Gesamtliteraturverzeichnis UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 185 <?page no="185"?> 186 Horkheimer, Max: Studien über Autorität und Familie. Lüneburg 2005 (2. Aufl.). Huinink, Johannes/ Schröder, Torsten: Sozialstruktur Deutschlands. Konstanz 2008. Hradil, Stefan: Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich. Wiesbaden 2010 (3., überarb. Aufl.). Hradil, Stefan: Soziale Ungleichheit in Deutschland. Stuttgart 1999 (7. Aufl.). Jahoda, Marie, et al.: Die Arbeitslosen von Marienthal. Frankfurt/ Main 2009 (22. Aufl.). Kaesler, Dirk (Hg.): Klassiker der Soziologie, Bd. 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias. München 2006 (5. Aufl.). Bd. 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu. München 2007 (3. Aufl.). Kaesler, Dirk/ Vogt, Ludgera (Hg.): Hauptwerke der Soziologie. Stuttgart 2000. Kaesler, Dirk: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt/ Main 2003 (3. Aufl.). Klein, Gabriele/ Liebsch, Katharina (Hrsg.): Zivilisierung des weiblichen Ich. Frankfurt/ Main 1997. Kneer, Georg/ Nassehi, Armin: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme: Eine Einführung. München 2000 (4. Aufl.). Korte, Hermann: Einführung in die Geschichte der Soziologie. Opladen 2003 (7. Aufl.). Korte, Hermann: Über Norbert Elias, das Werden eines Menschenwissenschaftlers. Opladen 1997. Kunz, Volker: Theorie rationalen Handelns. Konzepte und Anwendungsprobleme. Opladen 1997. Kromrey, Helmut: Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung. Stuttgart 2009 (12., überarb. und erg. Aufl.). Lenz, Ilse: Die Neue Frauenbewegung in Deutschland: Abschied vom kleinen Unterschied. Ausgewählte Quellen, Wiesbaden 2009. Lichtblau, Klaus: Georg Simmel. Frankfurt/ Main 1997. Luhmann, Niklas: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin 1999 (5. Aufl.). Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. München 2004. Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt/ Main 1995 (17. Aufl.). Martin, Hans-Peter/ Schumann, Harald: Die Globalisierungsfalle. Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand. Reinbek bei Hamburg 1996. Marx, Karl/ Engels, Friedrich: MEGA. Berlin 1975. Miebach, Bernhard: Soziologische Handlungstheorie. Opladen 1991. Mies, Maria: Patriarchat und Kapital. Frauen in der internationalen Arbeitsteilung. Zürich 1996 (5. Aufl.). Miller, Max: Ellbogenmentalität und ihre theoretische Apotheose. Einige kritische Anmerkungen zur Rational Choice Theorie, in: Soziale Welt, Heft 1/ 1994, S. 5-15. Montesquieu, Charles de: De L’ésprit des lois. Oxford: Voltaire Foundation (u.a.), 1998. (Dt. Ausg.: Vom Geist der Gesetze). Stuttgart 1986. Münch, Richard: Theorie sozialer Systeme. Eine Einführung in Grundbegriffe, Grundannahmen und logische Strukturen. Opladen 1976. Gesamtliteraturverzeichnis UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 186 <?page no="186"?