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Max Weber

Eine Einführung

0404
2012
978-3-8385-3637-8
UTB 
Volker Kruse
Uwe Barrelmeyer

Max Weber (1864-1920) gilt heute weltweit als einer der größten Sozialwissenschaftler der Moderne, und die Resonanz von Person und Werk nimmt eher noch zu. Für Studierende sozialwissenschaftlicher Fächer führt an ihm kein Weg vorbei. Aber der Zugang zu seinem Werk gestaltet sich zunehmend schwierig. Max Weber war ein Kind des deutschen Kaiserreichs und seiner Wissenschaftskultur - eine Welt, die längst untergegangen ist. Zweck des Bandes ist es, in Webers sozialwissenschaftliches Denken aus dem historischen Kontext heraus leicht verständlich einzuführen. Er wendet sich an Studierende der Sozial- und Geschichtswissenschaften sowie andere Interessierte, die über wenig oder keine Vorkenntnisse zu Max Weber verfügen.

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich <?page no="2"?> Volker Kruse, Uwe Barrelmeyer Max Weber Eine Einführung UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2012 Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: Max Weber (1864-1920) Soziologe, 01.07.1900, © ullstein bild, Berlin Lektorat: Verena Artz, Bonn Druck und Bindung: fgb . freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 3637 ISBN 978-3-8252-3637-3 <?page no="4"?> 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort 7 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk 11 1.1 Lebenslauf 11 1.2 Max Weber und seine Zeit 13 1.2.1 Die Gründung des Deutschen Reichs 13 1.2.2 Demokratisierung von Staat und Gesellschaft 14 1.2.3 Agrargesellschaft oder kapitalistische Industriegesellschaft 16 1.2.4 Kapitalismus, Sozialismus und soziale Frage 17 1.2.5 Weltkrieg, Friedensschlüsse, Revolutionen 17 1.2.6 Die »Kulturkrise« um die Jahrhundertwende 19 1.3 Das wissenschaftliche Werk Max Webers-- Ein Überblick 21 1.3.1 Rechtsgeschichtliche Studien 21 1.3.2 Empirische Untersuchungen für den Verein für Sozialpolitik 22 1.3.3 Methodologische Arbeiten 23 1.3.4 Religionssoziologische Arbeiten 25 1.3.5 Wirtschaft und Gesellschaft 27 1.3.6 Beiträge zur politischen Publizistik 28 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft 31 2.1 Methodenstreit in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften des späten 19. Jahrhunderts 31 2.2 Max Webers Stellung im Methodenstreit 38 2.3 Wissenschaft und Werturteil 41 2.4 Gesetzeswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft 45 2.5 Historische Erklärung und kulturwissenschaftlich vergleichende Kausalurteile 49 2.6 Begriffe und Idealtypen 51 2.7 Zusammenfassung 54 3. Moderner Kapitalismus und protestantische Ethik 57 3.1 Der moderne Kapitalismus als Schicksal 57 3.2 Max Webers kapitalismustheoretische Fragestellung und These 60 <?page no="5"?> 6 Inhaltsverzeichnis 3.3 Kapitalistischer und traditionalistischer Geist 61 3.4 Die religiösen Wurzeln des kapitalistischen Geistes 64 3.5 Zur Kritik an Webers Protestantismusthese 68 3.6 Wirtschaftsethik der Weltreligionen-- Vom modernen Kapitalismus zum okzidentalen Rationalismus 70 4. Verstehende Soziologie 75 4.1 Webers Weg zu einer Verstehenden Soziologie 75 4.2 Verstehen als Handlungserklärung-- Grundkategorien der Verstehenden Soziologie 78 4.3 Erklärendes Verstehen in den Sozialwissenschaften 82 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft 87 5.1 Handeln 87 5.2 Soziales Handeln 90 5.3 Soziale Beziehung 92 5.4 Macht und Herrschaft-- Typen legitimer Herrschaft 97 5.5 Klasse und Stand 101 5.6 Rasse, Ethnie und Nation 105 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne 111 6.1 Okzidentaler Rationalismus 112 6.2 Differenzierung der Wertsphären 117 6.3 Bürokratisierung 121 6.4 Moderner Staat, Berufspolitik und plebiszitäre Führerdemokratie 125 6.5 Der Mensch in der modernen Welt 130 7. Zur wissenschaftlichen Rezeption Max Webers 137 7.1 Zur Interpretation Max Webers im Wandel der Zeit 137 7.2 Max Weber als Bezugsrahmen soziologischer Theoriebildung 144 7.3 Was bleibt von Max Weber? 146 Literaturverzeichnis 149 <?page no="6"?> 7 Vorwort Max Weber (1864-1920) gilt heute weltweit als einer der größten Sozialwissenschaftler der Moderne, und die Resonanz von Person und Werk nimmt eher noch zu. Seine Begriffe und Ideen sind im Fach allgegenwärtig, in der empirischen Forschung wie in der Theorie. Großtheoretiker wie Alfred Schütz, Talcott Parsons, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas und Pierre Bourdieu haben sich mit seinem Werk auseinandergesetzt und dieses für ihre eigenen Ansätze fruchtbar gemacht. Weber ist eine Figur, der man in den Sozialwissenschaften in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder begegnet, oft ohne dass sein Name genannt wird. Aber ist der Weber, der uns begegnet, auch der »wirkliche« Weber? Entspricht die Art und Weise, wie wir Weber in den Sozialwissenschaften erfahren, auch dem wissenschaftlichen Selbstverständnis des Heidelberger Gelehrten? Bei den erwähnten Großtheoretikern ist beispielhaft zu beobachten, dass einzelne Bestandteile aus dem Werk Webers herausgelöst und in ihr eigenes Erkenntnisprogramm überführt werden. Selbst bei denjenigen, die sich affirmativ auf Weber beziehen, verschwimmen manchmal Weber-Interpretation und eigene Theoriebildung. Ist diese verbreitete, ja gängige Praxis zu beanstanden? Gewiss nicht. Wenn Weber in den Sozialwissenschaften selektiv aufgenommen und in einen ihm fremden Erkenntniskontext versetzt wird, so ist das wissenschaftlich legitim und grundsätzlich nützlich. Aber wir sollten klar unterscheiden zwischen einer Weber-Rezeption, die einzelne Teile gezielt herausgreift, um sie in einen anderen Erkenntniskontext zu stellen, und einer, sagen wir »authentischen«, Weber-Rezeption, welche versucht, Webers eigenes Erkenntnisprogramm zu erschließen und sein wissenschaftliches Werk aus seinen eigenen Axiomen und Erkenntnisgrundlagen heraus zu verstehen. Beide Zugangsweisen sind gleichermaßen legitim. Den letztgenannten Ansatz verfolgt der vorliegende Band. Wie Weber selbst Sozialwissenschaft betreiben wollte, das hat er verschiedentlich klar und unmissverständlich beschrieben-- nicht zuletzt zur eigenen Selbstverständigung-- und dafür stehen Begriffe wie historische Sozialwissenschaft, Wirklichkeitswissenschaft, Kulturwissenschaft und Verstehende Soziologie. So wurde es auch in der Weber-Literatur analysiert, z. B. von Friedrich Tenbruck und Johannes Weiß. Dieser »wirkliche« Weber unterscheidet sich im Ansatz grundsätzlich von anderen Großtheoretikern. Es ging Weber nicht um eine fachuniversale Theorie oder eine allgemeine Theorie sozialen Wandels, sondern er wollte die Eigenart der Gegenwart in ihrem »So-und-nicht-anders-Gewordensein« erfassen. Allgemeine Theorie ist nicht Zweck, sondern Mittel für die historisch-zeitdiagnostische Analyse. Für Weber ist eine Selbstverständlichkeit, was heute in der soziologischen Theorie eher als Rarität dasteht: die Verbindung von Theorie und Geschichte. Theoriebildung und historische Beobachtung gehören für ihn untrennbar zusammen. Von seinen eigenen <?page no="7"?> 8 Vorwort Erkenntnisinteressen her gesehen ist Weber vielleicht eher Außenseiter der heutigen Sozialwissenschaften. Wie auch immer, für Studierende sozialwissenschaftlicher Fächer führt an Weber kein Weg vorbei. Doch der Zugang zu seinem Werk gestaltet sich zunehmend schwierig. Weber war ein Kind des Deutschen Reichs und seiner Wissenschaftskultur-- eine Welt, die längst untergegangen ist. Zweck dieses Bandes ist es, in Webers sozialwissenschaftliches Denken einzuführen und es aus seinem historischen Kontext heraus verständlich zu machen. Er wendet sich an Studierende der Sozial- und Geschichtswissenschaften sowie andere Interessierte, die über wenig oder keine Vorkenntnisse zu Weber verfügen. Es ist Anliegen dieses Bandes, das wissenschaftliche Werk Webers aus seinen eigenen, selbst beschriebenen Erkenntnisgrundlagen für Anfänger verständlich zu machen. Als Einführungsbuch behandelt er die Texte und Themen, die im Studium hauptsächlich behandelt werden: die Protestantische Ethik, Verstehende Soziologie, soziologische Grundbegriffe sowie die religionssoziologisch grundierte Theorie des okzidentalen Rationalismus. Am Anfang steht ein Überblick über Leben, Zeit und Werk. Es folgt ein Kapitel über die erwähnten Erkenntnisgrundlagen, die aus unserer Sicht für ein »authentisches« Verständnis Webers unabdingbar sind. Ein knapper Überblick zur wechselvollen Weber-Rezeptionsgeschichte beschließt den Band. Die Abhandlung bewegt sich auf zwei Darstellungsebenen. Die erste bildet der Haupttext, der kontinuierlich geschrieben und aus sich selbst verständlich sein soll. Bei der Darlegung von Webers methodologischen Konzepten und Begriffen wird mit Beispielen gearbeitet, um komplexe und abstrakte Inhalte anschaulich und verständlich zu machen. Aktuelle Bezüge mögen verdeutlichen, dass man Webers Denkkategorien und Begriffe auch auf heutige gesellschaftliche Wirklichkeit anwenden kann. Als zweite Darstellungsebene finden sich ad hoc eingestreute Kästen. Sie beinhalten Begriffsklärungen, Zusammenfassungen, Erläuterungen zu Personen und Institutionen und nicht zuletzt Textauszüge von Weber und seinen Interpreten. Sie sollen das Verständnis erleichtern und zu weiterführendem Lesen anregen. Eben dies zu fördern ist der Sinn dieses Bandes, denn Webers Werk ist für jeden Sozialwissenschaftler- - vom Großtheoretiker bis zum Studierenden- - eine lehrreiche und herausfordernde Lektüre, ob unter »authentischen« oder »nichtauthentischen« Erkenntnisgesichtspunkten. Uwe Barrelmeyer hat die Kapitel 1.3, 2.5, 3.6 und 4 verfasst, die anderen stammen von Volker Kruse. Alle Kapitel wurden gemeinsam diskutiert und überarbeitet. Einzelne Kästen und Textpassagen wurden aus dem Band Geschichte der Soziologie (UVK 2008) von Volker Kruse übernommen. Da die Max Weber-Gesamtausgabe zum Zeitpunkt der Fertigstellung noch nicht vollständig erschienen war, zitieren wir Weber aus den von Marianne Weber und Johannes Winckelmann herausgegebenen Textbänden (siehe Literaturverzeichnis). Sie entsprechen im Gegensatz zur Max Weber-Gesamtausgabe nicht heutigen Maßstäben historisch-kritischer Edition, sind aber leicht zugänglich und erschwinglich. So weit die Bände der aktuellen neuen Gesamtausgabe <?page no="8"?> Vorwort 9 erschienen sind, werden sie zusätzlich zu den traditionellen Textausgaben zitiert. Weil zu den Grundbegriffen bzw. zu Wirtschaft und Gesellschaft verschiedene Ausgaben kursieren, haben wir im betreffenden Kapitel 5 dieses Bandes neben den Seiten der Winckelmann-Ausgabe (5. Aufl.) die Paragraphen aufgeführt. Verena Artz hat als Lektorin diesen Band mit viel Verständnis und konstruktiver Kritik betreut und mit dankenswerter Hartnäckigkeit auf einer leserfreundlichen Darstellung insistiert. Sonja Rothländer von der UVK Verlagsgesellschaft hat mit ihrem Langmut das Erscheinen dieses Bandes überhaupt erst möglich gemacht. Marita Gelbe-Kruse und Helga Volkening lasen Korrektur und halfen uns mit Verbesserungsvorschlägen. Ihnen allen sagen wir unseren herzlichen Dank. Bielefeld, im Januar 2012 <?page no="10"?> 11 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk 1.1 Lebenslauf 1.2 Max Weber und seine Zeit 1.3 Das wissenschaftliche Werk Max Webers-- Ein Überblick 1.1 Lebenslauf Max Weber wird 1864 in Erfurt geboren. Die Mutter, Helene Fallenstein-Weber, entstammt einer ursprünglich hugenottischen Familie. Sie ist christlich-karitativ orientiert und entwickelt einen ausgeprägten Sinn für soziale Probleme. Der Vater, Max Weber sen., wächst in einer westfälischen Industriellen- und Kaufmannsfamilie auf, schlägt aber eine politische Laufbahn ein. Er wird besoldeter Stadtrat, zunächst in Erfurt. Ab 1869 ist er Stadtrat in Berlin. Über viele Jahre vertritt er zudem die Nationalliberale Partei als Abgeordneter im Preußischen Landtag (1868-1882, 1884-1897) und im Deutschen Reichstag (1872-1884). Im Elternhaus von Max Weber in Berlin- Charlottenburg verkehren die Größen der Nationalliberalen Partei wie Rudolf von Bennigsen und Johannes von Miquel, aber auch führende Historiker wie Theodor Mommsen, Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke. Max Weber nimmt 1882 ein Studium in Heidelberg (Rechtswissenschaft, Nationalökonomie, Geschichtswissenschaft, Philosophie) auf. Nach zwischenzeitlichem Militärdienst wechselt er 1884 an die Universität Berlin. 1889 promoviert er über die Entwicklung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten. 1892 schließt er seine Habilitation über das Thema Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht ab. Max Weber beginnt also zunächst als Rechtshistoriker und der juristische Einfluss bleibt in seiner akkuraten, ja geradezu peniblen Definition wissenschaftlicher Begriffe sichtbar. Er wird in Berlin als Rechtsanwalt zugelassen und ist kurzzeitig Anwalt am Berliner Kammergericht. 1894 erlangt Weber eine Professur für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität Freiburg. Seine wissenschaftlichen Interessen haben sich inzwischen in Richtung Nationalökonomie verlagert. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts sind die Fächergrenzen nicht so strikt gezogen und Weber hat in seiner Promotions- und Habilitationsarbeit auch wirtschaftswissenschaftlich relevante Fragen behandelt. 1893 heiratet Max Weber die 21-jährige Marianne Schnitger. Sie entwickelt sich zu einer in wissenschaftlichen Angelegenheiten kongenialen Partnerin und veröffentlicht 1926 eine Biographie über den verstorbenen Ehegatten. Die Ehe bleibt kinderlos. Marianne Weber avanciert zu einer bedeutenden Frauenrechtlerin. Sie bekleidet von 1919 bis 1923 das Amt der ersten Vorsitzenden des Bundes Deutscher Frauenvereine <?page no="11"?> 12 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk und wird als Mitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei in die badische Nationalversammlung gewählt. Sie veröffentlicht mehrere Bücher zu frauenpolitischen Fragen (vgl. Meurer 2010). 1896 erhält Max Weber einen Ruf auf den Heidelberger Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaften; er wird bis über seinen Tod hinaus das akademische Milieu der Neckarstadt mitprägen. Doch 1898 fällt er in eine tiefe Krise, die vier Jahre andauert und sein Leben danach beeinträchtigt. Zwischen 1898 und 1902 vermag er kaum wissenschaftlich zu arbeiten. Er gibt schließlich 1903 seine Professur krankheitsbedingt auf und führt die Existenz eines Privatgelehrten, der von Vermögen und Erbschaften lebt. Sein Haus oberhalb des Neckars wird in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sonntags regelmäßig zum Treffpunkt Heidelberger Intellektueller. In der Heidelberger Zeit verfasst Weber, von Lehr- und Prüfungsverpflichtungen befreit, seine bedeutendsten Werke, so Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Weber wird 1904 Mitherausgeber des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozi- Biografische Daten zu Max Weber 1864 Max Weber wird als ältestes von acht Kindern des späteren nationalliberalen Reichstags- und Landtagsabgeordneten Max Weber sen. (1836-97) und seiner Frau Helene (1844-1919) geboren. 1882-1886 Studium der Rechtswissenschaft, Geschichte, Nationalökonomie und Philosophie in Heidelberg und Berlin 1889 Promotion 1892 Habilitation 1894 Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, Universität Freiburg 1896 Lehrstuhl für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, Universität Heidelberg 1898-1902 Krankheit und Arbeitsunfähigkeit; längere Aufenthalte in Italien, in der Schweiz und auf Korsika 1902-1914 Privatgelehrter in Heidelberg; 1903 krankheitsbedingte Aufgabe der Professur 1904 Übernahme der Redaktion des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, gemeinsam mit Edgar Jaffé und Werner Sombart 1909 Übernahme der Redaktion des Sammelwerks Grundriss der Sozialökonomik 1914-1915 Disziplinaroffizier der Reservelazarettkommission in Heidelberg 1918 Lehrstuhl für Nationalökonomie, Universität Wien 1919 Lehrstuhl für Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie, Universität München 1920 Weber stirbt am 14. Juni an einer Lungenentzündung <?page no="12"?> 1.2 Max Weber und seine Zeit 13 alpolitik, das sich rasch zur wichtigsten sozialwissenschaftlichen Fachzeitschrift des deutschsprachigen Raums entwickelt. Er übernimmt zudem die Herausgeberschaft des wichtigen Sammelwerks Grundriss der Sozialökonomik, für das er auch einige Beiträge verfasst. Nach Webers Tod stellt seine Witwe diese Beiträge mit anderen Manuskripten zu dem Band Wirtschaft und Gesellschaft zusammen, der lange Zeit als Hauptwerk Max Webers gilt. 1914 bricht der Erste Weltkrieg aus. Weber wird Disziplinaroffizier bei der Reservelazarettkommission in Heidelberg, wo er bis Ende 1915 mehrere Lazarette einrichtet und kommandiert. Danach scheidet er aus dem aktiven Dienst aus. 1918 lehrt Weber in Wien, 1919 übernimmt er den Lehrstuhl für Gesellschaftswissenschaft, Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie an der Universität München. Am 14. Juni 1920 stirbt er an den Folgen einer Lungenentzündung. 1.2 Max Weber und seine Zeit In die Lebenszeit Max Webers fallen wichtige politische, ökonomische und soziale Entwicklungen und Ereignisse, die seine Biografie und sein wissenschaftliches Werk beeinflussen. 1871 wird das Deutsche Reich gegründet. Im frühen 20. Jahrhundert führen Demokratisierungsbestrebungen in vielen europäischen Staaten zu schweren politischen Konflikten. In Deutschland erfolgt der Übergang von der vorindustriellen Agrargesellschaft zur kapitalistischen Industriegesellschaft. Die kapitalistische Industrialisierung erzeugt ein wachsendes Proletariat. In diesem Zusammenhang entsteht die »soziale Frage«, welche die materielle Not der Arbeiter, ihre harten Arbeitsbedingungen, die ungenügende Absicherung gegen Krankheit, Invalidität, Alter und Tod betrifft. Von 1914 bis 1918 tobt der Erste Weltkrieg, der mit der Niederlage des Deutschen Reichs und seiner Verbündeten endet und in die Novemberrevolution mündet. Im späten 19. Jahrhundert treten verstärkt modernitätskritische und lebensphilosophische Strömungen auf. 1.2.1 Die Gründung des Deutschen Reichs 1870 kommt es zum Deutsch-Französischen Krieg, der mit einer Niederlage Frankreichs endet. Noch während des Krieges wird in Versailles am 18. Januar 1871 das Deutsche Reich gegründet und der preußische König Wilhelm zum deutschen Kaiser proklamiert. Die Begeisterung im liberalen deutschen Bürgertum kennt keine Grenzen und der preußische Ministerpräsident und neue Reichskanzler Otto v. Bismarck, <?page no="13"?> 14 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk der Architekt der Einigungspolitik, wird zur Kultfigur. Ein starker deutscher Nationalismus prägt die Kultur des Kaiserreichs. Davon ist auch Max Weber ergriffen. Dies wird exemplarisch deutlich in seiner Rede Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik, die er zum Antritt seiner Freiburger Professur im Jahr 1895 hält. Darin problematisiert er die zunehmende »Polonisierung« der preußischen Randprovinzen im Osten und fordert, die deutschen Grenzen für Polen zu schließen und deutsche Bauern zwecks Germanisierung im deutschen Osten anzusiedeln. Er fordert, die Volkswirtschaftslehre in den Dienst nationaler Machtpolitik zu stellen und die Wirtschaftspolitik an den Interessen des deutschen Nationalstaats auszurichten. »Nicht Frieden und Menschenglück haben wir unseren Nachfahren mit auf den Weg zu geben, sondern den ewigen Kampf um die Erhaltung und Emporzüchtung unserer nationalen Art.« (GPS, S. 14) Daran könnten auch internationale Wirtschaftsformen nichts ändern: »So ist auch die volkswirtschaftliche Gemeinschaft nur eine andere Form des Ringens der Nationen miteinander […].« (GPS, S. 14) Das sind starke nationalistische Töne, wie sie in dieser Zeit im deutschen Bürgertum durchaus gängig sind. Entsprechend unterstützt Weber grundsätzlich die imperiale Machtpolitik des Deutschen Reichs, quasi als geschichtliche Konsequenz der Reichsgründung. Gleichwohl bleibt er in kritischer Distanz zur Regierungspolitik und zu Kaiser Wilhelm II. und er steht auch der »Beweihräucherung« von Reichsgründer Bismarck kritisch gegenüber. Max Weber über Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik «[…] die Machtinteressen der Nation sind, wo sie in Frage gestellt sind, die letzten und entscheidenden Interessen, in deren Dienst ihre Wirtschaftspolitik sich zu stellen hat, die Wissenschaft von der Volkswirtschaftspolitik ist eine politische Wissenschaft. Sie ist eine Dienerin, nicht der Tagespolitik der jeweils herrschenden Machthaber und Klassen, sondern der dauernden machtpolitischen Interessen der Nation.« (Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik, 1895, in: GPS, S. 14) 1.2.2 Demokratisierung von Staat und Gesellschaft Die Verfassung des neu gegründeten Deutschen Reichs von 1871 führt das allgemeine gleiche Wahlrecht (für Männer) ein, aber die Befugnisse des Parlaments sind beschränkt. Es steht keineswegs im Zentrum des politischen Systems, wie es in einer modernen Staatsverfassung sein sollte. Vielmehr kann der Kaiser nach Gutdünken den Reichskanzler und die Minister ernennen. Außerdem sind bestimmte Bereiche, <?page no="14"?> 1.2 Max Weber und seine Zeit 15 insbesondere das Militärwesen, dem Zugriff des Reichstags entzogen. Immerhin jedoch besitzt dieser ein Budgetrecht, darf also über den Haushalt mitentscheiden. Aber auch sonst in Europa schreitet in den 1870er Jahren der Prozess der Demokratisierung wenig voran. Zwar gibt es in den west- und mitteleuropäischen Staaten Parlamente, aber ihre Kompetenzen sind ebenfalls beschränkt und sie müssen diese mit aristokratisch besetzten Ersten Kammern teilen. Nach wie vor dominieren in Europa die traditionellen Eliten: Adel, Militär, Kirche, Ministerialbürokratie, unterstützt von einem Teil des Großbürgertums. Doch das ändert sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In den west- und nordeuropäischen Ländern werden die Ersten Kammern entmachtet, die Macht des Königs wird auf repräsentative Funktionen beschränkt, die Privilegien von Adel und Militär werden reduziert, das allgemeine und gleiche Wahlrecht wird eingeführt (Frauen noch ausgenommen). Sogar das zaristische Russland, das rückständigste Staatswesen des Kontinents, erhält nach der Revolution von 1905 eine Verfassung, wenn auch mit minimalen Rechten für das Parlament. Die politischen Reformen gehen einher mit sozialpolitischen Reformen, getragen von der reformistischen Arbeiterschaft und dem liberalen Bürgertum. In Deutschland geht es mit politischen Reformen jedoch nicht recht voran, was Weber bedauert. Nach wie vor behalten Kaiser, Adel und Militär die Führung in der Gesellschaft. Der Adel hat jedoch aus Webers Sicht jegliche konstruktive Funktion verloren und ist herabgesunken zu einer Interessengemeinschaft, die um größtmögliche Subventionen für die Landwirtschaft kämpft und den Weg zu einer modernen kapitalistischen Gesellschaft blockiert. Große Teile des Bürgertums versuchen Werte und Lebensstil des Adels nachzuahmen, anstatt selbstbewusst und entschlossen die Führung in der Gesellschaft zu übernehmen. Die revolutionäre Arbeiterschaft träumt von einem sozialistischen Staat, anstatt im Bündnis mit reformbereiten Teilen des Bürgertums energisch politische und gesellschaftliche Reformen voranzutreiben. Unter diesen Umständen hält sich Webers politisches Engagement in Grenzen. Er befürwortet eine Modernisierung des politischen Systems nach westlichem Muster-- nicht, weil Demokratie ihm als Wert viel bedeutet, sondern weil er in ihr die Voraussetzung für ein leistungsfähiges System sieht, das in der Lage ist, die imperialen Interessen des Deutschen Reichs zu verfolgen. Max Weber über sich selbst »Ich bin ein Mitglied der bürgerlichen Klassen, fühle mich als solches und bin erzogen in ihren Anschauungen und Idealen.« (Der Nationalstaat und die Volkerwirtschaftspolitik, 1895, in: GPS, S. 20) <?page no="15"?> 16 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk 1.2.3 Agrargesellschaft oder kapitalistische Industriegesellschaft 1776 erfindet James Watt die Dampfmaschine. Sie löst in Großbritannien die industrielle Revolution aus, die bald darauf auf Kontinentaleuropa übergreift. 1798 wird die erste Dampfmaschine in Deutschland installiert. In den 1830er und 1840er Jahren breitet sich das kapitalistische Fabriksystem- - Produktion mit Lohnarbeitern unter Einsatz von Dampfmaschinen-- in der Rheinprovinz, in Berlin und in Sachsen aus. Ab etwa 1850 verbreitet es sich über das ganze Land. Die Historiker datieren heute die Zeit zwischen 1850 und 1914 als Übergangsphase zwischen Agrar- und Industriegesellschaft. Für die Zeitgenossen ist das nicht unbedingt so deutlich. Noch um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sind weite Teile Deutschlands vom Industriesystem wenig erfasst, insbesondere die Gebiete östlich der Elbe bleiben agrarisch geprägt. Es gibt also einen gewerblich-industriellen Westen und einen agrarischen und feudal-paternalistischen Osten. Um 1900 wird in Deutschland noch eine ernsthafte Diskussion darüber geführt, ob Deutschland ein Industrie- oder Agrarland sei bzw. sein solle. Webers Position in dieser Frage ist eindeutig. Die Industrialisierung, und zwar unter einem kapitalistischen Produktionsregime, ist unaufhaltbar. Anlässlich seiner Untersuchung über die ostelbischen Landarbeiter Anfang der 1890er Jahre (vgl. Kap. 1.3) erkennt er, dass der Kapitalismus die entscheidende Kraft auch des sozialen Wandels im agrarischen Ostelbien ist. Weber will daher 1904, als er die Redaktion des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik mit übernimmt, den modernen Kapitalismus zum zentralen Forschungsgegenstand der Sozialwissenschaften machen. Max Weber über den Agrarkapitalismus »Überall aber finden wir eine gemeinschaftliche Erscheinung als Ergebnis der Situation: wo nicht auf die Dauer Zerschlagung in Kleinbetriebe oder Verödung als Weiderevier eintreten soll, da besteht die Notwendigkeit umfassender Steigerung der Kapitalintensität und eines Wirtschaftens unter kaufmännischen Gesichtspunkten, wie sie der traditionelle Grundherr im Osten nicht kannte. Mit anderen Worten: an die Stelle der Grundaristokratie tritt-- mit oder ohne Personenwechsel- - mit Notwendigkeit eine landwirtschaftliche Unternehmerklasse, die sich in ihren sozialen Charakterzügen von den gewerblichen Unternehmern prinzipiell nicht unterscheidet.« (Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, 1894, in: GASW, S. 476 f.) <?page no="16"?> 1.2 Max Weber und seine Zeit 17 1.2.4 Kapitalismus, Sozialismus und soziale Frage Im März 1871 erheben sich die Pariser Arbeiter und vertreiben den Stadtmagistrat. Sie richten eine eigene Verwaltung ein, ein sozialistisches Regime. Zwar schlagen französische Regierungstruppen den Aufstand nach einigen Wochen blutig nieder, aber die Pariser Kommune, wie man sie nennt, wird von den Herrschenden aufmerksam registriert-- als Menetekel eines möglichen zukünftigen politischen und gesellschaftlichen Umsturzes. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wächst in Deutschland und Europa die Arbeiterschaft rasch an. Die Lebensverhältnisse sind schwierig, ja erbärmlich, die Löhne so niedrig, dass Kinder- und Frauenarbeit an der Tagesordnung sind. Die Wohnverhältnisse in den schnell errichteten Arbeitervierteln der entstehenden Großstädte sind trostlos und ungesund. Es entsteht, wie die Pariser Kommune angezeigt hat, eine revolutionär gestimmte Arbeiterbewegung; die Arbeiterparteien, z. B. die Sozialdemokratie in Deutschland, gewinnen rasch Mitglieder und Wähler. Unter diesen Bedingungen macht man sich in den Regierungen und im wohlhabenden Bürgertum Gedanken, wie man einer möglichen gesellschaftlichen Umwälzung durch das Proletariat entgegenwirken könne. Als geeignetes Mittel erscheinen in Deutschland-- neben politischer Repression- - sozialpolitische Reformen. 1872 gründet Gustav Schmoller (1838-1917), der führende Nationalökonom im Deutschen Reich, den Verein für Sozialpolitik, in dem Wissenschaftler, hohe Beamte und Politiker zusammentreffen. Ziel des Vereins ist, gegen den heftigen Widerstand im liberalen Bürgertum soziale Reformen durchzusetzen. Um eine zielgenaue Politik betreiben zu können, lässt er Untersuchungen zur Lage einzelner sozialer Gruppen durchführen. Max Weber schließt sich Gustav Schmoller und dem Verein für Sozialpolitik an und führt 1891 die schon erwähnte Untersuchung zur Lage der ostelbischen Landarbeiter durch. Sein Eintreten für soziale Reformen ist nicht so sehr von karitativen oder ethischen Motiven getragen. Er hält diese vielmehr wegen der Strukturveränderungen des industriellen Kapitalismus für notwendig und im Sinne nationaler Machtpolitik für angezeigt. Für einen Erfolg deutscher imperialer Machtpolitik, wie Weber sie befürwortet, erscheint eine Integration der deutschen Arbeiterschaft in die Gesellschaft vorteilhaft, wenn nicht sogar unabdingbar. 1.2.5 Weltkrieg, Friedensschlüsse, Revolutionen Am 1. August 1914 beginnt der Erste Weltkrieg. In allen beteiligten Ländern (v. a. Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, England, Russland) kommt es zu Manifestationen der Kriegsbegeisterung, die auch vor den Gelehrten nicht Halt macht. Angesehene Professoren stellen sich mit nationalistischen Schriften, welche die Kriegsmotivation wecken und aufrechterhalten sollen, »in den Dienst des Vater- <?page no="17"?> 18 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk landes«. In Deutschland unterzeichnen im Jahr 1915 1347 Professoren und Intellektuelle eine Denkschrift, die einen Frieden mit umfangreichen Gebietsgewinnen in West und Ost fordert (Radkau 2005, S. 710 f.). Demgegenüber verhält sich Max Weber relativ moderat, auch wenn er den Krieg als »groß und wunderbar« begrüßt (Marianne Weber 1989, S. 530). Er interpretiert den Krieg vor allem als ein Gemeinschaftserlebnis, das die Klassengesellschaft zu überwinden und die nationale Gemeinschaft herzustellen vermag. Er gehört zur Minderheit der deutschen Professoren, die einer indirekten Imperialpolitik-- die Hegemonie über kleinere, noch zu gründende Staaten in Osteuropa-- aufgeschlossen gegenüber steht, aber in einer Gegen-Denkschrift vor Annexionen warnt. Weber ist im ersten Kriegsjahr als Disziplinaroffizier für die Heidelberger Lazarette aktiv, was seine Arbeitskraft voll absorbiert. Nach Dienstende Ende September 1915 (im Zuge einer Umorganisation des Heidelberger Lazarettwesens) scheitern seine Ambitionen, in der Berliner Ministerialbürokratie eine Anstellung zu finden. So zieht er sich 1916 wieder nach Heidelberg zurück und verfasst religionssoziologische Aufsätze. Außerdem tritt er als Vortragsredner und Verfasser von Zeitungsartikeln und Denkschriften hervor. Das Deutsche Reich unterliegt seit Kriegsbeginn einer Blockade durch die englische Flotte und es geht 1916 um die Frage, ob es einen unbeschränkten U-Boot-Krieg gegen das britische Mutterland führen soll. Das könnte auch zu Versenkungen von US-Schiffen führen und den Kriegseintritt der neutralen USA an der Seite der Entente provozieren. Weber warnt, u. a. in einer Denkschrift, die auch den Kaiser erreicht und beeindruckt, vor einem uneingeschränkten U-Boot-Krieg. Anders als viele Generäle und Professoren, welche die Kampfeskraft der USA für gering erachten, schätzt Weber, der 1904 einige Wochen das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bereiste, deren ökonomisches und militärisches Potential realistisch ein. Nach längerem Tauziehen in der politischen und militärischen Führung setzt das Deutsche Reich schließlich auf den uneingeschränkten U-Boot-Krieg, der, gepaart mit diplomatischen Ungeschicklichkeiten, am 6. April 1917 zum Kriegseintritt der USA führt. Webers Prognose, dass damit der Krieg verloren sei, bewahrheitet sich im folgenden Kriegsjahr. Das wachsende Übergewicht der Gegner und der Zusammenbruch der deutschen Verbündeten veranlassen die Führung des Deutschen Reichs, um Waffenstillstand zu bitten. Bei den Verhandlungen zum Friedensvertrag von Versailles 1919, der einem Diktat der Siegermächte gleichkommt, zählt Weber zur deutschen Delegation. Webers Versuche, in der Weimarer Republik eine politische Karriere zu starten, scheitern. Die linksliberale Deutsche Demokratische Partei setzt ihn auf einen aussichtslosen Listenplatz. An der Ausarbeitung der Weimarer Verfassung ist er beratend beteiligt. Er plädiert für eine starke Stellung des Reichspräsidenten. Sein unerwarteter Tod im Juni 1920 beendet alle politischen Ambitionen. <?page no="18"?> 1.2 Max Weber und seine Zeit 19 1.2.6 Die »Kulturkrise« um die Jahrhundertwende Im 19. Jahrhundert herrschen in Deutschland und Europa ein optimistisches Geschichtsverständnis und eine zuversichtliche Haltung gegenüber der heraufziehenden Moderne vor. Diese Tendenz wird in Deutschland durch die Reichseinigung und die Prosperitätsphase der »Gründerjahre« noch verstärkt. Selbst Karl Marx, der sich mit den Schattenseiten des modernen Kapitalismus auseinandersetzt, lobt die progressive Kraft der Bourgeoisie, welche die Produktivkräfte vorantreibe und damit letztlich dem Sozialismus und Kommunismus als höheren Geschichtsstufen den Weg bereite. Viele Arbeiter leben in der Hoffnung auf einen sozialistischen »Zukunftsstaat«. Im Bürgertum ist im 19. Jahrhundert die aufklärerische Vorstellung, dass Geschichte ein Fortschrittsprozess in Richtung auf immer größere Vernünftigkeit, Selbstbestimmung des Menschen und Beherrschung der Natur sei, noch weit verbreitet. Um 1890 ändert sich die kulturelle Großwetterlage. Zwar verschwindet der Fortschrittsoptimismus, gespeist durch technische Innovationen und imperiale Erfolge, nicht, aber in bürgerlichen, insbesondere in intellektuellen Schichten macht sich daneben eine andere Stimmung breit. Es ist die Zeit, in der sich der moderne Kapitalismus mit all seinen Begleiterscheinungen augenfällig durchsetzt, Großstädte mit großen Arbeiterquartieren wie Pilze aus dem Boden schießen und Großorganisationen an Bedeutung gewinnen. Dies alles wirft Fragen auf: Sind die Massen-- oder die Menschen in der Masse- - wirklich vernünftig und rational oder sind sie nicht eher unberechenbar, irrational und triebgesteuert? Geht mit der städtischen Zivilisation nicht der Bezug zur Natur verloren? Schafft die Moderne wirklich Freiheit oder bedeutet das Leben in der Großorganisation nicht eher Zwang? Welch einen Typus von Mensch bringen die neuen Lebensformen hervor? Führt die moderne Zivilisation, wie z. B. Emile Durkheim befürchtet, zur »Anomie«? Diese Stimmung bringt besonders der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) zum Ausdruck, der die Tugenden eines saturierten, selbstzufriedenen Bürgertums kritisiert und in heroisierender Manier die »Umwertung aller Werte« fordert. Nietzsche propagiert Stärke (als Selbstzweck), Aristokratismus und Schönheit. Der Wert einer Kultur bemesse sich nicht nach dem Durchschnitt, sondern nach den höchsten Exemplaren des Menschentums. Entsprechend forderte er den »neuen Menschen« bzw. »Übermenschen«. Er distanziert sich vom Fortschrittsoptimismus des 18. und 19. Jahrhunderts und sieht die Gegenwart von einer tiefen Krise der europäischen Kultur bestimmt. Ausdruck dieser Kulturkrise sind für Nietzsche unter anderem die Arbeiterbewegung, der Sozialismus und die Sozialpolitik. Er stellt ebenso das Christentum, immer noch die kulturelle Leitfigur der Zeit, radikal in Frage, aber auch den zunehmend arbeitsteiligen, sich spezialisierenden Wissenschaftsprozess, besonders den »antiquarischen« Charakter historischer Forschung, welche die aktuellen Lebensfragen ignoriere. <?page no="19"?> 20 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk Weber teilt das Unbehagen an der Moderne und bringt es in eindringlichen Worten zum Ausdruck. »Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz«, »eisernes Gehäuse der Hörigkeit«, »Käfig«-- so charakterisierte er den modernen Menschen und seine Welt (vgl. Kap. 6.5). Er schätzt Nietzsches Bedeutung hoch ein. Überhaupt bestimmen aus seiner Sicht Marx und Nietzsche das geistige und wissenschaftliche Leben seiner Zeit. Max Weber über die Bedeutung von Marx und Nietzsche »Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, dass er gewichtigste Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt.« (überliefert vom Neffen Eduard Baumgarten 1964, S. 554 f.) Weber versteht seine kritische Einstellung zur Moderne allerdings als persönliches Werturteil, über das mit den Mitteln der Wissenschaft nicht entschieden werden könne. Vor allem aber betont er, im Gegensatz zu vielen kulturkritisch Bewegten, dass der moderne industrielle Kapitalismus samt der ihm innewohnenden Lebensformen nicht rückgängig gemacht werden könne. Neoaristokratische und neoromantische Strömungen seiner Zeit, etwa der Kreis um den Dichter Stefan George, erscheinen ihm daher illusionsbehaftet, soziologisch unaufgeklärt und auf Dauer dem Untergang geweiht. Weber macht sich die Kritik Nietzsches an den historischen Wissenschaften zu eigen. Er ist ebenfalls der Ansicht, dass diese Gefahr liefen, zunehmend antiquarisch und lebensfremd zu werden. Oberstes Ziel seines Konzepts einer historischen Sozial- Politische Positionen Max Webers Machtpolitik und wirtschaftliche Interessen der deutschen Nation als Leitwert Modernisierung des politischen Systems vom monarchischen Konstitutionalismus hin zur parlamentarischen Demokratie, um imperiale Interessen des Deutschen Reichs rational verfolgen zu können Moderne kapitalistische Industriegesellschaft als Entwicklungsperspektive des Deutschen Reichs Aktive Sozialpolitik, um innere Spannungen abzubauen und eine Konzentration der Kräfte auf die imperiale Konkurrenz zu gewährleisten <?page no="20"?> 1.3 Das wissenschaftliche Werk Max Webers-- Ein Überblick 21 wissenschaft ist es daher, den Weg zu einer »lebensbedeutsamen« Wissenschaft zu weisen. Sie soll ausgehen von den Werten der Gesellschaft und des Wissenschaftlers und damit das in den Fokus nehmen, was wirklich wichtig erscheint, wie z. B. der moderne Kapitalismus (vgl. Kap. 2). 1.3 Das wissenschaftliche Werk Max Webers-- Ein Überblick Das komplexe, Disziplinengrenzen überschreitende Werk Webers lässt sich im Sinne einer systematisierenden Einführung in folgende Arbeitsbereiche untergliedern (vgl. Kaesler 2003): rechtsgeschichtliche Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Antike und des Mittelalters, empirische Untersuchungen im Auftrag des Vereins für Sozialpolitik, die die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage des wilhelminischen Kaiserreichs betreffen, methodologische Arbeiten zur konzeptionellen Begründung historisch-sozialwissenschaftlicher Forschung, religionssoziologische Arbeiten, soziologische Arbeiten in systematisierender Absicht (Wirtschaft und Gesellschaft), Beiträge zur politischen Publizistik. 1.3.1 Rechtsgeschichtliche Studien Im Hinblick auf Webers rechtsgeschichtliche Arbeiten sind zunächst dessen wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten hervorzuheben. Bereits in diesen Schriften wird sein sozial-ökonomisches Interesse an der Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaftsform deutlich. In seiner Dissertation Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter (1889) untersucht Weber die rechtlichen und sozioökonomischen Begleitumstände der historischen Entwicklung des Kapitalismus. Ihn interessiert insbesondere die Frage, welche römischen und germanischen Rechtsvorstellungen die Trennung von Familien- und Betriebsvermögen beeinflusst und zur Herausbildung der kapitalistischen Handelsgesellschaften im späten Mittelalter beigetragen haben. Im Rahmen seiner agrarhistorisch-juristischen Habilitation Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht (1891) behandelt er den Zusammenhang zwischen dem römischen Agrarkapitalismus und der rechtlichen Institution des Privateigentums. Anhand des politisch umkämpften Rechtsinstituts des »öffentlichen Landes« sucht Weber den Wandel vom Gemeinzum Privateigentum historisch nachzuzeichnen. Diese rechtshistorischen Forschungsergebnisse stellt er in seinem 1896 veröffent- <?page no="21"?> 22 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk lichen Aufsatz Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur in umfassendere historische Zusammenhänge. Weber vertritt die These, dass der Untergang des römischen Weltreichs im Zuge der Einfälle germanischer Barbaren nicht durch die Dekadenz der römischen Kultur und Gesellschaft, sondern durch die Beendigung der römischen Expansionskriege seit dem ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. verursacht worden sei. Die Befriedung des römischen Imperiums habe dazu geführt, dass dem römischen Agrarkapitalismus die erforderlichen billigen Arbeitskräfte fehlten. Dies wiederum, so Weber, bewirkte einen einschneidenden ökonomischen Wandel (Stärkung der Naturalwirtschaft), der grundlegende sozialstrukturelle Folgen gezeitigt habe (z. B. Auflösung von Verwaltung, Heer und städtischer Kultur). Diese historischen Darlegungen arbeitet er später in den verschiedenen Auflagen seines Artikels Agrarverhältnisse im Altertum (1897, 1898, 1909) für das Handwörterbuch der Staatswissenschaften zu einer vergleichend angelegten Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Altertums aus. 1.3.2 Empirische Untersuchungen für den Verein für Sozialpolitik In den 1890er Jahren ist Weber auch mit Studien zur Sozial- und Wirtschaftsverfassung des Deutschen Kaiserreichs befasst. In ihnen thematisiert er die Lage der deutschen Landarbeiter und der Industriearbeiter. Auch die Börse ist Gegenstand seines Interesses. Diese Beiträge zeigen, dass Weber immer eine Doppelrolle einnimmt. Er versteht sich als empirisch arbeitender Wirtschaftsbzw. Sozialwissenschaftler und zugleich als tagespolitisch engagierter Publizist. Wissenschaftliche Erkenntnis und politisches Handeln sind für ihn zwei Seiten einer Medaille. Im Auftrag des Vereins für Sozialpolitik unter der Leitung von Gustav Schmoller und Adolph Wagner übernimmt Weber die Auswertung und Deutung einer empirischen Erhebung über die Lage der ostelbischen Landarbeiter. Wirtschaftspolitisch steht diese Erhebung in Zusammenhang mit Kontroversen, die sich am Agrarprotektionismus des Kaiserreichs entzünden. So fordert der Bund der Landwirte als Vertreter der preußischen Großgrundbesitzer eine Aufrechterhaltung der bisherigen Getreideschutzzollpolitik, deren Ziel es ist, die heimischen Agrarproduzenten vor der Konkurrenz billiger Getreideimporte zu schützen. Die SPD hingegen tritt für eine Abschaffung der Schutzzölle ein, um so die Lebenshaltungskosten der Arbeiterschaft zu verringern. Politisch überlagert wird dieses Problem von den Migrationsbewegungen in den ostelbischen Gebieten. Weil die deutschstämmige Bevölkerung abwandert, erlaubt die Regierung auf Drängen der Großgrundbesitzer hin die Einwanderung polnischer Saisonarbeiter, was im Kontrast zur bisherigen Kolonisierungspolitik des Kaiserreichs steht. Dadurch erhält die Landarbeiter-Studie ihre politische Brisanz. Im Zuge der Arbeit an dieser Studie rückt für Weber die Bedeutung der Börse für die Preisbildung auf dem nationalen und internationalen Getreidemarkt der kapita- <?page no="22"?> 1.3 Das wissenschaftliche Werk Max Webers-- Ein Überblick 23 listischen Weltwirtschaft in den Blickpunkt. Zeigen die Ergebnisse der Landarbeiter-Studie für Weber die sozialstrukturell und kulturell auflösende Wirkung des modernen Kapitalismus, lässt sich anhand der Börse als Institution des modernen Großhandelsverkehrs die dem Kapitalismus inhärente Veränderungsdynamik dokumentieren: Die Einrichtung der Börsen hat wesentlich den weltweiten Handel und die internationale Marktverflechtung forciert. In seinen Veröffentlichungen (1894, 1896) sucht Weber daher mit politisch-didaktischem Akzent über die Entwicklungsgeschichte der Börse sowie deren grundlegende volkswirtschaftliche Funktion aufzuklären. Die gesellschaftlichen Folgen der zunehmenden Industrialisierung des deutschen Kaiserreichs thematisiert Weber schließlich in verschiedenen Untersuchungen zur Lage der Industriearbeiter. Zum Kernbestand seiner in der Zeit zwischen 1908 und 1912 fertiggestellten Arbeiten gehört eine im Auftrag des Vereins für Sozialpolitik unter dem Titel Erhebungen über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiterschaft der geschlossenen Großindustrie (1908) veröffentlichte Untersuchung zur Industriearbeiterschaft. Insbesondere mit Blick auf die Lebensbedingungen der Industriearbeiter geht Weber der Frage nach, welche Auslese- und Anpassungsprozesse die Beschäftigung in der großindustriellen Produktion für die Arbeiter mit sich bringt. Es geht ihm darum, die Bedeutung des großindustriellen Kapitalismus für die zukünftige gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung insbesondere des Deutschen Reichs herauszuarbeiten. Begleitend diskutiert er in einer Aufsatzfolge unter dem Titel Zur Psychophysik der industriellen Arbeit (1908/ 09) die einschlägige Literatur zum Thema. Wesentlicher Zweck seines »Literaturberichts« ist es, die von ihm diskutierten neueren naturwissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Forschungsansätze einer methodologischen Reflexion zu unterziehen. Dieses Vorgehen betrachtet er als eine notwendige Voraussetzung dafür, die künftige sozialwissenschaftliche Erforschung der Berufs- und Arbeitseignung der Industriearbeiterschaft konzeptionell zielführend voranzubringen. 1.3.3 Methodologische Arbeiten In seinen methodologischen Arbeiten seit 1903 geht Weber der Frage nach, wie verschiedene kulturwissenschaftliche Disziplinen, wie Ökonomie und Geschichte, aber auch das neue, universitär noch nicht etablierte Fach der Soziologie, als Erfahrungswissenschaften im »strengen Sinne« betrieben werden können. Erfahrungswissenschaftliche Forschung heißt dabei für den kantianisch geschulten Weber, mit Hilfe wissenschaftlicher Begriffe eine »denkende Ordnung der empirisch gegebenen Wirklichkeit« herzustellen (vgl. Kap. 2). Unter dem Sammelbegriff der Kulturwissenschaften fasst er diejenigen Disziplinen, die die Vorgänge des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung betrachten. Inwieweit einzelne kulturwis- <?page no="23"?> 24 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk senschaftliche Disziplinen systematisierend und verallgemeinernd oder eher historisch-individualisierend ausgerichtet sind, hängt für Weber von den spezifischen Wertbzw. Erkenntnisinteressen des Wissenschaftlers ab. Er selbst bevorzugt eine grundlegend historisch-individualisierende Ausrichtung (vgl. Kap. 2). Welche wissenschaftslogischen Beiträge sind unter den Arbeiten Webers besonders hervorzuheben? Zum einen sind die zwischen 1903 und 1906 unter dem Titel Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie im Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich erschienenen Studien zu nennen. In ihnen versucht Weber die logischen Schwächen der Forschung der historischen Schule der deutschen Nationalökonomie herauszuarbeiten und zugleich eine theoretisch tragfähigere Neuausrichtung nationalökonomischer Forschung voranzubringen. Für ihn bedeutet dies insbesondere, in Abgrenzung von Schmoller über die wirtschaftsgeschichtliche Einzelforschung hinauszugehen. Zugleich lehnt er die verbreitete Entgegensetzung von theoretischer (Carl Menger) und historischer Nationalökonomie (Gustav Schmoller) als wissenschaftslogisch irreführend und unproduktiv ab (vgl. Kap. 2.1). Zum zweiten ist der 1904 publizierte programmatische Aufsatz Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis zu berücksichtigen, den Weber anlässlich seines Eintritts in die Redaktion des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik verfasst. Seine wissenschaftstheoretischen Überlegungen sind konzeptionell wiederum darauf gerichtet, zu klären, inwieweit auch die sozialwissenschaftliche Forschung auf eine strenge erfahrungswissenschaftliche Grundlage zu stellen ist. Als das Arbeitsgebiet sozialwissenschaftlicher Forschung definiert er die wissenschaftliche Erforschung der kulturellen Bedeutung der »sozialökonomischen Struktur des menschlichen Gemeinschaftslebens«, wobei gemäß seines dezidiert historischen Erkenntnisinteresses deren jeweilige »historischen Organisationsformen« in den Blick rücken müssen. Im zugehörigen Geleitwort entwickelt Weber zusammen mit den Mitherausgebern Werner Sombart und Edgar Jaffé die Grundzüge eines interdisziplinär ausgerichteten sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhabens. Es solle sich dem »grundstürzenden Umgestaltungsprozess« widmen, der das wirtschaftliche und kulturelle Leben der Gegenwart bestimme und das Erleben der Zeitgenossen zutiefst präge. Die Dynamik der wirtschaftlichen und kulturellen Umbrüche lässt sich für Weber und seine Mitherausgeber nur aus der »weltgeschichtlichen Tatsache« des »Vordringens des Kapitalismus« erklären, der die gegenwärtige »Geschichtsepoche« bestimme. Diesen Zusammenhang wollen sie im Sinne einer historisch-sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnose genauer untersuchen. Erst durch genaue sozialwissenschaftliche Aufklärung sei in handlungspraktischer Absicht eine verlässliche Orientierung möglich. Um die spezifische kapitalistische Entwicklungsdynamik in Wirtschaft und Kultur der Gegenwart zu verstehen und zu erklären, müsse die sozialwissenschaftliche Zeitdiagnose zudem durch historische Forschungen unterstützt werden. <?page no="24"?