Interkulturelle Philosophie
Aufgaben - Dimensionen - Wege
0926
2016
978-3-8385-3666-8
978-3-8252-3666-3
UTB
Niels Weidtmann
Heute wird die europäisch-westliche Philosophie endlich auf die Pluralität der Kulturen und auf deren Philosophien aufmerksam. Reflexartig werden diese Philosophien jedoch als bloße Varianten europäisch-westlichen Denkens aufgefasst. Das aber greift zu kurz. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, die anderen Erfahrungen, die den außer-europäischen Philosophien zugrunde liegen, ernst zu nehmen und von neuem zu erkennen, dass auch die europäisch-westliche Philosophie ursprünglich auf einer Erfahrung aufruht. In der Begegnung mit anderen Philosophien liegt heute die Chance, diese Erfahrung zu erneuern. Interkulturelle Philosophie ist deshalb mehr als nur eine neue Disziplin der Philosophie. Es geht ihr um eine Selbstbestimmung der Philosophie angesichts der interkulturellen Situation, in der wir heute leben.
Der vorliegende Band bietet eine umfassende Einführung in die interkulturelle Philosophie, stellt ihre zentralen Ansätze und Aspekte vor und ordnet diese in den Gang des Denkens durch die Jahrhunderte ein.
<?page no="0"?> Niels Weidtmann Interkulturelle Philosophie Aufgaben - Dimensionen - Wege <?page no="1"?> u t b 4 2 1 2 Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol Waxmann · Münster · New York utb 3666 <?page no="2"?> Dr. Niels Weidtmann ist Wissenschaftlicher Leiter des Forum Scientiarum und ständiger Lehrbeauftragter des Philosophischen Seminars der Eberhard Karls Universität in Tübingen. <?page no="3"?> Niels Weidtmann Interkulturelle Philosophie Aufgaben - Dimensionen - Wege A. Francke Verlag Tübingen <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Wassily Kandinsky (1866-1944), Komposition VI (Ausschnitt) (1913), Öl auf Leinwand, St. Petersburg, Staatliche Eremitage. © AKG Images 2016. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.francke.de E-Mail: info@francke.de Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany UTB-Nr. 3666 ISBN 978-3-8252-3666-3 <?page no="5"?> Inhalt Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Philosophische Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.1 Multikulturalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.2 Transkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 1.3 Interkulturalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.3.1 Ein spielerisches Verständnis von Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie . . . . . 50 2.1 Einheitstheoretische Ansätze: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.1.1 Universalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2.1.2 Komparative Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.1.3 Polylog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2.2 Differenztheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2.2.1 Heimwelt und Fremdwelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2.2.2 Interkulturelle Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 2.2.3 Dialogphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.2.4 Differenzdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2.3 Philosophie der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3. Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie . . . . 112 3.1 Die europäischen Anfänge der Philosophie: Einheit und Vielheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 3.2 Philosophie als Selbstklärung von Mensch und Welt (Neuzeit) . . 133 3.3 Das Phänomen des Fremden (20. Jahrhundert) . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3.4 Interkulturalität als Dimension (Gegenwart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 4. Aspekte interkultureller Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.1 Das kulturelle Wesen des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 4.2 Das Zwischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4.3 Dimensionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4.4 Grundphilosophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 4.5 Welt und Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 4.6 Kritik und Kritikfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 4.7 Menschlichkeit und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 <?page no="6"?> Inhalt 6 5. Philosophische Begegnung der Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . 220 5.1. Ostasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 5.2. Arabisch-Islamische Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 5.3. Sub-Sahara Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 <?page no="7"?> Einleitung Dieses Buch möchte an die Fragestellungen interkultureller Philosophie heranführen. Es versteht sich nicht als eine klassische Einführung, weil die interkulturelle Philosophie kein klar umrissenes Themenfeld darstellt, in das man einführen könnte. Die interkulturelle Philosophie ist kein Teilgebiet der Philosophie, das sich gegen andere Teilgebiete, etwa die Ontologie, die Metaphysik oder die Ethik, abgrenzen ließe. So wie wir aus der Geschichte der Philosophie verschiedene ontologische, metaphysische und ethische Entwürfe kennen, so begegnen wir auch in anderen Kulturen eigenen ›Ontologien‹, ›Metaphysiken‹ und ›Ethiken‹. Die interkulturelle Philosophie handelt darum von der Philosophie im Ganzen. Das heißt nun aber, wie wir sehen werden, gerade nicht, dass sie die verschiedenen Teilgebiete der Philosophie nur um interkulturelle Positionen erweitern würde, etwa indem sie den aus der europäischen Tradition bekannten Metaphysiken die ›Lichtmetaphysik‹ eines as-Suhrawardī oder andere ›Metaphysiken‹ aus anderen Traditionen zur Seite stellt. Das tut sie zwar auch, aber darin geht sie nicht auf. Ja, die eigentliche Problemhöhe interkultureller Philosophie ist damit noch gar nicht erreicht, sind die philosophischen Überlegungen und Entwürfe aus anderen Kulturen doch dann, wenn sie in einem bestimmten Teilgebiet der Philosophie berücksichtigt werden, immer schon durch den Rahmen kategorisiert, der das jeweilige Teilgebiet absteckt. Damit werden diese Überlegungen und Entwürfe aber schon durch das europäisch-westliche Denken vereinnahmt, bevor sie überhaupt selbst zu Wort gekommen sind. Darüber hinaus unterliegt jeder Rahmen, der ein Teilgebiet der Philosophie begrenzt, schon in der Geschichte der europäisch-westlichen Philosophie einem epochalen Bedeutungswandel und darf darum nicht ohne weiteres einfach vorausgesetzt werden. So bedeutet Metaphysik in der Antike etwas anderes als in der Neuzeit, weil sich die philosophische Blickrichtung bei der Begründung des Seienden nun nicht mehr auf das höchste Seiende richtet, sondern stattdessen auf das dem Seienden zugrunde liegende Subjekt. Nur deswegen lässt sich die neuzeitliche Philosophie als eine Kritik der antiken Metaphysik lesen. Antike und neuzeitliche Metaphysik lassen sich zwar durchaus ineinander übersetzen, aber sie gehören nicht gemeinsam in ein klar umrissenes Teilgebiet der Philosophie. ›Metaphysik‹ bedeutet jeweils etwas anderes. <?page no="8"?> Einleitung 8 Das gilt umso mehr für Philosophien anderer Traditionen. Darum kann ›Metaphysik‹ auch keine sinnvolle Kategorie interkultureller Philosophie darstellen. Selbst die Philosophie im Ganzen steckt das Bedeutungsfeld, innerhalb dessen philosophisches Fragen möglich und sinnvoll ist, nicht einmal für alle Zeiten ab, um es fortan nur noch zu bearbeiten. Stattdessen steht die Bedeutung von Philosophie im Prozess des Philosophierens immer selbst mit zur Debatte und unterliegt dementsprechend geschichtlichem Wandel. Philosophie bedeutet im Deutschen Idealismus etwas anderes als bei Thomas von Aquin. Darum können Fragen, die für Thomas drängend sind, im Deutschen Idealismus nachrangig erscheinen - und umgekehrt. Nur weil das so ist, weil die Bedeutung von Philosophie im Philosophieren immer wieder von neuem begründet wird, kann es in der Philosophie auch solch grundlegende Differenzen zwischen einzelnen Denkschulen geben, wie wir sie aus nahezu allen Zeiten kennen. Das heißt nun freilich nicht, dass die Bedeutung von Philosophie ins Belieben des Einzelnen gestellt wäre. Mitnichten. Stattdessen hängt sie am jeweiligen Gedanken, an dem, was ein Gedanke zu zeigen vermag, von welchen Prämissen er ausgeht - und immer auch daran, wie ein Gedanke die Problemhöhe früherer Philosophie aufzunehmen vermag. Trotz des epochalen Bedeutungswandels und der zahlreichen Differenzen zwischen den verschiedenen Denkschulen und -traditionen lässt sich deshalb dennoch mit gutem Recht von einer zusammenhängenden Geschichte der Philosophie von ihren Anfängen bei den Vorsokratikern um 600 v. Chr. bis zur Gegenwart sprechen. So wie sich die Bedeutung von Metaphysik, Ontologie, Ethik und allen anderen Bereichen der Philosophie im Laufe der Geschichte zwar wandelt, dabei aber immer die alten Bedeutungen aufgenommen und im Lichte neuer Einsichten anders und besser zu begründen versucht werden, so bezieht sich auch die Philosophie gerade dadurch, dass sie sich im Ganzen wandelt und erneuert, immer wieder auf ihre eigenen Anfänge und versucht, alle bisherige Philosophie noch zu unterfangen und in den neuen Ansatz in veränderter Form mit aufzunehmen. Das heißt nun freilich nicht, dass die Philosophie das antike Denken nur noch entfaltet und nicht aus der eigenen Tradition ausbrechen kann. Sie kann und tut das beständig. Aber nicht so, dass sie das bisher Gedachte einfach ignoriert und einen Ansatz entwickelt, der völlig zusammenhanglos und ohne jeden Bezug zu aller früheren Philosophie ist. Stattdessen beweist das Denken seine eigene Freiheit gerade darin, früher Gedachtes zu kritisieren und tiefer zu gründen - und das immer auch im Austausch mit dem Denken anderer kultureller Traditionen. Allerdings ist es von entscheidender Bedeutung zu sehen, dass der Blick auf die Zusammengehörigkeit der Philosophie seit der griechischen Antike nicht <?page no="9"?> Aufgaben 9 scharf genug ist, um den verschiedenen geschichtlichen und sachlich differenten Ansätzen der Philosophie im Einzelnen gerecht zu werden. Es kommt deshalb sehr darauf an, die jeweilige Betrachtungs- und Fragedimension zu wahren. Die Bedeutung des Deutschen Idealismus ist in der Dimension eines geschichtlichen Zusammenblicks der Philosophie nicht in der ihr eigenen Höhe darstellbar. Umgekehrt lässt sich dieser Zusammenblick in der Dimension einzelner Denkansätze nur dann leisten, wenn diese Ansätze die Zusammengehörigkeit des philosophischen Denkens eigens bedenken. Die Unterscheidung der Dimensionen ist für die interkulturelle Philosophie wichtig. Einen Austausch zwischen den Kulturen gibt es auf allen möglichen Ebenen. Gerade die Philosophie des Deutschen Idealismus ist von Denkern zahlreicher Kulturen aufgegriffen und bearbeitet worden. Ähnlich wie für die ›Lichtmetaphysik‹ as-Suhrawardīs bereits angedeutet, ist auf dieser Ebene selbstverständlich ein philosophisches Gespräch zwischen den Kulturen möglich. Damit es zu einem interkulturellen Gespräch wird, müssen in ihm aber auch die kulturellen Dimensionen mit zur Sprache kommen, d. h. es darf nicht nur um verschiedene Auslegungen des Deutschen Idealismus gehen, sondern es muss zugleich um die Verschiedenheit der zugrunde liegenden Denkerfahrungen und Philosophietraditionen gehen, die in den verschiedenen Auslegungen anklingen. Die Philosophie wird darum erst dort interkulturell, wo sie sich im Ganzen durch das Gespräch mit anderen Kulturen betreffen lässt und nicht darauf beharrt, den Bedeutungsrahmen eines philosophischen Gesprächs immer schon voraussetzen zu können. Aufgaben Zugespitzt formuliert ließe sich behaupten, dass mit dem 21 . Jahrhundert ein interkulturelles Zeitalter begonnen hat. War das 20 . Jahrhundert noch ganz vom Ende des Weltmachtanspruchs europäischer Staaten und dem Erstarken der USA auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite geprägt, so ist diese Zweiteilung seit den 1990 er Jahren einer zunehmend multipolar werdenden Welt gewichen. Die weltweite politische Situation ist heute durch die gegenläufigen, aber miteinander zusammenhängenden Entwicklungen einer fortschreitenden Globalisierung auf der einen und zunehmender Regionalisierung auf der anderen Seite geprägt. Zum einen werden jegliche bestehenden Grenzen sowohl durch die immer globaler agierende Wirtschaft als auch durch die modernen Kommunikationsmedien und die dadurch beförderte rasante Internationalisierung nahezu aller Lebensbereiche überschritten. Zum anderen <?page no="10"?> Einleitung 10 hat der Wegfall der beiden großen Machtblöcke aber auch dazu geführt, dass viele Staaten und Gesellschaften, die bislang an einen der Blöcke gebunden waren, nun ihr Recht auf freie Gestaltung ihrer eigenen Politik und auf Berücksichtigung ihrer eigenen Erfahrungstraditionen eingefordert haben. Besonders deutlich ist das mit Blick auf die Staaten des früheren Ostblocks, aber der Wegfall des Ost-West-Antagonismus hat auch zu einer deutlicheren Wahrnehmung der aufstrebenden asiatischen Mächte, allen voran China und Indien, geführt. Auch die afrikanischen Staaten, von denen die meisten zwar bereits um 1960 die Unabhängigkeit erlangt hatten, haben in den 1990 er Jahren eine Renaissance erlebt. Die Globalisierung führt also keinesfalls geradewegs in einen einheitlichen Weltstaat. Vielmehr scheint es fast so zu sein, dass die Aufweichung der bisherigen machtpolitischen Grenzen die Vielfalt gefördert hat. Jedenfalls scheinen die Globalisierung von Wirtschaft und Kommunikation sowie der größer werdende Druck, sich auch im politischen Bereich international zu verständigen, nicht zur Nivellierung von Differenzen zu führen, sondern umgekehrt gerade die Besinnung auf eigene Traditionen, auf eigene Erfahrungen und auf eigene Weltverständnisse von neuem zu ermöglichen (und zu erfordern). In der Philosophie gilt etwas Ähnliches. Die modernen Kommunikationstechniken haben es zweifellos einfacher gemacht, sich von überall auf der Welt am internationalen Diskurs der Philosophie zu beteiligen und Kenntnisse und Ideen untereinander auszutauschen. Das hat aber nicht einseitig dazu geführt, dass nun überall auf der Welt an den gleichen Konzepten gearbeitet und über die gleichen philosophischen Probleme nachgedacht wird. Vielmehr melden sich zunehmend viele eigenständige Stimmen zu Wort, die sich auf nicht-europäische und nicht-westliche Erfahrungstraditionen berufen und Philosophien entwerfen, die sich nicht in den Bedeutungsrahmen der europäisch-westlichen Philosophietradition einfügen. Will man diese Stimmen nicht einfach ignorieren und sich auf eine Position zurückziehen, die sagt, dass alles, was sich nicht in den Rahmen der europäisch-westlichen Philosophie (einschließlich ihres fortlaufenden, die eigene Tradition darin aber fortsetzenden Wandels) einfügt, eben keine Philosophie sei, dann muss die Philosophie selbst interkulturell werden. Freilich melden sich hier entschiedene, und das heißt in diesem Zusammenhang philosophische Bedenken. Philosophie ist nicht einfach mit einer bestimmten Tradition des Denkens gleichzusetzen. Dann wäre die Existenz weiterer Philosophien selbstverständlich und ihre Wahrnehmung vergleichsweise unproblematisch. Was wir heute Philosophie nennen, meint aber nicht einfach die intellektuelle Tradition des Abendlandes, sondern die immer wieder neue Erfahrung und Ausarbeitung dessen, was Heraklit als einer der Ersten als die <?page no="11"?> Aufgaben 11 Zusammengehörigkeit des Verschiedenen bezeichnet hat. Die Philosophie hebt im antiken Griechenland um 600 v. Chr. mit der Entdeckung an, dass die Vielfalt dessen, was uns in der Welt begegnet, auf seine Zusammengehörigkeit hin befragt werden kann und dass die Menschen lernen können, diese Zusammengehörigkeit zu sehen. Heraklit ist es auch, der diese Zusammengehörigkeit erstmals als ›Kosmos‹ in dem uns heute so geläufigen Sinn von ›Welt‹ bezeichnet. Held, der diesen Zusammenhang herausgestellt hat, spricht darum im Anschluss an Husserl von einer »Europäisierung der Menschheit«, 1 die nicht darin liegt, dass die ›eine Welt‹ mit Europa gleichgesetzt wird, sondern darin, dass die Griechen die Welt als Einheit von Vielheit erkannt haben. Die von den Griechen entdeckte Welt ist gerade keine spezifisch griechische Welt, sondern meint das Zusammengehören all der verschiedenen kulturellen Lebenswelten, denen die Griechen damals begegnet sind. Die ›eine Welt‹ kann darum, griechisch gesehen, auch nur eine Idee sein. Die Philosophie übersteigt also gerade die bestehenden kulturellen Differenzen und zielt auf eine Zusammengehörigkeit, die die Differenzen nicht nivelliert und den verschiedenen kulturellen Lebenswelten ihr jeweiliges Recht belässt. Wenn die Philosophie den Schritt von den konkreten geschichtlichen Lebenswelten, in denen uns die verschiedenen Kulturen begegnen, zur einen universalen Welt geht, die nicht selber wieder geschichtlich konkret und damit auch nicht selber wieder kulturelle Lebenswelt ist, dann scheint es keinen Sinn zu machen, von einer interkulturellen Vielfalt von Philosophien zu sprechen. Diese Überlegungen müssen ernst genommen werden und dürfen keinesfalls vom Tisch gewischt werden, nur weil es aus anderen, zumeist politisch motivierten Gründen opportun erscheinen mag, jeder Kultur ihre eigene Philosophie zuzuerkennen. Die Philosophie macht ja gerade den Schritt über das Eigene hinaus zum Universalen oder schlicht zum ›Einen‹. Interkulturell wird die Philosophie deshalb nur - und muss es nur werden, wenn sie den Universalitätsanspruch der ursprünglich griechischen und seither europäisch-westlichen Philosophie aufrechterhalten und dennoch die Pluralität von ›Philosophien‹ zeigen kann, die ganz andere Erfahrungen thematisieren, aber ebenso Universalität und Weltcharakter beanspruchen können. Die entscheidende Aufgabe interkultureller Philosophie lässt sich deshalb mit Waldenfels als das Paradox einer »Universalisierung im Plural« bezeichnen. 2 Wenn es gelingt, für die interkulturelle Dimension so etwas wie eine »Universalisierung im Plural« zu zeigen, dann gibt es in dieser Dimension gar keine 1 Held 2013c, S. 123. 2 Waldenfels 1993, S. 63. <?page no="12"?> Einleitung 12 Vielfalt mehr, die in einer Einheit zusammengehören könnte. Die Universalisierung lässt sich nicht nochmals auf eine weitere Universalisierung hin transzendieren. Interkulturell kann es dann also auch nicht um das Zusammenspiel von Einheit und Vielheit gehen. Das kann nur der europäisch-westliche Beitrag zum interkulturellen Gespräch sein. Stattdessen geht es in der interkulturellen Dimension um ein Gespräch zwischen verschiedenen ›Universalisierungen‹ oder, in der griechischen Tradition gesprochen, um ein Gespräch zwischen ›Welten‹. Es kann also nur dann gelingen, eine »Universalisierung im Plural« zu zeigen, wenn es gelingt, ›Welt‹ im Plural zu denken. Oder anders betont: Eine interkulturelle Philosophie brauchen wir nur dann, wenn ›Welt‹ grundsätzlich plural gedacht werden muss. Dann freilich muss die Philosophie um ihrer selbst willen interkulturell werden. Wir werden das Phänomen der Welt, das die Griechen entdeckt haben, also neu bedenken müssen. Tatsächlich meint die griechische Entdeckung, die eigentlich selbst mehr eine Erfahrung denn eine Entdeckung ist (deshalb sprechen Platon und Aristoteles vom ›Staunen‹ als dem Anfang aller Philosophie), zunächst schlicht die Entdeckung der Zusammengehörigkeit des Vielen. Diese Zusammengehörigkeit können wir als Welt bezeichnen, wenn wir nicht den Fehler machen, darunter etwas zu verstehen, in dem das Viele zusammengehört. Welt ist die Zusammengehörigkeit selbst; nichts davon Getrenntes. Gerade weil die Welt nicht ein umfassendes Seiendes ist, das alles andere in sich aufnimmt, sondern die tatsächliche Zusammengehörigkeit des konkret vorfindbaren Vielen, gerade deshalb ist sie ja universalisierbar. Immer gibt es ein Zusammengehören. Darin liegt noch nicht, dass dieses Zusammengehören immer dasselbe ist. Die Griechen entdecken gerade nicht ein spezifisches Zusammengehören (dann läge es in der Logik der griechischen Entdeckung, dass andere Kulturen andere Formen solchen Zusammengehörens entdecken und eigene Philosophien entwickeln), sondern sie entdecken, dass sich immer ein Zusammengehören finden lässt. Das Zusammengehören ist ein universales Prinzip, kein umfassendes Seiendes. In diesem Sinne hat Rombach gezeigt, dass unsere Erfahrung von Welt davon abhängt, in welcher Zusammengehörigkeit uns die Dinge und Umstände begegnen, mit denen wir zu tun haben und die uns betreffen. Die Welt, die in der Erfahrung aufgeht, ist grundsätzlich situationsabhängig. 3 Das aber nicht deswegen, weil die konkrete Situation eine bestimmte Perspektive auf die Welt bedingen würde, sondern weil Welt nichts von der Erfahrung der Zusammengehörigkeit Unterschiedenes ist. Sie geht an dieser Erfahrung und als diese 3 Vgl. Rombach 1987. <?page no="13"?> Aufgaben 13 Erfahrung auf. Stenger hat diese Überlegungen für die interkulturelle Philosophie fruchtbar gemacht. Wenn das Aufgehen von Welt davon abhängt, in welcher Zusammengehörigkeit wir die Dinge und Umstände erfahren, mit denen wir zu tun haben und die uns betreffen, dann heißt das, dass diese Erfahrung Welt konstituiert. Stenger spricht deshalb vom »Weltcharakter der Erfahrung«. 4 Nun geht die griechische Erfahrung aber gerade nicht darin auf, eine bestimmte Form von Zusammengehörigkeit, die eine entsprechende Erfahrungswelt konstituiert, erfahren zu haben. Vielmehr liegt die griechische Erfahrung in der prinzipiellen Erfahrung, dass qua Zusammengehörigkeit Welt erfahren werden kann. Dadurch überschreitet diese Erfahrung ja die verschiedenen Erfahrungswelten auf die ›eine Welt‹ hin. Es handelt sich also eigentlich um eine Erfahrung von Erfahrung. Eine solche Erfahrung von Erfahrung ist keine Meta-Erfahrung, sie bezieht sich nicht reflexiv auf die Erfahrung; stattdessen gründet sie diese. Stenger spricht deshalb im Anschluss an Rombach von einer »Grunderfahrung«. In der Grunderfahrung geht die Idee der ›einen Welt‹ auf. Sie belässt den verschiedenen Lebenswelten ihr Recht, weil diese in einer anderen Erfahrungsdimension aufgehen. Von der Dimension der Grunderfahrung her gesehen, handelt es sich aber eben nur um Partikularwelten. In der Grunderfahrung wird die Zusammengehörigkeit der Partikularwelten erfahren und damit Welt als universale Idee jenseits aller konkreten Partikularwelten konstituiert. Darin liegt, wenn man so will, der Schritt zur ›Hoch-Kultur‹, die sich über die verschiedenen kulturellen Lebenswelten erhebt. Freilich bleibt auch die Hochkultur eine Kultur. Auch für die Grunderfahrung gilt, dass das Aufgehen der Welt als Idee an der Erfahrung hängt, die Grunderfahrung selbst also Weltcharakter besitzt. Für die Entwicklung der griechischen Kultur zu der Gestalt, in der sie bis heute für das europäischwestliche Selbstverständnis von Bedeutung ist, war zweifellos die Entdeckung, dass Vieles grundsätzlich in seiner Zusammengehörigkeit gesehen werden kann, ein entscheidender Schritt. Sie hat das Weltverständnis der Griechen geprägt. Die Grunderfahrung von der prinzipiellen Zusammengehörigkeit des Vielen hat also tatsächlich selber Weltcharakter. Folglich gilt sie auch für alle anderen Kulturen. Diese sind aber ebenso Hochkulturen und gründen deshalb auf eigenen Grunderfahrungen. Die griechische Erfahrung von der ›einen Welt‹ ist in ihnen nicht kulturstiftend geworden. Umgekehrt gelten die Grunderfahrungen anderer Kulturen zwar ihrerseits für die europäisch-westliche Welt, haben ihren Weg aber nicht maßgeblich mitbestimmt. Der »Weltcharakter der (Grund-) Erfahrung«und mit ihm der Weltcharakter jeder einzelnen Kultur hängen nicht an der Erfahrung der ›einen Welt‹. Die Erfahrung der ›einen Welt‹ ist selber 4 Stenger 2006. <?page no="14"?> Einleitung 14 nur eine von vielen möglichen Grunderfahrungen, die jede für sich Weltcharakter haben. In dieser Einsicht liegt der Schritt von der griechisch verstandenen Philosophie zur interkulturellen Philosophie. Philosophie, so die grundlegende These interkultureller Philosophie, ist kein kulturenunabhängiges Unterfangen, bei dem jenseits aller sprachlichen und kulturellen »Weltansichten« 5 die Welt »an sich« erforscht wird. Vielmehr ist die Idee einer Welt »an sich« selbst eine »Weltansicht«, die ihre volle Berechtigung erst dadurch erhält, dass sie andere »Weltansichten« nicht als nachrangig, sondern als Übersetzungen und Verwirklichungen ihrer selbst erfährt. Dimensionen In der Beschäftigung mit interkultureller Philosophie begegnet man heute einer Reihe ganz unterschiedlicher Ansätze. Das ist zunächst einmal auf die unterschiedlichen Motivationen zurückzuführen, die Philosophen dazu bringen, über interkulturelle Fragestellungen nachzudenken. Drei von ihnen sollen kurz benannt werden: Die meisten Philosophen werden auf interkulturelle Fragestellungen vermutlich schlicht dadurch aufmerksam, dass ihnen Texte und Arbeiten in die Hände fallen, die anderen kulturellen Traditionen entstammen. Damit sind nicht die Beiträge, die Vertreter anderer Kulturen zur europäisch-westlichen Philosophie leisten, gemeint, sondern Texte, die tatsächlich einer anderen Denktradition als der europäisch-westlichen Philosophiegeschichte zugehören - beispielsweise die Lehren des Konfuzius. Auch die Philosophie hat sich im letzten Jahrhundert globalisiert, was nicht nur dazu geführt hat, dass die europäisch-westliche Philosophie weltweit bekannt und übernommen worden ist, sondern eben auch dazu, dass heute immer mehr Texte anderer Traditionen verfügbar sind und auf ihren philosophischen Gehalt hin beurteilt werden können. Und genau das geschieht denn auch. Überall dort, wo man auf Texte und Überlieferungen stößt, die philosophisch interessant erscheinen, werden sie in die ›globale Bibliothek‹ der Philosophie aufgenommen und es wird mit ihnen gearbeitet. Auf dieser Ebene finden Ansätze und Einsichten anderer kultureller Traditionen aber nur dann Eingang in die Philosophie, wenn sie den Philosophen bei der Bearbeitung ihrer Fragestellungen hilfreich erscheinen. Es finden also nur solche Texte aus anderen Kulturen Berücksichtigung, die in einem europä- 5 W. v. Humboldt 2002. <?page no="15"?> Dimensionen 15 isch-westlichen Sinn als philosophisch eingestuft werden. Es ist deshalb eigentlich irreführend, in diesem Zusammenhang überhaupt von interkultureller Philosophie zu sprechen; stattdessen müsste man eher von einer Erweiterung der philosophischen Textsammlungen sprechen. Eine ganz anders gelagerte Motivation interkultureller Philosophie liegt in der Wahrnehmung der veränderten politischen Gegebenheiten spätestens seit Mitte des letzten Jahrhunderts. Seit der frühen Neuzeit hatte sich Europa für rund 500 Jahre als weltbestimmend verstanden - und zwar sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht. Mit der Begründung der Mathesis universalis, der universalen Wissenschaft, durch Descartes galt den Europäern (und gilt uns bis heute) nur noch das methodisch gewonnene Wissen als gewiss. Zugleich haben die Europäer ihren technischen Vorsprung dazu genutzt, die Welt nicht nur theoretisch zu erkunden, sondern auch praktisch zu beherrschen. Die lange koloniale Vergangenheit Europas ist erst Mitte des letzten Jahrhunderts zu Ende gegangen. Freilich leben diverse neokoloniale Machtstrukturen unter dem Deckmantel der Globalisierung bis heute fort. Das zumindest formale Ende der Kolonialzeit hat dennoch auch in theoretischer Hinsicht seinen Niederschlag gefunden. Kurz gesagt ist seither klar, dass die Nicht-Europäer zu Unrecht als rückständig und den Europäern als in intellektueller Hinsicht unterlegen dargestellt worden sind. Dementsprechend gilt es nun, Versäumtes nachzuholen und den Nicht-Europäern endlich eine eigene Stimme zu geben. Auch in der Philosophie. Und so ist die Beschäftigung mit interkulturellen Fragestellungen oft durch die postkoloniale Situation, in der wir heute leben, motiviert. Die Prämisse dieser Herangehensweise lautet, dass nicht nur alle Menschen, sondern ebenso alle Kulturen gleichberechtigt und gleichwertig sind und sich darum keine einzelne Kultur mehr über die anderen erheben darf - und das ebenso in theoretischer wie in praktischer Hinsicht. Mit Blick auf die Philosophie bedeutet das, dass es nicht richtig sein kann, Philosophie nur für Europa und den Westen in Anspruch zu nehmen. Jede Kultur hat ihre eigenen Denker/ innen und ihre eigenen Denktraditionen, ob sie nun Philosophie heißen oder nicht. Darum müssen sie heute gehört werden. Philosophie kann nur noch interkulturell, und das heißt hier: im direkten Austausch zwischen Vertretern möglichst aller Kulturen, betrieben werden. Damit ein solch philosophischer Austausch aber überhaupt zu etwas führen kann, ist in diesem ›postkolonialen Paradigma‹ vorausgesetzt, dass sich die Gesprächspartner einig sind, worüber sie reden, und sich in einer Weise vernünftig artikulieren, die es den anderen erlaubt, die jeweiligen Beiträge aufzunehmen und zu berücksichtigen. Tatsächlich ist ja genau dies die Prämisse des ›postkolonialen Paradigmas‹: Die Vertreter anderer Kulturen können ebenso vernünftig <?page no="16"?> Einleitung 16 reden wie die Europäer und dürfen darum nicht länger übergangen werden. Das ist zwar zweifellos richtig, es zum Ausgangspunkt interkultureller Philosophie zu machen, bedeutet aber, dass in ihr ein bestimmtes Vernunft- und Philosophieverständnis vorausgesetzt bleibt. Interkulturelle Philosophie meint dann eigentlich die Öffnung des philosophischen Diskurses für außer-europäische Stimmen. Das Grundverständnis von Philosophie selbst bleibt dagegen unberührt. Gegen eine solche vergleichsweise unkritische Öffnung der Philosophie wären nun freilich all jene Ansätze abzusetzen, die darauf aufmerksam machen, dass es in der heutigen postkolonialen Situation nicht nur um Teilhabe an europäischen Diskursen gehen darf, sondern dem zuvor um eine Dekolonialisierung des Denkens selber gehen muss. In diesem Sinne spricht beispielsweise Wiredu von der Notwendigkeit einer »Conceptual Decolonization«. 6 Der dritte Zugang, den ich hier nennen möchte, ist durch die Philosophie selber motiviert. Die nach-hegelsche Philosophie ist durch das Ende der großen Systementwürfe und eine Kritik der Subjektphilosophie geprägt. Im 19 . Jahrhundert wird zunächst die Geschichtlichkeit der Vernunft herausgehoben, so dass die historisch unterschiedlichen Gestalten des Subjekts hervortreten. Bei Hegel bedeutet Geschichtlichkeit noch Entfaltung der Vernunft, die historischen Gestalten des Subjekts werden deshalb auf den absoluten Geist hin überstiegen. Dilthey dagegen versteht die Geschichtlichkeit der Vernunft vom Erleben des historischen Subjekts her; die Vernunft entfaltet sich nicht, sondern sie verändert sich, weil sich das Erleben des Subjekts wandelt. Im 20 . Jahrhundert schließlich zerfällt das historische Subjekt vollends in eine Vielzahl von Einzelsubjekten, die sich nicht mehr ohne weiteres auf eine einheitliche Vernunft berufen können - und das nicht deswegen, weil die Vernunft auf einmal kontingent wäre, sondern weil das Apriori der Vernunftstrukturen nur an den konkreten Erfahrungen, die der einzelne macht, geklärt werden kann. Es ist eben nicht so, dass die Vernunft auf die Welt schaut bzw. die Welt erlebt, sondern stattdessen so, dass bestimmte Vernunftstrukturen konkrete Erfahrungen ermöglichen. Um diese Vernunftstrukturen klären zu können, muss man die entsprechenden Erfahrungen machen. So wird die Aufklärung der Vernunft zu einer Kommunikation der Einzelsubjekte über ihre jeweiligen Erfahrungen. Indem sie sich über ihre Erfahrungen austauschen, erforschen sie die ihnen gemeinsame Vernunft. Das ist der tiefere Grund dafür, dass an die Stelle des Systems im 20 . Jahrhundert die Kommunikation tritt. Zugleich weist die Notwendigkeit zu kommunizieren darauf hin, dass sich dem einzelnen Subjekt andere Subjekte und ihre Erfahrungen von der Welt 6 Wiredu 1996a, S. 136-144. <?page no="17"?> Dimensionen 17 nicht ohne weiteres erschließen. Mit dem Universalsubjekt geht auch die Einheit der Welt verloren. Dadurch, dass die Welt nicht mehr von einem Universalsubjekt, sondern nun von einer Vielzahl von Einzelsubjekten angeschaut und erfahren wird, bilden sich eine Vielzahl verschiedener Welterfahrungen aus. Sartre spricht von den Subjekten als verschiedenen Zentren, auf die hin die Dinge der Welt ausgerichtet sind. 7 Wie die Welt von einem anderen Zentrum als dem eigenen Selbst her gesehen aussieht, bleibt uns im Letzten immer verborgen. Damit bricht die Frage nach dem Anderen und Fremden auf und wird zu einer der bestimmenden in der Philosophie des 20 . Jahrhunderts. Mit der Frage nach dem Anderen und Fremden wächst natürlich auch die Sensibilität anderen Kulturen gegenüber. Nun kommt eine zweite Entwicklung in der Philosophie des 20 . Jahrhunderts hinzu, durch die die Problematik noch verschärft wird. Gemeint ist die Besinnung auf das Phänomen der Welt, wie sie in erster Linie Heidegger in seiner ontologischen Wende der Phänomenologie vollzogen hat. Alle Erfahrung setzt immer schon ein Verstehen von Welt voraus. Dieses Verstehen mag vage sein und es kann sich auch ändern, Erfahrung ist aber grundsätzlich nur auf dem Boden eines Weltverständnisses möglich. Damit macht Heidegger darauf aufmerksam, dass die einzelnen Subjekte nicht nur verschiedene Zentren in der einen Welt darstellen, so dass sie durch weitere Erfahrungen und vor allem durch Kommunikation untereinander die gemeinsame Welt nach und nach entdecken können. Vielmehr können die Subjekte Erfahrungszentren nur sein, weil sie Welt immer schon - auf je eigene Weise - verstanden haben. Dann aber ist die Kommunikation unendlich erschwert. Nun kann man natürlich mit gutem Recht hinterfragen, ob es richtig ist, die Subjekte als alleinige ›Erfahrungszentren‹ anzunehmen. Immerhin teilen wir doch auch Erfahrungen mit anderen und müssen darum auch die Welt mit ihnen teilen. Tatsächlich leben wir in intersubjektiv geteilten Erfahrungszusammenhängen, die ein gemeinsames Weltverstehen voraussetzen. Es ist deshalb kein Zufall, dass Heidegger versucht, an griechische Grunderfahrungen anzuknüpfen, bricht dort doch erstmals so etwas wie die Erfahrung von Welt als Welt auf. Die Philosophie ist Ausdruck dieser Erfahrung und damit zugleich Garantin der Kommunikationsmöglichkeit. Damit ist die Schwierigkeit freilich nur verschoben, nicht beseitigt. Auf interkultureller Ebene taucht sie mit großem Nachdruck wieder auf. Gemeinsam machen die Entdeckung der Fremderfahrung und die Besinnung auf das Weltverstehen deshalb auf eine grundsätzliche Schwierigkeit aufmerksam, vor die sich die Philosophie im 20 . Jahrhundert gestellt sieht. Kann es eine Kommunikation von Welten geben? Das ist die entscheidende Frage 7 Vgl. das Kapitel zum ›Blick‹ in Sartre 1993. <?page no="18"?> Einleitung 18 interkultureller Philosophie. Es ist klar, dass die interkulturelle Begegnung in dieser Dimension die Philosophie, die ja - wie wir gesehen haben - mit der Entdeckung von Welt anhebt, im Ganzen betrifft. Ich werde die hier genannten sowie einige weitere aktuelle Ansätze interkultureller Philosophie in Kapitel 2 ausführlich diskutieren. Dabei geht es mir darum zu zeigen, dass die verschiedenen Ansätze einander nicht ausschließen, sondern insofern alle etwas zu zeigen vermögen, als sie die philosophische Begegnung zwischen den Kulturen in unterschiedlichen Dimensionen beschreiben. Kulturen sind ja keine monolithischen Blöcke, ja sie sind überhaupt keine Entitäten oder Subjekte; stattdessen sind sie sehr lebendige Geflechte von sich fortlaufend wandelnden Erfahrungszusammenhängen. Entsprechend können einzelne Erfahrungen einer anderen Kultur, die sich in Überlieferungen und Texten, aber auch in Praktiken und Überzeugungen niederschlagen, in der Philosophie auf Interesse stoßen, ohne dass deshalb notwendiger Weise immer auch der andere Erfahrungszusammenhang im Ganzen berücksichtigt wird. Eine solche Begegnung findet immer wieder statt und hat auch erheblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Kulturen. Das Interesse kann sich aber auch darauf beziehen, inwiefern das den jeweils anderen kulturellen Erfahrungszusammenhängen zugrunde liegende Weltverständnis in den Texten und Überlieferungen, in den Praktiken und Überzeugungen oder in den Äußerungen des philosophischen Gesprächspartners zum Ausdruck kommen. In dieser interkulturellen Dimension wird nach dem eigenen Weltcharakter gefragt, der in den anderen Erfahrungen zum Tragen kommt. Wege Philosophie ist ein Weg, und zwar ein Weg des Menschen, Mensch zu sein. Griechisch verstanden ist sie gar der einzige Weg, auf dem der Mensch wahrhaft Mensch ist. Das macht interkulturelle Philosophie zu einem Desiderat. Es geht ihr darum zu zeigen, dass es verschiedene Wege gibt, wie der Mensch wahrhaft Mensch sein kann. Interkulturelle Philosophie ist deshalb zunächst einmal stärker an Differenzen als an Überlappungen und Ähnlichkeiten zwischen den Kulturen interessiert. Zugleich geht es ihr aber wie der griechischen Philosophie um Wege des Menschseins, also um die Klärung des Menschlichen und, in kritischer Hinsicht, um die Einforderung von Menschlichkeit. Menschlichkeit, so die These, gibt es nur dort, wo das Menschsein als Weg verstanden wird. Wird das Menschsein dagegen jenseits aller Wege als wesens- <?page no="19"?> Wege 19 mäßig geklärt angenommen, droht jede Menschlichkeit verloren zu gehen. Der Mensch ist dann nämlich dies oder das, aber er erfindet und gestaltet sich nicht mehr selbst und kann darum auch nicht für sich selbst verantwortlich sein. Es greift deshalb viel zu kurz, die Gleichheit und die Gleichberechtigung aller Menschen auf der Grundlage des natürlichen Wesens des Menschen einzufordern. Der Mensch beweist seine Menschlichkeit gerade darin, dass er sich sein natürliches Wesen auf bestimmte Weise aneignet, es interpretiert und damit umgeht. Das Gleiche gilt für die Welt, in der der Mensch lebt. Er nimmt sie nicht einfach hin, sondern geht mit ihr um, interpretiert und gestaltet sie und gewinnt dadurch auch sich selber immer wieder neu. Kurz, der Mensch ist ein kulturelles Wesen und er lebt in einer kulturellen Welt. Damit ist zugleich gesagt, dass es vielfältige menschliche Welten gibt, die sich zudem fortlaufend verändern, wechselseitig beeinflussen, ineinander verschränken oder auch differenzieren. Diese Vielfalt zu leugnen, wäre »intellektuell enttäuschend, weil sie die faktische Verschiedenheit übergeht, die sich der Beobachtung aufzwingt«, wie Lévi-Strauss - freilich in einer ethnologischen Perspektive - sagt. 8 Wenn sich die Menschen in ihrer kulturellen Vielfalt begegnen, geht es deshalb zunächst keineswegs um Vereinheitlichung und Reduktion der Wege auf einen einzigen. Stattdessen geht es - oder sollte es gehen - um einen Wettstreit der Menschlichkeit. Wenn Menschen erfahren, dass eine andere Kultur menschlicher ist als ihre eigene, werden sie grundsätzlich versucht sein, diese zu übernehmen oder nachzuahmen. Zumindest aber werden sie versuchen, von ihr zu lernen. De facto mögen sowohl ein solcher Wettstreit als auch die Bereitschaft, voneinander zu lernen, durch machtpolitische Interessen vereitelt werden; das muss zu scharfer Kritik führen, darf aber nicht die Konsequenz haben, deswegen der globalen Durchsetzung einer einheitlichen kulturellen Gestaltung der menschlichen Welt das Wort zu reden. Philosophisch lässt sich eine Begegnung der Kulturen in der interkulturellen Dimension, die jenseits aller machtpolitischen Gegebenheiten anzustreben bleibt, vermutlich am besten als ein Gespräch verstehen. Allerdings ein Gespräch, das nicht unverbindlich bleibt, sondern in das sich die Kulturen so einbringen, dass sie vom Gespräch her auch Korrekturen erfahren. Das Besondere des Gesprächs ist es ja gerade, das Gemeinsame, um das es im Gespräch geht, voranzubringen und zugleich die eigenen Positionen der Gesprächspartner schärfer zu profilieren. Das geht nur, weil das Gemeinsame, um das es im Gespräch geht, kein Drittes ist, das die Positionen der Gesprächspartner vermittelt oder subsumiert. Stattdessen taucht das Gemeinsame nur in den ver- 8 Lévi-Strauss 1972, S. 19. <?page no="20"?> Einleitung 20 schiedenen Positionen auf, aber so, dass es darin jeweils im Ganzen getroffen ist. Das bedeutet, dass die Gesprächspartner jeweils die vom anderen vertretene Position bzw. das vom anderen Gesagte auf ihre Weise mitsagen müssen. Sie müssen es aufnehmen und zugleich dadurch, dass sie es von ihrer Position her sagen, profilieren. So klären die Gesprächspartner im Hin und Her des Gesprächs das Gemeinsame, um das es im Gespräch geht, und treiben sich zugleich wechselseitig zu immer deutlicherer Profilierung ihrer eigenen Positionen an. Würden sie die Position des anderen einfach übernehmen, käme das Gespräch zum Erliegen; weder könnte das Gemeinsame geklärt noch die eigene Position profiliert werden. Das Gemeinsame, um das es im Gespräch der Kulturen geht, ist wie angedeutet die Menschlichkeit. Jede Kultur ist irgendwie menschlich, schließlich ist sie vom Menschen gemacht. Im interkulturellen Gespräch aber reicht es nicht aus, ›irgendwie‹ menschlich zu sein. Die anderen Kulturen können auf eine Klärung der Menschlichkeit drängen und einfordern, dass die geklärte Form der Menschlichkeit auch kulturell realisiert wird. Das Gespräch hat also eine kritische Funktion. Und es bleibt umso lebendiger, je mehr verschiedene kulturelle Wege des Menschen es gibt. *** In Kapitel 1 wird zunächst erläutert, worin sich der Begriff der Interkulturalität von denjenigen der Multi- und Transkulturalität unterscheidet und weshalb ich ihn für wesentlich besser geeignet halte, die philosophische Herausforderung, vor die uns die interkulturelle Situation, in der wir heute leben, stellt, adäquat zu beschreiben. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem Begriff der Kultur zu: Kulturen, so die These dieses Buches, sind Erfahrungswirklichkeiten und sie unterscheiden sich deshalb auch nur durch die Erfahrungen, auf denen sie aufruhen und die die verschiedenen Verständnisse von Menschsein und menschlicher Wirklichkeit begründen. Es ist ein essentialistisches Missverständnis, Kulturen als voneinander getrennte Entitäten vorzustellen; 9 besonders irritierend ist die Vorstellung, Kulturen würden an biologischen Parametern wie Ethnizität und Hautfarbe hängen, aber auch die Reduktion von Kulturen auf Nationalität ist schlicht falsch, und selbst der Verweis auf die unterschiedlichen Sitten und Werte greift viel zu kurz. Stattdessen sind die Kulturen immer schon ineinander verschränkt und überlappen sich, ja jede einzelne Kultur nimmt alle anderen auf ihre Weise in sich auf und spiegelt sie wider. Gerade das begründet ihren Weltcharakter. 9 Gegen solche Missverständnisse wird zu Recht die Kritik am Identitätsdenken ins Feld geführt (vgl. z. B. Sen 2007). <?page no="21"?> Wege 21 Kapitel 2 stellt, wie bereits erwähnt, die verschiedenen Ansätze und Dimensionen interkultureller Philosophie vor. Einen philosophischen Austausch zwischen den Kulturen gibt es auf mehreren Ebenen. Zu einer Herausforderung für die Philosophie im Ganzen wird dieser Austausch freilich nur in der interkulturellen Dimension, in der nach den Erfahrungen gefragt wird, die den Weltcharakter anderer Kulturen begründen. In Kapitel 3 wird die These vertreten, dass Interkulturalität erst in der Gegenwart zu einer zentralen Fragestellung der Philosophie werden konnte. Das griechische Verständnis von Philosophie ist durch die Erfahrung von der Zusammengehörigkeit des Seienden in der Welt geprägt. Diese Erfahrung wird in der Neuzeit auf andere Weise wiederholt und erneuert. In der nach-kantischen Philosophie gewinnt das Phänomen der Erfahrung zunehmend an Bedeutung und wird in der Phänomenologie schließlich zum Ausgangspunkt der Analyse von Mensch und Welt. Damit bricht die Frage nach dem Anderen und der Möglichkeit, seine spezifischen Erfahrungen nachzuvollziehen, auf und wird zu einer der bestimmenden in der Philosophie des 20 . Jahrhunderts. Die Analyse von Alterität und Fremderfahrung sensibilisiert die Philosophie auch für die Wahrnehmung anderer kultureller Erfahrungstraditionen. Zu einer Herausforderung für die Philosophie im Ganzen wird die Interkulturalität aber erst durch die Entdeckung des Weltcharakters, der den kulturellen Grunderfahrungen zukommt. Im 4 . Kapitel werden wichtige Aspekte interkultureller Philosophie behandelt. Interkulturalität kann nur dann als ein zentrales und den Menschen zutiefst betreffendes Phänomen erkannt werden, wenn die These vom kulturellen Wesen des Menschen geteilt wird. Nur dann kann auch gesehen werden, dass sich der Mensch der Teilhabe am Geschehen der Welt verdankt und deshalb wesentlich aus dem Zwischen zu verstehen ist, in dem Mensch und Welt zusammengehören. Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die Dimensionalität aller Wirklichkeit, womit gemeint ist, dass sich die Wirklichkeit nicht in Bereiche - beispielsweise in verschiedene Kulturen - gliedert, die zusammen ein Ganzes ergeben, sondern dass sie sich stattdessen in Dimensionen differenziert, in denen sie jeweils im Ganzen getroffen ist. Die weiteren Aspekte betreffen die Überlegung, dass jede Philosophie auf bestimmten Erfahrungen aufruht und sich der Wandel dieser grundlegenden Erfahrungen als eine Grundphilosophie beschreiben lässt; ferner das Phänomen der Welt, das interkulturell im Plural gedacht werden muss; und die Kritikfähigkeit der Kulturen in der interkulturellen Begegnung. Schließlich wird die Menschlichkeit als das eigentliche Thema interkultureller Begegnung herausgestellt. In Kapitel 5 werden sodann drei ausgesuchte Beispiele interkultureller philosophischer Begegnung vorgestellt. Den Anfang macht ein Text zum Wesen der <?page no="22"?> Einleitung 22 Begegnung aus der modernen japanischen Philosophie der Kyoto-Schule. Es folgt eine knappe Erläuterung wichtiger Denker des islamischen Mittelalters, deren Auseinandersetzungen mit der griechisch-europäischen Tradition für beide Kulturregionen von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Das dritte Beispiel betrifft die Herausbildung moderner Philosophien im sub-saharischen Afrika, die wichtige Erfahrungen aus vorkolonialer Zeit in die Beschäftigung mit der europäisch-westlichen Philosophie einbringen und so mittlerweile eine genuin afrikanische Stimme in der Philosophie etabliert haben. Abschließend ein Wort des Dankes an den Verlag. Ich danke Herrn Daniel Seger und Frau Kathrin Heyng vom Narr Francke Attempto Verlag in Tübingen für die gute Betreuung und für die Geduld, mit der sie die Entstehung dieses Buches begleitet haben. <?page no="23"?> 1 | Philosophische Begriffsklärung Der Begriff der Interkulturalität ist immer wieder verschiedenen Missverständnissen ausgesetzt und bedarf darum der Klärung. Wieso betreiben wir eine Philosophie der Interkulturalität und grenzen Interkulturalität deutlich sowohl gegen Multikulturaliät wie gegen Transkulturalität ab? Beschreibt der Begriff der Multikulturalität die Realität, in der wir leben, nicht sehr viel besser? Und ist der Begriff der Transkulturalität nicht der sehr viel modernere und in vielerlei Hinsicht auch der adäquatere, insofern er uns hilft, ein altes, essentialistisches Verständnis von Kultur zu überwinden? Ich werde auf den folgenden Seiten alle drei Konzeptionen kurz vorstellen und darlegen, weshalb aus philosophischer Sicht gerade die Konzeption der Interkulturalität geeignet ist, den Begriff der Kultur kritisch zu reflektieren und von essentialistischen Missverständnissen zu befreien. Die Kulturen können weder multikulturell nebeneinander stehen noch können sie sich zugunsten transkultureller Durchmischung auflösen. Und zwar, wie wir sehen werden, deshalb nicht, weil Kulturen konkrete, geschichtliche Lebenszusammenhänge darstellen, die sich laufend wandeln, erneuern und gegebenenfalls auch miteinander verflechten. Kulturen sind Lebens- und Interpretationszusammenhänge, die sich aus dem Umgang der Menschen mit der Natur, aus ihren Handlungen, ihren Selbstverständnissen und ganz besonders der Kommunikation der Menschen und Kulturen untereinander ständig neu speisen. Kulturen erschöpfen sich nicht in irgendwelchen Errungenschaften, weder in Sprache noch in Kunst, Religion, Literatur, Wissenschaft und Technik; vielmehr beschreiben sie jenen Zwischenbereich zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch, der in jeder Handlung und jeder Kommunikation von neuem ausgehandelt wird. Kulturen lassen sich deshalb nicht in irgendwelche Bestandteile auflösen und miteinander mischen, und sie können ebenso wenig innerhalb eines gesellschaftlichen Lebenskontextes unberührt nebeneinander stehen. Sowohl das Konzept der Multikulturalität als auch dasjenige der Transkulturalität setzen letztlich ein substanzialistisches und statisches Kulturverständnis voraus. Die spannende Frage, wie verschiedene gelebte Wirklichkeiten zusammengehören, können sie nicht beantworten. <?page no="24"?> Philosophische Begriffsklärung 24 1 . 1 Multikulturalität Als multikulturell werden Gesellschaften bezeichnet, in denen Menschen verschiedener kultureller Herkunft und Praxis zusammenleben, ohne dass es zu einer deutlichen Vermischung der kulturellen Traditionen kommt. Multikulturelle Gesellschaften zeichnen sich also durch das Nebeneinander verschiedener kultureller Traditionen auf engstem Raum aus. Unsere Gesellschaften sind heute alle zu einem gewissen Grad multikulturell. Wo sie das nicht sind, sind sie entweder gewaltsam von der Außenwelt abgeriegelt (z. B. Nordkorea) oder mehr oder weniger unberührt (sog. ›Naturvölker‹). Ansonsten führt der Kontakt zwischen den Menschen überall auf der Welt zu einer teilweisen Durchmischung und zu einem Nebeneinander verschiedener kultureller Traditionen innerhalb einer durch ihre politische Organisation gegenüber anderen abgegrenzten Gesellschaft, üblicherweise also innerhalb eines Staates. Die Gewahrung dieser Realität hat zu vielfältigen Auseinandersetzungen über die politischen Konsequenzen geführt. Wie soll das Zusammenleben von Menschen verschiedener kultureller Herkunft in einer Gesellschaft politisch geregelt werden? In der politischen Praxis finden sich darauf sehr unterschiedliche Antworten, sie reichen von der Unterdrückung kultureller Minderheiten in totalitären Regimes bis zur Gleichstellung und Anerkennung in liberalen Demokratien. Letztere folgen wiederum unterschiedlichen Strategien: Während einige großen Wert auf eine möglichst weitgehende Integration ihrer fremdkulturellen Bürger in die Mehrheitsgesellschaft legen, folgen andere der Maxime, allen kulturellen Gemeinschaften innerhalb der Gesellschaft das Recht auf Bewahrung ihrer jeweiligen Identität zu gewähren. Die Gesellschaft soll das Nebeneinander verschiedener Kulturen respektieren und im Idealfall als einen besonderen Wert schätzen lernen: Immerhin erweitert die Vielfalt kultureller Traditionen das Erfahrungs- und Verhaltensreservoir einer Gesellschaft und ermöglicht es ihr dadurch unter Umständen, auf neue Herausforderungen flexibler zu reagieren, als monokulturelle Gesellschaften das tun könnten. Die zuletzt genannte Form, das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft zu regeln, wird im engeren Sinn als multikulturell bezeichnet. Die konkrete Ausgestaltung einer liberalen multikulturellen Gesellschaftsordnung erweist sich freilich als äußerst schwierig. Der erste Schritt besteht zweifellos darin, allen Bürgern eines Staates unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft dieselben Rechte zu gewähren. »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich«, so steht es nicht nur im deutschen Grundgesetz. 1 Darüber hinaus aber 1 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 3. <?page no="25"?> Multikulturalität 25 müssen positive Rechte eingeräumt werden, etwa das Recht auf freie Lebensgestaltung und das Recht auf freie Religionsausübung. Auch muss geklärt werden, welche rechtliche Stellung kulturelle Gemeinschaften im Ganzen innerhalb einer Gesellschaft haben sollen. Die Rechte, die einer kulturellen Gemeinschaft eingeräumt werden, dürfen dabei nicht zu einer Einschränkung der Rechte anderer Gemeinschaften führen. Vor allem aber muss die gesamtstaatliche Ordnung gewährleistet sein. Das macht es immer wieder nötig, verschiedene Interessen gegeneinander abzuwägen. Noch komplexer wird die Situation, wenn man bedenkt, dass die rechtliche Gleichstellung verschiedener kultureller Gemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft nicht notwendigerweise auch zur faktischen Gleichstellung in der gelebten Praxis führt. Tatsächlich wird sich eine völlige Gleichstellung in den allerseltensten Fällen erreichen lassen; in der Regel wird diejenige kulturelle Gemeinschaft, der die Mehrheit der Bürger angehört, sehr viel größeren Einfluss auf die Gestaltung des Lebensalltags einer Gesellschaft haben als kleinere kulturelle Gruppen. Beispielsweise können nicht für beliebig kleine Gemeinschaften flächendeckend Schulen gebaut werden, obwohl möglicherweise gerade der schulischen Erziehung für die Weitergabe von kulturellen Traditionen und damit für den Erhalt einzelner kultureller Gemeinschaften besondere Bedeutung zukommt. Auch auf individueller Ebene gewährleistet das bloße Recht auf kulturelle Selbstgestaltung noch nicht die reale Möglichkeit, dieses Recht auch wahrzunehmen. Dafür sind unter Umständen bestimmte finanzielle Mittel nötig; auch Bildung und generell der Zugang zu Informationen spielen eine Rolle. Viele Faktoren, die oft nicht in der Hand des Einzelnen liegen, entscheiden darüber, ob das Recht auf kulturelle Selbstgestaltung wahrgenommen werden kann. Martha Nussbaum sieht es deshalb als eine der wichtigsten Aufgaben des Allgemeinwesens an, Rahmenbedingungen zu schaffen, die es dem einzelnen Bürger möglich machen, sein Recht auf kulturelle Selbstbestimmung aktiv wahrzunehmen. 2 Philosophisch betrachtet stellt uns die Idee des Multikulturalismus freilich noch in anderer Hinsicht vor schwerwiegende Probleme. In ihm wird ein Kompromiss zwischen zwei einander widerstreitenden, gleichermaßen unverzichtbaren Einsichten in das Wesen des Menschen geschlossen, ohne dass dieser Kompromiss ein tieferes, die beiden widerstreitenden Einsichten unterfangendes Verständnis des Menschen darstellt. Taylor benennt die beiden einander widerstreitenden Einsichten in das Wesen des Menschen einerseits mit der Würde des Menschen, die darauf gründet, im Einzelnen das Menschsein überhaupt zu sehen, und andererseits der Einmaligkeit (Taylor spricht im 2 Vgl. Nussbaum 2008. <?page no="26"?> Philosophische Begriffsklärung 26 Anschluss an Lionel Trilling von Authentizität) des Einzelnen, die gerade die Differenz zu anderen betont. 3 Die Würde des Menschen besteht unabhängig von der Persönlichkeit des Einzelnen; sie kommt dem Menschen qua Menschsein zu, ja sie besteht gerade in der Einsicht darein, dass in jedem einzelnen Menschen das Menschsein im Ganzen auf dem Spiel steht - so, wie man einem einzelnen Menschen begegnet, so begegnet man der gesamten Menschheit. Anthropologisch gesehen ist nichts so universal wie die Menschenwürde. Eine Politik, die versucht, dieser wesensmäßigen Gleichheit aller Menschen Rechnung zu tragen, muss darauf abzielen, größtmögliche Gleichheit auch in der gelebten Praxis zu erreichen. Das betrifft in erster Linie die Gleichheit vor dem Gesetz, in der Folge aber auch die Gleichheit der den Einzelnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur freien Lebensgestaltung (Stichworte hierfür sind beispielsweise die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Gleichheit der Bildungs- und Berufschancen). Dieses in der Würde des Menschen begründete Gleichheitsdenken ist eine der wesentlichen Errungenschaften der Neuzeit. Dagegen steht nun eine weitere, nicht weniger fundamentale Einsicht in das Wesen des Menschen: Das Wesen des einzelnen Menschen erschöpft sich dieser Einsicht zufolge gerade nicht in dem, was er vor dem Gesetz ist oder wozu er durch die Wahrnehmung gesellschaftlich bereit gestellter Entfaltungsmöglichkeiten wird. Der Mensch ist dem zuvor als der, der er für sich selbst ist, einzigartig. Seine Entwicklung ist deshalb auch keinesfalls zufällig und allein von den verfügbaren Ressourcen und Möglichkeiten abhängig. Vielmehr folgt sie einer ›inneren Stimme‹ und bringt so das schlummernde Wesen des Einzelnen zur Entfaltung. Taylor macht diese Entdeckung der individuellen Subjektivität an Rousseau und Herder fest. Die Anerkennung der Einzigartigkeit des Individuums führt zur Betonung der Differenz zwischen den Bürgern eines Staates. Letztlich ist jeder Bürger anders und bedarf darum auch einer anderen Behandlung durch den Staat (das entscheidende Stichwort hierfür liefern die besonderen Rechte für Minderheiten). Herder und Humboldt sind in diesem Zusammenhang besonders interessant, weil sie die Einzigartigkeit des Individuums auf Kulturen übertragen. So wie der Einzelne unverwechselbar ist, so bildet jede Kultur - in den Worten Wilhelm von Humboldts - ihre eigene »Weltansicht« aus; 4 leitend ist dabei die Sprache, die sich gleichsam zwischen die Welt und den Verstand fügt. Kulturen sind für Humboldt und Herder deswegen zunächst einmal Sprachgemeinschaften - und auch diese sind, wie die Individuen, einzigartig. 3 Taylor 2009, S. 13 ff. 4 W. v. Humboldt 2002, S. 20 f. <?page no="27"?> Multikulturalität 27 Es ist leicht zu erahnen, dass diese beiden Grundannahmen über das Wesen des Menschen in einen Konflikt miteinander geraten können (wenn auch nicht notwendiger Weise müssen). Entweder alle Bürger einer Gesellschaft werden gleich behandelt, dann drohen bestehende Differenzen eingeebnet zu werden. Oder aber der Einzelne wird seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend behandelt, dann ist dies ein Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip. Eine nahe liegende Lösung wäre zu sagen, dass die Gleichheit gerade darin besteht, dass jeder individuell behandelt wird. Dass eine solche Lösung in der Praxis aber kaum möglich ist, wird am konkreten Beispiel schnell klar: Die Gleichberechtigung der Frau kann nicht darin bestehen, dass Frauen unterschiedlicher Herkunftsländer und Kulturen in ein und demselben Staat verschiedene Rechte besitzen. Bestimmte Grundrechte sind nicht verhandelbar; sie müssen auch dann gewährt sein, wenn dadurch bestehende kulturelle Differenzen eingeebnet werden. Multikulturalismus ist deshalb nur innerhalb eines klar gefügten Rahmens möglich, üblicherweise innerhalb eines Rechtsstaates, in dem jeder Bürger vor dem Gesetz gleich ist. Das macht deutlich, dass das Konzept der Multikulturalität selbst einer bestimmten Denktradition verbunden ist, nämlich dem modernen rechtsstaatlichen Denken, wie es sich in den liberalen westlichen Demokratien seit der amerikanischen Unabhängigkeit und der französischen Revolution nach und nach entwickelt hat. Innerhalb eines rechtlich einheitlichen Rahmens lassen sich verschiedene Modelle des Multikulturalismus verwirklichen: Solche, die den Erhalt kultureller Eigenheiten aktiv fördern; und andere, die auf zunehmende Integration setzen. So oder so aber muss das Zusammenleben verschiedener Kulturen in einer Gesellschaft geregelt sein, ohne dass diese Regeln selbst von den einzelnen Kulturen verschieden ausgelegt werden dürfen. Ein solches Regelwerk, das die mit der Würde des Menschen zusammenhängenden Grundrechte sichert, ist aber keineswegs kulturell neutral. Es setzt beispielsweise das Recht über die Religion, was nicht nur in manchen anderen Kulturen undenkbar wäre, sondern auch in der europäisch-westlichen Tradition so erst in der Neuzeit möglich geworden ist. Vor allem aber liegt dem Modell der in ein Regelwerk gefassten multikulturellen Gesellschaft ein Verständnis von Kultur zugrunde, das diese gleichsam zur Privatsache erklärt, wohingegen allein das Regelwerk selbst öffentlichen Charakter hat. 5 Was aber soll eine private Kultur sein? Der Begriff der Kultur macht überhaupt nur auf einer sozialen Ebene Sinn. Private Kulturen wären sinn-los - gerade so, wie Wittgenstein das für die Vorstellung einer Privatsprache zeigt. Wie die Sprache, so konstituiert sich auch die Kultur im wechselseitigen Austausch der Menschen untereinander als deren gemeinsame, 5 In diesem Sinne lässt sich Rortys Konzept der »liberalen Ironikerin« verstehen. Vgl. Rorty 1995. <?page no="28"?> Philosophische Begriffsklärung 28 und das heißt eben öffentliche, Lebenswelt. Eine solche Lebenswelt kann nicht nochmals in einen weiteren öffentlichen Raum eingebunden sein, es sei denn im Zuge der Konstitution einer weiteren, umfassenderen Kultur. Der Ansatz der Multikulturalität geht also einher mit einer Abwertung, ja Verkennung der konstitutiven Bedeutung, die Kultur für den Menschen hat. Gerade im multikulturellen Gesellschaftsmodell werden Kulturen nicht wirklich ernst genommen. Das mag ein Grund für die vielfältigen Schwierigkeiten sein, die im Zusammenleben verschiedener Kulturen in einer Gesellschaft immer wieder zu beobachten sind. 6 Bedorf macht auf eine weitere Schwierigkeit aufmerksam. 7 Die Konzeption der Multikulturalität hängt an der Anerkennung verschiedener kultureller Gruppen als gleichberechtigt innerhalb einer Gesellschaft. Anerkannt werden können aber immer nur konkrete Ausdrucksformen dieser kulturellen Gruppen, etwa ihre Sprachen, ihre Religionen, ihre Lebensstile. Darin gehen die Gruppen selber aber nicht auf. Im Prozess der Anerkennung werden die verschiedenen kulturellen Gruppen sozusagen notwendigerweise auf bestimmte Erscheinungsweisen festgelegt, die zwar möglicherweise wichtig sind für diese Gruppen, die aber bloße Erscheinungsweisen darstellen und das ›Wesen‹ der Gruppen darum niemals treffen können. Jede Form der Anerkennung führt zwangsläufig zu einer verkürzenden Sichtweise auf die anerkannten Gruppen. Bedorf spricht deshalb von »verkennender Anerkennung«. Ein ungewöhnliches, aber sehr anschauliches Beispiel dafür bietet der Konflikt über den Schutz der frankophonen Kultur Quebecs, von dem Taylor berichtet. 8 In Quebec wurden in den späten 1970 er Jahren eigene Sprachgesetze erlassen, die darauf abzielen, das Französische dem Englischen nicht nur gleichzustellen, sondern aktiv zur Bewahrung der französischsprachigen Tradition beizutragen. 9 So ist es Eltern der französischsprachigen Bevölkerung Quebecs beispielsweise untersagt, ihre Kinder auf englischsprachige Schulen zu schicken. Damit wird, so die Kritik Bedorfs, die frankophone Kultur Quebecs auf die französische Sprache reduziert und das mit einer unglaublichen Konsequenz, so dass sich die Mitglieder dieser Kultur nun völlig unabhängig davon, wie wichtig ihnen selbst das Französische für ihr kulturelles Selbstverständnis tatsächlich ist, dem Diktat des Französischen ausgesetzt sehen. Ungewöhnlich ist das Beispiel vor allem deswegen, weil es im Falle Quebecs die Bevölkerungsmehrheit (bezogen auf ganz Kanada 6 Darauf macht beispielsweise Stenger aufmerksam. Vgl. Stenger 2006, S. 1015-1023. 7 Bedorf 2010. 8 Taylor 2009, S. 39 ff. 9 Bereits 1974 trat das Amtssprachengesetz in Kraft, wonach Französisch zur alleinigen Amtssprache in Quebec wurde. Im Jahr 1977 wurde dieses Gesetz durch die Charta der französischen Sprache ergänzt (Gesetz 101), das u. a. den französischsprachigen Unterricht regelt. <?page no="29"?> Multikulturalität 29 handelt es sich freilich um eine Minderheit) selbst ist, die diese Bestimmungen und damit eine auf die Sprache reduzierte Form ihrer eigenen Anerkennung festschreibt. Um das Paradox einer verkennenden Anerkennung zu reflektieren, diskutiert Bedorf nun (unter Bezugnahme auf Lévinas, Derrida und Waldenfels) die Frage, worin eigentlich die Erfahrung der Andersheit gründet, die jeder Anerkennung vorausgehen muss. Etwas verkürzt könnte man sagen, dass das Entscheidende dieser Erfahrung darin liegt, dass der andere Mensch grundsätzlich als eigenständiges Subjekt erfahren wird. Der Andere taucht zwar in meiner Erfahrungswelt auf und ich kann ihn in der Rolle, die er in meiner Erfahrungswelt spielt, auch verstehen; er geht darüber aber weit hinaus, er ist immer unendlich viel mehr als in dieser Rolle zum Ausdruck kommt. Der Andere geht grundsätzlich in keiner meiner Erfahrungen und in keiner Rolle, die er einnimmt oder die ich ihm zuschreibe, auf, weil er selber Erfahrungen macht und deshalb jede konkrete gesellschaftliche Rolle, die er einnimmt und die ich erfahren kann, nur eine Momentaufnahme darstellt. Der Andere ist derjenige, der in den verschiedenen Rollen erscheint, selbst aber jenseits dieser Rollen für uns unerreichbar bleibt. »Radikal anders - unendlich - ist der Andere genau in dem Sinne, daß sein Erscheinen als solches, das Daß seines Auftretens, mit dem Wie der Rollen und Milieus nicht in eins zu setzen ist.« 10 Auch wenn wir uns in den gleichen Kontexten bewegen, bleibt es deshalb eine dauernde Aufgabe, uns untereinander über unsere Erfahrungen zu verständigen. Nur so können wir eine geteilte Erfahrungswelt aufbauen. Diese wird aber immer vorläufig und begrenzt bleiben, und vor allem wird sie ständig auf dem Spiel stehen und der weiteren Verständigung bedürfen. Der Andere widersetzt sich meiner Erfahrung also dadurch, dass ich ihn als selber Erfahrenden erfahre. Ich erfahre den Anderen als jemanden, der sich meiner Erfahrung entzieht. Darin liegt das Paradox der verkennenden Anerkennung begründet. 11 In Anlehnung an Lévinas spricht Bedorf mit Blick auf dieses Paradox von der »primären« Andersheit, die er als »absolut« und »unendlich« kennzeichnet. Der Andere ist nicht lediglich vorübergehend oder in Bezug auf einzelne Aspekte anders, sondern entzieht sich meiner Erfahrung dadurch grundsätzlich, dass er selbst Erfahrender ist. Von der primären unterscheidet Bedorf nun eine »sekundäre, soziale Andersheit«, mit der jene Rollen gemeint sind, die der Andere in meiner mit ihm geteilten Erfahrungswelt einnimmt. Es ist diese sekundäre Andersheit, die anerkannt werden kann. Im Akt der Anerkennung liegt deshalb grundsätzlich eine Reduktion der primären Andersheit auf eine bestimmte Form sekundärer Andersheit. ›Die‹ frankopho- 10 Bedorf 2010, S. 138. 11 Zum Paradox der Alteritätserfahrung vgl. auch Kap. 3.3. <?page no="30"?> Philosophische Begriffsklärung 30 ne Kultur Quebecs lässt sich nicht anerkennen, weil es sie als abgeschlossene oder wesensmäßige Entität gar nicht gibt. Sie ist grundsätzlich erfahrungsoffen und entzieht sich dadurch jeder Form von Festlegung. Diese primäre Andersheit lässt sich nun aber beispielsweise auf die Sprache als einer prominenten Form der sekundären Andersheit reduzieren. Und die Sprache, ihre Gleichberechtigung, ihr Erhalt und die ihr eigene Würde lassen sich nun sehr wohl anerkennen. Auch wenn in jeder Form der Anerkennung also eine Verkennung liegt, so weist Bedorf doch darauf hin, dass uns dies nicht der Aufgabe, andere kulturelle Gruppen anzuerkennen, enthebt. Vielmehr sieht er gerade darin, dass wir in der Anerkennung primäre auf sekundäre Andersheit reduzieren, den Keim für unsere Verantwortung dem Anderen gegenüber liegen. Wir sind es, die den Anderen auf eine bestimmte Erscheinungsform festlegen, um seiner Forderung nach Anerkennung nachkommen zu können. Diese Festlegung haben wir zu verantworten und das in einem durchaus wörtlichen Sinn - nämlich so, dass wir die anerkennende Festlegung als eine Antwort auf die Forderung nach Anerkennung verstehen, nicht aber glauben, damit den Anderen erkannt zu haben. Eine solche Antwort bleibt sich ihrer Vorläufigkeit bewusst, die Anerkennung muss also immer wieder von neuem und auf neue Weise gestiftet und geleistet werden. Es ist leicht ersichtlich, dass sich eine derart prozedural verstandene Form der Anerkennung umso leichter verwirklichen lässt, desto enger Menschen zusammenleben und desto mehr Erfahrungen sie teilen. Darin dürfte der Grund dafür liegen, dass Anerkennung innerhalb einer kulturellen Gruppe - in der sie zwischen den einzelnen Individuen selbstverständlich ebenso gefordert ist - leichter funktioniert als zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Multikulturalität das Zusammenleben verschiedener kultureller Gruppen in einer Gesellschaft beschreibt. Dabei werden bestimmte gesellschaftliche Rahmenbedingungen vorausgesetzt, die von allen Gruppen gleichermaßen akzeptiert werden müssen. Taylor nennt als entscheidende Prämissen einerseits die in der Würde des Einzelnen gründende Gleichberechtigung aller Menschen in einer Gesellschaft und andererseits das Recht auf Differenz (Einmaligkeit). Die jeweilige Gewichtung dieser beiden u. U. gegenläufigen Prämissen muss in der Gesellschaft immer wieder von neuem ausgehandelt werden. Multikulturalität ist Taylor zufolge darum letztlich <?page no="31"?> Transkulturalität 31 nur in einer liberalen Gesellschaft möglich. Der Liberalismus steht aber selbst nicht jenseits aller Kulturen, sondern verdankt sich einer eigenen kulturellen Tradition. »Der Liberalismus«, so Taylor, »ist nicht die Stätte eines Austauschs aller Kulturen, er ist vielmehr der politische Ausdruck eines bestimmten Spektrums von Kulturen und mit einem anderen Spektrum anderer Kulturen unvereinbar«. 12 Er bezeichnet ihn darum auch als »kämpferische Weltdeutung«. 13 Bedorf macht zudem darauf aufmerksam, dass jede Form der Anerkennung zu einer Reduzierung der Andersheit der verschiedenen kulturellen Gruppen auf bestimmte Lebensformen in einer multikulturellen Gesellschaft führt. Multikulturalität als die Idee eines gleichberechtigten Nebeneinanders verschiedener kultureller Gruppen in einem gemeinsamen Staat stößt demnach an grundsätzliche Grenzen. Ein multikulturelles Miteinander erfordert klare gesetzliche Regelungen, die sich, wie am Beispiel der Sprachgesetze Quebecs gesehen, ihrerseits aber immer nur auf konkrete Ausdrucksformen der verschiedenen kulturellen Gruppen beziehen können und damit deren Eigenständigkeit (im Sinne der primären Andersheit) zwangsläufig auf bestimmte Besonderheiten (sekundäre Andersheit) reduzieren. Um einer solchen Reduktion zu begegnen, muss jede Form der Anerkennung vorläufig bleiben und laufend erneuert und verändert werden. Anerkennung ist nur im wechselseitigen Austausch zwischen den verschiedenen Gruppen und in kontinuierlicher Entwicklung möglich. 1 . 2 Transkulturalität In den 1990 er Jahren hat Wolfgang Welsch den Begriff der Transkulturalität in den deutschsprachigen Raum eingeführt und für eine kritische Reflexion des Kulturbegriffs herangezogen. 14 Der Begriff geht auf Fernando Ortiz zurück, der ihn bereits um 1940 dazu verwendete, den kulturellen Wandel auf Kuba zu beschreiben. 15 Später wurde er, zunächst vor allem in Amerika, in verschiedenen Disziplinen aufgegriffen. 16 Welsch übernimmt den Begriff der Transkulturalität, um die kulturelle Wirklichkeit der Gegenwart zu beschreiben, die, so Welsch, durch die Auflösung der Einzelkulturen geprägt ist. Das Leben des Einzelnen ist nicht so sehr 12 Taylor 2009, S. 48 f. 13 Ebd., S. 49. 14 Meine Darstellung des Konzepts der Transkulturalität bezieht sich im Wesentlichen auf Welsch 1992 und 1999. Für die Konzeption von Vernunft, die dem transkulturellen Denken zugrunde liegt, s. Welsch 1996. Für eine interdisziplinäre Sammlung von Texten zur Transkulturalität s. Langenohl, Poole und Weinberg 2015. 15 Ortiz 1970. 16 Vgl. dazu Reichardt 2006. <?page no="32"?> Philosophische Begriffsklärung 32 durch seine kulturelle Herkunft als vielmehr durch die ökonomische Situation, durch Bildungschancen, politische Gestaltungsmöglichkeiten, die Freiheit des Glaubens, ökologische Rahmenbedingungen und viele weitere Faktoren bestimmt, die allesamt nicht kulturspezifisch sind, sondern in den verschiedenen Kulturen gleichermaßen virulent sind. In allen Kulturen stellen sich heute ähnliche Probleme, und immer häufiger lassen sich Antworten auf diese Probleme nur noch gemeinsam finden. Das führt zu einer Angleichung der Kulturen aneinander. Zugleich aber beobachten wir einen starken Differenzierungsprozess innerhalb der Kulturen. Früher als verbindlich erachtete Lebensformen weichen einer Vielzahl individueller Lebensstile, die längst auch Praktiken anderer kultureller Traditionen integrieren. So wird etwa die christliche Verwurzelung der meisten europäischen Kulturen keinesfalls nur durch den Abfall vom Glauben und eine sich stark verbreitende ›Unmusikalität‹ in Glaubensfragen (Max Weber) relativiert; vielmehr treten immer häufiger neben den christlichen Glauben auch andere Glaubensformen, die aus anderen Kulturen übernommen und in den Lebensentwurf von Menschen integriert werden, die in überwiegend christlich geprägten Gesellschaften leben. Noch viel offensichtlicher wird die Durchmischung der Kulturen mit Blick auf alltäglichere Phänomene, etwa die Essgewohnheiten, die Musik, die Literatur und den Sport. Ganz selbstverständlich hören wir heute afrikanische Musik (bezeichnender Weise unter dem Titel der ›Weltmusik‹), lesen lateinamerikanische Literatur und treiben asiatische Kampfsportarten. Die Durchlässigkeit der Kulturen wird durch Migration und globale Kommunikation immer weiter vorangetrieben. Keine Kultur kann es sich heute noch leisten, sich gegen andere abzuschotten und ihre eigenen Traditionen gegen äußere Einflüsse zu verwahren. Welsch spricht davon, dass kulturelle Authentizität heute zu Folklore verkommen ist. In jeder Kultur sind Lebensformen und -praktiken aller Kulturen zu finden. Diversifizierung der Einzelkulturen und Angleichung der verschiedenen Kulturen stellen die zwei Seiten ein- und desselben Prozesses dar: Dieser Prozess besteht in der Auflösung der traditionellen und traditionsbezogenen Kulturen zugunsten einer diversifizierten und transkulturellen Globalität. Der Einzelne gewinnt seine Identität nicht mehr vorrangig aus seiner kulturellen Herkunft, sondern setzt sie, so Welsch, aus einer Vielzahl von Komponenten ganz verschiedenen kulturellen Ursprungs zusammen. Es ist Welsch wichtig zu betonen, dass ein solch transkulturelles Modell nicht nur besser geeignet ist, die gegenwärtige Situation zu beschreiben, sondern darüber hinaus auch in seinem normativen Anspruch vertretbar ist. Es befreit den Einzelnen aus kulturellen Zwängen und löst die Kulturen aus der abwehrenden Konkurrenz, in der sie Welsch zufolge traditionell zueinander standen (obwohl Welsch keinesfalls leugnet, dass es gelegentlich auch früher <?page no="33"?> Transkulturalität 33 schon einen fördernden Austausch zwischen den Kulturen gegeben hat; nur war dies nicht die Regel und hat schon gar nicht das Selbstverständnis der Kulturen geprägt). Welsch grenzt seine Konzeption der Transkulturalität strikt gegen jene von Multi- und Interkulturalität ab, denen er beiden vorwirft, an einem alten, traditionsbezogenen Kulturbegriff festzuhalten. Um diesen alten Kulturbegriff zu veranschaulichen, greift Welsch auf die Herder entlehnte Metapher der Kugeln zurück. Demnach sind Kulturen kugelartig - in sich ruhend und nach außen abgeschlossen. Eine solche Vorstellung (die freilich so von Herder selbst gar nicht vertreten wurde) geht davon aus, dass jede Kultur ihr eigenes Wesen besitzt, das sich in allen Lebensformen dieser Kultur zeigt. Dieses traditionelle Kulturmodell ist deshalb das einer homogenen, substantiell kaum wandelbaren und eben deshalb in hohem Maße traditionsbezogenen Kultur. Zudem wird ein solch kugelartiges Kulturverständnis häufig mit einem einzelnen Volk in Verbindung gebracht, so dass die Zugehörigkeit zu einer Kultur damit korreliert, einem bestimmten Volk anzugehören. Schließlich sind die kugelartigen Kulturen auf ihr Wesen als dem eigenen Mittelpunkt bezogen und grenzen sich gegen andere Kulturen radikal ab. Daraus resultieren zahlreiche Konflikte. Welsch versteht die Konzeption der Interkulturalität nun als den Versuch, diesen Konflikten durch einen Dialog der Kulturen zu begegnen. Die Kulturen sollen trotz ihrer vehementen Abgrenzung gegeneinander lernen, sich wechselseitig zu respektieren und in Frieden miteinander zu leben. Ganz ähnlich versteht er auch Multikulturalität als das geregelte Nebeneinander verschiedener, voneinander getrennt bleibender kultureller Einheiten innerhalb einer Gesellschaft. Freilich, so ehrenhaft das Bestreben, Konflikte zu vermeiden, auch ist, kranken Welsch zufolge sowohl Interkulturalität als auch Multikulturalität daran, dass sie an einem traditionellen Kulturverständnis festhalten, das den Gegebenheiten der Gegenwart nicht mehr entspricht und ihren Anforderungen nicht genügen kann. Das Konzept der Transkulturalität scheint die kulturelle Situation der Gegenwart auf den ersten Blick in der Tat adäquat zu beschreiben. Wir sind heute nicht mehr auf eine kulturell einheitliche Lebensform festgelegt; im Gegenteil, wir legen großen Wert auf einen individuellen Lebensstil und greifen bei der Gestaltung dieses Lebensstils ganz selbstverständlich auf Errungenschaften anderer Traditionen zurück. Schon der zweite Blick freilich sollte uns ein wenig vorsichtiger werden lassen. Was uns in Nord- und Mitteleuropa selbstverständlich zu sein scheint, gilt in anderen Gegenden nicht unbedingt in gleicher Weise. Schon im südeuropäischen Raum ist die Bindung an Traditionen un- <?page no="34"?> Philosophische Begriffsklärung 34 gleich stärker als im Norden. Und doch mag man die transkulturelle Beschreibung grosso modo für den gesamten Westen, einschließlich Nordamerikas gelten lassen. Aber leben die Menschen in islamisch geprägten Ländern auf gleiche Weise transkulturell? Wir unterstellen zumeist, dass sie das anstreben, und wundern uns dann, wenn religiös geprägte Parteien, die sich auf eine bestimmte Tradition stützen, in einer demokratischen Wahl an die Macht kommen. Wie steht es mit Schwarzafrika, mit Ostasien, mit Lateinamerika? Lassen sich die Unterschiede zwischen den Lebensformen in diesen Gegenden tatsächlich auf individuell verschiedene Stile reduzieren? Sicherlich, das Internet verbindet das afrikanische Dorf mit der japanischen Metropole, aber liegen die Unterschiede deshalb wirklich nur noch in der Differenz zwischen Dorf und Stadt, zwischen arm und reich begründet? Viel nahe liegender ist es anzunehmen, dass sich weiterhin die Lebenserfahrungen der nächsten Umgebung prägend auf die Gestaltung individueller Lebensstile auswirken. Diese Lebenserfahrungen freilich ändern sich in unserer globaler werdenden Welt. Insofern ist Welsch durchaus zuzustimmen in seiner Diagnose eines Wandels der Kulturen. Nur bedeutet ein solcher Wandel nicht die Auflösung konkreter, geschichtlich geprägter Lebenskontexte - und eben das sind die Kulturen. Vor allem aber ist die Konzeption der Transkulturalität keineswegs voraussetzungslos: Die transkulturelle Gesellschaft setzt ganz ähnlich wie die multikulturelle einen liberalen, wertneutralen Rechtsstaat voraus, der die Gleichberechtigung der diversen Lebensformen und -stile sichert. Es sei darum nochmals an Taylors Wort vom Liberalismus als einer »kämpferischen Weltdeutung« erinnert. 17 Transkulturell kann eine Gesellschaft nur werden, wenn dies die Richtung ist, in die sich eine Kultur entwickelt. Transkulturalität ist dann aber eben auch nur so etwas wie ein kultureller Stil. Aus philosophischer Sicht stellen sich freilich noch ganz andere Fragen. Die Vorstellung einer Auflösung der Kulturen zugunsten einer Pluralität von Lebensformen, die sich aus Komponenten verschiedener Traditionen zusammensetzen, offenbart ein Kulturverständnis, das gerade im Licht von Welschs Kritik am traditionellen Kulturbegriff höchst fragwürdig erscheint: Philosophisch gesehen liegt der entscheidende Schritt vom traditionellen zum transkulturellen Kulturbegriff, so wie Welsch beide darstellt, in der Auflösung einer als homogen und auf ihr eigenes Wesen ausgerichtet vorgestellten Entität zugunsten der Verflechtung, Durchmischung und Wechselbeziehung zwischen heterogenen und wandelbaren Lebensformen. Die Kulturen sind dieser Vorstellung zufolge nicht durch unveränderbare Wesensgehalte, 17 Vgl. Kap. 1.1. <?page no="35"?> Transkulturalität 35 sondern durch konkrete Lebensformen und Lebenspraktiken bestimmt. Die Lebensformen wandeln sich mit der Zeit und sie können sich kulturübergreifend mischen. Schon innerhalb einer Kultur treten ganz verschiedene Lebensformen in einen lebendigen Austausch untereinander und bedingen dadurch Heterogenität schon auf der Ebene des Individuums. So ist es viel zutreffender, jemanden als heterosexuell, vermögend, kinderlieb, fußballbegeistert und Liebhaber des No-Theaters zu beschreiben, denn ihn als Asiaten oder Japaner zu bezeichnen. Nicht die Herkunft, sondern die gelebte Praxis bestimmt, wer der Einzelne ist. Der Gedanke bleibt aber auf halbem Wege stehen, wenn man statt der Kulturen nun die verschiedenen Lebensformen als wesenhaft bestimmt versteht. Dann wäre die eben beschriebene Person zwar nicht durch das Wesen der asiatischen Kultur, wohl aber durch die Wesensgehalte von Heterosexualität, Reichtum, Kinderliebe, Fußball und No-Theater geprägt. Gegenüber dem von Welsch als traditionell bezeichneten Kulturverständnis wäre damit eine größere Auswahl an Lebensformen gewonnen, an der Traditionsbezogenheit der verschiedenen Lebensformen aber würde sich nichts ändern. Der Einzelne würde nicht mehr in die große Schublade des ›Asiatisch-seins‹ passen, er würde dafür aber in eine Vielzahl kleinerer Schubladen gesteckt. An die Stelle der kulturellen Kugeln träten lebensformende Kügelchen. Die Annahme einheitlicher Lebensformen aber widerspricht der Wirklichkeit der Phänomene massiv. Kinderliebe ist nicht gleich Kinderliebe. Die Beziehung zu Kindern hat sich in den letzten hundert Jahren stark gewandelt (und sie war auch davor keinesfalls unveränderlich). Kinder haben heute einen anderen gesellschaftlichen Stand, als dies noch vor hundert Jahren der Fall war. Unsere ganze Gesellschaft ist zunehmend auf Jugend ausgerichtet; wir achten sehr viel mehr auf die Kindesentwicklung als früher; die Familienstruktur ist eine andere geworden und vieles andere mehr. Zudem stellt sich die Liebe zu Kindern bei der einen Person u. U. ganz anders dar als bei der anderen. Kinderliebe kann dazu führen, selbst viele Kinder haben zu wollen; sie kann aber ebenso gut zu politischem Engagement für die Rechte und das Wohl von Kindern führen. Was Kinderliebe im Einzelnen bedeutet, hängt an der jeweiligen Person und an der historischen Situation und den aktuellen Gegebenheiten, in denen diese Person lebt. Was Kinderliebe genau bedeutet, bestimmt sich sehr viel mehr durch die von der einzelnen Person gelebte Praxis, als dass umgekehrt die Person durch das Wesen einer kinderlieben Lebensform geprägt wäre. Gleiches gilt selbstverständlich für alle anderen Lebensbereiche. Schon der Begriff der Lebensform weist darauf hin, dass es auf die gelebte Praxis und nicht auf das Wesen einzelner Lebensformen ankommt. Lebensformen können also keinesfalls aus einer anderen Kultur einfach übernommen und in die eigene integriert werden. Die Übernahme einer Lebensform bedeutet deren prakti- <?page no="36"?> Philosophische Begriffsklärung 36 schen Vollzug und damit immer auch deren Vernetzung mit anderen Lebensformen, wodurch die Lebensform gleichsam neu kontextualisiert und dadurch eben immer auch angepasst und verändert wird. Die Freiheit des Einzelnen besteht eben nicht allein darin, sich seinen Lebensstil nach dem Baukastenprinzip aus verschiedenen Komponenten zusammenzusetzen, sondern vor allem darin, die verschiedenen Lebensbereiche individuell zu gestalten. Solche Freiheit ist zugleich Aufgabe; der Einzelne übernimmt Verantwortung für die Gestaltung seines Lebens - ein Zug, der in Welschs Konzept der Transkulturalität merkwürdig unterbelichtet bleibt. Die individuelle Lebensgestaltung findet allerdings nicht im luftleeren Raum statt, sondern muss sich den jeweiligen historischen und aktuellen Gegebenheiten stellen. Ich kann nicht beschließen, reich zu sein, wenn ich es nicht bin; ebenso wenig kann ich wählen, schwarz zu sein, wenn ich doch weiß bin. Wohl aber kann ich den Umgang mit Wohlstand und Hautfarbe gestalten, ich kann nach Wohlstand streben und ich kann mich für die Gleichberechtigung der Hautfarben einsetzen. Ob ich das tun werde, hängt dabei nicht allein von persönlichen Vorlieben, sondern immer auch von der jeweiligen geschichtlichen und konkreten Situation ab. In den Südstaaten der USA spielt die Hautfarbe eine viel größere Rolle als in Italien; und auch in den USA hat das Thema vor hundertfünfzig Jahren noch eine andere Brisanz gehabt als heute. Das wird Einfluss darauf haben, ob Hautfarbe für den Einzelnen eine Rolle spielt oder nicht. In der Kindererziehung kann man heute nicht einfach frei wählen, sein Heil in der körperlichen Züchtigung zu suchen, und das eben nicht nur deshalb nicht, weil das Gesetz es verbietet, sondern weil die Sittlichkeit dagegen steht. Wenn wir heute sagen, dass ›man Kinder nicht schlägt‹, dann ist dies keinesfalls bloße Traditionsgebundenheit, sondern in erster Linie eine sittliche Errungenschaft, der wir selbst uns verpflichtet fühlen. An diesem einfachen Beispiel wird deutlich, dass wir selbstverständlich Kinder unserer Zeit sind und uns über das geschichtlich gestaltete Lebensumfeld, in dem wir uns bewegen, nicht einfach hinwegsetzen können. Gestalten und verändern können wir es aber, und das auch durch Einführung von Lebensformen anderer Kulturen. Gestaltung der eigenen Kultur freilich ist etwas grundlegend anderes als deren Auflösung. 18 Weitere Ungereimtheiten in Welschs Ansatz seien hier nur angedeutet. So schließt Welsch aus der Zentriertheit des traditionellen Kulturmodells auf Ausschließlichkeit und Abgrenzung gegenüber anderen Kulturen. Ich will hier keinesfalls ein Kugelmodell der Kulturen verteidigen, aber die Problemlage ist doch sehr viel komplexer, als Welsch sie darstellt. So liegt die besondere Stärke 18 S. dazu Kap. 1.3. <?page no="37"?> Transkulturalität 37 des traditionellen Kulturverständnisses gerade in der integrativen Kraft der auf ein wesenhaftes Zentrum hin ausgerichteten Kultur. Fremdkulturelle Phänomene werden grundsätzlich auf dieses Zentrum bezogen und so in die eigene Kultur integriert. Dabei werden die fremdkulturellen Phänomene natürlich verändert und häufig genug auch einfach als unpassend oder irrelevant verworfen; sie bleiben aber nicht außerhalb der Kultur stehen, sondern werden auf die eine oder andere, zustimmende oder ablehnende Weise aufgenommen. Diese Form der Integration wird den fremdkulturellen Phänomenen häufig nicht gerecht, Vertreter anderer Kulturen fühlen sich missverstanden. Das integrierende Verstehen versteht aber nicht, dass es missversteht. Das Besondere des traditionellen Kulturverständnisses ist gerade diese Form der Universalität, alles, auch das Fremde, in der eigenen Perspektive zu sehen. Konflikte entstehen nicht durch Abgrenzung gegenüber anderen Kulturen, sondern umgekehrt gerade durch den Anspruch, alles, auch fremdkulturelle Phänomene, nach einer einheitlichen Struktur ordnen zu können. Während die Abgrenzung anderen kulturellen Lebensformen ja gerade ihren eigenen Raum belassen würde, führt der Universalitätsanspruch des traditionellen Kulturverständnisses zur Ausgrenzung einer Vielzahl von Lebensformen innerhalb der eigenen Kultur. Das Problem ist nicht so sehr, dass sich eine weiße gegen eine schwarze Kultur abgrenzt, sondern dass die weiße Kultur die schwarze aufnimmt (die schwarze Bevölkerung in den USA hat ihre Wurzeln schließlich im Sklavenhandel), dann aber ausgrenzt. Ähnliches gilt für die innerkulturelle Vielfalt von Lebensformen. Die heterosexuelle Gesellschaft grenzt sich eben keinesfalls einfach gegen eine homosexuelle ab, sondern grenzt diese aus. Für solche Ausstatt Abgrenzung gibt es viele weitere Beispiele. Der Universalanspruch, den jede einzelne Kultur für sich erhebt, macht eine Verständigung zwischen den Kulturen einerseits sehr viel schwieriger; andererseits darf man solchen Universalanspruch nicht vorschnell aufgeben, bildet er doch auch die entscheidende Grundlage für die Möglichkeit, Kritik aneinander zu üben. Gibt man den Universalismus zugunsten eines Relativismus auf, dann verliert man damit die Rechtfertigung, anderen kulturellen Lebensformen kritisch zu begegnen. Das ist sicherlich nicht die Absicht des transkulturellen Kulturverständnisses. Im Gegenteil, die Pluralisierung der Lebensformen soll die gegenseitige Kontrolle und Kritik gerade befördern. Das geht aber eben nur, wenn die universale Geltung bestimmter Rahmenbedingungen vorausgesetzt wird. Diese Rahmenbedingungen liegen in so etwas wie einer liberalen Rechtsstaatlichkeit (s. o.), und die entspringt selber einer »kämpferischen Weltdeutung«. Transkulturalität bleibt eine universalistische Konzeption. <?page no="38"?