> 187 Ostner, Ilona: Soziale Ungleichheit, Ressentiment und Frauenbewegung. Eine unendliche Geschichte, in: Sonderheft 38/ 1998 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie zum Thema: Die Diagnosefähigkeit der Soziologie. Hrsg. Von J. Friedrichs et al., Opladen/ Wiesbaden 1998, S. 383-403. Parsons, Talcott: Das System moderner Gesellschaften. Weinheim 2009 (7. Aufl.). Rehbein, Boike: Die Soziologie Pierre Bourdieus. Konstanz 2011 (2., überarb. Aufl.). Reinhold, Gerd (Hg.): Soziologie-Lexikon. München 2000 (4. Aufl.). Schäfers, Bernhard (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie. Stuttgart 2006 (9., grundlegend überarb. Aufl.). Schnell, Rainer/ Hill, Paul B./ Esser, Elke: Methoden der empirischen Sozialforschung. München 2008 (8., unveränd. Aufl.). Schroer, Markus: Individualisierung, in: Baur, Nina et al. (Hrsg.): Handbuch Soziologie, Wiesbaden 2008. Schwingel, Markus: Pierre Bourdieu zur Einführung. Hamburg 2003 (4. Aufl.). Seipel, Christian/ Rieker, Peter: Integrative Sozialforschung. Konzepte und Methoden der qualitativen und quantitativen empirischen Forschung. Weinheim 2003. Simmel, Georg: Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt/ Main 1992, herausgegeben von Otthein Rammstedt, Bd. 11 der Gesamtausgabe. Spencer, Herbert: Die ersten Prinzipien der Philosophie. Pähl 2004. Spencer, Herbert: Einleitung in das Studium der Sociologie / Der Klassiker ohne Gemeinde und einer Bibliographie und Biographie. Göttingen 1996. Spencer, Herbert: Social Statistics. London 1996. Steger, Ulrich (Hrsg.): Facetten der Globalisierung. Ökonomische, soziale und politische Aspekte. Berlin/ Heidelberg 1999. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Darmstadt 2010 (8. Aufl.). Treibel, Annette: Die Soziologie von Norbert Elias: Eine Einführung in ihre Geschichte, Systematik und Perspektiven. Wiesbaden 2008. Treibel, Annette: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. Wiesbaden 2006 (7., aktualisierte Aufl.). Villa, Paula-Irene: Sexy Bodies. Eine soziologische Zeitreise durch den Geschlechtskörper. Wiesbaden 2006 (3. Aufl.). Villa, Paula-Irene: Judith Butler. Frankfurt/ New York 2011 (2 Aufl.). Weber, Max: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausgabe. Herausgegeben und eingeleitet von Dirk Kaesler. München 2010 (3. Aufl.). Weber, Max: Die Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland. Vaduz, Liechtenstein 1989. Weber, Max: Schriften zur Wissenschaftslehre. Stuttgart, 1991. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 2002 (5. Aufl.). Weber, Max: Schriften 1894-1922. Ausgewählt und eingeleitet von Dirk Kaesler. Stuttgart 2002. Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule: Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, München 2008 (7. Aufl.). Winker, Gabriele/ Degele, Nina: Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld 2009. Gesamtliteraturverzeichnis UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 187 <?page no="187"?> 188 Anpassung 37, 52, 69, 85f., 118 Arbeit 21, 24, 28f., 32, 42, 44, 55, 68, 82, 86, 90, 113, 115, 131, 138, 166, 175, 177, 182 Arbeiter 26, 28ff., 84, 86, 110, 131, 134f., 153, 159 Arbeiterschaft 34, 80, 84f., 89, 92, 141f. Arbeitslosigkeit 175ff. Arbeitsmarkt 120, 167, 184 Arbeitsteilung 20, 25, 26, 28, 40ff., 52, 68, 112ff., 115, 121, 127f., 157f., 184, 186 Aufklärung 14f., 33, 52, 78, 86, 90, 92f., 105f., 184 Autorität 15, 62, 85ff., 110, 186 Bevölkerung 20, 36, 149, 164ff., 174, 179 Bürgertum 80, 83, 91, 127f., 142 Bürokratie 101, 143 Demokratie 44, 93, 169, 186 Dialektik 82, 90 Differenzierung 18f., 35, 37, 40, 45, 52, 68, 75ff., 130, 143, 152, 162, 164, 174 Disziplin 14, 34, 61, 64 Elite 164f., 167 Emanzipation 17, 78, 86, 91ff., 106 Emotionalität 87, 114 Entfremdung 86, 88 Entwicklung 9, 17, 18ff., 30, 32ff., 