> 1.3 Das wissenschaftliche Werk Max Webers-- Ein Überblick 25 Zum dritten sind Webers 1906 erschienenen kritischen Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik Zur Auseinandersetzung mit Eduard Meyer und Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung hervorzuheben. In ihnen versucht er das für die Nationalökonomie und die Sozialwissenschaft relevante historische Forschungsinteresse insgesamt auf eine erfahrungswissenschaftlich tragfähige Grundlage zu stellen. Weber wendet sich gegen das objektivistische Wissenschaftsverständnis und das Verstehenskonzept, wie es in der damaligen deutschen Geschichtswissenschaft verbreitet ist. Diese beschränkt ihr Forschungsinteresse auf Staat und Politik und lehnt begriffliches Denken und theoretische Generalisierung ab. Zur genuin historischen Methode hat sie das Verstehen erklärt (vgl. Kap. 2.1). Für einen Historiker wie etwa Leopold v. Ranke ist die Geschichte von willensmäßigen Handlungen erfüllt, die als Ausdruck des Geistes aufzufassen sind. Da Ranke den Menschen als Manifestation Gottes betrachtet, kann er den subjektiven menschlichen Geist und den objektiven göttlichen Geist als zusammenhängende Einheit begreifen. Der sich in der Geschichte manifestierende Geist bzw. die in der Geschichte wirkenden »Ideen« sind damit dem einfühlenden Verstehen des Historikers (»divinatorisches Verstehen«) prinzipiell zugänglich. Dagegen betrachtet es Weber als dringende Aufgabe, die, wie er es bezeichnet, unverändert gültige »metaphysische Wendung« in der zeitgenössischen geschichtswissenschaftlichen Forschung einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. Er will für die historisch arbeitenden Kultur- und Sozialwissenschaften insgesamt die Frage beantworten, was es heißt, »Wissenschaft im strengen Sinne« zu betreiben. Webers methodologische Texte enthalten zahlreiche wechselseitige Bezugnahmen und sind systematisch dem im Rahmen des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik realisierten, interdisziplinär ausgerichteten sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhaben (»Sozialwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft«) zuzuordnen, das auch für die späteren Arbeiten Webers Gültigkeit hat. Dies gilt insbesondere auch für Webers Konzept einer Verstehenden Soziologie (1913), die Konzeptualisierung des idealtypischen Vorgehens sowie für seinen Umgang mit der sozialphilosophisch zentralen Werturteilsfrage (1917). 1.3.4 Religionssoziologische Arbeiten Webers Schriften zur Religionssoziologie behandeln aus einer historischen Forschungsperspektive die Frage nach den Ursachen, Erscheinungen und Auswirkungen des Kapitalismus und entfalten diese zugleich in typologisierender Absicht. In diesem Zusammenhang ist die unter dem Titel Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus zwischen 1904 und 1905 im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik veröffentlichte Artikelreihe anzuführen. Ihr stellt Weber 1906 den Aufsatz Kir- <?page no="25"?> 26 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk chen und Sekten ergänzend zur Seite; er wird später in erweiterter Fassung unter dem Titel Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus veröffentlicht. Ein wesentlicher Ausgangspunkt dieser Arbeiten ist die sozialwissenschaftliche Beobachtung, dass in der wirtschaftlichen Welt Menschen protestantischen Glaubens überproportional vertreten sind. Weber nimmt ferner Bezug auf zeitgenössische Diskussionen, in denen als Ursache für die Entstehung des neuzeitlichen Kapitalismus die wechselseitige Einflussnahme religiöser und ökonomischer Faktoren herausgestellt wird. Wichtig ist auch Werner Sombarts 1902 erschienene Studie Der moderne Kapitalismus, in der dieser die Bedeutung von Calvinismus und Quäkertum für die Entstehung des Kapitalismus betont. Weber versucht im Anschluss an Sombarts Überlegungen nachzuweisen, dass bestimmte Glaubenssätze protestantischer Glaubensgemeinschaften Normen der Lebensführung und insbesondere eine Wirtschaftsgesinnung (»Berufsmenschentum«) hervorgebracht haben, die das wirtschaftliche Gefüge im Sinne kapitalistischer Strukturen entscheidend verändert und dynamisiert haben. So habe insbesondere der Calvinismus die innerweltliche Askese als besonders wertvolles Verhalten religiös prämiert. Wirtschaftlicher Erfolg wird dabei als ein Zeichen göttlicher Auserwähltheit interpretiert. Diese Glaubensüberzeugung führt laut Weber dazu, dass die »Auserwählten« sich anstrengen, viel und produktiv zu arbeiten und Kapital anzusammeln. Die nichtintendierte Wirkung dieses religiös motivierten Verhaltens besteht also darin, Kapitalbildung und Kapitalismus voranzutreiben. Weber geht daher insgesamt von einem Wirtschaften aus, das vom »frühkapitalistischen Geist« getragenen wird (vgl. Kap. 3). In den zwischen 1915 und 1919 wiederum im Archiv veröffentlichten Aufsätzen über Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen weitet Weber seine Forschungen zur Entstehung des Kapitalismus auf außereuropäische Religionen aus (z. B. Konfuzianismus, Taoismus, Hinduismus, Buddhismus). Sie dienen u. a. dem Zweck, die heftig kritisierte Protestantismusthese durch komparative Studien zu untermauern. Weber fragt nun, warum in nichteuropäischen Kulturen kein Kapitalismus nach westlichem Muster entstanden ist (jedenfalls nicht aus sich heraus), obwohl diese zeitweise ein hohes und dem Okzident überlegenes Entwicklungsniveau erreicht haben, wie z. B. China oder die islamische Welt. Er analysiert in idealtypischer Darstellung historische Konstellationen, denen zwei Merkmale fehlen: 1. eine der protestantischen Wirtschaftsethik funktional äquivalente Wirtschaftsgesinnung 2. ein dem okzidentalen Frühkapitalismus vergleichbares Wirtschaftssystem. Sowohl der Konfuzianismus als auch der Taoismus als kosmozentrische, weltbejahende »politische« Religionen hätten z. B. aufgrund ihrer traditionalistischen Prägung eine Ethik unbedingter Anpassung an die ewige Ordnung des Kosmos formuliert, was die Entstehung einer kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung und einer kapitalistischen <?page no="26"?> 1.3 Das wissenschaftliche Werk Max Webers-- Ein Überblick 27 Wirtschaft okzidentaler Prägung unmöglich gemacht habe. Entsprechende Argumentationsreihen entfaltet Weber auch für die übrigen Weltreligionen. Die Ergebnisse seiner historischen Konstellationsanalysen stützen für ihn die Plausibilität seiner Protestantismusthese: Der okzidentale Frühkapitalismus ist kausal zurechenbar durch die rationale Ethik des asketischen Protestantismus mit verursacht worden (vgl. Kap. 3). 1.3.5 Wirtschaft und Gesellschaft Das von Weber in seinen Arbeiten über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen bereits verarbeitete Material ist unter dem Titel Religionssoziologie. Typen religiöser Vergemeinschaftung in systematisierender Absicht in einen veränderten Darstellungszusammenhang aufgenommen worden. Der Text bildet ein größeres Kapitel der posthum veröffentlichten soziologischen Textsammlung Wirtschaft und Gesellschaft. Ursprünglich für das mehrbändige Handbuch Grundriss der Sozialökonomik vorgesehen, dienen die religionssoziologischen Passagen überwiegend der soziologischen Systematisierung und Generalisierung. Es ist nicht mehr länger von spezifischen historischen Individuen bzw. Konstellationen die Rede, sondern von Religionen, von religiösem Handeln oder religiöser Ethik im Allgemeinen. Webers im engeren Sinne soziologische Arbeiten sind heute wesentlich in zwei Textfassungen zugänglich. Zum einen liegt die bereits angeführte Textsammlung Wirtschaft und Gesellschaft vor, ursprünglich herausgegeben von Marianne Weber, später in veränderter Fassung von Johannes Winckelmann. Bis in die 1970er Jahre galt Wirtschaft und Gesellschaft als unbestrittenes Hauptwerk Max Webers; er habe es in etwa dieser Form angestrebt, es sei ihm aber nicht vergönnt gewesen, es zu vollenden. Die Mehrheit der Weber-Forscher ist aber inzwischen der Ansicht, dass Weber ein solches Hauptwerk nie im Sinn gehabt hat. Daher werden in der Max-Weber- Gesamtausgabe die Manuskripte, die in Wirtschaft und Gesellschaft eingegangen sind, einzeln veröffentlicht. Die neuere Weber-Rezeption hat ganz entscheidend von dem Entstehen einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Schriften, Korrespondenz und Vorlesungen Max Webers profitiert. Seit den 1980er Jahren werden sukzessive mit beträchtlichen Forschungsmitteln an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München neue Bände der historisch-kritischen Werkedition herausgegeben. Diese neue Textgrundlage erlaubt es, einen vergleichenden Blick insbesondere auf die historischen Entstehungszusammenhänge der Arbeiten Webers zu werfen. <?page no="27"?> 28 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk 1.3.6 Beiträge zur politischen Publizistik Zeit seines Lebens interessiert sich Weber für politische Fragen und Probleme. Er erwägt verschiedentlich, eine politische Laufbahn einzuschlagen. Dies gelingt ihm allerdings nicht. Durch enge Kontakte zu bekannten Politikern (z. B. Friedrich Naumann) ist es ihm jedoch möglich, indirekt Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu nehmen. So nimmt er im Winter 1918/ 19 beispielsweise an den Beratungen zur Weimarer Verfassung und 1919 an den Friedensverhandlungen mit den Alliierten teil. Öffentlichkeitswirksam bezieht er vor allem als politischer Publizist Stellung zu gesellschaftspolitischen Streitfragen und Auseinandersetzungen. In seinem politischen Denken orientiert sich Weber wesentlich an den »nationalen Interessen« Deutschlands. Diese trägt er in herausfordernder nationalistischer Diktion und Begrifflichkeit zunächst in seiner Antrittsrede Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik von 1895 in die gebildete Öffentlichkeit. Ausgehend von den Ergebnissen der bereits erwähnten Landarbeiter-Studie problematisiert er die Abwanderung der deutschstämmigen Bevölkerung sowie die im Interesse der Großgrundbesitzer von der Regierung erlaubte Einwanderung polnischer Saisonarbeiter. Diese Wanderungsbewegung führe zu einer nicht hinnehmbaren Verletzung der nationalen Interessen Deutschlands. Weber erhebt deshalb drei Forderungen: Bodenankauf durch den Staat, systematische Kolonisierung durch deutsche Bauern sowie die Schließung der östlichen Grenzen. Die Politik habe sich an den Interessen der gesamten Nation und nicht an denen der privilegierten Gruppe der Großgrundbesitzer zu orientieren. In seinen späteren Schriften tritt Weber für eine weitere Demokratisierung der politischen Verhältnisse in Deutschland ein. Dies lässt sich gut an seinen Beiträgen zur politischen Neuordnung Deutschlands nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ablesen, mit denen er eine Bestandsaufnahme der Lage Deutschlands nach dem verlorenen Weltkrieg vorlegt. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang seine Kritik an der zunehmenden Bürokratisierung der Gesellschaft (»Wilhelminischer Obrigkeitsstaat«) sowie an der gefährlichen Demagogisierung der Politik. Seiner Auffassung nach ist eine stärkere parlamentarische Kontrolle dieser politischen Kräfte erforderlich. Nur so könne der Gefahr entgegengewirkt werden, dass die individuelle Freiheit der einzelnen Bürger und in Folge dessen das demokratische Leben insgesamt unter dem Druck insbesondere der staatlichen Bürokratisierungstendenzen zerstört werden. Für mindestens so bedeutsam erachtet er, dass eine klare politische Leitung der Bürokratie gegeben ist. Erfolgreiche politische Führung, so lässt sich Webers grundlegende politische Botschaft zusammenfassen, muss einen Ausgleich herstellen zwischen den Polen reiner bürokratischer und reiner charismatischer Herrschaft. Nur so könne verhindert werden, dass die blinde Umsetzung von Verwaltungsmechanismen auf der einen Seite und die verantwortungslose Demagogenherrschaft auf der anderen Seite ihre negative politische Wirkung entfalteten (vgl. Kap. 6.4). Webers Beiträge zu der <?page no="28"?> 1.3 Das wissenschaftliche Werk Max Webers-- Ein Überblick 29 Frage, wie nach dem verlorenen Krieg in Deutschland eine verantwortungsbewusste politische Leitung etabliert werden kann, bewegen sich stets in diesem argumentativen Spannungsfeld. Insbesondere sein Artikel Der Reichspräsident (1919) hat die nachfolgenden politischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen über die späten politischen Positionen Webers entscheidend bestimmt (vgl. auch Kap. 6.4). Wichtige Schriften Webers Gesammelte Politische Schriften, 5. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988 (=-GPS): Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895), S. 1-25. Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens (1918), S. 306-443. Politik als Beruf (1919), S. 505-560. Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1924), 2. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (=-GASW): Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur (1896), S. 289-311. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988 (=-WL): Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (1903-06), S. 1-145. Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), S. 146-214. Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906), S. 215- 290. Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), S. 427-474. Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917), S. 489-540. Wissenschaft als Beruf (1919), S. 582-613. Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft (1922), S. 475-488. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), 9. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (=-GARS I): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905/ 1920), S. 17-236. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Einleitung (1916), S. 237-275. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung (1916), S. 536-573. Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der Verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1985 (=-WuG): Soziologische Grundbegriffe (1921), S. 1-30. Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1924), 2. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (=-GASW): Max Weber, Entwicklungstendenzen in der Lage der ostelbischen Landarbeiter, S. 470- 507. <?page no="29"?> 30 1. Max Weber und seine Zeit-- Leben und Werk Weiterführende Literatur Eduard Baumgarten: Max Weber-- Werk und Person. Tübingen 1964. Reinhard Bendix: Max Weber-- Das Werk. Darstellung, Analyse, Ergebnisse (1960), München 1964. Kaesler, Dirk: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2003. Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik. 1. Aufl., Tübingen 1974. Wolfgang J. Mommsen/ Wolfgang Schwentker (Hg.): Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen 1988. Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens, München 2005. Guenther Roth: Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte, Tübingen 2001. Friedrich Tenbruck: Das Werk Max Webers. Gesammelte Aufsätze zu Max Weber, hg. von Harald Homann, Tübingen 1999. Marianne Weber: Max Weber-- Ein Lebensbild (1926), München 1989. <?page no="30"?> 31 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft 2.1 Methodenstreit in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften des späten 19. Jahrhunderts 2.2 Max Webers Stellung im Methodenstreit 2.3 Wissenschaft und Werturteil 2.4 Gesetzeswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft 2.5 Historische Erklärung und kulturwissenschaftlich vergleichende Kausalurteile 2.6 Begriffe und Idealtypen 2.7 Zusammenfassung Max Webers wissenschaftliche Forschungen orientieren sich am Konzept einer historischen Sozialwissenschaft, das er anlässlich der Neuherausgabe der Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik formuliert. Es entsteht im Kontext heftiger methodischer Kontroversen in den deutschsprachigen Sozial- und Geisteswissenschaften des späten 19. Jahrhunderts. Im Kern geht es dabei um folgende Fragen: Sollen die Sozialwissenschaften nach dem Vorbild und mit der Wissenschaftsmethode der Naturwissenschaft betrieben werden? Oder bedürfen sie, da sie es mit Menschen als Geistwesen zu tun haben, einer eigenen Methode? Die erstgenannte Position bezeichnet man als Naturalismus, die zweite als Historismus. 2.1 Methodenstreit in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften des späten 19. Jahrhunderts Der historistischen Position zufolge sind Natur und Geschichte ontologisch (seinsmäßig) als wesensverschiedene Gegenstände anzusehen: Die Natur als Reich der unbelebten und belebten Materie ist von bestimmten Gesetzen beherrscht, wogegen die Geschichte von willensmäßigen Handlungen erfüllt ist. Wo aber der freie Wille regiert, kann es keine Gesetze geben. Geschichte ist nicht der experimentellen Beobachtung und der nomologischen, gesetzeswissenschaftlichen Theoriebildung, sondern nur dem einfühlenden Verstehen zugänglich. Die Geistes- und Sozialwissenschaften in Deutschland sind, anders als in Westeuropa, im 19. Jahrhundert vom Historismus geprägt, z. B. die Geschichtswissenschaft, die Rechtswissenschaft, die Nationalökonomie und die Philosophie. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von historischen Schulen. Oberster erkenntnistheoretischer Grundsatz des Historismus ist, geschichtliche, politische, gesellschaftliche, kulturelle Phänomene immanent, aus sich heraus zu verstehen. Damit wenden sich die Historisten gegen »von außen« herangetragene Theorien und Wertmaßstäbe. Ein Ver- <?page no="31"?> 32 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft stehen historischer Lebenswelten jeder Art (Personen, Institutionen, Staaten, Kulturen) sei nur durch eine immanente Betrachtungsweise möglich, da jede Einheit ihre spezifische Struktur, ihre eigenen Entwicklungsgesetze und autonome Wertmaßstäbe besitze. Die zentralen erkenntnistheoretischen Kategorien des Historismus sind also Individualität und Entwicklung. Historismus Der Historismus ist als eine Erkenntnistheorie und Weltanschauung zu verstehen, die davon ausgeht, dass zwischen den Erscheinungen der Natur und der Kultur bzw. Geschichte ein Wesensunterschied besteht, der für die Sozial- und Geisteswissenschaften eine prinzipiell andere Methode als für die Naturwissenschaften erfordert. Die Natur ist demnach die Sphäre ewig wiederkehrender Erscheinungen, die sich ihrer Zwecke nicht bewusst sind. Geschichte besteht dagegen aus einmaligen menschlichen Handlungen, die von Wille und Absicht erfüllt sind. Der Historismus dominierte die deutsche Geschichtswissenschaft vom frühen 19. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, war aber auch in anderen Disziplinen wie der Nationalökonomie, der Rechtswissenschaft und der Soziologie (seit etwa 1900) einflussreich. So weit in diesen und anderen Disziplinen der Einfluss des Historismus reichte, spricht man auch von historischen Schulen (vgl. Iggers 1971, bes. S. 13). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerät der Historismus in eine Krise; seine erkenntnistheoretische und weltanschauliche Leitfunktion wird zunehmend in Frage gestellt. Es sind vor allem die sozialwissenschaftlichen Theorieströmungen des Marxismus, der theoretischen Nationalökonomie und der positivistischen Soziologie, welche die historischen Schulen in den deutschen Wissenschaften in die Defensive drängen. Die Idee einer positivistischen Soziologie geht auf Auguste Comte (1798-1857) zurück. Comte propagiert eine Wissenschaft der Gesellschaft, die nicht mehr fragt, wie eine gute Gesellschaft aussehen soll, sondern die ergründen will, nach welchen Gesetzen gesellschaftliche Entwicklung wirklich abläuft. Zu diesem Zweck soll sie sich der naturwissenschaftlichen Wissenschaftsmethode bedienen und sich auf die Erforschung des tatsächlich Gegebenen beschränken. Irgendwann würde man mithilfe des Gesetzeswissens in der Lage sein, die Gesellschaft krisenfrei zu steuern. Comte will diese neue Wissenschaft »soziale Physik« nennen, was den naturalistischen Charakter unterstrichen hätte, aber der Begriff ist schon besetzt und so nennt er sein Projekt Soziologie. Das Projekt einer positivistischen Soziologie wird später von Herbert Spencer in England fortgesetzt, der sich allerdings stärker an der Biologie als an der Physik orientiert. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erscheinen deutsche Übersetzungen von Werken Comtes und Spencers. In Anlehnung an diese Vorbilder werden auch im deutschen Kulturraum biologistische soziologische Systeme entwickelt, z. B. von Paul Lilienfeld (1829-1903) und Albert Schäffle (1831-1903). Im Abwehrkampf gegen das Vordringen der positivistischen Soziologie in Deutschland spielt die Philosophie eine herausragende Rolle, sie ist ja innerhalb des akademi- <?page no="32"?> 2.1 Methodenstreit in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften 33 schen Fächerkanons dafür fachlich prädestiniert. In seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften erklärt Wilhelm Dilthey 1883, dass sich Naturwissenschaften auf der einen und Geisteswissenschaften auf der anderen Seite auf ontisch (seinsmäßig) wesensverschiedene Objekte bezögen, was sich methodologisch im Erklären einerseits und Verstehen andererseits ausdrücke. Ähnlich argumentierte schon der Historiker Johann Gustav Droysen. Dilthey kanzelt die Soziologie Comtes und ihr Erkenntnisprogramm »voir pour prévoir pour agir« als »gigantische Traumidee« ab (vgl. Dilthey 1966, S. 84) und behauptet, die Soziologie und die Philosophie der Geschichte seien »keine wirklichen Wissenschaften« (vgl. ebd., S. 86). Wilhelm Windelband propagiert 1894 die nomothetische, gesetzeswissenschaftliche Methode für die Naturwissenschaften und die idiographische, historisch beschreibende Methode für die Geisteswissenschaften. Die Naturwissenschaften sollen nach Gesetzen suchen, die Geisteswissenschaften hingegen ihre Gegenstände in ihrer Eigenheit beschreiben. Auch Heinrich Rickert unterstreicht in seinem voluminösen Hauptwerk Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1902) die Bedeutung des Einzigartigen für die »Kulturwissenschaften«, während die Aufgabe der Naturwissenschaften in der Erforschung allgemeiner Regelmäßigkeiten und Gesetze bestehe. Er polemisiert heftig gegen eine positivistische Soziologie, räumt aber widerwillig ein, dass eine solche Disziplin logisch möglich sei: »So wenig Erfreuliches diese Wissenschaft mit dem wenig erfreulichen Namen auch bisher erreicht haben mag, so wenig ist unter logischen Gesichtspunkten gegen eine naturwissenschaftliche Darstellung der gesellschaftlichen Wirklichkeit einzuwenden.« (Rickert 1902, S. 287 f.) Diese Einsicht wird später für Webers Konzepte einer historischen Sozialwissenschaft und einer Verstehenden Soziologie von großer Bedeutung sein. Die Gültigkeit und Anwendbarkeit des positivistischen Wissenschaftsbegriffs für die Geschichte wird auch ein Kernpunkt des Methodenstreits in der deutschen Geschichtswissenschaft während der 1890er Jahre. Die deutsche Geschichtswissenschaft als Hochburg des Historismus lehnt begriffliches Denken und theoretische Generalisation ab, beharrt auf dem Monopol der historischen Methode, beschränkt ihre Forschung auf Staat und Politik und ignoriert weitgehend die nichtstaatlichen Dimensionen des sozialen Lebens. Im Zuge eines wachsenden sozialgeschichtlichen Interesses im Fach seit den 1880er Jahren stellt eine Gruppe jüngerer Historiker dieses herrschende Paradigma jedoch in Frage. An ihrer Spitze steht Karl Lamprecht, mit dessen Publikationen in den 1890er Jahren der Methodenstreit kulminiert. Lamprecht vertritt die These, dass wirtschaftliche und geistige Strukturen sowie kollektive Kräfte im historischen Prozess wirksamer sind als die Taten großer Staatsmänner und Feldherren. Dem müsse die Geschichtswissenschaft methodisch Rechnung tragen. Er plädiert für eine sozialpsychologische Grundlegung der Geschichtswissenschaft, die Einbeziehung der nichtstaatlichen gesellschaftlichen Dimensionen in den Forschungsprozess, die Untersuchung von Kausalbeziehungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen und die Anwendung typologischer Begriffe <?page no="33"?> 34 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft zur Strukturierung des geschichtlichen Stoffs. Lamprecht erntet unter dem Banner des freien Willens und der Persönlichkeit in der Geschichte vernichtende Kritik seitens des traditionalistischen Establishments, angeführt von den Historikern Georg v. Below, Dietrich Schäfer und Heinrich v. Sybel, wobei Lamprecht seinen Gegnern durch methodische Schwächen und Fehler im Detail Vorschub leistet. Seit 1883 tobt auch ein heftiger Methodenstreit in der deutschsprachigen Nationalökonomie, also Webers späterem Fach. (Erst ab etwa 1910 versteht Weber sich zunehmend als Soziologe.) In England hat sich, repräsentiert durch Adam Smith (1723-1790) und David Ricardo (1772-1823), eine theoretische Nationalökonomie herausgebildet. Sie sucht nach allgemeinen, universal gültigen Gesetzen des wirtschaftlichen Geschehens und geht dabei vom rationalen, nutzenmaximierenden Wirtschaftsmenschen aus. Gegen diese theoretische Nationalökonomie bildet sich in Deutschland eine Gegenbewegung heraus, die historische Schule. Zu ihrem bedeutendsten Vertreter wird Gustav Schmoller (1837-1917). Schmoller kritisiert die Methode der theoretischen Nationalökonomie, auf axiomatisch-deduktivem (aus allgemeinen Annahmen ableitend) Wege zu Gesetzen zu gelangen. Indem diese den rationalen, nutzenmaximierenden Wirtschaftsmenschen und das Streben nach allgemeinen, raum- und zeitlos gültigen Gesetzen herausstelle, werde die Vielfalt der geschichtlichen Wirklichkeit vernachlässigt. Schmoller fordert daher, zunächst wirtschaftsgeschichtliche Forschung zu betreiben. Auf der Grundlage des akkumulierten Erfahrungswissens ergebe sich dann irgendwann Einsicht in die Gesetze des Wirtschaftsablaufs. Schmoller und seine Schüler wenden sich folglich der wirtschaftsgeschichtlichen Einzelforschung, oft auf lokaler Ebene, zu. Ferner verlangt Schmoller, ökonomische Phänomene in einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Wissenschaft soll laut Schmoller keine rein akademische Angelegenheit sein, sondern sich der gesellschaftlichen Verantwortung stellen. Dabei denkt er besonders an die soziale Frage seiner Zeit. 1872 gründet er den Verein für Sozialpolitik, dem neben prominenten Wissenschaftlern hochrangige Verwaltungsbeamte des Kaiserreichs angehören. Der Verein lässt zahlreiche empirische Untersuchungen zur sozialen Lage bestimmter Berufsgruppen durchführen und diskutiert sozialpolitische Reformen. Die Forschungsergebnisse und die Ideen des Vereins gehen in die Sozialpolitik des Kaiserreichs ein. Im Sinne gesellschaftlicher Verantwortung propagiert Schmoller eine ethische Nationalökonomie. Gegen die Vorherrschaft der historischen Schule im deutschsprachigen Raum wendet sich 1883 ein österreichischer Ökonom, Carl Menger. Menger beklagt den Niedergang theoretischen Denkens in der deutschen Nationalökonomie und bezweifelt, dass es möglich sei, auf dem Wege wirtschaftsgeschichtlicher Einzelforschung zur Erkenntnis allgemeiner ökonomischer Gesetze zu gelangen. Damit ist der Methodenstreit der Nationalökonomie ausgebrochen, der über Jahrzehnte die deutschsprachige Nationalökonomie in zwei Lager spalten wird. Menger verlangt die Rehabilitierung <?page no="34"?> 2.1 Methodenstreit in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften 35 der theoretischen Nationalökonomie. Sie müsse als eigene Disziplin mit eigenen Methoden bestehen, unabhängig und neben der historischen Nationalökonomie. Schmoller hätte angesichts seiner überragenden Stellung in der deutschsprachigen Nationalökonomie gelassen reagieren können, zumal sein Kontrahent die Berechtigung einer historischen Nationalökonomie nicht in Frage stellt. Aber er führt die Kontroverse in einer Grundsätzlichkeit, die der theoretischen Nationalökonomie keinen Raum lässt. Er kritisiert die undifferenzierte Annahme rational und nutzenmaximierend handelnder Akteure, die Vernachlässigung der Einbettung wirtschaftlicher Phänomene in große gesellschaftliche Zusammenhänge und die unzulässige Verallgemeinerung aktueller Zustände für das Wirtschaftsleben in der Geschichte insgesamt. Menger kontert in einer scharfen Replik, dass »historisch-statistische Kleinmalerei« und »historische Mikrographie« die Wirtschaftstheorie nicht ersetzen könnten und nicht verdrängen dürften (Menger 1884, S. 36, 47). Er weist auf Schwächen in Schmollers Wissenschaftskonzept hin, insbesondere auf die Problematik des Postulats, die Theorie ruhen zu lassen, bis die Wirtschaftsgeschichte erforscht sei. Der Methodenstreit endet unentschieden. Er führt für 20 Jahre und länger zu einem Schisma in der deutschsprachigen Nationalökonomie. Im Deutschen Reich dominiert bis zum Tod Schmollers 1917 und darüber hinaus die historische Schule, in Österreich hingegen setzt sich die theoretische Nationalökonomie durch. Sie bringt hervorragende Gelehrte hervor wie Eugen Böhm-Bawerk, Friedrich v. Wieser, Joseph Schumpeter und Ludwig von Mises und wird auf lange Sicht den Sieg davontragen. Als dritte große theoretische Herausforderung für die historischen Schulen ist der Marxismus zu nennen. Marx und Engels propagieren einen wissenschaftlichen Sozialis- Gustav Schmoller und die Historische Schule der Nationalökonomie Gustav Schmoller (1838-1917) war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert das unbestrittene Oberhaupt der deutschen Nationalökonomie. Im Gegensatz zu den klassischen britischen Theoretikern Adam Smith (1723-1790) und David Ricardo (1772-1823) propagierte Schmoller eine Wissenschaft, die sich durch empirische Forschungen und wirtschaftsgeschichtliche Studien eine solide erfahrungswissenschaftliche Grundlage verschafft, von der aus man allmählich zu einer ökonomischen Theorie vorstoßen könne. Außerdem forderte Schmoller, wirtschaftliche Vorgänge nicht isoliert, sondern in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu sehen. In diesem Sinne arbeitete die historische Schule der Nationalökonomie in Deutschland. Schmoller, monarchistisch gesinnt, engagierte sich für eine Sozialpolitik zugunsten der arbeitenden Klassen. Der von ihm gegründete Verein für Sozialpolitik vergab zahlreiche Forschungsaufträge zur Lage der unteren Schichten. Auch Max Weber gehörte dem Verein an und erstellte eine Studie zur Lage der ostelbischen Landarbeiter (1894). Im Glauben, dass man Werte und Normen aus erfahrungswissenschaftlicher Forschung ableiten könne, propagierte Schmoller eine ethische Nationalökonomie. Daraus entsprang der Werturteilsstreit, in dem Max Weber zum wichtigsten Gegenspieler Schmollers wurde (vgl. Kap. 2.3). <?page no="35"?> 36 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft mus, der mit wissenschaftlichen Methoden die Bewegungsgesetze der Geschichte und des Kapitalismus enthüllt. Das Kapital als Analyse der Ökonomie des 19. Jahrhunderts stellt eine Provokation für die historische Nationalökonomie dar, auf die diese jedoch nicht eingeht. Auch die Geschichtswissenschaft reagiert nicht auf die Herausforderung, welche die materialistische Geschichtsauffassung, nach der das Sein das Bewusstsein und die ökonomische Basis den politischen, geistigen, religiösen, juristischen Überbau bestimmt, für das idealistische und individualistische Selbstverständnis des Historismus darstellt. Der Marxismus wird in den deutschen Sozialwissenschaften zunächst ignoriert und »totgeschwiegen«. Doch während der 1890er Jahre deutet sich eine Wende an. Einige junge Sozialwissenschaftler, insbesondere aus der historischen Nationalökonomie, sind nicht mehr bereit, die Marx-Obstruktion des universitären Establishments weiter mitzutragen. Sie suchen vielmehr die Rezeption von und die kritische Auseinandersetzung mit Karl Marx. Zu diesem Kreis gehören auch Max Weber und sein Bruder Alfred. Besonders bedeutsam und wegweisend wird aber Werner Sombart (1863-1941), ein Lieblings- Methodenstreit der Nationalökonomie Carl Menger Die historische Schule hat die nationalökonomische Theorie vernachlässigt. Es ist unmöglich, auf dem Weg wirtschaftsgeschichtlicher Forschung zu einer allgemeinen Theorie zu gelangen. Die Aufgabe der theoretischen Nationalökonomie besteht darin, auf axiomatisch-deduktivem Wege universal gültige Gesetze des Wirtschaftslebens zu entwickeln. Theoretische und historische Nationalökonomie sollen als eigenständige Subdisziplinen mit eigenen Methoden bestehen. Gustav Schmoller Die Annahme rationaler, nutzenmaximierender Akteure, auf der die theoretische Nationalökonomie basiert, ist pauschal und unhistorisch. Die theoretische Nationalökonomie vernachlässigt wirtschaftlich relevante Institutionen, z. B. den Staat und seine Politik. Die theoretische Nationalökonomie vernachlässigt die soziologische Einbindung der Wirtschaft in andere gesellschaftliche Zusammenhänge, besonders das Verhältnis von Wirtschaft und Staat. Die theoretische Nationalökonomie verallgemeinert unzulässigerweise die Erscheinungen der Gegenwart für die gesamte menschliche Geschichte. Der Schwerpunkt wirtschaftswissenschaftlichen Handelns muss daher im Bereich der historischen Forschung liegen, um zu einer historisch differenzierten und gesellschaftlich eingebetteten Sichtweise von Wirtschaft zu gelangen. <?page no="36"?> 2.1 Methodenstreit in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften 37 schüler Gustav Schmollers. Sombart hält im Wintersemester 1892/ 93 ein Seminar über Karl Marx, rezensiert 1894 den von Friedrich Engels herausgegebenen dritten Band des Kapitals und veröffentlicht 1896 die Schrift Sozialismus und soziale Bewegung-- eine außerordentlich klare und einflussreiche Darstellung der Grundgedanken von Marx, die später in 22 Sprachen übersetzt wird. Angeregt von Engels verfasst er Der moderne Kapitalismus (1902), eine Studie, welche die Entstehung des Kapitalismus historisch beschreibt. Sie wird später für die Überwindung des Gegensatzes zwischen historischer und theoretischer Nationalökonomie und für Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft von wegweisender Bedeutung sein. Die Konstellation in den deutschen Sozialwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die den Ausgangspunkt für Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft bildet, stellt sich wie folgt dar: Das wissenschaftliche Establishment der historischen Schulen sieht sich in einem dreifachen Abwehrkampf gegen die nomologisch orientierten Strömungen des Positivismus, der theoretischen Nationalökonomie und des Marxismus verstrickt, der mit aller Härte geführt wird und tiefe Gräben in den einzelnen Disziplinen aufreißt. Bei allen Unterschieden zwischen Nationalökonomie, Philosophie, Geschichte und inhaltlichen Nuancen im Einzelnen geht es im Kern um die Frage, ob und inwieweit naturwissenschaftliche bzw. den Naturwissenschaften entlehnte Denkmodelle, Begriffe und Methoden auf Geschichte und Gesellschaft übertragen werden können und sollen. Das konservative Establishment postuliert eine strenge ontologische und methodologische Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften (Kulturwissenschaften), beharrt auf der Priorität hermeneutischer und idiographischer Methoden und lehnt systematische Fragestellungen und Theorieansätze prinzipiell ab. Heinrich Rickert über die Aufgabe der Wissenschaftslogik Die Wissenschaftslogik ist »von der Absicht geleitet, die wirklich ausgeübte wissenschaftliche Tätigkeit zu verstehen, d. h. die logische Struktur kennen zu lernen, die jede historische Darstellung zeigen muss. Ein anderes Verhältnis wird die Logik zur empirischen Forschung nie haben. Höchstens kann die Besinnung auf die logischen Besonderheiten einer Untersuchung mit dieser selbst Hand in Hand gehen und sie dadurch zielbewusster gestalten. In den bei weitem meisten Fällen aber sind die Wissenschaften bis zu einem hohen Grade ausgebildet, ehe die Reflexion auf ihre logische Struktur beginnt […], so dass sie auch dann nicht den Anspruch erhebt, führend der Wissenschaft die Wege zu weisen, sondern nur verstehend ihr folgen will.« (Rickert 1902, S. 330) <?page no="37"?> 38 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft Die Ausgangssituation, aus der heraus Max Webers Wissenschaftslehre entstand »Das von Weber vorgefundene logisch-erkenntnistheoretische Zentralproblem war die große Auseinandersetzung zwischen den Natur- und sog. Geisteswissenschaften, die unter der Führung von Dilthey, Windelband, Simmel und Heinrich Rickert die meisten zeitgenössischen Philosophen und Logiker beschäftigte und dessen Diskussion darüber hinaus sich in die Erfahrungswissenschaften fortsetzte. Durch die ungeheuren Erfolge der Naturwissenschaften war die Ueberzeugung entstanden, dass eine, wie von aller Metaphysik, so von allen individuellen Zufälligkeiten befreite ›rationale‹ Erkenntnis der ganzen Wirklichkeit möglich sei. Eine Universalmethode könne und müsse ihren ganzen Umfang beherrschen, einzig den Resultaten dieser Methode stände der Anspruch auf Wahrheitsgeltung zu; was durch sie nicht erfassbar sei, gehöre nicht in den Rahmen der Wissenschaft, sondern sei ›Kunst‹. Der ›Naturalismus‹ als Methode und Weltanschauung beanspruchte Alleinherrschaft auf allen Gebieten des Lebens und Denkens. Die Abwehr der ›Geisteswissenschaften‹ konzentrierte sich auf den Nachweis ihrer Eigenart und Selbständigkeit, die man zunächst auf die Verschiedenheit der Stoffgebiete gründete.« (Marianne Weber 1989, S. 322 f.) 2.2 Max Webers Stellung im Methodenstreit Wie ist Max Weber in diese Gemengelage heftiger methodologischer Grundsatzkontroversen im späten 19. Jahrhundert einzuordnen? Der junge Max Weber kann als Nationalökonom, wie übrigens auch sein Bruder Alfred, zunächst als ein Schüler Gustav Schmollers angesehen werden. Seine Arbeit über die ostelbischen Landarbeiter (1892; vgl. Kap. 1.3) entspricht voll dem Grundsatz des Meisters, dass nationalökonomische Wissenschaftspraxis in historischer und empirischer Wirtschaftsforschung, nicht in abstrakterTheoriebildung besteht. Weber teilt auch das sozialpolitische Engagement Schmollers und wirkt als aktives Mitglied in dessen Verein für Sozialpolitik, der für die Sozialpolitik des kaiserlichen Deutschlands von herausragender Bedeutung ist. Allerdings steht er, anders als der Herzensmonarchist Schmoller, der Monarchie und Kaiser Wilhelm II., aber auch dessen Verwaltung kritisch gegenüber. Er bezweifelt, dass das monarchisch-konstitutionelle System in der Lage ist, die nationalen Großmachtinteressen des Deutschen Reichs optimal wahrzunehmen. Dennoch-- wir dürfen sagen, dass der junge Max Weber als Nationalökonom weitgehend in der historischen Schule aufgeht. Allerdings kommen Weber auch Zweifel an der methodologischen Tragfähigkeit der historischen Schule, die seit 1903/ 1904 immer deutlicher zutage treten. Sie betreffen folgende Positionen Schmollers: <?page no="38"?> 2.2 Max Webers Stellung im Methodenstreit 39 Schmoller propagiert eine ethische Nationalökonomie, deren Aufgabe es auch sei, Urteile über die »richtigen« Werte abzugeben. Demgegenüber vertritt Weber die Auffassung, dass sich aus Erfahrungswissen keine Werturteile ableiten lassen. Schmoller propagiert und praktiziert wirtschaftsgeschichtliche Einzelforschung. Weber fragt sich unter dem Eindruck von Nietzsches Kritik an der Lebensfremdheit der historischen Wissenschaften, worin die lebenspraktische Bedeutung einer solchen Wissenschaft bestehen soll. Weber glaubt nicht, dass sich die historischen Wissenschaften mit Deskription bescheiden können und sollen. Anders als Schmoller bezweifelt er, dass sich daraus irgendwann Theorie ergeben wird. Außerdem meint Weber, dass das nomologische Wissenschaftskonzept sehr wohl auf die Geschichte anwendbar ist. Für Schmoller sind Begriffe Abbild der Wirklichkeit, der kantianisch geschulte Weber versteht hingegen Begriffe als Instrumente des denkenden Verstands, um die Wirklichkeit, die uns nicht unabhängig von den Kategorien unseres Verstands zugänglich ist, denkend zu ordnen. Für Schmoller ist Marx ein politischer Ideologe, Weber erachtet Marx als einen Wirtschaftstheoretiker, der als solcher bei aller Kritik ernst zu nehmen ist. Weber empfindet das Schisma in der Nationalökonomie als ein existentielles wissenschaftliches Problem, das unbedingt in irgendeiner Weise gelöst werden muss. Der richtige Weg besteht für ihn darin, dass man historische Forschung und theoretisches Denken nicht trennt, sondern Theorie und Geschichte miteinander verbindet. Die historische Nationalökonomie ist also aus der Sicht Webers nicht lebensbedeutsam, nicht theoretisch und nicht reflektiert genug. Aber anders als sein Bruder Alfred, der zeitweise im Rahmen der Menger-Schule arbeitet und dabei eine Reine Theorie des Standorts (1909) entwirft, wechselt Max Weber nicht die Seiten. Er bleibt ein »Kind der historischen Schule«, und das zeitlebens. Er bemüht sich in seinen wissenschaftslogischen Arbeiten um eine methodologische Reform der historischen Schulen. Seine methodologischen Arbeiten vor allem von 1903/ 1904 stellen eine wissenschaftliche Revolution innerhalb des Historismus dar. Da sie zu einer Annäherung an die Positionen der theoretischen Nationalökonomie und des Marxismus führen, kann man von einem dritten Weg zwischen theoretischen und historischen Schulen sprechen. Für Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft sind vor allem vier Quellen von Bedeutung: die Theorie von Marx, die Philosophie von Nietzsche, die neokantianische Erkenntnistheorie von Rickert- - und Sombarts Versuch einer »historischen Socialtheorie« in seinem Werk über den modernen Kapitalismus. Werner Sombart, wie Weber ein Schüler Schmollers, veröffentlicht, wie bereits erwähnt, 1902 die zweibändige Studie Der moderne Kapitalismus. Darin versucht er, die Entstehung und Entwicklung des modernen Kapitalismus historisch zu beschreiben. Nicht weniger bedeutsam als der Inhalt des Werkes war sein konzeptioneller Entwurf, denn Sombart tritt an, wie er im Vorwort darlegt, das Schisma zwischen den <?page no="39"?> 40 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft historischen Schulen und den theoretischen Richtungen zu überwinden. In der Tat unterscheidet es sich, obwohl historisch orientiert, von den Grundsätzen der historischen Schule: Auffällig ist die Weite der Anlage. Es geht nicht um die Zünfte der Tuchmacher und Weber in Straßburg-- so das klassische Werk Schmollers--, sondern um den modernen Kapitalismus schlechthin. Sombart erhebt explizit den Anspruch, Theorie und Geschichte miteinander zu versöhnen. Sombart arbeitet mit theoretischen Begriffen, also solchen, die nicht dem Stoff entnommen sind, sondern als gedankliche Konstrukte quasi »von außen« an den Stoff herangetragen werden. Werner Sombart (1863-1941), Nationalökonom und Soziologe, wie Weber ein Schüler Gustav Schmollers, zeigt sich schon in einer Zeit, in der Marx an der Universität durchweg als politischer Ideologe gilt, dessen ökonomischen Lehren gegenüber aufgeschlossen. 1896 veröffentlicht er Sozialismus und soziale Bewegung-- eine populäre und wirkungsvolle Einführung in die Grundgedanken von Marx, die in 22 Sprachen übersetzt wird. Es ist vor allem Sombarts Verdienst, dass Marx fortan in der deutschen Nationalökonomie ernsthaft diskutiert wird. Angeregt noch vom alten Friedrich Engels (1820-1895), verfasst Sombart eine zweibändige Geschichte des modernen Kapitalismus (1902), die sich als historisches Pendant zu Marx’ Theorie der modernen Gesellschaft im Kapital versteht. Darin führt er, das Schisma in der deutschsprachigen Nationalökonomie überwindend, Theorie und Geschichte in Gestalt einer »historischen Socialtheorie« des modernen Kapitalismus zusammen. Dieses Konzept wird wegweisend für Max Weber und die deutsche Soziologie. Zwischen 1916 und 1927 gibt Sombart eine erweiterte, weitgehend neue zweite, sechs Teilbände umfassende Auflage des Modernen Kapitalismus heraus. Darin trennt er, anders als in der ersten Auflage, auf Anregung Max Webers analytisch die historische und theoretische Dimension. Werner Sombart, der über Jahre der marxistischen Sozialdemokratie nahegestanden hat, gerät seit etwa 1908 zunehmend in ein konservatives Fahrwasser. Diese Entwicklung mündet in seine Studie Deutscher Sozialismus (1934)-- ein Werk, das von Zeitgenossen allgemein als Kotau vor dem Nationalsozialismus verstanden wird. Die Annäherung an den Nationalsozialismus hat den wissenschaftlichen Ruf Sombarts, der zu Lebzeiten international bekannter war als Max Weber, nachhaltig ruiniert. »Wäre die Erinnerung an Sombart nicht durch seine spätere Annäherung an den Nationalsozialismus und Antisemitismus verdunkelt, würde er vermutlich heute als wissenschaftliche Koryphäe ebenbürtig neben Weber stehen.« (Radkau 2005, S. 345) Lit.: Friedrich Lenger, Werner Sombart. Eine Biografie, München 1999. Bernhard vom Brocke, Werner Sombart 1863-1941. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, in: ders. (Hg.), Sombarts »Moderner Kapitalismus«. Materialien zur Kritik und Rezeption, München 1987, S. 11-65. <?page no="40"?> 2.3 Wissenschaft und Werturteil 41 Sombarts Moderner Kapitalismus versteht sich als Theorie, aber nicht im universalistischen Sinn einer räumlich und zeitlich unbegrenzten Geltung (wie in der theoretischen Nationalökonomie), sondern als historische Theorie, deren Geltung raumzeitlich eingeschränkt ist- - eben eine Theorie des modernen Kapitalismus. Sombart nennt dieses Muster historische Socialtheorie. Sombart verzichtet auf Schmollers Axiom der komplexen Motivation, demgemäß man die Motivation des wirtschaftlichen Handelns nicht allein auf das Gewinnmotiv beschränken darf, da viele andere Motive im Spiel sein können. Dies schafft eine unüberwindbare Hürde für Theorie, denn wie soll man zu einer theoretischen Reduktion gelangen, wenn jede Handlung komplex und eigengeartet motiviert ist? Den Ausweg sieht Sombart in der Kategorie der prävalenten Motivation. Er gesteht Schmoller zu, dass die Motivation einer Handlung sehr vielfältig sein kann, betont aber zugleich, dass in jeder Epoche eine bestimmte Art der Motivation vorherrsche: im modernen Kapitalismus sei es das Gewinnstreben. Sombart liefert schließlich ein offenes Plädoyer für Karl Marx, was für gewöhnliche Anhänger der historischen Schulen der Ketzerei gleichkommt. Verkürzt gesagt, versteht Sombart seinen Modernen Kapitalismus als Synthese aus Schmoller und Marx. Sombarts Moderner Kapitalismus provoziert heftige Kritik, besonders aus dem Lager der historischen Schulen. Seine Kritiker versuchen, aufgrund von Fehlern im Detail das Werk insgesamt zu diskreditieren. Weber beteiligt sich daran nicht. Vielmehr wird Sombart sein wohl wichtigster Mitstreiter auf dem Weg zu einer historischen Sozialwissenschaft. Max Weber ist ein Schüler Schmollers und Mitglied des Vereins für Sozialpolitik. Aber wie Sombart hat Weber Zweifel an der Tragfähigkeit der methodologischen Positionen Schmollers (s. o.). Weber sucht nach einer grundlegenden methodologischen Neubestimmung der Sozialwissenschaften, die das Anliegen der historischen Schule bewahren will, aber doch Elemente nomologischer Wissenschaftsauffassungen integriert und zugleich den Zugang zu den großen Problemen der Zeit eröffnet. Programmatisch hat Weber seine Vorstellungen im Geleitwort (gemeinsam mit Werner Sombart und Edgar Jaffé) sowie im programmatischen Aufsatz Zur »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904) anlässlich der Übernahme der Herausgeberschaft des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik formuliert. Wir werden im Folgenden einzelne Positionen Webers vorstellen. 2.3 Wissenschaft und Werturteil Nachdem Weber einigermaßen von seiner Krankheit genesen ist, übernimmt er- - gemeinsam mit Werner Sombart und Edgar Jaffé-- die Herausgeberschaft des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Es handelt sich dabei um eine Neuherausgabe <?page no="41"?