> Philosophische Begriffsklärung 38 Schließlich sei auf die unklare Rolle hingewiesen, die dem Subjekt in der transkulturellen Konzeption zukommt. Welsch betont immer wieder, dass es in der transkulturellen Gesellschaft Aufgabe des individuellen Subjekts ist, seine eigene Identität aus einer Vielzahl von Komponenten (gemeint sind verschieden kulturelle Lebensformen) zusammenzustellen. Das suggeriert, dass wir es zunächst mit einem a-kulturellen und damit letztlich a-sozialen Subjekt zu tun haben, das sich im Laufe seines Lebens eine den eigenen Vorlieben entsprechende Identität bastelt. Aber was soll das sein - ein a-kulturelles, gar a-soziales Subjekt? Das reale, leiblich verfasste menschliche Wesen ist jedenfalls schon aus biologischen Gründen immer ein soziales Wesen. Gemeint sein kann deswegen nur ein vorgängiges, ein transzendentales Subjekt; ganz allgemein die Vernunft. Aber woher gewinnt ein solches Subjekt seine Vorlieben? Und wieso unterscheiden sich die Vorlieben dann von Mensch zu Mensch? Das ergibt keinen Sinn. Dass die Konzeption der Transkulturalität dennoch von einem allgemeinen Subjekt ausgeht, sieht man aber daran, dass sie auf der Idee basiert, dass der Einzelne frei ist, global unter allen kulturellen Lebensformen die für ihn passenden auszuwählen. Die Motivation dieser Wahl darf darum natürlich nicht ihrerseits kulturell beeinflusst sein. Darum muss in der transkulturellen Konzeption so etwas wie ein absolutes, d. h. von jeglicher Kultur losgelöstes, a-kulturelles Subjekt angenommen werden. Tatsächlich ist jede Wahl der Lebensform aber abhängig von der konkreten Situation, in der sich der Einzelne befindet; sie ist abhängig von den Lebenserfahrungen, die der Einzelne macht; und sie ist abhängig vom Einfluss anderer, von deren Vorbildcharakter oder auch abschreckendem Beispiel, von deren Erfahrungen und Erzählungen. Es gehört, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, zur westlichen Kultur des 21 . Jahrhunderts, sich ebenso gut für eine buddhistische wie eine christliche oder auch ganz gegen jegliche Glaubenshaltung entscheiden zu können. Das war nicht immer so und das ist nicht überall so. Und wir stoßen damit auch keinesfalls überall auf Zustimmung. Deswegen aber andere Kulturen als rückständig zu betrachten, entspricht kaum dem auf Diversifizierung bedachten Selbstverständnis der Transkulturalität. Zusammenfassung Das Paradigma der Transkulturalität, so ließe sich zusammenfassend sagen, versucht der Realität moderner, durch Migration und kulturelle Durchmischung geprägter Gesellschaften gerecht zu werden. Es löst die Vorstellung zusammenhängender Kulturen zugunsten einer Vielzahl voneinander unabhängiger Lebensformen auf, die - so die Vorstellung - individuell frei kombi- <?page no="39"?> Interkulturalität 39 niert werden können. Tatsächlich können wir heute in einer europäischen Gesellschaft leben, aber zugleich dem Buddhismus anhängen; wir können Deutsch sprechen, uns aber Chinesisch ernähren; wir können zugleich Fußballfan sein und Taekwondo üben. Das Paradigma der Transkulturalität scheitert aber daran, dass die verschiedenen Lebensformen eben nicht unabhängig voneinander bestehen, sondern wechselseitig Einfluss aufeinander ausüben. So wie die Lebensformen, die ich individuell wähle, irgendwie zueinander passen müssen, will ich nicht in eine multiple Persönlichkeit zerfallen, so müssen auch die Lebensformen einer Gesellschaft langfristig einigermaßen zusammen passen. Natürlich ist es möglich, Lebensformen anderer Kulturen aufzugreifen, sie werden dann aber aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgerissen und in einen neuen gesetzt; und das hat Auswirkungen auf die einzelne Lebensform. Ich kann heute also tatsächlich auch als Europäer und in Europa lebend Buddhist sein, »[d]och ein europäischer Buddhist bleibt ein Europäer, der sich zum Buddhismus bekehrt hat«. 19 Das Paradigma der Transkulturalität verkennt, dass Kulturen keine Entitäten sind, schon gar keine essentialistischen, sondern stattdessen so etwas wie die jeweils konkrete geschichtliche Gestalt des Zusammenspiels zahlreicher Lebensformen darstellen. Umgekehrt sind auch die Lebensformen nicht essentialistisch und gerade deswegen auch nicht frei verfügbar; was eine Lebensform ausmacht, hängt wesentlich am kulturellen Kontext, in dem sie gelebt wird. 1 . 3 Interkulturalität Der Begriff der Interkulturalität bezieht sich auf jenes ›Zwischen‹ von Kulturen, das in der Begegnung und im Austausch der Kulturen sichtbar wird. Interkulturell werden die Kulturen grundsätzlich von diesem Zwischen her verstanden, das jenseits der Kulturen liegt und diese deshalb zu einer Orientierung über ihr Eigenes hinaus bewegt. Interkulturalität betont darum von Beginn an die innere Dynamik, die allen Kulturen zueigen ist und die sich nirgendwo so deutlich erweist wie im Kontakt zu anderen Kulturen. Dieser Kontakt ist es, der Kulturen lebendig erhält: die Kritik aneinander ebenso wie das Lernen voneinander. Interkulturalität zielt deshalb nicht primär auf ein Modell für das Verstehen anderer Kulturen, sondern versucht demgegenüber, auf die Selbstverantwortung und die Lebendigkeit von Kulturen aufmerksam zu machen, die jedes von außen herangetragene Modell irgendwann sprengen müssen. Einen Austausch zwischen Kulturen gab es vermutlich immer, mal friedli- 19 Waldenfels 1990, S. 63. <?page no="40"?> Philosophische Begriffsklärung 40 cher, häufiger weniger friedlicher Natur. In vielen Fällen hat solcher Austausch die Entstehung von neuem befördert und den Wandel der Kulturen begünstigt. Dabei ist ein solcher Austausch auch über Epochengrenzen hinweg möglich, wie etwa in der islamischen Welt, als zwischen dem 9 . und 12 . Jahrhundert ein großer Teil der verfügbaren griechischen Literatur ins Arabische übersetzt wurde und die Entwicklung der arabischen Wissenschaften und eines arabischislamischen Staatswesens nachhaltig beeinflusst hat. Umgekehrt gilt, dass sich eine Kultur, die von der Außenwelt abgeschnitten ohne irgendwelche externen Einflüsse lebt, sehr viel schwerer tut, Gewohntes in Frage zu stellen und Neues auszuprobieren. Faktisch kennen wir solch annähernde Isolation nur von wenigen sehr kleinen Naturvölkern, bei denen der Druck zu Veränderung schon wegen der geringen Größe und dem darum vergleichsweise stabilen, wenn auch kargen Ressourcenangebot niedrig ist. Freilich gibt es selbst hier Austausch zwischen benachbarten Gruppen. Kulturen leben vom Austausch. Das Zwischen ist lebensnotwendig, es ist konstitutiv für die stetige Erneuerung und damit das Fortbestehen von Kulturen. Das am häufigsten gegen den Begriff der Interkulturalität vorgebrachte Argument zielt darauf ab, dass die Rede von einer Inter-Kulturalität voneinander getrennte, für sich existierende Kulturen voraussetze; andernfalls mache es keinen Sinn, von so etwas wie einem Zwischen zu sprechen. 20 Die Voraussetzung voneinander getrennter, für sich existierender Kulturen aber berge die Gefahr, Kulturen zu essentialisieren, d. h. ihnen ein unveränderbares Wesen zuzuschreiben, das sie von anderen Kulturen radikal unterscheidet. Ein solches Kulturverständnis erlaube keinerlei Wandel und leugne zudem letztlich die Möglichkeit einer Verständigung zwischen den Kulturen. Tatsächlich ist dieser Kritik darin zuzustimmen, dass ein essentialistisches Kulturverständnis weit an der Realität vorbeigeht. Kulturen verändern sich und nehmen Einflüsse von außen auf; auch kann der Einzelne in eine andere Kultur eintauchen und diese kann zu seiner eigenen werden. Falsch ist dagegen die Annahme, Interkulturalität setze klar voneinander getrennte, kugelartig abgeschlossene Kulturen voraus. Im Gegenteil, der Begriff der Interkulturalität macht gerade darauf aufmerksam, dass die Kulturalität einer Kultur nur vom Zwischen her zu verstehen ist. Eine Kultur hängt konstitutiv am Zwischen und dem Austausch mit anderen Kulturen, für die eben dasselbe gilt. So ist das Zwischen der eigentliche Lebensquell der Kulturen; damit ist auch klar, dass eine Kultur niemals zu so etwas wie der Verwirklichung ihrer selbst gelangt, kann dieses Selbst doch immer bloß eine Momentaufnahme der Auseinandersetzung mit jenem Zwischen sein und ist damit also selber stetigem Wandel unterworfen. Das 20 Vgl. die von Welsch vorgebrachte Kritik am Begriff der Interkulturalität, die ich in Kap. 1.2 diskutiert habe. <?page no="41"?> Interkulturalität 41 Aufmerken auf die interkulturelle Dimension eröffnet uns deshalb ein ganz neues und tieferes Verständnis von Kultur: Nicht nur verändert sich jede Kultur über die Zeit, vielmehr ist sie ihrem Wesen nach Veränderung, Wandel und Austausch. Sie ist, um es in der Begrifflichkeit von Lévinas auszudrücken, die Waldenfels für interkulturelle Fragestellungen fruchtbar gemacht hat, zu keinem Zeitpunkt mehr als der Versuch einer »Antwort« auf den aus dem Zwischen der Kulturen kommenden »Anspruch«. 21 Der Anspruch selbst entzieht sich der Kultur grundsätzlich, und so entzieht sich ihr auch die Richtung ihrer eigenen Entwicklung - und damit das, was man vormals das Wesen genannt hat. Interkulturell verstanden sind die Kulturen also keinesfalls als absolut differente Wesen voneinander getrennt. Ein solches Verständnis greift viel zu kurz, es verdinglicht die Kulturen und versteht die Pluralität der Kulturen als ein Nebeneinander voneinander getrennter Entitäten. Ein solches Nebeneinander freilich setzt immer schon so etwas wie einen gemeinsamen Raum voraus. So entpuppt sich der Relativismus, der interkulturellem Denken gelegentlich vorgeworfen wird, als bloße Kehrseite jenes Universalismus, in dessen Namen der Vorwurf erhoben wird. In Wirklichkeit ist die Sachlage viel spannender: Die andere Kultur ist von der eigenen nicht durch einzelne Errungenschaften, Gewohnheiten oder Überzeugungen unterschieden; dafür wäre ein gemeinsamer Vergleichsrahmen notwendig. Die andere Kultur ist gar nichts anderes als die eigene Kultur, sie ist dasselbe - nur anders. Sie ist dasselbe anders und entzieht sich deshalb jedem denkbaren Vergleich. Die Erfahrung des Fremden, darauf macht Waldenfels aufmerksam, ist die der Anwesenheit des Abwesenden. Die andere Kultur zeigt sich als sich entziehende. Der Widerspruch, der darin liegt, lässt sich nur dadurch auflösen, dass man das verdinglichende Verständnis von Kulturen aufgibt und schon die eigene Kultur als lebendig, d. h. als sich stetig erneuernd und über sich hinausstrebend verstehen lernt. ›Dasselbe‹, das eine andere Kultur auf andere Weise ist, ist dann kein ›Etwas‹, sondern lediglich das Zwischen der Kulturen, aus dem heraus sich alle Kulturen gleichermaßen konstituieren. Diese Betonung der Prozeduralität und grundsätzlichen Unabgeschlossenheit von Kulturen spiegelt sich in den methodischen Ansätzen interkultureller Philosophie wider. Kimmerle versteht Interkulturalität dialogisch, wobei im Dialog keine Informationen ausgetauscht, sondern Zwischenräume ausgelotet werden. 22 Das Hören-können geht dem Verstehen-können voraus. Wimmer erweitert den Dialog zum »Polylog« und macht damit darauf aufmerksam, dass der Austausch zwischen Kulturen auf mehreren Ebenen und zwischen mehre- 21 Vgl. Waldenfels 1997, s. bes. S. 66-84. 22 Kimmerle 2006. <?page no="42"?> Philosophische Begriffsklärung 42 ren Kulturen zugleich verläuft. 23 Entscheidend ist dabei freilich immer, dass die konstitutive Dimension des Austausches gesehen wird: Die Kulturen gehen aus dem Polylog verändert hervor, ja sie werden darin erst zu dem, was sie eigentlich sind - nämlich nicht dies oder das, sondern Selbstgestaltungen der menschlichen Lebenswirklichkeit. Das Zwischen, das die Kulturen trennt, ist selbst nichts anderes als ihr Bezogensein aufeinander. Das Zwischen spannt keinen eigenen Raum aus, es hat kein eigenes Sein. Damit macht gerade das Zwischen darauf aufmerksam, dass die Kulturen durch nichts getrennt sind. Sie sind dasselbe, nämlich die jeweils andere Kultur, dies aber auf ihre je eigene Weise. Die Kulturen stehen interkulturell verstanden also nicht neben- oder gar gegeneinander und lassen sich darum auch einem multi- oder transkulturellen Paradigma grundsätzlich nicht einfügen. Interkulturell verstanden sind die Kulturen keine unterschiedlichen Interpretationen und Gestaltungen von Welt, die man gegebenenfalls miteinander vermitteln könnte, sondern Interpretationen und Gestaltungen der anderen Kulturen; die freilich ihrerseits auch nichts anderes sind, so dass jede einzelne Kultur den gelebten Versuch darstellt, Kultur überhaupt zu gestalten. In jeder einzelnen Kultur stehen alle Kulturen zugleich auf dem Spiel - und mit ihnen die Menschheit und die Menschlichkeit im Ganzen. In der interkulturellen Begegnung geht es deshalb zunächst weniger um Verstehen und Anerkennung als dem zuvor um wechselseitige Kritik und den Versuch, das, was in den Kulturen auf dem Spiel steht, in keiner einzigen scheitern zu lassen. An dieser Stelle werden die Arbeiten von Stenger wichtig, der darauf aufmerksam macht, dass der Gedanke einer Konstitution der Kulturen aus dem Zwischen nur dann konsequent ist, wenn die Welthaltigkeit dieses Konstitutionsprozesses gesehen wird. 24 Versteht man die Geburt bzw. Erneuerung einer Kultur aus dem Zwischen lediglich im Sinne der Konstitution eines umfassenden Horizontes, in dem Welt erscheint, dann wird das, was sich in den verschiedenen Kulturen je anders zeigt bzw. in ihnen je anders realisiert ist, als allen Kulturen gemeinsame Welt aufgefasst. Damit fällt der Gedanke zurück auf das Nebeneinander verschiedener Entitäten, die sich innerhalb einer gemeinsamen Welt durch ihre jeweilige Interpretation dieser Welt voneinander unterscheiden. Unter der Hand wird der Kulturbegriff damit wieder substanzialisiert und man bewegt sich wieder im Spannungsfeld von Universalismus und Relativismus. Welt, so Stenger, gibt es nicht jenseits der kulturellen Verständigung über sie. Welt ist selbst jener Verstehenszusammenhang, der jeweilig kulturell-historisch ausgebildet wird. Interkulturalität wird zu »Intermunda- 23 Wimmer 1996. 24 Vgl. Stenger 2006, s. bes. Kap. 4. <?page no="43"?> Interkulturalität 43 neität«. 25 Allerdings muss man auch hier wieder aufpassen: Versteht man Stengers Analyse der Interkulturalität als einer Begegnung von Welten in dem Sinne, dass hier voneinander getrennte, für sich existierende Welten aufeinander stießen, ist nichts gewonnen. Der Hinweis auf den Weltcharakter von Kulturen erinnert dagegen gerade daran, dass im interkulturellen Austausch kein Allgemeines verhandelt, sondern die Wirklichkeit der Kulturen gestiftet wird. Aufgabe einer interkulturellen Philosophie ist es, diese Bedeutung der interkulturellen Dimension offen zu legen. Die Philosophie gewinnt damit eine genuin praktische Bedeutung. Damit wird auch deutlich, dass die interkulturelle Dimension die Philosophie im Ganzen betrifft und herausfordert, dass interkulturelle Philosophie also nicht lediglich ein Teilgebiet der Philosophie ist. 1 . 3 . 1 Ein spielerisches Verständnis von Kultur In der interkulturellen Dimension werden wir auf die Lebendigkeit der Kulturen aufmerksam. Damit wandelt sich auch der Kulturbegriff selbst. Das soll im Folgenden kurz dargestellt werden. 26 Kulturen sind keine starren Entitäten, die sich um ein unveränderliches Wesen herum gruppieren. Schon gegen Ende des 17 . Jahrhunderts verwendete Samuel von Pufendorf den Begriff der Kultur, um mit ihm die Gesamtheit der Tätigkeiten einer Gesellschaft zu bezeichnen. Die Tätigkeiten des Menschen, also sein Verhalten und seine Handlungen, sind nicht an das Wesen der Kultur gebunden, sondern entspringen der freien Entscheidung des Einzelnen. Und doch sind sie nicht völlig beliebig, sondern beziehen sich auf konkrete Handlungssituationen und sind überdies von Erfahrungen aus ähnlichen Situationen beeinflusst. Nicht in jeder Situation ist jede beliebige Handlung sinnvoll. Grundsätzlich möglich vielleicht schon; da wir mit unseren Handlungen in aller Regel aber etwas erreichen wollen, die Handlungen also an einem Handlungsziel orientiert sind, wählen wir unsere Handlungen so, dass sie auch das gewünschte Ergebnis zeitigen. So gibt die jeweilige Handlungssituation entscheidende Parameter vor, an denen wir uns bei der Ausführung unserer Handlungen orientieren. Das tut sie vor allem dadurch, dass sie unser Handeln in einem Handlungsfeld situiert. Ein solches Handlungsfeld könnte beispielsweise das Fußballspiel sein. In einem Fußballspiel treten viele verschiedene Situationen auf, in denen ganz unterschiedlich gehandelt werden muss. All diese Situationen aber sind durch vorangehende Handlungen auf dem Platz hervorgerufen; die situationsbedingten Handlungen reagieren also auf den Ver- 25 Ebd., S. 1009. 26 Ich habe den interkulturellen Kulturbegriff etwas ausführlicher dargelegt in Weidtmann 2013. <?page no="44"?> Philosophische Begriffsklärung 44 lauf des Fußballspiels, führen es weiter oder geben ihm eine bestimmte Wendung. Jede Bewegung eines Spielers nimmt die Bewegungen der Mitspieler, die aktuellen ebenso wie die vorangegangenen, auf und bezieht sich auf sie. Offensichtlich wird das beim Lauf und Pass in den freien Raum, die ohne ihren Bezug aufeinander sinnlos wären. Aber auch ganze Spielverläufe haben einen, wenngleich sehr viel schwächer ausgeprägten, inneren Zusammenhang. So lässt das Engagement einer Mannschaft in aller Regel spürbar nach, wenn das Spiel als entschieden wahrgenommen wird. Wer ein Spiel ›lesen‹ kann, hat einen Sinn für diesen inneren Zusammenhang. Handlungen beziehen sich auf Handlungen, sowohl auf vorangegangene wie auf antizipierte. Die jeweilige Handlungskonstellation ist dabei das, was wir Situation nennen. Sie ist es, an der wir uns bei der Ausführung einer Handlung orientieren. Jede Handlung bezieht sich auf eine solche Handlungskonstellation, gleich ob diese einfach oder komplex ist. Nur in dieser Beziehung ist eine Handlung sinnvoll und nur von dieser Beziehung her kann sie verstanden werden. Wir müssen, wenn wir von Handlungen sprechen, also eigentlich immer die Handlungsfelder mitdenken. Freilich ist es nicht so, dass die Handlungsfelder einseitig die Handlungen bestimmen; die Beziehung zwischen Handlungen und Handlungsfeld ist eine wechselseitige. Die eine Ebene macht ohne die andere keinen Sinn. Die Handlungsfelder sind letztlich nichts anderes als die Art und Weise, wie sich die verschiedenen Handlungen aufeinander beziehen; sie werden durch das Zusammenspiel der einzelnen Handlungen überhaupt erst konstituiert. Und doch sind sie ihrerseits entscheidend für die Sinnhaftigkeit der einzelnen Handlung. So bedingen sich Handlungen und Handlungsfelder wechselseitig, weshalb es auch keinen Sinn macht, die Handlungsfelder auf Regeln oder gar so etwas wie ein inneres Wesen reduzieren zu wollen. Was ein Handlungsfeld ist und wie es auf die Ausführung von Handlungen Einfluss nimmt, das wird überhaupt erst im Wechselspiel von Handlungen und Handlungsfeld herausgespielt. Heinrich Rombach hat diese Überlegungen ausgearbeitet. 27 Er spricht statt von Handlungsfeldern von den »sozialen Ordnungen« menschlichen Handelns. Das gesamte menschliche Leben spielt sich in sozialen Ordnungen ab. Als Beispiele solcher Ordnungen nennt Rombach Arbeit und Beruf, Wirtschaft, Familie, Verkehr, Sittlichkeit, Sport, Religion, Kunst, Wissenschaft, Sprache und andere. Das Entscheidende ist nun auch für ihn, dass die sozialen Ordnungen die einzelnen Handlungen in einen Zusammenhang stellen, der ihnen ihren spezifischen Sinn verleiht. Erst das Zusammenspiel von transzendentaler Ordnung und empirischen Handlungen eröffnet überhaupt jenen Raum, den 27 Rombach 1994a. <?page no="45"?> Interkulturalität 45 wir als ›Handlungsspielraum‹ bezeichnen und in dem sich das gesamte menschliche Leben abspielt. Die einzelnen Ordnungen bleiben wandelbar, ja sie werden in jeder einzelnen Handlung auf bestimmte Weise aufgenommen und weitergeführt. In jeder einzelnen Handlung steht die gesamte zugehörige Ordnung ›auf dem Spiel‹ und erfährt in ihr eine Erneuerung. Im Einzelfall ist das kaum wahrnehmbar, nicht jeder einzelne gespielte Pass revolutioniert das Fußballspiel im Ganzen. Aber auf längere Sicht kommt es zu spürbaren Veränderungen. So stellen die sozialen Ordnungen gleichsam die geschichtliche Dimension aktueller Handlungen dar, womit freilich nicht der bloße Ablauf vorangegangener Handlungen gemeint ist, sondern die Gestaltung bzw. das Herausspielen eines eigenen Sinnfeldes. Die Geschichte der sozialen Ordnungen verläuft denn auch keinesfalls linear, sondern ist durch Phasen relativer Stabilität und Momente größerer Umbrüche gekennzeichnet. Sie verläuft also in Epochen. Der Weg zu einem Kulturverständnis, das diese Erfahrungsgesättigtheit des sozialen Lebens aufnimmt, führt nun über die Einsicht in die Pluralität sozialer Ordnungen. Das soziale Leben ist nie von einer Ordnung allein bestimmt, sondern zeugt grundsätzlich vom Zusammenspiel mehrerer Ordnungen. Auch das Leben eines Profifußballers lässt sich nicht auf die Ordnung des Sports reduzieren, sondern spielt sich zudem in einer Vielzahl weiterer Ordnungen ab, etwa der Familie, der Wirtschaft, der Religion, der Sprache, der Politik und vielen anderen mehr. Freilich wird die Ordnung des Sports im Leben eines Profisportlers eine größere Rolle spielen, als das bei anderen der Fall ist. Diese besondere Bedeutung der Ordnung des Sports hat Auswirkungen auch auf die anderen Ordnungen, in denen sich der Profisportler bewegt. So wird er die wirtschaftliche Ordnung vermutlich stark von der Bedeutung der Wirtschaft für den Sport her verstehen. Auch sein Blick auf die Politik mag durch sportliche Belange geprägt sein; und den Gedanken sportlicher Fairness überträgt er möglicherweise auf private Beziehungen. Die konkrete Gestalt der verschiedenen Ordnungen wird also von der besonderen Bedeutung, die eine einzelne Ordnung im Leben des Einzelnen erhält, beeinflusst; freilich gehen die anderen Ordnungen deshalb nicht in dieser einen auf. Die Wirtschaftsordnung folgt auch in der Form, in der sie für den Sportler von Bedeutung ist, ihren eigenen, wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und nicht etwa denen des Sports. Aber die verschiedenen Ordnungen beeinflussen sich wechselseitig. Rombach spricht davon, dass die Ordnungen »Entsprechungen« untereinander ausbilden. Nur so gelingt es dem Einzelnen, die verschiedenen Rollen, die er in den einzelnen sozialen Ordnungen spielt, zu einer zwar vielseitigen und u. U. auch spannungsreichen, aber doch nicht in lauter Einzelteile zerfallenden Person zusammenzubinden. Ähnliches gilt nun auch für größere soziale Lebenskontexte. In <?page no="46"?> Philosophische Begriffsklärung 46 einer Gesellschaft bilden sich sehr viele verschiedene und immer wieder auch neue soziale Ordnungen, die die Gesellschaft keinesfalls immer in die gleiche Richtung ziehen. Zwischen den verschiedenen Ordnungen gibt es Spannungen und immer wieder auch Bedeutungsverschiebungen. Während eine Zeit lang die Ordnung der Religion besonders wichtig gewesen sein mag, ist es zu einem anderen Zeitpunkt möglicherweise die Ordnung der Wirtschaft, die stärkeren Einfluss auf die anderen Ordnungen ausübt. Auch das Zusammenspiel der Ordnungen hat eine eigene Geschichte, das heißt die Konstellation der Ordnungen zueinander gestaltet sich immer wieder neu. Im Laufe dieses Zusammenspiels bilden sich wechselnde Entsprechungen aus, die über einen kürzeren oder längeren Zeitraum die Bedeutung der einzelnen Ordnungen in einer Gesellschaft prägen. Dieses Entsprechungsverhältnis der sozialen Ordnungen in der Lebenspraxis einer Gesellschaft bezeichnet Rombach als Kultur. Kultur ist demnach das Zusammenspiel der sozialen Ordnungen in einer Gesellschaft. Man sieht sogleich, dass dieses Verständnis von Kultur weit von jeder Form des Essentialismus entfernt ist. Kulturen sind überhaupt keine Entitäten, folglich können sie auch nicht nebeneinander stehen, wie es der Konzeption der Interkulturalität von Kritikern fälschlicherweise immer wieder vorgeworfen wird. Kulturen verdanken sich dem Zusammenspiel sozialer Ordnungen; sie stellen so etwas wie die Geschichte dieses Zusammenspiels mit Blick auf die konkrete Lebenspraxis einer Gesellschaft dar. 28 Zugleich verdanken sie sich natürlich dem Zusammenspiel der verschiedenen Kulturen in der interkulturellen Dimension. Erst im Zusammenspiel mit anderen Kulturen werden sie sich ihrer eigenen Geschichtlichkeit bewusst. Ein solches Kulturverständnis widerspricht nun nicht mehr der Wandlungsfähigkeit der Kulturen. Im Gegenteil, was eine Kultur ausmacht, steht letztlich in jeder einzelnen menschlichen Handlung auf dem Spiel. Zudem lernen die Kulturen voneinander und sie beeinflussen sich wechselseitig. Allerdings lassen sich die Kulturen nicht ohne weiteres in Komponenten zerlegen und beliebig mischen, wie dies in der transkulturellen Konzeption angenommen wird. Die sozialen Ordnungen sind ebenso wenig wie die Kulturen eigenständige Entitäten, sondern verdanken sich dem Zusammenspiel von Handlungen. Wenn wir in der westlichen Gesellschaft heute beispielsweise von einer freien Wahl der Religionszugehörigkeit sprechen und diese als Gewinn gegenüber christlich geprägten Traditionen preisen, dann drückt sich darin der Wandel der religiösen Ordnung in unserer Gesellschaft aus; nicht aber stehen in unserer Gesellschaft heute eine Vielzahl verschiedener religiöser Ordnungen, die anderen Kulturen 28 In einem ähnlichen Sinn spricht Elm vom »Ethos«, der eine Kultur prägt. Elm 2001, bes. S. 17- 28. <?page no="47"?> Interkulturalität 47 entstammen, einfach nebeneinander. Wenn sich ein Mitteleuropäer dem hinduistischen Glauben anschließt, gehört er deswegen noch nicht der gelebten religiösen Ordnung der indischen Gesellschaft an. Diese hängt nicht allein am hinduistischen Glauben. Das widerspricht nicht der Ausbildung globaler Gemeinsamkeiten. Aber solche Gemeinsamkeiten bilden sich nicht durch Vereinheitlichung aus, auch nicht durch Vermischung, sondern in der Form der Entsprechung. So wie die Wirtschaft nicht im Sport aufgeht, beide Ordnungen aber sehr wohl Entsprechungen untereinander ausbilden können, so gehen auch die verschiedenen Kulturen nicht ineinander auf, sondern bilden Entsprechungen untereinander aus. Kulturen sind Lebensgeschichten. Die lassen sich weiterspinnen und gegebenenfalls zusammenflechten, aber nicht mischen. Ein letzter Punkt soll an dieser Stelle zumindest angedeutet werden. Nach dem bislang Gesagten sollte klar geworden sein, dass pauschale Bezeichnungen wie ›der Deutsche‹, ›der Marokkaner‹ oder ›der Muslim‹ interkulturell nicht möglich sind. Kulturen sind heterogene Gebilde, ja sie sind nichts anderes als das Gespräch und Zusammenspiel einer Vielzahl verschiedener Lebensbereiche und Lebensformen. Um die interkulturelle Situation richtig zu beschreiben und auf sie antworten zu können, ist aber ein weiterer Aspekt wichtig: Wir müssen dimensionale Unterscheidungen treffen und uns immer darüber klar werden, in welcher Dimension sich eine Fragestellung oder eine kulturelle Begegnung bewegt. 29 Mir geht es im vorliegenden Buch um die interkulturelle Dimension. Das ist weniger selbstverständlich, als es klingt, und tatsächlich finden sich auch in der interkulturellen Philosophie zahlreiche Ansätze, die eigentlich auf eine andere Dimension zielen. 30 Wenn sich Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft begegnen, dann können sie das in vielen verschiedenen Dimensionen tun. Beispielsweise können sie sich am Postschalter begegnen; dann sind die jeweiligen Rollen, in denen sie sich begegnen, durch die alltägliche und öffentliche Situation der Post bestimmt - der eine ist Schalterbeamter, der andere Kunde. Diese Rollen sind völlig unabhängig davon, welcher kulturellen Herkunft die beiden sind. Oder sie können sich auf einem philosophischen Kongress begegnen, beispielsweise einem Kant-Kongress. Ganz gleich, wo der Kongress stattfindet, und ganz gleich, welcher Herkunft die beiden Personen sind, stellt nun die kantische Philosophie den Rahmen bzw. den Boden ihrer Begegnung dar. Sie begegnen sich als Kantforscherinnen. Sie können sich nun aber auch so begegnen, dass ihre kulturelle Herkunft in dieser Begegnung eine Rolle spielt. Beispielsweise können sich eine Muslima und eine Christin begegnen und über den Religionsunterricht an deutschen Schulen diskutieren. In 29 Vgl. dazu Kap. 4.3. 30 Das versuche ich in Kap. 2 deutlich zu machen. <?page no="48"?> Philosophische Begriffsklärung 48 diesem Fall können die verschiedenen religiösen Überzeugungen der beiden, die sie möglicherweise aufgrund ihrer unterschiedlichen kulturellen Herkunft gewonnen haben, für die Begegnung wichtig sein. Auch in diesem Fall gibt es aber einen gemeinsamen Boden, auf dem die Begegnung stattfindet, etwa die Schulgesetzgebung des betreffenden Bundeslandes oder die Religionsfreiheit, die in Deutschland gewährleistet wird. In dieser Dimension der Begegnung ist es übrigens sehr wohl auch möglich, dass die Muslima deutscher, die Christin aber nicht-deutscher Herkunft ist; ebenso können die beiden ihre religiösen Überzeugungen ändern - der Einzelne ist nicht an seine kulturelle Herkunft gefesselt. Bei der Diskussion der Multikulturalität haben wir gesehen, dass ein Zusammenkommen ganz verschiedener religiöser Überzeugungen und kultureller Lebensformen auf dem Boden eines freiheitlichen Verfassungsstaates gut möglich ist. Wir haben aber auch gesehen, dass diese Pluralität nur auf dem Boden eines solch freiheitlichen Verfassungsstaates möglich ist. In der interkulturellen Dimension geht es nun aber gerade um die Begegnung von Kulturen; um beim Beispiel zu bleiben: In der interkulturellen Dimension begegnen sich die Menschen so, dass in ihrer Begegnung die jeweiligen Kulturen gemeint sind. Es geht in dieser Begegnung nicht um religiöse Überzeugungen und kulturelle Lebensformen, sondern um die geschichtlich gestalteten Lebenswirklichkeiten der Menschheit. Eine solche Begegnung kann auf keinem Boden stattfinden, müsste der doch dies- oder jenseits aller Kulturalität und damit außerhalb aller menschlichen Lebenswirklichkeit liegen. Das weist erneut darauf hin, dass die Kulturen durch nichts getrennt sind. Und doch lösen sie sich nicht in einer gemeinsamen Identität auf. Sie sind alle wirklich, aber so, dass die Wirklichkeit in jeder einzelnen Kultur im Ganzen verwirklicht ist. Die Kulturen teilen sich die Wirklichkeit nicht untereinander auf, sondern die Wirklichkeit kommt in jeder einzelnen Kultur voll zur Entfaltung, wenn auch auf besondere Weise. Das heißt auch, dass in jeder Kultur alle anderen Kulturen auf diese Weise mit aufgenommen sind bzw. fortlaufend mit aufgenommen werden. Dies einzusehen und die Autonomie und die Verantwortlichkeit der Kulturen, die daraus folgen, aufzuzeigen, ist die Aufgabe interkultureller Philosophie. In diesem Sinne ist die Begegnung in der interkulturellen Dimension übrigens bislang einzig von Nishitani und Rombach beschrieben worden, sie ist aber bislang für keine einzelne philosophische Tradition prägend geworden. 31 Das zeigt, dass die interkulturelle Philosophie selbst interkulturell arbeitet. 31 Nishitani 1990. Vgl. auch Kap. 5.1. <?page no="49"?> Interkulturalität 49 Zusammenfassung Der Begriff der Interkulturalität rückt die Bedeutung des Zwischen in den Mittelpunkt. Im Zeitalter der Globalisierung, in dem Kulturen einander fortwährend begegnen, sind sie der Begegnung und dem Austausch mit anderen Kulturen in einer Weise verpflichtet, die sie in ihrem eigenen Sein betrifft. Die Kulturen können sich nicht abschotten, sondern müssen beständig auf die Entwicklungen in anderen Kulturen antworten. Dabei übernehmen sie diese Entwicklungen nicht einfach, sondern finden eigene Gestaltungen und Lebensformen, auf die ihrerseits die anderen Kulturen reagieren müssen. So findet fortwährender Austausch und Wandel statt; die Kulturen verdanken ihre Gestalt zunehmend der Begegnung mit anderen Kulturen, sie leben aus dem Zwischen. Dass die Kulturen überhaupt auf den »Stachel des Fremden«, 32 den die Entwicklungen anderer Kulturen darstellen, antworten können, liegt daran, dass sie selbst keine Entitäten, sondern - so könnte man zugespitzt sagen - kommunikative Prozesse darstellen. Kulturen sind das sich geschichtlich wandelnde Zusammenspiel aller möglichen Lebensbereiche (sozialer Ordnungen), in denen sich das Leben einer Gesellschaft abspielt. Auf interkultureller Ebene lernen die Kulturen sich selbst als geschichtlich gewordene und sich ändernde Gestalten dieses Zusammenspiels verstehen. Zugleich fließen alle möglichen Anregungen, Kritiken und Neuerungen, die sie von den anderen Kulturen erhalten, korrigierend in dieses Zusammenspiel ein, so dass die interkulturelle Begegnung heute zu einer der bestimmenden Antriebskräfte kulturellen Wandels geworden ist. Der Philosophie der Interkulturalität geht es primär darum, diesen Prozess aufzuhellen und zu befördern. Insofern in der Entwicklung der Kulturen immer auch die Entwicklung des Menschen und der Menschlichkeit auf dem Spiel steht, geht es der Philosophie der Interkulturalität an allererster Stelle um die Förderung der Menschlichkeit in jeder einzelnen Kultur. Sie ist deshalb wesentlich kritisch. 32 Vgl. das gleichnamige Buch von Waldenfels 1990. <?page no="50"?> 2 | Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie Die Philosophie ist durch die interkulturelle Situation, in der wir heute stehen, herausgefordert. Sie kann die Vielfalt der Stimmen, mit denen sich die verschiedenen Kulturen, Lebenswelten, Religions- und Sprachgemeinschaften überall auf der Welt zu Wort melden und eigene Einsichten, Überzeugungen und Werte, aber auch Erfahrungen, Sprachen und geschichtlich gewachsene »Weltansichten« (W. v. Humboldt) vertreten, nicht ignorieren, sondern muss irgendwie darauf antworten. Die Antworten der Philosophie auf die interkulturelle Herausforderung freilich fallen sehr unterschiedlich aus, was sich auch in der großen Vielfalt unterschiedlicher Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie widerspiegelt. Die Antworten fallen allerdings weniger deswegen unterschiedlich aus, weil sich die Philosophen so uneinig wären, als vielmehr deswegen, weil sie auf verschiedenen Ebenen auf die interkulturelle Situation reagieren. Die verschiedenen Ansätze und Methoden interkulturellen Philosophierens entsprechen deshalb unterschiedlichen Dimensionen interkultureller Begegnung. Sie alle haben in ihrer jeweiligen Dimension ihre Berechtigung, wie ich in diesem Kapitel zeigen möchte. Das bedeutet aber gerade nicht, dass sich die verschiedenen Ansätze und Methoden frei kombinieren ließen. 1 Sie sind im Gegenteil dimensional voneinander unterschieden und darum strikt zu trennen. Es wäre darum auch falsch, einfach vorauszusetzen, dass die verschiedenen Ansätze interkultureller Philosophie denselben Gegenstand lediglich unterschiedlich in den Blick nehmen. Je nach Dimension, in der angesetzt wird, stellen sich die Herausforderungen, die die interkulturelle Situation an die Philosophie stellt, ganz anders dar. Das liegt zum einen daran, dass dann die Philosophie selbst jeweils auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesprochen ist; so macht es beispielsweise einen Unterschied, ob auf dem Boden der Transzendentalphilosophie über Konstitutionsbedingungen gestritten oder aber der 1 Yousefi und Braun sprechen von der »kompositorischen Methode« interkultureller Philosophie; sie meinen, die verschiedenen Methoden interkultureller Philosophie müssten abhängig vom jeweils untersuchten »Forschungsfeld dieser Disziplin« zusammengefügt werden. Yousefi und Braun 2011, S. 37 ff. <?page no="51"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 51 transzendentalphilosophische Ansatz im Ganzen in Frage gestellt wird. Zum anderen erscheint die Vielfalt der kulturellen Stimmen in jeweils anderem Licht; z. B. bedeutet Verständigung auf personaler Ebene etwas ganz anderes als auf interkultureller Ebene - und das auch dann, wenn die Personen verschiedenen kulturellen Traditionen zugehören. Es muss im Folgenden also darum gehen, immer auch die jeweilige Dimension zu klären, in der sich die verschiedenen Ansätze bewegen. 2 Daraus ergibt sich auch ein kritischer Methodenbegriff: Wissenschaftliches Arbeiten muss sich methodisch ausweisen. Ebenso wichtig wie die Erkenntnis, die über eine Sache erlangt wird, ist es darum, den Weg zu dieser Erkenntnis zu reflektieren und auszuweisen. Als wissenschaftlich gesichert darf eine Erkenntnis nur gelten, wenn der Weg, der zu ihr führt - das ist die Methode -, für jedermann nachvollziehbar ist, wenn also grundsätzlich jeder auf dem gleichen Weg zur selben Erkenntnis gelangen kann. In diesem Sinne will ich versuchen, im Folgenden verschiedene Methoden interkultureller Philosophie vorzustellen. Nun ist mit dem Begriff der Methode allerdings gewöhnlich auch die Annahme verbunden, der zu erforschende Gegenstand bestehe unabhängig von der jeweiligen Forschungsmethode; abhängig von der Methode offenbare er zwar unterschiedliche Aspekte seiner selbst, aber in allen diesen Aspekten, so die Annahme, handele es sich doch immer um denselben Gegenstand. Dieser werde durch die methodisch gewonnenen Erkenntnisse nach und nach geklärt, er werde erklärt. Schon Dilthey hat dem Erklären freilich den Begriff des Verstehens zur Seite gestellt. 3 Verstanden wird eine Sache nicht dadurch, dass sie erklärt wird; vielmehr zielt das Verstehen auf die Bedeutung, die einer Sache zukommt, und das heißt, dass das Verstehen eine Sache in ihrem Sinnzusammenhang aufspüren muss. Das einfachste Beispiel dafür liefert uns das Verstehen von Sprache. Es reicht nicht aus, den Kasus und die Flexion eines Wortes erklärt zu bekommen, wir müssen die Bedeutung verstehen, und dazu benötigen wir eine Kenntnis davon, in welchem Zusammenhang das Wort gebraucht wird. Dieser Zusammenhang wiederum muss uns etwas sagen, andernfalls bleibt auch die Klärung des Zusammenhangs auf der Stufe des Erklärens stehen. Ob er uns etwas sagt, hängt nun aber davon ab, welches Vorverständnis wir mitbringen. Die Klärung des Zusammenhangs muss gleichsam auf fruchtbaren Boden fallen, etwa weil wir ähnliche Zusammenhänge aus der eigenen (Sprach-)Erfahrung kennen. Fehlt uns jegliches Vorverständnis, dann können wir auch die Sache, um die es geht, in diesem Fall also die Bedeutung 2 Ein ähnliches Anliegen verfolgt Stenger in seinem Diskussionsbericht über interkulturelles Denken, dem ich viele Anregungen verdanke. Vgl. Stenger 1996. 3 Vor Dilthey verwendet bereits Droysen den Begriff des Verstehens zur Kennzeichnung einer besonderen wissenschaftlichen Methode. <?page no="52"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 52 des Wortes, nicht verstehen. Gadamer spricht in diesem Sinne von der positiven Funktion des Vorurteils. 4 Verstehen, so könnte man sagen, ist so etwas wie die Korrektur und Erweiterung bestimmter Vorverständnisse; es klärt also mehr die eigenen Horizonte bzw. das eigene Denken, als dass es einen davon unabhängigen Gegenstand erklärt. Die »Sache«, um die es im Verstehen geht, ist denn auch nicht der vermeintliche ›Gegen-Stand‹, sondern letztlich die je eigene Lebenswirklichkeit des Verstehenden. Die Vorstellung eines einheitlichen Gegenstandes interkultureller Philosophie, der in verschiedenen und sich ergänzenden methodischen Zugängen erforscht wird, geht deshalb an der Sache vorbei. Hermeneutisch stellt sich die Sache, um die es der interkulturellen Philosophie geht, ganz anders dar als etwa der bloß vergleichenden Analyse. Tatsächlich liegt zwischen dem gewöhnlichen Methodenverständnis, das auf Erklären abzielt, und dem hermeneutischen Verstehen eine dimensionale Differenz. Es ist dies aber nicht die einzige dimensionale Differenz, die wir zwischen den verschiedenen Ansätzen interkultureller Philosophie finden können. Jenseits des hermeneutischen Verständnisses lässt sich, das sei hier nur angedeutet und wird im dritten Abschnitt dieses Kapitels ausgeführt, danach fragen, wie die Lebenswirklichkeiten anderer Kulturen und Lebenswelten für diese selber aussehen. Die Klärung dieser Frage ist weder Gegenstand des Erklärens noch Sache des Verstehens, sondern verlangt den Sprung zur Erfahrung. Erst die (Nach-)Erfahrung der Lebenswirklichkeit einer anderen Kultur erlaubt es, diese von sich selbst her zu beschreiben und nicht mehr das Vorverständnis aus der eigenen Lebenswirklichkeit an die andere Kultur heranzutragen. Die hier angestrebte Form der Erfahrung freilich versteht dann gar nicht mehr, sie schließt nicht mehr an die eigenen Erfahrungen und Horizonte an; schon gar nicht taugt sie zum Vergleich verschiedener kultureller Lebensformen miteinander. Dafür aber vermag sie der unhintergehbaren Wirklichkeit der verschiedenen Kulturen und Lebenswelten gewahr zu werden. 2 . 1 Einheitstheoretische Ansätze 2 . 1 . 1 Universalismus Die Antwort des Universalismus auf die Herausforderungen der interkulturellen Situation lautet, kurz gefasst, dass die verschiedenen Kulturen und Lebenswelten unterschiedliche Gestaltungen und Interpretationen einer gemeinsamen Natur bzw. eines gemeinsamen Prinzips darstellen. Als ein solches Prinzip 4 Vgl. Gadamer 1990, S. 281 ff. <?page no="53"?> Einheitstheoretische Ansätze 53 gilt die Vernunft, die allen Menschen gleichermaßen zukommt und darum grundsätzlich die Möglichkeit der Verständigung gewährleistet. In einem berühmt gewordenen Aufsatz hat Habermas von der »Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen« gesprochen. 5 Als ein anderes gemeinsames Prinzip wird häufig die Natur herangezogen. Der Rückzug auf die gemeinsame Natur tritt im Zusammenhang mit interkulturellen Fragestellungen zumeist in Form anthropologischer Konstanten auf. So führt beispielsweise Sukopp gegen die kontextualistische Form des Relativismus, für die Rorty steht, an, dass alle Menschen kulturübergreifend ein »Interesse an elementarer Bedürfnisbefriedigung« haben. Als Beispiele nennt er Hunger, Durst und Schmerz, Kleidung, Schlaf, Sex, Obdach und Schutz vor Gewalt. 6 Daneben verweist er auf die universale Gültigkeit der Naturgesetze und der Logik und auf einen »gemeinsamen Kern menschlicher Vernunft«. Auch Paul hebt neben anthropologischen Konstanten vor allem die Universalität der Logik hervor, durch die er grundsätzlich immer eine Verständigungsmöglichkeit gewährleistet sieht. 7 Logische Regeln und Gesetze wie etwa das Widerspruchsprinzip lassen sich zwar missachten, nicht aber aufheben. Sie bleiben auch dann in Geltung, wenn sie nicht befolgt werden. 8 Anthropologische Konstanten Ähnlich wie die bereits genannten Sukopp und Paul hebt auch Holenstein die Übereinstimmungen zwischen verschiedenen Kulturen hervor. Dabei bedient er sich häufig neuerer Erkenntnisse aus der Sprachwissenschaft. Trotz zahlreicher Unterschiede zwischen den natürlichen Sprachen, lassen sich doch zugrunde liegende Gesetzmäßigkeiten finden, die für alle Sprachen gelten. Holenstein nennt folgendes Beispiel: Wenn eine Sprache »einen Dual hat«, dann »auch einen Plural […], und wenn sie einen Plural hat, dann auch einen Singular«. 9 Nicht jede Sprache hat einen Dual, und demzufolge muss auch nicht jede Sprache einen Plural haben; hat sie aber einen Dual, dann immer auch einen Plural und einen Singular. Auch sonst sucht Holenstein nach Gesetzmäßigkeiten, um den universalen Charakter zahlreicher Bereiche von Kulturen zu demonstrieren. So vermutet er, dass bestimmte Gesten in verschiedenen Kulturen zwar unterschiedliche Bedeutungen besitzen können, dass die Bedeutungszu- 5 Habermas 1988. 6 Sukopp 2005, s. bes. S. 140 f. und S. 148. 7 Paul 2008, S. 29 ff. 8 Vgl. auch den Polylog-Band zu Universalismus aus dem Jahr 2008. 9 Holenstein 1985, S. 126 f. <?page no="54"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 54 ordnung aber einer Gesetzmäßigkeit folgt. Beispielsweise scheint die Ja- und Nein-Gestik grundsätzlich aus einander entgegengesetzten Bewegungsmustern zu bestehen: Wird für das Ja eine vertikale Bewegung verwendet, wie bei unserem Kopfnicken, dann für das Nein eine horizontale; im Bulgarischen ist die Verwendung umgekehrt, während im Griechischen eine Bewegung des Kopfes nach unten Bejahung und eine Bewegung des Kopfes nach oben Verneinung signalisiert. 10 Zudem verweist Holenstein auf die These Darwins, wonach die Verwendung der Kopfbewegung zumindest im Falle der Nein-Gestik auf das Abwenden des Säuglings von der Mutterbrust zurückzuführen ist. Das macht deutlich, dass auch Holenstein den universalen Charakter menschlichen Verhaltens dann für besonders gesichert erachtet, wenn sich ein Verhalten auf biologische Ursachen zurückführen lässt. So auch im Falle der Moral, für den sich Holenstein auf Meng Zi (Menzius, ca. 370 - 290 v. Chr.), einen Schüler von Konfuzius, beruft. Meng Zi hat angenommen, der Mensch sei natürlicher Weise moralisch veranlagt. 11 Freilich hat Meng Zi seine Ansicht nicht biologisch untermauert. Das aber wird von der evolutionären Anthropologie heute nachgeholt, besonders prominent etwa bei De Waal und Tomasello. 12 Eine Betonung anthropologischer Konstanten findet sich bei zahlreichen Autoren. Wiredu etwa spricht von der »biological foundation of universal norms«, also der biologischen Begründung von Normen. 13 Auch Mall stützt seine These von der »Überlappung der Kulturen« u. a. durch den Verweis auf anthropologische Gemeinsamkeiten und vergleicht die kulturellen Überlappungen mit der Genetik des Menschen. Auch auf genetischer Ebene finden wir erhebliche Variation zwischen den Menschen bei grundsätzlich sehr weitgehender Übereinstimmung. 