37ff., 44f., 47, 53, 55, 65, 75, 77, 80, 82f., 89, 93, 104, 110, 112, 118, 121, 124ff., 130ff., 135, 147, 155ff., 159, 161, 163f., 172f., 181, 185, 187 Erziehung 42, 44, 56, 86ff., 93f., 111, 142 Evolution 34, 37 Exil 22, 81, 83f., 122, 145 Familie 38, 47, 49, 85ff., 93, 100f., 107, 110f., 114f., 132, 153, 160, 175, 186 Feudalsystem 15 Forschungsmethoden 16, 103, 170, 176, 178, 180f. Fortschritt 20, 38, 75f., 141 Frauenbewegung 105f., 109ff., 120, 187 Funktion 60, 71ff., 75, 92 Gemeinschaft 39, 42, 46ff., 52, 142, 176, 187 Geschichte 13f., 22ff., 33, 38, 50, 82f., 86, 90, 93, 105, 109, 112, 120f., 126, 130, 170f., 175, 186, 187 Geschlechterforschung 10f., 104f., 108, 112, 118, 120f., 181 Geschlechterverhältnis 115 Gesellschaftsformationen 27f., 32, 40, 82, 113 Gesellschaftstheorie 33f., 64, 78, 92, 94f. Gewalt 15, 39, 127ff., 138, 147 Gleichberechtigung 105, 109 Globalisierung 10, 138, 152, 155f., 158ff., 166, 168f., 187 Gruppe 16, 21, 28, 49ff., 62, 71, 78, 91, 119, 136, 145f., 150, 152, 163, 165ff., 169, 175, 177, 179 Habitus 78, 132, 134ff., 138 Handeln 36f., 51, 57ff., 68f., 74, 91f., 94ff., 105, 118f., 136, 171 Handlung 58, 68f., 101, 104, 118 Handlungstheorie 10, 64, 68, 80, 94f., 102, 104, 121, 139, 186 Haushalt 114, 176 Herrschaft 20, 61f., 85ff., 93 Herrschaftssystem 85 Idealtypus 59f., 65, 125, 156 Identität 120, 164, 167f. Individualisierung 10, 151f., 155ff., 164, 166, 168f., 184, 187 Individualität 100f. Individuum 15, 38, 40f., 49, 68, 78, 90, 95f., 98ff., 122, 129, 135, 138, 157 Industrialisierung 18, 29, 46f., 75, 141, 157, 159 Industriegesellschaft 42, 44f., 152, 154 Institutionen 15, 24, 35f., 56, 85f., 95, 101, 127 Interaktion 98f., 102f., 118f., 160ff. Interdependenz 35, 126, 128, 130, 164 Interpretation 44, 49f., 101f., 176 Intimität 87 Stichwortverzeichnis UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 188 <?page no="188"?> 189 Kapital 25f., 42, 56, 82, 121, 133f., 136f., 164, 186 Kapitalismus 25, 28f., 32, 34, 53ff., 63ff., 82, 85f., 88, 112, 115f., 130f., 146f., 187 Klasse 29f., 32, 81, 89, 119, 133f., 136, 141f., 150f., 154, 157, 184f. Klassenlage 133, 143f., 185 Kommunikation 57, 74, 76f., 91f., 99, 161ff., 174 Komplexität 18, 74ff., 79, 92, 103, 112, 162 Konflikt 97, 109, 162, 181 Konkurrenz 29, 49, 126ff., 150, 165, 167, 173 Kontrolle 124, 159, 178 Kritische Theorie 9, 79f., 84f., 89, 93, 184 Kultur 15, 36, 67f., 84, 114, 130f., 133, 174 Lebenswelt 78, 91ff. Macht 55, 61, 87, 98, 128, 133, 184 Medien 165f. Mentalität 144, 173 Merkantilismus 113 Methoden 10, 13, 16, 51, 62, 80, 102, 160, 174f., 178, 179ff., 185, 187 Mittelschicht 134, 136, 143, 147ff., 153 Mittelstand 143f., 146, 149, 150 Monarchie 15 Monopol 113 Monopolkapitalismus 129 Moral 37, 40, 42, 44f. Nationalität 153f. Normen 35f., 42, 71, 96, 102, 118, 125, 134 Oberschicht 101, 131, 148 Öffentlichkeit 89ff., 93, 109, 114, 117, 152, 155, 157, 163, 166, 185 Ökonomie 87 Ordnung 15, 20, 62, 128, 141 Organisation 25, 49ff., 54, 110, 159, 186 Organisationen 51, 73, 94, 111, 160f. Organismus 35, 37f., 43, 52, 67, 68 Parteien 30, 40, 142, 145, 160, 179 Patriarchat 114, 116, 121, 186 Persönlichkeit 54, 94, 100 Praxis 13, 21, 64, 82, 84, 92, 103, 133, 136, 138f., 182, 184f. Produktion 18f., 23ff., 31f., 92, 107, 114, 158f. Produktionsmethoden 53, 89 Produktionsmittel 25ff., 84, 141f. Produktivkräfte 