> 42 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft des Archivs für soziale Gesetzgebung und Statistik. Es wird rasch zum wichtigsten Journal seiner Art im deutschsprachigen Raum und bleibt es bis 1933. Es bietet die Chance, eine neue methodologische Position jenseits der Alternative: theorielose Geschichte (Schmoller) oder geschichtslose Theorie (Menger), zu formulieren. Weber unternimmt dies im Geleitwort und in seinem Aufsatz Zur »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Im Geleitwort umreißt Weber die Eckpunkte seines Programms einer historischen Sozialwissenschaft. Der erste Schwerpunkt der neuen Position bezieht sich auf Werturteile in der Wissenschaft, also auf Aussagen darüber, was sein soll-- im Unterschied zu Tatsachenurteilen als Aussagen darüber, was empirisch »ist«. Diese Frage stellt sich so lange nicht, wie man nach Marx oder Comte davon ausgeht, dass die Geschichte nach bestimmten ehernen Gesetzen fortschreitet. Wenn ein eindeutiges Entwicklungsprinzip die Geschichte bestimmt, dann fällt das Seinsollende mit dem Sein zusammen. Schmoller verneint jedoch ein ehernes Entwicklungsgesetz und meint, dass die Nationalökonomie eine ethische Wissenschaft sein müsse, die aus erfahrungswissenschaftlicher Forschung Urteile über die richtigen Werte ableiten könne und solle. Dagegen betont Weber: »(W)ir sind der Meinung, daß es niemals Aufgabe einer Erfahrungswissenschaft sein kann, bindende Normen und Ideale zu ermitteln, um daraus für die Praxis Rezepte ableiten zu können.« (WL, S. 149) Was ist damit gemeint? Zunächst einmal nicht, dass Werte in der Wissenschaft nichts zu suchen hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Weber propagiert Sozialwissenschaft als eine Kulturwissenschaft oder Wirklichkeitswissenschaft. Kultur versteht er nicht in einem gegenständlichen Sinne, als Kunst, Musik, Theater. Sondern Kultur ist das, was uns wichtig und bedeutsam ist. In diesem Sinne hebt Weber hervor, dass Religion genauso Kultur sei wie Prostitution. Wertideen sind wichtig für unser Leben, an ihnen orientieren wir unser Handeln und sie geben uns Sinn und Bedeutung. In Max Weber über Möglichkeiten und Grenzen von Erfahrungswissenschaft »Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und-- unter Umständen-- was er will. Richtig ist, dass die persönlichen Weltanschauungen auf dem Gebiet unserer Wissenschaften unausgesetzt hineinzuspielen pflegen auch in die wissenschaftliche Argumentation, sie immer wieder trüben, das Gewicht wissenschaftlicher Argumente auch auf dem Gebiet der Ermittlung einfacher kausaler Zusammenhänge von Tatsachen verschieden einschätzen lassen, je nachdem das Resultat die Chancen der persönlichen Ideale: die Möglichkeit, etwas Bestimmtes zu wollen, mindert oder steigert […]. Aber von diesem Bekenntnis menschlicher Schwäche ist es ein weiter Weg bis zu dem Glauben an eine ›ethische‹ Wissenschaft der Nationalökonomie, welche aus ihrem Stoff Ideale oder durch Anwendung allgemeiner ethischer Imperative auf ihren Stoff konkrete Normen zu produzieren hätte.« (WL, S. 151 f.) <?page no="42"?> 2.3 Wissenschaft und Werturteil 43 der Wissenschaft können sie dazu verhelfen, das Wichtige vom Unwichtigen zu scheiden und überhaupt einen Gegenstand zu finden. Doch dazu später mehr. Jedenfalls sind Werte in der Wissenschaft aus der Sicht Webers legitim, ja sogar unverzichtbar. Sein Anliegen ist nicht, Werte aus der Wissenschaft auszuschließen, wie manche unzutreffend behauptet haben. Es geht ihm vielmehr darum, wissenschaftlich korrekt mit Werten umzugehen. Was also kann Erfahrungswissenschaft in Bezug auf Werte leisten? Zunächst noch einmal: Man kann die Gültigkeit bestimmter Wertideen nicht wissenschaftlich beweisen. Man kann nicht wissenschaftlich entscheiden, ob der Sozialismus oder der Anarchismus oder das Christentum die »richtige« Weltanschauung hat. Es ist letztlich eine persönliche Entscheidung, für welche Werte man optiert, eine persönliche Entscheidung, deren Richtigkeit nicht wissenschaftlich beweisbar ist, die sich aber begründen lässt und dabei kann die Wissenschaft helfen. Im Einzelnen bedeutet dies Folgendes: Wissenschaft kann nicht entscheiden, welches Ideal richtig oder falsch ist, aber sehr wohl Aussagen darüber treffen, welche Mittel zur Erreichung dieses Ideals geeignet sind und welche nicht. Wissenschaft kann nicht entscheiden, dass das Ideal, Kinderarmut zu vermeiden, richtig ist, wohl aber Wege aufweisen, die Kinderarmut vermeiden. Wissenschaft kann u. U. ein Ideal deswegen kritisieren, weil es keine geeigneten Mittel zur Verwirklichung gibt. Man könnte z. B. die Idee des Kommunismus mit dem Argument zurückweisen, dass ihre Verwirklichung nicht möglich sei, wie doch die Geschichte gezeigt habe. Wissenschaft kann die (ungewollten) Nebenfolgen transparent machen, die sich aus der Verfolgung eines bestimmten Ideals ergeben. Erfahrungswissenschaft kann z. B. nicht darüber entscheiden, ob Hartz IV im ethischen Sinn richtig oder falsch ist, sie kann aber z. B. Aussagen darüber machen, welche Konsequenzen Hartz IV etwa für Kinderarmut hat. Wissenschaft kann die ungewollten Folgen und die gewollten Folgen gegeneinander abwägen. Wissenschaft kann die Folgen, die aus der Verwirklichung der unterschiedlichen Ideale resultieren, vergleichen. Wissenschaft kann Ideale in der Geschichte zum Gegenstand der Forschung machen, indem sie etwa untersucht, welche Bedeutung marxistische Ideale für die Arbeiterbewegung im späten 19. Jahrhundert oder in den russischen Revolutionen hatten. Wissenschaft kann Aussagen darüber treffen, ob bestimmte Ideale oder Weltanschauungen (als Komplexe einzelner Ideen) in sich widerspruchsfrei sind. So könnte man vielleicht feststellen, dass Marx’ Ideal des allseitig entfalteten, freien Menschen nicht mit der Vorstellung zentraler staatlicher Planung im Sozialismus vereinbar ist. <?page no="43"?> 44 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft Es ist gemäß Weber durchaus legitim, Werturteile in einer wissenschaftlichen Arbeit zum Ausdruck zu bringen, nur sollten sie als solche sichtbar gemacht werden, d. h. als subjektive Entscheidungen, die man auch anders treffen kann, und nicht unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Wahrheit verhüllt werden. Es geht nicht darum, Werte aus der Wissenschaft zu verbannen, sondern Werturteile und Erfahrungswissen sorgsam zu unterscheiden und transparent zu machen. Indem sie nach geeigneten Mitteln für einen gegebenen Zweck fragt und nichtintendierte Nebenfolgen feststellt, leistet erfahrungswissenschaftliche Forschung einen wichtigen Beitrag zur Beurteilung von Idealen. Letztlich aber sind Wertentscheidungen persönliche Willensakte, die nicht auf erfahrungswissenschaftlichem Weg bewiesen werden können. Marianne Weber fasst Max Webers Lehre zur Werturteilsfreiheit zusammen »Also vor allem darauf kommt es an, dass im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit eine uneingestandene Vermischung sachlich und persönlich begründeter Urteile vermieden werde, die den Anschein erweckt, als böte der Denker objektive Wahrheit, während er Ueberzeugungen suggeriert. Keineswegs aber soll er das Eintreten für die eignen Ideale vermeiden. Im Gegenteil: ›Gesinnungslosigkeit und wissenschaftliche Objektivität haben keinerlei innere Verwandtschaft‹. Zumal der sozialwissenschaftliche Gelehrte, dessen Erkenntnisse in besonderem Maße für die Lebensgestaltung verwertbar sind, und der deshalb mitverantwortlich ist für den Kurs der Politik, hat eine doppelte Aufgabe: Förderung der Wahrheit um ihrer selbst willen und ›Orientierung seines Handelns an klaren, bewusst gewählten Ueberzeugungen‹.« (Marianne Weber 1989, S. 331) Max Webers Lehre der Werturteilsfreiheit in den Wissenschaften Werturteile sind Aussagen darüber, was sein soll: Werte, Wertideen, Ideale. Aus erfahrungswissenschaftlicher Forschung lassen sich keine bindenden Ideale ableiten. Erfahrungswissenschaft kann aber die Geeignetheit bestimmter Mittel für ein bestimmtes Ideal feststellen. Sie kann nichtintendierte Nebenfolgen aufzeigen, die sich bei der Realisierung eines bestimmten Ideals ergeben würden. Sie kann Ideale zum Gegenstand der Forschung machen. Sie kann Ideale und Weltanschauungen auf ihre Widerspruchsfreiheit hin überprüfen. <?page no="44"?> 2.4 Gesetzeswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft 45 2.4 Gesetzeswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft Weber versucht 1903/ 1904 im Anschluss an den Philosophen Heinrich Rickert das Verhältnis von theoretischer und historischer Erkenntnis neu zu bestimmen. Comte, Spencer und Durkheim gehen davon aus, dass es nur eine Wissenschaftsmethode für Natur und Gesellschaft gleichermaßen gibt (=-naturalistischer Wissenschaftsbegriff ). Die Anwendung der naturwissenschaftlichen Wissenschaftsmethode auf die Gesellschaft werde sich als theoretisch und praktisch fruchtbar erweisen. Dieser Position widersprechen die Vertreter der historischen Schulen in Deutschland, insbesondere die Historiker, entschieden. Natur und Geschichte seien ontologisch (seinsmäßig) wesensverschiedene Dinge. Natur sei das Reich der unbelebten und belebten Materie, das von bestimmten Gesetzen beherrscht werde, wohingegen Geschichte von willensmäßigen Handlungen erfüllt sei. Wo aber der freie Wille regiere, könne es keine Gesetze geben. Geschichte sei nicht der experimentellen Beobachtung, sondern nur dem einfühlenden Verstehen zugänglich. Der naturwissenschaftliche Wissenschaftsbegriff könne nicht auf die Geschichte übertragen werden. Vielmehr sei ein jeweils eigener Wissenschaftsbegriff für Natur und Geschichte notwendig. Weber hält am dualistischen Wissenschaftsbegriff der historischen Schulen fest, gibt ihm aber einen anderen Inhalt. Die seinshaften Unterschiede zwischen Natur und Gesellschaft erklärt er für unerheblich. Entscheidend sei vielmehr, dass es zwei unterschiedliche Arten von Erkenntnisinteressen gebe, das Interesse am Allgemeinen, Generellen, gesetzesmäßig Wiederkehrenden auf der einen Seite- - und das Interesse am Besonderen, Individuellen, Einzigartigen auf der anderen. Beide Erkenntniskonzepte sind also sowohl auf Natur wie auf Geschichte/ Gesellschaft anwendbar. So kann Natur sehr wohl zum Gegenstand eines individualisierenden Erkenntnisinteresses werden. Ich kann mich z. B. für einen einzelnen schönen Baum interessieren, für das Wetter am 23. Juli 2011 oder für ein bestimmtes Ökosystem. Umgekehrt können wir in puncto Geschichte gleichbleibende soziale Formen zum Gegenstand machen, wie Georg Simmel mit der Figur des Fremden. Logisch ist beides möglich. Wissenschaft mit generalisierendem Erkenntnisinteresse nennt Weber Gesetzeswissenschaft, Wissenschaft mit individualisierendem Erkenntnisinteresse bezeichnet er als Wirklichkeitswissenschaft. Gesetzeswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft haben jeweils eine eigene Logik. Das Erkenntnisideal der Gesetzeswissenschaft besteht in der Maximierung und Optimierung von allgemeingültigem Gesetzeswissen. Sie betrachtet die Wirklichkeit unter generalisierenden Gesichtspunkten. Sie interessiert sich für das gesetzmäßig Wiederkehrende, nicht für einzelne Phänomene in ihrer Eigenart. Sie interessiert sich z. B. für allgemeine Regeln, nach denen sich Hochs und Tiefs bilden, nicht aber für das Wetter am 23. Juli 2011 (oder nur insoweit es zum Verständnis allgemeiner meteorologischer Regeln nützlich ist). Sie erklärt, indem sie das Explanandum (=- das zu Erklärende) als Exemplar eines bestimmten gesetzesmäßigen Zusammenhangs identifiziert. <?page no="45"?> 46 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft Das Erkenntnisideal der Wirklichkeitswissenschaft besteht darin, diejenige Wirklichkeit, die uns bedeutsam ist, die uns interessiert, in ihrer Eigenart und ihrem geschichtlichen Gewordensein zu verstehen. Wirklichkeit, unter individualisierenden, also die Eigenart betreffenden Gesichtspunkten behandelt, nennt Weber historisches Individuum. Ein historisches Individuum wäre z. B. Kaiser Wilhelm II., die Novemberrevolution 1918/ 19, der Dreißigjährige Krieg oder die soziale Frage in Deutschland im 19. Jahrhundert. Wie gelangt man zum Erkenntnisgegenstand? Indem wir unsere Wertideen auf die Wirklichkeit beziehen. Der Wissenschaftler wählt aus der (unendlichen) Wirklichkeit das aus, was ihm besonders wissenswert erscheint. Eine Feministin wird gern Frauenforschung betreiben, ein christlich geprägter Wissenschaftler könnte sich für die Reformation interessieren, ein sozial Engagierter für die Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts usw. Wie wird nun ein historisches Individuum erklärt? Nicht indem wir es als Exemplar eines bestimmten gesetzmäßigen Zusammenhangs bestimmen. Das historische Individuum wird erklärt, indem man die für das Explanandum ursächlich relevanten spezifischen geschichtlichen Umstände identifiziert. Weber nennt dies historische Konstellation. »Die Kausalfrage ist, wo es sich um die Individualität einer Erscheinung handelt, nicht eine Frage nach Gesetzen, sondern nach konkreten kausalen Zusammenhängen, nicht eine Frage, welcher Formel die Erscheinung als Exemplar unterzuordnen, sondern die Frage, welcher individuellen Konstellation sie als Ergebnis zuzurechnen ist: sie ist Zurechnungsfrage.« (WL, S. 178) Wenn wir z. B. erklären wollen, warum 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kommen konnten, dann würden wir dies mit einer Konstellation aus Faktoren wie diesen erklären: die Lasten des Versailler Vertrags, die Schwäche demokratischer Tradition in Deutschland, die Inflation und die große Weltwirtschaftskrise, die Hitler als Retter in der Not erscheinen ließen usw. Das ist eine andere Art von Erklärung als in der Gesetzeswissenschaft. Allerdings sind, wie Weber zeigt, auch bei der historisch-konstellativen Erklärung indirekt Gesetze bzw. nomologische Annahmen im Spiel (vgl. Kap 2.5). Wir können also, so Weber, grundsätzlich auf zwei verschiedene Weisen wissenschaftlich relevante Wirklichkeit selektieren. Eine Möglichkeit ist, alles das, was in Gesetzen aufgeht, als wissenschaftlich relevant zu erklären. Die Wirklichkeit, die nicht in Gesetzen aufgeht, interessiert uns als Wissenschaftler dann nicht. In diesem Fall haben wir es mit einer Gesetzeswissenschaft (nomologischen Wissenschaft) zu tun. Oder wir machen das zum Gegenstand, was uns von unseren Kulturwerten her als bedeutsam erscheint. Alles was außerhalb unserer Kulturwerte liegt, interessiert uns wissenschaftlich nicht. Diesen Typus nennt Weber Wirklichkeitswissenschaft oder auch Kulturwissenschaft. Da die Wertideen im Laufe der Zeit wechseln, ändert sich auch das, was uns wissenschaftlich bedeutsam erscheint. Dadurch kann selbst die Geschichte nie ausgeforscht sein, denn aus neuen Werten resultieren neue Fragen an einen gleichen Gegenstand. Die Wertbezogenheit beschafft der Wissenschaft, so Weber, den Status »ewige(r) Jugendlichkeit« (WL, S. 206). <?page no="46"?> 2.4 Gesetzeswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft 47 Tab. 1: Die logischen Grundformen von Wissenschaft nach Weber Gesetzeswissenschaft Wirklichkeitswissenschaft Erkenntnisform Allgemeine/ generelle Erkenntnis Individuelle Erkenntnis/ Erkenntnis des Besonderen Erkenntnisideal Maximierung und Optimierung von allgemeingültigem Gesetzeswissen Diejenige Wirklichkeit, die uns bedeutsam ist, in ihrer Eigenart und ihrem geschichtlichen Gewordensein verstehen Erkenntnisgegenstand Wirklichkeit, unter generalisierenden Gesichtspunkten betrachtet Wirklichkeit, unter individualisierenden Gesichtspunkten betrachtet (=-historisches Individuum) Auswahlprinzip Das gesetzmäßig Wiederkehrende Die »Wertideen« des Forschers (»Wertbeziehung«) Erklärung Durch Identifizierung des Explanandums als Exemplar eines bestimmten gesetzesmäßigen Zusammenhangs Durch Identifizierung der für das Explanandum ursächlich relevanten geschichtlichen Umstände (=-historische Konstellation) Beide Erkenntnisformen haben ein legitimes Eigenrecht. Dennoch sieht Weber für die Sozialwissenschaften eine gewisse Priorität für das wirklichkeitswissenschaftliche Erkenntnisinteresse. Als Kulturmenschen, d. h. als Menschen mit Werten, die unserem Leben Sinn verleihen und an denen wir unser Handeln orientieren, interessiert uns die Wirklichkeit in ihrer Eigenart in der Regel stärker als unter generellen Aspekten. Ein einzelner Mensch, unser Freund, unser Partner z. B., erscheint uns bedeutsamer als der Mensch unter generellen Aspekten, die allen Menschen eigen sind. Die Besonderheiten der nationalsozialistischen Diktatur unter Hitler bewegen uns stärker als die generellen Aspekte von Diktatur. Daher beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft mit einzelnen Akteuren, einzelnen Ereignissen usw. Auch Weber selbst interessierte sich, anders als z. B. Comte, Spencer, Durkheim, Parsons oder Luhmann, weniger für die Gesetze der Gesellschaft im Allgemeinen, als für den modernen okzidentalen Kapitalismus in seiner historischen Eigenart. Letztlich aber ist das Optieren für Gesetzeswissenschaft oder Wirklichkeitswissenschaft eine Wertentscheidung des einzelnen Forschers, beide Optionen sind logisch möglich und gleich legitim. <?page no="47"?> 48 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft Max Weber über Wirklichkeitswissenschaft und Gesetzeswissenschaft »Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen-- den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits. Nun bietet uns das Leben, sobald wir uns auf die Art, in der es uns unmittelbar entgegentritt, zu besinnen suchen, eine schlechthin unendliche Mannigfaltigkeit von nach- und nebeneinander auftauchenden und vergehenden Vorgängen […]. Alle denkende Erkenntnis der unendlichen Wirklichkeit durch den endlichen Menschengeist beruht daher auf der stillschweigenden Voraussetzung, dass jeweils nur ein endlicher Teil derselben den Gegenstand wissenschaftlicher Erfassung bilden, dass nur er ›wesentlich‹ im Sinne von ›wissenswert‹ sein solle. Nach welchen Prinzipien aber wird dieser Teil ausgesondert? Immer wieder hat man geglaubt, das entscheidende Merkmal auch in den Kulturwissenschaften in letzter Linie in der ›gesetzmäßigen‹ Wiederkehr bestimmter ursächlicher Verknüpfungen finden zu können. Das, was die ›Gesetze‹, die wir in dem unübersehbar mannigfaltigen Ablauf der Erscheinungen zu erkennen vermögen, in sich enthalten, muß- - nach dieser Auffassung- - das allein wissenschaftlich ›Wesentliche‹ bei ihnen sein […]. Was nach dieser Heraushebung des ›Gesetzmäßigen‹ jeweils von der individuellen Wirklichkeit unbegriffen verbleibt, gilt entweder als wissenschaftlich noch unverarbeiteter Rückstand, der durch immer weitere Vervollkommnung des ›Gesetzes‹-Systems in dies hineinzuarbeiten sei, oder aber es bleibt als ›zufällig‹ und eben deshalb wissenschaftlich unwesentlich überhaupt beiseite, eben weil es nicht ›gesetzlich begreifbar‹ ist, also nicht zum ›Typus‹ des Vorgangs gehört und daher nur Gegenstand ›müßiger‹ Neugier sein kann […].« »Die Beziehung der Wirklichkeit auf Wertideen, die ihr Bedeutung verleihen, und die Heraushebung und Ordnung der dadurch gefärbten Bestandteile des Wirklichen unter dem Gesichtspunkt ihrer Kulturbedeutung ist ein gänzlich heterogener und disparater Gesichtspunkt gegenüber der Analyse der Wirklichkeit auf Gesetze und ihrer Ordnung in generellen Begriffen. Beide Arten der denkenden Ordnung des Wirklichen haben keinerlei notwendige logische Beziehungen zueinander.« (WL 1988, S. 170 f., 176) <?page no="48"?> 2.5 Historische Erklärung und kulturwissenschaftlich vergleichende Kausalurteile 49 Marianne Weber über Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft »Die Sozialwissenschaften […] befassen sich mit bestimmten Seiten kulturbedeutsamen menschlichen Verhaltens, ihr Erkenntnisziel ist nicht-- wie das naturwissenschaftliche-- ein System von allgemeinen Begriffen und Gesetzen, sondern die Eigenart konkreter Erscheinungen und Zusammenhänge, wobei sie sich allerdings ebenfalls der Begriffe und Regeln des Geschehens als Erkenntnismittel bedienen. Und wenn auch an sich jeder Gegenstand sowohl der generalisierenden wie der individualisierenden Bearbeitung unterzogen werden kann, so eignen sich doch die Vorgänge der äußeren Natur mehr für die erstere, menschliches Verhalten mehr für die andere Betrachtungsweise. Außerdem ist uns menschliches Handeln durch eigenartige, bei Naturvorgängen nicht anwendbare geistige Prozesse zugänglich, nämlich durch nacherlebendes Verstehen, das eine Deutung der Sinnzusammenhänge ermöglicht.« (Marianne Weber 1989, S. 325) 2.5 Historische Erklärung und kulturwissenschaftlich vergleichende Kausalurteile Weiter oben wurde bereits die Frage aufgeworfen, wie gemäß Weber vorzugehen ist, wenn wir z. B. historisch erklären wollen, warum die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kommen konnten. Weber verwendet hierfür in Absetzung vom nomologischen Erklären den methodischen Begriff des historisch-konstellativen Erklärens. Was ist darunter zu verstehen? Weber unterstreicht im Anschluss an Rickert, dass ein historisches Individuum-- als solches denkbar wäre z. B. die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933- - immer Teil eines größeren historischen Zusammenhangs ist und dass jedes individuelle historische Objekt mit anderen individuellen Objekten kausal verknüpft ist. Wie kann der historische Sozialwissenschaftler nun entscheiden, welche Bestandteile aus einem historischen Zusammenhang kausal relevant sind für das »So-undnicht-anders-Gewordensein« eines historischen Individuums? Indem er auf Möglichkeitsurteile zurückgreift. »Um die wirklichen Kausalzusammenhänge zu durchschauen«, so Weber, »konstruieren wir unwirkliche.« (WL, S. 287) Möglichkeitsurteile definiert er als Aussagen über das, was bei »Ausschaltung oder Abänderung gewisser Bedingungen« geworden wäre. Die kausale Zurechnung vollzieht sich als eine Reihe gedanklicher Abstraktionen. Ein erster Gedankenschritt besteht darin, dass wir einzelne oder einige der tatsächlichen »kausalen Komponenten des Verlaufs« in eine bestimmte Richtung abgeändert denken und die Frage stellen, »ob unter den dergestalt abgeänderten Bedingungen des Hergangs der in den ›wesentlichen‹ Punkten gleiche Erfolg <?page no="49"?> 50 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft oder welcher andere ›zu erwarten gewesen‹ wäre« (WL, S. 273). Führt diese Operation zu dem Resultat, dass ein anderer Verlauf zu erwarten gewesen wäre, so ist dieser Faktor Teil der für das historische Individuum kausal relevanten historischen Konstellation. Im umgekehrten Fall erweist sich der Faktor als kausal irrelevant und scheidet aus der historischen Konstellation aus. Wie können wir derartige kontrafaktische kognitive Operationen ausführen? Für Weber ist dies-- unter Nutzung des zur Verfügung stehenden Tatsachenwissens-- nur mit Bezug auf unser Erfahrungs- oder Regelwissen bzw. unser nomologisches Wissen möglich. Wir zerlegen idealerweise den historischen Kontext eines historischen Individuums so in einzelne Komponenten, dass wir jede Komponente einer Erfahrungsregel zuordnen können. Indem wir die einzelnen Komponenten auf unser Regelwissen beziehen, können wir beurteilen, welcher Verlauf bei Abänderung oder Ausschaltung dieser Komponente zu erwarten gewesen wäre. Im Falle des historischen Individuums »Machtübernahme der Nationalsozialisten« wären aus dem historischen Entstehungskontext z. B. die kausalen Komponenten »Weltwirtschaftskrise« und »Deflationspolitik Brünings« herauszugreifen und hinsichtlich ihrer kausalen Relevanz für das »So-und-nicht-Anders-Gewordensein« des machtpolitischen Erfolgs der Nationalsozialisten zu durchdenken. Wäre dieser ohne den Bedingungsfaktor »Weltwirtschaftskrise« denkbar gewesen? Neben dem uns historisch zur Verfügung stehenden Tatsachenwissen (historische Quellen, Zeitzeugenberichte, historiographische Darstellungen) legt unser wirtschaftshistorisches oder volkswirtschaftliches Wissen über Wirtschaftskrisen das Zurechnungsurteil nahe, dass die Auswirkungen von dramatischen Wirtschaftskrisen in der Regel zu einem kontinuierlichen Anstieg von Arbeitslosigkeit, zu einem Rückgang von Massenkaufkraft, damit zu Hunger und Elend, zu gesellschaftlichem Orientierungsverlust sowie zu politischer Radikalisierung führen. Da in Folge der gedanklichen Ausschaltung dieser Verursachungskomponente ein erheblich anderer Verlauf zu erwarten wäre, spricht dies für die kausale Relevanz des historischen Einflussfaktors »Weltwirtschaftskrise«. Also wäre die Weltwirtschaftskrise Teil der erklärenden historischen Konstellation des historischen Individuums »nationalsozialistische Machtübernahme«. Entsprechende Überlegungen wären für die weiteren als relevant erachteten Teilkomponenten des historischen Entstehungskontextes (Deflationspolitik Brünings, Präsidialdiktatur Hindenburgs u. a.) zu entwickeln. Hinsichtlich des Grades der Beeinflussung unterscheidet Weber zwischen kausal adäquater und zufälliger Verursachung. Auf unser Beispiel bezogen: Ohne die Folgen der Weltwirtschaftskrise wäre aller Erfahrung nach eine Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht zu erwarten bzw. wahrscheinlich gewesen. Daher wäre im Sinne Webers von einer kausal adäquaten Verursachung der nationalsozialistischen Machtübernahme durch die Weltwirtschaftskrise zu sprechen. Demgegenüber wäre im Hinblick auf die politischen Folgen der Ermordung des österreich-ungarischen Thronfolgers im Juni 1914 von einer zufälligen Verursachung des Ausbruchs des Ersten <?page no="50"?> 2.6 Begriffe und Idealtypen 51 Weltkriegs zu sprechen. Es wäre aller historischen Erfahrung nach nicht wahrscheinlich gewesen, dass ein politischer Mord den Ausbruch eines Weltkriegs nach sich zieht. Auf unsere Zeit übertragen wäre die Krise des Euro im Jahr 2011 als kausal adäquat verursacht zu betrachten. Gemäß unserem wirtschaftstheoretischen und historischen Wissen ist zu erwarten, dass eine ausufernde Verschuldung eines Staates dazu führt, dass dessen Anleihen auf dem Kapitalmarkt nicht mehr oder allenfalls gegen hohe Zinsen gekauft werden. Anders verhält es sich beim Beschluss der deutschen Regierung zum Ausstieg aus der Atomenergie im gleichen Jahr. Dieser wurde ausgelöst durch ein nicht vorhersehbares, also zufälliges, extrem schweres Erdbeben, das zu einer atomaren Katastrophe führte. Ohne dieses zufällige Ereignis hätte es den Automausstiegsbeschluss voraussichtlich nicht gegeben, denn erst im Jahr zuvor war eine Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken beschlossen worden. 2.6 Begriffe und Idealtypen Alle Wissenschaft ist, wie Weber wiederholt betont, »denkende Ordnung der empirischen Wirklichkeit« (WL, S. 160). Demzufolge ist wissenschaftliches Erkennen keine abbildhafte Widerspiegelung, sondern ein konstruktiver Akt. Um empirische Wirklichkeit denkend zu ordnen, benötigt man Begriffe, die einem wissenschaftlichen Gedankengebäude Struktur verleihen. Denn aus der empirischen Forschung ergibt sich ein solches Bild nicht. Würde man die Erträge empirischer Sozialforschung oder historischer Quellenstudien allein für sich nehmen, so ergäbe sich daraus eine riesige ungeordnete Masse an Daten. Es ist Aufgabe der Theorie, dem Erfahrungswissen eine Struktur zu geben, und Theorien sind nichts anderes als Systeme aufeinander bezogener und abgestimmter Begriffe. In der Frage der Begriffsbildung setzt sich Weber deutlich von Schmoller und der historischen Schule ab. Schmollers Wissenschaftskonzept, auf historisch-induktivem Weg zu einem System allgemeingültiger Begriffe und Gesetze zu gelangen, verortet er erkenntnistheoretisch in der »antik-scholastischen Erkenntnislehre, welche denn auch der Masse der Spezialarbeiter der historischen Schule noch tief im Blute steckt« (WL, S. 208). Demgegenüber propagiert Weber im Anschluss an Kant, »dass die Begriffe vielmehr gedankliche Mittel zum Zweck der geistigen Beherrschung des empirisch Gegebenen sind und allein sein können, […] Begriffe sind nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck der Erkenntnis« (WL, S. 208). Eine spezifische Variante des Begriffs stellt der Idealtypus dar. Die Lehre vom Idealtypus gehört zu den meistrezipierten Bestandteilen des Weber’schen Werks. Allerdings entwickelt Weber das Konzept des Idealtypus nicht in lehrbuchhafter Gestalt, sondern eher provisorisch und en passant (vgl. WL, S. 190 ff.). Es handelt sich um eine begriffliche Konstruktion, die dazu bestimmt ist, Wirklichkeit in ihrer Eigenart zu beschreiben. <?page no="51"?> 52 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft Begriffe sind keine Abbilder der Wirklichkeit, sondern Konstrukte unseres denkenden Verstands. Das gilt auch für Idealtypen, für deren Bildung aber gleichermaßen die Anschauung der Wirklichkeit bzw. die Forschungsarbeit des Wissenschaftlers, z. B. des Historikers, konstitutiv ist. Idealtypen kommen zustande, indem bestimmte Merkmale einer Klasse von Erscheinungen einseitig herausgestellt und zu einem in sich stimmigen Gedankengebilde verwoben werden. Oder in den Worten Webers: Ein Idealtypus »wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht, inwieweit also der ökonomische Charakter der Verhältnisse einer bestimmten Stadt als ›stadtwirtschaftlich‹ im begrifflichen Sinne anzusprechen ist. Für den Zweck der Veranschaulichung aber leistet jener Begriff, vorsichtig angewendet seine spezifischen Dienste.« (WL, S. 191) Als Beispiele für Idealtypen nennt Weber Stadtwirtschaft und Handwerk oder auch Kapitalismus. Bestimmte Züge werden aus der historisch vorfindlichen Wirklichkeit herausgelöst und gedanklich zugespitzt und verdichtet. Das Ergebnis dieses Prozesses ist kein Abbild der Wirklichkeit, sondern ein künstliches gedankliches Konstrukt, das so in der Wirklichkeit nicht vorkommt. Weber spricht sogar davon, dass bei der Bildung von Idealtypen »Phantasie« im Spiel sei. Was leistet nun der Idealtypus, wenn er keine Wirklichkeit wiedergibt, und zu welchem Zweck wird er konstruiert? Die Bildung von Idealtypen ist nicht Zweck, sondern Mittel- - Mittel zur »denkenden Ordnung der empirischen Wirklichkeit« (WL, S. 160). Mit Hilfe von Idealtypen bringt der Wissenschaftler Struktur in die unendliche Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit. Weber nennt die »Entwicklungskonstruktionen« von Marx als Beispiel (WL, S. 205). Mit Marx’ Kategorien-- Weber würde sagen: Idealtypen-- der Urgesellschaft, asiatischen Produktionsweise, Sklavenhaltergesellschaft, des Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus kommt Struktur in das unendliche Geschehen der Weltgeschichte. Nun entspricht die historische Realität, die der Forscher vorfindet, keineswegs vollständig diesen Idealtypen. Die Aufgabe des Forschers liegt darin, die historische Wirklichkeit, die er in den Quellen vorfindet, mit dem Idealtypus abzugleichen. Er stellt dann z. B. fest, dass die antike Gesellschaft keineswegs vollständig dem Idealtypus der Sklavenhaltergesellschaft entspricht, sondern dass mit Sklaven betriebene Wirtschaftsformen allenfalls zeitweise dominierten, dass es neben der Sklaverei auch andere Wirtschaftsformen gab, z. B. selbstständiges Bauerntum und kleine Handwerker, und dass in der Spätzeit der Antike die Sklaverei deutlich zurückging. <?page no="52"?> 2.6 Begriffe und Idealtypen 53 Idealtypen ermöglichen nicht nur, Ordnung in die unendliche Menge des historischen Stoffes zu bringen, sondern sie bilden auch eine Folie, auf der wir das historische Geschehen kontrastieren können, indem wir die in den Quellen vorgefundene »Wirklichkeit« mit dem Idealtypus vergleichen. Wichtig ist dabei, den Idealtypus nicht mit Wirklichkeit zu verwechseln oder zu vermischen. Der Idealtypus ist ein Darstellungsmittel zu heuristischen, forschungsanleitenden Zwecken. Mit seiner Hilfe lassen sich die Stoffmassen strukturieren und kontrastierend die jeweilige Wirklichkeit profilieren. Der Idealtypus beschreibt auch nicht »das Wesen« oder den »eigentlichen Gehalt« historisch-sozialen Geschehens. Es ist immer zu bedenken, dass der Idealtypus Teil der historischen Wissenschaftslogik ist. Allen methodologischen und theoretischen Arbeiten Webers liegt ein dualistischer Wissenschaftsbegriff zugrunde, der zwischen nomothetischer und historischer Erkenntnis, zwischen naturwissenschaftlicher und historischer Begriffsbildung, zwischen Gesetzeswissenschaft und Wirklichkeitswissenschaft unterscheidet. Und Weber bewegt sich im Rahmen der Wirklichkeitswissenschaft, das gilt auch für den Idealtypus. So sehr Weber auf der logischen Ebene auf einer klaren analytischen Unterscheidung zwischen beiden Konzepten insistiert, so sehr ist ihm an einer fruchtbaren Verbindung von Theoriebildung und historisch-empirischer Forschung gelegen. Dazu eignet sich das Konzept des Idealtypus ebenfalls. Denn auch Begriffe und Theorien aus dem nomothetischen Lager können als Idealtypen benutzt werden. Es wurde bereits erwähnt, dass Weber die Begriffe und Entwicklungskonstruktionen von Marx für höchst nützliche Idealtypen hielt. Ein anderes Beispiel wäre das Konzept des Homo oeconomicus, das der theoretischen Nationalökonomie zugrunde liegt, also die Vorstellung des rational entscheidenden, nutzenmaximierenden Wirtschaftsmenschen. Gelegentlich haben Ökonomen gedacht, dass der Mensch quasi von Natur aus ein Homo oeconomicus sei. Für Weber hingegen wäre der Homo oeconomicus ein Idealtypus, ein theoretisch gedachter Grenzfall, dem die Realität allenfalls annähernd entspricht. Idealtypen Max Weber versteht unter Wissenschaft die »denkende Ordnung der empirischen Wirklichkeit«. Um empirische Wirklichkeit denkend zu ordnen, benötigen wir Begriffe. Begriffe verleihen einem wissenschaftlichen Gedankengebäude Ordnung und Form. Eine besondere Art von Begriffen sind Idealtypen. Idealtypen kommen zustande, indem bestimmte Merkmale einer Klasse von Erscheinungen einseitig herausgestellt und zu einem in sich stimmigen Gedankengebilde verwoben werden. Idealtypen dienen als Darstellungsmittel historischer Individualität, indem die Differenz zwischen Idealtypus und historischer Wirklichkeit herausgearbeitet wird. Auch allgemeine Theorien können als Idealtypen verwendet werden. <?page no="53"?> 54 2. Max Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft 2.7 Zusammenfassung Webers Konzept einer historischen Sozialwissenschaft kann als Teil einer wissenschaftlichen Revolution innerhalb des Historismus bzw. der historischen Schulen betrachtet werden. Sie zielt darauf ab, dessen bzw. deren logische Schwächen zu beheben und die tiefen Gräben, die sich zwischen historischen und theoretischen Wissenschaftsauffassungen aufgetan haben, zu überbrücken. Weber räumt- - wie Rickert, Sombart und andere- - ein, dass die menschliche Geschichte sehr wohl einem generalisierenden Wissenschaftsbegriff, der auf die Generierung allgemeiner Gesetze abzielt, zugänglich ist. Es ist eben nicht so, dass der freie Wille und die Geistigkeit des Menschen nomologische Verfahren ausschließen. Eine historische Sozialwissenschaft, die sich den Axiomen des Historismus (»historisches Individuum«) verpflichtet weiß, muss sich nicht auf das einfühlende Verstehen beschränken und auf das Erklären verzichten. Allerdings erklärt sie historische Individuen nicht (bzw. nicht unmittelbar) aus Gesetzen, sondern aus spezifischen historischen Konstellationen. Bei der Eruierung ursächlicher Konstellationsfaktoren sind allerdings zwangsläufig nomologisches Wissen bzw. nomologische Annahmen im Spiel. Rickert und Weber als Vertreter dieser Revolution innerhalb des Historismus brechen auch mit dem Grundsatz des alten Historismus, dass man sich den geschichtlichen Gegenstand nur mit aus der Epoche entnommenen Begrifflichkeiten nähern dürfe und allgemeine Theorien und Begriffe einem adäquaten Verständnis hinderlich seien. Vielmehr sind, so Weber in kantianischer Manier, allgemeine Begriffe und Theorien unabdingbar, um den tendenziell unendlichen historischen Stoff gedanklich ordnen zu können. Weber entwickelt in diesem Zusammenhang das Konzept des Idealtypus, eine Art von Begrifflichkeit, die speziell im Dienst historisch-individualisierender Erkenntnis steht. Es geht Weber nicht darum, die Gesetzeswissenschaften zu bekämpfen, sondern ihre Erkenntnis optimal in den Rahmen eines »revolutionierten« historistischen Konzepts einzubauen, das Weber im Anschluss an Rickert Wirklichkeitswissenschaft nennt. Bei alledem bleibt er aber ein »Kind der historischen Schule«, sein Erkenntnisinteresse gilt weiterhin dem historischen Individuum und der geschichtlichen Wirklichkeit. Eine weitere wichtige Einsicht der historistischen Revolution besteht darin, dass das Erkenntnisobjekt in einer Wirklichkeitswissenschaft, also das historische Individuum, durch Beziehung auf Werte bzw. die Werte des Wissenschaftlers entsteht. Der Wissenschaftler soll das zum Gegenstand seiner Arbeit machen, was ihm bedeutsam erscheint. Das eröffnet der Sozialwissenschaft den Zugang zu den großen Problemen ihrer Zeit und veranlasst Weber dazu, den modernen Kapitalismus und okzidentalen Rationalismus anstelle der ostelbischen Landarbeiter zum Hauptgegenstand seiner wissenschaftlichen Interessen zu machen. <?page no="54"?> 2.7 Zusammenfassung 55 Schriften Webers Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl" hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988 (=-WL): Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie (1903-06), S. 1-145. Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904), S. 146-214. Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik (1906), S. 215- 290. Weiterführende Literatur Uwe Barrelmeyer: Geschichtliche Wirklichkeit als Problem. Untersuchungen zu geschichtstheoretischen Begründungen historischen Wissens bei Johann Gustav Droysen, Georg Simmel und Max Weber, Münster 1997. Harald Homann: Gesetz und Wirklichkeit in den Sozialwissenschaften. Vom Methodenstreit zum Positivismusstreit, Diss., Tübingen 1989. Georg Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971. Volker Kruse: Von der historischen Nationalökonomie zur historischen Soziologie. Ein Paradigmenwechsel in den deutschen Sozialwissenschaften um 1900, in: Zeitschrift für Soziologie 19 (1990), S. 149-165. Klaus Lichtblau: Die Eigenart der kultur- und sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung, Wiesbaden 2011. Guy Oakes: Die Grenzen kulturwissenschaftlicher Begriffsbildung. Heidelberger Max-Weber- Vorlesungen 1982. Frankfurt a. M. 1990. Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Tübingen 1902. Pietro Rossi: Vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft. Heidelberger Max Weber- Vorlesungen 1985, Frankfurt a. M. 1987. Shiro Takebayashi: Von der historischen Nationalökonomie zur historischen Soziologie Werner Sombarts und Max Webers, Berlin 2003. Friedrich Tenbruck: Das Werk Max Webers. Gesammelte Aufsätze zu Max Weber, Tübingen 1999, S. 1-58, 157-175, 176-218. Gerhard Wagner/ Heinz Zipprian (Hg.): Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt a. M. 1994. Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, München 1989. Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie, 2. überarb. u. erw. Aufl., München/ London/ New York/ Paris 1992. <?page no="56"?> 57 3. Moderner Kapitalismus und protestantische Ethik 3.1 Der moderne Kapitalismus als Schicksal 3.2 Max Webers kapitalismustheoretische Fragestellung und These 3.3 Kapitalistischer und traditionalistischer Geist 3.4 Die religiösen Wurzeln des kapitalistischen Geistes 3.5 Zur Kritik an Webers Protestantismusthese 3.6 Wirtschaftsethik der Weltreligionen-- Vom modernen Kapitalismus zum okzidentalen Rationalismus 3.1 Der moderne Kapitalismus als Schicksal Weber begreift die Moderne zunächst als kapitalistische Moderne. Den modernen Kapitalismus sieht er durch unbegrenztes Gewinnstreben und ökonomischen Rationalismus gekennzeichnet. Darauf kommen wir im Verlauf dieses Kapitels noch zurück. Der Kapitalismus ist aus Webers Sicht die Kraft, welche die Lebenswirklichkeit des modernen Menschen am meisten prägt, die »schicksalsvollste Macht unseres modernen Lebens« (GARS I, S. 4). Wie begreift Weber theoretisch den modernen Kapitalismus? Wie beurteilt er dessen Entwicklungsperspektiven? Ist der Kapitalismus ein dauerhaftes Phänomen oder eine vorübergehende Erscheinung, die in eine traditionale Ordnung zurückfällt oder in eine neue soziale Ordnung (Sozialismus) einmündet? Weber versteht anders als Marx den Kapitalismus nicht als Formation, die zwangsläufig früher oder später im Zuge der fortschreitenden Produktivkräfte in Erscheinung treten muss. Vielmehr ist aus seiner Sicht die Entstehung des Kapitalismus etwas Unwahrscheinliches, Zufälliges. Er glaubt nicht mehr, wie die meisten Sozialtheoretiker des 19. Jahrhunderts, an einen ehernen weltgeschichtlichen Fortschrittsprozess. Auch erscheint ihm die kapitalistische Ethik des rastlosen Arbeitens, Schaffens und Gewinnstrebens als geradezu naturwidrig und, gemessen an traditionellen Werten, als unmoralisch. Umso radikaler drängt sich die Frage auf, wie eine solche Wirtschaftsordnung entstehen konnte. Sie geht, so Weber, auf eine höchst zufällige und komplexe Verkettung verschiedener Umstände zurück. Ein wichtiger und entscheidender Faktor dabei war, so die Grundthese Webers, die Religion, genauer gesagt die Reformation, die sich ab dem 16. Jahrhundert in Europa und Nordamerika ausbreitete. Weber hat diese These erstmals 1905 in seiner berühmtesten Schrift entfaltet: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Unter Kapitalismus bzw. modernem Kapitalismus versteht Weber eine wirtschaftliche Ordnung, in der die Akteure den Grundsätzen des ökonomischen Rationalismus folgen, vom unbegrenzten Gewinnstreben angetrieben werden und durch ein <?page no="57"?> 58 3. Moderner Kapitalismus und protestantische Ethik starkes Arbeits- und Berufsethos motiviert sind. Der Begriff des Kapitalismus geht auf Marx zurück. Allerdings hat Marx den Begriff adjektivisch benutzt: kapitalistische Gesellschaftsformation etc., substantivisch nur im personalen Sinn, also Kapitalist. Wir wollen uns zunächst die Marx’sche Position vergegenwärtigen, um diese dann mit Webers Konzeption zu kontrastieren. Den Kapitalisten beschreibt Marx als einen Wirtschaftsakteur, der bestrebt ist, ein vorhandenes Vermögen unbegrenzt zu vermehren, und zwar bewusst, rational und planmäßig. Es geht dem Kapitalisten nicht um den Gebrauchswert, also den Nutzen eines Gutes, auch nicht um den einzelnen Gewinn, sondern »um die rastlose Bewegung des Gewinnens« (Marx 1973, S. 167 f.). Kapital ist also ein Vermögensbestand, gleich in welcher Form auch immer (Geld, Fabriken, Mietshäuser usw.), der zur unbegrenzten Vermehrung bestimmt ist. Für Marx entsteht der Typus des Kapitalisten unter zwei Voraussetzungen. Auf der einen Seite muss ein großes Vermögen vorhanden sein. Auf der anderen Seite muss es eine Klasse freier Lohnarbeiter geben, also Wirtschaftsakteure, die rechtlich frei sind, aber über kein eigenes Vermögen und keine eigenen Produktionsmittel verfügen und daher genötigt sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Laut Marx bestimmt das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein und wo die besagte Konstellation gegeben ist, entsteht ein kapitalistisches Bewusstsein. Der Ausgangspunkt seiner Analyse sind die ökonomischen Strukturen, also der Entwicklungsstand der Produktivkräfte und die Konstellation der Klassen. Man kann sagen, dass Weber über die kapitalistische Ökonomie nicht grundlegend anders denkt als Marx. Auch er sieht Kapitalismus als profitorientiertes Konkurrenzsystem, das mittels ausbeutbarer Lohnarbeiter zum Zweck des Profitinteresses der Karl Marx über das Kapital »Die einfache Warenzirkulation-- der Verkauf für den Kauf-- dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten, die Befriedigung von Bedürfnissen. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos. Als bewusster Träger dieser Bewegung wird der Geldbesitzer Kapitalist. Seine Person, oder vielmehr seine Tasche, ist der Ausgangspunkt und der Rückkehrpunkt des Geldes. Der objektive Inhalt jener Zirkulation-- die Verwertung des Werts- - ist sein subjektiver Zweck, und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen ist, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewusstsein begabtes Kapital. Der Gebrauchswert ist also nie als unmittelbarer Zweck des Kapitalisten zu behandeln. Auch nicht der einzelne Gewinn, sondern nur die rastlose Bewegung des Gewinnens.« (Marx 1972, S. 167 f.) <?page no="58"?> 3.1 Der moderne Kapitalismus als Schicksal 59 Kapitalbesitzer betrieben wird und soziale Verwerfungen hervorruft. Im Unterschied zum Vordenker des wissenschaftlichen Sozialismus hält Weber den Kapitalismus jedoch sozialpolitisch für reformierbar und in Grenzen politisch steuerbar. Er schätzt die Krisenanfälligkeit geringer, die Leistungsfähigkeit noch höher als Marx ein und rechnet daher, anders als viele marxistische Theoretiker seiner Zeit, nicht mit einem ökonomischen Zusammenbruch. Das Hauptproblem sieht er vielmehr im Menschentum, das der Kapitalismus und die rationalistische Moderne überhaupt hervorbringen (vgl. Kap. 6.5). Weber ist davon überzeugt, dass sich das kapitalistische, auf Gewinnstreben und Rentabilität angelegte Modell voll durchsetzen und alle Relikte der traditionellen Gesellschaft verdrängen wird. Im Zuge seiner Forschungen über die Lage der ostelbischen Landarbeiter 1890/ 91 ist ihm dies eindrücklich bewusst geworden. Die ostelbischen Güter, insbesondere im Grenzbereich zum damaligen Russisch-Polen, stellen den traditionell strukturierten Teil des Deutschen Reichs dar. Aber auch für die Rittergutsbesitzer als soziale Inkarnation feudaler Rückständigkeit stellt Weber fest, dass sie die traditionelle Mentalität des paternalistischen Feudalherren abstreifen und zu modernen Kapitalisten werden. Sie lösen die patriarchalen Bindungen zu »ihren« bäuerlichen Untertanen und machen sie zu Lohnarbeitern. Sie wirtschaften nicht für den Eigenbedarf, sondern für den Absatz und für maximalen Profit. Sie sind interessiert an möglichst billigen und gefügigen Arbeitskräften und setzen durch, dass Polen und Russen ins Land kommen- - aus Sicht Webers gegen die nationalen Interessen des deutschen Staates. Folglich teilt Weber die Auffassung, »dass der Kapitalismus ein nicht mehr aus der Welt zu schaffendes, also schlechthin hinzunehmendes Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung [sei], hinter das zurück, zu den patriarchalen Grundlagen der alten Gesellschaft, heute kein Weg mehr führt« und »dass daher die alten Formen der gesellschaftlichen Ordnungen, die jenen patriarchalen Grundlagen entsprochen hatten, ob wir es nun wünschen oder nicht, neuen Platz machen werden, die den veränderten Bedingungen des Wirtschaftslebens sich anzupassen vermögen« (Edgar Jaffé, Werner Sombart und Max Weber, Geleitwort [zum Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 1904], S. IV). Entsprechend erklärt er, als er die Mitherausgeberschaft des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik übernimmt: »Unsere Zeitschrift wird heute die historische und theoretische Erkenntnis der allgemeinen Kulturbedeutung der kapitalistischen Entwicklung als dasjenige wissenschaftliche Problem ansehen müssen, in dessen Dienst sie steht.« (ebd., S. VI) <?page no="59"?> 60 3. Moderner Kapitalismus und protestantische Ethik 3.2 Max Webers kapitalismustheoretische Fragestellung und These »Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch-- wie wenigstens wir uns gern vorstellen-- in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen? « (GARS I, S. 1) In diesen Sätzen, die den ersten Sammelband mit religionssoziologischen Aufsätzen Webers einleiten, kommt sein zentrales wissenschaftliches Interesse zum Ausdruck: Es geht um die Frage, warum ausgerechnet in Europa (und Nordamerika) der moderne Kapitalismus bzw. die moderne, durch den Rationalismus geprägte Welt entstanden ist. Hier begegnet uns, logisch betrachtet, das historische Individuum, mit dem sich Weber in seinen methodologischen Schriften intensiv beschäftigt hat (vgl. Kap. 2). Webers primäres Interesse ist allerdings keineswegs methodologischer Natur, sondern er betrachtet Methodologie als ein Hilfsmittel, um Forschung und Theoriebildung besser reflektieren zu können. Jedenfalls konzipiert er seinen Gegenstand als historisches Individuum, also den Kapitalismus als zumindest in seiner Genese spezifisch europäische Erscheinung, die nicht aus allgemeinen Gesetzen, sondern aus einer spezifischen historischen Konstellation zu erklären ist (»welche Verkettung von Umständen-…«, s. o.). Webers berühmte Protestantismusthese besagt also, dass ein historischer Kausalzusammenhang zwischen der Reformation und dem modernen Kapitalismus besteht. Sie meint hingegen nicht, dass die Reformation den Kapitalismus geschaffen habe oder dass die Religion die Wirtschaft bestimme. Die Entstehung des modernen Kapitalismus ist Resultat einer komplexen historischen Konstellation und die Reformation ist dafür ein wichtiger Faktor, aber keineswegs der einzige. Die These, dass der moderne Kapitalismus mit der Reformation in einem ursächlichen Zusammenhang steht, muss überraschen, nicht nur aus einer marxistischen Perspektive. Denn Religion und Wirtschaft erscheinen heute als weitgehend getrennte Sphären und schon vor gut 100 Jahren hatte das Gebaren eines Wirtschaftsunternehmens in der Regel wenig mit Religion zu tun. Schließlich geht es, wie Marx gezeigt hat, im Kapitalismus darum, Gewinne zu machen und sich gegen Konkurrenz zu behaupten. Da bleibt für Religion nicht viel Platz. Weber verweist daher eingangs auf sozialstatistische und historische Befunde, die seiner These Plausibilität verleihen. In konfessionell gemischten Gebieten sind das Unternehmertum wie auch die ausgebildeten Schichten der Arbeiterschaft überwiegend protestantisch. In den Schulzweigen, die für gewerblich-kaufmännische Berufe und bürgerliches Erwerbsleben bestimmt sind, wie Realgymnasien <?page no="60"?