14 Ein Universalismus, der sich mit Blick auf die interkulturelle Situation auf anthropologische Konstanten beruft, wirft nun allerdings mehr Fragen auf, als er beantwortet. Was ist durch den Verweis auf die biologische Ähnlichkeit der Menschen eigentlich gezeigt? Offenbar nur dies, dass die Menschen verschiedener Kulturen trotz manch kultureller Differenz biologisch vergleichbar sind. In Bezug auf anthropologische Konstanten macht denn auch die Feststellung Holensteins Sinn, dass einzelne Merkmale innerhalb einer Kultur zumeist mindestens ebenso stark variieren wie zwischen verschiedenen Kulturen. 15 Die 10 Ebd., S. 144 f. 11 Holenstein 2009, S. 62 ff. 12 De Waal 2016. 13 Wiredu 1996a, S. 34-41. 14 Mall 1995, S. 49 f. 15 Ebd. S. 149 ff. Vgl. auch Holenstein 1994. In diesem Aufsatz verweist Holenstein zur Stützung seiner These auf den Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould. <?page no="55"?> Einheitstheoretische Ansätze 55 interkulturelle Situation ist nun aber nicht dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen unterschiedlicher Kulturen verschiedene biologische Merkmale für sich reklamieren würden. Es gibt heute auch keine ernstzunehmende Theorie mehr, die das behauptete. Eine solche wäre rassistisch; und tatsächlich gab es vor allem im 19 . und der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts Rassentheorien, die versuchten, die Menschen nach biologischen Merkmalen in mehrere Untergruppen zu gliedern. Carl von Linné ( 1707 - 1778 ), der uns heute als Begründer der biologischen Systematik bekannt ist, unterteilte die Menschen in vier Gruppen, denen er neben den für sie spezifischen Hautfarben auch besondere Temperamente zuordnete. Eine ähnliche Einteilung findet sich auch bei Kant ( 1724 - 1804 ); bei ihm kommt außerdem die Zuschreibung unterschiedlichen Talents hinzu. 16 Die politischen Irrwege, die wenigstens zum Teil durch Rassentheorien begründet worden sind, sind hinlänglich bekannt. Sie reichen von der Rechtfertigung des Kolonialismus und der Sklaverei, über die Rassentrennung, wie sie etwa in den USA bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein üblich war, bis hin zu den nationalsozialistischen Vernichtungslagern. Die interkulturelle Situation ist nun aber gerade nicht durch vermeintliche Differenzen auf der biologischen Ebene gekennzeichnet. Solche Differenzen gibt es, sie bestehen aber, wie uns die Genetik lehrt, weniger zwischen verschiedenen Gruppen von Menschen als eher innerhalb einzelner Gruppen. Die interkulturelle Situation zielt dagegen auf kulturelle Differenzen, nicht auf biologische. In gewisser Weise ist die biologische Vergleichbarkeit der Menschen untereinander sogar eine Voraussetzung für die Feststellung kultureller Differenzen. Denn dass sich biologisch verschiedene Wesen möglicherweise auch auf der kulturellen Ebene unterscheiden, ist von vergleichsweise geringem Interesse. Viel spannender wäre es da schon, kulturelle Gemeinsamkeiten bei biologisch deutlich voneinander zu unterscheidenden Lebewesen zu finden (z. B. bei verschiedenen Spezies oder gar Gattungen). In diese Richtung gehen denn ja auch die artvergleichenden Forschungen in der Entwicklungspsychologie und der bereits erwähnten evolutionären Anthropologie. 17 Die interkulturelle Situation konfrontiert uns nun aber mit kulturellen Differenzen, und die lassen sich nicht über biologische Gemeinsamkeiten vermitteln. Um ein Beispiel zu nennen: Das Besondere des Menschen ist nicht, dass er isst, sondern wie er isst. Darin, dass sich die Nahrungsaufnahme beim Menschen vom Fressen über das Essen bis hin zum Speisen entwickelt hat, unterscheidet sich die Nahrungsaufnahme des Menschen von der anderer Tie- 16 »Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.« Kant 1972a, S. 316. 17 Vgl. etwa Tomasello 2014. <?page no="56"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 56 re. Die Überhöhung des Fressens zum Essen und Speisen ist ein kultureller Akt, und zwar ein besonders wichtiger in der menschlichen Entwicklung. Die Menschen feiern die Nahrungsaufnahme geradezu; darin deutet sich an, dass sie die für sie so lebenswichtige Nahrung immer auch als ein Geschenk erfahren, etwas, auf das sie angewiesen sind, das sie aber nicht ohne Unterstützung der Natur zur Verfügung hätten. Das Essen ist deshalb schon früh in der Menschheitsgeschichte mit religiösen Aspekten verknüpft worden. Hinzu kommt die soziale Funktion des Essens. Wir teilen das Essen - und damit unsere eigene Lebensgrundlage - mit anderen, darin liegt das tiefe Bekenntnis der Angewiesenheit aufeinander. Bis heute ist das gemeinsame Essen die vermutlich wichtigste soziale Institution in allen Kulturen. Fremde werden willkommen geheißen, indem sie zum Essen eingeladen werden. Usw. Die Kultur macht hier also den Unterschied zu anderen Tieren aus, nicht die Biologie. Aber nun ist auch Essen und Essen nicht dasselbe. Es kommt sehr darauf an, was gegessen wird; manche Nahrungsmittel gelten in einigen Kulturen als heilig, in anderen nicht. Das bekannteste Beispiel dafür ist die ›heilige Kuh‹ in Indien. Aber es gibt auch in anderen Kulturen zahlreiche Nahrungstabus. Manche davon sind religiös begründet, so etwa das Schweinefleischverbot im Judentum und Islam, andere nicht, wie etwa die Ächtung des Hundeverzehrs in Europa und den Vereinigten Staaten. In einigen kleineren Kulturen gibt es sogar Nahrungstabus für Pflanzen. So dürfen beispielsweise die erwachsenen männlichen Mitglieder des Stammes der Hua auf Papua-Neuguinea keine roten Gemüsearten und Früchte essen, weil diese mit der weiblichen Menstruation in Verbindung gebracht werden. 18 Weiterhin gibt es Vorschriften, wie und wo gegessen wird - auf dem Boden sitzend oder am Tisch (auf dem das Essen wie auf einem Opferaltar dargereicht wird), aus gemeinsamen Schalen und Töpfen oder von getrennten Tellern - und wie sich der Dank über die Mahlzeit ausdrückt. Christlich interpretiert haben wir beim Essen Teil am Leib Christi, wodurch uns immer wieder von neuem deutlich wird, dass wir Kinder Gottes sind. Das ist so nicht auf andere Religionen übertragbar. Es ist aber auch nicht einfach ein vernachlässigbares Detail, das hinter der allgemeinmenschlichen Gemeinsamkeit der kulturell überhöhten Nahrungsaufnahme zurücktritt. Vielmehr hängt an der jeweiligen kulturellen Bedeutung des Essens das gesamte Selbst- und Weltverständnis der Menschen. Die verschiedenen Esskulturen als bloße Marotten abzutun, hieße das Wesen des Menschen zu verkennen. Der Mensch ist wesenhaft frei in dem ganz grundlegenden Sinne, dass er sich seine eigenen biologischen Voraussetzungen immer erst noch kulturell aneignet, ihnen nicht einfach ausgeliefert ist, sondern sie auf eine neue 18 Meigs 1992, s. bes. S. 109 f. <?page no="57"?> Einheitstheoretische Ansätze 57 Stufe hin übersteigt. So hat der Mensch z. B. nicht einfach einen Körper, sondern muss ihn sich im Laufe seines Lebens aneignen, ihn zu seinem eigenen Körper machen. Dieser Aneignungsprozess ermöglicht es dem Menschen, dem Körper einen eigenen Sinn zu geben, etwa im Tanz, in dem vermutlich überhaupt erst so etwas wie eine Identität von Körper und Person erfahren wird. Der Mensch greift weit über sein biologisches Sein hinaus und verleiht diesem dadurch erst seinen Sinn. Ganz so, wie die kulturelle Welt des Menschen eine bedeutungsvolle ist, so eignet sich der Mensch auch sein biologisches Sein als ein sinnvolles an. Dabei erhebt sich nicht nur der menschliche Geist über die Natur, auch die Natur selbst wird durch den Menschen erhöht. Dann aber können kulturelle Entdeckungen nicht mehr durch anthropologische Konstanten relativiert werden. Ein Universalismus, der sich auf anthropologische Konstanten beruft, bewegt sich in einer Dimension, die den Menschen als biologisches Wesen begreift und gegebenenfalls durch geeignete biologische Merkmale von anderen Tieren abgrenzt. Er ist gegenüber jeder Form von Rassismus und anderer biologischer Ausgrenzung im Recht. Die Menschen bilden eine gemeinsame Spezies und sind so gesehen alle gleich. Auch gelten selbstverständlich die Naturgesetze überall. Allerdings verkennt diese Form des Universalismus das kulturelle Wesen des Menschen, das darin liegt, seiner eigenen Biologie nicht einfach ausgeliefert zu sein, sondern sich diese - ebenso wie die gesamte Natur - im Laufe des Lebens erst anzueignen und darin zu überformen. Die Einheit der Vernunft Philosophisch sehr viel interessanter ist ein Universalismus, der sich auf die Einheit der Vernunft beruft und den Menschen als vernünftiges Wesen begreift. Demnach ist der Mensch seinem Wesen nach durch Vernünftigkeit ausgezeichnet. Das grenzt ihn einerseits gegenüber anderen Tieren ab und benennt andererseits zugleich die wesentliche Gleichheit aller Menschen. Schon Platon ( 428 - 348 v. Chr.) versteht den Menschen als durch den vernünftigen Seelenteil (logistikón) ausgezeichnet, weil sich dieser auf die Ideen richten und sich ihrer erinnern kann (Anamnesis). Aristoteles ( 384 - 322 v. Chr.) spricht vom Menschen als einem zoon logon echon, lateinisch animal rationale. Trotz mancher Anfechtung bleibt der Gedanke der allgemeinen Vernünftigkeit des Menschen über alle Epochen hinweg zentraler Bestandteil des philosophischen Verständnisses vom Menschen. In der Neuzeit ist es vor allem Kant ( 1724 - 1804 ), der die Vernunftkonzeption zu einer Hochform bringt. Er spricht davon, dass der <?page no="58"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 58 Mensch ein »mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile)« sei, das »aus sich selbst ein vernünftiges Tier (animal rationale) machen kann«. 19 Das möchte ich kurz erläutern: Kant zeigt, dass die Erkenntnis, die wir von der empirischen Welt haben, grundsätzlich aus zwei ganz verschiedenen Komponenten zusammengesetzt ist. Da sind zum einen die Sinnesdaten, die von den Dingen ausgehen und auf unser Erkenntnisvermögen treffen; und da ist zweitens eben dieses Erkenntnisvermögen selbst, das mit den Sinnesdaten umgehen, sie ordnen und richtig aufeinander beziehen können muss, um in ihnen tatsächlich mehr als bloße Daten, nämlich konkrete Dinge erkennen zu können (schon Aristoteles verwendet den Begriff der Konkretion, um die aus Form und Material zusammengesetzte Einzelsubstanz zu bezeichnen 20 ). Man kann sich das an einem ganz einfachen Beispiel verdeutlichen: Nehmen wir an, wir blicken auf einen Tisch, dann erreichen uns zahlreiche Sinnesdaten, die, sobald sie auf das Erkenntnisvermögen treffen, nicht mehr räumlich voneinander unterschieden sind. Um in den Sinnesdaten einen Tisch erkennen zu können, müssen diese also zunächst räumlich getrennt und geordnet werden. Vom Raum selber aber gehen keinerlei Sinnesdaten aus, er ist für uns nicht unabhängig von der räumlichen Anordnung der Dinge erfahrbar. Kant schließt daraus, dass die räumliche Ordnung der Sinnesdaten eine Leistung des Erkenntnisvermögens ist. Der mögliche Einwand, die Sinnesdaten könnten indirekt etwas über ihre räumliche Anordnung verraten, beispielsweise durch die zeitliche Verzögerung ihres Auftreffens auf das Erkenntnisvermögen oder durch die Intensität ihres Signals, läuft ins Leere, weil die Interpretation solch versteckter Informationen eine Vorstellung von Raum schon voraussetzt. Raum und auf gleiche Weise auch Zeit sind Formen, Kant spricht von den Anschauungsformen, mit deren Hilfe das Erkenntnisvermögen die Flut von Sinnesdaten sortiert und ordnet. Aber auch auf einer höheren Verständnisebene ist das Erkenntnisvermögen gefordert. Die räumlich und zeitlich geordneten Sinnesdaten müssen zusammengefasst und aufeinander bezogen werden. Das Erkenntnisvermögen muss wissen, welche Daten zusammengehören, um Gegenstände erkennen zu können. Diese Synthesis leisten die Einbildungskraft und die Verstandesbegriffe, das sind die Kategorien. Zu ihnen gehören beispielsweise Begriffe der Quantität wie Einheit und Vielheit, aber auch Begriffe der Relation wie Substanz und Kausalität (außerdem Begriffe der Qualität und der Modalität). 21 Die Kategorien lassen sich ebenso wenig wie die Anschauungsformen in der Erfahrung finden, und doch sind sie genau wie jene in aller Erfahrung vorausgesetzt. Kant spricht mit Blick auf die Anschauungsformen 19 Kant 1917, S. 321. 20 Vgl. dazu die sehr schöne Darstellung von Held 2001, Kap. XI (s. bes. S. 160). 21 Vgl. die Tafel der Kategorien in Kant 1973b, B 106. <?page no="59"?> Einheitstheoretische Ansätze 59 und die Kategorien deshalb von den »Bedingungen der Möglichkeit« aller Erfahrung. Solche Bedingungen nennt er transzendental. Sie sind Vermögen a priori im Unterschied zu den Sinnesdaten, die der Erfahrung entstammen und von Kant darum als a posteriori bezeichnet werden. Die Erkenntnis, die wir von der empirischen Welt haben, ist also zusammengesetzt aus Sinnesdaten auf der einen und Leistungen des Erkenntnisvermögens (Anschauungsformen und Verstandsbegriffe/ Kategorien) auf der anderen Seite. Ohne die Leistungen des Erkenntnisvermögens und speziell des Verstandes blieben wir blind, wie Kant sagt. Wir erkennen deshalb niemals, wie die Dinge »an sich« sind, sondern immer nur, wie sie uns bzw. unserem Erkenntnisvermögen gegeben sind und wie sie aufgrund der Leistungen des Erkenntnisvermögens zur Erscheinung kommen: »Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht oder die Natur unseres Gemüths ursprünglich hineingelegt.« 22 Nun entspringen die Leistungen von Anschauung und Verstand wie gesagt gerade nicht der Erfahrung, vielmehr liegen sie dieser als ihre Bedingungen zugrunde. Das ist der für unser Anliegen, einen Universalismus der Vernunft zu rechtfertigen, entscheidende Punkt. Das Erkenntnisvermögen geht der Erfahrung voraus und ermöglicht sie, es kann also nicht selbst erfahren werden. Das bedeutet auch, dass das Erkenntnisvermögen nicht selbst wieder den Bedingungen aller Erfahrung und Erkenntnis unterliegt. Es ist ein unbedingtes Vermögen (im Unterschied etwa zum Vermögen, Auto zu fahren, das grundsätzlich auf Erfahrung angewiesen ist). Als unbedingtes Vermögen ist das Erkenntnisvermögen aber auch unabhängig von inter-individuellen Unterschieden, es ist ein universales Vermögen. Zwar gibt es zwischen einzelnen Menschen erhebliche Unterschiede in der Fähigkeit zu Erkenntnis, diese gehen aber nicht auf prinzipielle Unterschiede des Erkenntnisvermögens zurück (vielmehr ist das Erkenntnisvermögen in der Feststellung solcher Unterschiede ja selbst wiederum vorausgesetzt), sondern beruhen zum einen auf der unterschiedlich großen Neigung, das Erkenntnisvermögen einzusetzen, zum anderen auf der unterschiedlich großen Einsicht in die Struktur der Erkenntnis. Das ist der Grund dafür, dass Erziehung und Aufklärung möglich und nötig sind. Und noch ein zweiter Punkt ist wichtig, um die Einheit der Vernunft richtig zu verstehen: Die Synthesisleistungen des Verstandes werden ihrerseits zusammengefasst vom »Ich denke«, das »alle meine Vorstellungen begleiten können« muss. 23 Nur wenn die verschiedenen Erkenntnisse auf das »Ich denke« hin bezogen werden können, lassen sie sich als zusammengehörig erkennen. Dieser 22 Kant 1973a, A 125. 23 Kant 1973b, B 131. <?page no="60"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 60 Zusammengehörigkeit aller Erkenntnis auf der Seite des Subjekts entspricht auf der Seite der Erkenntnisobjekte die Zusammengehörigkeit alles Erkannten in der Welt. Die Welt freilich kann nicht selbst erkannt werden, aber sie ist eine Idee, die die Vernunft notwendigerweise haben muss, soll sinnvolle Erkenntnis überhaupt möglich sein. So wie die Vernunft auf Seite des Subjekts einheitlich ist, so richtet sie sich auf Seite des Objekts auf die Einheit der Welt. Darin erst ist sie eigentlich universal. Aufgrund ihrer Universalität verleihen die Leistungen des Erkenntnisvermögens der Erfahrung Objektivität. Darin besteht die Kantische »Revolution der Denkungsart«. 24 Zugleich steht das Erkenntnisvermögen für die prinzipielle Gleichheit der Menschen. Diese Gleichheit kann aber nur deswegen so bedeutsam sein, weil der Mensch seinem Wesen nach vernünftig ist. Das Wesen des Menschen erschöpft sich nun aber nicht in seiner Erkenntnisfähigkeit. Vielmehr ist der Mensch darum seinem Wesen nach vernünftig, weil er sich qua Vernunft über alle Bedingtheit der Erfahrungswelt, also auch über seine eigene Bedingtheit als in der Erfahrungswelt Lebender hinwegzusetzen vermag. Qua Vernunft unterliegt der Mensch keinen Bedingungen, sondern ist frei. Über alle Bedingtheit hinwegsetzen kann sich der Mensch nun aber nicht in der Erkenntnis (wegen deren Zusammengesetztheit); die Unbedingtheit äußert sich darum vornehmlich im freien Willen. Der freie Wille wiederum zeigt sich dann, wenn sich der Mensch in dem, was er tut, nicht durch Neigungen und Wünsche, sondern allein von der Vernunft leiten lässt. Das Handlungsgesetz der »reinen praktischen« Vernunft bestimmt Kant bekanntlich im kategorischen Imperativ: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« 25 Die Universalität der Vernunft wird gerade an der Pflicht, die Kant im kategorischen Imperativ formuliert, deutlich: Unbedingt und frei ist der menschliche Wille nur dann, wenn seine Maxime zur allgemeinen Gesetzgebung taugt. Wenn wir einmal beiseite lassen, dass Kant die Ausbildung der Vernunftfähigkeit zur tatsächlichen Vernünftigkeit abhängig von geographischen und klimatischen Bedingungen v. a. bei den Europäern realisiert sah (s. Anm. 16 ), dann vermag die Vernunftkonzeption Kants in der Tat einen Universalismus zu begründen. Aufgrund ihrer Teilhabe an der einen universalen Vernunft sind die Menschen ihrem Wesen nach alle gleich, sie unterliegen denselben Pflichten und haben dieselben Rechte, nämlich niemals instrumentalisiert, sondern immer als Zweck an sich behandelt zu werden. Auf dieser Grundlage entwirft Kant denn auch das Ideal des »Weltbürgertums«, dessen Ausbildung zum 24 Ebd., B XIII . 25 Kant 1974, S. 30. <?page no="61"?> Einheitstheoretische Ansätze 61 »ewigen Frieden« zwischen den Völkern führen würde. 26 Gemessen an der Einheit der »reinen praktischen« Vernunft sind kulturelle Differenzen zwischen den Völkern zweitrangig. Kulturelle Differenzen sind geographisch, klimatisch und historisch bedingt. Sie können der Ausbildung der tatsächlichen Vernünftigkeit des Menschen, dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« wie Kant sagt, 27 mehr oder weniger förderlich, ja sogar hinderlich sein, an der Einheit der Vernunft und der prinzipiellen Vernunftfähigkeit des Menschen ändern sie nichts. Die kantische Begründung der Vernunft ist bis heute extrem wirkmächtig geblieben. Das Denken Kants steht auch heute noch bei vielen Vertretern universalistischer Ansätze im Hintergrund. Tatsächlich ist durch Kants Kritik der Vernunft, die eine Trennung von auf Erkenntnis gerichtetem Verstand und reiner theoretischer ebenso wie praktischer Vernunft vornimmt, viel gewonnen. Vor allem die Einsicht in die Freiheit des Menschen, die sich gerade darin verwirklicht, dass er sich unter das sittliche Gesetz stellt. Freiheit und Verantwortung des Menschen gehören unmittelbar zusammen. Dennoch ist die kantische Position heute allenfalls noch in angepasster Form haltbar. Das liegt zum einen an der historischen Erfahrung des Schreckens, wie wir sie im Zweiten Weltkrieg gemacht haben. Diese Erfahrung hat zu grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber der Annahme einer grundsätzlich sittlich orientierten Vernünftigkeit des Menschen geführt. Zum anderen aber ist Kant schon von seinen Zeitgenossen dafür kritisiert worden, die Vernunft des Menschen gleichsam von der Welt entkoppelt zu haben. Die Universalität der Vernunft ist weltlos und folglich auch a-historisch, und sie verkennt die Notwendigkeit einer sprachlichen Vermittlung. Ich werde darauf in Kapitel 3 näher eingehen; im Folgenden stelle ich kurz einen Ansatz vor, der versucht, die Einheit der Vernunft zu retten und doch zugleich die genannte Kritik aufzunehmen. Habermas’ Diskurstheorie Ganz in diesem Sinne spricht Habermas in dem bereits erwähnten gleichnamigen Aufsatz von der »Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen«. Die Vernunft, das haben schon Herder ( 1744 - 1803 ) und Wilhelm von Humboldt ( 1767 - 1835 ), beide Zeitgenossen Kants, gezeigt, findet in der Sprache ihren Ausdruck. Sie ist sozusagen nicht frei zugänglich, sondern sprachlich vermittelt. Umgekehrt bedeutet das, dass die Sprache das Denken beeinflusst, eine 26 Kant 1969a. 27 Kant 1969b, S. 35 (A 481). <?page no="62"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 62 Einsicht, die im 20 . Jahrhundert zum so genannten »linguistic turn« und zur Sprachkritik geführt hat. Habermas schließt an diese Einsicht an, hält zugleich aber an der Einheit der Vernunft fest: »Denn Konzepte wie Wahrheit, Rationalität oder Rechtfertigung spielen in jeder Sprachgemeinschaft, auch wenn sie verschieden interpretiert und nach verschiedenen Kriterien angewendet werden, dieselbe grammatische Rolle.« 28 Die Vernunft drückt sich in den verschiedenen Sprachen durchaus verschieden aus; auch fehlt der eine verbindliche Maßstab, nach dem zu entscheiden wäre, welchem Ausdruck die Menschen folgen sollten. Vielmehr muss um die Vernunft gerungen werden. Das immerhin bleibt möglich, schließlich sind die verschiedenen Sprachen allesamt Ausdrucksweisen der Vernunft. Habermas verortet die Vernunft freilich anders als Kant nicht mehr im einzelnen Subjekt (die Vorstellung von der Vernunft des Einzelnen ist durch die Erfahrungen der Nazi-Herrschaft nachhaltig erschüttert), sondern im Diskurs. Vernunft realisiert sich intersubjektiv. Die Begründung diskursiver Vernunft ist (im Anschluss an den Begründer der Diskurstheorie Karl-Otto Apel) letztlich eine pragmatische: Die Möglichkeit rationalen Argumentierens muss nämlich immer schon unterstellt werden, sonst würde es gar keinen Sinn machen, irgendwelche Geltungsansprüche zu erheben. Wenn wir etwas als wahr behaupten, dann erheben wir damit einen Geltungsanspruch, nämlich konkret den Anspruch, dass es sich so verhält, wie wir sagen. 29 Habermas zufolge muss sich dieser Geltungsanspruch im Diskurs nun argumentativ bewähren. Er schlägt darum ein Konsensmodell der Wahrheit vor. Nur wenn prinzipiell alle, die am Diskurs teilnehmen könnten, diesem Geltungsanspruch auch zustimmen würden, ist die Behauptung tatsächlich wahr. Die Wahrheit von Aussagen - und damit sozusagen die Universalisierbarkeit eines vernünftigen Ausdrucks - hängen am Konsens aller. Habermas spricht deshalb von der »kommunikativen Vernunft«. 30 Der Diskurs unterliegt dabei einigen Bedingungen. Zum einen ist vorausgesetzt, dass die Diskursteilnehmer mit dem, was sie sagen, bestimmte Geltungsansprüche verbinden, das sind zum einen die Verständlichkeit des Gesagten und zum anderen, abhängig davon, ob sich der Diskurs auf die objektive, die soziale oder die subjektive Realität bezieht, der Anspruch auf objektive Wahrheit bzw. normative Richtigkeit und subjektive Wahrhaftigkeit. Zudem setzt Habermas eine »ideale Sprechsituation« voraus, die durch gleiche Chancen zur Beteiligung am Diskurs, die Möglichkeit, alle Geltungsansprüche gleichermaßen kritisch zu prüfen, Herrschaftsfreiheit und Aufrichtigkeit der Sprecher ge- 28 Habermas 1988, S. 11 f. 29 »Welches Sprachsystem wir auch immer wählen, stets gehen wir intuitiv von der Voraussetzung aus, daß Wahrheit ein universaler Geltungsanspruch ist.« Habermas 1987, S. 92 f. 30 Für eine ganz andere Lesart kommunikativer Vernunft s. Weidtmann 2010. <?page no="63"?> Einheitstheoretische Ansätze 63 kennzeichnet ist. Unter diesen Bedingungen ermöglicht der Diskurs Verständigung und Einigung unter dem »eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes«. 31 Tatsächlich wird es eine solch ideale Sprechsituation in der Realität nicht geben, das behauptet auch Habermas nicht, aber der Diskurs muss sich doch wenigstens an ihr orientieren. Das habermas’sche Diskursmodell demokratisiert gleichsam den Gebrauch der Vernunft. Jeder Geltungsanspruch muss rational begründet werden und kann nur dann als eingelöst gelten, wenn alle ihm zustimmen. Das bedeutet keinesfalls, dass Habermas Geltungsansprüche für verhandelbar hält und der Etablierung von Mehrheitsmeinungen das Wort redet. Im Gegenteil, ein Geltungsanspruch ist so lange nicht universalisierbar, so lange er nicht von allen rational nachvollzogen werden kann. Habermas spricht Mehrheiten in einer Gesellschaft explizit das Recht ab, ihre eigene kulturelle Lebensform zur Leitkultur zu erheben. 32 Die Forderung, alle gleichberechtigt in den Diskurs mit einzubeziehen, weitet er mit der Zeit über die eigene Sprachgemeinschaft hinaus auf grundsätzlich alle Menschen aus. Die Rationalitätsstandards des Diskurses sind nicht an die jeweilige Sprache und Kultur gebunden. Gmainer-Pranzl hat deutlich gemacht, dass Habermas damit einen wesentlichen Beitrag zur Problemstellung interkultureller Philosophie zu leisten vermag. 33 Allerdings droht die Voraussetzung allgemeiner Rationalitätsstandards des Diskurses, so Gmainer- Pranzl, das für interkulturelle Fragestellungen so wichtige Phänomen des Fremden zu verkennen. Fremd ist etwas nicht deswegen, weil es vorläufig unbekannt und unverstanden bleibt, sondern weil es sich grundsätzlich dem verstehenden Zugriff entzieht und gerade als derart entzogen erfahren wird. 34 Gmainer-Pranzl sieht nun in Habermas Beschäftigung mit der Religion eine Möglichkeit, auch das Phänomen des Fremden in der Diskurstheorie unterzubringen. Säkulare Rationalität und Religion anerkennen sich wechselseitig, jedenfalls solange wie die säkulare Rationalität keine befriedigenden Antworten auf die entscheidenden religiösen Fragen zu geben vermag. Solche Anerkennung geschieht aus Einsicht in die Berechtigung der religiösen Fragestellungen bei gleichzeitiger Erkenntnis der eigenen Unfähigkeit, befriedigende Antworten zu geben. Sie zielt also gerade nicht darauf ab, die Differenz zwischen säkularer Rationalität und Religion aufzulösen. 31 Habermas 1995, S. 144. 32 Habermas 2001, S. 13. 33 Gmainer-Pranzl 2016. 34 In diesem Sinne spricht Waldenfels vom Paradox der Fremderfahrung. Vgl. dazu in diesem Kapitel Punkt 2.2.4. <?page no="64"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 64 Die habermas’sche Diskurstheorie scheint überall dort im Recht zu sein, wo tatsächlich allgemeine Rationalitätsstandards des Diskurses vorausgesetzt werden können. Selbst dann, wenn der eigene epistemische Status der Religion anerkannt wird, muss dies aus rationaler Einsicht geschehen. Damit hängt die Diskurstheorie wie Kants Philosophie auch an der Voraussetzung der Einheit der Vernunft. Die aber muss sich dann auch konkret feststellen lassen, sie muss sich gleichsam empirisch bewahrheiten. Habermas geht genau in diese Richtung, indem er Vernunft intersubjektiv begründet. Freilich stellt sich dann nicht nur die Frage, weshalb sich die Menschen de facto so schlecht über Geltungsansprüche verständigen können, sondern auch das ganz grundsätzliche Problem, wie man jemandem begegnen soll, der entweder die Rationalitätsstandards des Diskurses nicht anerkennt oder aber gleich ganz verweigert, überhaupt am Diskurs teilzunehmen. Diskurstheoretisch lässt sich mit solchen Personen nichts anfangen, sie stellen sich gleichsam selbst ins Abseits. Das aber bedeutet nichts anderes, als dass der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« seine Zwanglosigkeit einbüßt. Wer sich nicht auf vernünftige Weise am Diskurs beteiligt, der scheidet als gleichberechtigter Gesprächspartner aus. Das gilt auch für die Religionen. Den Religionen kann nur dann ein eigener epistemischer Status zuerkannt werden, wenn sie ihrerseits die Berechtigung eines säkularen Rationalismus aus rationalen Gründen anerkennen. Die Religionen müssen also selbst vernünftig sein, und das im Sinne des diskurstheoretischen Vernunftbegriffs. Damit verkennt die Diskurstheorie aber die interkulturelle Situation, in der das gewachsene Vernunftdenken der europäisch-westlichen Tradition ja gerade herausgefordert wird. Natürlich wird keiner einzelnen Kultur Vernunft abgesprochen, das Spannende an der interkulturellen Situation aber ist gerade, dass die Vernunft nicht in ihrer kulturübergreifenden Einheit vorausgesetzt wird, sondern umgekehrt die verschiedenen Vernunfttraditionen angesichts der interkulturellen Situation auf ihre jeweilige Geschichtlichkeit aufmerksam werden. Ob es so etwas wie eine Einheit der Vernunft überhaupt gibt oder je geben kann, das steht in der interkulturellen Situation in Frage und darf nicht schon vorausgesetzt werden. Wir werden weiter unten sehen (vg. Kap. 2 . 2 und 2 . 3 ), dass die Einheit der Vernunft im 20 . Jahrhundert schon in der europäischen Tradition in Frage gestellt wird. Vernunft kann nie einfach vorausgesetzt werden, sondern steht selber in jedem Moment mit auf dem Spiel. Der Universalismus bleibt in bestimmten Dimensionen im Recht. So etwa, wie oben bereits angemerkt, wenn wir den Menschen als biologisches Wesen betrachten. Auch ist es unstrittig, dass logische Gesetze ihre Gültigkeit nicht dadurch verlieren, dass sie in kulturellen Kontexten ausgesprochen und ange- <?page no="65"?> Einheitstheoretische Ansätze 65 wandt werden, denen sie möglicherweise nicht selbst entstammen. Der Geltungsbereich von Logik ist so wenig wie der der Naturgesetze lokal oder historisch begrenzt; er ist aber wie die Naturgesetze auch auf eine bestimmte Dimension begrenzt. Die Naturgesetzte gelten in der natürlichen Dimension (für kulturelle Phänomene gelten sie immer nur insoweit, wie diese Phänomene ihrerseits auf die natürliche Dimension reduziert werden - so kann z. B. das kulturelle Phänomen des Essens und Speisens selbstverständlich auch in der natürlichen Dimension betrachtet werden), die logischen Gesetze in einer Dimension logischen Argumentierens und Handelns (die meisten Phänomene lassen sich unter logischen Gesichtspunkten betrachten, das bedeutet aber nicht, dass sie dadurch im Ganzen erfasst wären - so z. B. die Religionen). Was universalistische Ansätze zumeist verkennen, ist freilich ihre eigene Herkunft. Gmainer-Pranzl etwa schreibt, »Universalität stell[e] den entscheidenden Anspruch und zugleich die permanente Krise interkultureller Philosophie dar«. 35 Das stimmt, aber es stimmt nur in einer ausgezeichneten Dimension, nämlich für das europäische Vernunft- und Philosophieverständnis, das sich durch die interkulturelle Situation herausgefordert sieht. Aus der Sicht anderer Traditionen stellen sich die Herausforderungen der interkulturellen Situation ganz anders dar. Das heißt nicht, dass an die Stelle des Universalitätsstrebens in anderen Traditionen die Befürwortung eines Relativismus tritt. Relativismus setzt Universalität immer schon voraus und erscheint deshalb nur vor dem Hintergrund universalistischen Denkens als eine (freilich abzulehnende) Alternative. Das universalistische Denken aber steht für die ursprünglich griechische Entdeckung der Vernunft (Logos) »als die Form, in der der Geist dem individuellen Menschen einwohnt«. 36 Während der Geist als Einheit stiftendes Prinzip Jaspers zufolge um die Achsenzeit ( 800 - 200 v. Chr.) an verschiedenen Orten weitgehend unabhängig voneinander entdeckt worden ist, zeichnet sich die griechische Entdeckung durch die Teilhabe des Einzelnen an dieser Einheit aus (»die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen«, s. o.). Held hat beschrieben, wie sich auf der Grundlage der Entdeckung dieses Zusammenspiels von Einheit und Vielheit bei den Griechen die wesentlichen Grundpfeiler der europäischen Kultur ausgebildet haben, nämlich zum einen die Wissenschaft und zum anderen die Demokratie. 37 Beide sind, das gehört zu dieser Entdeckung und zum europäisch-westlichen Denken dazu, nicht auf Europa beschränkt geblieben. Nun ist ein ähnlicher Gedanke beispielsweise in der ostasiatischen Tradition zwar keinesfalls unmöglich oder auch nur unge- 35 Gmainer-Pranzl 2016. 36 Rombach 1987, S. 20. 37 Held 2013c. <?page no="66"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 66 dacht, wohl aber nicht von derselben entscheidenden Wichtigkeit. Im ostasiatischen Denken kann die individuelle Teilhabe an der Einheit schon deswegen keine bestimmende Rolle spielen, weil das Individuum auf die Ebene des Selbst und noch weiter auf die Ebene des selbstlosen Selbst rückbezogen wird, von der aus gesehen die Unterscheidung bzw. das Zusammenspiel von Einheit und Vielheit als abgeleitete und nachrangige Feststellungen erscheinen. Universalität ist nur in europäischer Perspektive das Grundproblem interkultureller Philosophie. Abgrenzung vom Relativismus Der entscheidende Gegner eines jeden universalistischen Ansatzes ist das Gespenst des Relativismus. Relativistische Positionen bergen immer die Gefahr, im wahrsten Sinne des Wortes haltlos zu werden, weil sie keinerlei verbindliche Vorgaben, Normen oder auch nur Verständigungsmöglichkeiten mehr akzeptieren. Dadurch aber droht alles beliebig und interkulturelle Verständigung schlicht unmöglich zu werden. Habermas wendet sich an verschiedenen Stellen gegen Rorty, dem er trotz einer gewissen Nähe zu seinem eigenen Modell der kommunikativen Vernunft einen letztlich unhaltbaren Relativismus vorwirft. Rorty unterstellt vernünftiger Argumentation anders als Habermas keinen universalen Geltungsanspruch, sondern schränkt diesen auf spezifische (kulturelle) Kontexte ein. Innerhalb gegebener Kontexte geht auch Rorty von der Ausbildung eines Konsens aus; die Möglichkeit einer Ausweitung dieses Konsens auf andere Kontexte und die damit verbundene mögliche kulturübergreifende Geltung aber bestreitet Rorty. Vor allem für die universalistische Argumentation, die sich auf anthropologische Konstanten beruft, ist es typisch, dass sie sich mit dem Verweis auf die Notwendigkeit, die universale Geltung der Menschenrechte zu akzeptieren, gegen einen strikten Kulturrelativismus verwahrt. Würden die Weltansichten und das Handeln der Menschen in der Welt ihren Sinn tatsächlich ausschließlich relativ zu den einzelnen Kulturen gewinnen, dann wäre keine Verständigung über die Menschenrechte möglich. Was in der einen Kultur gilt, müsste in der anderen keinesfalls ebenso gelten. Die Verbindlichkeit eines vernünftigen Menschenrechtsdiskurses würde einer Form von Beliebigkeit weichen, was mit Blick auf die Menschenrechte einer contradictio in adjecto, einem Selbstwiderspruch, gleichkäme - so die Argumentation. 38 Natürlich erheben die Menschenrechte zu Recht einen universalen Geltungsanspruch. Auch hier aber 38 Vgl. dazu Kap. 4.7. <?page no="67"?> Einheitstheoretische Ansätze 67 muss man sehr genau die Dimensionen unterscheiden. Auf einer Ebene, auf der der Mensch als biologische Spezies betrachtet wird und damit alle kulturellen Differenzen von selbst entfallen, lassen sich eben auch nur bestimmte Rechte einfordern. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung etwa oder das Recht auf Eigentum gehören eher nicht dazu. In der Gewährleistung dieser Rechte aber liegt ein großer kultureller Gewinn. Ich werde darauf in Kapitel 4 etwas ausführlicher eingehen. Tatsächlich ist der Kulturrelativismus nur eine Kehrseite universalistischer Ansätze. Der Relativismus heißt so, weil er all das, was im Universalismus als allen Menschen gemein angenommen wird, in eine Relation zu den einzelnen Kulturen setzt. Das führt dazu, dass die Universalien in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich aufgenommen und interpretiert werden. Die oben genannten anthropologischen Konstanten ebenso wie der gemeinsame Kern menschlicher Vernunft bedeuten dem Kulturrelativismus zufolge in den unterschiedlichen Kulturen verschiedenes. Aus den verschiedenen Bedeutungen der Universalien folgt, dass die Werte und Überzeugungen der Kulturen ebenso nur relativ zur jeweiligen Kultur gelten. Um seine relativistischen Annahmen zu rechtfertigen, muss dieser Ansatz freilich die Universalien immer schon voraussetzen. Gäbe es keine Universalien, dann könnten sie auch nicht kulturell unterschiedliche Bedeutungen annehmen. Umgekehrt setzt auch der Universalismus streng genommen relativistische Annahmen immer schon voraus. Gäbe es keine kulturell unterschiedenen Weltansichten, Werte, Überzeugungen und Vernunftgestalten, dann könnte der Universalismus auch nicht die universelle Geltung von Universalien begründen. Ohne Differenzen keine Universalien, ohne Universalien keine Differenzen. 2 . 1 . 2 Komparative Philosophie Die komparative oder vergleichende Philosophie teilt wesentliche philosophische Voraussetzungen mit dem Universalismus, verfolgt aber ein ganz anderes Ziel. Sie ist weniger an der Offenlegung gemeinsamer Grundlagen, als vielmehr zunächst an der Herausarbeitung der Differenzen zwischen verschiedenen philosophischen Traditionen interessiert, um erst in einem zweiten Schritt darauf zu reflektieren, was ihnen gemein ist. Wohlfart beruft sich bei der Festlegung dieser Priorität auf Kant, der mit Blick auf die Gewinnung von Begriffen gesagt hat, man müsse (in dieser Reihenfolge) »komparieren, reflektieren und abstrahieren« können. 39 Komparative Philosophie versucht also in erster Linie ein- 39 Kant 1972b, § 6, S. 94. Vgl. Wohlfart 1998, S. 16. <?page no="68"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 68 mal die Differenzen deutlich zu machen, die sich zwischen einzelnen Ansätzen und Denkern verschiedener Traditionen auffinden lassen. Das ist freilich keinesfalls der Überzeugung geschuldet, die philosophischen Traditionen teilten keine Gemeinsamkeiten. Eine solche Überzeugung würde die Vergleichbarkeit von Traditionen grundsätzlich in Frage stellen, würde man doch sprichwörtlich ›Äpfel mit Birnen‹ vergleichen. Der Erkenntnisgewinn wäre gleich null, würde der Vergleich doch nichts beitragen können zu einem besseren Verständnis der einzelnen miteinander verglichenen Denkansätze. Umgekehrt gilt aber eben auch, dass die Konzentration auf Gemeinsamkeiten nur dann von Interesse ist, wenn dem zuvor die Differenzen offen liegen. Ohne ein gutes Verständnis der Differenzen würde die Aufdeckung von Gemeinsamkeiten zu einer Selbstverständlichkeit verkommen. Die Konzentration auf Unterschiede dient also dem Erkenntnisgewinn. Das Stichwort Erkenntnisgewinn weist auf die besondere Stellung der komparativen Philosophie im Kanon der verschiedenen Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie hin. Der komparativen Philosophie geht es anders als etwa dem dialogischen Ansatz nicht primär um Verständigung, anders als dem Polylog nicht darum, Stimmen anderer Kulturen zu Wort kommen zu lassen, und anders als den universalistischen Ansätzen nicht um die Verteidigung einer einheitlichen Grundlage aller Kulturen. Es geht ihr schlicht um die Vergrößerung unseres Wissens sowohl von der eigenen wie von anderen philosophischen Traditionen. Und das nicht zu dem Zweck, den eigenen, zu einem guten Teil durch die eigene kulturelle Tradition geprägten Horizont zu erweitern und so die eigene »Weltansicht« (W. v. Humboldt) zu verändern, sondern aus wissenschaftlichem Interesse. Die komparative Philosophie wirft deshalb einen möglichst objektiven Blick sowohl auf die fremde als auch auf die eigene Philosophie, die mit der fremden verglichen wird. Die verschiedenen Philosophien werden überhaupt erst dadurch vergleichbar, dass sie objektiv in den Blick genommen werden, ist das Forschersubjekt doch notwendiger Weise sehr viel tiefer in die eigene Tradition verstrickt als in die fremde. Der objektive Blick setzt den Rahmen, innerhalb dessen die miteinander zu vergleichenden Philosophien neutral untersucht werden können. Der vergleichende Ansatz eröffnet damit auch die Möglichkeit zur Kritik. Zunächst die Kritik an einem allzu selbstgefälligen Eurozentrismus, der, wie Elberfeld eindrucksvoll beschreibt, dazu geführt hat, die philosophischen Traditionen anderer Kulturen lange Zeit - und häufig bis in die Gegenwart hinein - kaum wahrzunehmen. 40 Komparative Philosophie macht dagegen überdeutlich, dass es in anderen Traditionen zahlreiche Denker und Denkansätze 40 Elberfeld 2002b. <?page no="69"?> Einheitstheoretische Ansätze 69 gibt, die den europäisch-westlichen mindestens adäquat sind. Philosophie kann aus diesem Grund heute nicht mehr auf vergleichende Ansätze verzichten. Es ist von hier aus gesehen völlig unverständlich, wie es sein kann, dass nichtwestliche Traditionen in den Curricula der Philosophiestudiengänge immer noch so gut wie nicht vorkommen. Connolly führt das darauf zurück, dass die Denker aus anderen kulturellen Traditionen nicht als Philosophen und ihre Ansätze nicht als Philosophien akzeptiert werden. 41 Komparative Philosophie steht, um vergleichen zu können, in der Not, ein klar definiertes Verständnis von Philosophie zugrunde legen zu müssen. Dieses Philosophieverständnis wird von Kritikern dann oft als zu breit kritisiert; ihrem eigenen engeren Philosophieverständnis zufolge aber können die anderen Traditionen nicht als Philosophien gelten. Das hat in der Vergangenheit oft dazu geführt, dass an die Stelle einer ernsthaften Auseinandersetzung mit anderen Traditionen der Streit darüber getreten ist, ob diese Traditionen zu Recht als Philosophie bezeichnet werden können oder nicht. Bekannt sind die bis heute anhaltenden Diskussionen um den Status ostasiatischer Traditionen: Handelt es sich dabei eher um philosophische oder doch um religiöse Traditionen? Noch vehementer wurde der Streit in Bezug auf Schwarzafrika geführt. 42 Schon wegen der fehlenden schriftlichen Überlieferung und der damit verbundenen Schwierigkeit, die Autorschaft überlieferten Denkens eindeutig zu bestimmen, ist den schwarzafrikanischen Traditionen lange Zeit ein eigenes philosophisches Denken abgesprochen worden. Stellvertretend sei Hochkeppel zitiert: »Afrikanisches Philosophieren? Nimmt man die immer weitere Kreise schlagenden Diskussionen darüber schon für die Sache selbst, dann gibt es afrikanisches Philosophieren. Inhaltlich aber, substantiell, ist so etwas wie afrikanische Philosophie nicht in Sicht, nicht einmal, wenn man den ohnehin nachgiebigen Philosophiebegriff ins Beliebige ausdehnte.« 43 Um dem Dilemma, entweder einen zu weiten oder aber einen zu engen Philosophiebegriff zugrunde zu legen, zu entgehen, entlehnt Connolly Wittgensteins Begriff der »Familienähnlichkeit«. Demnach sind die verschiedenen philosophischen Traditionen nicht einfach verschiedene Formen der einen (europäisch-westlichen) Philosophie, sondern unterschiedliche denkerische Traditionen, die sich allesamt so ähnlich sind, dass sie vergleichbar werden und aufgrund dieser Vergleichbarkeit der Einfachheit halber alle als Philosophien bezeichnet werden. Connolly zufolge lassen sich die verschiedenen Traditionen also nicht vergleichen, weil sie alle einer zuvor festgelegten Definition von 41 Connolly 2015, S. 12-22. 42 Vgl. dazu auch Kap. 5.3. 43 Hochkeppel 1994, S. 343. <?page no="70"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 70 Philosophie entsprechen, sondern umgekehrt lassen sie sich als Philosophien bezeichnen, weil sie vergleichbar sind. Das klingt vernünftig, wird dadurch doch vermieden, die verschiedenen Traditionen alle an ein und demselben Philosophiebegriff zu messen, der notgedrungen der eigenen Tradition entstammen muss. Connolly plädiert also auch hier ganz im Sinne der komparativen Philosophie für eine Objektivierung. An die Stelle des aus einer einzelnen Tradition entlehnten Maßstabs (in Gestalt eines vorgegebenen Philosophiebegriffs) treten objektive Vergleichskriterien. So wird auch die eigene, zumeist europäisch-westliche Philosophie, zu einer Stimme, die Einsichten ausdrückt, die in anderen Traditionen auf vergleichbare, aber eben doch unterschiedene Weise ausgedrückt werden. Freilich stellt sich sogleich die Frage nach den besonderen Vorentscheidungen, die mit dem Schritt zur Objektivierung in jedem Vergleich immer schon getroffen sind. Was ist durch den objektiven Blick immer schon vorausgesetzt? Zunächst einmal ganz offensichtlich eben dies, dass das Subjekt außen vor bleibt; was freilich nichts anderes heißt, als dass uns als Subjekte die zu vergleichenden Philosophien nicht unmittelbar betreffen, sie uns nicht wirklich etwas angehen. Nun könnte man widersprechen und sagen, dass wir etwa in den Naturwissenschaften und der medizinischen Forschung doch ganz selbstverständlich mit einem möglichst objektiven Blick arbeiten und uns die Forschungsergebnisse, etwa ein bestimmter Krankheitserreger oder das Mittel gegen ihn, sehr wohl dennoch etwas angehen. In der Philosophie geht es aber um anderes. Wenn ich mich beispielsweise mit einem bestimmten ostasiatischen Denken beschäftige, das versucht, das Ich im Selbst und dieses wiederum im selbstlosen Selbst zu gründen, dann nehme ich diesen Ansatz von Beginn an nicht wirklich ernst, wenn ich glaube, meine eigene Subjektivität aus dieser Beschäftigung heraushalten zu können. Über die Gründung des Ich im Selbst lässt sich nicht objektiv (im Sinne einer Ausklammerung des Subjekts) forschen. Tatsächlich sind Ich und Selbst auch nicht vergleichbar, jedenfalls dann nicht, wenn man die Gründung des Ich im Selbst mitmacht. Etwas allgemeiner ließe sich sagen, dass komparative Philosophie grundsätzlich einen gemeinsamen Boden voraussetzen muss, auf dem stehend verschiedene Philosophien verglichen werden. Dieser gemeinsame Boden ist das wissenschaftlich objektive Interesse, das die zu vergleichenden Philosophien auf methodisch definierte Weise in den Blick nimmt. Die Methode besteht dabei anders als bei empirischen Wissenschaften nicht darin, alle außer einer oder einigen wenigen Variablen konstant zu halten, sondern vor allem in der Voraussetzung, die verschiedenen Philosophien mit den gleichen epistemischen Mitteln untersuchen zu können. Kantisch gesprochen bleiben die Bedingungen <?page no="71"?