25ff., 53, 83 Prozess 18, 23, 35, 54, 86, 90, 99, 102, 123ff., 138, 154, 156f., 159f., 164 Psychoanalyse 63, 85 Psychogenese 123, 135, 138, 163 Rationalität 19, 91, 93, 114 Reformen 17, 108 Religion 31, 38, 42, 47, 84 Reproduktion 113f. Schicht 88, 146, 150f., 154, 157 Schule 79f., 87, 89, 91, 93, 101, 106, 121, 173f., 176f., 182, 186f. Segregation 174 Sinn 57f., 60f., 133, 146, 171, 184 Solidarität 39ff., 44f., 47, 156 Sozialdarwinismus 37f. soziale Konstruktion 118f., 121, 185 soziale Mobilität 142 soziale Sicherheit 153 soziale Ungleichheit 10, 121, 141, 152, 155, 184, 186f. sozialer Raum 132, 134 Sozialisation 35f., 41, 87f., 96, 100, 102, 117 Sozialpolitik 34f., 38, 44 Sozialstruktur 155, 185, 187 Soziogenese 126, 128, 135, 138, 163 Staat 15, 22, 44, 87, 90f., 163, 178 Stand 83, 133, 142, 184 Ständestaat 15 Struktur 69, 72ff., 99, 125, 130f., 137, 150, 154, 168 System 9, 13, 46, 68ff., 73ff., 85, 91, 102ff., 115f., 121, 161 Systemtheorie 10, 34, 38, 46, 64, 67ff., 71ff., 76, 78ff., 92ff., 111f., 125a, 161 Stichwortverzeichnis UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 189 <?page no="189"?> 190 Umwelt 26f., 69, 73f., 77, 79, 103, 160 Ungleichheit 9, 24, 33, 43, 133f., 136, 138, 141f., 144f., 150ff., 170 Urbanisation 174 Utilitarismus 34ff., 96 Werte 15, 35f., 71, 79, 83, 93, 96, 136, 158, 181 Wertfreiheit 82 Wettbewerb 50, 166, 174 Wissen 18f., 23, 84 Wohlstand 89, 147, 151, 169, 186 Zivilisation 122ff., 128ff., 139, 157, 163, 185 Stichwortverzeichnis UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 190 <?page no="190"?> 191 Danksagung zur ersten Auflage Dieses Buch ist nach Vorlesungen zur Einführung in die Soziologie entstanden, die ich seit 1994 in Hamburg gehalten habe. An erster Stelle habe ich den vielen Studentinnen und Studenten zu danken, die mich durch Rückfragen und Einwände gezwungen haben, Unklarheiten zu beseitigen und Unverständliches zu vermeiden. Für die Vorlesungen entstandenen nach und nach ca. 150 Folien, die Klaudia Meyer gestaltet hat. Sie sind zum Teil in den Text eingearbeitet. Erste Mitschriften haben Nina Baur und Susanne Zemene bearbeitet. Die Endfassung haben Nina Alfers, Corinna Wilfling und Elke Willaredt geschrieben und mir mit vielen kritischen Anregungen geholfen. Ihnen allen sei herzlich gedankt, ebenso wie Manfred Müller, der den Text äußerst sachkundig und gründlich durchgesehen hat und last but not least muss ich meinem Lektor Roman Moser für seine Ermutigungen, seine Geduld und vielen fachlichen Ratschläge danken. Sonja Rothländer, die Nachfolgerin von Roman Moser im Lektorat, hat für den rasch notwendigen Nachdruck den Text noch einmal gründlich durchgesehen und wichtige Hinweise, vor allem zur angegebenen Literatur, erarbeitet, wofür ich ihr sehr danke. Münster, im Januar 2005 Danksagung zur zweiten Auflage Die Überarbeitung der zweiten Auflage haben Hermann Korte und Stefanie Ernst vorgenommen. Wir danken Antje Kianidoost für die Aktualisierung der Literaturangaben und die Recherche neuester Literatur. Sonja Rothländer vom Verlag gilt unser Dank für die Unterstützung im Lektorat. Münster und Hamburg, im März 2011 Zum Schluss: Vielerlei Dank UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 24 Uhr Seite 191 <?page no="191"?> UVK-UTB-Korte-2011-Druck.qxd: UVK-UTB-Korte-Nachdruck2.qxd 05.08.2011 13: 23 Uhr Seite 6