> 3.3 Kapitalistischer und traditionalistischer Geist 61 und Realschulen, sind die Protestanten gegenüber den Katholiken deutlich überrepräsentiert. Was hat, allgemein gesehen, Religion mit Wirtschaft zu tun? Weber sieht folgenden Zusammenhang: Religion bzw. religiöse Glaubenssätze (hier: Protestantismus) bringen Werte hervor, welche für die Lebensführung der handelnden Menschen relevant sind. Weber spricht in diesem Zusammenhang von Wirtschaftsethik (hier: protestantische Ethik). Die Werte beeinflussen also das Bewusstsein der wirtschaftlichen Akteure (hier: kapitalistischer Geist). Das Handeln der Akteure schafft eine bestimmte institutionelle Ordnung (hier: Kapitalismus). Auf eine allgemeine Formel gebracht, sieht es so aus: Religion Wirtschaftsethik Bewusstsein der Akteure institutionelle Ordnung Dies bedeutet konkret für den von Weber untersuchten Fall: Protestantismus Protestantische Ethik Geist des Kapitalismus Kapitalistische Ordnung Im Weiteren geht es zunächst um die Klärung der Begriffe des Kapitalismus bzw. des kapitalistischen Geistes bei Weber. Danach vergegenwärtigen wir uns die religiöse Gemengelage der Reformationszeit und fragen, wie sich die Glaubenssätze der Konfessionen auf die Entstehung des modernen Kapitalismus ausgewirkt haben. 3.3 Kapitalistischer und traditionalistischer Geist Anders als Marx stellt Weber nicht die ökonomischen Strukturen, sondern die handelnden Menschen ins Zentrum der Analyse. Die ökonomischen Strukturen entstehen nicht von allein, sondern sind Produkte menschlichen Handelns und menschliches Handeln ist, wie Weber später sagen wird, sinnhaft (vgl. Kap. 4), also geleitet vom Bewusstsein. Die für die moderne kapitalistische Gesellschaft charakteristische Bewusstseinsform nennt Weber, sich Werner Sombart anschließend, kapitalistischer Geist. Die kapitalistische Wirtschaft ist also eine Folge, eine Objektivierung, eine Vergegenständlichung des aus dem kapitalistischen Geist erwachsenden Handelns. Das Wort »Geist« wirkt heute etwas irritierend und altertümlich, wir können es grob mit den Begriffen Bewusstsein oder Mentalität umschreiben. Im Kern zeichnet sich der kapitalistische Geist durch zwei charakteristische Merkmale aus: stetiges, unbegrenztes Gewinnstreben und ökonomischer Rationalismus. »Allerdings ist Kapitalismus identisch mit dem Streben nach Gewinn, im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb: nach immer erneutem Gewinn: <?page no="61"?> 62 3. Moderner Kapitalismus und protestantische Ethik nach ›Rentabilität‹.« (GARS I, S. 4) In puncto unbegrenztes Gewinnstreben folgt Weber also Marx (vgl. auch Kap. 3.1) und auch der ökonomische Rationalismus ist bei Marx mitbedacht, wenn auch nicht so betont wie bei Weber. Ökonomischer Rationalismus meint zweckrationales Handeln, dem ein striktes und stetiges Kosten-Nutzen-Kalkül zugrunde liegt, das sich etwa in modernen Methoden der Buchführung äußert. Zum kapitalistischen Geist zählt Weber ferner Eigenschaften wie Pünktlichkeit, Fleiß, Mäßigkeit, Sorgfalt und Ehrlichkeit, aber nicht für sich genommen, sondern in Kombination mit den genannten zwei Hauptmerkmalen. Max Weber beschreibt den kapitalistischen Geist anhand eines Zitats des amerikanischen Schriftstellers und Politikers Benjamin Franklin (1706-1790) zur Belehrung eines jungen Kaufmanns »Bedenke, dass die Zeit Geld ist; wer täglich zehn Schillinge durch seine Arbeit erwerben könnte und den halben Tag spazieren geht, oder auf seinem Zimmer faulenzt, der darf, auch wenn er nur sechs Pence für sein Vergnügen ausgibt, nicht dies allein berechnen, er hat neben dem noch fünf Schillinge ausgegeben oder vielmehr weggeworfen […]. Bedenke, dass Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur ist. Geld kann Geld erzeugen und die Sprösslinge können noch mehr erzeugen und so fort. Fünf Schillinge umgeschlagen sind sechs, wieder umgetrieben sieben Schilling drei Pence und so fort bis es hundert £ Sterling sind. Je mehr davon vorhanden ist, desto mehr erzeugt das Geld beim Umschlag, so daß der Nutzen schneller und immer schneller steigt. Wer ein Mutterschwein tötet, vernichtet dessen ganze Nachkommenschaft bis ins tausendste Glied. Wer ein Fünfschillingstück umbringt, mordet (! ) alles, was damit hatte produziert werden können: ganze Kolonnen von Pfunden Sterling […]. Max Weber über den Zusammenhang von Geldvermögen und kapitalistischem Geist »Die Frage nach den Triebkräften der Expansion des modernen Kapitalismus ist nicht in erster Linie eine Frage nach der Herkunft der kapitalistisch verwertbaren Geldvorräte, sondern vor allem nach der Entwicklung des kapitalistischen Geistes. Wo er auflebt und sich auszuwirken vermag, verschafft er sich die Geldvorräte als Mittel seines Wirkens, nicht aber umgekehrt.« (Die protestantische Ethik-…, in: GARS I, S. 53) <?page no="62"?> 3.3 Kapitalistischer und traditionalistischer Geist 63 Für 6 £ jährlich kannst du den Gebrauch von 100 £ haben, vorausgesetzt, dass du ein Mann von bekannter Klugheit und Ehrlichkeit bist. Wer täglich einen Groschen nutzlos ausgibt, gibt an 6 £ jährlich nutzlos aus, und das ist der Preis für den Gebrauch von 100 £. Wer täglich einen Teil seiner Zeit zum Werte eines Groschen verschwendet (und das mögen nur ein paar Minuten sein), verliert, einen Tag in den andern gerechnet, das Vorrecht 100 £ jährlich zu gebrauchen. Wer nutzlos Zeit im Wert von 5 Schillingen vergeudet, verliert 5 Schillinge und könnte ebenso gut 5 Schillinge ins Meer werfen. Wer 5 Schillinge verliert, verliert nicht nur die Summe, sondern alles, was damit bei Verwendung im Gewerbe hätte verdient werden können,-- was, wenn ein junger Mann ein höheres Alter erreicht, zu einer ganz bedeutenden Summe aufläuft.« (Die protestantische Ethik-…, in: GARS I, S. 31 f.) Aus Webers Sicht ist der Mensch keineswegs von Natur aus profitorientiert. »Der Mensch will ›von Natur‹ nicht Geld und mehr Geld verdienen, sondern einfach leben, so leben wie er zu leben gewohnt ist und soviel erwerben, wie dazu erforderlich ist.« (GARS I, S. 45) Der kapitalistische Geist ist insofern nichts Naturgegebenes, sondern ein spezifisches Phänomen des neuzeitlichen Okzidents-- ein historisches Individuum. Um die Besonderheit des kapitalistischen Geistes herauszuarbeiten, führt Weber den Begriff des Traditionalismus ein. Damit wird eine Wirtschaftsgesinnung bezeichnet, die nicht auf maximalen Gewinn, sondern auf eine standesgemäße Lebensführung ausgerichtet ist. So arbeiteten die zünftlerischen Handwerker im Mittelalter nur so viel, wie für eine standesgemäße, ehrbare Lebensführung notwendig war. Unbegrenztes Gewinnstreben war ihnen fremd. Stattdessen war wirtschaftliches Handeln in übergreifende gesellschaftliche Wertesysteme eingebettet. Max Weber über Traditionalismus »Noch vor einem Menschenalter wäre es vergeblich gewesen, einem Landarbeiter in Schlesien, der für Akkord ein bestimmtes Stück Land zu mähen hatte, mit Rücksicht auf die Steigerung seiner Arbeitskraft den Lohn verdoppeln zu wollen: er hätte dann einfach seine Arbeitsleistung auf die Hälfte reduziert, weil er allein mit dieser Hälfte das Doppelte hätte verdienen können wie früher. Diese Unfähigkeit und Abgeneigtheit, sich überhaupt aus den gewohnten Bahnen herauszubegeben, ist das generelle Motiv für die Aufrechterhaltung der Tradition.« (Max Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 302 f.) <?page no="63"?> 64 3. Moderner Kapitalismus und protestantische Ethik Typisch für die traditionalistische Wirtschaftsgesinnung ist laut Weber auch, dass Akkordlohn nicht dazu animiert, die Arbeitsleistung zu erhöhen, sondern eher die Arbeit zu beenden. Denn bei der traditionellen Wirtschaftsgesinnung reizt Mehrverdienst weniger als die Minderarbeit. Entscheidend ist nicht, wie viel man maximal verdienen kann, sondern wie lange man arbeiten muss, um einen bestimmten Betrag zu verdienen. Charakteristisch für den Traditionalismus ist ferner, dass Zins und Wucher abgelehnt werden. Außerdem grenzt Weber den kapitalistischen Geist von Geldgier in allen Formen ab. Geldgier ist ein universales Phänomen und findet sich in der Geschichte immer wieder, aber ihr fehlt der ökonomische Rationalismus als Fundament. Marianne Weber über Geldgier und kapitalistischen Geist »Habgier, Geldgier, skrupellosen Erwerbstrieb hat es immer und überall gegeben. Die jeder Normgebundenheit spottende Aneignung von mehr Gütern als man zum Leben braucht: Abenteurer-, Spekulanten-, Beute-, Kolonialkapitalismus und ähnliches sind schlechthin in jeder Geld verwertenden Wirtschaftsverfassung heimisch. Aber Bejahung des Gelderwerbs um seiner selbst willen, nicht als Abenteuer, sondern als ständige sittliche Pflicht ist nichts Selbstverständliches, sondern besteht erst von einer bestimmten Epoche an, und zwar nur in bestimmten Schichten und nur im Okzident. Damit dies geschah, musste der abendländischen Mensch, speziell das abendländische Bürgertum zu einer bestimmten Lebensführung erzogen sein und gelernt haben, rationale methodische Arbeit als sittliche Pflicht aufzufassen. Wie entstand sie, und wie hat sie gewirkt? « (Marianne Weber 1989, S. 353) 3.4 Die religiösen Wurzeln des kapitalistischen Geistes »Normal« in der Geschichte ist der Traditionalismus, nicht der kapitalistische Geist. Es bedarf somit einer historisch-konstellativen Erklärung, warum Letzterer entstehen konnte und warum ausgerechnet im Okzident. Webers These besagt, wie schon erwähnt, dass dabei die Reformation im Spiel war. Aber was hat die Reformation, ein religiöses Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung, mit dem modernen Kapitalismus zu tun? Zunächst einmal überhaupt nichts, denn eine kapitalistische Wirtschaftsordnung oder kapitalistisches Gewinnstreben waren nie Ziel oder auch nur gedankliche Phantasie der Reformatoren gewesen. Tatsächlich ging es um etwas ganz anderes, nämlich um die Frage, wie der Mensch göttliche Gnade erwirken kann. Der spätmittelalterliche Mensch lebte, vor allem nach dem Grauen der großen europäischen Pestwelle von 1348 bis 1351, in tiefer Angst vor den Höllenqualen, die ihn nach dem Tode erwarten <?page no="64"?> 3.4 Die religiösen Wurzeln des kapitalistischen Geistes 65 könnten. Die Kirche empfahl als Gegenmittel gute Werke und eine gottgefällige Lebensführung. Im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts rief sie dazu auf, sogenannte Ablässe zu kaufen. Damit könne man sich von Verfehlungen reinwaschen und so sein Seelenheil nach dem Tode erwirken. Für kleine Sünden reichte ein preiswerterer Ablass, bei schweren Sünden musste man dagegen tief in die Tasche greifen. Mit dem Erlös aus dem Verkauf von Ablässen finanzierte die Kirche u. a. den monumentalen Petersdom in Rom. Die Frage nach dem Seelenheil und der Gnade Gottes trieb auch den Augustinermönch und Theologieprofessor Martin Luther (1483-1546) um, der 1517 die Reformation mit dem Anschlag von 95 Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg auslösen sollte. Luther versuchte wie viele andere seiner Zeit, die Gnade Gottes etwa durch Selbstgeißelung zu erlangen. Dann aber gelangte er zu der Einsicht, dass Gott ein gnädiger Gott sei. Dessen Gnade komme aber ausschließlich aus ihm selbst und sei nicht durch gute Werke zu erarbeiten und schon gar nicht durch Ablässe zu erkaufen. Luthers reformatorische Ideen verbreiteten sich, nicht zuletzt durch die Erfindung des Buchdrucks, rasch in Deutschland und Europa und führten schließlich zu einer Glaubensspaltung zwischen Katholiken und Protestanten. Die protestantische Bewegung zerstritt sich über dogmatische Fragen zum Abendmahl- - etwa ob der Wein das Blut Christi manifestiere oder nur ein Symbol dafür darstelle. Als Hauptrichtungen bildeten sich der Lutheranismus, meist in Landeskirchen organisiert, und der sogenannte Calvinismus-- benannt nach dem Genfer Reformator Johannes Calvin (1509-1584)-- heraus. Letzterer differenzierte sich noch einmal in unterschiedliche Glaubensgemeinschaften wie Baptisten, Mennoniten, Quäker und insbesondere die Puritaner in England, Schottland und Nordamerika. Wie wirkten sich die drei christlichen Konfessionen Katholizismus, Lutheranismus und Calvinismus auf die Wirtschaftsgesinnung aus? Der Katholizismus begünstigte eher eine traditionalistische Wirtschaftsgesinnung. Er lehnte Gewinnstreben, Zins und Wucher ab. Eine wichtige Ausnahme bildeten die Klöster bereits im Mittelalter. Sie waren Wirtschaftsbetriebe, die in gewissem Maße bereits nach den Grundsätzen des ökonomischen Rationalismus geführt wurden. Aber ein kapitalistisches Gewinnstreben gab es auch in ihnen nicht. Da die Mönche abgeschieden lebten, konnte sich der ökonomische Rationalismus nur eingeschränkt in der Welt verbreiten. Der Lutheranismus brachte den modernen Berufsgedanken in die Welt. Laut Luther war der Beruf eine von Gott gestellte Aufgabe, welche die Erfüllung innerweltlicher Pflichten enthielt. Man muss dabei bedenken, dass Arbeit in der vormodernen Welt-- im Gegensatz zu heute- - sehr niedrig bewertet wurde. In der Antike galt Arbeit als Sache von Sklaven oder dem einfachen Volk, der Aristokrat frönte der Muße. Auch im Christentum galt Arbeit als Strafe für den Sündenfall von Adam und Eva im Paradies. Indem die lutheranische Ethik den Beruf aufwertete und ins Zentrum der Lebensführung (des Mannes) stellte, setzte sie eine neue Arbeitskultur von säkularer <?page no="65"?> 66 3. Moderner Kapitalismus und protestantische Ethik Bedeutung frei, welche die Moderne mehr und mehr prägen sollte und die Ausbreitung des Kapitalismus begünstigte. Ansonsten vertrat Luther eine traditionalistische Wirtschaftsethik. Auch er lehnte Gewinnstreben, Zins und Wucher ab-- und das in seiner Spätzeit mit einer nicht unbeträchtlichen Prise Antisemitismus. Die calvinistischen Strömungen brachten, so Weber, zwei neue Orientierungen in die Welt, asketische Lebensführung und Prädestinationslehre. Die asketische Lebensführung war ursprünglich bereits in den Klöstern beheimatet und manifestierte sich in Armutsgelübde, Keuschheit, Zölibat und Selbst-Kasteiung etwa durch Fasten oder Geißeln. Das Ziel war ein gottgefälliges Leben. Aber diese Lebensorientierung blieb, wie Weber sagt, außerweltlich, also beschränkt auf die Klöster, ohne auf das gewerbliche Leben überzugreifen. Und die klösterliche Askese wurde nicht in den Dienst kapitalistischen Gewinnstrebens gestellt. Die Calvinisten griffen das Prinzip der Askese auf und verbanden es mit dem Prinzip der Berufsorientierung, das sie mit Luther teilten. Dies bedeutete auch, dass man auf Vergnügungen und Luxus aller Art, wie Tanzen, Wirtshausbesuch, Theater oder Erotik, verzichtete. Das war nun keine außerweltliche Askese hinter Klostermauern mehr, sondern eine innerweltliche Askese. Sie ging einher mit einem hohen Maß an Arbeit, rationaler Arbeitsorganisation, erhöhter Produktivität und eingeschränktem Konsum, was wiederum die Kapitalbildung stimulierte. Das war aber, so Weber, keineswegs Absicht der Puritaner, sondern nichtintendierte Nebenwirkung religiös motivierten Handelns. Max Weber über innerweltliche Askese »Die straff religiösen Naturen, die bis dahin in das Kloster gegangen waren, mussten von jetzt an innerhalb der Welt das gleiche leisten. Für diese innerweltliche Askese haben die asketischen Denominationen des Protestantismus die adäquate Ethik geschaffen. Ehelosigkeit wird nicht verlangt; die Ehe ist lediglich ein Institut für rationale Kindererzeugung. Armut wird nicht empfohlen, aber der Reichtumserwerb darf auch nicht zu gedankenlosem Genießen verleiten. Es ist daher vollständig zutreffend, wenn Sebastian Franck den Sinn der Reformation in die Worte zusammenfasst: ›du glaubst, du seist dem Kloster entronnen: es muss jetzt jeder sein Leben lang ein Mönch sein‹.« (Wirtschaftsgeschichte, S. 312) Worin bestand nun die religiöse Motivation? Laut Weber hing sie entscheidend mit der Prädestinationslehre des Calvinismus zusammen. Wir müssen uns an dieser Stelle nochmals in Erinnerung rufen, dass für die Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit die Angst vor dem Jenseits und das Bangen um göttliche Gnade für die Lebensführung von entscheidender Bedeutung waren. Im katholischen Glauben war man der Ansicht, man könne durch gute Werke Gott gnädig stimmen. Daher der <?page no="66"?> 3.4 Die religiösen Wurzeln des kapitalistischen Geistes 67 Verkauf von Ablässen. Daher Kasteiungen. Zu den entscheidenden Einsichten der Reformatoren zählte, dass die Erlangung göttlicher Gnade unabhängig von den Werken der Menschen sei. Wem Gott gnädig ist, das ist die Sache Gottes. Aber wer ist dazu bestimmt, die Gnade Gottes zu empfangen? In der Bibel steht: Viele sind berufen, wenige sind auserwählt. Wer ist also auserwählt bzw.-- auf lateinisch-- »prädestiniert«? Nach der calvinistischen Lehre lässt sich das am wirtschaftlichen Erfolg ablesen. Er galt als ein Zeichen dafür, von Gott auserwählt worden zu sein. Das ist der Kern der Prädestinationslehre. Sie motivierte die Menschen, so Weber, zu arbeiten und Kapital zu bilden. Nicht in der Hoffnung, dadurch Gnade zu erwirken. Aber eben in der Annahme, dass wirtschaftlicher Erfolg als ein untrügliches Zeichen göttlichen Auserwähltseins zu deuten sei. Umgekehrt galt Arbeitsunlust als Zeichen fehlenden Gnadenstands. Im Laufe der Zeit, spätestens im 19. Jahrhundert, löste sich laut Weber der kapitalistische Geist von seinen religiösen Grundlagen und verselbständigte sich. »Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischer Grundlage beruht, dieser Stütze nicht mehr.« (GARS I, S. 204) Max Weber über die ökonomischen Effekte innerweltlicher Askese »Die innerweltliche protestantische Askese-- so können wir das bisher Gesagte wohl zusammenfassen-- wirkte also mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuß des Besitzes, sie schnürte die Konsumtion, speziell die Luxuskonsumtion ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengt die Fesseln des Gewinnstrebens, indem sie es nicht nur legalisierte, sondern […] direkt als gottgewollt ansah […]. Und halten wir nun noch jene Einschnürung der Konsumtion mit dieser Entfesselung des Erwerbsstrebens zusammen, so ist das äußere Ergebnis naheliegend: Kapitalbildung durch asketischen Sparzwang. Die Hemmungen, welche dem konsumtiven Verbrauch des Erworbenen entgegenstanden, mußten ja seiner produktiven Verwendung: als Anlagekapital, zugute kommen.« (Die protestantische Ethik-…, in: GARS I, S. 190, 192) <?page no="67"?> 68 3. Moderner Kapitalismus und protestantische Ethik Ernst Troeltsch fasst Webers Protestantismus-Studie zusammen »Sombart hatte gezeigt, wie der Geist des Kapitalismus eine dem natürlichen Trieb zum Genuß und zur Ruhe, zur Erwerbung der bloßen Existenzmittel ganz entgegengesetzte Rastlosigkeit und Grenzenlosigkeit zeigt, wie er Arbeit und Erwerb zum Selbstzweck und den Menschen zum Sklaven der Arbeit um ihrer selbst willen macht, wie er das ganze Leben und Handeln unter eine absolut rationalistisch-systematische Berechnung bringt, die alle Mittel kombiniert, jede Minute ausnützt, jede Kraft verwertet, wie er im Bunde mit der wissenschaftlichen Technik und dem alles verknüpfenden Kalkül dem Leben eine durchsichtige Rechenhaftigkeit und abstrakte Genauigkeit verleiht. Dieser Geist aber, sagte sich Weber, kam nicht von selbst mit den industriellen Erfindungen, den Entdeckungen und den Handelsgewinnen; er hat sich auch in der spätmittelalterlichen Geldwirtschaft, in dem Kapitalismus der Renaissance und in der spanischen Kolonisation nicht stark entwickelt. Er ist zu sehr gegen die Natur des Menschen, als daß er ohne eine die Natur gewaltsam und systematisch unterdrückende ungeheure Geistesmacht sich hätte bilden können. So kam er auf die Vermutung, aus der Tatsache der Blüte des Kapitalismus gerade auf calvinistischem Boden den Schluß auf eine besondere Bedeutung des calvinistischen religiös-ethischen Geistes für die Entstehung dieses kapitalistischen Geistes zu ziehen. In eingehender Untersuchung zeigte er, wie es die spezifische calvinistische Askese ist, die nicht so sehr den Kapitalismus als den Geist des Kapitalismus großgezogen und damit die seelische Verfassung geschaffen hat, auf deren Boden die gewaltige und im Grunde so naturwidrige Entfaltung des Kapitalismus erst stattfinden konnte, was natürlich nicht hindert, daß diese Macht sich dann auch über Menschen ausbreitet, die mit dem Calvinismus gar nichts zu tun haben; die calvinistische Askese hat ihn groß werden lassen, und dann war er stark genug, seine eigenen Wege zu gehen und in eigenem Namen die Welt zu erobern.« (Troeltsch 1906, S. 43 f.) 3.5 Zur Kritik an Webers Protestantismusthese Max Webers Studie über die protestantische Ethik und den »Geist« des Kapitalismus hat viel Resonanz und Kritik erfahren. Dabei waren auch Missverständnisse im Spiel. Manche Interpreten verstanden Webers Studie als Widerlegung des historischen Materialismus oder als Erklärung des Kapitalismus aus spirituellen Wurzeln. Das aber war von Weber erklärtermaßen nicht intendiert. Das eigentliche Explanandum von Webers Protestantismus-Studie ist die Frage, warum ausgerechnet im Okzident der moderne Kapitalismus entstehen konnte. Die <?page no="68"?> 3.5 Zur Kritik an Webers Protestantismusthese 69 Religion, die Entstehung der protestantischen Kirchen und Sekten mit ihren Einflüssen auf die Lebensführung und Wirtschaftsethik der Menschen ist dabei eine partielle Erklärung, sprich ein Faktor in einer historischen Konstellation. Diese Lesart deckt sich mit den etwa gleichzeitig erfolgten methodologischen Einsichten Max Webers über Sozialwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft, die historische Individuen aus historischen Konstellationen erklärt (vgl. Kap. 2). Die Frage nach der Entstehung des Kapitalismus ist damit aber nur unvollständig beantwortet. Weber entwickelt mit Blick auf das ihn interessierende historische Individuum okzidentaler Kapitalismus bzw. kapitalistischer Geist keine umfassendere Konstellationsanalyse. Diese hätte zusätzlich die Durchführung einer Reihe ergänzender Forschungsoperationen verlangt: erstens die Zerlegung der für die spezifische Entwicklung des untersuchten historischen Individuums relevant erachteten komplexen Gesamtursachen in einzelne Teilkomponenten, zweitens die Ermittlung der kausalen Relevanz der herausgestellten Teilkomponenten sowie abschließend drittens die graduelle Gewichtung der Teilkomponenten innerhalb der als relevant betrachteten Ursachenkonstellation. Da Weber seine kausale Analyse auf die Teilkomponente der religiösen Ethik beschränkt, zielt seine Argumentation lediglich darauf ab, nachzuweisen, dass das geschichtliche »So-und-nicht-anders-Gewordensein« des kapitalistischen Geistes durch die rationale Ethik des asketischen Protestantismus kausal adäquat verursacht ist. Weber betont dabei immer wieder, dass auch andere, u. a. ökonomische Faktoren im Spiel waren, ohne diese systematisch herauszuarbeiten. Insofern blieb die Weber’sche Protestantismus-Studie ein »Torso« (Hartmann Tyrell). Aber auch in diesem eingeschränkten Erklärungsbereich bietet uns Weber keine wirklich gesicherten Erkenntnisse. In seiner Studie taucht kein einziger puritanischer Unternehmer auf, der als empirischer Beleg herhalten könnte. Immer geht es um die Interpretation theologischer oder religiöser Erbauungsschriften. Dabei wird eine geistig-mentalitätsmäßige Verwandtschaft zwischen kapitalistischem Geist und protestantischer Ethik aufgezeigt, aber ohne ad personam zu demonstrieren, wo historisch eine Beeinflussung des kapitalistischen Geistes durch die protestantische Ethik stattgefunden hat. Es wird ein Adäquanzverhältnis zwischen beiden herausgearbeitet, aber keine kausale Beziehung nachgewiesen, allenfalls plausibel gemacht. Die Vorstellung einer quasi mechanischen Kausalität-- wo Protestantismus, da Kapitalismus-- weist Weber zurück. »Daß die bloße Tatsache der konfessionellen Zugehörigkeit eine bestimmte Entwicklung ökonomischer Art derart rein aus dem Boden stampfen könnte, daß baptistische Sibirier unvermeidlich zu Großhändlern, calvinistische Bewohner der Sahara zu Fabrikanten würden-- diese Meinung wird man mir schließlich kaum imputieren wollen.« (Max Weber, PE II, S. 30) So liegt der bleibende Ertrag von Webers berühmtester Studie vorwiegend im heuristischen Bereich: Sie hat die Sozialwissenschaften auf die Bedeutung von Religionen für das Wirtschaftsleben aufmerksam gemacht. Das gilt nicht nur für den Protestantismus, sondern auch für andere Religionen. <?page no="69"?> 70 3. Moderner Kapitalismus und protestantische Ethik Dirk Kaesler über die aktuelle Bedeutung der Protestantismus-These »Sie wären nicht die ersten, die sich durch deren Lektüre selbst begegnen, die sich selbst und ihre Mitmenschen dadurch besser verstehen. Vielleicht haben auch Sie sich schon manchmal gefragt, wieso Sie Ihrem Beruf, Ihrer Arbeit, Ihrer Tätigkeit eine so große Bedeutung zumessen. Wieso Sie so viel Ihrer Freizeit, Ihres Soziallebens, Ihrer nichtberuflich bestimmten Neigungen opfern, nur Ihrer Arbeit wegen. Und wieso Menschen, die keinen Beruf haben, ihn noch nicht haben oder arbeitslos geworden sind, derart darunter leiden, dass sie diese Tatsache auf vielerlei Weise zu leugnen, zu verbergen suchen.« (Kaesler 2004, S. 8) 3.6 Wirtschaftsethik der Weltreligionen-- Vom modernen Kapitalismus zum okzidentalen Rationalismus Ab etwa 1911 weitet Weber seine Forschungen zur Entstehung des modernen Kapitalismus auf außereuropäische Religionen-- Konfuzianismus, Taoismus, Hinduismus, Buddhismus-- aus. Das Projekt Wirtschaftsethik der Weltreligionen dient nicht zuletzt der Absicht, die heftig kritisierte Protestantismusthese durch einen universalgeschichtlichen Vergleich zu untermauern. Weber fragt, warum in nichteuropäischen Kulturen kein Kapitalismus nach westlichem Muster entstanden ist (jedenfalls nicht aus sich heraus), obwohl diese zeitweise ein hohes und dem Okzident überlegenes Entwicklungsniveau erreicht haben, wie z. B. China oder die islamische Welt. Zu leisten sucht er den Nachweis kausal adäquater Verursachung nicht in Gestalt eines bloßen Gedankenexperiments, sondern mit Hilfe komparativ angelegter historischer Studien zu den Weltreligionen Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus, Christentum, Islam und antikes Judentum. Weber konzipiert diese Religionen als »historische Individuen höchst komplexer Art« (GARS I, S. 265; MWG I/ 19, S. 116) und fragt, welche Bedeutung die durch die jeweilige Weltreligion hervorgerufene »religiöse Bestimmtheit der Lebensführung« (GARS I, S. 238; MWG I/ 19, S. 85) für die Ausgestaltung der Wirtschaftsethik in dem jeweiligen Kulturkreis besessen hat. Ihn interessieren »die in den psychologischen und pragmatischen Zusammenhängen der Religionen gegründeten praktischen Antriebe zum Handeln« (GARS I, S. 238; MWG I/ 19, S. 85). Webers Studien zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen analysieren historische Konstellationen, die jeweils zwei Charakteristika aufweisen: 1. das Fehlen einer der protestantischen Wirtschaftsethik funktional äquivalenten Wirtschaftsgesinnung sowie <?page no="70"?> 3.6 Wirtschaftsethik der Weltreligionen 71 2. das Fehlen eines dem okzidentalen Frühkapitalismus vergleichbaren Wirtschaftssystems. So konstatiert er beispielsweise für China auf ökonomischem Gebiet nicht den »geringste(n) Ansatz zu einer modernen-kapitalistischen Entwicklung«, wofür er auch »geistige Ursachen« anführt (GARS I, S. 341; MWG I/ 19, S. 217 f.). Der rationale Betriebskapitalismus sei nicht nur durch das Fehlen formal garantierten Rechts, einer rationalen Verwaltung und Rechtspflege sowie durch zunehmende ökonomische Verpfründung, sondern »auch durch das Fehlen gewisser gesinnungsmäßiger Grundlagen gehemmt worden« (GARS I, S. 395; MWG I/ 19, S. 284). Sowohl Konfuzianismus als auch Taoismus hätten als kosmozentrische, weltbejahende »politische« Religionen infolge traditionalistischer Prägung eine Ethik unbedingter Anpassung an die ewige Ordnung des Kosmos formuliert, so dass sowohl eine kapitalistische Wirtschaftsgesinnung als auch eine kapitalistische Wirtschaft okzidentaler Art auszuschließen gewesen sei. »Es wird kaum abzuweisen sein«, so Weber, »dass die grundlegenden Eigentümlichkeiten der ›Gesinnung‹, in diesem Falle: der praktischen Stellungnahme zur Welt, so gewiß sie ihrerseits in ihrer Entfaltung durch politische und ökonomische Schicksale mitbedingt wurden, doch auch kraft der ihren Eigengesetzlichkeiten zuzurechnenden Wirkungen an jenen Hemmungen stark mitbeteiligt gewesen sind.« (GARS I, S. 536; MWG I/ 19, S. 478) Ergänzende Argumentationsreihen führen Weber für das hinduistische Indien zu dem Ergebnis, dass neben der Kastengebundenheit und der Guru-Herrschaft über die Massen »vor allem das Dogma von der Unabänderlichkeit der Weltordnung, welches allen orthodoxen und heterodoxen hinduistischen Denkrichtungen gemeinsam war«, für den ökonomisch und sozial-traditionalistischen Zug des Hinduismus anzuführen sei. »Es war ganz offensichtlich gar nicht daran zu denken, dass eine durch solche innere Mächte beherrschte Gemeinschaft jemals aus ihrer Mitte das hätte gebären können, was wir hier unter ›Geist des Kapitalismus‹ verstehen.« (GARS II, S. 359; MWG I/ 19, S. 520, 521) In seinen Untersuchungen zum antiken Judentum kommt Weber zu einer vergleichbaren Einschätzung. Innerhalb des antiken Judentums sei die »Scheidung von ökonomischer Binnen- und Außenethik« dafür verantwortlich zu machen, »dass jener spezifische Gedanke der religiösen ›Bewährung‹ durch rationale ›innerweltliche Askese‹ fortfiel, der dem Puritanismus eignet«. Diese Scheidung äußerte sich gleichermaßen im Verbot, Zinsen von Glaubensgenossen zu nehmen, wie in der religiösen Duldung dieses Verhaltens bei Glaubensfremden. Insofern sei es nicht überraschend, in den von Juden besiedelten Gebieten Südeuropas, Osteuropas sowie des Orients, in denen diese »am längsten und meisten heimisch waren, weder in der Antike noch im Mittelalter noch in der Neuzeit die dem modernen Kapitalismus spezifischen Züge entwickelt« zu finden (GARS III, S. 357 f., 360; MWG I/ 21.2, S. 701 f., 704). <?page no="71"?> 72 3. Moderner Kapitalismus und protestantische Ethik Im weiteren Verlauf gelangt Weber zu der Einsicht, dass ein Verständnis der modernen Welt nicht allein auf die Analyse des Kapitalismus gegründet werden kann. Er erkennt, dass vergleichbare und komplementäre Entwicklungen auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen auftreten. Diese fasst er mit dem Begriff der Rationalisierung bzw. des okzidentalen Rationalismus zusammen. Die moderne Welt ist rational und wird immer rationaler. Weber sagt, sie ist entzaubert, d. h. die moderne Welt wird nicht mehr als von magischen oder göttlichen Mächten durchwirkt angesehen. Indem Geister und Götter aus der Natur verschwinden, wird Natur erfahrungswissenschaftlich und experimentell wahrnehmbar und technisch beherrschbar. Der Rationalismus ist nicht nur in der kapitalistischen Wirtschaft zu Hause, sondern er durchzieht alle gesellschaftlichen Bereiche wie Wissenschaft, Staat, Recht, Verwaltung und Kunst. Weber ersetzt also Kapitalismus als Leitbegriff zur Interpretation moderner Gesellschaft durch Rationalismus. Der Kapitalismusbegriff wird weiterhin geführt und bleibt von hervorragender Bedeutung. Aber der moderne Kapitalismus ist nunmehr »nur« Teil einer umfassenderen Erscheinung, des okzidentalen Rationalismus. Webers Beobachtungen und theoretische Überlegungen zum modernen okzidentalen Rationalismus werden wir in Kap. 6. weiter verfolgen. Zuvor wenden wir uns seinem Konzept einer Verstehenden Soziologie sowie seinen soziologischen Grundbegriffen in Wirtschaft und Gesellschaft zu. Wir stoßen dabei auf Denkformen und Begriffe, die für Webers späte Analyse der modernen Gesellschaft von Bedeutung gewesen sind. Schriften Webers Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), 9. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (=-GARS I): Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, S. 1-236. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie II (1921), 7. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (=-GARS II). Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III (1921), 8. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (=-GARS III). Die protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hg. von Johannes Winckelmann, Gütersloh 1984 (=-PE II). Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Band 19, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen Konfuzianismus und Taoismus, Schriften 1915-- 1920, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko, Tübingen 1989 (=-MWG I/ 19). Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Band 20, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen Hinduismus und Buddhismus, Schriften 1916- - 1920, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Golzio, Tübingen 1996 (=-MWG I/ 20). Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Band 21, 2. Halbband, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Das antike Judentum, Schriften und Reden 1911- - 1920, hg. von Eckart Otto unter Mitwirkung von Julia Offermann, Tübingen 2005 (=-MWG I/ 21.2). <?page no="72"?> 3.6 Wirtschaftsethik der Weltreligionen 73 Wirtschaftsgeschichte. Abriss der universalen Sozial- und Wirtschafts-Geschichte. Aus den nachgelassenen Vorlesungen herausgegeben von S. Hellmann und Melchior Palyi, München/ Leipzig 1923 (=-Wirtschaftsgeschichte). Gesammelte Politische Schriften (1921), 5. Aufl., hg. von Johannes Winkelmann, Tübingen 1988 (=-GPS). Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (1924), 2. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (=-GASW). Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, 2. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (=-GASS). Weiterführende Literatur Dirk Kaesler: Vorwort des Herausgebers, in: Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Vollständige Ausgabe, hg. und eingeleitet von Dirk Kaesler, München 2004, S. 7-64. Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwicklung, Berlin 1980. Hartmut Lehmann (Hg.): . Weber’s »Protestant Ethic«. Origins, Evidence, Contexts, Cambridge 1993. Hartmut Lehmann: Max Webers »Protestantische Ethik«. Beiträge aus der Sicht eines Historikers, Göttingen 1996. Guenther Roth: Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte von Max Webers »Protestantischer Ethik«, in: Karl Heinrich Kaufhold/ Guenther Roth/ Yuichi Shionoya, Max Weber und seine »Protestantische Ethik«, Düsseldorf 1992, S. 43-68. Constans Seyfarth/ Walter M. Sprondel (Hg.): Religion und gesellschaftliche Entwicklung. Studien zur Protestantismus-Kapitalismus-These Max Webers, Frankfurt am Main 1973. Helmut Steinert: Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2009. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Historische Zeitschrift 97, S. 1-66. Hartmann Tyrell: Worum geht es in der ›Protestantischen Ethik‹? Ein Versuch zum besseren Verständnis Max Webers, in: Saeculum 41 (1990), S. 130-177. <?page no="74"?> 75 4. Verstehende Soziologie 4.1 Webers Weg zu einer Verstehenden Soziologie 4.2 Verstehen als Handlungserklärung-- Grundkategorien der Verstehenden Soziologie 4.3 Verstehendes Erklären in den Sozialwissenschaften Zu Webers am stärksten rezipierten Beiträgen zählt sein Konzept einer Verstehenden Soziologie, welche die Entwicklung soziologischer Theorie nach seinem Tod erheblich beeinflusst hat. Was ist Verstehende Soziologie und worin besteht, verglichen mit anderen Soziologiekonzepten, ihre Besonderheit? Wir blicken zunächst zurück auf die Anfänge des Fachs, um Webers Beitrag zu kontextualisieren (4.1). Anschließend wenden wir uns grundlegenden Kategorien der Verstehenden Soziologie (4.2) und ihrer Anwendung in den Sozialwissenschaften (4.3) zu. 4.1 Webers Weg zu einer Verstehenden Soziologie Als Begründer der Soziologie wird meist der Franzose Auguste Comte (1798-1857) genannt. Comte hat eine Vision: Eine Wissenschaft von der Gesellschaft soll entstehen. Schon vor Comte dachten Philosophen über die Gesellschaft nach, aber es ging ihnen im Wesentlichen darum, wie eine gute Gesellschaft aussehen sollte. Comte will etwas anderes, etwas Neues-- eine Wissenschaft, die erforscht, wie eine reale Gesellschaft aussieht und nach welchen Regeln und Gesetzen sie funktioniert. Dabei soll sie nach der gleichen Methode wie die Naturwissenschaften vorgehen. Denn so wie die Menschheit von den Naturwissenschaften profitiert, indem sie naturwissenschaftlich erforschte Gesetze segensreich technisch anwenden kann, würde die Soziologie ihr durch die Entdeckung der Gesetze der Gesellschaft ermöglichen, diese krisenfrei zu steuern. Die Soziologie wäre dann quasi Auge und Gehirn der Politik. Eine Generation nach Comte denkt ein englischer Autodidakt über eine Theorie der Gesellschaft nach: Herbert Spencer (1820-1903). Wie, so fragt sich Spencer, können wir uns Gesellschaft konkret vorstellen? Comte hat Gesellschaft als eine Art Mechanismus gedacht. Spencer hingegen gelangt zu der bahnbrechenden Idee, dass man Gesellschaft besser in Analogie zum Organismus begreifen könne. Was ist ein Organismus? Ein Organismus, so Spencer, besteht aus verschiedenen Teilen, wobei jeder Teil eine bestimmte Aufgabe, Funktion für das Überleben des Ganzen übernimmt. Man kann sich das unschwer vorstellen anhand der menschlichen Organe. Auch Gesellschaft besteht, wie Spencer dachte, aus verschiedenen Teilen und jeder Teil übernimmt eine bestimmte Funktion. Spencer unterscheidet drei Teilsysteme: <?page no="75"?> 76 4. Verstehende Soziologie das »regulierende System«, das die Ordnungsfunktion übernimmt (Regierung, Militär, Verwaltung), das »erhaltende System«, das von den arbeitenden, produzierenden Akteuren gebildet wird, und das »verteilende System« mit den Bereichen Handel und Transport. Mit der Vorstellung, dass die Gesellschaft aus leistungsmäßig voneinander abhängigen Teilen besteht, die jeweils eine bestimmte Funktion zur Erhaltung des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs übernehmen, wird Spencer zu einem der Gründerväter des Funktionalismus. Spencer ist wie Comte der Überzeugung, dass Gesellschaft mit der gleichen Methode wie die Natur erforscht werden kann und dass gesellschaftliche Entwicklung den gleichen Gesetzen unterliegt wie die Natur. Auch die großen deutschen Konversationslexika Brockhaus und Meyer definieren gegen Ende des 19. Jahrhunderts Soziologie noch in dieser Weise. So lesen wir in der 13. Auflage des Brockhaus von 1886: »Sociologie ist eine erst in neuester Zeit Ansehen und Bedeutung gewinnende Wissenschaft, welche als eine Philosophie der Geschichte und Kulturgeschichte nach der positivistisch-naturwissenschaftlichen Methode bezeichnet werden kann.« Die vierte Auflage von Meyers Großem Konversations-Lexikon von 1890 definiert »Sociologie« als »›Physik‹, besser gesagt Physiologie der menschlichen Gesellschaft«. Soziologie sei der »Versuch einer Darstellung des allgemeinen Gesetzes der menschlichen Kulturentwicklung«. Als Repräsentanten werden Comte und Spencer genannt. Damit steht Soziologie in einem unversöhnlichen Gegensatz zu den historistisch geprägten historischen Schulen, die auf der wesensmäßigen Unterscheidung von Natur und Geschichte beharren (vgl. Kap. 2.1). Im Deutschen Reich formiert sich eine breite Bewegung gegen die positivistische Soziologie. Ihre Gegner lehnen die Vorstellung ab, man könne Geschichte und Gesellschaft nach der gleichen Methode behandeln wie die Natur. Im Unterschied zur Natur bestehe Gesellschaft aus Menschen und Menschen seien geistige Wesen mit eigenem Willen. Die Wissenschaften vom Menschen müssten nach einer Methode arbeiten, die der Eigenschaft des Menschen als Geistwesen Rechnung trage, und dies sei die Methode des Verstehens. Wie verhält sich Weber in diesem Streit? Er befindet sich einerseits auf der Seite der Soziologie-Gegner, ist also in gewisser Weise Anti-Soziologe. So beklagt er in einer 1909 veröffentlichten Literaturbesprechung über Energetische Kulturtheorien (Wilhelm Ostwald, Ernest Solvay u. a.) den »maßlosen Hochmut«, mit welchem »Vertreter der Naturwissenschaften« auf die methodische Arbeit insbesondere der historischen Disziplinen blickten (WL, S. 424). Die »konkreten Einzelergebnisse der chemischen, biologischen (usw.) Arbeit« erregten zwar berechtigterweise das Interesse der Kulturwissenschaftler, allerdings könnten die daraus entwickelten, weltanschaulich überhöhten naturalistischen »Theoreme […] niemals als essentielle ›Grundlage‹« <?page no="76"?> 4.1 Webers Weg zu einer Verstehenden Soziologie 77 für eine ernsthaft betriebene kulturwissenschaftliche Forschung dienen: »Welche Wechselbälge gezeugt werden, wenn rein naturwissenschaftlich geschulte Technologen die ›Soziologie‹ vergewaltigen, lehrt jeder Blick in eine beliebige Arbeit dieser Art.« (WL, S. 402) Eine Grundlegung der Soziologie vom »Gesichtspunkt der Energetik aus«, so resümiert Weber insbesondere mit Blick auf die soziologische Gründerfigur Comte, sei eine »Folge der verfehlten Comteschen Wissenschaftsschematik« (WL, S. 424). Im Hinblick auf die wissenschaftlichen Visionen Comtes urteilt Weber denn auch in polemischer Schärfe: »Die Comtesche Wissenschaftshierarchie [ist] das lebensfremde Schema eines grandiosen Pedanten, der nicht begriff, dass es Disziplinen mit gänzlich verschiedenen Erkenntniszielen gibt, von denen jede von gewissen unmittelbaren Alltagserfahrungen ausgehend den Inhalt dieser ›unwissenschaftlichen‹ Erkenntnis unter ganz verschiedenen, gänzlich selbständigen Gesichtspunkten sublimieren und bearbeiten muß.« (WL, S. 412 f.) So kritisch Webers Urteil in Bezug auf die an Comte orientierten naturalistischen Konzeptionen der Soziologie ausfällt, so gibt es doch einen entscheidenden Unterschied zwischen ihm und anderen antisoziologisch eingestellten Historikern und Geisteswissenschaftlern seiner Zeit. Weber hält eine allgemeine, generalisierende Sozialwissenschaft prinzipiell für möglich und notwendig. Denn auch eine historische Sozialwissenschaft sei auf allgemeine Begriffe und Theorien angewiesen (vgl. Kap. 2.4). Diese zu ermitteln sei Aufgabe der Soziologie. Die Soziologie ist dabei für ihn keine isolierte Disziplin, sondern integraler Teil der historischen Sozialwissenschaften. Bildlich gesprochen baut sie kein eigenes Haus, sondern bezieht ein Zimmer im Haus der historischen Sozialwissenschaften. Denn für Weber gehören theoretische und historische Erkenntnis untrennbar zusammen. Johannes Weiß über das Verhältnis von Geschichte und Theorie bei Max Weber »Über alle terminologischen Veränderungen und alle Verschiebungen der Perspektive hinweg vertritt Weber im Prinzip von Anfang an die Auffassungen, die er am Ende seines Lebens (nämlich im ersten Teil von Wirtschaft und Gesellschaft) noch einmal in konzentrierter und präzisierter Form vorgetragen hat: Um reale geschichtliche Verhältnisse und Entwicklungen begreifen und erklären zu können, muß sich die historische Sozialwissenschaft a) ohne Vorbehalt als empirischkausale Wissenschaft verstehen und sich als solche b) hinsichtlich ihrer Konzepte und Erklärungen um so viel theoretische Generalisierung bemühen, wie dies mit der Eigenart der jeweiligen ›Sache‹ vereinbar ist.« (Weiß 1992, S. 172) Im Unterschied zu Comte, Spencer und Durkheim ist für Weber Soziologie keine Disziplin, die Gesellschaft als äußeres Ding, als Funktionszusammenhang, als »Organismus« betrachtet, sondern sie ist verstehende Soziologie, die vom subjektiv gemein- <?page no="77"?> 78 4. Verstehende Soziologie tem Sinn handelnder Akteure ausgeht- - und nicht von der Gesellschaft als Ganzer. Diese Neubestimmung der Soziologie als Verstehende Soziologie kann man als wissenschaftliche Revolution in der Geschichte der Soziologie werten. Das bedeutet nicht, dass Weber einen funktionalistischen Erklärungsansatz nach Art von Spencer dogmatisch ablehnt. Er unterstreicht die »Bedeutung der funktionalen Vorfragestellung […] für jede Soziologie« (WuG, S. 8). Er hält die Erkenntnisse, die mit dem funktionalistischen Erklärungsansatz zu gewinnen sind, allerdings für begrenzt. »Alle funktionale (vom ›Ganzen‹ ausgehende) Begriffsbildung« (WuG, S. 9) sei lediglich als Vorarbeit für die eigentliche Arbeit der Verstehenden Soziologie zu betrachten. Der funktionalistische Erklärungsansatz beruhe auf der bloßen Beobachtung von »Vorgängen ohne subjektive ›Sinnbezogenheit‹« (WL, S. 431), was methodisch als »beobachtendes Erklären« zu qualifizieren sei. Damit seien aber die Erkenntnispotentiale des Sozialen keineswegs ausgeschöpft: »Wir sind ja bei ›sozialen Gebilden‹ (im Gegensatz zu ›Organismen‹) in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (›Gesetzen‹) hinaus etwas aller ›Naturwissenschaft‹ (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ›Erklärung‹ der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das ›Verstehen‹ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, während wir das Verhalten z. B. von Zellen nicht ›verstehen‹, sondern nur funktionell erfassen und dann nach Regeln seines Ablaufs feststellen können.« (WuG, S. 7) Was Weber genauer mit Verstehen meint und wie er die grundlegenden Kategorien der Verstehenden Soziologie definiert, werden wir im folgenden Abschnitt darlegen. 4.2 Verstehen als Handlungserklärung-- Grundkategorien der Verstehenden Soziologie Die grundlegenden Kategorien der Verstehenden Soziologie entfaltet Weber vor allem in zwei Beiträgen: im 1913 veröffentlichten Aufsatz Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie und in Soziologische Grundbegriffe, dem ersten Kapitel von Wirtschaft und Gesellschaft. Beide Texte sind der Allgemeinen Soziologie zuzuordnen. Am Anfang von Webers Theorie des Verstehens steht eine Anthropologie, also eine Lehre vom Menschen. Der Mensch ist ein Wesen, das über eigenes Bewusstsein verfügt-- im Unterschied zur unbelebten Natur. Der Mensch denkt, er handelt bewusst, planmäßig und intentional, mit bestimmten Motiven und bestimmten Zielen- - im Unterschied zum bloß reaktiven Verhalten. Dies alles umschreibt Weber mit dem Begriff Sinn. Das Handeln des Menschen ist sinnhaft. Indem es sich auf andere Akteure und Ordnungen bezieht, ist es soziales Handeln (vgl. Kap. 5.2). »Es ist also eine spezifische Sinnorientierung und Sinnbestimmtheit menschlichen Handelns, die dasselbe als soziales kennzeichnet und welche zur Konsequenz hat, daß eine angemes- <?page no="78"?> 4.2 Verstehen als Handlungserklärung 79 sene Erklärung solchen Verhaltens über ein Verstehen des orientierend und bestimmend fungierenden Sinnes vermittelt sein muß.« (Weiß 1992, S. 45) Verstehen bedeutet, so gesehen, zunächst einmal, die Sinnentwürfe anderer Menschen zu erfassen. Das ist grundsätzlich möglich. Menschen können sich sprachlich mitteilen, sie können kommunizieren. Das Verstehen ist auf die Bestimmungsmomente menschlichen Handelns beschränkt, welche kommunikabel sind (Weiß 1992, S. 53, 55). Dadurch, dass der Mensch über ein Bewusstsein verfügt, sinnhaft handeln und sprachlich kommunizieren kann, ist Verstehen möglich. Weber geht noch einen Schritt weiter: In der Menschenwelt können wir nur erklären, wenn wir sinnhafte Handlungen verstehen. Erklären und Verstehen sind also kein Widerspruch. Das Ergebnis eines Verstehensakts ist eine Deutung. Alle Deutung strebt nach Evidenz. »Evidenz des Verstehens kann entweder: [a)] rationalen (und alsdann entweder logischen oder mathematischen), oder [b)] einfühlend nacherlebenden (emotionalen, künstlerisch-rezeptiven) Charakters sein.« (WuG, S. 2) Wenn uns eine Theorie erklärt wird und sie uns einleuchtet, dann ist sie rational evident. Die Tränen eines Menschen, der einen nahen Angehörigen verloren hat, oder der Ärger eines Politikers, der in einer Wahl unterlegen ist, sind uns emotional evident. Rationales wie emotionales Verstehen hat allerdings Grenzen. Vielleicht verstehe ich die Theorie nicht, weil sie zu schwierig ist, und nicht jedem ist emotional evident, wenn Teenager bei Konzerten bestimmter Sänger in Ekstase geraten, und was dem einen als gute Musik erscheint, nimmt ein anderer als peinigenden Lärm wahr. Weber unterscheidet zwischen aktuellem Verstehen und erklärendem Verstehen. Aktuelles Verstehen bedeutet, dass wir den gemeinten Sinn einer Handlung bzw. einer Äußerung erfassen. »Wir ›verstehen‹ z. B. aktuell den Sinn des Satzes 2 × 2 =-4, den wir hören oder lesen (rationales aktuelles Verstehen von Gedanken), oder einen Zornausbruch, der sich in Gesichtsausdruck, Interjektionen, irrationalen Bewegungen manifestiert (irrationales aktuelles Verstehen von Affekten), oder das Verhalten eines Holzhackers oder jemandes, der nach der Klinke greift, um die Tür zu schließen, oder der auf ein Tier mit einem Gewehr anlegt (rationales aktuelles Verstehen von Handlungen).