> Einheitstheoretische Ansätze 71 der Möglichkeit von Erkenntnis von den zu vergleichenden Philosophien unberührt. Sie werden vorausgesetzt. Damit aber ist eben nicht nur vorausgesetzt, dass sich verschiedene Philosophien grundsätzlich vernünftig erschließen lassen müssen, sondern darüber hinaus angenommen, dass die vernünftigen Mittel, die zur Erschließung der verschiedenen Philosophien gebraucht werden, dieselben sind. Die Vernunft selbst steht in der komparativen Philosophie also gar nicht in Frage. Nun ist Philosophie aber von alters her immer auch Vernunftforschung oder, richtiger, Selbsterforschung der Vernunft. Wie aber soll sich die Selbsterforschung der Vernunft sinnvoll untersuchen lassen, wenn immer schon ein bestimmtes Vernunftverständnis vorausgesetzt ist? Hier kommt quasi durch die Hintertür ein universalistischer Ansatz ins Spiel, der freilich nicht offensiv vertreten, sondern im Namen der Wissenschaftlichkeit stillschweigend vorausgesetzt wird (es ist nicht verwunderlich, dass es dementsprechend auch Ansätze komparativer Philosophie gibt, die dem Relativismus das Wort reden). Das ist in einer bestimmten Dimension völlig richtig, auch die komparative Philosophie bleibt deshalb auf ihre Weise im Recht. In dieser Dimension geht es um die Sammlung von Kenntnissen und das Erklären von Unterschieden, es geht in ihr dagegen nicht um Verstehen, Dialog oder Erfahrung. Es handelt sich folglich um eine sachliche Dimension. Die Sachen, um die es in dieser Dimension geht, sind die verschiedenen Philosophien. Komparative Philosophie interessiert sich dafür, die Philosophien anderer Traditionen kennen zu lernen, sie reflektiert aber in den seltensten Fällen auf die Begegnung von Kulturen selbst, die ja eine Vorbedingung für die Wahrnehmung der anderen Philosophien ist. Die Philosophie weitet ihr Arbeitsfeld in der komparativen Philosophie auf andere Kulturen aus; sie wird darin aber nicht selber interkulturell. Elberfeld macht am Beispiel der komparativen Ethik allerdings darauf aufmerksam, dass die komparative Philosophie nicht notwendiger Weise auf der rein sachlichen Ebene stehen bleiben muss. So verweist er auf das von Halbfass vorgeschlagene »dialogische Vergleichen«, das versucht, unterschiedliche Ethiken in ein Gespräch miteinander zu bringen. 44 Connolly unterscheidet zudem vier große Richtungen komparativer Philosophie: Universalismus, Pluralismus (gemeint ist Relativismus), Konsenstheorie und globale Philosophie. 45 Die letztgenannte globale Philosophie geht über das Vergleichen hinaus darin, dass sie eine Interaktion der verschiedenen Philosophien und die gemeinsame Herausbildung einer globalen Philosophie propagiert. Das klingt gut, zumal damit erstmals ein Hinweis auf die Dynamik und Wandelbarkeit von Philosophien gegeben wird. Philosophien sind ja keine statischen Denkraster, sondern entwickeln sich - auch im Austausch mit anderen Philosophien - beständig weiter 44 Halbfass 1996, S. 31 (zitiert nach Elberfeld 2002b). 45 Connolly 2015, S. 149-207. <?page no="72"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 72 (wobei Weiterentwicklung nicht Fortschritt bedeuten muss). Freilich verbleibt eine solche Interaktion in der Perspektive komparativer Philosophie trotz allem in einer sachlichen Dimension. Die Interaktion wird nämlich so verstanden, dass die verschiedenen Philosophien mit Blick auf ein spezifisches Sachproblem unterschiedliche Lösungen oder Verständnisse bereitstellen, aus denen in komparativer Einstellung die beste gewählt werden kann. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass nicht nur die Antworten, die verschiedene Philosophien auf ein Sachproblem geben, verschieden ausfallen können, sondern dem zuvor schon das Sachproblem selbst möglicherweise ganz unterschiedlich aufgefasst wird. Der komparative Ansatz bleibt auf diesem Auge eigentümlich blind. Er verkennt die geschichtlichen Dimensionen, die in jeder Philosophie mitschwingen und die es schwierig machen, einzelne Einsichten ohne weiteres auf andere Traditionen zu übertragen. Der universalistische Tenor komparativer Philosophie kann deshalb trotz anders lautender Absicht dazu führen, die Philosophien anderer Traditionen an europäisch-westlichen Rationalitätsstandards zu messen. So spricht beispielsweise Wiredu von einer »cross-cultural evaluation« 46 des Denkens auf der Grundlage universaler Rationalitätsstandards. Er sieht in der rationalen Prüfung von Einsichten anderer philosophischer Traditionen eine entscheidende Aufgabe komparativer Philosophie. Solche Prüfung ermöglicht es, Wiredu zufolge, die vermeintlich philosophischen Errungenschaften der verschiedenen Traditionen in zwei Gruppen zu unterteilen: Die eine Gruppe kann universale Gültigkeit beanspruchen; die andere kann das nicht und vermag deshalb auch nicht, Eingang in die Gestaltung einer transkulturellen Welt zu finden. 2 . 1 . 3 Polylog Den Begriff des Polylog hat Wimmer in die interkulturelle Philosophie eingebracht. 47 Polylog bedeutet im Griechischen Vielstimmigkeit, womit freilich das wirre Durcheinander des bloßen Geredes gemeint ist. Dagegen setzten die Griechen die Einheit des Logos (der Vernunft), der die verschiedenen Stimmen auf ihre gemeinsame Grundlage verpflichtet. Wimmer hat den Begriff des Polylog aufgegriffen und auf die interkulturelle Situation bezogen. Er will die interkulturelle Vielstimmigkeit nun aber gerade nicht auf eine ihr zugrunde liegende Einheit reduzieren, sondern versteht den Polylog als einen offenen Austausch, in dem um den gemeinsamen Logos erst gerungen werden muss. 46 Wiredu 1996a, S. 32. Vgl. dazu Weidtmann 1998c. 47 Wimmer 2004, s. bes. S. 66-73. Vgl. zudem Gmainer-Pranzl und Graneß 2012. <?page no="73"?> Einheitstheoretische Ansätze 73 So versteht er seinen polylogischen Ansatz denn als einen Schritt über bloß komparative Philosophie und die Aufklärung »mit dem Mittel einer voraussetzungslosen Wissenschaft« hinaus. 48 Wenn er in seiner »Minimalregel« fordert, »keine philosophische These für gut begründet [zu halten], an deren Zustandekommen nur Menschen einer einzigen kulturellen Tradition beteiligt waren«, 49 dann deshalb, weil er die Pluralität der Logoi ernst nimmt. Ein gemeinsamer Logos ist in erster Linie das Ergebnis des Austausches und erschöpft sich nicht darin, Voraussetzung für die Teilnahme am Polylog zu sein. Und doch gilt, dass sich am Polylog sinnvollerweise nur derjenige beteiligen kann, der zum gemeinsamen Logos auch etwas beizutragen hat. Der Polylog, so wie Wimmer ihn versteht, setzt deshalb neben der Pluralität der Logoi deren Fähigkeit voraus, zu einem gemeinsamen Logos beizutragen. Damit rückt er in deutliche Nähe zu Habermas’ Diskurstheorie. Der Polylog lässt sich geradezu als eine Anwendung der Diskurstheorie auf die interkulturelle Situation verstehen. Schon Habermas beschränkt den Diskurs nicht auf die europäisch-westliche Gesellschaft, sondern bindet grundsätzlich alle Menschen ein. Wimmer formuliert mit dem Polylog nun gleichsam den besonderen Fall eines interkulturellen Diskurses und fordert, jeden Geltungsanspruch kulturübergreifend zur Prüfung zu stellen. Es geht ihm nicht nur darum, grundsätzlich alle Menschen in den Diskurs einzubinden, sondern er betont die Notwendigkeit, endlich auch die Stimmen jener Völker zu hören, die in Zeiten von Kolonialismus und Eurozentrismus lange unterdrückt waren. Damit rückt das Ideal der Herrschaftsfreiheit der Sprechsituation in den Mittelpunkt. Wimmer spricht ausdrücklich von einem »gewaltfreien, entkolonialisierten Diskurs«. 50 Auch legt er entscheidenden Wert darauf, nicht allein den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« (s. o.) gelten zu lassen, sondern tatsächlich verschiedene Traditionen zu Wort kommen zu lassen. In einem späteren Text stellt Wimmer der negativen Formulierung der Minimalregel deshalb eine positive zur Seite: »Suche wo immer möglich nach transkulturellen Überlappungen von philosophischen Begriffen, da es wahrscheinlich ist, dass gut begründete Thesen in mehr als nur einer kulturellen Tradition entwickelt worden sind.« 51 Darin spricht sich die Motivation, ehemals kolonialisierte und marginalisierte Völker und deren Traditionen als gleichberechtigte Gesprächspartner anzuerkennen, deutlich aus. Ebenso wie Habermas das für die Diskurstheorie tut, setzt freilich auch Wimmer voraus, dass der Polylog von allen Beteiligten vernünftig geführt wird. Dabei 48 Wimmer 1996, S. 41. Vgl. auch Wimmer 2009. 49 Wimmer 1996, S. 50. 50 Wimmer 1993, S. 256. 51 Wimmer 2004, S. 67. <?page no="74"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 74 wäre doch die Vernünftigkeit des Polylog - und nicht nur die Vernünftigkeit der Thesen - im Polylog selbst erst zu finden, ja möglicherweise gar zu erstellen. Es scheint mir diesbezüglich entlarvend zu sein, wenn Wimmer schreibt, dass »Schulbildungen und -auseinandersetzungen aus der […] Geschichte der europäischen Philosophie […] interkulturellen Dialogen analog sind«. 52 Wimmer versteht Polyloge als Auseinandersetzungen, die innerhalb eines Rahmens stattfinden, der alle am Polylog Beteiligten umfasst. Wer aus dem Rahmen fällt, sprich wer sich der dem Polylog eigenen Vernünftigkeit verweigert, der kann auch nicht verlangen, Gehör zu finden. Und tatsächlich: Polyloge machen nur unter der Voraussetzung eines solchen Rahmens Sinn. Schließlich werden Polyloge von Subjekten geführt, nicht von Kulturen, darauf weist Wimmer ausdrücklich hin. 53 Subjekte aber begegnen sich immer in irgendwelchen Situationen; die jeweilige Situation stellt dann den gemeinsamen Rahmen dar, innerhalb dessen ein Polylog sinnvoll stattfinden kann. Konkret: Wimmer nennt das von Herra stammende Beispiel eines guatemaltekischen Indio, der einen Zauberer umbringt, weil dieser versucht, ihn und seine Kinder durch Verwünschungen zu töten. 54 Er wird von der »europäisierten Justiz« zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, obwohl es sich den Regeln seiner indigenen Gemeinschaft nach um Notwehr gehandelt hat. Wimmer sagt nun nicht, der Mann hätte nicht verurteilt werden dürfen; vielmehr legt er nahe, die verschiedenen Positionen und in diesem Fall eben auch die verschiedenen Rechtssysteme anzuhören. Weder kann im heutigen Guatemala ohne weiteres indigenes Recht angewandt werden noch sollte die moderne Rechtssprechung das indigene Recht einfach ignorieren. Wie aber dann entscheiden? Am ehesten so, dass dem spezifisch indigenen Kontext so weit Rechnung getragen wird, wie es die moderne Gesellschaft und ihr Rechtswesen verkraften. Das bedeutet nichts anderes, als dass die gesellschaftliche Situation, in der sich Guatemala heute befindet, entscheidend beeinflusst, wie die verschiedenen Positionen gegeneinander abzuwägen sind. Die verschiedenen Rechtspositionen fließen in die gemeinsame Situation mit ein und müssen dort verhandelt werden. Ähnlich läuft der Polylog ab: Die am Polylog beteiligten Subjekte bringen die aus ihren jeweiligen kulturellen Traditionen stammenden Einsichten ein und beurteilen sie dann wechselseitig in dem von der gemeinsamen Situation vorgegebenen Rahmen. Damit ist auch klar, in welcher Dimension ein Polylog gelingen kann: Dort, wo Menschen verschiedener kultureller Traditionen aufeinander treffen und sich über ihr Zusammenleben verständigen müssen. Entscheidend ist, dass da- 52 Wimmer 1996, S. 45. 53 Wimmer 2004, S. 73. Für eine ganz andere, sozusagen für unterschiedliche Dimensionen sensible Interpretation vgl. Weidtmann 2010. 54 Wimmer 1996, S. 47. <?page no="75"?> Einheitstheoretische Ansätze 75 bei nicht die kulturellen Traditionen selber auf dem Spiel stehen bzw. einander begegnen. Die kulturellen Traditionen tauchen lediglich in Gestalt einzelner Überzeugungen, Einsichten und Gewohnheiten auf, die von den am Polylog beteiligten Subjekten in die gemeinsame Situation eingebracht werden. Tragend ist letztlich die gemeinsame Situation. Die aber steht im Polylog nicht zur Diskussion. Auch die interkulturelle Situation nicht. Letztlich arbeitet der polylogische Ansatz deshalb wie alle anderen einheitstheoretischen Ansätze auch mit jenem verdinglichenden Kulturverständnis, das wir schon bei der Diskussion der Multi- und der Transkulturalität in Kapitel 1 kennen gelernt haben. Kultur ist demnach etwas, das Menschen prägt und das sie in ihre jeweilige Lebenssituation mit einbringen, das aber auf dem Boden der Vernunft grundsätzlich austausch- und verhandelbar bleibt. Der vernünftige Mensch kann sich - jedenfalls prinzipiell - frei zu seiner Kultur verhalten; er ist, um es zugespitzt zu sagen, wesenhaft ein vernünftiges und nur historisch bedingt ein kulturelles Lebewesen. Folglich ist auch die Vernunft grundsätzlich unabhängig von historischen und kulturellen Besonderheiten; sie ist universal. Darin kommt das Primat der Einheit stiftenden Vernunft deutlich zum Ausdruck. Zum Schluss sei noch eine ganz anders gelagerte Kritik am Polylog angedeutet. Man könnte nämlich versuchen, statt der Minimalregel eine Maximalregel vorzuschlagen. Diese lautet nun nicht, in den Polylog immer alle Kulturen einzubinden; darin läge keine grundsätzliche Korrektur, sondern nur eine graduelle Erweiterung. Vielmehr müsste eine solche Maximalregel die verschiedenen Logoi, die in den Polylog einfließen, ernster nehmen. 55 Solange man sich auf einer bloß formalen Ebene bewegt oder Logos gar auf Logik reduziert, lässt sich die Pluralität der Logoi nicht losgelöst von der Annahme eines einzigen Logos denken. Versteht man Logos nun aber als die spezifische Ordnung einer kulturellen Lebenswelt, sozusagen als die Vernunft, die sich im jeweiligen Selbstverständnis der Menschen und ihrem Umgang mit der Welt ausdrückt, verbietet es sich eigentlich, den einzelnen Logos als bloßen Teil eines zugrunde liegenden oder auch erst zu gewinnenden universalen Logos zu fassen. Im jeweiligen Logos einer Kultur drückt sich die gelebte Vernünftigkeit sowohl der einzelnen Personen als auch der von ihnen geteilten Lebenswelt aus. In ihm drückt sich aus, was Mensch und Welt in einer Kultur sind. Das Menschsein und die Welt können aber nicht unvollständig sein - und das heißt eben auch, sie können in einer kulturellen Lebenswelt nicht lediglich ›auf eine bestimmte Weise‹ verwirklicht sein. Die Menschen einer Kultur sind nicht nur 55 In diese Richtung gehen auch Stengers Überlegungen zu einer Überschreitung des Polylog hin zu den »Polylogoi«. Stenger 2012. <?page no="76"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 76 auf eine bestimmte Weise Mensch; ihre Welt ist nicht nur auf eine bestimmte Weise Welt. Sie brauchen den Austausch mit anderen Kulturen nicht, um ganz Mensch und ganz Welt zu werden. Sie brauchen den Austausch mit anderen Kulturen aber sehr wohl dafür, um auf diese ihre eigene Unbedingtheit aufmerksam zu werden und zu erkennen, dass in jeder einzelnen Kultur das Menschsein und die Welt im Ganzen und die Vielzahl der Logoi im Gesamt auf dem Spiel stehen. 2 . 2 Differenztheoretische Ansätze Die folgenden Ansätze, die ich hier unter dem Titel der Differenz zusammenfasse, reden allesamt nicht dem Relativismus das Wort. Der Relativismus ist das Schreckgespenst des Universalismus. Tatsächlich, so haben wir oben gesehen, bedingen sich Universalismus und Relativismus wechselseitig. Den im Folgenden vorgestellten Ansätzen ist nicht das Pochen auf absolute Differenz (die überhaupt nur angesichts eines universalistischen Prinzips denkbar ist) gemein, sondern das Gespür dafür, dass trotz Austausch, Dialog, Verständigung und Annerkennung zwischen den verschiedenen kulturellen Wirklichkeiten wesentliche Differenzen bestehen bleiben. In universalistischer Perspektive sieht das wie ein Relativismus aus. Tatsächlich aber greift diese Dichotomie gar nicht, jedenfalls dann nicht, wenn man die geschichtliche Wirklichkeit des Menschen ernst nimmt und sich nicht auf den Standpunkt einer a-historischen Vernunft zurückzieht. Und eben darin liegt die Gemeinsamkeit der differenztheoretischen Ansätze: Sie teilen die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Vernunft. Das bedeutet, dass Verständigung und Austausch zwischen den Kulturen eben nicht zur Aufdeckung des einen universalen Vernunftprinzips führen, das in den verschiedenen kulturellen Traditionen lediglich verschieden zum Ausdruck kommt. Vielmehr kommen die verschiedenen kulturellen Wirklichkeiten im Prozess der Verständigung und des Austausches untereinander zu partieller Überlappung, ohne deshalb aber ihre Verschiedenheit zu verlieren. Das ist nicht weniger, sondern mehr. Ja, es ist die Bedingung dafür, dass sich die verschiedenen Kulturen etwas zu sagen haben, dass sie voneinander lernen, sich wechselseitig respektieren und anerkennen können. 2 . 2 . 1 Heimwelt und Fremdwelt Das Phänomen des Anderen als eines Menschen, der sich nicht nur in seiner empirischen Erscheinung, sondern wesentlich vom Ich unterscheidet, ist eine <?page no="77"?> Differenztheoretische Ansätze 77 Entdeckung des 20 . Jahrhunderts. Die Angewiesenheit des Einzelnen auf andere Menschen ist spätestens bei Aristoteles gesehen und in seiner politischen Philosophie ausgearbeitet. In der Neuzeit sind es Fichte ( 1762 - 1814 ) und dann Hegel ( 1770 - 1831 ), die zeigen, dass sich das Ich nur in der Selbstsetzung, das heißt auf dem Umweg über den Anderen und die Welt gewinnen kann. Nicht umsonst spielt der Begriff der Anerkennung bei Hegel eine maßgebliche Rolle. Je größer freilich die Entfremdung und Veräußerung des Ich im Prozess der Selbstsetzung ist, desto höher und intensiver ist auch die Einheit, als welche sich das Ich darin wieder findet. Auch die Vielzahl der Iche ist nur eine Stufe auf dem Weg zum »absoluten Ich«, das sich als das Ich aller Iche erfasst. Erst bei Husserl ( 1859 - 1938 ) wird der Andere in seiner grundsätzlichen Entzogenheit erfahren, Husserl spricht vom Anderen als dem »original Unzugänglichen«. 56 Das Ich ist für Husserl nicht mehr die verborgene Einheit der vielfältigen Phänomene in der Welt, sondern nur noch deren Zentrum oder, wie Husserl sagt, deren »Ichpol«. Der Andere kommt zwar ebenso in dieser auf das Ich hin zentrierten Welt vor, insofern er aber nicht als bloßer Körper unter Körpern, sondern als anderer Mensch wahrgenommen wird, begegnet er als ein eigener Ichpol, von dem aus zwar dieselbe Welt erfahren wird (sonst käme der andere Mensch nicht in der vom Ich erfahrenen Welt vor), diese selbe Welt aber anders erfahren wird. Schon oberflächlich gesehen, unterscheidet sich die Erfahrung des Anderen grundsätzlich von der des Ich dadurch, dass sie von einer anderen Stelle im Raum (und gegebenenfalls auch zu anderer Zeit) erfolgt. Der Andere erscheint im Modus »Dort« im Unterschied zum »Hier« der eigenen Erfahrung. Zwar kann ich mich zum anderen hinbewegen und dessen Stellung im Raum einnehmen; dann gewinne ich die gleiche räumliche Erfahrung, wie sie der Andere zuvor hatte. Ich kann die Erfahrung des Anderen also nachvollziehen, sie wird aber nie deckungsgleich mit der Erfahrung des Anderen sein, weil der Andere, während ich seine eben gemachte Erfahrung nachvollziehe, seinerseits bereits neue Erfahrungen macht. Als originale Erfahrung bleibt die Erfahrung des Anderen unzugänglich. Es ist zudem leicht einzusehen, dass sich mit Blick auf den Nachvollzug der Erfahrungen des Anderen erhebliche Schwierigkeiten ergeben, sobald man die bloß oberflächliche Betrachtung vertieft. Die Erfahrungen, die der Andere von der Welt macht, sind nicht allein durch seine Stellung im Raum bestimmt; sie sind darüber hinaus durch sein Interesse, seine Aufmerksamkeit und seine Absichten geleitet. Auch werden sie durch emotionale Zustände, durch Kenntnisse über die Welt und durch frühere Erfahrungen beeinflusst. Der mit eigener Wettkampferfahrung groß gewordene Zuschauer sieht im American Football ein 56 Husserl 1963, S. 144. <?page no="78"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 78 völlig anderes Spiel als der unerfahrene europäische Gast, der vielleicht ein ›normales‹ Fußballspiel erwartet hatte. Ja, sehr wahrscheinlich sieht nur der Erfahrene überhaupt ein Spiel. In diesem Fall würde der Nachvollzug der Erfahrung des Anderen nicht nur erfordern, seine aktuelle Erfahrung nachzuvollziehen, indem ich mich an seine Stelle begebe; dem zuvor muss die Erfahrung, die der Andere mit American Football hat, nachgeholt werden. Ich muss eigene Erfahrungen mit dem Spiel haben, um nachzuvollziehen zu können, was der Andere beim Zuschauen tatsächlich erfährt. Aber selbst dann teile ich nicht seine spezifischen Erinnerungen an einzelne Spiele, seine Bewunderung für einen ganz besonderen Spielertypus oder seine Vorliebe für eine bestimmte Mannschaft. Letztlich könnte ich die Erfahrung des Anderen nur dann vollständig nachvollziehen, wenn ich seine komplette Lebenserfahrung teilte, was freilich nichts anderes bedeutete, als dass ich identisch mit ihm wäre. Die Erfahrungen des Anderen, so Husserls Schlussfolgerung, lassen sich nie vollständig zu den eigenen machen. Das heißt nun aber gerade nicht, dass der Andere ›ganz anders‹ ist und sich mir völlig entzieht. Der Andere wird umgekehrt gerade darin als mir gleich erfahren, dass er selbst auch eigene Erfahrungen macht; Husserl spricht gar vom »Alter Ego«. Aber gerade weil er als mir ähnlich erfahren wird, bleibt der Andere entzogen. Hier deutet sich ein völlig anderer Denktypus gegenüber der Schwarz-Weißmalerei von Universalismus versus Relativismus an. Dieser andere Denktypus hängt damit zusammen, dass Husserl nicht mehr danach fragt, wer oder was der Andere ist, sondern danach, wie er erfahren wird. 57 Die Wer/ Was-Frage führt zu klaren Unterscheidungen: Dieser oder Jener, dies oder das, Ich oder ein Anderer. Dazwischen gibt es nichts. Wenn der Andere ein bisschen Dieser und ein bisschen Jener ist, dann ist er eben weder Dieser noch Jener, sondern ein Dritter. Husserl fragt nun aber ganz anders, er fragt danach, wie der Andere erfahren wird. Darin liegt, dass der Andere erfahren wird, und zwar als anderer Mensch, er mir also grundsätzlich ähnlich ist; zugleich aber wird er als Anderer erfahren, d. h. er ist nicht identisch mit mir. Ich stehe mit dem Anderen über die Erfahrung in Beziehung; zugleich trennt uns diese Erfahrung, würde ich eine mögliche Identität des Anderen mit mir selbst doch nicht erfahren können. Die Erfahrung liegt zwischen mir und dem Anderen, zwischen Identität und Differenz. Erfahrung beinhaltet immer beide Momente, Identität und Differenz: Sie ist meine Erfahrung von etwas (anderem). In der Erfahrung sind Ich und Anderer ineinander verschränkt. Husserls entscheidendes Verdienst ist es nun, gezeigt zu haben, 57 Vgl. dazu Waldenfels 1993, hier S. 57. <?page no="79"?> Differenztheoretische Ansätze 79 dass sowohl Ich als auch der Andere überhaupt nur in solch verschränkter Erfahrung Ich und Anderer sind. Der Andere kann Anderer nur in Analogie zum Ich sein. Sonst ist er entweder selber Ich oder er ist etwas anderes, nicht aber ein Anderer. Allein in Bezug auf das Ich ist der Andere ein anderes Ich, ein Alter Ego. Für das Ich stellt sich die Situation ganz ähnlich dar, allerdings erfordert die Erläuterung dieser Situation einen Zwischenschritt. Das Ich kann sich nämlich wenigstens auf den ersten Blick auch in Relation zu anderen Dingen als Ich konstituieren und bedarf dazu nicht notwendiger Weise des anderen Menschen. Tatsächlich ließe sich die Grundeinsicht der Phänomenologie, deren Begründer Husserl ist, als die Verweltlichung des Subjekts beschreiben (vgl. dazu Kapitel 3 . 3 ). Das Subjekt hat sein Wesen nicht in einer weltlosen Vernunft, die sich auf eine vernunftlose Welt richtet, wie sich etwas zugespitzt die descartes’sche Vorstellung zusammenfassen lässt, die für die modernen (Natur-)Wissenschaften wegweisend geworden ist. Es gewinnt sich aber auch nicht als das verborgene Einheitsprinzip der Welt, was, wie bei Hegel, notwendiger Weise zur Annahme eines einzigen Weltsubjekts führen muss, das seinerseits natürlich nicht mehr weltlicher Natur sein kann. Das Subjekt der Phänomenologen dagegen ist durch und durch weltlich. Das Ich gibt es nicht abstrakt, sondern nur konkret, als fühlendes, denkendes, wünschendes, wahrnehmendes, liebendes und leidendes Ich. Es ist nichts jenseits dessen, dass es fühlt, denkt, wünscht, wahrnimmt, liebt und leidet. Das ist, grob gesprochen, mit der intentionalen Struktur des Bewusstseins als »Bewusstsein von etwas« gemeint. Das Ich ist der Knotenpunkt, in dem die verschiedenen Erfahrungen zusammengehören; es ist nichts anderes als eben die Erfahrung der Zusammengehörigkeit einer Vielzahl unterschiedlicher Erfahrungen. Husserl spricht vom »Ichpol«. Nur durch Erfahrung gewinnt das Ich »bleibende Überzeugungen« und »als polares Ich (in dem besonderen Sinne des bloßen Ichpols) spezifisch ichliche Bestimmungen«. 58 Will sagen, das Ich wird spezifisches Ich durch die Erfahrungen, die es macht. Es erwirbt sich eine Biografie, ja es ist diese seine Biografie. Soweit, so auf den ersten Blick gut. Auf den zweiten Blick aber stellt Husserl fest, dass das sich in der Auseinandersetzung mit der Welt konstituierende Ich nur dann ein weltliches Ich sein kann, wenn diese Welt die Erfahrung des Ich übersteigt. Das Ich kann nur dann in der Welt vorkommen, wenn diese Welt keine solipsistische, sondern eine intersubjektiv geteilte Erfahrungswelt ist. Das ist der Punkt, an dem Husserl die Frage nach dem Anderen stellt. Die Analyse der Erfahrung des Alter Ego endet mit der Feststellung, dass »der fremde Mensch konstitutiv der an sich erste Mensch ist«. 59 58 Husserl 1963, S. 134. 59 Ebd., S. 153. <?page no="80"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 80 Ich und Anderer sind solche also nur durch die Erfahrung, in der sie aufeinander bezogen sind. Die Erfahrung ist konstitutiv sowohl für das Ich wie für den Anderen. Dieses Primat der Erfahrung bringt Husserl schon in der V. Cartesianischen Meditation dazu, mehrere Kulturwelten zu unterscheiden, eine Unterscheidung, die er in den 1930 er Jahren in der Konzeption von Heim- und Fremdwelt ausarbeitet. 60 Das Ich konstituiert sich als spezifisches, durch seine eigene Biografie geprägtes Ich in der Welt dadurch, dass es andere Menschen ebenso wie die Dinge in der Welt auf seine Weise (also als mit sich in Beziehung stehend) erfährt. Das Ich wird Ich, indem es Erfahrungen sammelt und so eine eigene Beziehung zur Welt ausbildet. Um dem Solipsismus zu entgehen, muss es erfahren, dass die Welt von Anderen geteilt und, wenn auch jeweils etwas anders, erfahren wird. Die Welt, in der wir leben, ist also von Beginn an eine intersubjektiv geteilte Welt. Weil das so ist, wir also grundsätzlich unterstellen, dass die Anderen dieselbe Welt ein bisschen anders erfahren und deswegen möglicherweise etwas an der Welt erfahren, das uns selbst verborgen bleibt, sind wir bestrebt, uns fortwährend untereinander auszutauschen. Die Welt wird also nicht erst durch die Kommunikation zur intersubjektiv geteilten, sondern umgekehrt bedingt die Intersubjektivität unsere Motivation zu kommunizieren. Auf diese Weise haben wir an den Erfahrungen Anderer teil und erfahren nicht nur grundsätzlich dieselbe Welt, sondern teilen ganz konkret die für uns bedeutsame Welt, in der wir zusammenleben. Das ist mit dem in der Krisis-Schrift eingeführten Begriff der »Lebenswelt« gemeint. 61 Die intersubjektiv geteilte Welt bleibt freilich erfahrene Welt. Innerhalb einer Kulturgemeinschaft beispielsweise können wir unsere Erfahrungen aufgrund der gemeinsamen Sprache und der gewachsenen Strukturen, die ein Zusammenleben fördern, wenigstens zu einem großen Teil untereinander austauschen. Zudem können wir auf die von früheren Generationen bereits gemachten und weitergegebenen Erfahrungen zurückgreifen und auf sie aufbauen. So entwickeln die Mitglieder der Kulturgemeinschaft eine gemeinsame Lebenswelt, Husserl spricht von der »Kulturwelt«. Erst dort, wo die Mitglieder der Kulturgemeinschaft auf eine andere Kulturwelt stoßen, werden sie sich der Besonderheit ihrer eigenen Erfahrungswelt bewusst. Sie erfahren die eigene kulturelle Lebenswelt, die »Heimwelt« angesichts der »Fremdwelt« als eine Sonderwelt, d. h. als spezifische Erfahrung der einen Welt, die in der Fremdwelt anders erfahren wird. Die Erfahrung der Andersheit, die Husserl zunächst auf der Ebene des Ich beschreibt, wiederholt sich hier also auf einer »höheren Stufe«. Höher ist diese Stufe, weil sie weiter ausgreift und eine geschichtliche Dimension hat. Husserl ist damit der erste, der auf die Dimensionalität von 60 Vgl. Husserl 1973, darin bes. Beilagen XI , XIII , XLVIII und Text 27. 61 Husserl 1962a, s. Teil III A. <?page no="81"?> Differenztheoretische Ansätze 81 Erfahrungsprozessen aufmerksam macht und die interkulturelle Dimension klar von der inter-personellen unterscheidet. Er ist m. W. auch der erste, der explizit von »interkultureller Erfahrung« spricht. 62 Um die Fremdwelt verstehen zu können, müsste deren Geschichte nachvollzogen werden, ein Anspruch, der sich nie ganz einlösen lässt, so dass Heim- und Fremdwelt auch niemals zu einer völlig einheitlichen Welt verschmelzen. Und doch taucht angesichts der Fremdwelt die Idee der einen, in Heim- und Fremdwelt nur abgeschatteten Welt auf. Als solche Idee wird sie für Husserl in der Krisis- Schrift leitend. Da diese Idee auf die bei den Griechen vollzogene Urstiftung von Philosophie und Wissenschaft zurückgeht, glaubt Husserl, dass die verschiedenen Sonderwelten auf eine Vereinigung mit der europäischen Welt hinstreben: »Indessen dieser sich in vielen Stufen relativierende Wesensunterschied von Heimatlichkeit und Fremdheit, eine Grundkategorie aller Geschichtlichkeit, kann nicht genügen. Die historische Menschheit gliedert sich nicht in immerfort gleicher Weise gemäß dieser Kategorie. Wir erspüren das gerade an unserem Europa. Es liegt darin etwas Einzigartiges, das auch allen anderen Menschheitsgruppen an uns empfindlich ist als etwas, das, abgesehen von allen Erwägungen der Nützlichkeit, ein Motiv für sie wird, sich im ungebrochenen Willen zu geistiger Selbsterhaltung doch immer zu europäisieren, während wir, wenn wir uns recht verstehen, uns zum Beispiel nie indianisieren werden.« 63 Die Entwicklung der Lebenswelt erhält dadurch eine Richtung, sie wird teleologisch. Held fordert deshalb, »sich entschiedener als Husserl auf die Endlichkeit der Heimwelt zu besinnen«. 64 Die verschiedenen Kulturwelten sollten bewusst darauf verzichten, »andere Territorien irgendwie kulturell zu besetzen«. Freilich bedarf es dafür eines bewussten Verzichts; denn die Einsicht in die Differenz zwischen den kulturellen Sonderwelten und der Idee der einen Welt ist bereits vollzogen - die kulturellen Sonderwelten sind also bereits relativiert. Diese Spannung ist der Grund dafür, dass beispielsweise Lohmar für die Möglichkeit eines die kulturellen Sonderwelten übersteigenden ethischen Maßstabs argumentiert, ohne deshalb zugleich die Vereinheitlichung der verschiedenen Ethiken, wie sie in den Sonderwelten gelebt werden, fordern zu müssen. 65 Es fragt sich nur, wie die Erfahrung einer Ethik »höherer Stufe« (i. S. Husserls, 62 Husserl 1973, S. 234. 63 Husserl 1962b, S. 320. 64 Held 2013b, S. 74 ff. 65 Interessanterweise verknüpft Lohmar die »nicht heimweltlich-gebundene Ethik« mit einem »unmittelbare[n] Erleben von Zustimmung oder Ablehnung von Zuständen oder Handlungen«; damit ist angedeutet, dass die nicht-heimweltlich-gebundene Ethik auf einem ethischen Erleben beruht, das selbst so etwas wie eine anthropologische Konstante darstellt. Das würde denn aber doch einen deutlichen Schritt hinter Husserl zurück darstellen. Lohmar 1993, S. 79. <?page no="82"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 82 hier also auf der Stufe der Idee der einen Welt, von der die Sonderwelten bloße Abschattungen sind) damit zusammengehen soll, dass de facto Ethiken einer niederen Stufe (nämlich die jeweiligen Ethiken der Sonderwelten) gelebt werden? Das geht nur, wenn man die eigene Erfahrung nicht ernst nimmt, oder wenn diejenigen, die diese Erfahrung als erste machen (die Europäer? ), sie keinem anderen mitteilen. Tatsächlich ist die Idee der einen, erfahrungsunabhängigen Welt phänomenologisch aber höchst fragwürdig. Auch die Idee der Welt bleibt erfahrungsgebunden (wie sollte sie sonst abgeschattet werden? ) und kann sich deshalb nur um den Preis kultureller Hegemonie über die Erfahrungsgebundenheit der Sonderwelten hinwegsetzen. Held hat deshalb mit der gegen Husserl gerichteten Klarstellung Recht, dass auch »die eine Welt der vergemeinschafteten Menschheit konkret jeweils als eine kulturelle Heimwelt neben anderen erscheinen« muss. 66 2 . 2 . 2 Interkulturelle Hermeneutik Der Versuch, die philosophische Theorie der Hermeneutik für die interkulturelle Situation fruchtbar zu machen, schließt unmittelbar an die geschilderte Unterscheidung von Heim- und Fremdwelt an. Dieser Versuch kann - wenigstens zu Teilen - als eine Antwort auf die spezifischen Probleme verstanden werden, die sich für das Verständnis kultureller Lebenswelten als Sonderwelten stellen. Folgendes Zitat von Mall, der seinen eigenen Ansatz als den einer interkulturellen Hermeneutik bezeichnet, kann deshalb als Aufgabenstellung interkultureller Hermeneutik gelesen werden und uns in dieser kurzen Darstellung als ein roter Faden dienen: »Man darf jedoch die hermeneutisch philosophisch sehr wichtige Ansicht: Alle Standorte sind als solche zu behandeln, selbst jedoch nicht mit einem neuen konkret einzunehmenden Standort verwechseln.« 67 Diese Forderung lässt sich mindestens auf zweierlei Weise verstehen. Zum einen so, dass die Einsicht in die »Standorthaftigkeit« der verschiedenen kulturellen Lebenswelten deswegen nicht selbst auf einen eigenen konkreten Standort verweist, weil sie von der Idee der einen Welt, von der Husserl spricht, her gewonnen ist. Dann aber würde unter der Hand ein universales Prinzip eingeführt und die Erfahrungsgebundenheit der Welt ebenso wie aller menschlichen Einsicht, deren Aufdeckung durch Husserl ja überhaupt erst zur Aufmerksamkeit auf die Andersheit des Anderen geführt hatte, unterlaufen. Dass genau 66 Held 2013b, S. 76. 67 Mall 1995, S. 24 <?page no="83"?> Differenztheoretische Ansätze 83 diese Gefahr bei Husserl selber besteht, darauf hat Held aufmerksam gemacht und deshalb die Vorstellung der einen gesamt-menschheitlichen Welt, die in den Sonderwelten jeweils bloß abgeschattet ist, ebenso als eine Heimwelt neben anderen bezeichnet (s. o.). Deswegen legt sich eine zweite Lesart des Mall-Zitats nahe. Demnach wird die Einsicht in die Standorthaftigkeit der kulturellen Lebenswelten durch die Begegnung dieser Lebenswelten selbst gewonnen und nicht erst durch den Überstieg der jeweiligen Lebenswelt auf die vermeintlich gesamt-menschheitliche Idee von der einen Welt. Damit wäre nun in der Tat viel gewonnen. Wir müssen darum im Folgenden zu verstehen versuchen, wie es möglich ist, die Einsicht in die Standorthaftigkeit der kulturellen Lebenswelten zu gewinnen, ohne den Standort der eigenen kulturellen Lebenswelt zu verlassen. Die Theorie der Hermeneutik hat eine lange, in die griechische Antike zurückreichende Tradition. Bei Schleiermacher ( 1768 - 1834 ) gelangt sie zu einem ersten Höhepunkt, seine auf ein Verstehen der Motive des jeweiligen Autors zielende Texthermeneutik stellt bis heute für viele Arbeiten eine wesentliche Referenz dar. In kulturgeschichtlicher Perspektive hat v. a. Gadamer ( 1900 - 2002 ) die Hermeneutik erneut für die Philosophie entdeckt. 68 Er versteht den Menschen als durch und durch geschichtliches Wesen. Das heißt zunächst, dass der Mensch in seinem Wesen nicht unberührt bleibt von seinem weltlichen Dasein. Ja umgekehrt, es ist gerade so, dass der Mensch gar nichts ist jenseits seines weltlichen Daseins. Er ist der, der er ist, erst durch seine Handlungen in der Welt, seine Erfahrung von der Welt, seine Wünsche und Überzeugungen in Bezug auf die Welt. Damit schließt Gadamer direkt an Husserl an, der den Menschen ebenso von seinen Erfahrungen her versteht. 69 Stärker als Husserl betont Gadamer aber das Wechselseitige der Konstitution von Welt und Mensch. Er spricht von der Teilhabe des Menschen an einem Geschehen, das weniger intentional strukturiert ist, als vielmehr spielerisch abläuft. Das Spiel wird Gadamer geradezu zum »Leitfaden der ontologischen Explikation« - zunächst freilich nur des Kunstwerks; die Teilhabe am Kunstwerk aber steht exemplarisch für die Teilhabe des Menschen an der geschichtlichen Wirklichkeit. Mensch und Welt, so könnte man sagen, werden erst in ihrem Zusammenspiel zu dem, was sie sind. Das Zusammenspiel lässt Mensch und Welt erst als die, die sie sind, zur Erscheinung kommen und ist in diesem Sinne ein Wahrheitsgeschehen (Wahrheit heißt griechisch aletheia, was so viel wie 68 Gadamer 1990. 69 Gadamer selbst verweist in diesem Zusammenhang stärker auf Heidegger als auf Husserl. Tatsächlich scheint mir Gadamer aber sehr viel näher an Husserl dran zu sein als an Heidegger. Dies v. a. wegen seines Weltverständnisses, das dem Lebensweltkonzept Husserls sehr viel ähnlicher ist als Heideggers Verständnis der Welt als eines Strukturmoments des »In-der-Welt-seins«. <?page no="84"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 84 Entbergung bedeutet). Gadamer zeigt sehr schön, dass es nicht so sehr die Spieler sind, die den Ablauf des Spiels bestimmen. Vielmehr bildet das Spiel eine eigene Dynamik aus, der die Spieler entsprechen. Das geht so weit, dass sich die Spieler selbst dem Spiel verdanken. Teilhabe meint also gerade nicht Teilbarkeit; sie bedeutet dagegen Einssein des Einzelnen mit dem Geschehen im Ganzen. Die Geschichtlichkeit des Menschen bedeutet zweitens, dass der Mensch in einem »wirkungsgeschichtlichen« Zusammenhang steht. Gemeint ist, dass das Selbst- und Weltverständnis des Menschen wesentlich durch die Geschichte geprägt ist. Die Fragen, die wir an die Welt stellen, sind durch die geschichtliche Situation, in der wir stehen, beeinflusst. Unsere Handlungsweisen sind durch die Möglichkeiten, die uns unsere spezifische geschichtliche Situation bereitstellt, gebunden. Unser Verständnis von der Welt ruht auf dem Verständnis früherer Generationen auf. So sehr wir weltliche Wesen sind, so sehr sind wir immer auch geschichtliche Wesen. Das Zusammenspiel von Mensch und Welt muss also in seinem geschichtlichen Zusammenhang gesehen werden. Wir verstehen uns selbst und die Welt nur dann besser, wenn wir uns auch mit unserer eigenen Geschichte auseinandersetzen. Umgekehrt bedeutet das, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte zu einem besseren Selbst- und Weltverständnis führt und damit für die Teilhabe des Menschen am Wirklichkeitsgeschehen tragend ist. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist selbst eine Weise, wie sich Mensch und Welt konstituieren; sie ist ein Wahrheitsgeschehen. Geschichtliches Verstehen ist darum streng von (natur-)wissenschaftlicher Methode zu unterscheiden. Daher der Titel »Wahrheit und Methode«, den Gadamer seiner Theorie der philosophischen Hermeneutik gibt. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und das Zusammenspiel von Mensch und Welt laufen beide sprachlich ab. Die Sprache ist das Medium, das dem Menschen eine Teilhabe an der Wirklichkeit als einem Geschehen, in dessen Verlauf der Mensch sich selbst und die Welt besser verstehen lernt, ermöglicht. Die menschliche Welt ist eine verstandene Welt, und der Verstehensprozess läuft sprachlich ab. Und auch der Mensch ist ein sprachliches Wesen, insofern die Sprache ihm die Teilhabe am Wirklichkeitsgeschehen ermöglicht. Zurück zur Frage, wie die Einsicht in eine Pluralität der Standorte möglich ist, ohne den eigenen Standort zu verlassen. Gadamer interessiert sich zunächst weniger für das interkulturelle als für das historische Verstehen. Dabei zeigt er, dass Verstehen dann möglich ist, wenn wir die Frage aufdecken, auf die eine geschichtliche Überlieferung seinerzeit geantwortet hat. Die Frage können wir freilich nur aufdecken, wenn es unsere eigene Frage ist. Auf die jeweiligen <?page no="85"?> Differenztheoretische Ansätze 85 Fragen kann man nur dann mit Hilfe verschiedener historischer Hinweise schließen, wenn man in ihnen tatsächlich Fragen erkennt - und das geht eben nur, wenn man sie grundsätzlich selber fragen kann. Ist die Frage aber erst einmal als eine Frage des eigenen Daseins entdeckt, dann ordnet sich die historische Antwort wie von selbst in den Fragehorizont ein, den wir bereits haben. Die vermeintliche »Horizontverschmelzung« von geschichtlichem und aktuellem Horizont, von der Gadamer spricht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine Bestätigung des eigenen Fragehorizonts, allenfalls noch als eine Erinnerung an ihn. Da überhaupt nur das, was uns irgendwie interessiert und angeht - sprich, das, was auf Fragen antwortet, die wir selbst auch haben - überliefert wird, kann es eine andere als die eigene Geschichte gar nicht geben. Auf der Grundlage seiner Einsichten in den Prozess historischen Verstehens, wendet sich Gadamer dann auch der Frage interkulturellen Verstehens zu. Um seine Antwort richtig zu verstehen, ist es wichtig, sich nochmals zu vergegenwärtigen, dass die Sprache das Medium unserer Teilhabe am Wirklichkeitsgeschehen ist. Gadamer räumt sehr wohl ein, dass wir die »Weltansicht« einer anderen Sprachgemeinschaft nicht ohne weiteres mit unserer eigenen zur Deckung bringen können. Grundsätzlich ist Verständigung aber möglich, und das deswegen, weil sowohl die eigene wie die fremde Weltansicht sprachlich vermittelt sind. Die fremde Weltansicht kann ebenso wie unsere eigene Geschichte zum Gesprächspartner werden. Zwar gibt es Übersetzungsschwierigkeiten, aber schon die Arbeit an diesen Schwierigkeiten trägt zum gemeinsamen sprachlichen Weltverstehen bei. Fremde Weltansichten führen deshalb niemals dazu, unsere eigene Weltansicht abzulösen. Sie treten nicht als Alternativen oder Widersprüche auf. Vielmehr führt das Gespräch mit anderen kulturellen Lebenswelten grundsätzlich zur Erweiterung der eigenen Weltansicht: »Als sprachlich verfaßte ist eine jede solche Welt von sich aus für jede mögliche Einsicht und damit für jede Erweiterung ihres eigenen Weltbildes offen und entsprechend für andere zugänglich.« 70 Darin, so sagt es Gadamer selbst, liegt der entscheidende Unterschied zu Husserls Verständnis der Sonderwelten als Abschattungen der einen Welt: »Doch bleibt es ein charakteristischer Unterschied, daß jede ›Abschattung‹ des Wahrnehmungsdings von jeder anderen ausschließend verschieden ist und das ›Ding an sich‹ als das Kontinuum dieser Abschattung mitkonstruiert, während bei der Abschattung der sprachlichen Weltansichten eine jede von ihnen alle anderen potentiell in sich enthält, d. h. eine jede vermag sich selbst in jede andere zu erweitern. Sie vermag die ›Ansicht‹ der Welt, wie sie sich in einer anderen Sprache bietet, von sich aus zu verstehen und zu erfassen.« 71 70 Gadamer 1990, S. 451. 