« (WuG, S. 3 f.) Wir verstehen z. B., dass ein Autofahrer, wenn er den Zündschlüssel umdreht, losfahren möchte. Damit wissen wir aber noch nicht, warum er startet, wir kennen den Grund seines Handelns nicht. Diesen zu ermitteln, wäre die Aufgabe des erklärenden Verstehens. Veranschaulichen wir dies noch einmal anhand der von Weber angeführten Beispiele: »Wir ›verstehen‹ motivationsmäßig, welchen Sinn derjenige, der den Satz 2 × 2 =- 4 ausspricht oder niedergeschrieben hat, damit verband, daß er dies gerade jetzt und in diesem Zusammenhang tat, wenn wir ihn mit einer kaufmännischen Kalkulation, einer wissenschaftlichen Demonstration, einer technischen Berechnung oder einer anderen Handlung befaßt sehen, in deren Zusammenhang nach ihrem uns verständlichen Sinn dieser Satz ›hineingehört‹, das heißt: einen uns verständlichen Sinnzusammenhang gewinnt (rationales Motivationsverstehen). Wir <?page no="79"?> 80 4. Verstehende Soziologie verstehen das Holzhacken oder Gewehranlegen nicht nur aktuell, sondern auch motivationsmäßig, wenn wir wissen, daß der Holzhacker entweder gegen Lohn oder aber für seinen Eigenbedarf oder zu seiner Erholung (rational), oder etwa ›weil er sich eine Erregung abreagierte‹ (irrational), oder wenn der Schießende auf Befehl zum Zweck der Hinrichtung oder der Bekämpfung von Feinden (rational) oder aus Rache (affektuell, also in diesem Sinn: irrational) diese Handlung vollzieht.« (WuG, S. 4) Alle diese Beispiele repräsentieren für Weber verständliche Sinnzusammenhänge, deren Verstehen mit dem »Erklären des tatsächlichen Ablaufs des Handelns« zusammenfällt (WuG, S. 4). »›Erklären‹ bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befasste Wissenschaft soviel wie: Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört.« (WuG, S. 4) Konkret bedeutet dies zunächst, die Handlungsmotive in den Blick zu nehmen, die dem Handelnden selbst oder dem Beobachter als »sinnhafter ›Grund‹ eines Verhaltens« (WuG, S. 5) vor Augen stehen. Diese sind allerdings häufig nur auf den ersten Blick eindeutig zu erfassen. So verhüllen häufig vorgeschobene Motive den Handelnden selbst oder anderen den wirklichen Zusammenhang des Handelns. Um ein Beispiel anzuführen: Für geschiedene Ehepartner ist etwa das Motiv »Sorge um das künftige Wohl der Kinder« offensichtlich der »sinnhafte Grund« ihrer dauernden Streitereien. Ein genauerer Blick auf die Streitereien könnte jedoch weitere Motive wie Eifersucht oder Unterhaltsinteressen sichtbar werden lassen. Weber spricht in vergleichbarem Zusammenhang davon, dass »aeußeren Vorgängen des Handelns« immer auch »höchst verschiedene Sinnzusammenhänge bei dem oder den Handelnden zugrunde liegen« können (WuG, S. 4). Auch sind die handelnden Menschen in einer gegebenen Situation, wie sie etwa eine Scheidung festlegt, oft gegensätzlichen Antrieben ausgesetzt, die wir-- so Weber-- durchaus sämtlich verstehen. Am Beispiel des Sorgerechtsstreits lässt sich ein generelles Problem veranschaulichen, das laut Weber für jede verstehende Erklärung eine Herausforderung darstellt: »In welcher relativen Stärke aber die verschiedenen im ›Motivenkampf‹ liegenden, uns untereinander gleich verständlichen Sinnbezogenheiten im Handeln sich auszudrücken pflegen, lässt sich, nach aller Erfahrung, […] nicht sicher [,] abschätzen.« (WuG, S. 4) Insofern sei jede verständliche Sinndeutung hinsichtlich ihrer tatsächlichen kausalen Bedeutung gesondert zu prüfen: »Eine sinnhaft noch so evidente Deutung kann als solche und um dieses Evidenzcharakters willen noch nicht beanspruchen: auch die kausal gültige Deutung zu sein. Sie ist stets an sich nur eine besonders evidente kausale Hypothese.« (WuG., S. 4) Wie stellt sich Weber die (empirische) Prüfung einer solchen evidenten kausalen Hypothese vor? Um die von Weber in diesem Zusammenhang entwickelten Überlegungen systematisch darzustellen, greifen wir kurz auf das vorher Gesagte zurück. Weber unterteilt den Vorgang des erklärenden Verstehens analytisch in zwei Arbeitsschritte: <?page no="80"?> 4.2 Verstehen als Handlungserklärung 81 1. Zunächst ist eine sinnhaft evidente Deutung eines Handlungszusammenhangs (sinnhafte Gründe, Handlungsmotive) zu erarbeiten. 2. Hieran ist eine (empirische) Prüfung des mit der evidenten Deutung zugleich erhobenen kausalen Erklärungsanspruchs (kausale Hypothese) anzuschließen. Für Weber ist zunächst zu prüfen, inwieweit die Motive für eine Handlung als »sinnhaft adäquat« betrachtet werden dürfen. Er qualifiziert einen zusammenhängenden Handlungsverlauf als »sinnhaft adäquat« verstanden, wenn die Handlungsmotive, die der Handelnde selbst oder etwaige Beobachter unterstellen, nach unseren »durchschnittlichen Denk- und Gefühlsgewohnheiten«, d. h. von unserem kognitiven und emotionalen Erfahrungswissen als »typischer (wir pflegen zu sagen: ›richtiger‹) Sinnzusammenhang« (WuG, S. 5) bestätigt werden. Am Fallbeispiel des Sorgerechtsstreits bei einer Scheidung wäre demnach evident zu machen, inwieweit aller Erfahrung nach das Motiv »Sorge um das künftige Wohl der Kinder« als ein »sinnhafter Grund« für die dauernden Streitereien der geschiedenen Ehepartner betrachtet werden kann und ob weiteren Handlungsgründen (z. B. Eifersucht) Handlungsrelevanz zugesprochen werden darf. In einem zweiten Schritt muss laut Weber die empirische Tragfähigkeit der kausalen Hypothese bezüglich der tatsächlichen sinnhaften Handlungsgründe überprüft werden. Durch diesen methodisch zu vollziehenden Schritt wird die »evidente Deutung« zur gültigen »verständlichen Erklärung«. Im Fall eines konkret vorliegenden Sorgerechtsstreits wäre demnach empirisch zu prüfen, inwieweit für die geschiedenen Ehepartner das Motiv »elterliche Sorge um das künftige Wohl der Kinder« unserem Erfahrungswissen nach tatsächlich ein »sinnhafter Grund« für ihre dauernden Streitereien ist, inwieweit weitere Handlungsgründe in den vorgestellten Sorgerechtsstreit hineinspielen und wie diese Handlungsgründe hinsichtlich ihrer tatsächlichen Einflussnahme auf den Handlungsverlauf zu gewichten sind. In begrifflicher Anlehnung an die wissenschaftslogische Erklärungskategorie der »historischen Konstellation« wäre demnach von einer »Handlungskonstellation« zu sprechen (»Kausalverkettung«). Welche methodischen Instrumente zur (empirischen) Prüfung einer evidenten kausalen Hypothese gibt es? Gemäß Weber ist zunächst das im Zusammenhang des historisch-konstellativen Erklärens bereits entwickelte »unsichere Mittel des ›gedanklichen Experiments‹« (WuG, S. 5) anzuführen. Durch das »Fortdenken(s) einzelner Bestandteile der Motivationskette« (z. B. elterliche Sorge um das künftige Wohl der Kinder, Eifersucht, Unterhaltsinteressen) und die Konstruktion des dann wahrscheinlichen Handlungsverlaufs soll herausgefunden werden, welche (motivationalen) Anlässe bzw. Geschehnisse für den Handlungsverlauf, in unserem Fall den konkret vorliegenden Sorgerechtsstreit, tatsächlich relevant sind. Eine weitere methodische Prüfungsoption sieht Weber in der »vergleichenden kausalen Erklärung«, die er bereits im Rahmen seiner komparativ angelegten historischen Studien zu den Weltreligionen praktiziert hat (vgl. Kap. 3.6). Hierin sieht er eine wichtige Aufgabe der vergleichen- <?page no="81"?> 82 4. Verstehende Soziologie den Soziologie. Als weitere methodische Prüfungsmöglichkeiten nennt er das psychologische Experiment und für den Fall der kausalen Zurechnung eindeutiger Massenerscheinungen die statistische Prüfung. Im Vollzug einer solchen methodischen Prüfung sollte sich laut Weber die Feststellung ergeben, »dass nach einer irgendwie abschätzbaren, im- - seltenen- - Idealfall: zahlenmäßig angebbaren, Wahrscheinlichkeitsregel auf einen bestimmten beobachteten (inneren oder äußeren) Vorgang ein bestimmter anderer Vorgang folgt (oder: mit ihm gemeinsam auftritt)« (WuG, S. 5). Im Ergebnis wird damit durch kausales Zurechnungsurteil festgelegt, welchen Einfluss die verschiedenen Handlungsgründe auf den tatsächlichen Handlungsverlauf genommen haben. Um es abschließend nochmals in Webers Worten auszudrücken: »Eine richtige kausale Deutung eines konkreten Handelns bedeutet: dass der äußere Ablauf und das Motiv zutreffend und zugleich in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt sind. Eine richtige kausale Deutung typischen Handelns (verständlicher Handlungstypus) bedeutet: dass der als typisch behauptete Hergang sowohl (in irgendeinem Grade) sinnadäquat erscheint wie (in irgendeinem Grade) als kausal adäquat festgestellt werden kann.« (WuG, S. 5) Max Weber über die wechselseitige Bedingtheit von »Verstehen« und »kausalem Erklären« »Wogegen sich die Soziologie aber auflehnen würde, wäre die Annahme: dass ›Verstehen‹ und kausales ›Erklären‹ keine Beziehung zueinander hätten, so richtig es ist, daß sie durchaus am entgegengesetzten Pol des Geschehens mit ihrer Arbeit beginnen, insbesondere die statistische Häufigkeit eines Sichverhaltens dieses um keine Spur sinnhaft ›verständlicher‹ macht und optimale ›Verständlichkeit‹ als solche gar nichts für die Häufigkeit besagt, bei absoluter subjektiver Zweckrationalität sogar meist gegen sie spricht.« (Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: WL, S. 436 f.) 4.3 Erklärendes Verstehen in den Sozialwissenschaften Laut Weber sind drei Varianten wissenschaftlichen Verstehens zu unterscheiden: 1. Verstehen des Handelns einzelner Personen, 2. Verstehen des kollektiven Handelns von Gruppen, 3. Verstehen des Handelns idealtypisch konstruierter Akteure und Gruppen. In den Worten Webers liest sich das so: »›Verstehen‹ heißt in all diesen Fällen: deutende Erfassung: a) des im Einzelfall real gemeinten (bei historischer Betrachtung) oder b) des durchschnittlich und annäherungsweise gemeinten (bei soziologischer <?page no="82"?> 4.3 Erklärendes Verstehen in den Sozialwissenschaften 83 Massenbetrachtung) oder c) des für den reinen Typus (Idealtypus) einer häufigen Erscheinung wissenschaftlich zu konstruierenden (›idealtypischen‹) Sinnes oder Sinnzusammenhangs. Solche idealtypische Konstruktionen sind z. B. die von der reinen Theorie der Volkswirtschaftslehre aufgestellten Begriffe und ›Gesetze‹. Sie stellen dar, wie ein bestimmt geartetes, menschliches Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational, durch Irrtum und Affekte ungestört, und wenn es ferner ganz eindeutig nur an einem Zweck (Wirtschaft) orientiert wäre.« (WuG, S. 4) Im erstgenannten Fall haben wir es mit einzelnen Akteuren zu tun, wie es in der traditionellen Geschichtswissenschaft besonders häufig der Fall war. So versucht der Historiker zu ergründen, warum Hitler in einer bestimmten Situation so und nicht anders gehandelt hat. Für den zweiten Fall der »soziologischen Massenbetrachtung« können wir uns einen Streik einer Arbeitergruppe vorstellen. Wir erklären den Streik damit, dass »die« Arbeiter einen höheren Lohn erzielen wollen. Das trifft vielleicht nicht für jeden Arbeiter zu, aber, wie Weber formuliert, »durchschnittlich und annäherungsweise«. Im dritten Fall beschreibt die Wirtschaftstheorie, wie z. B. ein Konsument unter bestimmten Bedingungen idealerweise handeln würde. Sie unterstellt etwa, dass er bei einem Angebot von zwei Gütern gleicher Qualität das Billigere nehmen würde. Während die streikenden Arbeiter empirisch vorgefundene Akteure sind, ist der Konsument der Wirtschaftstheorie keine empirische Erscheinung, sondern ein idealtypisches Konstrukt. Indem die Theorie davon ausgeht, dass die Akteure rational und nutzenmaximierend handeln, versucht sie, das Konsumentenverhalten zu verstehen. »Erklärend verstehen« bedeutet, wie bereits ausgeführt, zunächst die Motive der Akteure zu erschließen. »›Motiv‹ heißt ein Sinnzusammenhang, welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter ›Grund‹ eines Verhaltens erscheint […]. Eine richtige kausale Deutung eines konkreten Handelns bedeutet: daß der äußere Ablauf und das Motiv zutreffend und zugleich in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt sind.« (WuG, S. 5) Der Zusammenhang zwischen Motiv und Handlung muss also als evident erscheinen, alltagssprachlich ausgedrückt: uns einleuchten. Damit grenzt sich Weber von Nachbarwissenschaften wie der Rechtswissenschaft, der Geschichte und der Nationalökonomie ab. »Deren Begriffsbildung liegt nämlich die Vorstellung zugrunde, als gäbe es handelnde Kollektivpersönlichkeiten. Sie denken infolgedessen komplexe Gebilde wie Staat, Nation, Genossenschaft, Aktiengesellschaft, Familie u. a. m. als Einzelindividuen. Anders die Verstehende Soziologie. Sie durchstößt diese logischen Fiktionen, um bis zu der letzten verstehbaren Realität, dem sinnorientierten Handeln des oder der Einzelnen vorzudringen.« (Marianne Weber 1989, S. 691) Das bedeutet zugleich, wie bereits anfänglich herausgestellt, die Ablehnung metaphysisch aufgeladener Kollektivbegriffe wie Volk oder Staat. Weber betont auch für die Sozialwissenschaften den hypothetischen Charakter von Deutungen: »›Sinnhafte‹ Deutungen konkreten Verhaltens rein als solche sind <?page no="83"?> 84 4. Verstehende Soziologie natürlich auch für sie [die Soziologie, die Verf.], selbst bei größter ›Evidenz‹, zunächst nur Hypothesen der Zurechnung. Sie bedürfen also der tunlichsten Verifikation mit prinzipiell genau den gleichen Mitteln wie jede andere Hypothese.« (WL, S. 437) Insgesamt gesehen erschließt die Verstehende Soziologie gegenüber einer funktionalistischen Erklärungsweise (»beobachtende Erklärung«) neues Erkenntnispotential, indem sie das Soziale aus sinnhaftem Handeln erklärt (»verstehende Erklärung«). Weber räumt ein, dass das verstehende Erklären eine, wie wir heute sagen würden, »weiche« wissenschaftliche Methode darstellt: »Diese Mehrleistung der deutenden gegenüber der beobachtenden Erklärung ist freilich durch den wesentlich hypothetischeren und fragmentarischeren Charakter der durch Deutung zu gewinnenden Ergebnisse erkauft.« Er stellt jedoch sogleich fest: »Aber dennoch: sie ist gerade das dem soziologischen Erkennen Spezifische.« (WuG, S. 7) Im Übrigen gilt, dass die »›verstehende Soziologie‹ […] niemandem aufgenötigt werden soll und kann« (WuG, S. 6). Es bleibt letztlich dem einzelnen Wissenschaftler überlassen, welche Wissenschaftsmethode er wählt. Die Verstehende Soziologie grenzt sich als verstehende Disziplin also von naturalistischen Ansätzen der Soziologie wie dem Funktionalismus ab, die sich an der naturwissenschaftlichen Wissenschaftsmethode orientieren und das Prinzip der durch äußere Beobachtung angeleiteten Erklärung bevorzugen. Auf der anderen Seite unterscheidet sie sich von den historischen Disziplinen durch ihr generalisierendes Erkenntnisinteresse: »Die Soziologie bildet-- wie schon mehrfach als selbstverständlich vorausgesetzt-- Typen- - Begriffe und sucht generelle Regeln des Geschehens. Im Gegensatz zur Geschichte, welche die kausale Analyse und Zurechnung individueller, kulturwichtiger, Handlungen, Gebilde, Persönlichkeiten erstrebt.« (WuG, S. 9) Die Soziologie verfolgt also ein generalisierendes, die Geschichte ein (im logischen Sinn) individualisierendes Erkenntnisinteresse. Diese Unterscheidung ist typisierend, nicht im disziplinären Sinne dogmatisch-ausschließend gemeint. Es handelt sich um eine wissenschaftliche Arbeitsteilung, denn für Weber gehören generalisierende Theoriebildung und historische Forschung zusammen. Und so betont er: »Sie [die Soziologie, die Verf.] bildet ihre Begriffe und sucht nach ihren Regeln vor allem auch unter dem Gesichtspunkt: ob sie damit der historischen kausalen Zurechnung der kulturwichtigen Erscheinungen einen Dienst leisten kann« (WuG, S. 9). Während das Erkenntnisinteresse von Soziologie und Geschichte unterschiedlich ist, ist das empirische Objekt weitgehend gleich: »Die Begriffsbildung der Soziologie entnimmt ihr Material […] sehr wesentlich, wenn auch keineswegs ausschließlich, den auch unter den Gesichtspunkten der Geschichte relevanten Realitäten des Handelns.« (WuG, S. 9) Auch die Soziologie befasst sich also mit geschichtlichem Stoff, zusätzlich kann sie auf aktuelle Statistiken und Ergebnisse empirischer Sozialforschung zurückgreifen. <?page no="84"?> 4.3 Erklärendes Verstehen in den Sozialwissenschaften 85 Max Weber ist auch selbst entsprechend seiner Bestimmung von Soziologie als typenbildender Wissenschaft, die nach generellen Regeln des Geschehens sucht, verfahren. In den in Wirtschaft und Gesellschaft zusammengestellten Texten konstruiert er eine Reihe von Idealtypen wie Macht, Herrschaft, Klasse, Stand, Nation. Es handelt sich bei diesen und anderen Idealtypen um gedankliche Konstruktionen, die auch aus universalgeschichtlicher Anschauung schöpfen. Mit diesen Idealtypen werden wir uns im folgenden Kapitel (5.) befassen. Marianne Weber fasst Max Webers Verstehende Soziologie zusammen »Weber treibt ›verstehende Soziologie‹ als empirische Wissenschaft, ›eine Abgrenzung die niemand aufgenötigt werden soll und kann‹. Ihr Objekt ist das einzig verstehbare Moment der Geschichte, nämlich das sinnhaft orientierte Handeln einzelner und mehrerer Menschen, und zwar ihr aufeinander bezogenes, deshalb ›sozial‹ genanntes Handeln. Indem sie es deutend versteht, erklärt sie es zugleich ursächlich. Was Weber als Sinn des Handelns feststellen will, ist, wie wir aus früheren Bemerkungen schon wissen, der subjektive, vom Handelnden selbst ›gemeinte‹ Sinn seines Handelns als einer letzten konkreten, empirisch erfassbaren Realität; nicht etwa irgendwelche der Wirklichkeit spekulativ überbaute Gedankengebilde. Damit zieht die verstehende Soziologie die Grenze gegen alle dogmatischen Wissenschaften wie Jurisprudenz, Logik, Ethik, Aesthetik, die an ihren Objekten einen ›gültigen‹, ›richtigen‹ oder ›wahren‹ Sinn erforschen wollen. Am nächsten steht sie der Geschichte. Sie teilt mit ihr das außerwissenschaftliche Moment, nämlich die Auswahl kulturbedeutsamer Vorgänge aus einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit des Gleichgültigen; ferner das wissenschaftliche: Die kausale Zurechnung und deutendes Verstehen als Erkenntnismittel. Und während die Geschichte primär das Ergründen wichtiger Einzelzusammenhänge interessiert, befasst sich die Soziologie umgekehrt mit dem Typischen, bildet Typenbegriffe und sucht die generellen Regeln der sich immer und überall wiederholenden ›Abläufe‹ sozialen Handelns. Also in diesem Interesse für das Generelle ist sie der Naturwissenschaft verwandt […].« (Marianne Weber 1989, S. 689 f.) <?page no="85"?> 86 4. Verstehende Soziologie Verstehende Soziologie und »verstehendes Erklären« nach Max Weber Verstehende Soziologie geht vom subjektiv gemeinten Sinn handelnder Menschen aus. Der funktionalistische Ansatz (beobachtendes Erklären von Vorgängen ohne subjektive Sinnbezogenheit) ist als wichtige Vorarbeit für die Verstehende Soziologie anzusehen. Verstehen und Erklären sind als operative Verfahren methodisch nicht von einander zu trennen. Sie werden in der Verstehenden Soziologie in Gestalt der leitenden Forschungsoperation des »verstehendes Erklären« zusammengeführt. Für die Verstehende Soziologie bedeutet Erklären, den Sinnzusammenhang einer Handlung zu erfassen (insbesondere Erschließung der Handlungsmotive) Von einer evidenten Deutung einer Handlung ist dann zu sprechen, wenn die von dem Handelnden selbst oder etwaigen Beobachtern unterstellten Handlungsmotive durch unser kognitives und emotionales Erfahrungswissen bestätigt werden. Der mit der evidenten Deutung einer Handlung zugleich erhobene kausale Erklärungsanspruch (kausale Hypothese) ist in jedem Fall empirisch zu überprüfen. Als methodische Instrumente der empirischen Überprüfung führt Weber beispielhaft das gedankliche Experiment, die vergleichende kausale Erklärung, das psychologische Experiment sowie im Fall von Massenerscheinungen die statistische Prüfung an. Schriften Webers Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988 (=-WL): Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie (1913), S. 427-474. Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der Verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1985 (=-WuG): Soziologische Grundbegriffe (1921), S. 1-30. Weiterführende Literatur Helmut Girndt: Das soziale Handeln als Grundkategorie erfahrungswissenschaftlicher Soziologie, Tübingen 1967. Horst Jürgen Helle: Verstehende Soziologie, Lehrbuch, München/ Wien 1999, S. 115-150. Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie (1932) 2. Aufl., Frankfurt a. M.1981. Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie, 2., überarb. u. erw. Aufl., München 1992. <?page no="86"?> 87 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft 5.1 Handeln 5.2 Soziales Handeln 5.3 Soziale Beziehung 5.4 Macht und Herrschaft-- Typen legitimer Herrschaft 5.5 Klasse und Stand 5.6 Rasse, Ethnie und Nation »Soziologie […] soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.« (WuG, S. 1, Kap. I, § 1) Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dass Weber auf diese Weise Soziologie als eine Geisteswissenschaft bestimmt. Es ging dabei um die methodologische Begründung einer Verstehenden Soziologie. In diesem Kapitel wechseln wir von der methodologischen auf die theoretische Ebene. Theorie bedeutet bei Weber: die Bildung eines logisch in sich konsistenten Systems von Idealtypen. Darum geht es in Wirtschaft und Gesellschaft. 5.1 Handeln Der zentrale Begriff ist also soziales Handeln. Gesellschaft besteht aus der Sicht von Weber aus unzähligen Handlungen-- Handlungen, die auf andere Akteure bezogen sind (soziales Handeln). Diese Handlungen bilden quasi die kleinsten Einheiten gesellschaftlichen Lebens. Handeln ist ein Tun, mit dem wir einen Sinn verbinden. Weber weist dem Begriff Sinn dabei keine religiöse oder metaphysische Bedeutung zu, wie etwa bei Sinn des Lebens oder Sinn der Geschichte. Er denkt hier vielmehr an den subjektiv gemeinten Sinn (a) eines Handelnden, (b) des Durchschnitts einer Masse von Handelnden oder (c) eines Idealtypus eines Handelnden, z. B. des mittelalterlichen Handwerkers oder des kapitalistischen Unternehmers. Sinnhaftes Handeln können wir übersetzen mit: Der Akteur, der etwas tut, denkt sich etwas dabei. Wir können anstelle von Sinn auch von Motiv sprechen. Nicht alles menschliche Handeln ist sinnhaft. Handeln ohne Sinn ist streng genommen kein Handeln, sondern Verhalten, oder, wie Weber es ausdrückt, »reaktives […] Sichverhalten« (WuG, S. 2, Kap. I., § 1). Wir schrecken zusammen, wenn es knallt. Beim Militär müssen die Soldaten auf ein Kommando reagieren. Verhalten ist quasi ein Handeln ohne Sinn oder umgekehrt: Handeln ist ein Sich-Verhalten mit Sinn. Wenn Weber von Handeln spricht, ist dabei die Ressource Sinn immer mit eingeschlossen. <?page no="87"?> 88 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft Weber unterscheidet nach den Bestimmungsgründen vier Handlungstypen: zweckrationales, wertrationales, affektuelles und traditionales Handeln. Zweckrationales Handeln sucht nach optimalen Mitteln für bedachte Zwecke; Kosten und Nutzen verschiedener Optionen werden miteinander verglichen. In den Worten Webers: »Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt.« (WuG, S. 13, Kap. I, § 2) Dieser Typus ist vor allem in der Moderne verbreitet und uns insbesondere im wirtschaftlichen Bereich alltäglich vertraut. Wir überlegen z. B., ob wir eine Urlaubsreise unternehmen oder ob wir ein neues Auto kaufen sollen. Wir wägen dabei verschiedene Zwecke ab. Haben wir uns für ein neues Auto entschieden, vergleichen wir, welche Autos es gibt und wie es mit dem Preis-Leistungsverhältnis bestellt ist. Der Autotyp A ist billiger als B, steht aber in der Pannenstatistik ganz oben. Zudem bedenken wir vielleicht als Nebenfolge, wie hoch der Kohlendioxid-Ausstoß ist, denn wir möchten ja die Umwelt schonen. Wertrationales Handeln orientiert sich an bestimmten religiösen, ethischen Werten, und zwar unabhängig von den Folgen der Handlung. In den Worten Webers: »Rein wertrational handelt, wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Ueberzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät oder die Wichtigkeit einer ›Sache‹ gleichviel welcher Art ihm zu gebieten scheinen.« (WuG, S. 12, Kap. I, § 2) So kann z. B. die Unversehrtheit der ökologischen Umwelt ein absolutes Gut sein. Ich bin daher prinzipiell nicht bereit, ein Auto zu kaufen, auch wenn dies meine Mobilität beeinträchtigt und so für mich gravierende berufliche Nachteile entstehen. In totalitären Systemen verzichten Menschen auf attraktive berufliche Optionen, um nicht mit einer Partei zusammenarbeiten zu müssen, die sie aufgrund ihrer Wertüberzeugungen prinzipiell ablehnen. Im Extremfall nehmen Menschen es in Kauf, dass sie ihr Leben verlieren können, wenn sie gemäß ihren Werten handeln, z. B. die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944. Wertrational ist dabei werturteilsfrei gemeint. So argumentierten Nazi-Verbrecher nach dem Krieg, sie hätten ihre Verbrechen eigentlich gegen ihren Willen begangen. Aber Gehorsam und Pflicht seien für sie absolute Werte gewesen, so dass sie auch Befehle befolgten, die sie innerlich ablehnten. Im Sinne Webers hätten wir es in einem solchen Fall mit wertrationalem Handeln zu tun, obwohl es sich in unserem heutigen normativen Verständnis um ein Verbrechen handelt. Affektuelles Handeln ist durch aktuelle Gefühlslagen und Affekte bestimmt. Es ist ein Handeln »aus dem Bauch heraus«, wie man heute alltagssprachlich sagen würde. »Affektuell handelt, wer sein Bedürfnis nach aktueller Rache, aktuellem Genuß, aktueller Hingabe, aktueller kontemplativer Seligkeit oder nach Abreaktion aktueller Affekte (gleichviel wie massiver oder wie sublimer Art) befriedigt.« (WuG, S. 12, Kap. I, § 2) Wir kaufen spontan ein Auto, weil wir es schön finden und es uns emo- <?page no="88"?> 5.1 Handeln 89 tional anspricht. Später stellen wir vielleicht fest, dass das Auto zu teuer war, dass es reparaturanfällig ist und unmäßig viel Sprit verbraucht. Das haben wir beim Kauf nicht bedacht, denn affektuelles Handeln findet, anders als zweckrationales Handeln, ohne Abwägung von Zwecken und Nebenfolgen statt. Wenn wir eigenes Handeln nachträglich bereuen, dann war dies oft affektuelles Handeln. Traditionales Handeln erfolgt laut Weber »durch eingelebte Gewohnheit«. Man handelt so, »weil es schon immer so war«. In manchen Familien wird über Generationen bei der gleichen Autofirma gekauft, obwohl die Autos anderer Anbieter genauso gut und sogar günstiger sind, oder sie bleiben immer bei derselben Bank, weil es immer schon so war, obwohl andere Banken günstigere Konditionen bieten. Wie beim affektuellen kommt es auch bei traditionalem Handeln zu keiner Abwägung von Zwecken und Nebenfolgen. Der Typus des traditionalen Handelns ist charakteristisch für die vormoderne Gesellschaft. Die Menschen wuchsen in ihrer Familie auf, übernahmen den Beruf ihres Vaters, heirateten eine von den Eltern bestimmte Person, gingen jeden Sonntag zur Kirche, waren bei den Festen mit dabei und starben im Kreis ihrer Familie. In allen Lebensbereichen war Handeln mehr oder weniger stark durch Tradition vorgegeben, Abwägung von Zwecken fand weniger statt als in der Moderne. Heute findet sich traditionales Handeln vor allem in Alltagsroutinen wieder. Wir stehen morgens auf, gehen unter die Dusche, putzen die Zähne, gehen zur Arbeit usw., ohne dass jedes Mal Abwägungen stattfinden. Weber betont, dass Handeln in der Realität nur höchst selten ausschließlich im Sinne eines der bezeichneten Typen stattfindet. So können z. B. bei der Entscheidung zu heiraten alle vier Bestimmungsgründe im Spiel sein: affektuelle Motive (»Liebe«), zweckrationale Erwägungen (Versorgungssicherheit, berufliche Vorteile), Tradition (es war und ist in der Familie selbstverständlich zu heiraten) oder religiöse Überzeugungen von der Heiligkeit der Ehe. Die Handlungstypen müssen also immer als Idealtypen verstanden und gehandhabt werden. Verhalten: Reaktion auf Reize ohne Einschaltung des Bewusstseins, also ohne »Sinn« Handeln: bewusstes, sinnhaftes Sichverhalten Sinn: Gedanken, Motive und Intentionen, subjektiv gemeint Zweckrationales Handeln: Handeln, das Zwecke, Mittel und Nebenfolgen abwägt Wertrationales Handeln: Handeln, das sich an bestimmten religiösen, ethischen Werten orientiert, unabhängig von den Konsequenzen Affektuelles Handelns: Handeln, das durch aktuelle Gefühlslagen bestimmt ist Traditionales Handeln: Handeln, das durch eingelebte Gewohnheiten bestimmt ist <?page no="89"?> 90 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft 5.2 Soziales Handeln Handeln wird soziales Handeln, wenn es in seinem gemeinten Sinn »auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (WuG, S. 1, Kap. I, § 1), und zwar auf vergangenes, gegenwärtiges oder für die Zukunft erwartetes Verhalten (WuG, S. 11, Kap. I, § 2). Soziales Handeln in diesem Sinn ist alltäglich und allgegenwärtig, z. B. in der Familie. Wenn wir ein Weihnachtsgeschenk für unsere Geschwister kaufen, orientieren wir uns dabei daran, worüber sie sich in der Vergangenheit gefreut haben und voraussichtlich in der Zukunft freuen werden. Der Erfolg unserer Bemühungen ist für den Tatbestand des sozialen Handelns gleichgültig. Oder in einer Prüfung erfolgt soziales Handeln: Prüfer und Prüfling orientieren sich in ihren Fragen und Antworten wechselseitig aneinander. Beim Autofahren richten wir uns nach dem Fahrverhalten anderer, wir lassen einen Autofahrer, der blinkend anzeigt, dass er die Spur wechseln will, vor uns einscheren usw. Unser Leben besteht also tagtäglich aus sozialem Handeln; es sei denn, wir sind Eremiten oder haben uns auf andere Weise vollkommen von der Außenwelt isoliert. Nicht jede Art von Handeln ist soziales Handeln. Nicht als soziales Handeln zu verstehen ist nach Weber: An »äußeren Objekten« orientiertes Handeln: Das Spiel mit einem Schachcomputer, das Glücksspiel mit einem Spielautomaten oder der Umgang mit dem Computer sind kein soziales Handeln. Es ist zwar auch an anderen orientiert, aber nicht an Menschen als sinnhaft handelnden Akteuren, sondern an technischen Artefakten. Autofahren ist kein soziales Handeln, wenn ich, z. B. in der mongolischen Wüste, allein im Niemandsland fahre. »Inneres Sichverhalten«: Ein einsames Gebet oder eine einsame Meditation sind kein soziales Handeln. Anders verhält es sich, wenn Gebete im Rahmen eines Gottesdienstes stattfinden oder eine Meditation im Rahmen einer Yoga-Gruppe. Das Wirtschaften eines Einzelnen: Wenn sich eine Person auf einen einsamen Hof zurückzieht und nur für den Eigenbedarf wirtschaftet, dann ist das kein soziales Handeln. In der Regel jedoch ist Wirtschaften, insbesondere in der Marktwirtschaft, soziales Handeln, u. a. wegen der Arbeitsteiligkeit und wegen der Konkurrenten, deren vergangenes und zukünftiges Verhalten bedacht werden muss. Der Zusammenprall zweier Radfahrer: Hier findet zwar eine Berührung statt, aber sie ist in der Regel unbeabsichtigt, »ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen«. Ein Zusammenstoß mit einem anderen Radfahrer kann aber auch soziales Handeln sein, z. B. wenn er herbeigeführt wird, um eine andere Person zu ärgern, oder wenn er als »Anmache« gedacht ist, man mit der anderen Person also in Beziehung treten möchte. Das gleichzeitige Aufspannen von Regenschirmen: Den Regenschirm aufzuspannen ist eine Reaktion auf einen Reiz, nämlich den Regen. Ich spanne nicht den <?page no="90"?> 5.2 Soziales Handeln 91 Regenschirm auf, weil die anderen es tun, sondern alle tun dies unabhängig voneinander, weil es regnet. Im Einzelfall kann aber auch das Aufspannen eines Regenschirms soziales Handeln darstellen, etwa wenn wir als Geste der Fürsorglichkeit den Regenschirm für eine andere Person aufspannen. Massenhandeln, massenbedingtes Handeln: Menschen verhalten sich in Massen anders als in Kleingruppen oder allein. »Ein derart durch das Wirken der bloßen Tatsache der ›Masse‹ rein als solcher in seinem Ablauf nur reaktiv verursachtes oder mitverursachtes, nicht aber darauf sinnhaft bezogenes Handeln würde begrifflich nicht ›soziales Handeln‹ im hier festgehaltenen Wortsinn sein.« (WuG, S. 11, Kap. I, § 1) Wenn wir uns z. B. im Fußballstadion befinden, pfeifen wir vielleicht, wie alle anderen, den Schiedsrichter aus oder beschimpfen ihn. Das würden wir nie tun, wenn wir ihm persönlich auf der Straße begegnen. Nachahmung. Bloße Nachahmung fremden Handelns ist dann kein soziales Handeln, »wenn sie lediglich reaktiv, ohne sinnhafte Orientierung des eigenen an dem fremden Handeln erfolgt« (WuG, S. 11, Kap. I, § 1). So wäre z. B. der Verkauf von Aktien während einer Börsenpanik Nachahmung, vorausgesetzt, dass es sich um ein panikbedingtes Reiz-Reaktions-Verhalten handelt. Für ein korrektes Verständnis von Webers Begriff des sozialen Handelns sind drei Gesichtspunkte zu beachten. Zunächst einmal ist »sozial« strikt vom alltagssprachlichen Verständnis zu unterscheiden. Sozial im Sinne von Weber ist alles Handeln, das sich am erwartbaren Verhalten oder Handeln anderer Akteure orientiert. In diesem Sinn ist z. B. ein Mord soziales Handeln. Denn der Mörder orientiert sich am zu erwartenden Verhalten des Opfers; er versucht, das Opfer in einem Zustand der Arglosigkeit und Wehrlosigkeit anzutreffen. Die Justiz spricht von Heimtücke. Nicht alle Tötungsdelikte sind soziales Handeln. Tötungen können auch (reaktives) Verhalten darstellen, z. B. als spontane Reaktion auf eine schwere Beleidigung. Dann handelt es sich, juristisch gesehen, um Totschlag, nicht um Mord. Es ist vollkommen unerheblich, ob die Einschätzung des erwartbaren Verhaltens oder Handelns anderer zutreffend ist oder nicht. Ein gescheiterter Mordversuch ist ebenso soziales Handeln wie ein erfolgter Mord. Es kann im Einzelfall sehr schwierig sein, zu entscheiden, ob soziales Handeln vorliegt oder nicht. »Die Grenze ist derart flüssig, dass eine Unterscheidung oft kaum möglich erscheint.« (WuG, S. 11, Kap. I., § 1) Wenn sich etwa im Anschluss an einen Zusammenstoß zweier Fahrradfahrer eine Prügelei ergibt, so kann hier ein schmerzbedingtes spontanes Reiz-Reaktions-Verhalten vorliegen, unter Umständen aber auch ein bewusst kalkuliertes gewaltsames Handeln. Oder: Wenn viele Menschen gleichzeitig Aktien verkaufen, kann im Einzelfall eine wohlüberlegte, zweckrational bedachte Handlung vorliegen, aber auch eine Panikreaktion. <?page no="91"?> 92 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft Soziales Handeln orientiert sich also am Verhalten anderer, aber nicht nur. Es bezieht sich auch auf Werte und Normen und geltendes Recht, also auf, wie es Weber ausdrückt, legitime Ordnungen. Mit legitimen Ordnungen sind gemeint: 1. Recht, also formales, »gesatztes« Recht wie das bürgerliche Gesetzbuch oder das Strafgesetzbuch. 2. Konvention, also Regeln, die nicht gesetzlich vorgeschrieben sind. Ein Verstoß gegen sie kann nicht polizeilich oder gerichtlich geahndet werden. Allerdings erfahren diejenigen Missbilligung, die gegen Konventionen verstoßen. Sind wir zum Neujahrsempfang in einer vornehmen Gesellschaft eingeladen, erwartet man, dass wir in einem feinen Anzug erscheinen. Tragen wir stattdessen abgewetzte Jeans, werden wir missbilligende Blicke und Kommentare ernten und mit einer erneuten Einladung wird nicht zu rechnen sein. Legitim ist eine Ordnung, weil und insoweit sie als gerechtfertigt anerkannt wird. Diese Akzeptanz kann auf zweckrationalen, wertrationalen, affektuellen oder traditionalen Motiven beruhen. So akzeptieren wir die Straßenverkehrsordnung vorwiegend aus zweckrationalen Erwägungen, denn wir wissen, dass wir ohne Verkehrsregeln und deren Einhaltung kaum unfallfrei durch den Straßenverkehr kommen. Wertrationalität kann von Bedeutung sein, wenn wir geltendes Recht prinzipiell bejahen, auch wenn es uns im Einzelfall nicht zweckmäßig erscheint. Oder wir halten uns an bestimmte Regeln, weil es sie schon immer gegeben hat. Dann handeln wir aus Tradition. Auch affektuelle Motive können einer Ordnung Legitimität verschaffen. So können wir die Ehe als legitime Institution verstehen, weil wir mit ihr positive Gefühle, vielleicht abgeleitet aus einer glücklichen Partnerschaft, verbinden. Umgekehrt kann es auch sein, dass wir z. B. nach drei Scheidungen aus negativen affektiven Motiven die Institution Ehe grundsätzlich ablehnen. Soziales Handeln: Handeln, das sinnhaft an anderen Akteuren und/ oder an legitimen Ordnungen orientiert ist 5.3 Soziale Beziehung Der zweite zentrale Begriff neben dem sozialen Handeln ist in der Weber’schen Typologie die soziale Beziehung. Was ist damit gemeint? Vergegenwärtigen wir uns zunächst noch einmal, dass soziales Handeln am- - bekannten und erwartbaren-- Verhalten und Handeln anderer Akteure orientiert ist. Soziales Handeln fokussiert also den einzelnen Akteur bzw. die Gesellschaft aus der Perspektive der einzelnen Akteure. Der Begriff der sozialen Beziehung bringt einen Perspektivwechsel ins Spiel. Wir orientieren unser Handeln am Verhalten und Han- <?page no="92"?> 5.3 Soziale Beziehung 93 deln anderer Akteure. Aber andere Akteure orientieren ihr Handeln ebenfalls an unserem Verhalten und Handeln. Wenn zwei Akteure ihr Handeln wechselseitig aufeinander beziehen, dann liegt laut Weber eine soziale Beziehung vor. Gleiches gilt für Beziehungen zwischen mehreren Personen-- eine Gruppe ist also eine soziale Beziehung, ebenso sind z. B. Großorganisationen im Sinne von Weber soziale Beziehungen. Der Begriff der sozialen Beziehung ist also sehr allgemein gehalten. Er umfasst vieles, ja gewissermaßen alles Soziale und wird im weiteren Verlauf mit Hilfe zusätzlicher Begriffe (Verband, Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung u. a.) spezifiziert. Entsprechend fällt die Definition aus: »›Soziale Beziehung‹ soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen.« (WuG, S. 13, Kap. I, § 3) Weber legt zunächst dar, was zu einer sozialen Beziehung gehört. Zunächst »ein Mindestmaß von Beziehung des beiderseitigen Handelns aufeinander« (ebd.). Der Inhalt kann ganz unterschiedlich sein. Weber erwähnt als Beispiele: »Kampf, Feindschaft, Geschlechtsliebe, Freundschaft, Pietät, Marktaustausch, […] ökonomische oder erotische oder andre ›Konkurrenz‹, ständische oder nationale oder Klassengemeinschaft« (ebd.). Hier sieht man, dass Größe und Inhalt einer sozialen Beziehung ganz unterschiedlich sein können. Eine Partnerschaft ist ebenso eine soziale Beziehung wie ein Verein oder eine Gewerkschaft oder eine Nation oder ein Staat. Der Inhalt einer sozialen Beziehung kann durchaus konflikthaft sein, auch ein Verhältnis, in dem sich zwei Personen in herzlicher Feindschaft zugetan sind, ist eine soziale Beziehung. Auch eine geschiedene Ehe bleibt eine soziale Beziehung, solange beide Akteure noch wechselseitig aufeinander bezogen handeln. Eine Ehe im Rosenkrieg ist ebenso eine soziale Beziehung wie eine im Honeymoon. Weber bezeichnet explizit den Kampf als eine soziale Beziehungsform, bei der »Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eigenen Willens gegen Widerstand des oder der Partner orientiert ist« (WuG, S. 20, Kap. I, § 8). Es geht beim Inhalt einer sozialen Beziehung um den von den Beteiligten gemeinten Sinngehalt, nicht um einen normativen oder metaphysischen Sinn. Der Sinngehalt einer sozialen Beziehung muss dabei keineswegs für die Beteiligten gleich sein. Akteure können mit einer sozialen Beziehung einen unterschiedlichen Sinn verbinden. Der Sinn von Mitgliedern eines Sportvereins kann z. B. sportlicher Ehrgeiz sein, das Bestreben, die eigene körperliche Fitness zu fördern, oder das Bedürfnis nach Kontakt zu anderen Menschen. Der Sinngehalt einer sozialen Beziehung kann gleichermaßen wechseln. So kann eine Partnerschaft zunächst stark gefühlsmäßig bestimmt sein, später mögen, bei einem oder beiden Partnern, eher wirtschaftliche Motive (z. B. existentielle Absicherung) eine Rolle spielen. Eine soziale Beziehung kann vorübergehend angelegt sein oder auf Dauer. Der Sinngehalt kann vereinbart oder auch nicht vereinbart sein. Soziales Handeln und soziale Beziehungen orientieren sich nicht nur am Verhalten/ Handeln anderer, sondern, wie bereits erwähnt, auch an legitimen Ordnungen. Im <?page no="93"?> 94 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft Straßenverkehr z. B. bremsen wir, wenn ein Kind vor uns auf die Straße läuft, d. h. wir orientieren unser Fahrverhalten am Verhalten des Kindes. Aber wir orientieren uns auch an der Straßenverkehrsordnung. So halten wir vor roten Ampeln und gewähren Rechtsabbiegern Vorfahrt. In einer sozialen Beziehung, z. B. in einer Partnerschaft, orientieren wir uns nicht nur am Verhalten unseres Partners, sondern auch an bestimmten gemeinsamen Moralvorstellungen. Eine Ordnung kann eine Konvention oder Recht sein (s. o.). Eine Konvention in diesem Sinne ist z. B., dass man in Partnerschaften nicht fremd geht. Tut man es doch, stößt man möglicherweise auf Missbilligung im Freundeskreis, aber man macht sich nicht strafbar. Strafbar macht sich hingegen, wer gewalttätig wird. In diesem Fall verstößt er nicht nur gegen eine Konvention, sondern gegen Recht. Recht ist, so Weber, »äußerlich garantiert […] durch die Chance [des] (physischen und psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen.« (WuG, S. 17, Kap. I, § 5) Dieser Stab von Menschen ist die Polizei und die Justiz (Staatsanwälte und Richter). Wer über eine rote Ampel fährt, verstößt gegen Recht und sieht sich ggf. mit dem staatlichen Erzwingungsstab konfrontiert. Konvention ist es dagegen, andere Fahrzeuge vorzulassen, wenn diese z. B. auf die Autobahn auffahren wollen. Wenn wir es nicht tun, wird uns die Polizei nicht bestrafen, sondern wir ernten allenfalls missbilligende Blicke oder Hupgeräusche. Pünktlichkeit kann Recht sein oder Konvention. Wenn im Arbeitsvertrag geregelt ist, dass wir um 8.00 Uhr zu beginnen haben und wir kommen erst gegen 8.30 Uhr, dann kann das im Wiederholungsfall die Kündigung nach sich ziehen, ggf. gerichtlich bestätigt. Bei privaten Verabredungen mit Freunden ist Pünktlichkeit hingegen Konvention. Kein Erzwingungsstab wird hier einschreiten, es gibt lediglich eine Missbilligung, wenn wir nicht pünktlich sind. Weber unterscheidet zwei Klassen sozialer Beziehung: Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. »›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns- - im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus-- auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. ›Vergesellschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht.« (WuG, S. 21, Kap. I, § 9) Mit anderen Worten: Vergemeinschaftungen beruhen auf affektuellen und/ oder traditionalen, Vergesellschaftungen hingegen auf wertrational und/ oder- - vor allem- - zweckrationalen Motiven der Beteiligten. Als typische Beispiele für Vergesellschaftungen nennt Weber den streng zweckrationalen, frei paktierten Tausch auf dem Markt, den »Zweckverein«, heute würden wir sagen: eine Organisation, die für bestimmte sachliche, häufig ökonomische Zwecke gegründet ist, und den »wertrational motivierten Gesinnungsverein«, also eine »Sekte, insoweit, als sie von der Pflege emotionaler und affektueller Interessen absieht und <?page no="94"?> 5.3 Soziale Beziehung 95 nur der ›Sache‹ dienen will« (WuG, S. 22, Kap. I, § 9). Vergemeinschaftungen sind z. B. die Familie, eine »nationale« Gemeinschaft im Krieg oder »eine kameradschaftlich zusammenhaltende Truppe«. Die große Mehrheit sozialer Beziehung hat teils den Charakter von Vergemeinschaftung, teils den von Vergesellschaftung. So ist z. B. ein Wirtschaftsbetrieb grundsätzlich dem Typus der Vergesellschaftung zuzurechnen, denn betriebliches Handeln verfolgt sachliche, ökonomische Zwecke. Bei der Weihnachtsfeier wird der Betrieb, spätestens, wenn sich alle bierselig in den Armen liegen, zu einer Gemeinschaft, denn hier sind vor allem affektuelle Motive im Spiel. Am nächsten Tag wird aus der Vergemeinschaftung wieder eine Vergesellschaftung; das sollte man als Arbeitnehmer unbedingt beachten, worauf Ratgeber gerne hinweisen. Umgekehrt kann eine Familie gesellschaftliche Züge annehmen, z. B. bei kleinen Familienbetrieben, die dann zugleich wirtschaftliche »Zweckvereine« sind. Soziale Beziehungen, Vergemeinschaftungen wie Vergesellschaftungen, können geschlossen oder offen sein. »Eine soziale Beziehung (gleichviel ob Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung) soll nach außen ›offen‹ heißen, wenn und insoweit die Teilnahme an dem sich an ihrem Sinngehalt orientierten gegenseitigen sozialen Handeln, welches sie konstituiert, nach ihren geltenden Ordnungen niemand verwehrt wird, der dazu tatsächlich in der Lage und geneigt ist. Dagegen nach außen ›geschlossen‹ dann, insoweit und in dem Grade, als ihr Sinngehalt oder ihre geltenden Ordnungen die Teilnahme ausschließen oder beschränken oder an Bedingungen knüpfen. Offenheit und Geschlossenheit können traditionell oder affektuell oder wert- oder zweckrational bedingt sein.« (WuG, S. 23, Kap. I, § 10) Eine geschlossene soziale Beziehung ist z. B. (normalerweise) eine Ehe, und zwar affektuell bedingt. Auch ein Familienfest ist eine »geschlossene Gesellschaft«, wie die Alltagssprache sagt: im Sinne Webers wäre es eine geschlossene Vergemeinschaftung, zu der nur Familienmitglieder Zutritt haben. Wirtschaftsbetriebe können sich zu einem Kartell zusammenschließen, das für andere Unternehmen nicht zugänglich ist. Im Mittelalter waren Zünfte geschlossene soziale Beziehungen. In der modernen Gesellschaft überwiegen offene soziale Beziehungen. Jeder kann auf die Universität gehen, wenn er die leistungsmäßigen Voraussetzungen erfüllt. Die meisten Vereine sind offen für neue Mitglieder. In eine politische Partei kann jeder eintreten, ebenso in die großen Kirchen. Eine weitere spezifische Form sozialer Beziehung ist der Verband. »Verband soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls normalerweise zugleich Vertretungsgewalt hat.« (WuG, S. 26, Kap. I, § 12) Ein Verband ist also eine hierarchisch aufgebaute soziale Beziehung mit einem Leiter an der Spitze, ggf. mit einem Verwaltungsstab und den Untergebenen. Ein Verband kann sowohl Vergemeinschaftung als auch Vergesellschaftung sein. <?page no="95"?> 96 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft Viele, aber keineswegs alle soziale Beziehungen sind in diesem Sinn Verbände. Kein Verband ist für Weber etwa eine erotische Beziehung, die traditionale patriarchalische Familie dagegen wohl. Denn in ihr finden wir in Gestalt des Hausvaters einen Leiter vor, allerdings keinen Verwaltungsstab. Ähnlich verhält es sich bei einer Schulklasse-- der Lehrer ist der Leiter-- oder bei einem kleinen Betrieb. Wächst der Betrieb-- die kritische Grenze ist bei etwa 20 Mitarbeitern erreicht -, dann ist der Leiter (Unternehmer) genötigt, einen Verwaltungsstab einzustellen. Einen Verwaltungsstab finden wir in der Regel in größeren Verbänden vor. Ein Verband ist »vermöge der Existenz eines Verwaltungsstabes stets in irgendeinem Grade Herrschaftsverband« (WuG, S. 29, Kap. I, § 16). Der Begriff Verband steht also in einer engen Beziehung zum Herrschaftsbegriff, auf den wir in Abschnitt 5.4 zu sprechen kommen. Ein Verband kann autonom oder heteronom, autokephal oder heterokephal bestimmt sein. Der autonome Verband bestimmt seine Ordnung selbst. Bei einem heteronom strukturierten Verband wird hingegen die Ordnung von außen gesetzt. Beispielsweise kann die Schulordnung von einer übergeordneten Behörde verordnet sein (heteronom) oder sie wird in der Schule selbst beschlossen. Autokephal ist ein Verband dann, wenn er seinen Leiter selbst bestimmt. Autokephal wäre dann eine Schule, die über ihren Direktor selbst entscheidet. Wird hingegen der Direktor von außen, von einer übergeordnete Behörde bestellt, dann liegt Heterokephalie vor. Und schließlich unterscheidet Weber noch zwei Typen von Verband: Verein und Anstalt. »Verein soll ein vereinbarter Verband heißen, dessen gesatzte Ordnung nur für die kraft persönlichen Eintritts Beteiligten Geltung beanspruchen. Anstalt soll ein Verband heißen, dessen gesatzte Ordnungen innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereiches jedem nach bestimmten Merkmalen angebbaren Handeln (relativ) erfolgreich oktroyiert werden.« (WuG, S. 28, Kap. I, § 15) Vereine in diesem Sinne wären z. B. Sportvereine. Sie entstehen ursprünglich durch freie Vereinbarung, manchmal lösen sie sich auch wieder auf. Wer möchte, kann in einen Sportverein eintreten oder auch nicht oder kann wieder austreten. Dagegen wäre die Schule eine Anstalt (und wurde früher auch so genannt: Lehranstalt). Der Schule als solche kann man nicht entgehen, da Schulpflicht besteht, und man muss sich dem Reglement der Lehrpläne, Beurteilungen und Zensuren unterwerfen. Allerdings kann dieses Reglement nur in der Schule »erfolgreich oktroyiert werden«, wie Weber es ausdrückt, in der Freizeit und in den Ferien sind wir frei. Ein anderes Beispiel wäre die Bundesagentur für Arbeit, die bis vor nicht allzu langer Zeit »Bundesanstalt für Arbeit« hieß. Das ist soziologisch viel korrekter ausgedrückt, denn die sogenannten Kunden sind keine Kunden, die frei entscheiden können, ob sie ein Produkt nehmen oder nicht, sondern sie sind Befehlsempfänger der Leitung und ihres Verwaltungsstabs. Die größte und wichtigste Anstalt ist der Staat. »Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt.« (WuG, S. 29, Kap. I, § 17; vgl. auch Kap. 6.4) <?page no="96"?> 5.4 Macht und Herrschaft-- Typen legitimer Herrschaft 97 Soziale Beziehung: wechselseitig aneinander orientiertes soziales Handeln zweier, mehrerer oder vieler Personen, tendenziell auf Stetigkeit angelegt, z. B. eine Freundschaft, eine Familie, ein Sportverein, ein Wirtschaftsunternehmen, eine Nation, ein Staat Vergemeinschaftung: eine soziale Beziehung, die auf subjektiv gefühlter Zusammengehörigkeit beruht, auf affektuellen und / oder traditionalen Motiven, z. B. eine Freundschaftsbeziehung oder eine Familie Vergesellschaftung: eine soziale Beziehung, die auf gemeinsamen Interessen beruht und zweckrational oder wertrational motiviert ist, z. B. ein Wirtschaftsunternehmen Verband: eine hierarchisch aufgebaute soziale Beziehung, die typischerweise drei Ebenen umfasst: Leiter, Verwaltungsstab, Mitglieder Verein: Verband, dessen Satzung nur für eingetretene Mitglieder Geltung beansprucht, z. B. ein Sportverein Anstalt: Verband, dessen Satzung für einen bestimmten angebbaren Personenkreis zwangsweise Geltung beansprucht, z. B. die Bundesagentur für Arbeit, deren Regeln sich amtlich erfasste Arbeitslose unterwerfen müssen Staat: eine Anstalt, deren Verwaltungsstab das Monopol legitimen physischen Zwangs in Anspruch nimmt und durchsetzt 5.4 Macht und Herrschaft-- Typen legitimer Herrschaft Wir haben bereits gesehen, dass Weber, wenn er von Verband spricht, vor allem den Herrschaftsverband im Blick hat. Was aber versteht er unter Herrschaft? Weber grenzt zunächst den Herrschaftsbegriff vom Machtbegriff ab. Macht und Herrschaft werden in der Alltagssprache oft synonym benutzt. Bei Max Weber werden sie in soziologisch fundamentaler Weise voneinander geschieden. Macht, so die berühmte Definition Webers, »bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht« (WuG, S. 28, Kap. I, § 16). Ein idealtypisch reiner Fall von Macht liegt z. B. bei einer Geiselnahme vor. Der Geiselnehmer bedroht die Geisel mit seiner Pistole und kann ihr daher seinen Willen aufzwingen. Die Geisel handelt nicht aus freiem Willen; sie würde anders handeln, wenn sie nicht mit einer Pistole bedroht würde. Aber nicht nur in einem Fall physischer Gewaltdrohung liegt ein Machtverhältnis vor. Es gibt gleichermaßen psychisch bedingte Machtverhältnisse, wo die Person A nicht ohne die Person B psychisch existieren kann und sich daher ihrem Willen unterwirft. Machtverhältnisse gibt es z. B. auch im Wirtschaftsleben. Ein hochverschuldeter Betrieb ist von einer Bank abhängig, diese kann ihm u. U. ihren Willen diktieren. Auch hochverschuldete Länder sind gegenüber Gläubigerbanken und -staaten einem <?page no="97"?> 98 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft Machtverhältnis unterworfen. Oder, um ein Beispiel aus dem Bildungswesen zu nehmen: Ein Schüler gehorcht seinem Lehrer gegen den eigenen Willen, weil seine Versetzung bedroht ist. Entscheidend ist also: Die Objekte der Macht handeln nicht freiwillig, sondern unter Zwang. Die Quelle der Macht kann dabei ganz unterschiedlich sein: von der Androhung physischer Gewalt bis zu ökonomisch bedingten Abhängigkeiten. Entscheidend ist im Machtverhältnis die Chance, den eigenen Willen durchzusetzen. Herrschaft bedeutet hingegen für Weber »die Chance […], für spezifische (oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen Gehorsam zu finden« (WuG, S. 122, Kap. III, § 1). Das Herrschaftsverhältnis ist ein geregeltes Verhältnis von Befehl und Gehorsam, das aus freiem Willen eingehalten wird. Im Herrschaftsverhältnis gehorcht der Beherrschte also freiwillig. »Ein bestimmtes Minimum an Gehorchenwollen, also: Interesse (äußerem oder inneren) am Gehorchen, gehört zu jedem echten Herrschaftsverhältnis.« (ebd.) Das Motiv zu gehorchen, kann auf »dumpfer Eingewöhnung angefangen bis zu rein zweckrationalen Erwägungen beruhen« (ebd.). Zu gewohnheitsmäßigen, affektuellen oder zweckrationalen Motiven tritt noch ein anderes wichtiges Moment hinzu: der Legitimitätsglaube. Legitimitätsglaube bedeutet, dass die Beherrschten glauben, dass die Herrschaft gerechtfertigt ist. Das Herrschaftsverhältnis wird, im Unterschied zum Machtverhältnis, von den Beherrschten freiwillig akzeptiert. Der Legitimitätsglaube verleiht dem Herrschaftsverhältnis Dauerhaftigkeit. Ein Machtverhältnis ist dagegen eher kurzlebig, denn die Objekte im Machtverhältnis werden bei einer sich bietenden Gelegenheit versuchen, das Machtverhältnis aufzulösen und sich dem Willen der Machthaber zu entziehen. Machthaber müssen daher stets bestrebt sein, ein Machtverhältnis in ein Herrschaftsverhältnis zu verwandeln, also Legitimität zu erlangen. Denn dann ist die Chance auf Kontinuität und Dauerhaftigkeit ihrer Position ungleich größer. Der Legitimitätsglaube kann, so Weber, grundsätzlich auf drei Gründen beruhen: 1. Wir können Herrschaft akzeptieren, weil sie legal zustande gekommen ist. Auch wenn unsere politischen Ansichten ganz anders gelagert sind als die von Bundeskanzlerin Merkel, so werden wir doch den von ihrer Regierung eingebrachten, von ihrer parlamentarischen Mehrheit beschlossenen Gesetzen gehorchen, weil diese Regierung legal, nach den Grundsätzen unserer Verfassung gewählt wurde. Wäre die Regierung Merkel durch massiven Wahlbetrug zustande gekommen, sähe es anders aus. 2. Der Legitimitätsglaube kann auf eingelebter Tradition beruhen. So gehorchen wir vielleicht unseren Eltern, obwohl wir längst volljährig sind und sie uns, juristisch betrachtet, nichts mehr zu sagen haben-- weil wir ihnen immer gehorcht haben. In modernen Gesellschaften ist traditionell begründeter Legitimitätsglaube eher selten, in vormodernen Gesellschaften war er die Regel. So fügte man sich etwa selbstverständlich darin, wenn man mit einem eher unerwünschten Partner verheiratet wurde. 3. Legitimitätsglaube kann auf Charisma beruhen, z. B. dem Charisma einer Person. So wird die Herrschaft Hitlers von Historikern häufig als charismatische Herrschaft interpretiert. <?page no="98"?> 5.4 Macht und Herrschaft-- Typen legitimer Herrschaft 99 Weber differenziert also nach dem Legitimitätsgrund drei Typen legitimer Herrschaft: legale (oder rationale), traditionale und charismatische Herrschaft. Diese unterscheiden sich in charakteristischer Weise auch in Bezug auf den Verwaltungsstab. Das Handeln des Verwaltungsstabs der legalen bzw. rationalen Herrschaft ist u. a. dadurch gekennzeichnet, dass es nach bestimmten festen Regeln abläuft, ohne Ansehen der Person, dass Stellen im Verwaltungsstab nach Qualifikation vergeben werden, dass jeder Amtsperson ein Zuständigkeitsbereich zugewiesen wird, dass überhaupt Rechte, Pflichten und Zuständigkeiten formal geregelt werden. Diesen-- modernen-- Verwaltungsstab nennt Weber auch Bürokratie oder Behörde. Es gibt ihn nicht nur im Staat, sondern ebenso in großen Privatbetrieben, Parteien oder in der Armee (vgl. dazu ausführlicher Kap. 6.3). Anders sieht es beim Typus der traditionalen Herrschaft aus. Der Herrscher ist hier nicht »Vorgesetzter« wie beim Typus der legalen Herrschaft, dessen Handeln an gesatzte Regeln gebunden ist, sondern persönlicher Herr. Das Herrschaftsverhältnis bezieht sich also nicht auf einen bestimmten sachlichen Bereich, sondern auf die Person als Ganze. Der Verwaltungsstab besteht nicht aus Beamten, sondern aus persönlichen Dienern. »Nicht sachliche Amtspflicht, sondern persönliche Dienertreue bestimmen die Beziehungen des Verwaltungsstabes zum Herrn.« (WuG, S. 130, Kap. III, § 6) Gehorcht wird nicht Satzungen, sondern der Person. Die Herrschaft des Herrn ist nicht, wie in der legalen Herrschaft, an Regeln gebunden, sondern sie kann nach Gutdünken ausgeübt werden. Der Herr kann »nach freier Gnade und Ungnade, persönlicher Zu- und Abneigung, und rein persönlicher, insbesondere auch durch Geschenke […] zu erkaufender Willkür ›Gunst‹ erweisen« (WuG, S. 130, Kap. III, § 6). Die Willkür des Herrn ist allenfalls eingeschränkt durch traditionelle Normen, nicht aber durch gesatztes Recht. Der Verwaltungsstab kann sich aus Familien- und Verwandtschaftsangehörigen, Sklaven, persönlich Vertrauten, Vasallen (durch einen Treuebund verbunden) oder auch freien Beamten rekrutieren. In jedem Fall ist die Herrschaftsbeziehung primär persönlich, nicht sachlich bestimmt. Weber spricht in diesem Zusammenhang von Patrimonialismus, patrimonialem Verwaltungsstab oder patrimonialer Herrschaft. Anders als beim bürokratischen gibt es beim patrimonialen Verwaltungsstab keine Fachgeschultheit als Norm, keine festen Zuständigkeitsbereiche, die nach sachlichen Regeln zugewiesen werden, keine feste rationale Hierarchie, keine geregelte Anstellung durch freien Kontrakt und meist kein festes, in Geld gezahltes Gehalt. Der patrimoniale Verwaltungsstab ist eine typische Erscheinung vormoderner Gesellschaft. »Patrimonial« wird vereinzelt auch zur Charakterisierung für bestimmte Herrschaftsverhältnisse in modernen Zeiten verwendet. So wurden gelegentlich die Zustände in den arabischen Staaten vor den Revolutionen 2011 als »patrimonial« bezeichnet. Überhaupt zeigen moderne Diktaturen eine gewisse Affinität zum Patrimonialismus, der als Strategie zur Machtsicherung fungieren kann. Selbst moderne Demokratien können gelegentlich partiell patrimoniale Züge tragen, z. B. wenn es <?page no="99"?> 100 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft darum geht, verdiente Parteifreunde mit Pfründen in Gestalt von Posten, finanziellen Ressourcen, Machtchancen u. Ä. zu versehen. Wiederum andere Prinzipien gelten für den Verwaltungsstab der charismatischen Herrschaft. In den Worten Webers: »Der Verwaltungsstab des charismatischen Herrn ist kein ›Beamtentum‹, am wenigsten ein fachmäßig eingeschultes. Er ist weder nach ständischen, noch nach Gesichtspunkten der Haus- oder persönlichen Abhängigkeit ausgelesen. Sondern er ist seinerseits nach charismatischen Qualitäten ausgelesen: dem ›Propheten‹ entsprechen die ›Jünger‹, dem ›Kriegsfürsten‹ die ›Gefolgschaft‹, dem ›Führer überhaupt: ›Vertrauensmänner‹. Es gibt keine ›Anstellung‹ oder ›Absetzung‹, keine ›Laufbahn‹ und kein ›Aufrücken‹. Sondern nur Berufung nach Eingebung des Führers auf Grund der charismatischen Qualifikation des Berufenen.« (WuG, S. 141, Kap. III, § 10) Die traditionale Herrschaft mit patrimonialem Verwaltungsstab ist, wie gesagt, die typische Form in der vormodernen Gesellschaft. Die legale bzw. rationale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab die typische Form in der modernen Gesellschaft, und zwar in all ihren Teilsystemen. Die charismatische Herrschaft kann sowohl in der Vormoderne wie in der Moderne auftreten. Sie ist als außeralltägliche Erscheinung den beiden anderen Typen schroff entgegengesetzt. Sie ist meist nicht von Dauer, weil sie nur so lange Bestand hat, wie das Charisma des Herrschers sich bewährt. Bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, ist die charismatische Autorität schnell dahin. Außerdem unterliegt sie der Veralltäglichung und wird früher oder später in eine der beiden anderen Herrschaftsformen übergehen. Im Gegensatz zur legalen und traditionalen Herrschaft, die bestehende Ordnungen stabilisieren, stürzt die charismatische Herrschaft (innerhalb ihres Bereichs) die etablierten Verhältnisse um und trägt insofern revolutionären Charakter. Wer auf fundamentale Veränderung setzt, muss, so Weber, auf charismatische Persönlichkeiten hoffen. Macht: die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen. Diese Chance kann z. B. auf Gewalt, Gewaltandrohung oder ökonomischer Abhängigkeit beruhen. Herrschaft: die Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung für einen Befehl bei einem angebbaren Personenkreis Gehorsam zu finden. Die Bereitschaft zum Gehorsam basiert darauf, dass der Befehl von diesem Personenkreis als legitim, also gerechtfertigt anerkannt wird. Beruhen kann diese Bereitschaft zum Gehorsam kann auf drei Legitimitätsgründen: (a) weil das Herrschaftsverhältnis legal zustande gekommen ist (legale Herrschaft), (b) weil es »schon immer« bestanden hat (traditionale Herrschaft) oder (c) weil herrschenden Person über herausragende, außeralltägliche Fähigkeiten beruht (charismatische Herrschaft). <?page no="100"?> 5.5 Klasse und Stand 101 5.5 Klasse und Stand Zu den wichtigen und wirkungsmächtigen Begriffsschöpfungen Webers zählen »Klasse« und »Stand«, die an die Klassentheorie von Marx anschließen, sie aber in charakteristischer Weise variieren und differenzieren. Etwas simplifiziert und dogmatisch verkürzt besagt die Klassentheorie von Marx: Menschen, die sich in einer gemeinsamen Lage, insbesondere hinsichtlich des Besitzes und Nicht-Besitzes von Produktionsmitteln befinden, bilden eine Klasse. Es gibt demnach zwei Hauptklassen: Produktionsmittelbesitzer und -nichtbesitzer. In der modernen Gesellschaft sind das die Bourgeoisie und das Proletariat. Die gemeinsame Klassenzugehörigkeit schlägt sich mehr oder weniger in allen Dimensionen des Lebens nieder, z. B. im Vermögen, im Bildungsstatus, in politischen Partizipationschancen, in sozialer Sicherheit usw. Gemeinsame Klassenzugehörigkeit manifestiert sich zunächst also in einer gemeinsamen sozialen Lage (»Klasse an sich«), aber mit der Zeit bildet sich auch ein gemeinsames Bewusstsein heraus, das in politische Aktion mündet (»Klasse für sich«). Marx dachte, wie wir aus seinen politischen Schriften über aktuelle Klassenkämpfe wissen, klassentheoretisch viel differenzierter, aber er hat dies nicht in ein allgemeines Klassenmodell umgesetzt. Webers Klassentheorie ist differenzierter und komplexer. Er unterscheidet zunächst zwischen Klassen und Ständen. Vereinfacht gesagt, differenziert der Klassenbegriff nach Besitz, der Ständebegriff nach Prestige. Wer viel besitzt, verfügt auch über hohes Prestige. Aber nicht immer entspricht das Prestige dem Besitz. Im deutschen Kaiserreich, zur Zeit Max Webers, waren z. B. Industrielle oder Banker deutlich reicher als die adeligen preußischen Großgrundbesitzer. Dennoch konnten sie es an Prestige nicht mit diesen aufnehmen. Klasse meint jede in einer gleichen Klassenlage befindliche Gruppe von Menschen. Klassenlage »soll die typische Chance 1. der Güterversorgung, 2. der äußeren Lebensstellung, 3. des inneren Lebensschicksals heißen, welche aus Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter oder Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt« (WuG, S. 177, Kapitel IV.1, § 1). Das entspricht zunächst einmal im Kern dem Marx’schen Diktum, dass die Klassenlage über Verfügbarkeit bzw. Nichtverfügbarkeit von Produktionsmitteln bestimmt ist. Weber spricht zwar von »Gütern«, aber um selbige herzustellen, bedarf es der Produktionsmittel. Neu tritt das Kriterium der Leistungsqualifikationen hinzu. Im Unterschied zu Marx differenziert Weber den Begriff »Klasse« und unterscheidet zwischen Besitzklasse und Erwerbsklasse. »Besitzklasse soll eine Klasse insoweit heißen, als Besitzunterschiede die Klassenlage primär bestimmen […] Erwerbsklasse soll eine Klasse insoweit heißen, als die Chancen der Marktverwertung von Gütern oder Leistungen die Klassenlage primär bestimmen.« (WuG, S. 177, Kap. IV.1, § 1) Aller- <?page no="101"?> 102 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft dings hängen die Marktchancen auch entscheidend vom Besitz ab. »›Besitz‹ und ›Besitzlosigkeit‹ sind daher die Grundkategorien aller Klassenlagen, einerlei, ob diese im Preiskampf oder im Konkurrenzkampf wirksam werden.« (WuG, S. 532, Kap. VIII, § 6)-- so Weber in Marx’scher Manier. Positiv privilegierte Besitzklassen waren laut Weber Sklavenbesitzer, Besitzer von Grund und Boden, von Bergwerken, von Schiffen, Gläubiger und Aktienbesitzer, negativ privilegierte waren Unfreie, Deklassierte, Verschuldete und Arme. Zu den positiv privilegierten Erwerbsklassen zählt Weber Händler, Reeder, gewerbliche Unternehmer, landwirtschaftliche Unternehmer, besonders befähigte und ausgebildete freie Berufe wie Anwälte, Ärzte und Künstler. Negativ privilegiert sind demnach gelernte, angelernte und ungelernte Arbeiter. Die positiv und negativ privilegierten Klassen sind in sich differenziert, je nach Besitz und Marktchance. Zwischen positiv und negativ privilegierten Klassen stehen die Mittelstandsklassen: Bauern, Handwerker und Beamte. Klassenlagen generieren gemeinsame ökonomische Interessen. Anders als bei Marx folgt für Weber daraus weder ein gemeinsames Bewusstsein noch ein gemeinsames Handeln und auch nicht ein Handeln in eine bestimmte Richtung: »Bei gleicher Klassenlage und auch sonst gleichen Umständen kann nämlich die Richtung, in welcher etwa der einzelne Arbeiter seine Interessen mit Wahrscheinlichkeit verfolgen wird, höchst verschieden sein, je nachdem er z. B. für die betreffende Leistung nach seiner Veranlagung hoch, durchschnittlich oder schlecht qualifiziert ist […] Jede Klasse kann also zwar Träger irgendeines, in unzähligen Formen möglichen ›Klassenhandelns‹ sein, aber sie muß es nicht sein.« (WuG, S. 532 f., Kap. VIII, § 6) Eine Klasse als solche ist also keine Vergesellschaftung oder Vergemeinschaftung, wohl aber kann die gemeinsame Klassenlage Fundament klassenmäßiger Vergesellschaftungen oder Vergemeinschaftungen werden. Gewerkschaften sind z. B. auf gemeinsamer Klassenlage gegründete Vergesellschaftungen. Während Klasse über die gemeinsame ökonomische Lage von Menschen definiert wird, bestimmt Weber Stand über die (Selbst-)Zuschreibung einer spezifischen Ehre. Ein solches ständisches Bewusstsein war (und ist) Berufsgruppen zu eigen- - so den Zünften im Mittelalter. Die Bergarbeiter des 19. und 20. Jahrhundert verfügten über ein ausgeprägtes ständisches Bewusstsein, das sich aus den besonderen Gefahren »unter Tage« und dem Gefühl der Unentbehrlichkeit speiste. Auch das Militär entwickelt ein ständisches Bewusstsein, wiederum aufgrund der besonderen Gefahren, denen (kämpfende) Soldaten im Vergleich zu Zivilpersonen ausgesetzt sind. Siegreiche Kriege steigern die ständische Ehre des Militärs in der Regel noch. Professoren wären ein anderes Beispiel, sie empfinden sich oft als besonders gebildet und gelehrt. Bei Ständen müssen wir nicht unbedingt an Berufsgruppen denken. Ständisches Bewusstsein kann auch entstehen über den gemeinsamen Besuch einer Eliteschule oder einer Elite-Universität wie Oxford oder Cambridge. Mitglied des örtlichen Golfclubs zu sein kann ebenfalls zu ständischer Ehre im Weber’schen Sinne führen, denn längst <?page no="102"?> 5.5 Klasse und Stand 103 nicht alle können sich die Mitgliedschaft in einem solchen Verein leisten. Alteingesessene können ein ständisches Bewusstsein gegenüber Neubürgern entwickeln usw. Es gibt auch eine negative ständische Ehre. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit galten z. B. Henker, Schornsteinfeger und Müller als »unehrliche« Berufe. In diesem Zusammenhang spricht Weber auch von »›Paria‹-Völkern« und führt als ein Beispiel die Juden an. Überhaupt kann gemeinsame ethnische Zugehörigkeit Grundlage von Standesbewusstsein werden (vgl. auch Kap. 5.5). Verhalten Sinn Handeln Sich verhalten legitime Ordnung Recht Konvention (Missbilligung) Herrschaftsverband Herrschaft legale H. traditionale H. charismatische H. Macht autonom heteronom Verein Anstalt Staat heterokephal autokephal Vergesellschaftung offen, geschlossen Besitzklasse Erwerbsklasse Vergemeinschaftung Klasse Stand Partei Rasse Ethnie Nation Klasse Stand Partei Rasse Ethnie Nation offen, geschlossen zweckrationales H. wertrationales H. affektives H. traditionales H. <?page no="103"?> 104 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft Webers Definition des Begriffs »Stand« unterscheidet sich von einem weit verbreiteten, besonders in den Geschichtswissenschaften beheimateten Verständnis dieses Begriffs. Demnach ist ein Stand eine Großgruppe mit eigener Form materieller Subsistenzbegründung, eigenem Recht, eigener Ehre und spezifischer politischer Teilhabe; man wird in sie hineingeboren. Dieser Begriff wird ausschließlich auf die Vormoderne, insbesondere Europas angewendet und hat in der Moderne keinen Platz. Weber bezieht den Ständebegriff ausdrücklich auch auf die Moderne. Er möchte zeigen, dass die soziale Einschätzung nicht unbedingt der Klassenlage entspricht. »Auch Besitzende und Besitzlose können dem gleichen Stande angehören und tun dies häufig und mit sehr fühlbaren Konsequenzen, so prekär diese ›Gleichheit‹ der sozialen Einschätzung auf die Dauer auch werden mag.« (WuG, S. 535, Kap. VIII, § 6) Es geht Weber aber vor allem um den Zusammenhang von sozialer Macht und sozialer Ehre. Er untersucht Klassen und Stände als »Phänomene der Machtverteilung innerhalb einer Gemeinschaft« (WuG, S. 531, Kap. VIII, § 6). Das diesbezügliche Kapitel leitet er mit einer Definition ein: »Unter ›Macht‹ wollen wir dabei hier ganz allgemein die Chance eines Menschen oder einer Mehrzahl solcher verstehen, den eigenen Willen in einem Gemeinschaftshandeln auch gegen den Widerstand anderer daran Beteiligter durchzusetzen.« Der Besitz von Produktionsmitteln verleiht ökonomische Macht. Aber ökonomische Macht ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit sozialer Ehre. So werden Neu-Reiche von den Arrivierten oft nicht akzeptiert; sie beherrschen noch nicht die in diesen Kreisen geltenden Regeln des Anstands und guten Geschmacks und können daher Verachtung und Spott ernten. Ökonomischer Status und Prestige sind eben nicht immer konsistent. Daher ist es wichtig, Besitz und Ehre als zwei Dimensionen sozialer Ungleichheit zu unterscheiden. Auch kann soziale Ehre die Basis ökonomischer Macht sein. Ständische Ehre manifestiert sich in einer spezifischen Lebensführung und im Bedachtsein auf Distanz und Exklusivität. Die Lebensführung äußert sich insbesondere in einer spezifischen Art des Konsums. Weber pointiert »mit etwas zu starker Vereinfachung« die Sache so: »›Klassen‹ gliedern sich nach den Beziehungen zur Produktion und zum Erwerb der Güter, ›Stände‹ nach den Prinzipen ihres Güterkonsums […].« (WuG, S. 538, Kap. VIII, § 6) In der Wirklichkeit vermischen sich ständische und klassenmäßige Strukturen miteinander. Stabilität in den Grundlagen von Gütererwerb und Güterverteilung begünstigt das Vorherrschen ständischer Prinzipien. In Zeiten technisch-ökonomischer Erschütterung und Umwälzung tritt hingegen die Klassenlage in den Vordergrund (WuG, S. 539, Kap. VIII, § 6). Ständische Gliederung hemmt eine freie Marktentwicklung, denn sie ist mit Monopolbildungen verbunden. So durfte im Mittelalter und der frühen Neuzeit ein Handwerk nur von Personen ausgeübt werden, die der entsprechenden Zunft angehörten. Frühe kapitalistische Unternehmer hatten es daher schwer; sie mussten ihre wirtschaftlichen Aktivitäten oft auf das Land verlagern, wo Zunftgesetze nicht galten. <?page no="104"?> 5.6 Rasse, Ethnie und Nation 105 Rittergüter durften nicht verkauft werden, jedenfalls nicht an Bürgerliche. Das Land war so zum großen Teil ein Monopol des Adelsstands. Klassenzugehörigkeit bestimmt sich über eine gemeinsame ökonomische Lage und ein gemeinsames Interesse. Wird die Klassenlage primär durch Besitz (oder Nicht-Besitz) bestimmt, spricht Weber von Besitzklasse. Wird die Klassenlage primär von den Marktchancen bestimmt, haben wir es mit einer Erwerbsklasse zu tun. Der Begriff des Standes bezieht sich nicht auf eine gemeinsame objektive Lage, sondern auf die (subjektive) Zuschreibung einer spezifischen Ehre. Ständische Ehre manifestiert sich in einer spezifischen Lebensführung und im Bedachtsein auf Distanz und Exklusivität. 5.6 Rasse, Ethnie und Nation Während Klassenlage über eine gemeinsame sozioökonomische Lage definiert ist, bezeichnen die Begriffe »Rasse«, »Ethnie« und »Nation« soziale Gesamtheiten, die durch gemeinsame biologische oder kulturelle Merkmale bestimmt sind. Der Begriff Rasse ist seit der NS-Zeit vor allem in Deutschland höchst problematisch geworden und wird in den Sozialwissenschaften seitdem kaum verwendet. Weber war in puncto Rassenbegriff noch unbefangen, lehnte allerdings zeitgenössische Rassentheorien strikt als unwissenschaftlich (nicht als unmoralisch) ab. Es war für ihn eine schlichte biologische Tatsache, dass es unterschiedliche Rassen auf der Erde »gibt«, ähnlich wie es unterschiedliche Geschlechter »gibt«. Rassenzugehörigkeit ist aus seiner Sicht nach objektiven, biologischen Merkmalen bestimmt. Rasse ist insofern keine soziologische Kategorie. Soziologisch relevant wird sie nur, wenn und insoweit gemeinsame Rassenzugehörigkeit zur Grundlage von Vergesellschaftungen oder Vergemeinschaftungen wird. Andernfalls wäre der Rassenbegriff auch für Weber in der Soziologie gänzlich irrelevant. Dass die Rasse keine quasi naturgegebene soziologische Einheit darstellt, dafür spricht schon, so Weber, die Häufigkeit sexueller Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener Rassen, die sich in Millionen von Mischlingen manifestiert. Trotzdem kann Rasse eine wichtige soziologisch strukturierende Kategorie sein. Ein neueres Beispiel wäre das Apartheidregime in Südafrika vor 1990. In diesem Fall waren mit der Rassenzugehörigkeit unterschiedliche politische Rechte und Chancen verbunden. Zur Zeit von Weber können wir etwa an die afrikanischen Kolonien denken, in denen sich eine dünne weiße Oberschicht von den eingeborenen Schwarzen absetzte. Hier berührte sich der Begriff der Rasse mit dem Begriff des Standes, d. h. mit einer bestimmten Hautfarbe wurde eine spezifische Ehre assoziiert. Die Weißen blieben unter sich und bildeten eigene exklusive Vergemeinschaftungen. Ähnliche Tendenzen gab es auch in den Südstaaten der USA. <?page no="105"?> 106 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft Entscheidend ist-- dies soll noch einmal betont werden--, dass die »Rassenzugehörigkeit« nur insoweit soziologisch relevant ist, als sie zur Grundlage von Vergemeinschaftungen und Vergesellschaftungen wird. Rasse als solche ist keine Vergemeinschaftung oder Vergesellschaftung, aber sie kann Grundlage dafür sein. Anders als die Rasse wird die Ethnie nicht durch »objektive« biologische Kriterien bestimmt, sondern durch ein subjektives Gemeinsamkeitsgefühl, dass sich in der Regel an gemeinsamen Sitten festmacht (»Unterschiede der Bart- oder Haartracht, Kleidung, Ernährungsweise, der gewohnten Arbeitsteilung der Geschlechter und alle überhaupt ins Auge fallenden Differenzen«; WuG, S. 236, Kap. IV, § 2). Weber spricht daher in der Regel von einem »ethnischen Gemeinsamkeitsgefühl«. Ein solches entwickelt sich häufig unter Auswanderern. Weber nennt als Beispiel die Deutsch-Amerikaner, die vor dem Ersten Weltkrieg häufig in eigenen Stadtvierteln wohnten und über eigene Vergemeinschaftungen und Vergesellschaftungen verfügten, z. B. Vereine, Schulen, Krankenhäuser. Weber grenzt die Ethnie auch von der Sippe ab. Eine Sippe ist eine Vergemeinschaftung, »zu deren Wesen ein reales Gemeinschaftshandeln gehört. Die ethnische Gemeinsamkeit (im hier gemeinten Sinn) ist demgegenüber nicht selbst Gemeinschaft, sondern nur ein die Vergemeinschaftung erleichterndes Moment.« (WuG, S. 237, Kap. IV, § 2) Dem Begriff der Ethnie bzw. des ethnischen Vergemeinschaftungsgefühls nahe steht der Begriff der Nation. Beiden gemeinsam ist die Vorstellung einer Abstammungsgemeinschaft. Nation wird, so Weber, meist definiert als Sprachengemeinschaft, als politischer Verband, über die Eigenart der Sitten, über gemeinsame politische Erinnerungen oder über Konfession. All diese Kriterien bilden aber keine sichere Basis für einen Nationenbegriff. Nicht immer etwa gehen gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Bewusstsein miteinander einher. Weber führt als Beispiele die polnische Minderheit im Deutschen Reich und die deutsche Minderheit im damals russischen Baltikum an. Die Polen waren zeitweise loyale Preußen und Mitglieder des Deutschen Reichs. Die baltischen Deutschen entwickelten kein deutsches Nationalbewusstsein, sondern fühlten sich dem Zaren verbunden und verpflichtet. Umgekehrt gibt es im Einzelfall auch politische Verbände mit Angehörigen unterschiedlicher Sprachen, die trotzdem ein gemeinsames Nationalgefühl entwickeln, z. B. die Schweiz. Nationales Bewusstsein geht häufig mit eigener Staatlichkeit oder der Forderung danach einher, aber es gibt auch Bevölkerungsgruppen mit eigenem Nationalgefühl, die keinen Anspruch auf einen eigenen Nationalstaat erheben. Es ist also schwierig, den Begriff der Nation wissenschaftlich zu definieren. Weber versucht es mit einer schrittweisen Eingrenzung. Nation ist jedenfalls kein Tatbestand, den man an objektiven Kriterien festmachen kann. Nation ist vielmehr als eine subjektiv empfundene Vergemeinschaftung zu verstehen, die sich aufgrund bestimmter Merkmale, die im Einzelnen variieren können, »nach außen« abgrenzt. Solche <?page no="106"?> 5.6 Rasse, Ethnie und Nation 107 Merkmale können etwa die Sprache, machtpolitische Ambitionen oder, z. B. im Fall der Schweiz, spezifische Kulturwerte sein. Mit dem Gefühl, eine gemeinsame Nation zu sein, ist in der Regel ein spezifisches Kulturprestige verbunden. Während sich ein ethnisches Gemeinschaftsgefühl vor allem an gemeinsamen Sitten festmacht, bezieht sich Nationalgefühl auf besondere Kulturleistungen der eigenen Nation. Das Kulturprestige speist sich häufig aus siegreichen Kriegen. Der genaue Unterschied zwischen Ethnie und Nation bei Weber wird nicht recht klar, auch weil es sich bei dessen Ausführungen über die Nation um einen Torso handelt. Die Unterschiede kann man in der Tendenz wie folgt sehen: Eine Ethnie ist naturwüchsig entstanden, quasi »immer schon da«, ohne dass man genau sagen kann, wann sie beginnt. Eine Nation hingegen konstituiert sich; »es scheint also, daß eine Menschengruppe die Qualität als ›Nation‹ unter Umständen durch ein spezifisches Verhalten ›erringen‹ oder als ›Errungenschaft‹ in Anspruch nehmen kann, und zwar innerhalb kurzer Zeitspannen.« (WuG, S. 529, Kap VIII, § 5) Häufig ist die kollektive Bewusstwerdung als Nation mit der Forderung nach einem Nationalstaat verknüpft. Nation versteht sich als historischer, auf die Moderne bezogener Begriff, während Ethnie universal anwendbar ist. Joachim Radkau über Max Weber und die Nation »Die Primärerfahrung, die für Weber in den Begriff der Nation Verwirrung brachte, war die Begegnung mit den Elsässern im Militärdienst. Auf dieses Beispiel kommt er bei dem Thema Nation immer wieder zurück. Das war für alle national denkenden Deutschen ein wunder Punkt; denn als das Elsaß 1871 zwangsweise zum neuen Deutschen Reich kam, wurde offenkundig, daß die Elsässer, obwohl ein urdeutscher Stamm […], sich mit Stolz, wenn auch mit eigenem Regionalbewußtsein der französischen Nation zugehörig fühlten. Dabei war damals im Unterschied zu heute im Elsaß der deutsche Dialekt noch in aller Munde; diese Region bot jedoch das Exempel dafür, dass Sprache und Abstammung als solche kein Nationalgefühl hervorbringen. Aber was ist es dann, was eine Nation ausmacht; worin besteht die entscheidende Qualität? Auch Weber fand darauf nie eine klare Antwort, mit der er über die nahezu tautologische Definition hinausgekommen wäre: Eine Nation entsteht daraus, dass eine Menschengruppe eine Nation sein will. Ein solcher Wille ist für einen Sozialwissenschaftler kein befriedigender letzter Grund.« (Radkau 2005, S. 530) <?page no="107"?> 108 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft Rasse definiert Weber über gemeinsame biologische Merkmale. Der Begriff der Rasse wird erst dann soziologisch relevant, wenn ein gemeinsames Rassenbewusstsein zum Ausgangspunkt von Vergemeinschaftungen oder Vergesellschaftungen wird. Ethnie wird, anders als Rasse, nicht durch »objektive« biologische Kriterien bestimmt, sondern durch ein überliefertes (subjektives) Gemeinschaftsgefühl, das sich in der Regel an gemeinsamen Sitten festmacht. Nation versteht sich, im Unterschied zum universal anwendbaren Begriff der Ethnie, als auf die Moderne bezogener Begriff. Während eine Ethnie historisch gewachsen ist, konstituiert sich eine Nation als solche, oft verbunden mit dem Anspruch auf einen eigenen Nationalstaat. Soziologische Grundbegriffe, definiert von Max Weber Soziologie: »eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will« (WuG, S. 1, Kap. I, § 1). Handeln: »soll […] ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußerliches oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden« (WuG, S. 1, Kap. I, § 1). Sinn: »ist hier entweder a) der tatsächlich aa. in einem historisch gegebenen Fall von einem Handelnden oder bb. durchschnittlich und annähernd in einer gegebenen Masse von Fällen von den Handelnden oder b) in einem begrifflich konstruierten reinen Typus von dem oder den als Typus gedachten Handelnden subjektiv gemeinte Sinn. Nicht etwa irgendein objektiv ›richtiger‹ oder ein metaphysisch ergründeter ›wahrer‹ Sinn« (WuG, S. 1, Kap. I, § 1). Zweckrationales, wertrationales, affektuelles, traditionales Handeln: »Wie jedes Handeln kann auch das soziale Handeln bestimmt sein 1. zweckrational: durch Erwartungen des Verhaltens von Gegenständen der Außenwelt und von anderen Menschen und unter Benutzung dieser Erwartungen als ›Bedingungen‹ oder als ›Mittel‹ für rational, als Erfolg, erstrebte und abgewogene eigne Zwecke,- - 2. wertrational: durch bewußten Glauben an den ethischen, ästhetischen, religiösen oder wie immer sonst zu deutenden-- unbedingten Eigenwert eines bestimmten Sichverhaltens rein als solchen und unabhängig vom Erfolg,-- 3. affektuell, insbesondere emotional: durch aktuelle Affekte und Gefühlslagen,-- 4. traditional: durch eingelebte Gewohnheit.« (WuG, S. 12, Kap. I, § 2) <?page no="108"?> Soziologische Grundbegriffe, definiert von Max Weber Rasse, Ethnie und Nation 109 Soziales Handeln: »soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist« (WuG, S. 1, Kap. I, § 1). Soziale Beziehung: »soll ein in seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, daß in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beruht. Ein Mindestmaß von Beziehung des beiderseitigen Handelns aufeinander soll also Begriffsmerkmal sein« (WuG, S. 13, Kap. I, § 3). Vergemeinschaftung, Vergesellschaftung: »›Vergemeinschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns-- im Einzelfall oder im Durchschnitt oder im reinen Typus-- auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht. ›Vergesellschaftung‹ soll eine soziale Beziehung heißen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenausgleich oder auf ebenso motivierter Interessenverbindung beruht. Vergesellschaftung kann typisch insbesondere (aber nicht: nur) auf rationaler Vereinbarung durch gegenseitige Zusage beruhen.« (WuG, S. 21, Kap. 1, § 9) Verband: »soll eine nach außen regulierend beschränkte oder geschlossene soziale Beziehung dann heißen, wenn die Innehaltung ihrer Ordnung garantiert wird durch das eigens auf deren Durchführung eingestellte Verhalten bestimmter Menschen: eines Leiters und, eventuell, eines Verwaltungsstabes, der gegebenenfalls normalerweise zugleich die Vertretungsgewalt hat« (WuG, S. 26, Kap. I, § 12). Verein: »soll ein vereinbarter Verband heißen, dessen gesatzte Ordnungen nur für die kraft persönlichen Eintritts Beteiligten Geltung beanspruchen« (WuG, S. 28, Kap. I, § 15). Anstalt: »soll ein Verband heißen, dessen gesatzte Ordnungen innerhalb eines angebbaren Wirkungsbereiches jedem nach bestimmten Merkmalen angebbaren Handeln (relativ) erfolgreich oktroyiert werden« (WuG, S. 28, Kap. I, § 15). Macht: »bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht« (WuG, S. 28, Kap. I, § 16). Herrschaft: »soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden« (WuG, S. 28, Kap. I, § 16). <?page no="109"?> 110 5. Soziologische Grundbegriffe-- Wirtschaft und Gesellschaft Herrschaftsverband: »Ein Verband soll insoweit, als seine Mitglieder als solche kraft geltender Ordnung Herrschaftsbeziehungen unterworfen sind, Herrschaftsverband heißen.« (WuG, S. 29, Kap. I, § 16) Staat: »soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt« (WuG, S. 29, Kap. I, § 17). Schriften Webers Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1985. (=-WuG) Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung I, Schriften und Reden, Band 22, Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften, Nachlass, hg. von Hans G. Kippenberg in Zusammenarbeit mit Petra Schilm unter Mitwirkung von Jutta Niemeier, Mohr (Siebeck): Tübingen 2001 (=-MWG I/ 22-2). Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Band 22, Teilband 3: Recht, Wirtschaft und Gesellschaft, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Nachlass, hg. von Werner Gephart und Siegfried Hermes, Mohr (Siebeck): Tübingen 2010 (=-MWG I/ 22-3). Max Weber Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Band 22, Teilband 4: Herrschaft, Wirtschaft und Gesellschaft, Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, Nachlass, hg. von Edith Hanke und Thomas Kroll, Mohr (Siebeck): Tübingen 2005 (=-MWG I/ 22-4). Weiterführende Literatur Stefan Breuer: Max Webers Herrschaftssoziologie, Frankfurt/ New York 1991. Klaus Lichtblau (Hg.): Max Webers »Grundbegriffe«. Kategorien der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung, Wiesbaden 2006. Edith Hanke: Einleitung, in: Max Weber. Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass, Teilband 4: Herrschaft, in: Max Weber Gesamtausgabe Abteilung I: Schriften und Reden, Band 22/ 4, Tübingen 2005, S. 1-91 (in Zusammenarbeit mit Thomas Kroll). Hiroshi Orihara: Eine Grundlegung zur Rekonstruktion von Max Webers »Wirtschaft und Gesellschaft«. Die Authentizität der Verweise im Text des «2. und 3. Teils« der 1. Auflage, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 46 (1994), S. 103-121. Wolfgang Schluchter: Einleitung zu: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Entstehungsgeschichte und Dokumente, MWG I/ 24, Tübingen 2009, S. 1-131. Johannes Winckelmann: Max Webers hinterlassenes Hauptwerk: Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Entstehung und gedanklicher Aufbau, Tübingen 1986. <?page no="110"?> 111 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne 6.1 Okzidentaler Rationalismus 6.2 Differenzierung der Wertsphären 6.3 Bürokratisierung 6.4 Moderner Staat, Berufspolitik und plebiszitäre Führerdemokratie 6.5 Der Mensch in der modernen Welt Wir haben gesehen (Kap. 3), dass Max Weber sich im Zusammenhang mit der Protestantischen Ethik für die Frage interessierte, warum ausgerechnet im Okzident der moderne Kapitalismus entstehen konnte. Der moderne Kapitalismus bildete also den Fokus, jedoch nicht so sehr als ökonomisches System als vielmehr als Bedingungsrahmen moderner menschlicher Existenz. Welches »Menschentum« bringt der moderne Kapitalismus hervor? In seinem letzten Lebensjahrzehnt nahm Weber eine doppelte Ausweitung dieses Forschungsprogramms vor. Zum einen bezog er nun alle Weltreligionen ein, nicht nur den Protestantismus. Zum anderen ersetzte er als Schlüsselkonzept den modernen Kapitalismus durch den okzidentalen Rationalismus. Der moderne Kapitalismus ist für den späten Weber »nur« eine Teilerscheinung des okzidentalen Rationalismus. Für Webers Theorie des okzidentalen Rationalismus sind die religionssoziologischen Arbeiten, die in drei Bänden gesammelt wurden, besonders relevant. Der okzidentale Rationalismus wie der Rationalismus überhaupt hat, so Weber, ursprünglich religiöse Wurzeln. Die drei Bände enthalten längere Aufsätze über einzelne Weltreligionen, nämlich Konfuzianismus, Taoismus, Hinduismus und Buddhismus, außerdem Ausführungen zum antiken Judentum. Weber visierte auch Arbeiten über den Islam und das Christentum an, führte diese aber nicht mehr aus. Dafür finden sich drei Texte, in denen Weber seine religionssoziologischen Forschungen theoretisch reflektiert und die für sein theoretisches Verständnis der modernen Welt von besonderer Bedeutung sind: eine Vorbemerkung, in der er die Eigenart des Okzidents skizziert (GARS I, S. 1-16), eine Einleitung in die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in der er allgemein die Bedeutung der Erlösungsreligionen für die Entstehung des okzidentalen Rationalismus thematisiert (GARS I, S. 237-275), und eine Zwischenbetrachtung, in der er die Studien über einzelne Erlösungsreligionen auf die moderne Kultur bezieht (GARS I, S. 536-573). Die moderne Welt ist aus Webers Sicht bestimmt durch eine zunehmende Rationalisierung, durch eine Differenzierung in Bereiche mit unterschiedlichen Handlungsorientierungen (»Wertsphären«) als Konsequenz und Ausdruck dieser Rationalisierung sowie durch »Eigengesetzlichkeiten«, die diese Sphären prägen. Da Weber die angeführten drei Texte erst kurz vor seinem Tod verfasste, geben sie quasi seinen abschließenden Forschungs- und Erkenntnisstand wieder. <?page no="111"?> 112 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne In diesem Kapitel stellen wir zunächst Webers Schlüsselkonzept des okzidentalen Rationalismus vor (6.1). Ausdruck der Rationalisierung der Welt ist ihre Differenzierung in Wertsphären (6.2), aber auch die Bürokratisierung (6.3). Das Phänomen der Bürokratisierung betrifft nicht allein die Sphäre der Politik, sondern alle Wertsphären. Neben der Wirtschaft hat die Sphäre der Politik die besondere Aufmerksamkeit des späten Weber auf sich gezogen (6.4). Bei alledem fragte Weber auch, was der Wandel der Lebensführung und die modernen Strukturen für Freiheitsraum, Psyche und Sozialcharakter des Menschen bedeuten (6.5). Max Weber über die soziologische Bedeutung der »Rationalisierung« »Unser europäisch-amerikanisches Gesellschafts- und Wirtschaftsleben ist in einer spezifischen Art und in einem spezifischen Sinn ›rationalisiert‹. Diese Rationalisierung zu erklären und die ihr entsprechenden Begriffe zu bilden, ist daher eine der Hauptaufgaben unserer Disziplinen« (Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, 1918, in: WL, S. 525). 6.1 Okzidentaler Rationalismus Webers Schlüsselbegriff zur theoretischen Erfassung der modernen Welt ist der okzidentale Rationalismus. Er löst in dieser Hinsicht das Kapitalismuskonzept ab, das noch zur Zeit, in der er die Protestantische Ethik verfasste, erkenntnisleitend war. Der Kapitalismusbegriff wird weiterhin geführt und bleibt von hervorragender Bedeutung, aber der moderne Kapitalismus ist nunmehr »nur« Teil einer umfassenderen Erscheinung, des okzidentalen Rationalismus. »Was letzten Endes den Kapitalismus geschaffen hat, ist die rationale Dauerunternehmung, rationale Buchführung, rationale Technik, das rationale Recht, aber auch nicht sie allein; es musste ergänzend hinzutreten die rationale Gesinnung, die Rationalisierung der Lebensführung, das rationale Lebensethos.« (Max Weber, Wirtschaftsgeschichte, S. 302) Was bedeutet okzidentaler Rationalismus? Im Gegensatz zu seinen sonstigen Gepflogenheiten-- man denke nur an Wirtschaft und Gesellschaft (vgl. Kap. 5)-- legt Weber keine Definition vor, ja er erklärt den okzidentalen Rationalismus geradezu für undefinierbar, wie wir später sehen werden (Kap. 6.2). Einen Definitionsversuch unternimmt das Lexikon für Soziologie: Demnach bedeutet okzidentaler Rationalismus »ein den modernen abendländischen Kapitalismus hervorbringendes, auf Beherrschung abstellendes Weltverhältnis, das zunächst im ökonomischen Bereich erscheint sowohl in Form einer marktmäßigen, auf rationaler Betriebsorganisation und formell freier Arbeit gründenden Kapitalverwertung als auch im Geiste innerweltlicher aktiver Askese auf der Basis der Idee der Berufspflicht, um sodann die übrigen Lebensordnungen wie Politik, Wissenschaft, Kunst etc. zu durchdringen <?page no="112"?> 6.1 Okzidentaler Rationalismus 113 und nach universeller Bedeutung und Gültigkeit zu streben« (Fuchs-Heinritz u. a. 2007, S. 532 f.). Man kann den Begriff des okzidentalen Rationalismus mit drei Metaphern umschreiben, die sich in dieser Art bei Weber finden: Entzauberung, Weltbeherrschung und methodische Lebensführung. Die frühen Menschen sahen die Welt als von Geistern durchwirkt an. In diesem Sinne war die Welt für sie verzaubert. Sie mussten zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder ihre Gunst zu erbitten und so die Welt zu beeinflussen. Der moderne, wissenschaftlich aufgeklärte Mensch sieht hingegen die Welt als einen Raum, der von Naturgesetzen beherrscht wird. In dieser Welt haben Geister und Götter keinen Platz mehr. In diesem Sinn ist sie entzaubert. Die Entzauberung macht die Welt auf neue Art erfassbar, berechenbar und beherrschbar. Indem Geister und Götter aus der Natur verschwinden, wird Natur erfahrungswissenschaftlich und experimentell wahrnehmbar. Indem sie erfahrungswissenschaftlich und experimentell erforscht wird, wird sie technisch beherrschbar. Solange z. B. bestimmte Areale in China als von Geistern durchsetzt wahrgenommen wurden, konnte auf diesen keine Eisenbahn gebaut werden. Die moderne Wissenschaft wird zu einem Mittel, um die Natur technisch zu beherrschen und auszubeuten. Rationalisierung ist somit ein Prozess zunehmender Weltbeherrschung. Davon ist nicht nur die äußere, natürliche Welt betroffen, sondern auch die innere, psychische Welt. Eine dritte Metapher, mit der man den Rationalismus umschreiben kann, ist die methodische Lebensführung. »Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung gehörten in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen.« (GARS I, S. 134) Dagegen meint methodische Lebensführung ein systematisch auf Effizienz- und Leistungssteigerung ausgerichtetes Handeln mit geplanten Mittel-Zweck-Beziehungen. Nicht nur einzelne Handlungen werden zweckrational organisiert-- das gab es auch in der Vormoderne--, sondern das Leben als Ganzes wird auf ein übergreifendes Ziel ausgerichtet und dieses wird mit einem zweckrationalen Kalkül verfolgt. Ohne die Fähigkeit des Menschen zu praktisch-rationaler Lebensführung ist der moderne Kapitalismus nicht denkbar. Wenn Weber den Prozess der Moderne als Rationalisierung im eben skizzierten Sinn versteht, so ist das für sich genommen noch nicht ungewöhnlich. Schon Comte und vor ihm die Aufklärungsphilosophen dachten ähnlich. Man nahm an, dass die Vernunft in der Natur des Menschen liegt und sich in der Geschichte schrittweise entfaltet. Oder man dachte, dass der Mensch als Mängelwesen im Kampf gegen die Unbilden der Natur immer mehr Rationalität entwickelt. So gesehen ist der Prozess der Rationalisierung nichts Überraschendes, sondern geradezu logisches Produkt der Beschaffenheit des Menschen und der Welt, in der er lebt. Interessant ist jedoch, dass Weber den Rationalisierungsprozess auf religiöse Wurzeln zurückführt. Denn Reli- <?page no="113"?> 114 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne gion als die Sphäre des Glaubens erscheint ja zumindest auf den ersten Blick als »irrational«. Ausgangspunkt der Theorie des okzidentalen Rationalismus sind Webers Forschungen über die Weltreligionen. Die großen Weltreligionen-- Christentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus, Taoismus-- sind, wie auch das Judentum, Erlösungsreligionen, welche die in einfachen Kulturen herrschende Welt der Magie, den Geister- und Dämonenglauben ablösen. Erlösungsreligionen sind Glaubensformen, welche die Welt, so wie sie ist, verneinen und nach einer Befreiung von Leiden und Sünde streben. Sie versuchen, die Welt als einen sinnvoll geordneten Kosmos zu begreifen. Erlösungsreligionen fordern von den Gläubigen eine methodische Lebensführung, um erlöst zu werden. Als Beispiel dafür kann man sich das klösterliche Leben vor Augen halten: Die christlichen Mönche sollten arm und keusch leben, sie fasteten zu bestimmten Zeiten, sie trafen sich regelmäßig, oft auch nachts, zu Gebeten- - alles, um Gottes Gnade zu erlangen. Diese methodische Lebensführung im Dienste religiöser Heilserwartung bezieht sich zunächst auf die innere Welt, auf das Seelenleben des einzelnen Gläubigen. Sie wird aber ebenso auf das äußere Dasein ausgeweitet. Dies geschieht in Ansätzen auch in nichteuropäischen Kulturen, aber nirgends so radikal und ausgreifend wie im Okzident (s. u.). »Die Sekten der religiösen Virtuosen bildeten im Okzident die Fermente für die methodische Rationalisierung der Lebensführung einschließlich auch des Wirtschaftshandelns.