71 Ebd., S. 452. <?page no="86"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 86 Gadamer zufolge ist die Verständigung also gerade deswegen möglich, weil die fremde Weltansicht von der eigenen aus erfasst werden kann. Die Verständigung läuft nicht über eine gemeinsame, die verschiedenen kulturellen Lebenswelten transzendierende Idee, sondern auf dem Boden der eignen Weltansicht. Damit ist zwar ein Weg gewiesen, wie die Einsicht in die Standorthaftigkeit der verschiedenen kulturellen Lebenswelten gewonnen werden kann, ohne den eigenen Standort zu verlassen; zugleich aber taucht ein neues, schwerwiegendes Problem auf: Die Einsicht in die Standorthaftigkeit der kulturellen Lebenswelten geht mit der Aneignung der fremden Weltansichten einher, die Pluralität geht zugunsten einer entsprechenden Erweiterung des eigenen Standorts verloren. Letztlich kann es eben genauso, wie es nur die eigene Geschichte gibt, auch nur die eigene Welt geben. Damit würde die philosophische Hermeneutik aber hinter den Husserlschen Problemhorizont zurückfallen, von dem her der Andere ja gerade in seiner uneinholbaren Eigenheit und dem damit verbundenen grundsätzlichen Entzogensein erfahren worden war. Mall sieht sowohl die Stärke als auch die eben aufgezeigte Schwäche der Hermeneutik und versucht deshalb, so etwas wie eine interkulturelle Kritik der Hermeneutik zu denken. Die besteht nun v. a. darin, dass er von »Überlappungen« zwischen den verschiedenen kulturellen Lebenswelten spricht, die eine Vergleichbarkeit und ein Verstehen ermöglichen, ohne dass sie zur wechselseitigen Aneignung führen. Solche Überlappungen ermöglichen es, sich im Horizont der fremden kulturellen Lebenswelt zu bewegen und so eine Brücke des Verstehens zu ihr zu schlagen, ohne sie sich deswegen im Ganzen anzueignen oder die eigene Lebenswelt auf eine übergeordnete Stufe hin übersteigen zu müssen. Die Überlappungen erlauben es also, die Standorthaftigkeit der verschiedenen kulturellen Lebenswelten einzusehen, ohne sie zugleich gemeinsam verorten zu müssen (sei es im eigenen oder einem übergeordneten Standort). In diesem Sinne spricht Mall von der »orthaften Ortlosigkeit bzw. ortlosen Orthaftigkeit« interkultureller Philosophie. 72 Das klingt gut. Allerdings stellen sich denn doch kritische Fragen, sobald Mall die von ihm ins Spiel gebrachten Überlappungen zu begründen versucht: »Der eigentliche Grund [der Überlappungen, N. W.] ist jedoch unsere Erfahrung eines Gemeinsamen, in dem wir uns alle befinden und in dem wir uns auch erfahren.« 73 Wo ist da noch die Ortlosigkeit? Als Kandidaten für das allen kulturellen Lebenswelten Gemeinsame nennt Mall evolutionäre ebenso wie anthropologische Übereinstimmungen, einzelne »kulturelle Verhaltensstrukturen«, die so erfolgreich sind, dass sie sich 72 Mall 1995, S. 54. Er spricht an dieser Stelle von einer vergleichenden, nicht von einer interkulturellen Philosophie, bezieht sich damit aber auf sein Konzept einer »interkulturellen Hermeneutik«. 73 Ebd., S. 47. <?page no="87"?> Differenztheoretische Ansätze 87 überall durchsetzen, das »aufgeklärte Selbstinteresse«, das Allgemeinwohl sowie die Erziehung. Wenngleich alle diese Gemeinsamkeiten sehr wohl bestehen mögen, werden die kulturellen Lebenswelten damit entweder auf eine biologische Ebene reduziert oder aber unter einem Allgemeinheitsaspekt betrachtet, der verkennt, dass das, was im Allgemeinen ähnlich erscheint, konkret sehr verschieden sein kann. Überlappungen erhalten ihre Vergleichbarkeit dann nur dadurch, dass sie aus ihren jeweiligen lebensweltlichen Kontexten herausgelöst werden. Damit aber verlieren sie eben auch ihre kulturelle Bedeutung und taugen dann nicht mehr zum Brückenschlag zwischen den verschiedenen Lebenswelten. Wir werden etwas weiter unten (in Kapitel 2 . 3 ) sehen, dass die eigentliche Stärke der philosophischen Hermeneutik möglicherweise gerade in ihrer vermeintlichen Schwäche liegt, nämlich darin, trotz Standorthaftigkeit auf die Einheit der Welt zu pochen. Welt lässt sich nicht noch einmal von außen betrachten. Jede Form des Austausches mit vermeintlich außerhalb der Welt Stehendem gehört notwendiger Weise mit in die Welt hinein - und das eben auch dann, wenn Welt nicht als regulative Idee, sondern als gelebte historische Wirklichkeit verstanden wird. Erst dann, wenn man dies in aller Deutlichkeit sieht, vermag man die eigentliche Problemstellung interkultureller Philosophie zu verstehen: »Das Paradox einer Universalisierung im Plural.« 74 2 . 2 . 3 Dialogphilosophie Der Dialog meint das Gespräch zwischen zweien. Insofern der Polylog ein Gespräch zwischen vielen meint, scheint er dem Dialog - gerade in interkultureller Hinsicht - überlegen zu sein. Schaut man nur auf die Zahl der Gesprächspartner, dann ist das richtig. Mit dem Dialog ist aber von alters her eine Gesprächsdimension gemeint, die ganz anders gelagert ist, als das beim Polylog, so wie Wimmer ihn in die interkulturelle Philosophie eingeführt hat, der Fall ist. Das Besondere des Dialogs, so ließe sich vielleicht dem Folgenden vorausgreifend sagen, liegt darin, dass er die den Dialog leitende Vernunft selber zum Thema macht, wohingegen der Polylog zwar eine Vielzahl von vernünftigen Stimmen ins Spiel bringt, die im polylogischen Austausch immer schon vorausgesetzte Rationalität aber nicht eigens bedenkt (s. Kap. 2 . 1 . 3 ). Die Rationalität des Polylog stellt die Grundlage dafür dar, die verschiedenen Stimmen in einen sinnvollen Austausch miteinander zu bringen. Das ist beim Dialog anders. Im Dialog steht der Boden, auf dem er stattfindet, selbst in Frage. 74 Waldenfels 1993, S. 63. <?page no="88"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 88 Das gilt schon für die platonischen Dialoge, in denen nicht einfach Argumente ausgetauscht, sondern das Denken und mit ihm die Vernunft selber höher geführt werden. Sokrates Aufgabe besteht darin, zunächst die für sicher gehaltenen Voraussetzungen des Denkens zu hinterfragen und so dessen Haltlosigkeit aufzuweisen. Das Denken steht auf dem Spiel und erfordert eine Bewegung der Gesprächspartner, um in die einer Sache gemäße Vernunftdimension vorzustoßen. Auch die dialektische Bewegung in der Philosophie Hegels folgt der Einsicht in die Vorläufigkeit der Vernunft, die dadurch, dass sie befremdet wird, weitergeführt und über sich selbst aufgeklärt werden muss. Im 20 . Jahrhundert ist es v. a. Martin Buber ( 1878 - 1965 ), der das dialogische Denken aufgreift und in seiner Philosophie des Du weiterführt. 75 Die Beziehung zum Du ist eine personale Beziehung, was anders als bei Platon und Hegel nun stärker auf die Unhintergehbarkeit des Begegnenden aufmerksam macht. Sucht die Bewegung des Dialegesthai bei Platon und - freilich etwas anders gelagert - auch bei Hegel die verschiedenen Positionen so auseinanderzulegen, dass jene Offenheit entsteht, in der der die verschiedenen Positionen begründende Logos sichtbar werden kann, so geht es Buber zunächst um die Begegnung selbst. Die Begegnung mit dem Du berührt das Ich auf eine Weise, dass es von dieser Begegnung getragen wird und verändert aus der Begegnung hervorgeht. Freilich ohne deswegen das Du vollständig erschließen zu können. Den Dialog kennzeichnet gerade die bleibende Differenz, die die Begegnung erst zu einer solchen macht, in der anderes begegnet und die die Begegnenden darum über ihr Gewohntes hinausführen und auf einen neuen Boden stellen kann. In dieser Form ist der Dialog für das interkulturelle Denken von großer Bedeutung. 76 Mall betont die Doppelseitigkeit, die im Dialog zum Tragen kommt, wenn er sagt, dass »Verstehenwollen und Verstandenwerdenwollen« zusammengehören. 77 Es ist aber v. a. Kimmerle, der den Dialog explizit als Methode interkultureller Philosophie stark macht. Ähnlich wie Mall versucht Kimmerle, der selbst Gadamer-Schüler ist, die Hermeneutik interkulturell fruchtbar zu machen. Er betont nun aber anders als Mall nicht die Überlappungen zwischen verschiedenen kulturellen Lebenswelten, sondern hebt umgekehrt gerade die Differenz hervor: »Eine interkulturelle Hermeneutik wird schließlich im Ergebnis der Verstehensbemühung das vorläufige und das definitive Nichtverstehen stärker herausstellen müssen, als es bei Gadamer geschieht […].« 78 75 Buber 1984. 76 Vgl. Weidtmann 1998a, S. 16-21; und Stenger 1997. 77 Mall bezieht sich mit dieser Aussage auf die Hermeneutik, die er allerdings interkulturell weiterentwickeln will, und zwar gerade deswegen, weil in ihr die Doppelseitigkeit des Verstehensprozesses nicht deutlich genug gesehen ist (s. Kap. 2.2.2). Vgl. Mall 1995, S. 61. 78 Kimmerle 2006, S. 31. <?page no="89"?> Differenztheoretische Ansätze 89 Verschiedene kulturelle Lebenswelten müssen sich etwas zu sagen haben, um in einen Dialog miteinander treten zu können. Das bedeutet zum einen, dass das Thema des Dialogs bei den Dialogpartnern »Resonanz erzeugen muss«, dass die Dialogpartner also natürlich keine unbeschriebenen Blätter sind, sondern ein je eigenes Vorverständnis mitbringen; zum anderen aber bedeutet es, dass »mein Dialogpartner mir etwas zu sagen hat, was ich mir (aufgrund meiner Teilhabe an einer allgemeinen menschlichen Vernunft) nicht auch selbst hätte sagen können«. 79 Der Dialogpartner weiß dabei nicht einfach mehr, sondern er versteht das Thema, um das sich der Dialog dreht, anders; er versteht es unter anderen Vorzeichen bzw. in anderen Horizonten. Kimmerle sieht im Unterschied zu Gadamer nun nicht die Verschmelzung der verschiedenen Horizonte als Ideal an, sondern fordert dagegen gerade, auf die Differenzen zu achten und dem Dialogpartner zunächst einmal einfach zuzuhören: »Das Projekt einer interkulturellen Philosophie besteht zunächst darin, zu hören, lange Zeit hindurch zu hören […].« 80 Das führt dazu, die Horizont-Gebundenheit der eigenen Sichtweise zu erkennen und auf die Möglichkeit anderer Sichtweisen aufmerksam zu werden, und vermag so wechselseitigen Respekt und Anerkennung der jeweils anderen Positionen zu begründen. Im Dialog steht also die Begegnung selbst im Vordergrund und mit ihr das Zwischen, das die verschiedenen kulturellen Lebenswelten zugleich verbindet und trennt. Kimmerle zufolge geht es darum, »die Vielfalt zu bejahen und sich philosophisch im ›Zwischen‹ der Kulturen anzusiedeln, ohne die eigene, von der man ausgeht, ganz hinter sich lassen und die fremden, denen man sich nähert, ganz erreichen zu können«. 81 Verschiedene kulturelle Lebenswelten begegnen sich, und sie tun das so, dass sie sich als verschieden (und damit weitgehend unverstanden) erfahren. Darin liegt, das habe ich bereits angedeutet, zweierlei: Die Begegnung erfolgt auf der Grundlage wechselseitiger Resonanz für ein Thema, um das es im Dialog konkret geht. Damit ist so etwas wie eine gemeinsame (durch das Thema konstituierte) Situation angesprochen, die eine Begegnung erst ermöglicht (vgl. das dazu in Kap. 2 . 1 . 3 Gesagte). Die gemeinsame Situation des Dialogs führt dazu, dass sich die Dialogpartner von dieser Situation her verstehen und deshalb gerade aufgrund der Begegnung auch so etwas wie einen gemeinsamen Verstehensboden ausbilden. In dieser Dimension kommt es denn auch zu wechselseitigem Verständnis; allerdings bleibt es vorläufig und begrenzt, da die Dialogpartner ihre eigenen Äußerungen nicht darauf beschränken, wie sich das im Dialog verhandelte Thema in dieser Di- 79 Kimmerle 2002, S. 12 und S. 81. 80 Kimmerle 1991, S. 8. 81 Kimmerle 1994, S. 18. <?page no="90"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 90 mension darstellt, sondern ihre jeweilige kulturelle Sichtweise einbringen. Auf diese Weise spielen also zahlreiche weitere Dimensionen in die Dialogssituation hinein, die von der Dialogsituation her nicht verstanden werden können. Immerhin aber gewinnen die Dialogpartner so ein Gefühl dafür, dass sich eine Thematik, die sie beide betrifft, aufgrund der verschiedenen kulturellen Sichtweisen unterschiedlich darstellen kann. Das führt aber streng genommen nicht dazu, die andere kulturelle Lebenswelt anzuerkennen, sondern nur dazu, die andere Sichtweise auf die konkrete Thematik des Dialogs zu respektieren. Wenn Kimmerle schreibt, »alle philosophischen Disziplinen und Beschäftigungen [… ] sollten jeweils die Dimension des Interkulturellen in sich aufnehmen«, 82 dann meint er damit die Berücksichtigung kultureller Sichtweisen auf spezifische Themen und Fragestellungen - in der Dimension des konkreten, thematisch eingeschränkten Dialogs. Die Bedeutung der verschiedenen kulturellen Lebenswelten selbst ist damit gar nicht berührt. Die verschiedenen kulturellen Sichtweisen fließen in den Dialog ja nur so ein, wie sie sich im Rahmen der jeweiligen Dialogsituation zeigen. Darüber sind sie einander bereits vermittelt. Je intensiver allerdings versucht wird, die andere Sichtweise nachzuvollziehen, sie also von den Horizonten der anderen kulturellen Lebenswelt her zu verstehen, desto mehr entzieht sie sich. Der Dialog führt darum immer nur zu punktueller Begegnung. Die verschiedenen kulturellen Lebenswelten bleiben auf die Fortführung des Dialogs verpflichtet, ohne sich dadurch je wirklich näher zu kommen. 2 . 2 . 4 Differenzdenken Bereits der dialogische Ansatz betont die Differenz zwischen den verschiedenen kulturellen Lebenswelten. Dieser Differenzaspekt ist ausgehend von Husserls Unterscheidung von Heim- und Fremdwelt vor allem in einigen phänomenologischen Ansätzen aufgegriffen und vertieft analysiert worden. Aber auch außerhalb der Phänomenologie finden sich wichtige Referenzen eines Denkens, das die Einheit der Vernunft zunehmend in Frage stellt und auf zahlreiche unreflektierte Voraussetzungen, Brüche und Differenzen aufmerksam macht. Neben vielen anderen wären etwa Nietzsche ( 1844 - 1900 ) mit seinem Perspektivismus, Freud ( 1856 - 1939 ) mit seinen Analysen des Unbewussten, Foucault ( 1926 - 1984 ) mit seiner Archäologie des Wissens und Derrida ( 1930 - 2004 ) mit seiner Philosophie der Dekonstruktion zu nennen. Außerdem der Strukturalismus und der Poststrukturalismus, der Einfluss Heideggers ( 1889 - 1976 ) und vieler anderer - häufig französischer Philosophen - mehr. 82 Kimmerle 2002, S. 10. <?page no="91"?> Differenztheoretische Ansätze 91 In der Phänomenologie sind es im Anschluss an Husserl und in Auseinandersetzung mit Heidegger zunächst vor allem Merleau-Ponty ( 1908 - 1961 ) und Lévinas ( 1906 - 1995 ), die versuchen, das Verhältnis von Ich und Anderem neu zu bestimmen. Hatte Husserl den Anderen noch als Alter Ego bestimmt und ihn damit ganz von seiner Analogie zum Ich her verstanden, fällt dieses Primat des Ich bei Merleau-Ponty weg und wird bei Lévinas gar zu einem Primat des Anderen. Merleau-Ponty verlagert den Ort der Erfahrung, die für ihn im Anschluss an Husserl sowohl für die erfahrene Welt als auch für das erfahrende Ich konstitutiv ist, von der Ebene des transzendentalen Ego auf die leibliche Ebene. Die Welt ist uns nur durch unseren Leib zugänglich und darum grundsätzlich leiblich erfahrene Welt. Auch uns selbst erfahren wir als an unseren Leib gebundene Wesen, die ihren Platz in der Welt abhängig davon einnehmen, wie der Leib uns die Welt gibt. Die Begegnung mit dem Anderen findet darum ebenso zunächst auf der leiblichen Ebene statt, der eigene Leib findet im fremden »so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen, eine vertraute Weise des Umgangs mit der Welt«, so dass »der fremde Leib und der meinige ein einziges Ganzes, zwei Seiten eines einzigen Phänomens« bilden. 83 In der Begegnung mit dem Anderen erfahren sich sowohl das Ich wie auch der Andere aufgrund dieser Form von »Zwischenleiblichkeit« 84 von »einem gemeinsamen Tun« her, »dessen Schöpfer keiner von uns beiden ist«. 85 Merleau-Ponty spricht von der Möglichkeit eines »Sein zu zweien«. In der Begegnung mit dem Anderen machen Ich und Anderer also gemeinsame (leiblich vermittelte) Erfahrungen und erleben sich dadurch als zusammengehörige Erfahrungssubjekte. Erst hinterher »verleiben« sich Ich und Anderer die Erfahrungen so ein, dass sie zu den eigenen und »zu einer Episode meiner privaten Geschichte« werden. Ich und Anderer verdanken sich also auch in ihrer Unterschiedenheit den gemeinsamen Erfahrungen. 86 Merleau-Ponty zeigt auf diese Weise, dass die Intersubjektivität der Subjektivität vorausgeht (und das, ohne von einem transzendentalen Ego konstituiert zu sein). Anders als oben für den Dialog ausgeführt, bringen Ich und Anderer nicht verschiedene Horizonte in eine gemeinsame Erfahrungssituation ein, sondern gehen aus der gemeinsamen Erfahrungssituation als diejenigen, die bestimmte (Erfahrungs-)Horizonte haben, hervor. 83 Merleau-Ponty 1966, S. 405. 84 Merleau-Ponty 2004, S. 185. 85 Merleau-Ponty 1966, S. 406. 86 Das Beispiel, das Merleau-Ponty hier benennt, ist das Gespräch, in dem die Gesprächspartner eben keinesfalls bloße Argumente austauschen, sondern auf den Gesprächsverlauf antworten, und das sogar mit »Gedanken, von denen ich nicht wußte, daß ich sie hatte« (ebd.). Um dieses Beispiel richtig einordnen zu könne, ist es wichtig zu wissen, dass Merleau-Ponty die Sprache ebenso leiblich versteht. Die Sprache ist für ihn der Leib des Denkens. <?page no="92"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 92 Noch einen entschiedenen Schritt weiter geht Lévinas. Er folgt zunächst Heidegger in seiner Analyse des menschlichen Daseins als eines »In-der-Weltseins«. 87 Demnach ist der Mensch der Welt nicht einfach ausgeliefert, sondern er entwirft eine eigene Vorstellung von seinem Dasein, die der Welt und allem, womit der Mensch es in der Welt zu tun hat, von vorneherein eine eigene Bedeutung verleiht. Der Mensch ist Heidegger zufolge ein durch und durch weltliches Wesen, er kann sich nicht zur Welt, sondern nur in ihr verhalten; aber zugleich ist die Welt ihrerseits durch und durch menschlich, weil es nichts in der Welt einfach so gibt, vielmehr muss es zunächst erschlossen werden. Erschlossen wird das Sein durch das Dasein des Menschen, das sich auf sein eigenes Sein hin entwirft. So schließt sich bei Heidegger der Kreis; Mensch und Welt bilden einen einzigen Strukturzusammenhang, ›es gibt‹ sie nicht losgelöst voneinander. Was Welt bedeutet, hängt am einzelnen menschlichen Dasein und umgekehrt. In diese »Totalität«, wie Lévinas sagt, bricht nun das »Antlitz« des Anderen ein. 88 Es widersetzt sich der Vereinnahmung durch den Bedeutungszusammenhang, den die Welt für das menschliche Dasein darstellt. Damit widersetzt es sich auch dem Verständnis durch das Ich. Das geht aber nur, weil im Antlitz des Anderen etwas begegnet, das die Welt und das Sein übersteigt, das »jenseits des Seins« (so ein Buchtitel von Lévinas) liegt. Dieses Etwas ist die Andersheit des Anderen. Der Andere selbst begegnet natürlich auf vielfältige Weise innerhalb der Welt und fügt sich demnach auch in den jeweiligen Bedeutungszusammenhang ein. So begegnet der Andere beispielsweise als Bäcker, von dem das Ich Brot bekommen kann, und fügt sich so völlig unproblematisch in das Weltverständnis des Ich ein. Der Andere geht freilich nicht darin auf, Bäcker zu sein, er ist immer auch noch vieles andere. Aber auch all das, was der Andere noch ist, spielt auf die eine oder andere Weise in die Welt des Ich hinein, und doch ist der Andere in seiner Andersheit darin niemals erfasst. In der Welt, so Lévinas’ Überlegung, kann der Andere grundsätzlich nur als Dieser oder Jener, niemals aber als Anderer begegnen. Die Andersheit des Anderen verweist das Ich von dieser Rolle, in der der Andere dem Ich begegnet, auf jene und von jener auf eine weitere, und das immer weiter, ohne dass das Ich der Andersheit des Anderen dadurch je näher käme. So verweist die Andersheit des Anderen das Ich auf die »Spur der Unendlichkeit«, die die bedeutungsvolle und deshalb notwendigerweise endliche Welt übersteigt. Die unendliche Spur, auf die die Andersheit des Anderen das Ich setzt, begegnet im Antlitz. Das Antlitz ist für Lévinas also so etwas wie ein Fenster der Welt, durch das wir die jenseits der Welt liegende Unendlichkeit erfahren können. Im Antlitz begegnet uns der Andere nicht in dieser oder jener Rolle, vielmehr 87 Vgl. Heidegger 1977. 88 Vgl. für das Folgende Lévinas 1987, s. bes. S. 35-66. <?page no="93"?> Differenztheoretische Ansätze 93 sieht er uns selbst von anderswo her an. Man kann hier durchaus an die Augen des Menschen denken, die erstens den Blick umkehren, d. h. ihrerseits das Ich anblicken können (darauf hat Sartre in seiner Analyse des Blicks hingewiesen, vgl. Kapitel 3 . 3 ), und die sich zweitens jedem Zugriff entziehen. Je tiefer man dem Anderen in die Augen blickt, desto mehr verliert man sich darin. 89 In den Augen begegnet dem Ich gleichsam das Selbst des Anderen jenseits aller seiner konkreten Erscheinungsweisen. Lévinas macht nun deutlich, dass das Ich auf diese Weise vom Anderen angesprochen und zur Antwort aufgefordert ist. Allerdings bleibt seine Antwort grundsätzlich vorläufig, versucht sie doch auf einen Anspruch von jenseits des Seins zu antworten. Der Anspruch bleibt also bestehen und das Ich ist fortlaufend dazu aufgerufen, ihm zu antworten. Lévinas sieht darin die ursprüngliche Verantwortung des Ich für den Anderen. Die Verantwortung sprengt die Totalität der Ich-Welt-Beziehung und verpflichtet das Ich immer schon dazu, über diese Totalität hinauszugehen. Deswegen kann Lévinas gegen Heideggers ontologische Phänomenologie die Ethik als prima philosophia setzen. Bei ihm ist das Differenzdenken also gewissermaßen auf die Spitze getrieben. Die Andersheit des Anderen setzt das Ich auf die Spur des Unendlichen, sie bleibt also nicht nur uneinholbar, sondern reißt das Ich zugleich aus seinem eigenen Weltverstehen heraus. Damit weicht das Primat, das dem (transzendentalen) Ich bei Husserl zukommt, dem Primat des Anderen. Für interkulturelle Fragestellungen hat vor allem Waldenfels das Denken Merleau-Pontys und Levnias’ fruchtbar gemacht. Waldenfels spricht dabei vom Phänomen des Fremden und nicht vom Anderen, um der Relationalität, die im Begriff des Anderen liegt, zu entgehen. Der Andere ist immer anders als und damit eben immer auch schon einer Relation eingefügt; er hat seinen Platz. Das oder der Fremde dagegen fügt sich gerade nicht ein, sondern stellt eine bleibende Herausforderung dar, er ist ein »Stachel« im Fleische des Eigenen. 90 Das Paradox der Fremderfahrung ist ja gerade dies, dass sie »eine Form der Erfahrung [bleibt], nur eben in der paradoxen Form einer originären Unzugänglichkeit, einer abwesenden Anwesenheit«. 91 Waldenfels nimmt dieses Paradox ernst und fragt danach, wie die Erfahrung beschaffen sein muss, dass sie etwas als sich entziehend erfahren kann. Das ist guter phänomenologischer Stil, forscht er damit doch nach dem Wie und nicht nach dem Was der Erfahrung des Fremden. Die Frage nach dem Was des als entzogen Erfahrenen führt, davor hat Waldenfels gewarnt, allzu leicht dazu, das Fremde zu einer 89 Vgl. dazu Rombachs sehr eindrückliche Analyse in Rombach 1985, S. 39 ff. 90 Vgl. Waldenfels 1990. 91 Waldenfels 1997, S. 30. <?page no="94"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 94 »moralischen oder religiösen Instanz« zu erheben. 92 Die Analyse der Fremderfahrung zeigt, dass etwas nur dann als entzogen erfahren werden kann, wenn die Erfahrung darin über sich hinaus auf weitere Erfahrung verwiesen wird, die nun nicht einfach die bisherige Erfahrung bestätigt, sondern tatsächlich weiterführt und verändert. Erfahren wird in der Fremderfahrung also gerade dieses, dass die Erfahrung selbst über sich hinausgewiesen ist. In der Fremderfahrung kommt die Erfahrung also nicht zur Ruhe, das ist der eigentliche Grund dafür, dass Fremdes als beunruhigend erlebt werden kann. Streng genommen ist es eben nicht das Fremde selbst, das beunruhigt, sondern die Erfahrung, die keinen Halt findet und damit natürlich zugleich uns selbst als Erfahrende einem Offenen und Unbestimmten aussetzt: »Nehmen wir das Fremde dagegen als etwas, das nicht dingfest zu machen ist, nehmen wir es als etwas, das uns heimsucht, indem es uns beunruhigt, verlockt, erschreckt, indem es unsere Erwartungen übersteigt und sich unserem Zugriff entzieht, so bedeutet dies, daß die Erfahrung d e s Fremden immer wieder auf unsere eigene Erfahrung zurückschlägt und in ein Fre mdw e rd e n d e r Er fahr ung übergeht.« 93 Die phänomenologische Analyse der Erfahrung des Fremden offenbart ein Fremdwerden der Erfahrung. Nun kennzeichnet das Verwiesensein der Erfahrung auf weitere mögliche Erfahrung allerdings keinesfalls nur die Fremderfahrung. Husserl hat gezeigt, dass der Gegenstand der Erfahrung gerade deswegen als transzendent, also als unabhängig von der Erfahrung bestehend erfahren wird, weil in jeder Erfahrung frühere Erfahrungen appräsentiert, also vergegenwärtigt werden, in denen derselbe Gegenstand anders erfahren worden ist. Nur weil zahlreiche Erfahrungen zusammengenommen werden, kann darin ein von der Erfahrung unabhängiger Gegenstand erfahren werden. Damit ist zugleich die Erwartung gegeben, dass auch in Zukunft weitere Erfahrungen desselben Gegenstandes möglich sind. In den künftigen Erfahrungen kann grundsätzlich auch Neues über den Gegenstand gelernt werden; auf je mehr frühere Erfahrungen wir aber zurückgreifen können, desto unwahrscheinlicher wird es, dass künftige Erfahrungen sehr viel Neues zu Tage fördern. Entscheidend aber ist, dass alle Erfahrung auf mögliche weitere Erfahrung verwiesen bleibt. In vielen Fällen ist das wenig beunruhigend, weil uns die Gegenstände bereits sehr gut bekannt sind und neue Erfahrungen nur die alten bestätigen. In anderen Fällen kann es aber sehr wohl sein, dass neue Erfahrungen unsere Kenntnis der Gegenstände tatsächlich verändern und wir sicher Geglaubtes teilweise revidieren müssen. Wäre das nicht so, könnten wir nie Neues erfahren, wir wären in 92 Waldenfels 2006, S. 9 f. 93 Ebd., S. 7 f. <?page no="95"?> Differenztheoretische Ansätze 95 unserer bisherigen Erfahrung gefangen. Erfahrung ist also nie ganz abgeschlossen, sondern immer auf weitere Erfahrungen verwiesen. Die Fremderfahrung ist deshalb kein Sonderfall der Erfahrung. Wohl aber gibt es graduelle Unterschiede, die das Erfahrene mehr oder weniger fremd erscheinen lassen. Wenn wir ein Haus von vorne sehen, so ein Beispiel Husserls, dann ist unsere Erfahrung darauf verwiesen, dass wir um das Haus herumgehen und es von hinten betrachten können. Das Haus geht also nicht in der aktuellen Erfahrung auf, es ›entzieht‹ sich und wir sind auf mögliche weitere Erfahrungen verwiesen. Dennoch würden wir in Bezug auf das wahrgenommene Haus schwerlich von Fremderfahrung sprechen. Etwas anders sieht es schon bei der Begegnung mit dem Passanten auf der Straße aus, mit dem wir uns zwar auf einer alltäglichen Ebene verständigen können, der sich uns als Person aber weitgehend entzieht. Waldenfels spricht in diesem Fall von »alltäglicher Fremdheit«. 94 Der Passant ist innerhalb der alltäglichen Ordnung vertraut, hier nimmt er einen spezifischen Platz ein; aber er bleibt auf seine Weise doch unberechenbar. Eine Steigerung der alltäglichen Fremdheit findet Waldenfels in der »strukturellen Fremdheit«, für die er eine Fremdsprache als Beispiel anführt. Die Fremdsprache gehört nicht in die eigene Lebensordnung, bleibt aber doch grundsätzlich in sie übersetzbar, d. h. sie gehört einer anderen Ordnung an, die zwar anderen Ordnungsmustern folgt, darin dass sie ordnet aber doch vertraut bleibt. Die höchste Stufe der Fremdheit findet sich demgemäß außerhalb jeder Ordnung. Es ist dies eine »radikale Fremdheit«. Das radikal Fremde ist das, was auch durch Erfahrung nicht vertrauter werden kann und deshalb den eigentlichen Stachel des Fremden darstellt. Das »Außerordentliche« ist das, was zwischen allen Ordnungen steht, was in den Ordnungen auf je spezifische Weise geordnet und angeeignet wird, ohne deshalb je in einer der Ordnungen oder auch allen gemeinsam erschöpfend erfasst werden zu können. Waldenfels erfasst mit seiner Unterscheidung verschiedener Fremdheitsgrade die Mehrdimensionalität des Phänomens. Innerhalb einer Ordnung begegnet das Fremde zumeist auf einer inter-personalen Ebene. Die Fremdheit zwischen den Ordnungen dagegen lässt sich nicht mehr auf eine inter-personale Ebene reduzieren; Waldenfels selbst analogisiert sie mit Husserls Unterscheidung zwischen Heim- und Fremdwelt. Das Spannende an seinem Denken ist, dass er mit dem Außerordentlichen nun eine weitere Stufe der Fremderfahrung benennt, die die Vielfalt der Sonderwelten, die nach Husserl in der Lebenswelt unterschieden werden können, über sich hinaus auf ein Zwischen verweist, das auch in der Lebenswelt als ganzer nicht aufgeht, sondern in ihr als ein Stachel des Fremden lebendig bleibt. Es ist diese »Zwischensphäre«, in der Waldenfels 94 Für die Steigerungsgrade des Fremdseins s. Waldenfels 1997, S. 35 ff. <?page no="96"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 96 die interkulturelle Situation verortet. 95 Erst dort, wo die Unübersetzbarkeit des Fremden in das Eigene erfahren wird, ist die Möglichkeit einer Begegnung jenseits »einer Verkennung und Vergewaltigung jener Fremderfahrung, von der alle Bemächtigung ausgeht«, gegeben: »Fremdheit in ihrer radikalen Form besagt, daß das Selbst auf gewisse Weise auß e r sic h s elb st ist und daß jede Ordnung von Schatten des Außer-ordentlichen umgeben ist. Solange man sich dieser Einsicht verschließt, bleibt man einer relativ e n Fremdheit verhaftet, einer bloßen Fremdheit für uns, die einem vorläufigen Stand der Aneignung entspricht.« 96 Fremdheit, so ließe sich das zusammenfassen, wird nur dort tatsächlich erfahren, wo sie nicht innerhalb eines bestimmten Rahmens erfahren wird, sei dies eine alltägliche Ordnung oder die verschiedene Sonderwelten integrierende geschichtliche Lebenswelt, sondern als jene Offenheit erlebt wird, der wir ausgesetzt sind, ja in die wir hinausgesetzt sind und die wir nicht einzufangen zu vermögen. Dennoch stellen sich auch bei diesem Ansatz gerade aus phänomenologischer Sicht einige kritische Anfragen. So ist es phänomenologisch doch überaus fraglich, die Fremderfahrung von jedem Bezug zum Eigenen trennen zu wollen. Zwar liegt die Differenz auf der Hand, die zwischen dem Fremdsein innerhalb und zwischen Ordnungen auf der einen und dem Fremdsein des Außerordentlichen auf der anderen Seite besteht, aber auch das »Außer-ordentliche« bleibt doch von den Ordnungen her als solches erfahren. Nicht nur lassen sich Grade von Fremdsein unterscheiden, es ließe sich auch eine Geschichte des Fremdseins schreiben. Was als fremd erfahren wird, hängt nicht nur von der jeweiligen Erfahrungsdimension, sondern in erster Linie von der jeweiligen Erfahrungsgeschichte ab. Die Fremderfahrung bleibt so immer auf das Eigene, das sich im Laufe der Erfahrungsgeschichte als ihr Inneres konstituiert, bezogen. Anders gesagt: Das Außerordentliche ist geradezu eine Bedingung der Möglichkeit von Ordnungen und deshalb von diesen nicht nur nicht zu trennen, sondern im Gegenteil nur in den Ordnungen als deren Schatten, der sie immerfort begleitet, und als ihre eigene Endlichkeit erfahrbar. 97 Der Überstieg über die Ordnungen, das »Jenseits des Seins«, gehört in die Ordnungen, und in das Sein, mit hinein. Dann lässt sich eine »Universalisierung im Plural«, die Waldenfels als Antwort auf die interkulturelle Situation fordert, 98 so aber gerade nicht aufweisen. 95 Waldenfels 2006, S. 109-132. 96 Ebd., S. 116. 97 Für eine ausführlichere kritische Würdigung von Waldenfels Phänomenologie des Fremden s. Weidtmann 2011. 98 Bernhard Waldenfels 1993, S. 63. Vgl. Kapitel 2.2.2. <?page no="97"?> Differenztheoretische Ansätze 97 In welcher Dimension bewegen wir uns nun mit den verschiedenen differenztheoretischen Ansätzen? Anders als bei den einheitstheoretischen Ansätzen wird in ihnen die Begegnung mit anderen kulturellen Lebenswelten nicht vor dem Hintergrund einer universalen Vernunft oder auf dem Boden anthropologischer Konstanten verhandelt. Stattdessen wird die Vernunft selbst in ihrer historischen Entwicklung ernst genommen, weshalb nun auch nicht mehr nur die Verständigung zwischen Individuen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen aufzuklären versucht wird, sondern die Begegnung der kulturellen Lebenswelten selbst in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Die Einsicht in die historische Wirklichkeit der Vernunft bedeutet, dass sich die Philosophie nun selbst in der interkulturellen Situation verortet, sich von ihr betreffen lässt und herausgefordert fühlt. Mit den differenztheoretischen Ansätzen wird die Philosophie also selbst interkulturell. In den einheitstheoretischen Ansätzen dagegen bleiben die interkulturellen Anfragen letztlich äußerlich und vermögen das die Philosophie tragende Vernunftverständnis nicht zu betreffen. Die Antworten auf die interkulturellen Anfragen lesen sich denn auch wie bloße Anwendungen oder bestenfalls wie Ausweitungen bereits ausgearbeiteter Ordnungs- und Kommunikationsschemata. Dazu passt die bis heute weit verbreitete Haltung, dass man im Einzelfall andere philosophische Traditionen berücksichtigen könne, wenn sich dort interessante Argumente finden lassen, dass die Einbeziehung dieser Traditionen aber nicht prinzipiell von Bedeutung für die Philosophie sei. Ganz anders bei den differenztheoretischen Ansätzen. Hier wird ein Bewusstsein für die Eingeschränktheit alles philosophischen Denkens wach, das sich der Auseinandersetzung mit anderen Traditionen nicht stellt. Die Gründe dafür sind nun aber gerade keine formalen (wie von den einheitstheoretischen Ansätzen gefordert), sondern sie liegen in der Erfahrung selbst. Die vernünftige oder vernunftgeleitete Erfahrung erfährt angesichts des Fremden ihre eigene Vorläufigkeit, sie erfährt sich selbst - und damit natürlich zugleich die sie leitende Vernunft - als auf dem Spiel stehend. Erfahrung, das lehren uns die differenztheoretischen Ansätze, ist mehr als die bloße Anwendung eines Vernunftvermögens auf äußere Sinnesdaten à la Kant, sie ist auch mehr als die gemeinsame Suche nach wahren Aussagen. In der Erfahrung ist die Vernunft selbst herausgefordert und über sich hinausgewiesen. In Anlehnung an Husserl: Erfahrung ist immer auch »transzendentale Erfahrung«. 99 Und dennoch ist das nicht der letzte Schritt. Die differenztheoretischen Ansätze bleiben dort, wo sie nicht unter der Hand universalistische Prinzipien wiedereinführen, bei der Beschreibung der Differenzerfahrung stehen. Das aber ist die Art und Weise, wie die anderen Kulturen in ihrer Andersheit und 99 Husserl 1963, S. 178. <?page no="98"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 98 Fremdheit von der eigenen Kultur aus erfahren werden. Selbst bei Waldenfels, der darauf aufmerksam macht, dass das Fremdsein die Erfahrung selber betrifft, bleibt die Fremderfahrung letztlich am - freilich nicht einlösbaren - Ideal möglichen Verstehens orientiert. Sonst könnte sie nicht Stachel sein und zu immer neuer Erfahrung anregen. Man könnte deshalb sagen, dass bei den differenztheoretischen Ansätzen an die Stelle der universalistischen Position eine Art Differenzkontinuum tritt. Dieses Differenzkontinuum steht gegen die vermeintlich klare, in Wirklichkeit aber oberflächliche Dichotomie von Universalismus und Relativismus. Es bindet die unversöhnlich scheinenden Positionen dieser Dichotomie gleichsam zusammen, ja es zeigt, dass diese Positionen bloße Vereinseitigungen eines Differenzgeschehens sind, in dem Eigenes und Fremdes unauflösbar ineinander verflochten sind. Und doch bleiben eben auch in den differenztheoretischen Ansätzen sowohl das universalistische Moment in Gestalt eines Ideals als auch die relativistischen Momente in Gestalt des in Frage gestellten und zur Antwort aufgeforderten Eigenen und des als entzogen erfahrenen Fremden erhalten. Die Problemtiefe ist viel größer als bei den einheitstheoretischen Ansätzen, aber die historische Wirklichkeit des Menschen ist auch hier nicht wirklich getroffen. Es wäre phänomenlogisch falsch zu meinen, die historische Wirklichkeit des Menschen falle hinter das (nicht zu erreichende) Ideal einer Menschheit, die die Antwort auf den Anspruch anderer Kulturen nicht mehr schuldig bleiben muss, zurück. Sie fällt vielleicht hinter ihre eigenen Möglichkeiten zurück (und bleibt deshalb selbstverständlich kritisch zu betrachten), das Ideal aber gibt es immer bloß als das Ideal einer konkreten historischen Gestalt des Menschen. Das Ideal gehört selbst in die jeweilige historische Wirklichkeit hinein. Will sagen, dass Ideal und konkrete Gestalt zusammenfallen. Darin liegt die Universalisierung der historisch wirklichen Vernunft. Diese Universalisierung gilt es im Plural zu denken, nein zu erfahren. 2 . 3 Philosophie der Erfahrung Im letzten Teilkapitel hat sich gezeigt, dass das Andere und Fremde auch in den verschiedenen Formen des Differenzdenkens immer vom Eigenen her erscheint. Zwar in der Differenz zum Eigenen, aber doch nie von sich selbst her. Lévinas entwickelt dafür das entscheidende Problembewusstsein: Da wir dem Anderen nur vom Eigenen her begegnen und ihn deshalb immer nur als relativ anders erfassen können, bleibt diese Begegnung eine immerwährende, nie zu einem Ende zu bringende Aufgabe. Nur wenn wir nicht der Versuchung erliegen, den Anderen als irgendeine Form von Alter Ego zu verstehen und damit <?page no="99"?> Philosophie der Erfahrung 99 letztlich doch zu vereinnahmen, können wir ihn wenigstens in seiner grundsätzlichen Andersheit erfahren. Mit dem Hinweis auf den nicht zu stillenden Anspruch, der in der Begegnung mit dem Anderen liegt, setzt uns Lévinas auf die »Spur der Unendlichkeit«. Nun hat Waldenfels gezeigt, dass ebendiese »Spur der Unendlichkeit« und die damit verbundene grundsätzliche Offenheit bzw. Ausgesetztheit des Eigenen die Grundstruktur aller Erfahrung ausmachen. Erfahrung ist immer offen, ausgesetzt und über sich hinausgewiesen. Damit ist der falsche Totalitätsanspruch, den Lévinas grundsätzlich mit dem Eigenen verbunden sieht, gebrochen. Freilich gelangen wir so noch nicht zum Anderen; stattdessen bleiben wir in der sich selbst übersteigenden, aber nie zum Anderen führenden Erfahrung gleichsam gefangen. Dann aber stellt sich doch - in Anlehnung an Lévinas’ Wort vom »Jenseits des Seins« (s. o.) - die Frage nach einem ›Jenseits der Erfahrung‹. Nur wenn es uns möglich ist, aus dem unendlichen Erfahrungsprozess auszubrechen, können wir dem Anderen jenseits seiner grundsätzlichen Andersheit möglicherweise auch als ihm selbst begegnen. Ähnlich wie Waldenfels das Phänomen des Fremden im Fremdwerden der Erfahrung gründet, muss sich aber auch die Möglichkeit eines solchen ›Jenseits der Erfahrung‹ in der Erfahrung selbst aufweisen lassen, soll sie phänomenologisch gezeigt und nicht einfach postuliert werden. Im Folgenden unternehme ich einen ersten Versuch, das zu tun, indem ich das Phänomen der Erfahrung etwas genauer in den Blick nehme (ein weiterer folgt in Kapitel 3 . 4 ; auch Kapitel 4 lässt sich als ein solcher Versuch lesen). Dabei geht es mir hier nicht um eine vollständige Beschreibung des Phänomens der Erfahrung, sondern nur darum zu zeigen, inwiefern eine Philosophie der Erfahrung den Herausforderungen der interkulturellen Situation, in der wir heute leben, zu entsprechen vermag. 100 Ich gehe v. a. auf drei Aspekte von Erfahrung ein, die freilich auf das engste zusammengehören und hier nur aus Darstellungsgründen getrennt angesprochen werden: ihre Situationsgebundenheit, ihre Mehrdimensionalität und schließlich ihren Weltcharakter. Die Situationsgebundenheit von Erfahrung Rombach hat in seiner Analyse des Phänomens der Situation (die in ihrer Kraft mit Heideggers Analyse des In-der-Welt-seins vergleichbar, phänomenologisch an den entscheidenden Stellen aber viel klarer ist) gezeigt, dass Erfahrungen 100 Ich beziehe mich im Folgenden v. a. auf die Arbeit von Stenger 2006, bes. S. 265-652. Stengers Analysen greifen ihrerseits verschiedentlich auf die strukturale Phänomenologie Rombachs zurück. Vgl. dazu Rombach 1987, 1988 und 1962 / 1980. <?page no="100"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 100 grundsätzlich situativ sind. 101 Erfahrungen werden immer in der Situation, in der wir uns gerade befinden, gemacht. Dabei können wir nicht jede Erfahrung in jeder Situation machen. Die Erfahrung, vom Wasser getragen zu werden, können wir nur beim Schwimmen machen (auf etwas andere, aber doch ähnliche Weise auch beim Segeln oder Windsurfen); einen aggressiven Autofahrer erleben wir nur im Straßenverkehr und Höhenangst kennen wir in der Regel nur vom Bergsteigen. Vor allem aber hängt der spezifische Sinn von Erfahrungen immer an der konkreten Situation, in der sie gemacht werden. Zugleich wird aber auch die Situation erst dadurch, wie sie erfahren wird, zu der Situation, die sie ist. Ob es sich bei etwas um eine peinliche Situation handelt, hängt nicht allein von den äußeren Gegebenheiten ab, sondern entscheidet sich daran, wie die Situation erfahren wird. Dieselben Gegebenheiten können im einen Fall als peinlich, im anderen als nicht peinlich erfahren werden - und nur im ersten Fall gibt es dann überhaupt eine peinliche Situation. Die Erfahrung ist die Weise, wie der Mensch die Umstände einer Situation aufnimmt und ihnen begegnet. Allerdings gilt es hier, ein nahe liegendes Missverständnis zu vermeiden: Man könnte meinen, dass der Mensch dadurch, dass die Weise, wie er die Umstände einer Situation erfährt, Herr über die Situation sei. Das ist er nicht. Vielmehr ist die Situation dem Ich gegenüber vorgängig. Das Ich findet sich immer schon als in Situationen stehend vor. Es ist sich nie unmittelbar, »sondern immer nur aus einer Situation heraus« gegeben: »Nur im Zurückkommen vom Ganzen der ›Umstände‹, wie die Inhalte der Situation heißen, erfasse ich mich als der schon Bestimmte und sich in dieser Bestimmtheit Entgegengehaltene.« 102 Das Ich ist das Situations-Ich, ja es ist der Innenpunkt der Situation, auf den hin die Umstände der Situation bezogen sind. Dadurch erst, dass die Umstände einer Situation auf einen Innenpunkt bezogen sind, gewinnt die Situation ihren inneren Zusammenhang, ihren eigenen Sinn. Wie dieser Sinn aussieht, hängt deshalb auch davon ab, wie die Umstände auf den Innenpunkt bezogen sind. Das lässt sich am Beispiel der Höhenangst verdeutlichen: Im einen Fall tritt der gähnende Abgrund auf beiden Seiten des Grats deutlich hervor, so dass alles andere, etwa der Blick auf den nahen Gipfel und der mächtige Durst, dahinter fast völlig zurücktreten. Im anderen Fall ist es umgekehrt; wohl wird der Abgrund wahrgenommen, aber seine Bedeutung verschwindet fast völlig hinter der alles überlagernden Freude auf den Gipfel. Von einer gefährlichen Situation sprechen wir nur dann, wenn wir selbst von den Umständen der Situation in einer Weise betroffen sind, die unsere Existenz bedroht. Die Situation ist, was sie ist, darum immer für ein Ich. Zugleich er- 101 Rombach 1987, S. 133-318. 102 Ebd., S. 140. <?page no="101"?> Philosophie der Erfahrung 101 fährt sich das Ich selbst aber eben auch als dieser Innenpunkt und nicht als ein Ich, das die Umstände der Situation wahrnimmt, ohne von ihnen eigentlich betroffen zu sein. Das Ich ist also nicht der Herr der Situation, sondern verdankt sich selbst der Situation. Diese wiederum verdankt sich der Art und Weise, wie das Ich die Situation erfährt bzw. wie die Umstände der Situation gemeinsam auf einen Innenpunkt hin bezogen sind. Ich und Situation gehen aneinander auf, und dieses Aufgangsgeschehen ist die Erfahrung. Die Situationsgebundenheit der Erfahrung scheint ihrer Unabschließbarkeit, auf die Lévinas und Waldenfels hingewiesen haben, zu widersprechen. Das ist aber gar nicht der Fall; stattdessen hilft die Analyse der Situationsgebundenheit, das universale Moment der Erfahrung besser zu verstehen. Da die Situation der Erfahrung nicht vorausgeht, sondern selbst erst in der Erfahrung aufgeht, bedeutet die Situationsgebundenheit der Erfahrung auch keine äußere Einschränkung des Erfahrungsbereichs. Sie begrenzt die Erfahrung nicht, wohl aber bedingt sie, dass der Möglichkeitsraum von Erfahrungen zwar unbegrenzt, aber dennoch immer ganz konkret ist. Der Mensch erfährt auch all das, was nicht in die Situation hineingehört, nur vermittelt durch die Situation. »Damit ist die Situation noch ursprünglicher als die Welt, denn immer erfahren wir die Welt nur in Situationen.