« (GARS I, S. 264) Die Besonderheit des Okzidents liegt in der Verbindung des theoretischen Denkens im alten Griechenland mit einer an bestimmten Zwecken orientierten methodischen Lebensführung. In diesem Kontext spricht Weber vom okzidentalen Rationalismus. Methodische Lebensführung ist also eine Praxis, die zunächst vornehmlich auf den religiösen Bereich beschränkt ist. Dabei bleibt es im Wesentlichen in den nichteuropäischen Kulturen. Im Okzident hingegen bricht sie aus der inneren Welt aus und fasst in der äußeren Welt Fuß. Das ist die Wurzel des okzidentalen Rationalismus. Der Rationalismus entfaltet sich nicht nur in der Ökonomie, sondern überhaupt in allen vom Menschen gemachten Lebensbereichen wie Wissenschaft, Staat, Recht und Kunst. Moderne okzidentale Wissenschaft sieht Weber durch drei Qualitäten gekennzeichnet: mathematische Fundierung, rationale Beweisführung und rationales Experiment. Mathematische Fundierung und rationale Beweisführung gehen auf das alte Griechenland zurück. Das rationale Experiment ist eine Errungenschaft der Renaissance, die besonders in modernen Laboratorien ihren bleibenden Ort gefunden hat. Ferner ist ein rationaler und systematischer Fachbetrieb der Wissenschaft eine typisch und exklusiv okzidentale Erscheinung. Auch der moderne Staat ist ein Phänomen, das sich nur im Okzident findet. »Der ›Staat‹ überhaupt im Sinn einer politischen Anstalt, mit rational gesetzter ›Verfassung‹, rational gesatztem Recht und einer an rationalen, gesatzten Regeln: ›Gesetzen‹, <?page no="114"?> 6.1 Okzidentaler Rationalismus 115 orientierten Verwaltung durch Fachbeamte, kennt, in dieser für ihn wesentlichen Kombination der entscheidenden Merkmale, ungeachtet aller anderweitigen Ansätze dazu, nur der Okzident.« (GARS I, S. 3 f.) Periodisch gewählte Parlamente mit Volksvertretern und Parteien sind ebenfalls spezifisch okzidental und modern (vgl. Kap. 6.4). Und natürlich ist die moderne kapitalistische Ökonomie ein spezifisch okzidentales Phänomen. Gewinnstreben als ein kapitalistisches Merkmal hat es zu allen Zeiten gegeben. Aber kontinuierliches Streben nach immer neuem Gewinn auf dem Weg rationaler Betriebsführung gab es, so Weber, nur im Okzident. Zur modernen Wirtschaft zählen weiterhin die rational-kapitalistische Organisation von formal freier Arbeit, die Trennung von Haushalt und Betrieb und die rationale Buchführung. Der moderne rationale Kapitalismus kann nicht für sich existieren, er bedarf eines berechenbaren Rechts und eines Staats, der dieses Recht auch durchsetzt. Recht ist also eine weitere eigene Sphäre. Modernes Recht ist im Gegensatz zu gewachsenem Recht »gesatztes« Recht, von einer bestimmten Institution methodisch und systematisch entwickelt. Die Entstehung rationaler Weltauffassung und methodischer Lebensführung aus den Erlösungsreligionen »In der Vergangenheit waren überall magische und religiöse Mächte und die im Glauben an sie verankerten Pflichtvorstellungen die wichtigsten Formkräfte der Lebensführung. Und überall vollzog sich derselbe Prozeß: die allmähliche Sublimierung eines primitiven Geister- und Dämonenglaubens zur Erlösungsreligiosität, d. h. zu einer Religiosität, welche die Welt, so wie sie nun einmal ist, verneint und nach einer im Diesseits oder Jenseits erreichbaren Befreiung von Leiden und Sünde strebt. Sobald der Mensch über den Tag hinausdenkt, taucht in ihm der Anspruch auf, daß das Weltgefüge ein sinnvoll geordneter Kosmos sei oder werden könne. Er fragt nach dem Verhältnis von Glück und Verdienst, sucht eine die Vernunft befriedigende Rechtfertigung von Leiden, Sünde, Tod, schafft eine ›Theodizee‹. Mit anderen Worten: religiöse Gefühle und Erlebnisse werden denkend bearbeitet, der Rationalisierungsprozeß löst die magischen Vorstellungen auf, ›entzaubert‹ und entgöttert zunehmend die Welt. Religion wandelt sich aus Magie in Lehre. Und nun zeigen sich nach Zerfall des primitiven Weltbildes zwei Tendenzen: Einmal zur rationalen Beherrschung der Welt und andrerseits zum mystischen Erlebnis. Aber nicht nur die Religionen empfangen ihren Stempel durch das sich zunehmend entfaltende Denken-- der Rationalisierungsprozeß bewegt sich in mehreren Geleisen, und seine Eigengesetzlichkeit ergreift alle Kulturgebilde: Wirtschaft, Staat, Recht, die Wissenschaft und die Kunst.« (Marianne Weber 1989, S. 348) <?page no="115"?> 116 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne Max Weber beschreibt die Besonderheiten der okzidentalen Rationalisierung »Nur im Okzident gibt es ›Wissenschaft‹ in dem Entwicklungsstadium, welches wir heute als ›gültig‹ anerkennen. Empirische Kenntnisse, Nachdenken über Welt- und Lebensprobleme, philosophische und auch […] theologische Lebensweisheit tiefster Art, Wissen und Beobachtung von außerordentlicher Sublimierung hat es auch anderwärts, vor allem: in Indien, China, Babylon, Aegypten, gegeben. Aber: der babylonischen und jeder anderen Astronomie fehlte […] die mathematische Fundierung, die erst die Hellenen ihr gaben. Der indischen Geometrie fehlte der rationale ›Beweis‹: wiederum ein Produkt hellenischen Geistes, der auch die Mechanik und Physik zuerst geschaffen hat. Den nach der Seite der Beobachtung überaus entwickelten indischen Naturwissenschaften fehlte das rationale Experiment: nach antiken Ansätzen wesentlich ein Produkt der Renaissance, und das moderne Laboratorium, daher der namentlich in Indien empirisch-technisch hochentwickelten Medizin die biologische und insbesondere biochemische Grundlage. Eine rationale Chemie fehlt allen Kulturgebieten außer dem Okzident […]. Produkte der Druckerkunst gab es in China. Aber eine gedruckte: eine nur für den Druck berechnete, nur durch ihn lebensmögliche Literatur: ›Presse‹ und ›Zeitschriften‹ vor allem, sind nur im Okzident entstanden. Hochschulen aller möglichen Art, auch solche, die unsern Universitäten oder doch unsern Akademien äußerlich ähnlich sahen, gab es auch anderwärts (China, Islam). Aber rationalen und systematischen Fachbetrieb der Wissenschaft: das eingeschulte Fachmenschentum, gab es in irgendeinem an seine heutige kulturbeherrschende Bedeutung heranreichenden Sinn nur im Okzident. Vor allem: den Fachbeamten, den Eckpfeiler des modernen Staates und der modernen Wirtschaft des Okzidents. Für ihn finden sich nur Ansätze, die nirgends in irgendeinem Sinn so konstitutiv für die soziale Ordnung wurden wie im Okzident […]. Der ›Staat‹ überhaupt im Sinn einer politischen Anstalt, mit rational gesatzter ›Verfassung‹, rational gesatztem Recht und einer an rationalen, gesatzten Regeln: ›Gesetzen‹, orientierten Verwaltung durch Fachbeamte, kennt, in dieser für ihn wesentlichen Kombination der entscheidenden Merkmale, ungeachtet aller anderweitigen Ansätze dazu, nur der Okzident. Und so steht es nun auch mit der schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens: dem Kapitalismus […]. Es hat in aller Welt Händler: Groß und Detailhändler, Platz und Fernhändler, es hat Darlehensgeschäfte aller Art, es hat Banken mit höchst verschiedenen, aber doch denjenigen wenigstens etwa unseres 16. Jahrhunderts im Wesen ähnlichen Funktionen gegeben; Seedarlehen, Kommenden und kommanditeartige Geschäfte und Assoziationen, sind auch betriebsmäßig, weit verbreitet gewesen.-… Aber der Okzident kennt in der Neuzeit daneben eine ganz andere und <?page no="116"?> 6.2 Differenzierung der Wertsphären 117 6.2 Differenzierung der Wertsphären Da sich das Handeln von der Religion als einzige gültige Werte generierende Instanz emanzipiert, treten neue Werte hervor, die nicht mehr religiös gebändigt werden und eigene Wertsphären hervorbringen. Weber spricht von einer Differenzierung der Wertsphären. Als solche bezeichnet er Wirtschaft, Staat, Recht, Wissenschaft, Erotik und Kunst. Diese Wertsphären bilden zugleich spezifische Rationalitäten heraus. So wird die Wirtschaft durch das Streben nach Gewinn bestimmt, die Politik durch das Streben nach Macht und die Wissenschaft durch das Streben nach Wahrheit. Die Sphäre des Rechts wiederum orientiert sich an Gesetzen, die der Kunst an der Schönheit und die der Erotik an der Lusterfüllung. Die von Weber als Wertsphären bezeichneten Bereiche stehen in einer wechselseitigen Abhängigkeit. Weber demonstriert das am Beispiel der Wirtschaft: »Denn der moderne rationale Betriebskapitalismus bedarf, wie der berechenbaren technischen Arbeitsmittel, so auch des berechenbaren Rechts und der Verwaltung nach formalen Regeln, ohne welche zwar Abenteurer- und spekulativer Händlerkapitalismus und alle möglichen Arten von politisch bedingtem Kapitalismus, aber kein rationaler privatwirtschaftlicher Betrieb mit stehendem Kapital und sicherer Kalkulation möglich ist […].« Andererseits haben »auch kapitalistische Interessen ihrerseits unzweifelhaft der Herrschaft des an rationalem Recht fachgeschultem Juristenstandes in Rechtspflege und Verwaltung die Wege geebnet […].« (GARS I, S. 11) Es besteht hier eine gewisse Nähe zu Luhmanns Theorie der modernen Gesellschaft, die dieser in unterschiedliche Funktionssysteme mit eigenen binären Codes differenziert sieht: Kommunikationszusammenhänge, die mit einem eigenen binären (zweiwertigen) Code operieren wie Politik (Macht/ Nicht-Macht), Wirtschaft (Zahlen, Nicht-Zahlen), Recht (Recht/ Nicht-Recht), Wissenschaft (Wahrheit/ Unwahrheit) usw. Webers »Wertsphären« kommen dieser Vorstellung laut Schimank (1996, S. 156) bereits »sehr nahe«. nirgends sonst auf der Erde entwickelte Art des Kapitalismus: die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit. Nur Vorstufen dafür finden sich anderwärts […]. Die moderne rationale Organisation des kapitalistischen Betriebs wäre nicht möglich gewesen ohne zwei weitere wichtige Entwicklungselemente: die Trennung von Haushalt und Betrieb, welche das heutige Wirtschaftsleben schlechthin beherrscht und, damit eng zusammenhängend, die rationale Buchführung.« (Vorbemerkung, 1920, in: GARS I, S. 1-8) <?page no="117"?> 118 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne Niklas Luhmanns Theorie funktionaler Differenzierung Luhmanns soziologische Systemtheorie »geht davon aus, dass die moderne Gesellschaft von ›funktionaler Differenzierung‹ geprägt ist, das heißt, sehr kurz gesagt, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsysteme wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Religion, Kunst oder Erziehung alle nach ihrer sehr spezifischen Eigenlogik funktionieren. Es gibt keine Hierarchie dieser Systeme, keines kann durch ein anderes ersetzt werden, keines grundlegend in ein anderes durchgreifen wie in der Vormoderne, wo etwa die Religion festlegen konnte, was wissenschaftliche Wahrheit ist (Galilei! ). Das bedeutet auch, dass es keine übergeordnete Vernunft über den Systemen und keine zentrale Steuerung der Gesellschaft gibt oder geben kann-- auch nicht durch die Politik, selbst wenn sie gerne den Anschein erweckt, dazu in der Lage zu sein.« (Kruckis 2011, S. 8) Es gibt allerdings einen grundsätzlichen Unterschied. Hinter Luhmanns Theorie steht die Frage: Was bedeutet es für die moderne Gesellschaft, dass sie funktional differenziert ist? Die Antwort besagt u. a., dass funktional differenzierte Gesellschaften leistungsfähiger, aber auch krisenanfälliger sind als segmentär oder stratifikatorisch differenzierte Gesellschaften (Stammesgesellschaften und Adelsgesellschaften). Weber interessiert weniger die Frage, wie eine in Wertsphären differenzierte Gesellschaft funktioniert. Seine Frage ist vielmehr: Was bedeutet es für den Menschen, dass er in einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Wertsphären lebt? Ist es dem Menschen noch möglich, in einer Gesellschaft mit differenzierten Wertsphären nach religiösen Idealen, z. B. der christlichen Brüderlichkeitsethik, zu leben, und wenn ja, wie? Die Rationalisierung und Differenzierung der Wertsphären führt zu einem zunehmenden Spannungsverhältnis zwischen Religion und den Sphären der Welt, welches der einzelne Mensch aushalten muss. Am offensichtlichsten ist dies, so Weber, in der ökonomischen Sphäre: »Rationale Wirtschaft ist sachlicher Betrieb. Orientiert ist sie an Geldpreisen, die im Interessenkampf der Menschen untereinander auf dem Markt entstehen. Ohne Schätzung in Geldpreisen, also: ohne jenen Kampf, ist keinerlei Kalkulation möglich. Geld ist das Abstrakteste und ›Unpersönlichste‹, was es im Menschenleben gibt. Der Kosmos der modernen rationalen kapitalistischen Wirtschaft wurde daher, je mehr er seinen immanenten Eigengesetzlichkeiten folgte, desto unzugänglicher jeglicher denkbaren Beziehung zu einer religiösen Brüderschaftsethik. Und zwar nur immer mehr, je rationaler und damit unpersönlicher er wurde.« (GARS I, S. 544) Kaum geringer ist die Spannung zwischen religiösen Werten und Politik. In der Religion gibt es das Postulat der Nächstenliebe und Brüderlichkeit. Für diese Ideale ist im Alltagshandeln von Politik und Verwaltung wenig Platz. »Sachlich, ›ohne Ansehen der Person‹, ›sine ira et studio‹, ohne Haß und daher ohne Liebe, verrichtet der bureaukratische Staatsapparat und der ihm eingegliederte rationale homo politicus, <?page no="118"?> 6.2 Differenzierung der Wertsphären 119 ebenso wie der homo oeconomicus, seine Geschäfte einschließlich der Bestrafung des Unrechtes gerade dann, wenn er sie im idealsten Sinne der rationalen Regeln staatlicher Gewaltanordnung erledigt.« (GARS I, S. 546 f.) So wird z. B. die Abschiebepraxis gegenüber Ausländern in Deutschland oft als unmenschlich empfunden-- manchmal töten sich deswegen die Abschiebekandidaten selbst -, aber sie erfolgt in der Regel nach Recht und Gesetz. Die persönliche Herausforderung, in einer Gesellschaft mit differenzierten Wertsphären nach den Prinzipien der christlichen Brüderlichkeitsethik zu leben, macht sich für Weber auch im Bereich des erotischen Lebens bemerkbar: »Wie zur ästhetischen Sphäre, so steht die religiöse Brüderlichkeitsethik der Erlösungsreligionen auch zu der größten irrationalen Lebensmacht: der geschlechtlichen Liebe, in einem tiefen Spannungsverhältnis. […]. Diese Spannung aber mußte im Falle der systematischen Herauspräparierung der Sexualsphäre zu einer hochwertigen, alles rein Animalische der Beziehung verklärend umdeutenden erotischen Sensation am schärfsten und unvermeidbarsten gerade dann werden, wenn die Erlösungsreligiosität den Charakter der Liebesreligiosität: der Brüderlichkeit und Nächstenliebe, annahm […]. Dieser Sinn und damit der Wertgehalt der Beziehung selbst aber liegt, von der Erotik aus gesehen, in der Möglichkeit einer Gemeinschaft, welche als volle Einswerdung, als ein Schwinden des ›Du‹ gefühlt wird und so überwältigend ist, daß sie ›symbolisch‹: - - sakramental-- gedeutet wird. […].-- Eine konsequente religiöse Brüderlichkeitsethik steht dem allem radikal feindlich gegenüber.« (GARS I, S. 556, 559-561) Als ein weiterer Bereich der Spannung zwischen Religion und Welt in der Moderne sei die Wissenschaft erwähnt: »Wo immer aber rational empirisches Erkennen die Entzauberung der Welt und deren Verwandlung in einen kausalen Mechanismus konsequent vollzogen hat, tritt die Spannung gegen die Ansprüche des ethischen Postulates: dass die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter Kosmos sei, endgültig hervor. Denn die empirische und vollends die mathematisch orientierte Weltbetrachtung entwickelt prinzipiell die Ablehnung jeder Betrachtungsweise, welche überhaupt nach einem ›Sinn‹ des innerweltlichen Geschehens fragt. Mit jeder Zunahme des Rationalismus der empirischen Wissenschaft wird dadurch die Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt und nun erst: die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin.« (GARS I, S. 564) Welche Konsequenzen hat die Differenzierung der modernen Welt in Sphären mit unterschiedlichen Handlungsorientierungen und Rationalitäten für die Rationalität selbst? Zu dieser Frage finden sich bei Weber bemerkenswerte Sätze. »Denn es handelt sich […] offenbar um einen spezifisch gearteten ›Rationalismus‹ der okzidentalen Kultur. Nun kann unter diesem Wort höchst Verschiedenes verstanden werden […]. Es gibt z. B. ›Rationalisierungen‹ der mystischen Kontemplation, also: von einem Verhalten, welches, von anderen Lebensgebieten her gesehen, spezifisch ›irrational‹ ist, ganz ebenso gut wie Rationalisierungen der Wirtschaft, der Technik, des wissenschaftlichen Arbeitens, der Erziehung, des Krieges, der Rechtspflege <?page no="119"?> 120 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne und Verwaltung. Man kann ferner jedes dieser Gebiete unter höchst spezifischen letzten Gesichtspunkten und Zielrichtungen ›rationalisieren‹, und was von einem aus ›rational‹ ist, kann, vom andern aus betrachtet, ›irrational‹ sein.« (GARS I, S. 11 f.) Was von der einen Sphäre aus als rational erscheint, kann aus einer anderen heraus irrational erscheinen. Man kann sich das an einem aktuellen Beispiel verdeutlichen: Im März 2011 verkündete die Bundeskanzlerin unter dem Eindruck der atomaren Katastrophe in Japan ein »Moratorium«, mit dem die erst wenige Monate zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke ausgesetzt wurde. In einer vertraulichen Runde führender Wirtschaftsunternehmer sagte der Wirtschaftsminister, diese Entscheidung sei »irrational« und unter dem Eindruck des Wahlkampfs zustande gekommen. Aus der Sicht von Weber meint irrational in diesem Fall: irrational betrachtet aus der Perspektive der Wirtschaftssphäre. Denn die Verlängerung der Laufzeiten längst abgeschriebener Atomkraftwerke verhieß glänzende Gewinne, war also aus der Sicht der Unternehmensvertreter höchst rational. Aus der Sphäre der Politik betrachtet war das von der Bundeskanzlerin verkündete Moratorium mitnichten »irrational«. Denn Politiker wollen und müssen Wahlen gewinnen, wenn sie nicht im Orkus der Bedeutungslosigkeit verschwinden wollen. Und da die große Mehrheit der Bevölkerung, zumal unter dem Eindruck der Ereignisse in Japan, Atomkraftwerke strikt ablehnte, war es aus Sicht der Politik durchaus »rational«, die Verlängerung der Laufzeiten auszusetzen und damit dem Unmut der Wähler vorzubeugen. Jetzt wird auch deutlich, warum Weber, der doch sonst Begriffe so trefflich und präzise definiert, auf eine Definition »des« okzidentalen Rationalismus verzichtet. In einer durch die Ausdifferenzierung von Wertsphären bestimmten Gesellschaft gibt es keinen archimedischen Punkt, von dem aus man begründet sagen könnte, was rational ist und was nicht. Jede Wertsphäre entwickelt ihre eigene Vorstellung von Rationalität. Es ist das Schicksal des Menschen in der Moderne, dass es keine übergreifenden Wertsysteme oder Vorstellungen von Vernunft und Rationalität mehr gibt. Max Weber über das Verhältnis des einzelnen Menschen zur modernen Kultur »Und je mehr sich die Kulturgüter und Selbstvervollkommnungsziele differenzierten und vervielfältigten, desto geringfügiger wurde der Bruchteil, den der einzelne, passiv als Aufnehmender, aktiv als Mitschöpfer, im Laufe seines endlichen Lebens umspannen konnte. Desto weniger konnte also die Hineingespanntheit in diesen äußeren und inneren Kulturkosmos die Wahrscheinlichkeit bieten: daß ein einzelner die Gesamtkultur, oder daß er das in irgendeinem Sinne ›Wesentliche‹ an ihr, für welches es überdies keinen endgültigen Maßstab gab, in sich aufnehmen könne.« (Zwischenbetrachtung, 1920, in: GARS I, S. 570) <?page no="120"?> 6.3 Bürokratisierung 121 6.3 Bürokratisierung Eine weitere Wirkung des Rationalisierungsprozesses besteht darin, dass er bürokratische Strukturen in großem Stil hervorbringt, insbesondere in der Politik und der Wirtschaft. Der Rationalisierungsprozess zieht einen Bürokratisierungsprozess nach sich. Was versteht Weber unter Bürokratie? Wir müssen uns an dieser Stelle noch einmal seinen Begriff des Herrschaftsverbands vergegenwärtigen. Ein Herrschaftsverband besteht in der Regel aus einem Herrscher (oder mehreren Herrschern), aus der Masse der Beherrschten und aus einem Verwaltungsstab, mit dem der Herrscher seine (als legitim anerkannte) Herrschaft ausübt. Dieser Verwaltungsstab kann einen patrimonialen oder einen bürokratischen Charakter haben (vgl. Kap. 5.4). Allgemein und vage ausgedrückt, versteht Weber unter Bürokratie einen Verwaltungsapparat oder Verwaltungsstab zu Herrschaftszwecken, der in mit Beamten besetzte Behörden untergliedert ist. Mit »Bürokratie« ist keineswegs nur ein staatliches Gebilde bezeichnet, sondern Bürokratien gibt es auch in der kapitalistischen Ökonomie, vor allem in Großunternehmen, beim Militär, in Kirchen, politischen Parteien, Krankenhäusern oder im wissenschaftlichen Forschungs- und Lehrbetrieb. In Max Webers Bürokratietheorie spiegeln sich gesellschaftliche Entwicklungen seiner Zeit. Das Deutsche Reich bzw. Preußen war ein Musterland staatsbürokratischer Steuerung. Seit dem 18. Jahrhundert hatte sich in Preußen ein bürokratisches Ethos verbreitet, das eine nahezu bedingungslose Identifikation mit Staat und König einschloss. Objekte staatlicher Verwaltung waren das Steuer- und Finanzwesen, Militär, Polizei, Justiz, Universität, Schulen, im späten 19. Jahrhundert auch Bahn, Post und Sozialpolitik. Die Bürokratisierung betraf nicht nur den staatlichen Bereich. In der Privatwirtschaft setzten sich seit den 1880er Jahren großbetriebliche Formen durch, die aufgrund ihrer Größe nur mit einem Verwaltungsstab aus Angestellten geführt werden konnten. Weber sieht die Bürokratie idealtypisch durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Eine Bürokratie ist hierarchisch gegliedert. »Es besteht das Prinzip der Amtshierarchie und des Instanzenzuges, d. h. ein fest geordnetes System von Ueber- und Unterordnung der Behörden unter Beaufsichtigung der unteren durch die oberen,-- ein System, welches zugleich dem Beherrschten die fest geregelte Möglichkeit bietet, von einer unteren Behörde an deren Oberinstanz zu appellieren […]. Das Prinzip des hierarchischen Instanzenzuges findet sich ganz ebenso wie bei staatlichen und kirchlichen auch bei allen anderen bürokratischen Gebilden, etwa großen Parteiorganisationen und privaten Großbetrieben, gleichviel ob man deren private Instanzen auch ›Behörden‹ nennen will.« (WuG, S. 551 f., Kap. IX., 2. Abschn., II.) Die Amtsführung beruht auf schriftlicher Basis, also auf Akten. Das Verwaltungshandeln ist an festgesetzte Regeln gebunden. Amtstätigkeit setzt in der Regel »eingehende Fachschulung« voraus (WuG, S. 552, Kap. IX., 2. Abschn., IV.). Amts- und Privatvermögen sind ebenso getrennt wie Wohn- und Amtsbetriebsstätte. Die Beamten werden mit <?page no="121"?> 122 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne einem festen Gehalt bezahlt, meist mit Pensionsberechtigung. Beamte werden in der Regel nicht gewählt, sondern von einer höheren Instanz ernannt. Max Weber über den »bürokratischen Verwaltungsstab« »Der reinste Typus der legalen Herrschaft ist diejenige mittelst bureaukratischen Verwaltungsstabes. Nur der Leiter des Verbandes besitzt seine Herrenstellung entweder kraft Appropriation oder kraft einer Wahl oder Nachfolgerdesignation. Aber auch seine Herrenbefugnisse sind legale ›Kompetenzen‹. Die Gesamtheit des Verwaltungsstabes besteht im reinsten Typus aus Einzelbeamten […], welche 1. persönlich frei nur sachlichen Amtspflichten gehorchen, 2. in fester Amtshierarchie, 3. mit festen Amtskompetenzen, 4. kraft Kontrakts, also (prinzipiell) auf Grund freier Auslese nach 5. Fachqualifikation- - im rationalen Fall: durch Prüfung ermittelter, durch Diplom beglaubigter Fachqualifikation-- angestellt (nicht: gewählt) sind,-- 6. entgolten sind mit festen Gehältern in Geld, meist mit Pensionsberechtigung, unter Umständen allerdings (besonders in Privatbetrieben) kündbar auch von seiten des Herrn, stets aber kündbar von seiten des Beamten; dies Gehalt ist abgestuft primär nach dem hierarchischen Rang, daneben nach der Verantwortlichkeit der Stellung, im übrigen nach dem Prinzip der ›Standesgemäßheit‹ […], 7. ihr Amt als einzigen oder Haupt-Beruf behandeln, 8. eine Laufbahn: ›Aufrücken‹ je nach Amtsalter oder Leistungen oder beiden, unabhängig vom Urteil der Vorgesetzten, vor sich sehen, 9. in völliger ›Trennung von den Verwaltungsmitteln‹ und ohne Appropriation der Amtsstelle arbeiten, 10. einer strengen einheitlichen Arbeitsdisziplin und Kontrolle unterliegen. Diese Ordnung ist im Prinzip in erwerbswirtschaftlichen oder karitativen oder beliebigen anderen private ideelle oder materielle Zwecke verfolgenden Betrieben und in politischen oder hierokratischen Verbänden gleich anwendbar und auch historisch (in mehr oder minder starker Annäherung an den reinen Typus) nachweisbar.« (WuG, S. 126 f., Kap. III, § 4) Dieser Typus von Bürokratie kennzeichnet die moderne Gesellschaft und kommt in der Vormoderne nur ausnahmsweise vor, z. B. im alten Ägypten oder im römischen Kaiserreich. Allerdings waren dies Patrimonialbürokratien (vgl. Kap. 5.4) und keine modernen Bürokratien. Wo Bürokratie einmal da ist, verschwindet sie nicht mehr. »Es ist kein geschichtliches Beispiel dafür bekannt, daß sie da, wo sie einmal zur völligen Alleinherrschaft gelangt war- - in China, Ägypten, in nicht so konsequenter <?page no="122"?> 6.3 Bürokratisierung 123 Form im spätrömischen Reich und in Byzanz-- wieder verschwunden wäre, außer mit dem völligen Untergang der ganzen Kultur, die sie trug.« (WuG, S. 834, Kap. IX., 8. Abschn., § 3) Warum entsteht die moderne Bürokratie und welche Voraussetzungen müssen vorliegen, damit sich eine Bürokratie im modernen Sinne des Wortes entwickelt? Erste Voraussetzung ist die Herausbildung einer Geldwirtschaft. »Ein gewisser Grad geldwirtschaftlicher Entwicklung ist normale Voraussetzung, wenn nicht für die Schaffung, dann für den unveränderten Fortbestand, rein bürokratischer Verwaltungen. Denn ohne sie ist es nach geschichtlicher Erfahrung kaum vermeidbar, daß die bürokratische Struktur ihr inneres Wesen stark verändert oder geradezu in eine andere umschlägt.« (WuG, S. 556, Kap. IX., 2. Abschn.) In modernen Bürokratien werden Beamte regelmäßig mit Geld bezahlt. In der vormodernen Bürokratie wie in Ägypten und zeitweise im spätrömischen Reich wurden sie auch mit Naturalien entlohnt. Diese kann allerdings leicht in ein Amtspachtverhältnis abgleiten, bei welchem dem Beamten vom Herrn Ressourcen (z. B. Naturalien, Ländereien mit Abgabepflichten der dort beheimateten Bauern) zugewiesen werden, aus denen er sich bedienen kann. Zweite Voraussetzung ist ein funktionierendes Steuersystem. Nur stetige Einnahmen ermöglichen die Unterhaltung einer Bürokratie. Die Bürokratisierung wird drittens durch die Bildung von großen Territorialreichen begünstigt. Zwar führt die Bildung von Großstaaten keineswegs per se zur Bürokratisierung. Es gab auch Großreichskonglomerate ohne Bürokratie, z. B. das Heilige Römische Reich deutscher Nation oder den arabische Kalifenstaat, die jedoch aufgrund dieses Faktums von geringerer politischer Stabilität waren. »Und unzweifelhaft bleibt nicht nur, daß die Keime von intensiver, ›moderner‹ Staatenbildung im Mittelalter überall hervortraten in Gemeinschaft mit der Entwicklung bürokratischer Gebilde, sondern auch, daß es die bürokratisch entwickeltsten politischen Bildungen gewesen sind, welche schließlich jene, wesentlich auf einem labilen Gleichgewichtszustande ruhenden Konglomerate zersprengten […]. Die kontinentalen Staatsgewalten der beginnenden Neuzeit haben sich allerdings durchweg in den Händen derjenigen Fürsten zusammengeballt, welche den Weg der Bürokratisierung der Verwaltung am rücksichtslosesten beschritten. Daß der moderne Großstaat je länger, je mehr technisch auf eine bürokratische Basis schlechthin angewiesen ist, und zwar je größer er ist, und vor allem je mehr er Großmachtstaat ist, oder wird, desto unbedingter, ist handgreiflich.« (WuG, S. 559 f., Kap. IX., 2. Abschn.) Allerdings kann, so Weber, auch ein Zuviel an Bürokratie zum Zerfall eines Großmachtstaats beitragen, wie im Fall des Römischen Reichs (WuG, S. 559, Kap. IX., 2. Abschn.). Weber begründet die Notwendigkeit einer Bürokratie in der Moderne viertens mit »technischen Faktoren«. So wirken gemeinwirtschaftlich zu verwaltende Verkehrsmittel wie Kanäle, Straßen, Eisenbahn und Telegrafie als Schrittmacher der Bürokratisierung. In die gleiche Richtung wirken sozialpolitische Ansprüche, die an den Staat gestellt werden. Nicht zuletzt aber ist es die kapitalistische Ökonomie selbst, die im <?page no="123"?> 124 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne Zuge der Kapitalkonzentration die Bürokratisierung vorantreibt. »Die ganz großen modernen kapitalistischen Unternehmungen sind selbst normalerweise unerreichte Muster straffer bürokratischer Organisation.« (WuG, S. 562, Kap. IX., 2. Abschn.) Was die Bürokratisierung der modernen Gesellschaft vor allem forciert, ist fünftens die überlegene Leistungsfähigkeit der bürokratischen Organisation im Vergleich mit alternativen Formen, z. B. der ehrenamtlichen Honoratiorenverwaltung. »Der entscheidende Grund für das Vordringen der bürokratischen Organisation war von jeher ihre rein technische Überlegenheit über jede andere Form. Ein voll entwickelter bürokratischer Mechanismus verhält sich zu diesen genau wie eine Maschine zu den nicht mechanischen Arten der Gütererzeugung. Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten sind bei streng bürokratischer, speziell: monokratischer Verwaltung durch geschulte Einzelbeamte gegenüber allen kollegialen oder ehren- und nebenamtlichen Formen auf das Optimum gesteigert. Sofern es sich um komplizierte Aufgaben handelt, ist bezahlte bürokratische Arbeit nicht nur präziser, sondern im Ergebnis oft sogar billiger als die formell unentgeltliche ehrenamtliche.« (WuG, S. 561 f., Kap. IX., 2. Abschn.) Die Bürokratie ist ein durch und durch rationales Gebilde, bei dem Emotionen wie Liebe und Hass weitgehend ausgeschaltet sind- - wie auch persönliche Willkür und Gnade, die in der feudalen Gesellschaft von überragender Bedeutung waren. »Entscheidend ist […], dass prinzipiell hinter jeder Tat echt bürokratischer Verwaltung ein System rational diskutabler ›Gründe‹, d. h. entweder: Subsumtion unter Normen, oder: Abwägung von Zwecken und Mitteln steht.« (WuG, S. 565, Kap. IX., 2. Abschn.) Webers Einschätzung der modernen Bürokratie ist hochgradig ambivalent. Auf der einen Seite bewundert er die Leistungsfähigkeit moderner Bürokratie. Auf der anderen Seite bewertet er die Wirkungen bürokratischer Strukturen auf den Freiheitsraum und die Mentalität moderner Menschen skeptisch (vgl. Kap. 6.5). Bei aller Ambivalenz ist sich Weber jedoch sicher, dass die Bürokratie das Leben in der modernen Gesellschaft entscheidend bestimmen wird. Dies gilt auch für die Politik. Daran würde auch, so urteilte Weber vor dem Hintergrund der russischen und deutschen Revolutionen 1917-1919, eine sozialistische Ordnung nicht ändern. Sie würde die Bürokratisierung eher noch weiter vorantreiben. »Zunehmende ›Sozialisierung‹ bedeutet heute unvermeidlich zugleich zunehmende Bürokratisierung.« (WuG, S. 826, Kap. IX., 9. Abschn. § 3) Max Weber über Sozialismus »Der ›Sozialismus der Zukunft‹ ist eine Phrase für die Rationalisierung der Wirtschaft durch eine Kombination von weiterer Bürokratisierung und Zweckverbandsverwaltung durch Interessenten.« (Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, 1917/ 1918, in: WL, S. 540) <?page no="124"?> 6.4 Moderner Staat, Berufspolitik und plebiszitäre Führerdemokratie 125 6.4 Moderner Staat, Berufspolitik und plebiszitäre Führerdemokratie Aufgrund der Zeitumstände ist die Politik die Wertsphäre, welche die besondere Aufmerksamkeit des späten Max Webers auf sich zieht. Seine letzten Lebensjahre waren von höchst dramatischen politischen Entwicklungen bestimmt. Am 1. August 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Im November 1918 endete er, für viele Deutsche zu diesem Zeitpunkt überraschend, mit einer Niederlage der Mittelmächte. In der Zeit zwischen 1917 und 1920 brachen alte politische Systeme zusammen, neue politische Formen bildeten sich heraus. Im März 1917 zwang eine Revolution in St. Petersburg den Zaren zur Abdankung und im Oktober errangen die Bolschewiki unter Lenin die Macht. In Deutschland kam es im November 1918 zu einer Revolution, bei der sich nach russischem Vorbild lokale Arbeiter- und Soldatenräte bildeten. Im März 1919 etablierte sich in Deutschland, begleitet von bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen, eine parlamentarische Demokratie. Es war offen, welche staatlichen und internationalen Ordnungen sich durchsetzen würden. Wie reagierte Weber auf diese Ereignisse? Er nahm in zahlreichen Presseartikeln zu aktuellen politischen Fragen Stellung. Er versuchte aber auch, z. B. in seiner berühmten Rede Politik als Beruf, die Grundlagen moderner Politik und Staatlichkeit theoretisch zu reflektieren. Ein adäquates theoretisches Verständnis erschien ihm für eine tragfähige Politik unverzichtbar. Neben dem tagesaktuellen Publizisten und dem Theoretiker gibt es auch den Sozialphilosophen Weber, der fragt, welche Eigenschaften einen »guten« Politiker ausmachen. Wir wenden uns nun der theoretischen Reflexion Webers über Staat und Politik in der Moderne zu. »Der Staat ist«, so Weber, »ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen.« Was den modernen Staat ausmacht, ist nicht ein bestimmter Inhalt seiner Politik, sondern ein spezifisches Mittel, das der physischen Gewaltsamkeit. So gelangt Weber zu seiner berühmten Definition: »Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes-- dies: das ›Gebiet‹, gehört zum Merkmal- - das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht« Unter Politik versteht er »Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt.« (GPS, S. 506 f.; MWG I, 17, S. 158-160) Erstes Merkmal des modernen Staates ist also das Monopol auf physische Gewalt nach innen und nach außen. Das war nicht immer so. Im Mittelalter gab es kein Gewaltmonopol des Kaisers. Seine adligen Vasallen konnten sich gegenseitig befehden und taten das auch. Erst ab dem 17. Jahrhundert, als aus adligen Rittern Höflinge wurden, setzte sich das Gewaltmonopol des modernen Staates durch. Dass das Terri- <?page no="125"?> 126 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne torium des modernen Staates durch das Gewaltmonopol befriedet wurde, begünstigte die Entfaltung des modernen Kapitalismus. Die Führer des modernen Staates, und das ist das zweite Merkmal, regieren mittels eines bürokratischen Verwaltungsstabs. Auch das ist, von einigen Ansätzen wie etwa im römischen Kaiserreich abgesehen, eine spezifisch moderne Erscheinung. In der traditionalen Gesellschaft regierte der Herrscher entweder mit Hilfe von Ständen oder eines patrimonialen Verwaltungsstabs. Im Fall eines ständisch gegliederten Herrschaftsverbands übertrug der Herrscher bestimmte Aufgaben, z. B. Verwaltung und Rechtspflege, an seine Vasallen, mit denen diese wiederum ihre Untervasallen betrauten. Herrschte er mit Hilfe eines patrimonialen Verwaltungsstabs, so übernahm ein Kreis von Vertrauten die Verwaltungsaufgaben. Es handelte sich hierbei um einen relativ kleinen Kreis, dessen Mitglieder aufgrund von Loyalität und der persönlichen Gunst des Herrschers ausgewählt wurden, nicht aufgrund von Fachschulung und persönlicher Qualifikation, wie es für den bürokratischen Verwaltungsstab kennzeichnend ist. Was den modernen Staat drittens charakterisiert, ist die Trennung von Verwaltungsstab und Verwaltungsmitteln (z. B. Geld, Gebäude, Kriegsmaterial, Pferde, Wagen). So stellten im alten Athen die schwerbewaffneten Hopliten ihre Rüstung selbst; wer dazu zu arm war, wurde als Ruderer zur Flotte abkommandiert. Die Ritter im Mittelalter sorgten für ihre eigene Bewaffnung und Verpflegung. Dagegen wäre es in einer modernen Verwaltung äußerst unüblich, dass ein Verwaltungsbeamter seinen eigenen Schreibtisch ins Büro brächte, und er zahlt das Geld, was er in seiner Funktion verausgabt, nicht aus eigener Tasche, sondern aus dem Etat seiner Behörde. Der moderne Staat ist ein Herrschaftsverband. Herrschaft ist gekennzeichnet durch Legitimität, d. h., auch die Untergebenen akzeptieren das Herrschaftsverhältnis als gerechtfertigt. Wir haben gesehen, dass es für Weber drei Legitimitätsgründe gibt: Tradition, Charisma und Legalität. Während in der Vormoderne die Tradition die wichtigste Legitimitätsquelle war, beruht moderne Herrschaft auf dem Glauben an die Legalität bestehender Satzungen und Verfahren. Wir gehorchen den im Staat Herrschenden, weil sie satzungsgemäß nach bestimmten explizierten Regeln ins Amt gekommen sind. Würde offenbar, dass eine Führungsposition auf dem Wege massiven Wahlbetrugs erlangt worden ist, wäre die Legitimität einer Herrschaft und damit diese selbst in Frage gestellt. Legalität als Legitimitätsgrund ist also das vierte Kennzeichen des modernen Staates. Was laut Weber den modernen Staat fünftens auszeichnet, ist die Herausbildung einer Schicht von Berufspolitikern. Berufspolitiker sind Akteure, die »für« die Politik und »von« der Politik leben. Als solche unterscheiden sie sich von »Gelegenheitspolitikern«, also gewöhnlichen Wahlbürgern und »nebenberuflichen Politikern«, die politische Tätigkeit »nur im Bedarfsfalle ausüben und weder materiell noch ideell in erster Linie ›daraus ihr Leben machen‹« (GPS, S. 512; MWG I, 17, S. 167 f.). Der Typus des Berufspolitikers entstand ursprünglich im Kampf der Fürsten gegen die Stände im <?page no="126"?> 6.4 Moderner Staat, Berufspolitik und plebiszitäre Führerdemokratie 127 Dienst der Ersteren. Dadurch, dass Berufspolitiker eine Besoldung erhielten, wurde es Angehörigen aller gesellschaftlichen Schichten möglich, in der Politik tätig zu sein. Andernfalls hätte man ein plutokratisches System, in dem nur reiche Personen politische Ämter ausüben könnten. Im Zeichen der Berufspolitiker wird Politik nicht nur ein Kampf um sachliche Ziele, sondern auch um »Ämterpatronage«. »Mit steigender Zahl der Ämter infolge der allgemeinen Bürokratisierung und steigendem Begehr nach ihnen als einer Form spezifisch gesicherter Versorgung steigt für alle Parteien diese Tendenz und werden sie für ihre Gefolgschaft immer mehr Mittel zum Zweck, derart versorgt zu werden.« (GPS, S. 516; MWG I, 17, S. 175) Merkmale des modernen Staats nach Weber Monopol auf physische Gewaltsamkeit Legitimität auf der Grundlage von Legalität (legale Herrschaft) bürokratischer Verwaltungsstab Trennung von Verwaltungsstab und Verwaltungsmitteln Berufspolitiker Entgegen seiner Gewohnheit begnügt sich Weber nicht mit einer theoretischen Analyse moderner Staatlichkeit und Politik, sondern stellt auch normative Überlegungen zur politischen Ethik an. Welche Eigenschaften sollte ein »guter« Politiker haben? Und an welchen Prinzipien soll er sich orientieren? Drei Eigenschaften zeichnen, so Weber, einen »guten« Politiker aus: Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Leidenschaft nicht im Sinne »steriler Aufgeregtheit«, sondern von »leidenschaftliche[r] Hingabe an eine ›Sache‹«. Diese Leidenschaft hat »die Verantwortlichkeit gegenüber ebendieser Sache zum entscheidenden Leitstern des Handelns« zu machen. Augenmaß meint »die Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen« (GPS, S. 545 f.). Zu den »Todsünden« des Politikers zählen hingegen Distanzlosigkeit, Eitelkeit und Machtversessenheit. Mit Distanzlosigkeit meint Weber, dass Politik nicht affektiv, »aus dem Bauch« gemacht werden darf. Vermutlich bezieht sich dieser Hinweis auf die revolutionären Unruhen 1918/ 19. Politisches Handeln sollte strikt rational, wertrational wie zweckrational, bestimmt sein. Eitelkeit, »das Bedürfnis, selbst möglichst sichtbar in den Vordergrund zu treten«, führt zur Unsachlichkeit und zur Verantwortungslosigkeit. Machtstreben ist legitimes Motiv politischen Handelns, aber es wird dann zum Übel, wenn es zum Selbstzweck gerät. Machtstreben muss, so Weber, immer inhaltlichen Zielen verpflichtet sein. Das alles bedeutet aber nicht, dass es die »gute« Gesinnung ist, welche einen »guten« Politiker ausmacht. In diesem Zusammenhang unterscheidet Weber idealty- <?page no="127"?> 128 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne pisch zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Wir stehen, so Weber, grundsätzlich vor folgender Alternative. Wir richten unser Handeln entweder an Werten und Prinzipien aus, die uns im normativen Sinn als »gut« erscheinen, oder wir orientieren uns an den absehbaren Konsequenzen, die unser Handeln auslöst. Im ersten Fall ist unser Handeln gesinnungsethisch, im zweiten verantwortungsethisch orientiert. Wenn z. B. der Papst empfängnisverhütende Präparate ablehnt, handelt er im Sinne Webers gesinnungsethisch. Er orientiert sich an bestimmten Prinzipien der katholischen Morallehre. Würde er verantwortungsethisch denken, so würde er berücksichtigen, dass seine Entscheidung eine Ausbreitung von Aids begünstigen könnte. Die Entgegensetzung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik ist nicht absolut gemeint. Weber will den politischen Akteuren damit deutlich machen, dass sie sich nicht nur von irgendwelchen weltanschaulichen Prinzipien leiten lassen sollen-- die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war voll von weltanschaulich motivierten Politikern -, sondern dass sie immer auch reflektieren müssen, welche Folgen ihr Handeln nach sich zieht. Nur dann handeln sie verantwortlich und das Bewusstsein der Verantwortung gehört zu einem »guten« Politiker dazu. Die Bürokratisierung ist aus Sicht von Weber ein unentrinnbarer Prozess, der alle Sphären der Gesellschaft erfasst, auch den Staat. Bürokratisierung des Staates bedeutet: wachsender Verwaltungsapparat, Massenparteien, die aufgrund ihrer Größe ebenfalls bürokratische Strukturen entwickeln und entwickeln müssen- - selbst in den USA, also dem Land, das laut Weber am wenigsten von der Bürokratisierung erfasst wird. Mit der Bürokratisierung wird die demokratische Idee der Volkssouveränität hinfällig. Bürokratische Herrschaft wird durch eine Oligarchie von Führern ausgeübt. Das Problem, das die Bürokratisierung in der Sphäre der Politik nach sich zieht, ist folgendes: Beamte sind zwar zu korrekter und fachmännischer Verwaltung geeignet, nicht aber als politische Führer. Ein Lehrstück in dieser Hinsicht ist für Weber die deutsche Politik nach dem Abgang Bismarcks im Jahr 1890. Die Bismarck nachfolgenden Reichskanzler seien Beamtenseelen gewesen und keine weitsichtigen und entscheidungsfähigen politischen Führer. Da Politik eine Arena der Machtkämpfe ist und es zu diesem Zweck politischer Virtuosen der Macht bedarf (wie Bismarck), kommt alles darauf an, optimale Führerpersönlichkeiten zu gewinnen. Die optimale Führerauslese, nicht verfassungspolitische Ideale, ist für Weber der wichtigste Gesichtspunkt bei der Wahl der geeigneten Staatsform. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg setzt sich der Tagespolitiker Weber für eine Stärkung der Parlamentsrechte ein-- nicht aus demokratischem Idealismus, sondern weil eine Stärkung des Parlaments die Position des ungeliebten Kaisers und seiner Regierung schwächen würde. Außerdem würden die politischen Parteien an Attraktivität für Führungspersönlichkeiten gewinnen. Je stärker die verfassungsrechtliche Stellung der Parteien sei, desto leichter könnten geeignete Führungspositionen an die Spitze des Staates aufsteigen. <?page no="128"?> 6.4 Moderner Staat, Berufspolitik und plebiszitäre Führerdemokratie 129 Im Spätherbst 1918 verändern sich die realpolitischen Voraussetzungen für Webers politische Theorie grundlegend. Das Deutsche Reich steht vor der militärischen Niederlage. Im Oktober erfolgt die Parlamentarisierung des Deutschen Reichs, d. h. der Reichskanzler ist jetzt nicht mehr dem Monarchen, sondern dem Parlament verantwortlich. Anfang November brechen revolutionäre Unruhen aus, welche die deutschen Monarchen, auch Kaiser Wilhelm II., vom Thron stürzen. Damit hat sich die Monarchie als Staatsform, der Weber grundsätzlich positiv gegenüber steht, erledigt. Weber plädiert nunmehr für eine plebiszitäre Führerdemokratie. Er unterstellt dabei, dass in einer bürokratisierten Gesellschaft die Vorstellung einer aktiven demokratischen Partizipation aller Staatsbürger ohnehin illusorisch geworden sei. Denn der einzelne Bürger habe weder die Zeit noch die Fachkompetenz, um qualifizierte Entscheidungen zu treffen und auszuführen. Dazu sei nur die fachlich geschulte staatliche Verwaltung in der Lage. Es könne nur noch darum gehen, eine geeignete Führungspersönlichkeit an die Spitze des Staates zu stellen, die über der Bürokratie, aber auch über den Parteien stehe. Weber spricht sich nun für einen starken Reichspräsidenten aus, der vom Volk gewählt wird und auf diese Weise ein eigenes plebiszitäres Mandat gegenüber dem Parlament erhält. Max Webers Sicht der Führerauslese in der Demokratie »Sehr wichtig-- vor allem für die Art der Führerauslese-- ist schließlich die Frage, ob eine rein parlamentarische oder eine plebiszitäre Struktur der Republik erstrebt werden soll.- - Solange der deutsche Staat in die monarchische Spitze auslief, vertrat Weber die Führerauslese durch das Parlament. Nun, wo der Monarch fortfällt, fordert er, dass die oberste Spitze: der Reichspräsident durch unmittelbare Volkswahl erkoren wird und dadurch selbständige Autorität gegenüber dem Parlament erhält. Er soll das Haupt der Exekutive sein und im Konfliktfall zwischen Parlament und Regierung direkt an das Volk appellieren können. Volkswahl des Präsidenten bedeutet also Einschränkung des Parteieinflusses auch bei der Auswahl der Minister, und Einschränkung der Aemterpatronage überhaupt.« (Marianne Weber 1989, S. 650 f.) Die Führerauslese erfolgt also nicht mehr über das Parlament, sondern plebiszitär, über die Wahl des Volkes. Auch soll der Präsident in der Vorstellung Webers eigenverantwortlich handeln, d. h. nicht weisungsgebunden durch das Parlament oder die Wähler sein. Webers Lösung des Demokratieproblems-- wie ist Demokratie unter den Bedingungen einer bürokratisierten Gesellschaft möglich? - - ist theoretisch konsequent. Rationalisierung und Bürokratisierung sind laut Weber die strukturbestimmenden Prozesse der Moderne. Das ist, so Weber, als unvermeidliche Tatsache hinzunehmen. <?page no="129"?> 130 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne Es gibt allerdings auch Gegenkräfte, die dafür sorgen können, dass die Bürokratisierung nicht allzu sehr überhandnimmt. Zunächst einmal kann der Bürokratisierungsprozess kritisch reflektiert werden, anstatt ihn durch die in Deutschland verbreitete Überhöhung des Staates zu verstärken. Eine Gegenkraft vermögen vor allem charismatische Führungspersönlichkeiten darstellen. Weber ist so stark auf die Bürokratisierungstendenzen fixiert, dass er die mit der charismatischen Führung verbundenen Gefahren des Machtmissbrauchs und der eventuellen Diktatur kaum registriert. Max Weber bilanziert 1917/ 18 die Bedeutung des Staates in der modernen Gesellschaft »Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte und vollends die beispiellosen Geschehnisse, deren Zeugen wir jetzt sind, haben das Prestige gerade des Staates gewaltig gesteigert. Ihm allein von allen sozialen Gemeinschaften wird heute ›legitime‹ Macht über Leben, Tod und Freiheit zugeschrieben und seine Organe machen davon Gebrauch: im Krieg gegen äußere Feinde, im Frieden und Krieg gegen innere Widerstände. Er ist im Frieden der größte Wirtschaftsunternehmer und machtvollste Tributherr der Bürger, im Krieg aber der Träger schrankenlosester Verfügung über alle ihm zugänglichen Wirtschaftsgüter. Seine moderne, rationalisierte Betriebsform hat auf zahlreichen Gebieten Leistungen ermöglicht, welche zweifellos von gar keinem andersartig vergesellschafteten Zusammenhandeln auch nur annähernd ähnlich vollbracht werden könnte.« (Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, 1917/ 1918, in: WL, S. 539) 6.5 Der Mensch in der modernen Welt Webers Augenmerk gilt nicht nur der strukturellen Dynamik der Moderne. Ihn interessiert ebenso, wie diese die Existenzbedingungen des Menschen verändert und welcher Menschentyp daraus hervorgeht. Was bedeutet es für den Menschen, dass er in einer entzauberten Welt lebt und sich in Sphären mit unterschiedlichen Rationalitäten zurechtfinden muss? Webers Sozialwissenschaft ist eine Lehre vom Menschen, der intentional und bewusst handelnd seine Welt gestaltet und dabei eine gegenständliche Welt schafft, die wieder auf sein Bewusstsein, sein Handeln und sein Handlungsspektrum zurückwirkt. In Webers Interesse am modernen Menschen spiegeln sich zwei zeitgenössische geistige Lagen. Die deutschen Sozialwissenschaften verstehen sich, anders als die französische (Comte, Durkheim) und britische Soziologie (Spencer), als Geisteswissenschaften. Und Geisteswissenschaften sind Wissenschaften vom Menschen, die den Menschen als Geistwesen begreifen. Weber ist Teil der deutschen Wissenschaftskultur und optiert <?page no="130"?> 6.5 Der Mensch in der modernen Welt 131 ganz selbstverständlich für eine geisteswissenschaftliche bzw. kulturwissenschaftliche Perspektive. Er versteht Soziologie als Wissenschaft vom sinnhaft handelnden Akteur. Sein Interesse am modernen Menschen ist also zunächst einmal Ausdruck axiomatischer wissenschaftlicher Entscheidungen-- für den geisteswissenschaftlichen Historismus, gegen den Naturalismus nach Art von Comte und Spencer (vgl. Kap. 2.1). Zudem kommt die Kulturkrise um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ins Spiel. Der im 19. Jahrhundert vorherrschende Fortschrittsoptimismus, die Erwartung, dass sich der Mensch moralisch und intellektuell entwickelt, seine Welt gestaltet und verbessert, wird zunehmend in Frage gestellt. Vor allem die seit 1890 lebhaft diskutierte Philosophie Friedrich Nietzsches wirft die Frage auf, ob die Moderne nicht einen Menschentypus hervorbringt, der durch Mutlosigkeit, Schwäche sowie Sicherheitsbedürfnis gekennzeichnet ist und dem Heroismus und der Wille zur Macht fehlen. Wir müssen davon ausgehen, dass die Frage des modernen »Menschentums« Weber tief bewegte. Da sich Weber jedoch als Erfahrungswissenschaftler, der Werturteile möglichst vermeiden wollte, verstand und nicht als Kulturkritiker, der Pamphlete Max Weber über die moderne Bürokratie und ihre Wirkung auf den Menschen in einem Diskussionsbeitrag im Verein für Sozialpolitik 1909 »Keine Maschinerie der Welt arbeitet so präzis wie diese Menschenmaschine (Die Bürokratie.) Unter technisch-sachlichen Gesichtspunkten ist sie unüberbietbar. Aber es gibt andre als technische Maßstäbe. Was ist ihre Folge auf dem Gebiet der Verwaltung und Politik? Jeder der sich einfügt, wird zu einem Rädchen in der Maschine, genau wie im industriellen Großbetrieb und innerlich zunehmend darauf gestimmt, sich als ein solches zu fühlen und sich zu fragen, ob er nicht von diesem kleinen Rädchen zu einem größeren werden kann. Und so fürchterlich der Gedanke erscheint, daß die Welt etwa einmal von nichts als Professoren voll wäre […] noch fürchterlicher ist der Gedanke, daß die Welt mit nichts als jenen Rädchen, also mit lauter Menschen angefüllt wäre, die an einem kleinen Pöstchen kleben und nach einem größeren streben. Diese Leidenschaft für die Bürokratisierung, wie wir sie hier äußern hörten, ist zum verzweifeln! Es ist, als wenn in der Politik der Scheuerteufel, mit dessen Horizont der Deutsche ohnehin schon am besten auszukommen versteht, ganz allein das Ruder führen dürfte, als ob wir mit Wissen und Willen Menschen werden sollten, die Ordnung brauchen und nichts als Ordnung, die nervös und feige werden, wenn diese Ordnung einen Augenblick wankt, und hilflos, wenn sie aus ihrer ausschließlichen Angepaßtheit an diese Ordnung herausgerissen werden.-- Es fragt sich, was wir dieser Maschinerie entgegenzusetzen haben, um einen Rest des Menschentums frei zu halten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bürokratischer Lebensideale […].« (zit. nach Marianne Weber 1989, S. 421) <?page no="131"?> 132 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne über die Moderne und ihren Kulturverfall schreibt, hat er sich zu derartigen Fragen jedoch nur sporadisch und knapp geäußert. Wie also stellt sich die Existenz des modernen Menschen aus Sicht von Weber dar? Die Werturteilsfreiheit, eine methodologische Kategorie, enthält auch eine existenzielle Dimension. Man kann, so Weber, erfahrungswissenschaftlich nicht feststellen, welche Werte »gut« oder »schlecht« sind. Es gibt auch außerhalb der Wissenschaft keine Instanz, welche die »richtigen« Werte verbindlich festlegen könnte. Denn Kirche und Tradition sind in der Moderne keine allgemein verbindlichen Mächte mehr. Der moderne Mensch darf-- oder muss-- selbstverantwortlich entscheiden, von welchen Idealen er sich in seinem Handeln leiten lässt. Als Kulturmenschen versuchen wir, so Weber, unser Handeln an bestimmten Wertideen auszurichten und unser Leben und unsere Welt nach ihrer Maßgabe zu gestalten. Das ist nicht neu, auch der mittelalterliche Mensch folgte in seinem Handeln bestimmten Idealen. Neu in der Moderne aber ist, dass verschiedene Wertideen miteinander konkurrieren, ohne dass es eine Instanz gibt, die entscheiden kann, welche »richtig« und welche »falsch« sind. In der traditionellen Welt oblag diese Aufgabe der Kirche. In der Moderne konkurrieren verschiedene Deutungsmächte miteinander wie kirchliche Konfessionen, politische Weltanschauungen oder wissenschaftliche Theorien. Aber selbst die Wissenschaft kann keine Entscheidung darüber treffen, welche Wertideen »richtig« oder »falsch« sind. Weber spricht vom Polytheismus der Werte. Der moderne Mensch muss mit diesem Polytheismus der Werte umgehen können. Er muss es aushalten, dass er sich nicht an vorgegebenen, selbstverständlichen Wertideen orientieren kann, er muss sich im Pluralismus der Werte zurechtfinden. So erfahren etwa Kinder heute, dass zwischen den von den Eltern vermittelten Werten und denen der »peer group« ein großer Unterschied bestehen kann. Zwar kann sich der moderne Mensch in fundamentalistischer Manier für eine bestimmte Wertidee entscheiden, aber er muss damit umgehen können, dass andere ihre eigenen Wertideen haben. Das Problem des Polytheismus der Werte wird dadurch verschärft, dass der Mensch nicht ohne Weiteres nach einer Wertidee leben kann, die ihm als absolut richtig und wünschenswert erscheint. Denn die moderne Welt ist in Sphären mit unterschiedlichen Rationalitäten differenziert, die verschiedene Handlungsorientierungen erfordern. Weber nennt dies Differenzierung der Wertsphären (vgl. auch Kap. 6.2). Was bedeutet das Leben in einer Welt differenzierter Wertsphären für den einzelnen Menschen? Zunächst einmal: Die Religion als vorherrschende bis alleinige Orientierungsmaxime fällt aus. Orientierte man sich durchgängig an den ethischen Maßstäben einer Religion, verhielte man sich, gemessen an Maßstäben des Erfolgs, irrational. Wer z. B. einen Betrieb durchgängig nach streng christlichen Grundsätzen führen möchte, wird schnell scheitern. Der moderne Mensch steht immer vor der Entscheidung, ob er sich am Erfolg oder dem ethisch bestimmten Eigenwert seines Handelns orientieren soll. Dabei ergeben sich grundsätzlich drei Optionen: <?page no="132"?> 6.5 Der Mensch in der modernen Welt 133 Man kann sich strikt an ethischen Maßstäben gleich welcher Couleur orientieren. Das bedeutet: Man wendet sich von der Welt ab, wie religiöse Gemeinschaften, die z. B. ihre Kinder nicht in die Schule schicken, sondern zu Hause unterrichten. Man verzichtet ganz auf ethische Werte als Handlungsmaxime und orientiert sich an den Regeln der jeweiligen Wertsphäre. Maßstab ist dann der persönliche Erfolg. Man versucht, irgendeinen Kompromiss zwischen Ethik und den Eigenrationalitäten der Wertsphären zu finden. Wie auch immer: Die Psyche des modernen Menschen ist durch das Dasein in verschiedenen, einander widersprechenden Lebensordnungen zentrifugalen Spannungen ausgesetzt. Webers besondere Sorge gilt aber der Bürokratisierung der Welt. Das Vordringen von Organisation auf allen Ebenen in der staatlichen Verwaltung, in den Parteien, in Wirtschaftsbetrieben, in Universitäten usw. steigert die Leistungsfähigkeit der modernen Gesellschaft. An Leistungsfähigkeit ist die moderne Bürokratie, so Weber, jeder anderen Vergesellschaftungsform überlegen. Die Auswirkungen auf Habitus und Psyche des modernen Menschen sind hingegen verheerend. Der einzelne Mensch wird zum Rädchen im Getriebe, das sich einfügen und anpassen muss. Er identifiziert sich mit seiner Organisation und sein größtes Bestreben ist es, innerhalb der Hierarchie aufzusteigen. Andere Ideale gehen dabei verloren. Vom heroischen Menschen im Sinne Nietzsches kann keine Rede mehr sein. Aus Sicht von Weber ist es wichtig, diese Effekte kritisch wahrzunehmen, um ihr Ausmaß begrenzen zu können. Jedenfalls steht er der Moderne und ihren Auswirkungen auf Habitus und Psyche des Menschen kritisch gegenüber. »Fachmenschentum ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz« (GARS I, S. 203)- - so könnte aus seiner Sicht der moderne Mensch der Zukunft aussehen. Max Weber über die Schicksalhaftigkeit des modernen Kapitalismus »Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist. Er zwingt dem einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf. Der Fabrikant, welcher diesen Normen dauernd entgegenhandelt, wird ökonomisch ebenso unfehlbar eliminiert, wie der Arbeiter, der sich ihnen nicht anpassen kann oder will, als Arbeitsloser auf die Straße gesetzt wird.« (Die protestantische Ethik- …, in: GARS I, S. 37) <?page no="133"?> 134 6. Okzidentaler Rationalismus-- Webers Diagnose der Moderne Max Weber über das Schicksal des modernen Menschen »Der Puritaner wollte Berufsmensch sein,-- wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden-- nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen -, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist. Nur wie ›ein dünner Mantel, den man jederzeit abwerfen könnte‹, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter, um die Schultern seiner Heiligen liegen. Aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden. Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte […]. Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber-- wenn keins von beiden-- mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die ›letzten Menschen‹ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ›Fachmenschentum ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben‹.« (Die protestantische Ethik-…, in: GARS I, S. 203 f.) Schriften Webers Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917/ 1918), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, S. 489-540 (=-WL). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der Verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1985 (=-WuG). Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), 9. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (=-GARS I). Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie II (1921), 7. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (=-GARS II). Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III (1921), 8. Aufl., hg. von Marianne Weber, Tübingen 1988 (=-GARS III). Gesammelte Politische Schriften (1921), 5. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann. Tübingen 1988 (=-GPS). <?page no="134"?> 6.5 Der Mensch in der modernen Welt 135 Weiterführende Literatur Andreas Anter: Max Webers Theorie des modernen Staates. Herkunft, Struktur und Bedeutung, Berlin 1994. Stefan Breuer: Bürokratie und Charisma. Zur Politischen Soziologie Max Webers, Darmstadt 1994. Andrea Germer: Wissenschaft und Leben. Max Webers Antwort auf eine Frage Friedrich Nietzsches, Göttingen 1994. Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks. Tübingen 1986. Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwicklung, Berlin (West) 1980. Roth, Guenther: Politische Herrschaft und persönliche Freiheit. Frankfurt a. M. 1987. Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Entwicklungsgeschichte des Okzidents. Frankfurt am Main 1979. Schluchter, Wolfgang: Religion und Lebensführung, Bd. 1. Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie. Frankfurt a. M. 1988. Schluchter, Wolfgang: Religion und Lebensführung, Bd. 2. Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie. Frankfurt a. M. 1988. <?page no="136"?> 137 7. Zur wissenschaftlichen Rezeption Max Webers 7.1 Zur Interpretation Max Webers im Wandel der Zeit 7.2 Max Weber als Bezugsrahmen soziologischer Theoriebildung 7.3 Was bleibt von Max Weber? Max Weber gilt heute unbestritten als ein sozialwissenschaftlicher Klassiker von Weltrang; in vielen Ländern dieser Welt wird er eifrig gelesen und beforscht. Aber bis dahin war es ein weiter Weg. Es sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass Webers Werk ein Torso geblieben ist, eine thematisch disparate Sammlung von Aufsätzen ohne ein krönendes Hauptwerk. Und es ist zu bedenken, dass wissenschaftliche Rezeption kontingent ist, keineswegs vorherbestimmt durch die Qualität des Werks, immer auch maßgeblich beeinflusst durch die Zeitumstände. In diesem Kapitel werden zunächst die wichtigsten Etappen der- - bislang wenig erforschten- - Weber- Rezeption im Kontext der historischen Zeitumstände grob nachgezeichnet (7.1). Anschließend wird skizziert, wie Weber in das Werk anderer bedeutender Theoretiker eingegangen ist (7.2). Zum Schluss folgt eine knappe Einschätzung der heutigen Bedeutung Webers (7.3). 7.1 Zur Interpretation Max Webers im Wandel der Zeit Bis heute hat sich das Urteil gehalten, dass Max Weber unter seinen Zeitgenossen isoliert und unverstanden geblieben sei, obwohl Helmut Fogt diese Annahme schon 1981 in einem Aufsatz über die frühe deutsche Max Weber-Rezeption widerlegt hat. Fogt führt mehrere Indikatoren an, welche die herausragende Bedeutung Max Webers auch in der deutschen Soziologie der 1920er Jahre anzeigen. Weber war im repräsentativen Handwörterbuch der Soziologie (1931) der meistzitierte Autor. In den einzelnen Forschungsfeldern erfuhren die Weber’schen Schriften Aufmerksamkeit und vermittelten Anstöße: so in der empirischen Sozialforschung, der Religionssoziologie, der Rechtssoziologie und der Parteisoziologie. Webers Werk war in den für die frühe deutsche Soziologie maßgeblichen Zeitschriften immer gegenwärtig und erfuhr intensive Behandlung. Für die Bedeutung Max Webers in den 1920er Jahre spricht auch, dass dessen Werk schon in dieser Zeit eine eigene Sekundärliteratur angeregt hat. Als weiteren Indikator führt Fogt die Rezensionen an, die Webers Arbeiten zuteil wurden. Schließlich spricht auch die Tatsache, dass Weber auf den fünf deutschen Soziologentagen 1922 bis 1930 die deutlich meistgenannte Person war, gegen eine Außenseiterstellung in der frühen deutschen Soziologie. Als der amerikanische Soziologe Earle Edward Eubank 1934 Europa besuchte und nach den besten Soziologen fragte, wurde meist Max Weber genannt (Kaesler 1985). <?page no="137"?> 138 7. Zur wissenschaftlichen Rezeption Max Webers Der wichtigste Einfluss Webers in dieser Zeit bestand darin, eine auf den Axiomen des Historismus begründete historische Soziologie entscheidend inspiriert zu haben-- mit seinen wissenschaftslogischen Überlegungen wie mit seinen eigenen historischsoziologischen Studien. Zu den Soziologen, die sich in diesem Sinne von Weber anregen ließen, zählten Franz Oppenheimer, Alfred Weber, Alfred von Martin, Hans Freyer, Eduard Heimann, Karl Mannheim und Norbert Elias. Das bedeutet nicht, dass sie in einem schulmäßigen Sinn »Weberianer« waren, aber sie alle bemühten sich auf ihre Art um eine konstruktive Verbindung von Theorie und Geschichte (vgl. Kruse 1999). Umgekehrt schöpfte Weber selbst aus dem geistigen Reichtum der deutschsprachigen Wissenschaftslandschaft vor dem Ersten Weltkrieg. Als Beispiele seien nur erwähnt: Werner Sombart, der den von Weber zentral verwendeten Begriff des kapitalistischen Geistes prägte, und Heinrich Rickert, dessen Wissenschaftstheorie Weber neue Horizonte eröffnete und die methodologische Grundlage für seine eigene Wissenschaft schuf. Von den zeitgenössischen Soziologen rezipierte Weber vor allem Simmel und Tönnies, wohingegen er Durkheim ignorierte. Weber ist also ein Produkt des deutschsprachigen Wissenschaftsraums, der so seit dem Dritten Reich und der Nachkriegszeit nicht mehr existiert. M. Rainer Lepsius (1979, S. 25) stellte fest: »Aus der ›Deutschen Soziologie‹, wie sie als eigene Prägung noch in den zwanziger Jahren international wahrgenommen wurde, ist eine Soziologie in Deutschland geworden, die sich im wesentlichen der internationalen Entwicklung einfügt.« Max Weber war Exponent dieser »deutschen Soziologie« (vgl. Kruse 1999). Die nationalsozialistische Machtergreifung markierte auch eine Zäsur in der Weber-Rezeption. Im »Dritten Reich« gab es-- abgesehen von der »inneren Emigration«-- zwei Hauptströmungen, die sogenannte Deutsche Soziologie, die sich u. a. auf Hegel zurückführte, und eine nationalsozialistische Soziologie, die vor allem Raumforschung über die ethnische Zusammensetzung besetzter bzw. zu besetzender Gebiete betrieb. Weber spielte dabei als Bezugspunkt eine eher geringe Rolle. Seine Schriften waren allerdings nicht verboten. »Was speziell Max Weber betraf, so gab es dazu nie eine Parteilinie; weder wurden seine Schriften verbrannt, noch wurde er offiziell verdammt.« (Radkau 2005, S. 846) Es existierte sogar ein Max-Weber-Freundeskreis im Umfeld von Hans Frank, dem Generalgouverneur des besetzten Polen, der in München bei Max Weber studiert hatte (ebd., S. 847). Es enstanden zudem vereinzelt noch heute wissenschaftlich bedeutsame Studien zu Max Weber. Alfred Müller- Armack, der nach dem Zweiten Weltkrieg als einer der geistigen Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft berühmt wurde, weitete Webers Protestantismus-These in einer religionssoziologischen Trilogie (1939, 1947, 1948) historisch über die Anfänge des modernen Kapitalismus im 16. und 17. Jahrhundert auf das 18. und 19. Jahrhundert aus (Müller-Armack 1976). Demnach war auch im 18. Jahrhundert die protestantische Ethik ein wichtiger und unentbehrlicher Faktor für die Entfaltung des modernen Kapitalismus. Bemerkenswert ist auch Alexander von Scheltings Studie <?page no="138"?> 7.1 Zur Interpretation Max Webers im Wandel der Zeit 139 Max Webers Wissenschaftslehre (1934), die neben Dieter Henrichs Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers (1952) als die beste ältere Arbeit zur Methodologie Max Webers angesehen werden darf. Während Weber im »Dritten Reich« eher in den Hintergrund trat, ohne von der Bildfläche zu verschwinden, kam in den USA die Weber-Rezeption in Gang. Zur Verbreitung seiner Schriften trugen deutsche Emigranten wie Hans Gerth, Albert Salomon, Louis Wirth und Reinhard Bendix bei. Zu den frühesten amerikanischen Soziologen, die Weber intensiv aufnahmen, zählten Edward Shils, Edward Hartshorne, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg als amerikanischer Besatzungsoffizier um den Wiederaufbau der deutschen Soziologie verdient machte, und vor allem Talcott Parsons. Dieser übersetzte die Protestantische Ethik ins Englische. Parsons hatte 1925/ 26 in Heidelberg studiert und wurde zu einem begeisterten Anhänger Webers. 1937 brachte er sein erstes berühmtes Hauptwerk hervor: The Structure of Social Action. Darin vertrat er die These, dass in der scheinbar heterogenen europäischen Soziologie, namentlich bei Durkheim, Pareto und Weber, eine gemeinsame Handlungstheorie angelegt sei, die herauszuarbeiten er unternahm. Auf diese Weise wurde Weber in die Nähe des soziologischen Mainstreams gerückt, für den stellvertretend die Namen Comte, Spencer, Durkheim und Parsons stehen. Da Parsons in den 1950er und 1960er Jahren zum weltweit führenden Theoretiker avancierte, trug er wesentlich zur Verbreitung des Weber’schen Werks bei; er prägte maßgeblich die Weber-Interpretation (vgl. Gerhardt 2006, Scaff 2006). Von großer Bedeutung für die angloamerikanische Weber-Rezeption war außerdem Max Weber. An Intellectual Portrait- - eine Studie, die der deutsche Emigrant Reinhard Bendix 1960 veröffentlichte. Sie war die erste Gesamtdarstellung der Soziologie Max Webers und bildete einen wichtigen Bezugspunkt für spätere Interpretationen. Hier wurde erstmals das Gesamtwerk zum Gegenstand gemacht. In Deutschland blieb die Weber-Rezeption in den 1950er und frühen 1960er Jahren hingegen eher verhalten; »es dauerte dann doch erst bis zum Jahr 1964, dass Weber eine größere Resonanz innerhalb und außerhalb der rein akademischen Insiderdebatten erlangte« (Kaesler 2006, S. 183). Man wusste zunächst in Deutschland mit Weber nicht viel anzufangen. Er wurde z. B. von René König, einem führenden deutschen Nachkriegssoziologen, der sich an Durkheim orientierte, lediglich als Sinnbild wissenschaftlicher Redlichkeit gepriesen. Anschlussfähig erschien in dieser Zeit vornehmlich seine Lehre über Werturteilsfreiheit. Manche schmähten Weber auch als einen unfreiwilligen geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus. Johannes Winckelmanns später viel beachtete Arbeiten an einer neuen Rekonstruktion von Wirtschaft und Gesellschaft fanden zu dieser Zeit eher weniger Aufmerksamkeit. Zumindest ein dauerhaft bedeutendes Werk erschien in dieser Zeit: Der Historiker Wolfgang J. Mommsen legte 1959 mit Max Weber und die deutsche Politik eine Studie vor, die bis heute der wichtigste Beitrag zum politischen Denken und Handeln Max Webers geblieben ist. Sie demonstriert, wie stark Weber im deutschen Nationalismus verhaftet war. <?page no="139"?> 140 7. Zur wissenschaftlichen Rezeption Max Webers Ab den 1970er Jahren kam es auch in Deutschland zu einer intensiven und fruchtbaren Weber-Diskussion, die maßgeblich von Friedrich Tenbruck und Wolfgang Schluchter geprägt war. Schluchter sah Weber als einen Theoretiker der modernen Gesellschaft. Er stellte Webers Theorie der Rationalisierung ins Zentrum und rückte diesen in die Nähe der Modernisierungstheorie und der modernen Sozial- und Gesellschaftsgeschichte. Aus dem Rationalisierungstheorem ist demnach die Soziologie Webers zu analysieren und zu verstehen. Man kann Schluchters bekanntes Werk Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus als Weber-Interpretation lesen, aber auch als eigene Theoriebildung auf der Grundlage von Weber. Tenbruck stand der Sinn nicht danach, Weber für eine eigene Theorie zu verwerten, sondern ihn bewegte die Frage, wie Weber adäquat zu verstehen ist, was sein zentrales Erkenntnisinteresse war und was man als Hauptwerk anzusehen hat. Bis in die 1970er Jahre sah die Wissenschaftler-Gemeinschaft selbstverständlich Wirtschaft und Gesellschaft als das Hauptwerk von Max Weber, das zu Ende zu führen ihm nicht vergönnt gewesen sei. Um die Herausgabe von Wirtschaft und Gesellschaft aus hinterlassenen Manuskripten hatte sich Johannes Winckelmann in jahrzehntelanger mühevoller Kleinarbeit besonders verdient gemacht. Tenbruck vertrat nun die These, Marianne Weber habe Wirtschaft und Gesellschaft nachträglich zum Hauptwerk stilisiert, um damit den verehrten verstorbenen Gatten, der eigentlich nur Aufsätze hinterlassen hatte, nachträglich wissenschaftlich aufzuwerten. Max Weber selbst habe die in Wirtschaft und Gesellschaft veröffentlichten Manuskripte eher als Auftragsarbeiten für ein von ihm herausgegebenes Handbuch der Sozialökonomik betrachtet. Sein eigentliches, persönliches Anliegen finde sich in den religionssoziologischen Aufsätzen. Inzwischen vertreten viele Weber-Forscher die Ansicht, die Religionssoziologie stelle Fokus und Zentrum des Weber’schen Werks dar. Tenbrucks Ausführungen zu Wirtschaft und Gesellschaft machten deutlich, dass es mit der Werkherausgabe nicht zum Besten bestellt war. Marianne Weber hatte nach Webers Tod die wichtigeren Aufsätze in sachsystematisch geordneten Bänden herausgegeben. Das war ein wichtiges und verdienstvolles Unternehmen, denn erst so wurden die verstreuten, teilweise in eher abgelegenen Journalen publizierten Beiträge Webers der Wissenschaftler-Gemeinschaft leicht zugänglich. Aber damit waren Webers wissenschaftliche Schriften keineswegs vollständig erfasst und das musste, als Weber mit der Zeit zum weltberühmten Klassiker aufstieg, als schmerzliche Lücke empfunden werden. Ein anderes Problem bildete Webers berühmteste Schrift Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus; sie war in den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie nur in einer überarbeiteten Spätfassung abgedruckt. Die ursprüngliche Fassung von 1904/ 05 war nicht enthalten. In einer Sonderausgabe der Protestantischen Ethik wurde im ersten Band die Fassung von 1920 abgedruckt, in einem zweiten die Kritiken, die sich allerdings auf die erste Auflage bezogen. Im Jahr 1974 konstituierte sich ein Herausgeberkreis (Horst Baier, M. Rainer Lepsius, Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter, Johannes Winckelmann) mit dem <?page no="140"?> 7.1 Zur Interpretation Max Webers im Wandel der Zeit 141 Ziel, die Werke Webers neu und umfassend zu edieren. Die Gesamtausgabe erfasst alle gedruckten und ungedruckten Werke, Reden, Vorlesungen Max Webers. Die daraus erwachsene historisch-kritische Gesamtausgabe, die über 40 Bände umfassen soll, ist in drei Abteilungen gegliedert, die die veröffentlichten und nachgelassenen Schriften (Abteilung I), die Briefe (Abteilung II) sowie die Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften (Abteilung III) enthalten. Für die Verteilung der Schriften auf die einzelnen Bände der Gesamtausgabe sind die jeweiligen Sachzusammenhänge sowie die Chronologie entscheidend. Jeder einzelne Band enthält neben den historisch-kritisch bearbeiteten Texten Webers einen editorischen Bericht zu den Texten sowie eine Einleitung. In Letzterer informiert der Herausgeber über die Anordnung, die thematischen Schwerpunkte sowie über den historischen Hintergrund der Texte. In dem den Texten jeweils vorangestellten editorischen Bericht wird detailgenau über dessen Entstehung, Entwicklung und Überlieferung sowie über die editorischen Entscheidungen (z. B. zugrunde gelegte Textfassungen) informiert. Die Bearbeitung und Präsentation der einzelnen Texte folgt der historisch-kritischen Methode. Jeder Band ist mit einem textkritischen Apparat (Korrekturen- und Variantenapparat) sowie einem Erläuterungsapparat versehen. Dieser Apparat soll es den Lesern ermöglichen, die ursprünglich von Weber vorgesehene Textgestalt zu erschließen. An vergleichbaren Editionsregeln orientiert sich die Veröffentlichung der Briefe sowie der Vorlesungen und Vorlesungsnachschriften Webers. Diese sind inhaltlich in die Themenfelder Nationalökonomie, Finanzwissenschaft, Arbeiterfrage, Agrarwesen, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sowie Allgemeine Staatslehre und Politik untergliedert. Ein wesentliches Ziel der historisch-kritischen Gesamtausgabe ist es, der zukünftigen Forschung eine historisch-kritischen Maßstäben genügende Textgrundlage zur Verfügung zu stellen. Dies ist gerade mit Blick auf die bereits angesprochenen Kontroversen innerhalb der Weber-Rezeption von Interesse. Besonders schwierig stellte sich die Lage bei Wirtschaft und Gesellschaft dar. Dieser Band war ursprünglich von Marianne Weber als »Hauptwerk« herausgegeben worden. Spätestens mit Tenbrucks Kritik erkannte die Wissenschaftler-Gemeinschaft, dass es sich um eine Zusammenstellung hinterlassener Manuskripte handelte, wobei die Eingriffe der Weber-Gattin nicht immer voll transparent waren. Ungewiss war auch, ob Max Weber selbst ein solches Werk in dieser Komposition geplant hatte. Die Herausgeber der Max Weber Gesamtausgabe entschlossen sich daher, Wirtschaft und Gesellschaft nicht als Gesamtband, sondern in einzelnen, sachsystematisch geordneten Einzelbänden herauszugeben. Diese Entscheidung blieb nicht unwidersprochen. Der Japaner Hiroshi Orihara arbeitete zahlreiche Verweise innerhalb von Wirtschaft und Gesellschaft heraus. Dies sei, so Orihara, ein starkes Indiz dafür, dass Weber sehr wohl ein einheitliches Werk Wirtschaft und Gesellschaft geplant habe, allerdings in einer anderen Reihenfolge als in den von Marianne Weber und Johannes Winckelmann herausgegebenen Auflagen. Doch ist auch hier nicht in jedem Fall sicher, dass der <?page no="141"?> 142 7. Zur wissenschaftlichen Rezeption Max Webers einzelne Verweis von Max Weber selbst stammt. Mit letzter Sicherheit wird sich diese Frage aufgrund der Quellenlage nicht mehr klären lassen (vgl. Schluchter 2009). Unabhängig davon ergab 1997 eine Umfrage der International Sociological Association unter ihren Mitgliedern, dass Wirtschaft und Gesellschaft das einflussreichste soziologische Buch des 20. Jahrhunderts gewesen sei. Die Protestantische Ethik gelangte auf den vierten Platz (Ay/ Borchardt 2006, S. 7). Es könnte also sein, dass sich inzwischen die Winckelmann-Ausgabe von Wirtschaft und Gesellschaft trotz ihrer unleugbaren editorischen Schwächen quasi als Kulturgut eigenen Rechts etabliert hat. Neu war in den 1970er und 1980er Jahren die »Entdeckung« des kulturwissenschaftlichen Weber. Parsons, dem an generalisierender Erkenntnis lag, hatte ja Weber für den naturalistischen Mainstream des Fachs vereinnahmt. Er hatte sich für Webers Theorie als Teil bzw. Quelle einer allgemeinen Theorie sozialen Handelns interessiert. Es waren vor allem Friedrich Tenbruck und zuerst Johannes Weiß, die eine alternative Sichtweise aufzeigten und etablierten. Weber sei-- ungeachtet des Werturteilspostulats und der Bestimmung der Soziologie als eines Fachs, das nach »den generellen Regeln des Geschehens« sucht, nicht dem nomologischen Lager (vgl. Kap. 2.1) zuzurechnen. Vielmehr verstehe Weber Sozialwissenschaft als »Wirklichkeitswissenschaft« bzw. »Kulturwissenschaft«, welche die Ausschnitte der Wirklichkeit bearbeitet, die für uns ›Kulturbedeutung‹ haben. Soziologie als generalisierende Disziplin stehe nicht außerhalb der historischen Sozialwissenschaft, sondern sei ein integraler Teil von ihr, zuständig für die Bildung von Idealtypen, die ein Hilfsmittel historischer Forschung und ohne sie sinnlos wären. Weiß vertritt in seiner 1975 erstmals veröffentlichten Studie Max Webers Grundlegung der Soziologie die These, »daß die wissenschaftstheoretischen und methodologischen Überlegungen Webers als konstitutiver Teil seiner Grundlegung der Soziologie aufzufassen sind, weil nur von ihnen her die Möglichkeit und die Notwendigkeit dieses theoretischen Ansatzes einsichtig werden« (Weiß 1992, S. 18). Auch Tenbruck sieht in einem 1986 veröffentlichten Aufsatz die Wissenschaftslehre als »Schlüssel« zum Verständnis Max Webers. Die Thesen von Tenbruck und Weiß regten intensive Forschungen über Webers methodologische Arbeiten an, an denen sich u. a. Pietro Rossi, Gerhard Wagner, Heinz Zipprian und Hartmann Tyrell beteiligten. Webers Sozialwissenschaft ist-- folgt man dieser Interpretationslinie-- nicht Teil einer alteuropäischen Soziologie, die von Parsons zusammengeführt und von Luhmann überholt wurde, sondern ein eigener Ansatz mit eigenen Axiomen und Erkenntnisprinzipien, der sich von anderen soziologischen Theorieansätzen grundlegend unterscheidet. Ungeachtet aller intensiven Forschungen gab es lange Zeit keine Biografie über Max Weber. Marianne Webers Lebensbild beherrschte in dieser Hinsicht über das ganze 20. Jahrhundert die wissenschaftliche Szene. Das änderte sich in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts. 2001 legte Guenther Roth eine deutsch-englische Familiengeschichte der Webers vor. Roth zeigte, dass die Familie der Webers international verzweigt war, wie es in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg im großbürgerlichen <?page no="142"?> 7.1 Zur Interpretation Max Webers im Wandel der Zeit 143 Milieu durchaus üblich war. 1959 hatte Wolfgang J. Mommsen in seinem berühmten Werk über den Politiker Max Weber diesen als deutschen Nationalisten interpretiert. Roth hingegen leitete aus der Familiengeschichte die These ab, dass das politischgesellschaftliche Denken Max Webers auch durch starke anglophile Tendenzen geprägt war. Der Bielefelder Historiker Joachim Radkau unternahm 2005 das Wagnis, eine neue Weber-Biografie vorzulegen. Radkau wollte zeigen, dass hinter dem rationalen Kopfmenschen Weber tiefgründige Leidenschaften, nicht zuletzt erotische Leidenschaften brodelten, die in gewisser Weise in sublimierter Form in sein wissenschaftliches Denken umschlugen. Es war, so Radkau, nicht zuletzt diese untergründige, Friedrich Tenbruck über die Probleme der Weber-Interpretation von Talcott Parsons »Das weitere Verhältnis der Soziologie zu Max Weber ist dann entscheidend durch Parsons’ Interpretation in ›The Structure of Social Action‹ (1937) geprägt worden, wo bereits der Grund gelegt wurde für die spätere Entfaltung des Struktur-Funktionalismus, den Parsons in »The Social System« vorführte. Parsons’ Fall ist deshalb so lehrreich wie symptomatisch, weil er es nicht am sorgfältigen Studium der Texte hatte fehlen lassen. Er scheiterte nicht mangels einer Kenntnis des Werks; er scheiterte vielmehr deshalb, weil er mit bestimmten Vorannahmen über die Wissenschaft im allgemeinen und die Soziologie im besonderen an das Werk herantrat, die zwangsläufig zu einer Umdeutung führen mußten. Obschon er sich vom Positivismus abzusetzen suchte, entstammen seine Vorannahmen letztlich doch dem Paradigma, das Auguste Comte als das angeblich einzig mögliche Konzept einer Wissenschaft von der Gesellschaft entwickelt hatte. Grundlage dieses Szientismus ist die Überzeugung, daß alle Wissenschaft es sich zum Ziel setze, die Gesetzmäßigkeiten ihres Gegenstandes in einer systematischen Theorie zu erfassen, welche Vorhersagen erlaubt und technische Beherrschung ermöglicht. Es ist eben jene Auffassung von Wissenschaft, die Max Weber als ›Gesetzeswissenschaft‹ bezeichnete, der er als Gegenentwurf seine Soziologie als ›Wirklichkeitswissenschaft‹ entgegenstellte. Dem Konzept Comtes, das Marx nur um eine Variante bereicherte, ist die französische Soziologie mit Emile Durkheim gefolgt. Auch die amerikanische Soziologie hielt es von Anfang an für selbstverständlich, dass die Soziologie die ›Gesetze‹ der ›Gesellschaft‹ zu ermitteln habe […] Und wo immer dieses Verständnis der Soziologie vorherrscht, bleibt kein Platz für Max Webers Alternative der Soziologie als ›Wirklichkeitswissenschaft‹« (Friedrich Tenbruck, Das Werk Max Webers: Methodologie und Sozialwissenschaften, 1986, in: Tenbruck 1999, S. 161 f.; Namen im Orig. hervorgehoben) <?page no="143"?> 144 7. Zur wissenschaftlichen Rezeption Max Webers mühsam gebändigte Leidenschaft, die Zeitgenossen an Weber faszinierte. Hier wird eine Tiefenschicht der Persönlichkeit Webers freigelegt, die naturgemäß in der Biografie seiner Frau nicht so zum Tragen kam. 7.2 Max Weber als Bezugsrahmen soziologischer Theoriebildung Von der Weber-Forschung und -interpretation, um die es bislang ging, ist die Weber- Rezeption zum Zweck eigenständiger Theoriebildung und Forschung zu unterscheiden. Die ersten Erben in diesem Sinn sind die historischen Soziologen der Weimarer Zeit, z. B. Alfred Weber, Karl Mannheim, Eduard Heimann und Norbert Elias. Sie beriefen sich neben Sombart auf Max Weber und definierten ihren Forschungsgegenstand logisch als historisches Individuum im Sinne Webers (vgl. Kap. 2.4). Zur gleichen Zeit schlug in Österreich Alfred Schütz ganz andere Wege der Weber- Rezeption ein. Er interessierte sich für Webers Handlungstheorie und das Konzept des sinnhaften sozialen Handelns. Er differenzierte und verfeinerte das Konzept, gab ihm eine neue methodologische Grundlage (Phänomenologie Husserls) und entwickelte eine Theorie der Lebenswelt-- Weber hatte eine Theorie sozialen Handelns als Ausgangspunkt historisch-soziologischer Forschung auf der Makroebene im Sinn gehabt. Nichtsdestotrotz wurde er über Schütz zu einem Ahnherrn und Gründervater der interpretativen Soziologie. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Weber in der amerikanischen Soziologie auf breiter Front aufgenommen und verarbeitet. »Jetzt begann die große Zeit der Weber- Rezeption und Kernteile seines Werks wurden Grundsteine für die neuen Forschungs- und Lehrgebiete: in der Schichtungstheorie Klasse und Stand, in der Organisations- und Industriesoziologie Bürokratie und Rationalisierung, in der politischen Soziologie und Wissenschaft die Rechtfertigungsweisen und Verwaltungsformen der Herrschaft, in der Entwicklungssoziologie die funktionalen Alternativen und Äquivalente der protestantischen Ethik und die traditionalistischen (patrimonialen) Widerstände gegen die Modernisierung, in der Religionssoziologie Sekten und Kirchen, weltliche und priesterliche Herrschaft […].« (Roth 1992, S. 67) Weniger affirmativ war naturgemäß das Verhältnis der Kritischen Theorie zu Weber. Sein Werk wurde als »traditionelle Theorie«, als Positivismus und Dezisionismus verortet. In Horkheimers Schrift Traditionelle und kritische Theorie, in Adornos Positionierung im Positivismusstreit und in Marcuses Beitrag auf dem Max Weber gewidmeten Soziologentag 1964 erscheint Weber als (politischer) Gegner. Wenn es um die Analyse moderner Gesellschaft ging, nahmen die Denker der Kritischen Theorie allerdings durchaus bei ihm Anleihen. In der Dialektik der Aufklärung beschreiben Horkheimer und Adorno, wie der aufgeklärte Mensch Strukturen schafft, die ihn schließlich beherrschen. Dieses Theorem erinnert an Webers Denkfigur vom modernen Menschen, der eine zweckrationalisierte, bürokratisierte Welt schafft, die ihm <?page no="144"?> 7.2 Max Weber als Bezugsrahmen soziologischer Theoriebildung 145 zum »stahlharten Gehäuse der Hörigkeit« wird. Anders als Weber halten die Vertreter der Kritischen Theorie aber an der Vorstellung einer objektiven Vernunft fest. Jürgen Habermas setzt sich in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981) intensiv mit Weber auseinander. »Habermas kritisiert mit Weber die ältere Kritische Theorie und benutzt ihn zum Ausbau einer eigenen Theorie der Gesellschaft.« (Homann 1999, S. 171) Insgesamt ist das Weber-Bild der Kritischen Theorie ambivalent: »Der wachsenden Bedeutung Webers als Zeitdiagnostiker und soziologischer Gewährsmann steht die Ablehnung einer ›wertfreien‹ Theorie der Gesellschaft gegenüber, die auf einen umfassenden und emanzipatorischen Vernunftanspruch verzichte.« (ebd.) Vergleichbar ambivalent fällt das Verhältnis von Niklas Luhmann zu Weber aus. Aus der Sicht Luhmanns ist Weber ein Vertreter alteuropäischen Denkens und damit durch die Systemtheorie überholt. Luhmann bezieht sich dabei auf die allgemeintheoretischen Grundlagen der Soziologie. Weber hatte soziales Handeln als Grundeinheit des Sozialen konzipiert. Luhmann postuliert hingegen, dass der Begriff der Kommunikation als Elementarbegriff des Sozialen anzusehen ist. Webers Konzept des »sinnhaft handelnden Akteurs« wird bei Luhmann zum psychischen System. Auf der anderen Seite dient Weber Luhmann als wichtige Quelle für die eigene Theoriebildung. Luhmanns Theorie der Organisation geht von Webers Bürokratietheorie aus, was der Bielefelder Meister der Systemtheorie auch ausdrücklich anerkennt. Auch die Theorie der Funktionssysteme verdankt möglicherweise Webers Theorem der »Differenzierung der Wertsphären« wichtige Anregungen. Das wird bei Luhmann zwar so nicht ausgewiesen, aber sicher ist, dass man Gedanken von Luhmanns besagter Makrotheorie bereits bei Weber findet (vgl. Kap. 6.2). Dagegen betrachten Vertreter der angloamerikanischen historischen Soziologie, die sich seit den 1960er Jahren herausgebildet hat (Reinhard Bendix, Barrington Moore, Michael Mann, Theda Skocpol), Weber als ihren Ahnherren-- »mit ihrem Interesse an historischer Genese und kontingenten Entwicklungen, besonders der ›Zufälligkeit‹ der modernen Welt« (Roth 1992, S. 67). Die historischen Soziologen wollen den aus ihrer Sicht überzogenen Verallgemeinerungen der Modernisierungstheorie historische Forschung und induktiv erschlossene theoretische Aussagen entgegenstellen. Dabei gelangen sie faktisch zu Webers Kategorie der Wirklichkeitswissenschaft. Insofern kann man sagen, dass es die historische Soziologie ist, die heute am ehesten das legitime Erbe Max Webers angetreten hat. Besonders ausgeprägt ist dies bei Reinhard Bendix, der in seinem universalgeschichtlich angelegten Werk Könige und Volk in einer Vielzahl von Einzelstudien den Übergang von traditionaler zu moderner legaler Herrschaft verfolgt. Heidelberger Soziologen wie M. Rainer Lepsius, Wolfgang Schluchter und Gert Albert versuchen seit einigen Jahren, ein »Max Weber-Paradigma« zu etablieren, welches den harten Kern von Webers Wissenschaftsprogramm herausarbeitet und weiterentwickelt (vgl. Albert u. a. (Hg.) 2003, Albert u. a. (Hg.) 2006; Albert 2009). Webers Sozialwissenschaft wird dabei als ein dritter Weg zwischen Erklären und Verstehen, <?page no="145"?> 146 7. Zur wissenschaftlichen Rezeption Max Webers Atomismus und Kollektivismus, Mikro- und Makrosoziologie verstanden, der auf Theorien mittlerer Reichweite hinausläuft. Eine Bezugnahme auf aktuelle theoretische und methodologische Diskussionen soll »Spielräume für Kritik eröffne(n), die Weiterentwicklungen der Weberianischen Position möglich machen in Richtungen, die Weber zu seiner Zeit so nicht intendiert hat, die heute aber plausibel sind« (Albert 2009, S. 518). 7.3 Was bleibt von Max Weber? Versucht man die höchst umfangreiche, weitgespannte und verzweigte Rezeption auf wenige Tendenzen zu reduzieren, lassen sich die folgende Ergebnisse hervorheben: 1. Das wichtigste, sein Hauptinteresse betreffendes Werk Webers sind seine religionssoziologischen Aufsätze, nicht Wirtschaft und Gesellschaft. 2. Die Protestantische Ethik wird, was die Begründung der Grundthese anbetrifft, zunehmend kritisch bis ablehnend beurteilt. Es werden immanente Inkonsistenzen und das Fehlen einer empirischen Beweisführung bemängelt. 3. Nach wie vor umstritten ist, ob man Webers Werk eher unter Kontinuitäts- oder Diskontinuitätsgesichtspunkten interpretieren sollte. Die einen meinen, Webers Soziologie einschließlich der Soziologischen Grundbegriffe seien Teil seines Konzepts einer historischen Sozialwissenschaft. Andere meinen, Weber habe sich vom Historismus abgewandt und sei um 1910 zum Soziologen geworden. Das würde aus soziologischer Sicht bedeuten, Webers methodologische Arbeiten wie den Objektivitätsaufsatz als Ausdruck einer später überwundenen Phase zu marginalisieren. 4. Unklar bleibt, ob Weber als deutscher Nationalist (Mommsen) oder eher als anglophiler Weltbürger (Roth) anzusehen ist. Was bleibt von Max Weber? Wenn man eine bündige Antwort sucht, dann vielleicht in folgender Weise: Weber ist zum einen ein großer Inspirator der Soziologie geworden. In vielen Theorien und empirischen Forschungen finden sich seine Theoreme und Begriffe. Außerhalb des Kreises der Weber-Experten herrscht eine selektive Weber-Rezeption vor. So interessieren sich soziologische Theoretiker für die Lehre des sozialen Handelns, Organisationssoziologen für die Bürokratietheorie, Sozialstrukturanalytiker für die Begriffe »Klasse« und »Stand«, Religionswissenschaftler für die Religionssoziologie, Politikwissenschaftler für die Herrschaftssoziologie usw. Es gibt also ein breites und heterogenes Feld von Rezipienten, die Weber entsprechend ihrer Forschungs- und Erkenntnisinteressen aufnehmen. Weber ist somit Bezugsrahmen und Quelle sozialwissenschaftlicher Forschung. Ungeachtet dessen gilt aber auch, dass Max Weber als eine grundsätzliche Alternative zu heutiger soziologischer Theoriebildung und Forschung angesehen werden <?page no="146"?> 7.3 Was bleibt von Max Weber? 147 kann. Sein Ziel war die Begründung einer transdisziplinär orientierten historischen Sozialwissenschaft (»Wirklichkeitswissenschaft«), welche die Lebensprobleme, in die wir hineingestellt sind, in ihrer historischen Eigenart zum Gegenstand macht. In gewisser Weise ist Weber trotz seiner Omnipräsenz im heutigen Soziologiebetrieb nicht einer von uns, sondern ein Anderer, um nicht zu sagen: ein Fremder. Es ist zweifellos legitim und fruchtbar, ihn zur Quelle von theoretischen Ideen zu machen, die nicht die seinen sind. Aber es lohnt sich nach wie vor, der Frage nachzuspüren, was Weber wollte, wie seine Schriften zusammengehören und worin die Leitidee seines Werks besteht. Vor allem ist es wichtig, einerseits eigene Theorieanstrengungen, die sich Webers sozialwissenschaftlichem Denken zu ihren Zwecken bedienen, und andererseits Bemühungen um eine »authentische« Weber-Interpretation zu unterscheiden. Text-Exegese von Klassikern kann nicht der Königsweg der Sozialwissenschaften sein. Bei Weber lohnt sich allerdings eine intensive Lektüre, weil in seinen Texten grundsätzliche Fragen sozialwissenschaftlichen Forschens auf hohem intellektuellem Niveau behandelt sind: das Verhältnis von Theorie und Empirie bzw. Theorie und Geschichte, die Frage nach »Objektivität« in den Sozialwissenschaften, das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit, Möglichkeiten und Grenzen moderner Wissenschaft. Weiterführende Literatur Gert Albert/ Agathe Bienfait/ Steffen Sigmund/ Claus Wendt (Hg.): Das Weber-Paradigma. Studien zur Weiterentwicklung von Max Webers Forschungsprogramm, Tübingen 2003. Karl-Ludwig Ay/ Knut Borchardt (Hg.): Das Faszinosum Max Weber. Eine Geschichte seiner Geltung, Konstanz 2006. Helmut Fogt: Max Weber und die deutsche Soziologie der Weimarer Republik: Außenseiter oder Gründervater? , in: M. Rainer Lepsius (Hg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945, Opladen 1981, S. 245-272. Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. Hanser: München 2005, S. 829- 859. Friedrich H. Tenbruck: Das Werk Max Webers. Gesammelte Aufsätze zu Max Weber, hg. von Harald Homann, Tübingen 1999, S. 160-163. Johannes Weiß (Hg.): Max Weber heute. 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Der Autor zeigt, wie soziologische Theorien in der Auseinandersetzung mit zeitspezifischen politischen, ökonomischen und kulturellen Herausforderungen entstehen und ermöglicht damit ein leichteres Verständnis der begrifflichen und theoretischen Grundlagen der Soziologie. »Eine umfassende, informative, verständliche, z.T. sogar spannend zu lesende Studie.« ekz-Informationsdienst »Die aufgezeigten vielfältigen Verflechtungen sind höchst interessant, so dass die Geschichte der Soziologie mit diesem Band viel Freude macht und zur Vertiefung einlädt - eine Empfehlung auch für Nichtsoziologen.« cultdoc.uni-giessen.de : Weiterlesen <?page no="154"?> Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de : Weiterlesen Hartmut Rosa, David Strecker, Andrea Kottmann Soziologische Theorien 2007, 306 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-2836-1 UTB Basics Eine grundlegende Einführung in die klassischen und zeitgenössischen soziologischen Theorien für Studienanfänger ohne fachspezifische Vorkenntnisse. Während in traditionellen Einführungen die Theorien nach Schulen geordnet werden, stellen die Autoren die einzelnen Ansätze systematisch und historisch anhand ihrer jeweiligen Diagnose der Moderne vor. Für die Strukturierung der Ansätze ziehen sie die perspektivische Auffächerung der Modernisierung nach Prozessen der Rationalisierung, Individualisierung, Differenzierung und Domestizierung heran und verdeutlichen so Zusammenhänge und Unterschiede. »Für Studienanfänger sozialwissenschaftlicher Fächer sehr gut geeignet.« ekz-Informationsdienst <?page no="155"?> Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Matthias Junge Kultursoziologie Eine Einführung in die Theorien 2009, 138 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-3299-3 Kompakt und anschaulich führt Matthias Junge in das kultursoziologische Denken ein. Er stellt zentrale Kulturtheorien vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart vor und erläutert, welche empirischen Beobachtungen damit möglich sind. Der Band bietet grundlegendes Wissen und eine dringend erforderliche Orientierung angesichts der Vielfalt der im Bereich Kultursoziologie behandelten Themen. Ein Glossar sowie Kurzbiografien zu den behandelten Autoren runden den Band ab. Matthias Junge ist Professor für Soziologische Theorien und Theoriegeschichte an der Universität Rostock. : Weiterlesen <?page no="156"?> Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Michael Corsten Grundfragen der Soziologie 2011, 322 Seiten, broschiert ISBN 978-3-8252-3494-2 UTB Basics : Weiterlesen Michael Corsten führt StudienanfängerInnen in die Grundfragen der Soziologie ein, indem er sie durch das Labyrinth der soziologischen Fachbegriffe leitet: Er zeigt für ausgewählte Grundbegriffe auf, wie diese im Zusammenhang einer Terminologie - also eines ganzen Begriffssystems - stehen und wie zudem verschieden ansetzende Terminologien auf vergleichbare Gegenstände bezogen sind. Er stellt Verbindungen zwischen verschiedenen Denkansätzen her, integriert dabei spezielle Soziologien (wie Familienforschung, Kultursoziologie, Bildungsforschung etc.) in die Darstellung und vermittelt die Hauptthesen aktueller Gesellschaftsdiagnosen. »Dem Buch gelingt es, die soziologische Vorstellungskraft zu wecken und das soziologische Urteilsvermögen zu stärken. ›Die Grundfragen der Soziologie‹ ist kein Lesebuch, sondern ein Arbeitsbuch. … Dadurch ist es dem Verfasser gelungen, einen wertvollen Beitrag für das Fach Soziologie zu leisten.« socialnet.de Michael Corsten ist Professor für Soziologie an der Universität Hildesheim.