« 103 Es ist nicht so, dass wir zunächst in der Welt sind und dann in der Welt diese oder jene Situation erleben. Wäre es so, dann würden wir die Situationen als Spezifikationen der Welt erfahren. Tatsächlich ist es aber umgekehrt. Wir erfahren die Welt von der einzelnen konkreten Situation her; all das, was nicht unmittelbar mit der Situation zu tun hat, spielt in die Situation hinein (und sei es als ›keine Rolle spielend‹). Darin zeigt sich ein Grundzug aller Erfahrung: In der Erfahrung wird nie etwas schon Gegebenes auf spezifische Weise erfahren, so dass die konkrete Erfahrung hinter dem Gegebenen im Ganzen zurückbliebe, weil es dieses eben gerade nicht im Ganzen erfahren würde. Wäre es so, dann könnten wir gar nichts erfahren, weil die Erfahrung immer an einzelnen Aspekten und Teilansichten hängen bleiben würde, ohne zu wissen, welchem Gegenstand sie zuzuordnen sind. Das Besondere der Erfahrung dagegen ist gerade dies, dass in der einzelnen Erfahrung das Ganze als auf spezifische Weise gegeben erfahren wird. Das ist der Grund dafür, dass allem, was erfahren wird, irgendeine Bedeutung zukommt. Es ist immer so oder anders, aber eben grundsätzlich konkret und auf eine bestimmte Art und Weise erfahren. So also auch die Welt in der Situation. Die Analyse der Situationsgebundenheit von Erfahrung zeigt deshalb, dass das universale Moment der Erfahrung anders verstanden werden muss, als es 103 Ebd., S. 138. <?page no="102"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 102 zunächst durch den Hinweis auf den prinzipiellen Selbstüberstieg und die dadurch bedingte Unabschließbarkeit von Erfahrung nahegelegt zu sein scheint. Die Erfahrung ist nicht deshalb auf die »Spur der Unendlichkeit« gesetzt, weil sich eine Sache bzw. eine Person nie als sie selbst, sondern immer nur in einer die Sache bzw. die Person selbst verkennenden Teilansicht zeigen würde. Tatsächlich ist es so, dass die Sache selbst in jeder einzelnen Erfahrung immer schon miterfahren ist, wenn auch grundsätzlich auf eine bestimmte Art und Weise. Das gilt auch für die Erfahrung des Anderen und Fremden. Fremd ist etwas nicht deswegen, weil es sich verbirgt und der Erfahrung entzieht, sondern umgekehrt gerade deshalb, weil es auf bestimmte Weise - nämlich als fremd bzw. als sich der Erfahrung entziehend - erfahren wird. Die weitere Erfahrung wird das Fremde deshalb nicht zum Vertrauten machen, sondern nur weitere Aspekte seines Fremdseins aufdecken. Lévinas geht es deswegen auch nicht darum, den Anderen zu verstehen oder zum Vertrauten zu machen, sondern darum, ihn in seiner Andersheit sehen zu lernen. Die »Spur der Unendlichkeit« führt uns gerade nicht näher an den Anderen heran, sondern lässt uns bei ihm verweilen, ohne ihn anzueignen, zu vereinnahmen oder als ein bloßes Alter Ego zu verkennen. Die Erfahrung des Anderen und des Fremden stellt also selbst eine bestimmte Situation dar. Das entspricht auch unserer alltäglichen Erfahrung: Wir begegnen dem Anderen und Fremden nicht immer und überall, sondern in bestimmten Situationen. Die »Spur der Unendlichkeit«, also der Selbstüberstieg der Erfahrung, gehört in die Situation hinein (in die Situation von Andersheit und Fremdheit ebenso wie in jede andere Situation auch). Solange wir uns in einer bestimmten Situation befinden, kommt die Erfahrung dieser Situation an kein Ende. Wir können die Situation nie ›vollständig‹ erfassen. Und das v. a. deshalb nicht, weil die Situation, wie wir gesehen haben, offen für alles bleibt, was nicht unmittelbar mit ihr zu tun hat. Die Situationsbedingtheit bedeutet also keine Begrenzung oder Einschränkung der Erfahrung, sondern lediglich ihre Konkretion: Die Welt wird so erfahren, wie sie sich von der jeweiligen Situation her zeigt. Die Mehrdimensionalität von Erfahrung Damit scheint sich auch die Aufgabe einer »Universalisierung im Plural« (Waldenfels, s. o.) zu konkretisieren, nämlich zu einer Pluralisierung der Situationen, in denen wir stehen und die wir erfahren. Das aber scheint trivial zu sein. Tatsächlich stehen wir ja nicht ein Leben lang in derselben Situation; vielmehr wechseln die Situationen fortwährend. Allenfalls, darauf macht Rombach aufmerksam, könnte man sagen, dass dieser Wechsel der Situationen selbst wieder <?page no="103"?> Philosophie der Erfahrung 103 eine Situation darstellt - nämlich unser Leben. Wenn die Situation in eine andere umbricht, dann bedeutet das nach dem bislang Gesagten aber auch, dass sich die Weise, wie wir die Welt erfahren, ändert. In der neuen Situation ist die Welt anders vermittelt und hat folglich auch eine andere Bedeutung. Dennoch erfahren wir die verschiedenen Situationen, in denen wir stehen, aber nicht als verschiedenen Welten zugehörig. Vielmehr erfahren wir sie als verschiedene Situationen in derselben Welt, die je nach Situation nur unterschiedlich erfahren wird. Das heißt, dass sich die Erfahrung der neuen Situation an die Erfahrung der vorangegangenen anschließen lassen muss. Andernfalls wären die Situationen durch Welten voneinander getrennt. Aber nicht nur die Erfahrung der Welt weist auf die Kontinuität der Erfahrung hin. Auch das Ich, das sich grundsätzlich nur aus einer Situation heraus selbst erfahren kann, würde völlig auseinander fallen, ließen sich die verschiedenen Erfahrungen nicht aufeinander beziehen. Das Ich erfährt sich in jeder Situation etwas anders, aber es erfährt diese Verschiedenheit zugleich so, dass es darin verschiedene Aspekte des einen Ich erkennt, das durch alle Situationen hindurch dasselbe bleibt. Sowohl die Selbsterfahrung des Ich als auch die Erfahrung der Welt erfordern eine innere Zusammengehörigkeit der wechselnden Erfahrungen von Situationen. Eine Erfahrung bzw. eine Vielzahl von in einer Situation zusammengehörenden Erfahrungen finden also offensichtlich immer vor dem Hintergrund eines weiteren Erfahrungszusammenhangs statt (der zugleich so etwas wie ein Zusammenhang verschiedener Situationen ist). Der Erfahrungszusammenhang öffnet den Raum für mögliche andere und anderen Situationen zugehörige Erfahrungen, aber er schließt zugleich eine ganze Reihe von weiteren Erfahrungen aus. Auf die Selektivität und die damit verbundene Exklusivität von Erfahrungen hat Waldenfels mit dem Begriff der Ordnung aufmerksam gemacht. Je reifer eine Ordnung ist, desto selektiver wird sie. Mag zu Beginn noch vieles möglich sein, so wird die Richtung weiterer Erfahrungen mit der Zeit immer klarer durch die Ordnung vorgegeben. Wir kennen das aus der eigenen Biographie. Dem jungen Erwachsenen steht die Welt offen, alles scheint möglich zu sein. Haben wir uns aber erst einmal für einen bestimmten Lebensweg entschieden, dann kommen wir irgendwann an einen Punkt, an dem wir nicht mehr jeden beliebigen anderen Weg einschlagen können. Zugleich mit der zunehmenden Selektivität der Erfahrungen bildet sich eine stärker konturierte Persönlichkeit heraus. Und die übt erheblichen Einfluss auf den weiteren Lebensweg und damit auf den künftigen Erfahrungsverlauf aus. Die Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen, sind also keinesfalls völlig beliebig, sondern fügen sich in ein Erfahrungsgeflecht ein, dessen »Ichpol« (Husserl) <?page no="104"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 104 unsere Persönlichkeit ist. Damit soll nun natürlich nicht gesagt sein, dass unsere Persönlichkeit darüber entscheidet, was wir erfahren. Die Persönlichkeit kann die Umstände einer Erfahrungssituation nicht beeinflussen. Die Art der Persönlichkeit spielt dagegen eine wichtige Rolle dafür, wie wir etwas erfahren. Erfahrungen finden also, das sei noch einmal zusammengefasst, immer vor dem Hintergrund eines Erfahrungs- und Situationszusammenhangs statt; von ihm her werden sie als sinnvoll, berechtigt und stimmig, ja im Einzelfall auch als notwendig erfahren - oder eben als sinnlos, unberechtigt, unstimmig und überflüssig oder zufällig. Der Erfahrungszusammenhang verdankt sich seinerseits den Erfahrungen. Er ist nichts anderes als die Weise, wie die verschiedenen Erfahrungen und Situationen zusammenstimmen. Und die Art und Weise des Zusammenstimmens kann erst dadurch zur Geltung kommen, dass sich bereits mehrere Erfahrungen irgendwie aufeinander beziehen. Es besteht hier also ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis zwischen den einzelnen Erfahrungen auf der einen und dem Erfahrungszusammenhang auf der anderen Seite. Die Wechselseitigkeit der Konstitution bedingt, dass der Erfahrungszusammenhang mit der Zeit immer konturierter wird und die Richtung weiterer Erfahrungen klarer vorgibt. Und doch verleiht er schon der allerersten Erfahrung ihren spezifischen Sinn. Wir sind wir selbst nicht erst nach einer Reihe von Lebensjahren, in denen so etwas wie ein Erfahrungszusammenhang aufgebaut wird, sondern vom ersten Moment an. Nur wird uns das eben erst rückwirkend bewusst. Der Anfang wird erst mit der Zeit als Anfang erfahren. Das wiederum bedingt, dass wir einen Erfahrungszusammenhang nie anfänglich erleben, sondern immer nur so, dass wir bereits mittendrin sind. Das gilt für unser Leben, das gilt aber auch für zahlreiche Erfahrungszusammenhänge innerhalb unseres Lebens. Beispielsweise das Schwimmen. Wir hatten gesagt, dass die Erfahrung, vom Wasser getragen zu werden, konstitutiv für das Schwimmen ist. Die Erfahrung, vom Wasser getragen zu werden, machen wir nun aber in aller Regel nicht dann, wenn wir zum ersten Mal in unserem Leben in tieferes Wasser steigen. Vielmehr müssen wir erst üben, wir müssen schwimmen lernen. Wir beginnen also in flachem Wasser; die ersten Übungen sind eigentlich nicht viel mehr als waghalsige Unterbrechungen unseres sicheren Standes. Vom Erfahrungszusammenhang sicheren Stehens auf einem festen Untergrund her gesehen, trägt Wasser aber nicht. Im Laufe der Zeit freilich lernen wir, unseren Körper anders zu bewegen und werden sicherer. Irgendwann können wir schwimmen. Aber wann genau sprechen wir davon, schwimmen zu können? Wenn wir die Erfahrung machen, vom Wasser getragen zu werden. Dann sind wir aber bereits geschwommen, denn Wasser trägt nicht, wenn man nicht schwimmt. Die Erfahrung, vom Wasser getragen zu werden, wird nicht mit dem ersten <?page no="105"?> Philosophie der Erfahrung 105 Schwimmzug gemacht, sondern erfolgt als nachträgliche Erfahrung der neuen Stimmigkeit zuvor gemachter Bewegungen im Wasser. Ähnliches gilt für alle Übungsprozesse. Wir üben etwas und irgendwann können wir es, ohne dass wir sagen könnten, ab wann genau das der Fall war. Wir erfahren unser Können immer erst, wenn wir es bereits können. Das liegt daran, dass die Erfahrung des Könnens keine Was-Erfahrung, also nicht die Erfahrung einer einzelnen spezifischen Handlung ist, sondern eine Wie-Erfahrung davon, wie eine Reihe von Handlungen oder Bewegungen (Gedanken, Erkenntnissen, Empfindungen…) zusammengehören. Sie gehören im Fall des Könnens nämlich anders zusammen als im Fall des Übens. Die Erfahrung, etwas zu können, selbst hängt also nicht von einzelnen äußeren Gegebenheiten ab, sondern davon, dass sich der innere Zusammenhang der Übungserfahrungen so zwingend entwickelt, dass die Erfahrung tatsächlich umspringt. Das erklärt auch, weshalb die meistens Menschen selbst dann, wenn sie leidlich schwimmen lernen, nie wirklich die Erfahrung machen, dass sie das Wasser trägt. Stattdessen erfahren sie das Schwimmen weiterhin als mühevoll, anstrengend und ermüdend. Die Erfahrung springt also trotz einer gewissen Übung nicht um. Schwimmen zu gehen stellt für diese Menschen denn auch keine echte Möglichkeit dar. Wenn wir die Erfahrung, vom Wasser getragen zu werden, aber erst einmal gemacht haben, dann können wir auf dieser Grundlage nicht nur schwimmen gehen, sondern auch zahlreiche weitere Erfahrungen machen, die erst vor diesem Hintergrund Sinn machen; etwa Wasserballspielen, Tauchen, Springen u. v. m. Die Erfahrung, dass Wasser trägt, ist also eigentlich die Erfahrung davon, wie eine Vielzahl von Erfahrungen im Wasser zusammenpasst. Sie unterfängt und trägt die einzelnen Erfahrungen im Wasser. Stenger spricht im Anschluss an Rombach in diesem Sinn von einer »Grunderfahrung« (und in einem vergleichbaren Sinn könnten wir durchaus auch von einer ›Grundsituation‹ sprechen). Die Grunderfahrung bietet den Grund, auf dem aufruhend eine Vielzahl weiterer, aber nicht beliebiger Erfahrungen möglich ist. Sie alle werden von der Grunderfahrung getragen und sind vor ihrem Hintergrund bedeutungsvoll. Erfahrungen sind überhaupt nur auf dem Boden von Grunderfahrungen möglich. Andernfalls wären sie zusammenhang- und bedeutungslos. Tatsächlich werden Erfahrungen immer im Zusammenhang weiterer Erfahrungen gemacht und hängen nicht einfach in der Luft. Mit der Analyse der Grunderfahrung macht Stenger nun aber darauf aufmerksam, dass Grunderfahrungen in andere Grunderfahrungen umbrechen können. Auch bevor wir schwimmen können und unsere Bewegungen im Wasser vom Getragensein her erfahren, stehen unsere Schwimmübungen in einem Erfahrungszusammenhang, sagen wir der Einfachheit halber dem der Bewegungen auf <?page no="106"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 106 festem Untergrund. Irgendwann führt der Übungsprozess dann dazu, dass wir unsere Bewegungen im Wasser nicht mehr vor dem Hintergrund der Bewegung an Land, sondern jetzt auf der Grundlage des vom Wasser Getragenwerdens erfahren. Der eine Grund tritt an die Stelle des anderen. Der Begriff der Grunderfahrung ist deshalb durchaus wörtlich zu nehmen. In der Grunderfahrung wird ein Grund erfahren, auf dem eine Vielzahl von Erfahrungen aufruht und von dem sie begründet wird. Zugleich steht die Grunderfahrung dafür, dass ein solcher weitere Erfahrungen ermöglichender Grund erfahren werden muss. Gründe, das zeigt die phänomenologische Analyse, hat man nicht einfach und man erlangt sie auch nicht durch intellektuelle Einsicht; Gründe müssen vielmehr erfahren werden (auch und gerade im intellektuellen Bereich). Die Grunderfahrung ist nichts anderes als der innere Zusammenhang all jener Erfahrungen, die auf ihr aufruhend gemacht werden. Sie muss also selbst erfahren werden; und das obwohl sie zugleich konstitutiv ist für die Erfahrungen, die durch die Art und Weise, wie sie zusammengehören, ja erst jenen inneren Zusammenhang stiften, den wir hier Grunderfahrung nennen. Die Grunderfahrung ist also die Erfahrung davon, welchen Sinn eine Erfahrung hat. Sie ist die »Erfahrung der Erfahrung« bzw. in der alten Begrifflichkeit die »Bedingung der Möglichkeit« von Erfahrung. Die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und die Erfahrung selbst sind ungeschieden, sie gehen in einem wechselseitigen Konstitutionsprozess auseinander hervor: »Die ›strukturale Erfahrung‹ versucht somit nicht weniger als dem Hervorgangsgeschehen der Phänomene, also ihrer Selbsterfahrung nachzuspüren, was wiederum heißt, dass Empirie und Transzendentalität, Ontik und Ontologie noch vor ihrer Trennung gesehen werden können.« 104 Der Prozess einer Erfahrung der Erfahrung lässt sich ganz konkret nachzeichnen. Erfahrungen finden, das ist inzwischen klar, immer auf dem Boden einer Grunderfahrung statt. Das heißt aber auch, dass alle neuen Erfahrungen so lange vor dem Hintergrund der bestehenden Grunderfahrung gemacht werden, wie es nicht zum Umbruch in eine andere Grunderfahrung kommt. Und das auch dann, wenn sie die Grunderfahrung nicht bestätigen oder gar quer zu ihr stehen. Im Einzelfall werden bestimmte Erfahrungen dann eben als verquer und unpassend oder unsinnig erfahren. Man kann dabei an eine im Krieg schwer traumatisierte Person denken, der es in späteren Friedenszeiten schwer fällt, die neuen Erfahrungen des Friedens auch von einer neuen Grunderfahrung her zu erfahren. Oder man kann an die zahlreichen Himmelsbeobachtungen in der frühen Neuzeit denken, die sich nicht ins Ptolemäische Weltbild 104 Stenger 2006, S. 636. <?page no="107"?> Philosophie der Erfahrung 107 fügten und so immer neue Zusatztheorien und weitere Epizykel erforderten. Man kann aber auch das Beispiel des Schwimmens aufgreifen. Der Übungsprozess wird eben noch nicht von der Grunderfahrung, dass das Wasser trägt, her erfahren, sondern steht im Wortsinne noch auf festem Boden. Es kann überall dazu kommen, dass eine Vielzahl von Erfahrungen gemacht wird, die irgendwie quer zur Grunderfahrung steht. Grunderfahrungen sind aber, wie gesehen, nichts anderes als der innere Zusammenhang der Erfahrungen untereinander. Sie stehen deswegen in jeder neuen Erfahrung mit auf dem Spiel und müssen bestätigt werden. Wenn das über zahlreiche Erfahrungen hinweg nicht der Fall ist, dann wird die Grunderfahrung selbst zunehmend als fraglich erfahren. Eine Weile lang bleibt eine Grunderfahrung stabil, auch wenn sie in neuen Erfahrungen keine Bestätigung findet. Irgendwann aber kommt es zum Umbruch und der innere Zusammenhang der Erfahrungen stellt sich dann neu und ganz anders dar. Das ist der Punkt, an dem die eine in die andere Grunderfahrung umbricht. Der Weltcharakter der Erfahrung Ein solcher Umbruch führt nun tatsächlich zum Bruch der Erfahrungskontinuität (und führt uns damit gewissermaßen tatsächlich ›jenseits der Erfahrung‹). In ihm bricht der Boden, auf dem stehend wir leben und unsere Erfahrungen machen, weg. Es tut sich ein Abgrund auf, was nicht weniger besagt, als dass die Grunderfahrung selbst unbegründet ist, dass sie in der Erfahrung nicht mehr bestätigt wird. Geht die Grunderfahrung in den auf ihr aufruhenden Erfahrungen verloren, dann fehlt den Erfahrungen ihr Zusammenhalt, sie werden haltlos. Mit dem Einbruch der Erfahrungen geht darüber hinaus der Zusammenhalt der Situationen und sogar der innere Bezug der Umstände in der einzelnen Situation verloren. Die Welt zerfällt. Das Gleiche gilt selbstverständlich für das menschliche Leben. Wenn wir daran denken, dass wir die vielfältigen Erfahrungen unseres Lebens nur deswegen als zu uns gehörig erfahren können, weil wir sie auf dem Boden einer gemeinsamen Grunderfahrung (unserer Persönlichkeit) machen, dann wird klar, dass wir mit dem Einbruch der Grunderfahrung jeglichen Halt verlieren, ja dass wir uns selbst verlieren. Nun, Grunderfahrungen gibt es in verschiedenen Dimensionen. Sicherlich ist die Erfahrung, im Wasser nicht mehr stehen zu können, weniger einschneidend als der Verlust der Welt oder der Verlust der eigenen Persönlichkeit (obgleich das nur rückblickend von der Erfahrung, schwimmen zu können, aus gesehen richtig ist; der Einbruch selbst bedroht auch bei diesem Beispiel die Existenz). Grunderfahrungen kann es aber nur deshalb in verschiedenen <?page no="108"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 108 Dimensionen geben, weil manche Grunderfahrungen von weiteren Grunderfahrungen unterfangen werden. So stellt die Erfahrung, dass Wasser tragen kann, in der Regel nicht die Grunderfahrung dar, die den roten Faden unseres ganzen Lebens bildet (obgleich auch das im Einzelfall möglich ist); das Leben ist vielschichtig und bunt und so kommen andere Grunderfahrungen hinzu - sie können aber nur dann gemeinsam ein Leben strukturieren, wenn sie ihrerseits als zusammengehörig erfahren werden, also von weiteren Grunderfahrungen unterfangen werden. Dort, wo Grunderfahrungen nicht von weiteren Grunderfahrungen unterfangen (und gleichsam aufgefangen) werden, stürzen wir deshalb in den Abgrund. Mit den Grunderfahrungen seines Lebens verliert der Mensch eben auch sich selbst. Umgekehrt gewinnt sich der Mensch mit dem Aufgang einer neuen Grunderfahrung auch selber anders und von neuem. Schon der Durchbruch vom Üben zum Können, sei dies beim Schwimmen, in der Mathematik oder sonst wo, hebt den Menschen über sich selbst hinaus und eröffnet ihm zugleich mit neuen Erfahrungsräumen auch ein neues Bewusstsein seiner selbst; er gewinnt im Wortsinne neues Selbstbewusstsein. Mit seiner Analyse der Grunderfahrung hat Stenger nun einen Weg gewiesen, wie wir der interkulturellen Situation, in der wir stehen, philosophisch begegnen können. Kulturen, das hat bereits Husserl deutlich gesehen, sind historisch gewachsene Erfahrungszusammenhänge, durch die eine Gruppe von Menschen, die in einem engeren Kontakt miteinander stehen (etwa eine Sprachgemeinschaft), eine gemeinsame Lebenswelt ausbilden (und zwar zunächst in der Gestalt einer »Heimwelt«). Auch diese kulturellen Erfahrungszusammenhänge ruhen auf Grunderfahrungen auf. Es muss sich ein innerer Zusammenhang herausbilden, der in Form einer einzelnen oder auch mehrerer Grunderfahrungen den gesamten kulturellen Entwicklungsprozess begleitet. Das bedingt, dass der Sinn der Erfahrungen, die in einer kulturellen Lebenswelt gemacht werden, nur vor dem Hintergrund der entsprechenden Grunderfahrung so nacherfahren werden kann, wie er in der Lebenswelt selbst erfahren wird. Er kann von anderen kulturellen Lebenswelten aus, die auf anderen Grunderfahrungen aufruhen, also nicht nacherfahren werden. Darin liegt die Differenz der verschiedenen kulturellen Lebenswelten begründet. Sie sind nicht ineinander übersetzbar. Auch die Tatsache, dass die andere kulturelle Lebenswelt als fremd erfahren wird, führt eben nicht über die eigene Kultur hinaus, findet doch auch die Fremderfahrung auf dem Boden der eigenen Grunderfahrungen statt. Die einzelne kulturelle Lebenswelt lässt sich deshalb sehr gut nach dem hermeneutischen Modell beschreiben. Jede Erfahrung, auch die Fremderfahrung, ist eine Fortführung und Klärung des eigenen Erfahrungszusammenhangs, eine Bestätigung der eigenen Grunderfahrungen. Es gibt kein Außerhalb bzw., richtiger, <?page no="109"?> Philosophie der Erfahrung 109 es gibt das Außerhalb nur als Außerhalb des eigenen Innen, also als situative bzw. kulturelle Erfahrung von Welt. »›Welt‹, so könnte man sagen, ist der geheime und doch offenbare Grundzug aller ›Erfahrung‹, die im Grunde immer auf die Öffnung ihrer eigenen Tiefenschichten und Vieldimensionalitäten hin tendiert, also geradezu auf ›Grunderfahrung‹ hin angelegt ist.« 105 Die andere Kultur dagegen erschließt sich grundsätzlich nicht in ihrem eigenen Sinn, das ist der Grund dafür, dass sie als fremd erfahren wird. In ihrer Eigenheit bleibt sie verschlossen, darin liegt die Hermetik der kulturellen Lebenswelten. 106 Allerdings ist es grundsätzlich möglich, auch in die Grunderfahrung einer anderen Kultur einzubrechen. Dann allerdings wandelt sich alles, nicht nur die »Weltansicht«, sondern auch das Selbst und mit ihm die Erfahrung der eigenen Kultur, die nun ihrerseits als fremd erfahren wird. Mit dem Einbruch in die Grunderfahrung einer anderen Kultur geht eine neue Welt auf, ist die Erfahrung doch die Weise, wie die Umstände einer Situation auf einen Innenpunkt hin bezogen und so allererst als Situation konstituiert werden. Situation aber vermittelt Welt, Welt ist nur qua Situation gegeben. ›Es gibt‹ also immer nur die eine Welt, in der wir leben, und in diese gehören alle verschiedenen kulturellen Lebenswelten mit hinein. In welcher Welt wir leben, aber hängt von den jeweiligen Grunderfahrungen ab. »Universalisierung im Plural«. Damit wird der interkulturelle Dialog zu einem Gespräch der Welten, Stenger spricht davon dass die Interkulturalität in dieser Dimension eigentlich eine »Intermundaneität« ist. Ein solches Gespräch zielt nun aber gerade nicht darauf ab, den anderen besser zu verstehen, Gemeinsamkeiten zu benennen und Differenzen zu überwinden. Welten stehen nicht nebeneinander und sie können deshalb auch weder zusammenkommen noch über ein Allgemeines vermittelt werden. Im Gespräch der Welten geht es um etwas anderes, nämlich darum, den Weltcharakter der einzelnen Kulturen zu erfahren. Die Betonung liegt dabei auf dem Erfahren. Wenn der Weltcharakter nicht erfahren, sondern bloß postuliert wird, fällt der ganze Ansatz wieder auf das Niveau einer Dichotomie von Universalismus versus Relativismus zurück. Der Weltcharakter der Kulturen gründet nicht darin, dass diese umfassende Entitäten wären. Das sind sie nicht. Der Weltcharakter der Kulturen gründet dagegen gerade in ihrer Haltlosigkeit - oder, positiv ausgedrückt, in ihrer Unbedingtheit. Gerade weil Kulturen auf Grunderfahrungen aufruhen, die nicht selbst irgendwo verankert 105 Stenger 2006, S. 638. 106 Zur Auseinandersetzung von philosophischer Hermeneutik und Hermetik vgl. Rombach 1991. <?page no="110"?> Ansätze und Methoden interkultureller Philosophie 110 sind, sondern die sich der Konstitution durch gelebte Erfahrung verdanken, begegnen sie sich als unbedingte. Kulturen sind ihre je eigene Selbsterfahrung. Freilich werden die Unbedingtheit und Haltlosigkeit der eigenen Grunderfahrungen üblicherweise eben nicht erfahren. Die Grunderfahrungen stellen ja gerade den sicheren Boden aller Erfahrung dar. Es braucht deshalb die Begegnung mit anderen Kulturen - und zwar auf der Ebene der Grunderfahrungen, um auf die Jeweiligkeit der Grunderfahrungen und den Weltcharakter jeder einzelnen Kultur aufmerksam zu werden. »Ihre Grunderfahrungen wollen gehoben sein, denn nur so vermögen sich die Welten gegenseitig zu antworten und sich als Welten zu begegnen.« 107 Die Begegnung der Kulturen ereignet sich als (zeitweiser) Einbruch in andere kulturelle Grunderfahrungen. Mit den Grunderfahrungen einer anderen Kultur geht zugleich eine neue Welt auf. »Weltenbegegnung geschieht nur als Weltenerfahrung […].« 108 Zugleich offenbart nur die Erfahrung des Einbruchs auch die Unbedingtheit der eigenen Grunderfahrungen. Für diesen Einbruch in andere kulturelle Grunderfahrungen zu üben und so die Unbedingtheit der verschiedenen Grunderfahrungen sehen zu lernen, darin liegt die Aufgabe interkultureller Philosophie. Eine Anmerkung noch: Man kann mit gutem Recht fragen, weshalb die Mehrdimensionalität von Grunderfahrungen ausgerechnet in der Dimension kultureller Lebenswelten enden soll. Warum kann es keine weitere, die Differenz der kulturellen Lebenswelten unterfangende Grunderfahrung geben? Die Antwort lautet schlicht: Es kann sie sehr wohl geben, aber wie jede Grunderfahrung muss sie erfahren werden, wir können sie nicht voraussetzen. Und an eben diesem Punkt stehen wir heute. Wir leben in der interkulturellen Situation, d. h. wir sind dabei, in einem vermutlich noch langwierigen Prozess so etwas wie eine gemeinsame Grunderfahrung der verschiedenen kulturellen Lebenswelten zu erfahren. Der Verweis auf anthropologische Konstanten oder die Einheit der Vernunft hilft dabei freilich nicht. Im Gegenteil, ein solcher Verweis stellt sich der Erfahrung zumeist nur in den Weg, weil er sie für unnötig hält. Und eine letzte Anmerkung: Wenn die gesuchte Grunderfahrung, die wir in der interkulturellen Situation derzeit machen, tatsächlich darin liegen sollte, den Weltcharakter der kulturellen Grunderfahrungen zu sehen, weshalb konnte diese Erfahrung dann nicht in anderen Dimensionen längst gemacht werden? Alle Erfahrung ist welthaft, nicht nur die Grunderfahrung einer kulturellen Lebenswelt. Die Antwort auf diese Frage scheint mir sehr viel schwieriger zu sein und ich möchte hier nur einen Hinweis darauf geben, in welche Rich- 107 Stenger 2006, S. 651. 108 Ebd. <?page no="111"?> Philosophie der Erfahrung 111 tung weiterzudenken sich lohnen könnte. Zur Geburtsstunde Europas gehört (wenn auch nur rückblickend, wie das bei jedem Anfang einer Grunderfahrung der Fall ist) die vorsokratische Philosophie, in der, wie Platon und Aristoteles es nennen, das Staunen über die verborgene Zusammengehörigkeit der vielfältigen Dinge und Lebewesen aufbricht und die Menschen fortan auf den Weg der Erforschung eben dieser Zusammengehörigkeit setzt. Es ist der Beginn von Philosophie und Wissenschaft. Es ist aber auch die Entdeckung von Welt. Heraklit gilt als derjenige, der den Begriff des Kosmos erstmals verwendete, um damit die verborgene Zusammengehörigkeit zu benennen, die in den Dingen aufscheint. 109 Weil die Entdeckung von Welt am Anfang der europäischen Kulturgeschichte steht, deshalb kann erst heute, da angesichts der interkulturellen Situation die Grunderfahrungen der eigenen kulturellen Lebenswelt auf dem Spiel stehen und als durch Erfahrung konstituiert erfahren werden, der Weltcharakter aller Erfahrung erfahren werden. 109 Vgl. dazu Held 2013c, S. 99. <?page no="112"?> 3 | Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie Die Menschen einer kulturellen Lebenswelt, so haben wir im letzten Kapitel gesehen, teilen bestimmte Grunderfahrungen. Das scheint eigentlich selbstverständlich zu sein, und doch ist es bislang kaum gesehen, geschweige denn philosophisch fruchtbar gemacht worden. Stattdessen werden Kulturen irgendwelche Eigenschaften zugeschrieben, die sie angeblich gegenüber anderen auszeichnen. Derartige Zuschreibungen führen zu mindestens zwei schwerwiegenden Problemen: Zum einen setzen sie einen Adressaten voraus, es wird also angenommen, dass es eine Entität ›Kultur‹ gibt, der die jeweiligen Eigenschaften zukommen. Kulturen sind aber keine Entitäten, sondern gelebte Erfahrungszusammenhänge. Zum anderen ist nicht klar, wie sich die jeweiligen Eigenschaften ändern können; sie werden einer Kultur deshalb nicht nur pauschal zugeschrieben, sondern sie scheinen ihr auf alle Zeiten anzuhängen. Das ist nun aber definitiv nicht der Fall. Kulturen unterliegen selbstverständlich einem geschichtlichen Wandel. Man entgeht diesen Schwierigkeiten, wenn man Kulturen in ihrer gelebten Wirklichkeit ernst nimmt. Sie sind keine eigenständigen Entitäten, an denen die Menschen teilhätten oder an die sie im Extremfall gar gebunden wären. Stattdessen sind Kulturen so etwas wie Erfahrungsgemeinschaften. Menschen teilen immer und überall Erfahrungen, entweder weil sie sie zusammen machen oder weil sie sie untereinander austauschen. Die Möglichkeit, Erfahrungen zu teilen, ist aber nur auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen gegeben. Das klingt trivial, ist aber von entscheidender Bedeutung. Erfahrungen lassen sich nicht auf rein begrifflicher oder intellektueller Ebene teilen, sondern nur auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen. Dort, wo sie gemeinsam gemacht werden, ist das klar. Aber wir können eben auch Erfahrungen austauschen, die wir nicht gemeinsam gemacht haben. Ein solcher Austausch setzt allerdings seinerseits bereits einen gemeinsamen Erfahrungsboden voraus. Wenn ich ein Haus von vorne betrachte, kann ich mir von jemand anderem berichten lassen, wie es von hinten aussieht. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie andere Häuser von hinten aussehen, und kann den Erfahrungsbericht meines Gesprächspartners darum problemlos einordnen. Nehmen wir nun an, ich sei eingefleischter Fußballfan. Dann werde ich den <?page no="113"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 113 Bericht eines Freundes über ein Fußballspiel, das er gesehen, ich aber leider verpasst habe, problemlos verstehen. Schwieriger wird es vielleicht schon, wenn mir jemand von einem Handballspiel erzählt. Habe ich damit keine eigenen Erfahrungen, werde ich schon mit der hohen Zahl an Toren, die in diesem Spiel fallen, wenig anfangen können. Erzählt mir ein Dritter begeistert von seinem Theaterbesuch, so werde ich möglicherweise schon reichlich verständnislos reagieren. Wenn es sich dabei um den Besuch eines No-Theaters handelt, dann, so die Vermutung, werde ich vollends aussteigen. Als etwas einseitig ausgerichtetem Fußballfan fehlt mir jede Erfahrungsgrundlage, von der aus ich die Erfahrungen, von denen mir berichtet wird, einordnen oder gar nachvollziehen könnte. Der Austausch von Erfahrungen setzt aber eine gemeinsame Erfahrungsgrundlage voraus. Um sie zu teilen, muss man ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Das lässt sich auch so ausdrücken: Um Erfahrungen, von denen andere berichten, nachvollziehen zu können, muss man mit dem entsprechenden Typ von Erfahrungen selbst Erfahrung haben. Man benötigt Erfahrung mit (bestimmten) Erfahrungen. Die Erfahrung von Erfahrung ist das, was ich im Anschluss an Rombach und Stenger als Grunderfahrung bezeichne. 1 Der gemeinsame Erfahrungsboden bzw. die geteilten Grunderfahrungen müssen durch Erfahrung gewonnen werden. Das heißt nichts anderes, als dass sich gemeinsame Grunderfahrungen dort ausbilden, wo Menschen in einem lebendigen Lebenszusammenhang miteinander stehen. Sie müssen tatsächlich gemeinsame Erfahrungen machen, um auf dieser Grundlage auch weitere Erfahrungen untereinander austauschen und einander mitteilen zu können. Eine kulturelle Lebenswelt entsteht im Laufe der Geschichte aus einem solchen lebendigen Erfahrungszusammenhang. Mit der Zeit wird dieser Zusammenhang natürlich loser. Je größer die Gruppe, die gemeinsame Grunderfahrungen teilt, desto seltener macht sie diese Erfahrungen wirklich noch gemeinsam. Dennoch können auch in einer größer werdenden Gesellschaft weiterhin Erfahrungen ausgetauscht werden. Das geht aber nur, weil sich in der Zwischenzeit auf dem Boden der gemeinsamen Grunderfahrungen Medien ausgebildet haben, die alle weitere Erfahrung vermitteln. An erster Stelle ist das die Sprache, die eben keinesfalls nur Instrument für die Übermittlung von Informationen ist, sondern so etwas wie die intersubjektive Inkarnation des Denkens. In diesem Sinne spricht Merleau-Ponty von der Sprache als dem »Leib des Denkens«: »Ich greife zu einem Wort, wie meine Hand an eine plötzlich schmerzende Stelle meines Körpers fährt; das Wort hat eine bestimmte Stelle in meiner sprachlichen Welt […].« Und die ist intersubjektiv geteilt: »In Gestalt der ver- 1 Rombach 1988. Stenger 2006. Vgl. auch Kap. 2.3. <?page no="114"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 114 fügbaren Bedeutungen, d. h. auf Grund vorangegangener Ausdrucksakte, besitzen die sprechenden Subjekte eine gemeinsame Welt […].« 2 Mit dem Erlernen der Sprache lernen wir darum zugleich, uns auf dem ihr entsprechenden Erfahrungsboden zu bewegen. Neben der Sprache drücken auch die Werte einer Gesellschaft Erfahrungen aus, die nicht immer alle gemeinsam gemacht haben, die aber doch eine selbstverständliche Grundlage des Zusammenlebens darstellen. Heute ist viel von Wertegemeinschaften die Rede. Die Werte sind an die Stelle ethnischer oder, so es sich um säkulare Werte handelt, zum Teil auch an die Stelle religiöser Bindekräfte der Gesellschaft getreten. Wer unsere Werte teilt, kann Mitglied unserer Gesellschaft sein. Die Werte sind freilich selbst Ausdruck von Erfahrungen und so stellen auch sie ähnlich wie die Sprache ein Medium für den Bezug des Menschen zur Welt dar. Die verschiedenen Medien vermitteln unsere Erfahrungen von der Welt; dadurch können Grunderfahrungen auch dann den Boden des gesellschaftlichen Miteinanders darstellen, wenn sie aufgrund der Größe der Gesellschaft nicht mehr laufend gemeinsam wiederholt werden. Zugleich zeigt sich hier, dass die Grunderfahrungen etwa durch einen Wandel der Werte selbst für Veränderung offen bleiben. Die verschiedenen kulturellen Lebenswelten unterscheiden sich also durch die jeweiligen Grunderfahrungen, die die Menschen im Laufe der Zeit innerhalb einer jeden dieser Lebenswelten ausgebildet haben. Nun haben wir das letzte Kapitel mit der Frage beendet, ob es angesichts der Mehrdimensionalität von Erfahrungen und Grunderfahrungen denkbar ist, dass es jenseits der Grunderfahrungen der verschiedenen kulturellen Lebenswelten noch eine weitere, die Differenz dieser kulturellen Lebenswelten unterfangende Grunderfahrung geben kann. Schließlich sind prinzipiell auf jeder beliebigen Ebene gemeinsame Erfahrungen möglich. Allerdings gibt es dafür zwei entscheidende Voraussetzungen: Die erste lautet, wie bereits angemerkt, dass es eine solche Grunderfahrung nur geben kann, wenn sie tatsächlich erfahren wird. Die Grunderfahrung ist selbst eine Erfahrung; sie kann verschiedene kulturelle Lebenswelten deshalb nur dann vermitteln, wenn sie auch wirklich erfahren wird. Es reicht nicht aus, sich auf die theoretische Möglichkeit einer solchen Erfahrung zu berufen; sie muss tatsächlich gemacht werden. Die verschiedenen kulturellen Lebenswelten sind gelebte Erfahrungszusammenhänge; als solche sind sie nicht über ein Allgemeines vermittelt, sondern müssen über gemeinsame Erfahrungen zusammenkommen. Das heißt, dass die Erfahrung selbst wirklichkeitsstiftend ist. Auch die Fremderfahrung, in der ja 2 Merleau-Ponty 1966, S. 214-221. <?page no="115"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 115 tatsächlich ein erfahrungsmäßiger Bezug zur fremden kulturellen Lebenswelt gegeben ist, vermag nicht, den Wirkungskreis der eigenen Grunderfahrungen auf eine neue Grunderfahrung hin zu überschreiten. Die Fremderfahrung hält zwar die Grunderfahrungen, auf deren Boden sie statthat, offen für Veränderungen. Eine die verschiedenen kulturellen Lebenswelten unterfangene Grunderfahrung aber kann auf diesem Boden nicht erfahren werden. Sie muss von den verschiedenen kulturellen Lebenswelten gemeinsam erfahren werden. Und genau das ist bei der Fremderfahrung ja gerade nicht der Fall, wird das Fremde in ihr doch als entzogen erfahren. Der Hiatus zwischen den verschiedenen kulturellen Lebenswelten ist deshalb so lange absolut, wie sie sich nicht in gemeinsamer Erfahrung begegnen, und er wird auch durch die Fremderfahrung nicht überwunden. Und doch ist eine gemeinsame Grunderfahrung jederzeit möglich. Sie ist freilich nicht deshalb möglich, weil sie immer schon möglich war, sondern nur dann, wenn sie in der Begegnung der Kulturen als Möglichkeit erfahren wird. Die Dichotomie von Identität und Differenz greift hier nicht. Die zweite Voraussetzung für die Möglichkeit einer gemeinsamen Grunderfahrung liegt darin, dass diese Erfahrung in der interkulturellen Dimension gemacht wird. Gemeinsame Erfahrungen lassen sich zwischen verschiedenen kulturellen Lebenswelten auf allen möglichen Ebenen machen. Im Bereich von Wirtschaft und Handel beispielsweise gibt es ganz selbstverständlich kulturübergreifenden Kontakt und werden zahlreiche gemeinsame Erfahrungen gemacht. Andernfalls könnten wir z. B. gar nicht von so etwas wie einer Weltwirtschaftskrise sprechen. Oder im Bereich des Sports. Dieser Bereich ist für die Begegnung der verschiedenen kulturellen Lebenswelten sogar ganz besonders wichtig, weil das Miteinander im Sport von Fairness und wechselseitigem Respekt geprägt ist. Auch in der Wissenschaft, der Musik, dem Informationsaustausch im Internet und in vielen anderen Bereichen kennen wir ganz selbstverständlich einen Austausch, der nicht an den Grenzen kultureller Lebenswelten Halt macht. Nirgendwo aber reicht dieser Austausch bis in die Dimension kultureller Grunderfahrungen hinab. Vielleicht kommt die musikalische Begegnung dieser Dimension noch am nächsten. Über die Musik fällt es uns noch am Leichtesten, in eine andere Kulturwelt einzutauchen und diese in der ihr eigenen Stimmigkeit zu erfahren. Die musikalische Begegnung der Kulturen hat deshalb bekanntermaßen in der Vergangenheit schon zu zahlreichen spannenden Entwicklungen geführt. Innerhalb der verschiedenen Traditionen entwickeln sich die Musikstile weiter, indem einzelne Elemente aus anderen Traditionen übernommen oder eigene Anlagen erst voll entfaltet werden. Zugleich entstehen auch neue Stilrichtungen, die ihre Wurzeln in mehreren Traditionen haben. All das aber ohne die verschiedenen Richtungen und Stile einfach zu <?page no="116"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 116 mischen und in einer simplen Mixtur aufzulösen. Ähnliche Entwicklungen kennen wir aus dem Bereich der bildenden Kunst, sehr früh z. B. schon bei Picasso und Gauguin, die in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen eigene neue Stile entwickelten, die nun aber nicht jenseits der kulturellen Traditionen stehen, sondern im Gegenteil in diesen Traditionen neue Dimensionen eröffnen. 3 Die Kunst ist darin Avantgarde, dass sie die jeweiligen kulturellen Lebenswelten auf die in ihr liegenden Möglichkeiten hin anspricht und öffnet. Und das geschieht immer wieder auch in Auseinandersetzung mit fremden kulturellen Lebenswelten, gleichsam als eine Antwort auf Entdeckungen in der Fremde. Noch etwas leichter fällt es uns beim Essen, die Erfahrungen anderer Kulturen nachzuvollziehen. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass sich Geschmäcker unterscheiden; auch haben wir in der Vergangenheit immer wieder andere Esskulturen aufgenommen und in unsere eigene integriert. Das führt zu vergleichsweise großer Offenheit gegenüber solchen Esskulturen, die uns auch heute noch fremd sind. Einen letzten Bereich möchte ich hier nennen, in dem der kulturübergreifende Erfahrungsaustausch besser funktioniert, als erwartet und auf den ersten Blick ersichtlich. Und zwar den Bereich der Religionen bzw. der religiösen Erfahrungen. Auf den ersten Blick scheinen die Religionen besonders unversöhnlich gegeneinander zu stehen. Wenigstens die monotheistischen Religionen behaupten jede für sich, den einen absoluten Gott erfahren zu haben, neben dem es keinen weiteren geben kann. In eben dieser Erfahrung freilich kommen sie überein. Es ist nun aber nicht einfach derselbe Gott, zu dem in den drei großen abrahamitischen Religionen gebetet wird. Darin läge eine Relativierung der Religionen, die die jeweiligen Offenbarungserfahrungen nicht ernst nimmt. In den verschiedenen Religionen hat sich aber ein Gespür dafür erhalten, dass es beim Glauben wesentlich auf die Glaubenserfahrung ankommt; weniger auf ein Wissen und noch weniger auf bloßen Gehorsam. Sicher, in den verschiedenen Kirchen mag die Glaubenserfahrung gelegentlich von allzu viel Dogmatik nahezu erstickt werden. Das wiederum macht den Dialog zwischen den Religionen dann sehr schwierig. Dort aber, wo die Erfahrungen selbst noch lebendig sind und immer wieder auch an die Oberfläche durchbrechen, begegnen sich die verschiedenen Religionen mit großem Respekt. Es geht dann nicht um richtig oder falsch, sondern um die Wirklichkeit der Erfahrung. Sehr viel schwieriger gestalten sich dagegen die kulturübergreifenden Erfahrungen in allen vernunftgeleiteten Bereichen. Das liegt zunächst einmal daran, dass sich die Vernunft der klassischen Vorstellung nach nicht der Erfahrung verdankt. Ja, es scheint geradezu so zu sein, dass die Vernunft gegen bloße 3 Vgl. dazu auch Stengers Hinweise zu Picassos Les Demoiselles d’Avignon. Stenger 2006, S. 503. <?page no="117"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 117 Erfahrung steht und vernünftige Erkenntnisse anders als aus Erfahrung gewonnene Einsichten allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. Darin eben liegt der Sieg des Logos über den Mythos, mit dem die Philosophie anhebt und das wissenschaftliche Denken begründet. Dieses Denken hat sich in den zurückliegenden zweieinhalb Tausend Jahren nicht nur gehalten, sondern immer weiter gefestigt; es hat dazu geführt, jene Bereiche, die stärker an der Bedeutung von Erfahrungen festhielten, kritischer zu sehen und ihnen einen untergeordneten Platz im Gesamt des Weltverständnisses zuzuordnen. Von der Annahme einer erfahrungsunabhängigen Vernunft aus gesehen, erscheint alle Erfahrung notwendiger Weise als vorläufig, standortgebunden und bloß subjektiv. Die Vernunft dagegen tritt als zeitlos, allgemein und über-individuell auf. Wahre Erkenntnis muss sich darum vernünftig ausweisen lassen und darf sich nicht allein auf Erfahrung berufen. Folgerichtig finden sich die stark erfahrungsgeleiteten Lebensbereiche heute eher am Rand unseres Lebens wieder. Kunst und Musik müssen sich damit begnügen, so etwas wie die Begleitmusik des eigentlichen Lebens zu spielen. Sie dienen dem Schmuck, der Entspannung und der Abwechslung, was sich darin zeigt, dass wir uns diesen Bereichen bevorzugt nach Feierabend oder an Sonntagnachmittagen widmen. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass es uns zur Gewohnheit geworden ist, die Kultur gleich im Ganzen in den Freizeitbereich zu verdrängen. Wenn heute von Kultur die Rede ist, dann ist damit zumeist ein Angebot gemeint, das außerhalb des alltäglichen Arbeitslebens und des verbindlichen Weltverständnisses steht. Im Bereich der Kultur ist vieles erlaubt, was sonst nicht möglich wäre; aber nur deshalb, weil sie dem Bereich bloßer Erfahrungen zugehört und folglich ohnehin nicht verbindlich ist. Verbindlich sind dagegen die Erkenntnisse der Wissenschaften, die wirtschaftlichen Erfordernisse und der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« (Habermas, vgl. Kap. 2 . 1 . 1 ). Diese Unterscheidung ist für das europäisch-westliche Selbst- und Weltverständnis von entscheidender Bedeutung. Sie ist auch die Grundlage dafür, wie man anderen Kulturen begegnet: Die Unterschiedlichkeit der Erfahrungszusammenhänge wird selbstverständlich respektiert, und das einschließlich aller sich daraus ableitenden Handlungsbesonderheiten - sei es im Bereich des Glaubens, der Lebensgestaltung oder der kulturellen Überlieferung. Alle vernunftgeleiteten Bereiche dagegen gelten als allgemein verbindlich, in ihnen sieht man darum auch die entscheidenden Brücken, die sich zwischen den verschiedenen Kulturen schlagen lassen bzw. einen Bereich, der die kulturellen Besonderheiten übersteigt und deshalb transkultureller oder, richtiger, a-kultureller Natur ist. Nun macht bereits Kant deutlich, dass Vernunft und Erfahrung nicht einfach unabhängig voneinander bestehen. Freilich gründet er die Erfahrung einseitig in der Vernunft, was die Vorherrschaft der Vernunft nur weiter zemen- <?page no="118"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 118 tiert. Dennoch ist mit Kant die Dichotomie aufgebrochen und so kann es nicht verwundern, dass in seiner Nachfolge auch die Frage nach der Gründung der Vernunft in der Erfahrung immer lauter wird. Fichte und Hegel bereits erkennen, dass sich die Vernunft nur selbst begründen kann, dass sie das freilich auch tatsächlich tun muss. Die Vernunft kommt darum nur über den Umweg der Setzung eines Gegenübers, eines Nicht-Ich bzw. des Anderen zu sich selbst. Ja, Vernunft ist überhaupt nur im Prozess der Selbstsetzung vernünftig, es gibt sie nicht jenseits dieses Prozesses; sie muss aufgehen und sich zeigen, um real zu sein. Das ist die Geburtsstunde der Phänomenologie des Geistes. Ist die Phänomenologie bei Hegel noch als Evolution (i. S. von Ausrollung, Entfaltung) verstanden, so zeigt die Phänomenologie im 20 Jahrhundert, dass sich die Vernunft selbst der Erfahrung verdankt. Husserl spricht explizit von »transzendentaler Erfahrung«. 4 Damit wird nun freilich nicht Kants Beschreibung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Erfahrung und Vernunft einfach umgekehrt. Vielmehr bleibt die Vernunft der Erfahrung insofern vorgängig, als das Erfahrene seinen Sinn der Synthesisleistung der Vernunft verdankt. Die Synthesisleistung besteht aber nicht im »Aneinandergeklebtsein« 5 verschiedener Erfahrungen, sondern in der Verdichtung der strömenden Erfahrung auf einen einzelnen Akt hin. Das bedeutet, dass die Synthesis einen zeitlichen Charakter hat, Husserl spricht von »Appräsentation« (Mitvergegenwärtigung), inhaltlich aber durch den Erfahrungsstrom bestimmt bleibt. Das Apriori der Vernunftleistung besteht darum nicht unabhängig vom konkreten Erfahrungsstrom und ist dennoch Voraussetzung für das in diesem Strom Erfahrene. Das Kantische Apriori wird bei Husserl zum »Korrelationsapriori«. 6 Fortan besteht die Phänomenologie in der Aufklärung und Analyse einzelner Erfahrungszusammenhänge und der diesen jeweils korrelierenden Vernunftleistungen. Erfahrung und Vernunft bedingen sich wechselseitig. Dann aber steht der Logos eben auch nicht einfach gegen den Mythos. Vielmehr zeigt sich rückblickend, dass der Logos den Mythos auf eine neue Stufe hebt dadurch, dass er die Vernunft im Mythos entdeckt und ihn so der vermeintlichen Beliebigkeit entreißt. Umgekehrt bedeutet das, dass sich auch der Logos keinesfalls über alle Erfahrung erhebt. Er verdankt sich selber einer Erfahrung - und zwar der Erfahrung, dass in aller Erfahrung Vernunft steckt. Der Logos steht für die Erfahrung der Vernünftigkeit aller Erfahrung. Mit der Einsicht in den inneren Zusammenhang von Erfahrung und Vernunft stößt die Philosophie tatsächlich in den Bereich einer wichtigen Grund- 4 Husserl 1963, S. 178. 5 Ebd., S. 79. 6 Husserl spricht in der Krisis-Schrift vom »universalen Korrelationsapriori von Erfahrungsgegenstand und Gegbenheitsweisen«. Husserl 1962a, Fußnote S. 169. <?page no="119"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 119 erfahrung des europäisch-westlichen Denkens vor. Die Entdeckung des Logos in der vorsokratischen Zeit markiert nicht nur den Beginn unserer Philosophiegeschichte, sondern prägt ganz wesentlich das Selbst- und Weltverständnis der europäisch-westlichen Kulturwelt. Mit der Einsicht in die Zusammengehörigkeit von Vernunft und Erfahrung wird diese Grunderfahrung keinesfalls revidiert; das Entscheidende ist, dass sie damit als Erfahrung gesehen und nicht einfach vorausgesetzt wird. Das öffnet den Blick für andere Grunderfahrungen und damit für die interkulturelle Situation, in der wir heute stehen. Die Philosophie muss selbst in die interkulturelle Dimension vorstoßen, um auf die Herausforderungen der interkulturellen Situation angemessen reagieren zu können. Kulturkontakte gab es freilich immer, aber sie haben die Philosophie nie in dem Maße herausgefordert, wie sie das heute tun. Vor allem aber ist die Philosophie nie in dem Maße bereit dazu gewesen, sich dieser Herausforderung zu stellen. Und das deshalb, weil die Philosophie selber erst in die interkulturelle Dimension vorstoßen musste, um die Herausforderungen, die sich in der heutigen Situation stellen, überhaupt sehen zu können. Dass man der Tatsache einer Pluralität kultureller Traditionen und Lebenswelten auch in anderen Dimensionen begegnen kann, haben wir im letzten Kapitel gesehen. Die These dieses Kapitels lautet also, dass es einen inneren Gang des philosophischen Denkens gibt und dass die interkulturelle Dimension die Gegenwart dieses Ganges darstellt. Das bedeutet, dass in der Begegnung der verschiedenen kulturellen Lebenswelten heute die Ausbildung einer gemeinsamen Grunderfahrung auf dem Spiel steht. Wenn die Begegnung gelingt, d. h. tatsächlich bis in die interkulturelle Dimension hinabreicht, dann erfahren sich die Kulturen darin wechselseitig als unbedingt und welthaft. Die Aufgabe der Philosophie besteht nun darin, an dieser Erfahrung mitzuwirken. Damit wird sie »tätige Philosophie«. 7 So geht die europäisch-westliche Philosophie, die für die Grunderfahrungen unserer Kultur - wie ich in diesem Kapitel zeigen möchte - eine wichtige Rolle spielt, heute über ihre eigene Tradition hinaus auf andere Kulturen zu und gewinnt sich in dieser Begegnung zugleich selbst überhaupt erst als die, die sie immer schon war. Es geht deshalb auch darum deutlich zu machen, wie die gegenwärtige interkulturelle Situation, in der wir stehen, zur Selbstklärung der Philosophie beiträgt. Interkulturalität ist die Gegenwart der Philosophie. Dass die Interkulturalität tatsächlich die Gegenwart der Philosophie ist, wird freilich keinesfalls überall so gesehen. Zumeist wird Interkulturalität in der 7 Rombach 1962 / 1988, s. darin bes. Kap. II , S. 23 36. <?page no="120"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 120 Philosophie heute noch als eine bloße Erweiterung des Diskursfeldes verstanden. Die fortschreitende Internationalisierung des wissenschaftlichen Arbeitens macht auch vor der Philosophie nicht halt. Das führt dazu, dass Forscher aus aller Welt in einen Austausch über philosophische Sachprobleme treten. Dabei bleiben die Sachfragen selbst häufig unverändert, lediglich die Gemeinde der Wissenschaftler erweitert sich. So ist die Kantforschung in vielen Teilen der Welt sehr rege, in Japan oder dem Iran ebenso wie in den USA und in Europa. Zunehmend sieht sich die Philosophie aufgrund der Internationalisierung natürlich auch mit Denkern und Traditionen konfrontiert, die bislang allenfalls ganz am Rande Aufmerksamkeit gefunden haben. Aus Indien etwa werden die Veden, der Buddhismus, der Jainismus und der Hinduismus sowie das Denken eines Nagarjuna oder eines Samkara in die Philosophie eingebracht. Aus China der Konfuzianismus mit seinen verschiedenen Schulen und der Daoismus. Aus Japan der Zen-Buddhismus und die moderne japanische Philosophie, wie sie uns etwa in der Philosophie der Kyoto-Schule begegnet. Aus Schwarzafrika kommt eine orale Philosophie und aus Lateinamerika kommen postkoloniale und befreiungsphilosophische Ansätze, um nur einige zu nennen. Vor allem die östlichen Traditionen haben schon lange eine gewisse Beachtung gefunden, ohne freilich je Eingang in den philosophischen Kanon gefunden zu haben. Die Auseinandersetzung mit diesen Traditionen findet bis heute mehrheitlich in den jeweiligen Regionalwissenschaften statt. In der Philosophie finden sich allenfalls vereinzelt Experten, die zu außereuropäischen Traditionen forschen. Das liegt natürlich auch an den sprachlichen Barrieren, es hat seinen guten Grund aber vor allem darin, dass die Philosophie in erster Linie an Sachfragen arbeitet und das historische und philologische Interesse an philosophischen Traditionen dahinter zurücktritt bzw. sich vom Sachinteresse leiten lässt. Dort, wo andere Traditionen zu einzelnen Sachfragen etwas beitragen können, werden sie zunehmend rezipiert (vgl. dazu Kap. 2 . 1 . 2 ), im Ganzen aber bleiben sie nach wie vor weitgehend unbeachtet. Darin liegt nun aber eine wesentliche Verkürzung, denn die Sachfragen selbst kommen aus der Philosophie, und zwar der Philosophie, wie sie in Europa und Nordamerika betrieben wird und von dort aus auf die ganze Welt ausstrahlt. Außereuropäische Traditionen werden gewissermaßen als zusätzliche Antwortversuche auf Fragen verstanden, die in der Philosophie, so wie sie sich im Westen entwickelt hat, aufgeworfen werden. Sie stellen so etwas wie eine erweiterte Bibliothek dar, auf die Philosophen zurückgreifen können. Nun ist die wenig überraschende Feststellung die, dass sich in außereuropäischen Traditionen zwar gelegentlich sehr spannende Antworten auf Fragen finden, die sich der westlichen Philosophie stellen, dass diese Traditionen im Ganzen aber wenig zum Erkenntnisfortschritt europäisch-westlicher Philosophie bei- <?page no="121"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 121 tragen. Ja, mehr noch, in vielen Fällen wird gar diskutiert, ob es sich überhaupt um genuin philosophische Traditionen handelt oder ob man nicht eigentlich von Weltanschauungslehren und Glaubenssystemen sprechen müsste. Im Fall von Schwarzafrika verschärft sich diese Problematik noch, da es das Fehlen schriftlicher Überlieferungen fraglich werden lässt, ob sich überhaupt sinnvoll von einer eigenen Geistesgeschichte sprechen lässt. Hinzu kommt, dass Philosophie heute zunehmend a-historisch verstanden wird und sich am Objektivitätsideal der Einzelwissenschaften orientiert. Alle Traditionen, auch die europäisch-abendländische Tradition der Philosophie geraten damit in den Verdacht, schlechte Metaphysik zu betreiben i. d. S., dass sie Annahmen machen, die sie nicht objektiv ausweisen können. Die Unterscheidung verschiedener philosophischer Traditionen scheint damit weitgehend überholt, von Interesse ist einzig, wer was zur objektiven Klärung aktuell diskutierter Sachfragen beitragen kann. Internationalisierung macht da viel Sinn, Interkulturalität gar keinen. Der Versuch, die Philosophie am Objektivitätsideal der Einzelwissenschaften auszurichten, hebt sie über ihre Herkunft aus einer bestimmten Geistesgeschichte hinaus und macht sie zur universal gültigen Philosophie. Der Schritt aus der eigenen Tradition heraus stellt dabei zugleich den Schritt über alle anderen Traditionen hinaus dar. Nur, der Zug zur Objektivierung ist natürlich nicht voraussetzungslos, sondern erfordert die bewusste Ausklammerung der eigenen kulturell geprägten Wirklichkeit (sprich der kulturellen Lebenswelt), so dass sich das jeweilige Forschungsfeld verbindlich darstellen und unabhängig von den verschiedenen kulturellen Erfahrungswirklichkeiten bearbeiten lässt. Dadurch auch wird die jeweilige Fragestellung erst a-historisch. Zwar können verschiedene historische Begebenheiten eine Rolle spielen und Teil des Forschungsfeldes sein, die Forschung selber aber ist gerade nicht historisch kontingent, sondern allgemeingültig. So kann auch die Philosophie zu Fortschritten in der Erkenntnis gelangen. Das ist per se natürlich sehr begrüßenswert und tatsächlich kann eine sich derart über ihre kulturelle Herkunft erhebende Philosophie zu sehr spannenden Einsichten führen; aber es wird doch deutlich, dass es sich dabei um ein bestimmtes, noch dazu recht voraussetzungsreiches Verständnis von Philosophie handelt. Der Versuch, die Philosophie am Objektivitätsideal der Einzelwissenschaften auszurichten, markiert selbst ein modernes Verständnis von Philosophie, wie es sich seit der Neuzeit entwickelt und ausgehend von der europäisch-westlichen Tradition mittlerweile global ausgebildet hat. Dieses Verständnis hat seine eigene Berechtigung; angesichts der Pluralität philosophischer Traditionen, die uns heute begegnet, gerät es aber in ganz neue Erklärungsnot, müsste doch nun nachgewiesen werden, dass der Schritt über die Tradition/ en hinaus für alle Traditionen gleichermaßen verbindlich ist. Es ginge also nicht nur darum zu zeigen, warum sich <?page no="122"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 122 ein bestimmtes Verständnis von Philosophie von jeglicher kultureller und historischer Gebundenheit löst; sondern es müsste zudem nachgewiesen werden, dass dieses Philosophieverständnis für alle Traditionen vorbildlich und erstrebenswert ist. Genau daran freilich muss dieser Ansatz scheitern, lässt sich der Schritt aus einer geschichtlichen und kulturellen Tradition heraus hin zum ahistorischen Verständnis von Philosophie selbst doch gerade nicht bzw. erst im Nachhinein universal begründen. Anders gesagt: Vom a-historischen Verständnis der Philosophie aus gesehen, erscheinen die verschiedenen Traditionen als belanglos; das bedeutet aber eben nicht, dass dieses Philosophieverständnis von den Traditionen aus gesehen auch als vorbildlich wahrgenommen wird. So kommt es, dass die Pluralität philosophischer Traditionen für diesen Ansatz zwar belanglos ist, dass er gerade deshalb aber nicht für alle Traditionen verbindlich sein kann. Natürlich spiegelt ein solch a-historisches Philosophieverständnis nicht die ganze Wirklichkeit der gegenwärtigen Philosophie wider. In Kapitel 2 habe ich ausführlich mehrere alternative und deutlich weiterführende Ansätze vorgestellt. Vor allem die phänomenologisch-hermeneutische Tradition hat sich immer schon dezidiert gegen ein a-historisches und objektivierendes Verständnis von Philosophie gestellt. Darauf möchte ich an dieser Stelle aber nicht weiter eingehen (s. dazu auch den zweiten und dritten Abschnitt dieses Kapitels). Ich habe das a-historische Verständnis von Philosophie nur deshalb nochmals herausgestellt, weil es im Folgenden auch darum gehen muss, deutlich zu machen, wie sich dieses Verständnis seinerseits in den Gang der Philosophie einordnet. 3 . 1 Die europäischen Anfänge der Philosophie: Einheit und Vielheit Jede Hochkultur entsteht daraus, dass sie das bis dato Gegebene, den Status quo übersteigt - meist angeregt durch zahlreiche Einflüsse von außen, die dadurch, dass sie einen anderen Blick auf das Vertraute anregen und es zudem durch diverse neue Umstände ergänzen, dazu führen, dass die Menschen darin neue, bislang unentdeckte Möglichkeiten erkennen und diese zur Entwicklung bringen. Das Besondere der griechischen Hochkultur liegt vielleicht darin, dass die Griechen in eben diesem Übersteigen des Gegebenen und Vertrauten selbst das entscheidende, ihnen bis dahin aber verborgen gebliebene Moment der menschlichen Wirklichkeit entdecken. Menschsein bedeutet fortan, über das Gegebene hinauszugehen und vor allem auch sich selbst zu übersteigen. Nicht einfach nur überleben, sondern das Leben gestalten. Nicht einfach den Göttern gehorchen, sondern sich selbst in den Bereich des Göttlichen aufschwingen <?page no="123"?> Die europäischen Anfänge der Philosophie: Einheit und Vielheit 123 und dadurch überhaupt erst eigenständig handeln können. Homer (vermutlich spätes 8 . oder frühes 7 . Jahrhundert v. Chr.) besingt in der Ilias den Heros, der, halb menschlicher, halb göttlicher Abstammung, rast und alles, was sich ihm in den Weg stellt, vernichtet. Er wütet so sehr, dass ihn immer wieder Götter aufhalten müssen, um das Allerschlimmste zu verhindern, ja, er kämpft mit den ihm wohl gesonnenen Göttern gegen andere Götter, die seine Feinde unterstützen, und er ficht auf diese Weise auch den Kampf der Götter untereinander aus. Der Zorn des Heroen Achill ist das bestimmende Thema der Ilias, die immerhin eine der ältesten schriftlichen Überlieferungen der europäischen Geschichte ist und ganz sicher großen Einfluss sowohl auf das griechische Bild von den olympischen Göttern als auch auf das Heroenverständnis gehabt hat. Im Zorn, der seinen Sitz im Thymos des Menschen hat, liegt nun freilich viel mehr, als wir heute damit verbinden. 8 Die thymotischen Kräfte sind die Lebenskraft und der Mut, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Platon unterscheidet drei Teile der Seele, die in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen sollen: Da ist zum einen der vernünftige Seelenteil (logistikon); dann der muthafte (thymoeides), der für Wille und Lebenskraft steht, aber auch für Eifer und Zorn; und schließlich der begehrende Teil der Seele (epithymetikon). Nach Platon muss der Mensch bestrebt sein, die drei Seelenteile in ein harmonisches Verhältnis unter der Führung des vernünftigen Teils zu bringen. Auch wenn damit dem Logistikon eindeutig der Vorrang eingeräumt wird, scheint doch auch bei Platon noch die besondere Bedeutung des Thymos durch: Der vernünftige Seelenteil steht deshalb am Höchsten, weil er dem Menschen die Erinnerung an die Ideenschau ermöglicht und ihn dadurch am wahren Sein teilhaben lässt. Der begehrende Seelenteil dagegen steht für die irdische Ausrichtung des Menschen, seine vergänglichen Bedürfnisse und Lüste. Der muthafte Seelenteil nun verbindet diese beiden miteinander und macht sie damit überhaupt erst zu dem, was sie sind. Der Mensch ist eben vernunftbegabtes endliches Wesen und weder reine Vernunft noch ungesteuertes Triebwesen. So kommt dem Thymos auch bei Platon noch eine Schlüsselrolle zu, wenn auch nun schon in einer reiferen und zivilisierteren Gestalt. In der Homerschen Heroendichtung ist das noch sehr viel ungeklärter und gröber. Aber auch hier wird deutlich, dass der thymotische Heros denjenigen Menschen meint, der sich über das duldsame, gleichsam dem Lauf der Natur ausgelieferte Wesen erhebt und sein Geschick selbst in die Hand nimmt. Der Heros streckt sich nach den Göttern. Die Götter sind mit Macht über die Menschen ausge- 8 Vgl. dazu Sloterdijks Darstellung des Zorns des Achill in Sloterdijk 2006. Freilich würde ich keinesfalls die gleichen Folgerungen für die Gegenwart ziehen wie Sloterdijk. M. E. ist es wichtig zu sehen, dass der Thymos schon bei den Griechen gerade nicht in Gestalt des zerstörerischen und überheblichen Zorns, sondern in Gestalt der Begeisterung Bedeutung gewinnt. <?page no="124"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 124 stattet und unsterblich. Achill ist nicht so mächtig wie die Götter, aber auch er hat sehr viel Macht über andere Menschen; zwar beugt er sich der Führerschaft Agamemnons, seinem rasenden Zorn aber fallen die Feinde reihenweise zum Opfer; und er ist fast unsterblich. Der Heros ist tatsächlich Halbgott, er schlägt eine Brücke vom endlichen irdischen Dasein zum unvergänglichen göttlichen Sein. Er steht von der Erde auf und reckt sich gen Himmel. Dadurch öffnet der Mensch jenen Raum, in dem er sein Leben eigenständig gestalten kann. Modern gesprochen: Er erhebt sich über seine Biologie und wird zum kulturellen Wesen. Dies ist die Geburtsstunde der griechischen Kulturwelt. Die Griechen entdecken, dass sich der Mensch strecken und über sich selbst erheben kann, ja dass er das tun muss, will er wesenhaft Mensch sein. Es wäre aber falsch, dies so zu verstehen, als strebe der Mensch danach, göttlich zu werden. Der Mensch ist kein verhinderter Gott. Umgekehrt werden die Götter in der Ilias sehr menschlich dargestellt; sie spielen die gleichen Ränkespiele, sind eifersüchtig, neidisch, zornig und listig. Und sie brauchen die Menschen, um ihren Kampf untereinander auszutragen. Fast sind die olympischen Götter so, wie sie in der Ilias auftreten und damit das Bild der Griechen von ihren Göttern geprägt haben, ohne die Heroen, in deren Gestalt sich die Götter mit den Menschen vereinen, gar nicht vorstellbar. Der Mensch ist jener Ort, an dem das Göttliche in der irdischen Welt auftritt. Der Heros leiht den Göttern seinen das Schwert tragenden Arm, damit sie ihre Rache durch ihn vollbringen können; in eben der gleichen Art und Weise leiht der Dichter den Göttern seine Stimme, damit sie durch ihn sprechen können. Die Ilias beginnt mit dem Anruf der Göttin, sie möge den Zorn des Achill besingen. 9 In dieser Wende vom schwerttragenden Arm zur dichterischen Stimme wird deutlich, worum es eigentlich geht: Der Heros ist der vom göttlichen Geist besessene, der begeistete und darum begeisterte Mensch. Der Mensch erfährt sich durch den göttlichen Geist über sich selbst hinausgehoben. Darin liegt sowohl, dass der Mensch selber Geist erlangen kann, als auch, dass dieser Geist dem Menschen geschenkt wird, dass er an ihm nur teilhat, ihn nicht besitzt. Mit dem heroischen Menschen steht deshalb auch die Anwesenheit der Götter in der endlichen Welt auf dem Spiel. Etwas allgemeiner gesprochen, hängt daran, dass sich der Mensch über sein irdisches Dasein erhebt und nach Höherem strebt, die Anwesenheit des Geistes in der Welt. Und damit zugleich die Möglichkeit, dass der Geist überhaupt zur Erscheinung und zur Entfaltung kommt. Erst dadurch, dass der Mensch nach dem Geist strebt, west dieser an. Die Anwesenheit des Geistes aber verleiht dem vergänglichen Dasein auf der Erde überhaupt erst seinen Sinn. Durch den Geist wird das endliche Dasein geordnet, es wird zum 9 Vgl. dazu auch Sloterdijks Anmerkungen. Ebd., S. 10. <?page no="125"?> Die europäischen Anfänge der Philosophie: Einheit und Vielheit 125 Kosmos, zur Welt. In Platons Timaios begegnet uns der gleiche Gedanke: Der Demiurg schafft die Welt als vernunftbegabtes und beseeltes Lebewesen, damit die Seele über die Welt herrscht und die Ordnung erhält. Zugleich zeigt Platon, dass die Welt eben nicht als bloßes Abbild der idealen Ordnung geschaffen ist, sondern als deren Anwesenheit; er bezeichnet sie darum als »den Gott, der einmal sein sollte«. 10 Stenger interpretiert den Diskobolos des Myron als ein »Grundbild« des antiken griechischen Menschsseins und der durch ihre griechischen Anfänge stark mitgeprägten europäischen Kulturwelt. 11 Der Diskobolos ist die Darstellung eines Diskuswerfers, der zentralen Gestalt des antiken Athleten. Myron ist einer der bedeutendsten Bildhauer der Antike. Sein Diskobolos entstand um 450 v. Chr. und war im Original eine Bronzestatue; erhalten sind heute nur römische Kopien. Stenger interpretiert die Statue nun vor allem vom Moment der Bewegung her. Bewegung steht nicht gegen Ruhe, sondern ist im Gegenteil die höchste Form ihrer Entfaltung. Nicht der Mensch wie er ist wird bewegt, sondern der Mensch findet in der Bewegung seine eigene Gestalt. Die angespannte »Innenwendung« des Diskuswerfers, das Schwungholen wird solches erst von der folgenden Drehung des Körpers, dem Schleudern des Diskus und schließlich dem gelungenen Wurf her. Umgekehrt verdankt sich der gelungene Wurf der ganzen Bewegung, in ihr gehören alle einzelnen Momente zusammen, durch sie erst werden die einzelnen Momente zu dem, was sie sind. Die Bewegung holt aus dem Gegebenen mehr heraus, als in ihm steckt. Sie meint deshalb eigentlich den Selbsthervorgang des Wurfs, der gerade dann gelingt, wenn die Bewegung in ihm ihren Höhepunkt findet. Der Wurf ist nicht erzwungen, sondern gelungen. Dass er gelingt, steht aber nicht eigentlich in der Macht des Diskuswerfers; eher ist es so, das der Wurf dann gelingt, wenn es dem Diskurswerfer gelingt, sich selbst ganz in diesen Wurf einzubringen, an der Bewegung mehr teilzuhaben, als sie zu ›machen‹. Mit der Bewegung des Diskurswerfers ist die Bewegung als Grundprinzip des Menschseins entdeckt. Der Mensch wird erst er selbst, wenn er in Bewegung kommt und über sich hinausgeht. »In allem steckt mehr als ursprünglich vermutet. Man wird über sich hinausgerissen, hinausgeworfen, ja hinausgeschleudert. […] Der Mensch wird zu seinem eigenen ›Darüberhinaus‹, er ›ent-wirft‹ sich geradezu, und genau das ist seine ›Schönheit‹«. 12 Die entscheidende Entdeckung der Griechen liegt nicht in den Ideen bzw. in einem Urprinzip (griechisch Arché), dem sich alles Dasein verdankt. Die ent- 10 Platon 1990, 34 b. 11 Stenger 1995b. 12 Ebd., S. 518. <?page no="126"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 126 scheidende Entdeckung liegt in der Bewegung des Menschen über sich hinaus, eine Bewegung, die das, worauf zu der Mensch sich bewegt, überhaupt erst anwesen lässt. Das, worauf zu der Mensch sich bewegt, sind die Götter bzw. das Göttliche; durch seine Bewegung west der göttliche Geist im endlichen Dasein an. 13 Die Entdeckung der Bewegung ist darum zugleich die Entdeckung des Geistes. Bewegung ist ein Geistphänomen, insofern der Mensch erst dadurch, dass er über sich hinausstrebt und den göttlichen Geist empfängt, eigentlich zum Menschen wird. Dieser Geist wird von Heraklit ( 540 - 480 v. Chr.), einem der berühmtesten Vorsokratiker (wie Aristoteles die ersten Naturphilosophen rückblickend genannt hat) als Logos gefasst. Der Logos ist das, nach dessen Gesetz alles geschieht. Er ist das Einheitsprinzip. Aber nicht so, dass dieses Prinzip der Vielfalt des Seienden in der Welt zugrunde liegen würde und nur noch erkannt und aufgedeckt werden müsste. Sondern so, dass das Einheit stiftende Prinzip selber daran hängt, als solches erkannt zu werden. Das ist der Grund dafür, dass sich Heraklit immer wieder von den Polloi, den Vielen, absetzt, die - obgleich sie den Logos aus seinem, Heraklits Mund vernehmen - ihn doch nicht verstehen. 14 »Für der Lehre Sinn [Logos] aber, wie er hier vorliegt, gewinnen die Menschen nie ein Verständnis, weder ehe sie ihn vernommen noch sobald sie ihn vernommen. […]« »Drum ist es Pflicht, dem Gemeinsamen zu folgen. Aber obschon der Sinn [Logos] gemeinsam ist, leben die Vielen, als hätten sie eine eigene Einsicht.« 15 Der Logos liegt nicht vor, deshalb kann man ihn nicht einfach sehen, wenn man darauf hingewiesen wird. Man muss sich schon selber auf den Weg begeben. Den Geist kann man nur in der Anstrengung, sich auf die Suche nach dem Geist zu begeben, erfassen, den Logos nur einsehen, wenn man selbst den Logos bemüht. Das ist wie mit einem Gedanken. Den hat man auch nicht allein dadurch, das man ihn von jemand anderem vorgetragen bekommt. Erst wenn man ihn nachvollzieht, das heißt den Gedanken selber denkt, hat man ihn auch. Und das deswegen, weil der Gedanke nicht jenseits seines Gedachtwerdens existiert. So auch der Logos: Er kommt nicht in der Welt vor, ist nicht als ihr Urprinzip irgendwo auffindbar, sondern zeigt sich als der alles Verbindende und Einheit Stiftende nur dem, der die Vielfalt des Vorliegenden und Auffindbaren auf seine innere Zusammengehörigkeit hin befragt und die 13 Rombach spricht deshalb davon, dass die Griechen »Philosophen von Religion« waren. Rombach 1962 / 1988, S. 51. 14 Vgl. dazu die Interpretation von Held, der in Heraklits Absetzung von den Polloi ein wesentliches Motiv des heraklitischen Denkens gefunden hat. Dieser Interpretation schließe ich mich hier an. Held 1980. 15 Diels und Kranz 1951, Heraklit B 1 und B 2. <?page no="127"?> Die europäischen Anfänge der Philosophie: Einheit und Vielheit 127 vorfindliche Realität auf ihre selbstbegründende, ja sich selbst hervorbringende Wirklichkeit hin übersteigt. Demjenigen, der diesen Überstieg wagt, zeigt sich der Logos in allem und jedem. Auch er aber kann den Logos niemals festhalten, ihn nicht besitzen, sondern bleibt zu fortwährender Suche aufgefordert. Darum ›Philo-sophie‹ statt Weisheit (griechisch sophia). Held macht das sehr schön am Beispiel des Fragments B 60 deutlich: 16 »Der Weg hinauf hinab ein und derselbe.« 17 Wir können den Weg entweder hinauf oder hinab schreiten. Je nachdem, wie wir ihn abschreiten, erfahren wir ihn aber sehr unterschiedlich. Das eine Mal wird er als lang und beschwerlich erfahren, das andere Mal als kurz und möglicherweise als beschwingend. Dass wir dennoch davon sprechen können, dass es sich um ein und denselben Weg handelt, liegt daran, dass uns die Erfahrung des Hinuntergehens im Hinaufgehen präsent ist - vielleicht freuen wir uns bereits darauf, ihn später wieder hinab gehen zu dürfen, oder wir wundern uns darüber, wie steil der Weg ist, den wir vom Hinabgehen viel weniger steil in Erinnerung haben. Den Weg als solchen erfassen wir also nur dadurch, dass wir unsere gegenwärtige Erfahrung auf weitere Erfahrungen hin übersteigen. Heraklit macht das an zahlreichen Beispielen deutlich, in denen es immer um die Zusammengehörigkeit, ja die wechselseitige Bedingtheit von Gegensätzen geht. Besonders bekannt sind B 48 und B 51 , die ich hier abschließend nennen möchte: »Des Bogens Namen also ist Leben (biós : bíos), sein Werk aber Tod.« »Sie verstehen nicht, wie es auseinander getragen mit sich selbst im Sinn zusammen geht: gegenstrebige Vereinigung wie die des Bogens und der Leier.« 18 Der Logos zeigt sich in allem - aber nur dem, der ihn zu sehen vermag. Das klingt trivial, fast tautologisch, ist es aber nicht. Der Logos ist nicht in den Dingen versteckt, so dass man ihn suchen muss und nur dann sieht, wenn man ihn gefunden hat. Vielmehr liegt der Logos offen zutage, aber nur, wenn man das Vorliegende, die Dinge in der Welt nicht einfach als gegeben hinnimmt, sondern sie auf dieses ihr Gegebensein hin befragt. Mit diesem Befragen der Dinge bricht man in eine andere, die begründende Dimension durch. Das Stellen der Frage öffnet den Blick für den Logos, darum kann der Philosoph dem griechischen Verständnis nach am Logos teilhaben, während »die Vielen« nicht an ihm teilhaben. Auch hier also gilt: Die entscheidende Entde- 16 Held 1980, S. 151-161. 17 Diels und Kranz 1951, Heraklit B 60. 18 Ebd., Heraklit B 48 und B 51. <?page no="128"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 128 ckung liegt in der Bewegung; im Durchbruch durch das Gegebene und Vorliegende erst wird dieses als das erkannt, was es ist: das ›Sich-zeigen‹ bzw. das ›An-wesen‹ des Logos. Ganz ähnlich finden wir den Gedanken bei Parmenides (um 520 - 460 v. Chr.), dem anderen großen Vorsokratiker. Parmenides berichtet in seinem Lehrgedicht von der Auffahrt eines Jünglings vom Haus der Nacht, in dem die Menschen leben, hinauf zum Haus des Lichts, an dessen Pforte ihn die Göttin erwartet und ihm die Wahrheit verkündet, nämlich dass Sein ist und Nichtsein nicht ist. Gleichsam zur Begründung folgt dieser Satz: »denn dasselbe ist Denken und Sein«. 19 Das Nichtseiende ist dasjenige, das nicht dieses und nicht jenes ist, das sich also von allem anderen abgrenzt und so die Vielfalt des vermeintlich für sich Seienden schafft. Solchem Seienden kommt aber gar kein Sein zu. Das Sein des Seienden liegt stattdessen in der Zusammengehörigkeit des vielfältigen, bloß vermeintlich für sich Seienden. So verstanden ist das Sein dann kein besonderes bzw. im einzelnen Seienden besondertes. Es ist schlicht Sein - überall und immer gleich. Das Sein ist dann aber gerade nichts am einzelnen Seienden, es versteckt sich darin nicht; vielmehr zeigt sich das Sein im Durchbruch durch die Oberfläche des menschlichen Alltags, auf der das Seiende so hingenommen wird, wie es gegeben ist, in die Dimension eben dieses Gegebenseins hinein. Dieser Durchbruch ereignet sich im Denken. Denken und Sein sind dasselbe. Parmenides zeigt sehr schön, dass das Denken selbst eine Bewegung verlangt. Wir verfügen nicht darüber, sondern wir müssen selbst ins Denken hineinkommen, damit der Gedanke gelingt. Die Auffahrt des Jünglings ist das Aufgehen des Gedankens selbst. Nur indem der Gedanke gedacht wird, d. h. indem wir uns auf ihn einlassen - der Jüngling wird von den Göttinnen auf den rechten Weg gebracht und er muss den Mut (Thymos! ) aufbringen, ihm zu folgen - und der Gedanke Fahrt aufnimmt - »die Achse in den Naben gab einen hellen Pfeifton, glühend; denn getrieben ward sie von zwei wirbelnden Rädern zu beiden Seiten« - und schließlich tatsächlich durchbricht - »das [Tor des Haus des Lichts, N. W.] aber flog auf«, ist der Gedanke auch wirklich da. 20 Auch hier also ist das Entscheidende die Bewegung, das Hineinkommen und Aufgehen. 19 Ebd., Parmenides B 3. 20 Für die Zitate: Ebd., B 1. <?page no="129"?> Die europäischen Anfänge der Philosophie: Einheit und Vielheit 129 Jaspers hat gezeigt, dass in der von ihm so genannten »Achsenzeit« zwischen 800 und 200 v. Chr. (mit einer »Achse der Weltgeschichte« um 500 v. Chr.) in verschiedenen Kulturkreisen ziemlich zeitgleich und relativ unabhängig voneinander eigene Geistes-Konzeptionen entstanden sind. 21 Damit stellt sich die Frage, was eigentlich das Besondere der griechischen Entdeckung gewesen ist. Dem bislang Erläuterten zufolge liegt das Besondere der griechischen Entdeckung darin, dass der Geist als das grundlegende und Einheit stiftende Prinzip des irdischen Daseins nur dann wirkmächtig werden kann, wenn der Mensch ihn ergreift, ihm dadurch eine Wohnstatt in der Welt gibt, dass er nach ihm sucht und sich auf den Weg zum Geist begibt. Der Geist liegt nirgendwo vor (oder zugrunde), aber er waltet in allem, wenn man die Dinge nur auf ihren Geist hin anspricht. Der Geist ist also zwar Einheit stiftend, aber er ist dies gerade durch die Teilhabe des Menschen am Geist. »In dieser Form heißt der Geist ›Vernunft‹, Logos. Dies ist es vor allem, was die Griechen entdeckten, die Vernunft, als die Form, in der der Geist dem individuellen Menschen einwohnt.« 22 Dadurch freilich wird der Geist nicht verfügbar. Die Menschen müssen ihn schon ergreifen, sie müssen sich auf den Weg der Vernunft begeben; tun sie das, dann verändert das das Sein des Menschen im Ganzen, Platon spricht in der Politeia vom Umschwung der Seele. Der Mensch muss also nach Vernunft streben, dann vermag er das wahre Sein der Dinge zu erkennen und dann erst ist er wahrhaft Mensch. Darin liegen entscheidende Konsequenzen für das Leben des Menschen, eine in theoretischer und eine in praktischer Hinsicht: Philosophie bzw. Wissenschaft und Demokratie. Held hat sehr schön gezeigt, dass Wissenschaft und Demokratie demselben Grundgedanken entspringen und dass es diese beiden Errungenschaften sind, die das antike Griechenland rückblickend zum Ursprung Europas gemacht haben (freilich muss man sehen, dass auch die genannten Errungenschaften selbst erst rückblickend geklärt und in ihrem griechischen Ursprung erfasst worden sind; Platon beispielsweise vertritt in der Politeia kein demokratisches Staatsideal). 23 In theoretischer Hinsicht begibt sich der Mensch auf den Weg der Vernunft, indem er nach Erkenntnis strebt und die Dinge in der Welt nicht einfach so hinnimmt, wie sie sich ihm darbieten, sondern danach fragt, wieso sie sich ihm so darbieten, wie sie es tun. Er erkennt also die Vorhandenheit der Dinge als ein Sich-zeigen der Dinge und fragt nach dem Prozess dieses Sich-zeigens. Was bedeutet ›Sich-zeigen‹, wie und was zeigt sich da? Die forschende Frage bricht durch die oberflächliche Gegebenheit der Dinge durch und fragt nach 21 Jaspers 1949, s. bes. Kap. 1. 22 Rombach 1987, S. 20. 23 Held 2013c. <?page no="130"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 130 dem Sein der Dinge. Damit erhebt sich der Mensch über das endliche Dasein und strebt nach unverbrüchlicher vernünftiger Einsicht. In dieser Bewegung wird er selbst ›be-geiste(r)t‹, er wird wahrhaft Mensch. Das ist es, was wir rückblickend den Ursprung der Philosophie nennen: Die Entdeckung, dass sich der Mensch mit der Gegebenheit der Dinge nicht einfach abfinden darf, sondern dahinter zurückfragen und erkunden muss, was da wie gegeben ist. Nicht kann, sondern muss, liegt in eben dieser Erkundung doch der Schritt des Menschen über sich hinaus, durch den er im erläuterten Sinne überhaupt erst zu sich selbst kommt. Die Griechen haben diese Erkundung als Logon didonai bezeichnet, was wörtlich übersetzt den Logos geben bedeutet. In theoretischer Hinsicht ist vom Menschen also gefordert, den Dingen auf den Grund zu gehen und Wissenschaft bzw. Philosophie zu treiben. Kurz, die griechische Entdeckung lautet, dass der Mensch philosophieren muss, um wahrhaft Mensch zu sein. »Sie [die Philosophie] ist das Menschsein in seinem eigentlichen Vollzug.« 24 In praktischer Hinsicht gilt ähnliches. Auch das praktische Leben fordert vom Menschen, den Logos zu geben, womit gemeint ist, die Regeln des Zusammenlebens zu begründen. Die Griechen haben in der Polis, dem Stadtstaat gelebt. Die Polis ist aber nicht die zufällige Größe des Herrschafts- oder Einflussgebiets eines Fürsten, sondern der Zusammenschluss von Bürgern, die öffentlich über die Gesetzgebung in ihrer Stadt streiten. Die Aufforderung zum Selbstüberstieg bedeutet in praktischer Hinsicht, die eigenen Lebensregeln (damit sind die häuslichen Regeln des Zusammenlebens gemeint) nicht zu verabsolutieren, sondern in der öffentlichen Auseinandersetzung nach Übereinstimmung mit den Regeln anderer häuslicher Gemeinschaften zu suchen. Die Regeln des Einzelnen stellen sich dann als Spezifizierungen der allgemeinen öffentlichen Gesetze dar. Dafür können die allgemeinen Gesetze aber nicht quasi diktatorisch vorgegeben werden, sondern sie müssen in der Auseinandersetzung erst gefunden werden. Die Gesetze der Polis gelten nicht nur für jeden Bürger, sie sind vor allem öffentlich erstritten. Der öffentliche Raum, die Agora, wird deshalb zum Herzen der Polis. Die Herrschaft wird zu einer öffentlichen und damit zur Demokratie. In praktischer Hinsicht ist vom Menschen das demokratische Zusammenleben gefordert. Beide, Wissenschaft und Demokratie, sind zu Grundpfeilern des europäischen Selbstverständnisses geworden. Und dieses Selbstverständnis ist der Begegnung der Kulturen in der Dimension ihrer Grunderfahrungen zunächst gar nicht förderlich. Das freilich ist auch nicht zu erwarten, schließlich begründen die 24 Rombach 1962 / 1988, S. 53. <?page no="131"?> Die europäischen Anfänge der Philosophie: Einheit und Vielheit 131 Griechen eine eigene Hochkultur, die zunächst natürlich mit der eigenen Gestaltfindung beschäftigt ist - und das heißt immer auch, dass sie sich abzugrenzen versucht. Der Begriff der Barbaren, der uns als eine Bezeichnung für unzivilisierte Menschen geläufig ist, stammt von den Griechen und meint all jene, die nicht Griechisch sprechen und demnach auch nicht an der eigentümlichen Entdeckung teilhaben, dass der Mensch über sich selbst und die Welt, wie er sie vorfindet, hinausgehen muss, um wahrhaft Mensch zu werden. Das bedeutet nun nicht, dass die griechische Kultur zum Maßstab menschlichen Lebens erhoben werden könnte, sondern weist umgekehrt gerade darauf hin, dass alle kulturellen Lebenswelten dem griechischen Beispiel folgen und ihre partikularen Welten auf die gemeinsame Welt hin übersteigen sollten. Darin läge, griechisch gesehen, überhaupt erst der Schritt zur Kulturwerdung. Held hebt mit Blick auf die Demokratie hervor, dass die Griechen an der öffentlichen Gesetzgebung der Polis gelernt haben, die eigene häusliche Welt zu verlassen und sich der gemeinsamen Lebenswelt zu öffnen. Tatsächlich ist diese Haltung für das europäische Selbstverständnis bis heute prägend geblieben. Partikularwelten lassen sich auf eine gemeinsame, ›öffentliche‹ Welt hin überschreiten. Jede Lebensform lässt sich als Spezialfall einer allgemeinen Lebensform verstehen. Jede bloß private Überzeugung lässt sich in der öffentlichen Auseinandersetzung durch den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« zugunsten einer allgemein anerkannten Einsicht überwinden. Held sieht in dieser Haltung gar das entscheidende Beispiel für eine Entdeckung, die zwar historische und kulturell spezifische Wurzeln hat, die aber universalisierbar ist und sich de facto in den meisten Fällen längst universalisiert hat. Die Welt ist europäisch geworden. Edmund Husserl beschreibt in seinen Wiener Vorträgen unter dem Titel »Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit« die Geburt der griechischen Philosophie als das Aufspringen der Differenz von bloßer »Weltvorstellung« und »wirklicher Welt« angesichts der »Mannigfaltigkeit der Nationen« mit ihren je eigenen Umwelten, Traditionen und Göttern. 25 Philosophieren heißt dann also, das Denken aus den Beschränkungen historisch gewachsener kultureller Lebensumwelten zu lösen und auf wahre Idealformen zu richten. Im griechischen Kontext macht ein Gespräch zwischen Philosophien verschiedener Kulturen dann aber keinen Sinn. Dabei liegt in der ursprünglichen Entdeckung eigentlich etwas anderes. Keinen Sinn scheint das Gespräch zwischen den Kulturen dann zu machen, wenn der Überstieg, den jede Hochkultur macht, den die Griechen aber eigens in seiner Bedeutung erkennen, das Gegebene im Überstieg hinter sich lässt und zu ei- 25 Die Vorträge sind unter leicht abgeändertem Titel veröffentlicht: Husserl 1962b. <?page no="132"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 132 nem Spezialfall des neu entdeckten Allgemeinen macht. Die ursprüngliche Entdeckung geht aber nicht auf ein Allgemeines, sondern gerade auf den Übersteig selbst. Stenger hat das in seiner bereits erwähnten Interpretation des Diskobolos sehr gut gezeigt: Aus dem Innen mehr herausholen, als in ihm steckt. Gestaltfindung durch Selbstüberstieg und Selbstentwurf. Menschwerdung durch freies und verantwortungsvolles Handeln. Der Mensch übersteigt sich nicht auf ein Allgemeines hin, sondern findet sich im Überstieg überhaupt erst selbst. Die eigentliche Entdeckung liegt in der Bewegung, nicht im Ziel der Bewegung. Sie liegt mehr in der Begeisterung (Thymos) als im Geist (Logos) bzw., richtiger, sie erfasst die innere Zusammengehörigkeit beider. Darauf macht Heidegger aufmerksam, wenn er von der »Gestimmtheit« des griechischen Denkens spricht, die darin liegt, dass der Mensch »dem Zuspruch des Seins« entspricht oder, Heideggers Worte gleichsam in diejenigen Homers übersetzt, den Göttern Arm und Stimme leiht. 26 Die eigentümliche Gestimmtheit des griechischen Denkens haben schon Platon und Aristoteles als das Erstaunen (griechisch taumazein) beschrieben. Darin wird sehr deutlich, dass die Philosophie mit der Erfahrung des Geistes bzw. des Logos anhebt, nicht mit der Entdeckung eines irgendwo auffindbaren Grund- und Einheitsprinzips, sei dies die Elementenlehre, die Ideenlehre oder später die Substanzenlehre (in diesen allen ist der Logos in Form der Lehre immer schon vorausgesetzt). Der Erfahrungsaspekt geht freilich im weiteren Verlauf, in dem das, was da erfahren wird, besser zu verstehen versucht wird, immer mehr verloren. Stattdessen steht nun die Frage im Vordergrund, was es denn eigentlich ist, das sich in den Dingen, im Seienden zeigt? Die Erfahrung des Durchbruchs weicht der Erforschung dessen, was sich demjenigen, der den Durchbruch vollzogen hat, zeigt. Die berühmte aristotelische Frage in der Metaphysik lautet: ti to on, Was ist das Seiende? Schon bei Platon hat sich die Frage nach dem, was sich in den vorhandenen Dingen zeigt, bekanntermaßen zur Ideenlehre entwickelt. Das, was sich im Seienden zeigt, wurde von ihm als die Idee dieses Seienden verstanden. Darin liegt ein erster Schritt der Substanzialisierung und damit der Verdinglichung jenes Geschehens, das von den Vorsokratikern ursprünglich als Physis bezeichnet wurde, nämlich das Sich-zeigen und Hervorgehen der Dinge aus sich selbst (oder, vielleicht richtiger, als sie selbst). Aristoteles schließlich vollzieht die Substanzialisierung ganz konsequent. Von nun an wird das Wesen der Dinge in der Substanz gesehen. Das führt dazu, dass sich die Dinge vergleichen und sortieren und so in größere Gattungsgruppen einteilen lassen. Darin liegt die Geburtsstunde der einzel-wissenschaftlichen Beschreibung der Welt. Zugleich damit wird der Logos zu einem Vermögen des Menschen, zu seiner differentia 26 Heidegger 1956, S. 23 ff. <?page no="133"?> Philosophie als Selbstklärung von Mensch und Welt (Neuzeit) 133 specifica, weshalb Aristoteles den Menschen als das Tier, das den Logos besitzt, bezeichnet. 27 Der Erfahrungsaspekt geht verloren, das Einheit stiftende Denken aber bleibt erhalten. Damit wird die Philosophie zur Statthalterin der Vernunft, die in der Begegnung der Kulturen immer schon vorausgesetzt sein muss. Interkulturelle Philosophie macht da tatsächlich keinen Sinn. 3 . 2 Philosophie als Selbstklärung von Mensch und Welt (Neuzeit) Wenn die Grunderfahrung griechischen Denkens darin liegt, dass in allem Seienden das Sein gesehen werden kann, wenn man nur die Oberfläche seines bloßen Gegebenseins durchbricht und nach der Art und Weise eben dieses Gegebenseins fragt, dann wird diese Grunderfahrung in der Neuzeit einerseits erneuert, andererseits grundlegend verändert, ja geradezu auf den Kopf gestellt bzw., von der Neuzeit aus gesehen, vom Kopf überhaupt erst auf die Füße gestellt. Tatsächlich wird das Anbrechen der Neuzeit in der Renaissance allgemein mit der Rückbesinnung auf griechisches Denken in Verbindung gebracht. Die griechische Grunderfahrung, die einen wesentlichen Beitrag zur Stiftung eines europäischen Selbst- und Weltverständnisses geleistet hat (neben der griechischen Grunderfahrung gibt es natürlich eine Reihe weiterer Einflüsse und Erfahrungen, die für ein Verständnis der europäischen Kulturwelt wesentlich sind, allen voran die Menschwerdung Gottes im Christentum), ist im Laufe der Jahrhunderte zunehmend verblasst. Noch in der Antike, darauf habe ich schon hingewiesen, ist der Erfahrungscharakter verblasst, der in der Bewegung des Menschen liegt, wenn er die Oberfläche des endlichen Daseins durchbricht und sich ihm so eine neue Wirklichkeitsdimension eröffnet. Das ist eine Konsequenz, die in der Erfahrung selbst liegt: Die neue Dimension wird als ›wirklicher‹ erfahren und stellt damit ab sofort den Boden dar, auf dem der Mensch steht und von dem her er sich selbst versteht. Je selbstverständlicher dies wird, desto mehr geht die Erinnerung daran verloren, dass die neue Wirklichkeitsdimension erfahren werden muss, dass sie gerade nicht ›einfach gegeben‹ ist, sondern die bloße Gegebenheit begründet. Am Beispiel der Entwicklung des Christentums lässt sich nachvollziehen, was es bedeutet, wenn der ursprüngliche Erfahrungscharakter einer Sache verloren geht (eine ähnliche Entwicklung findet sich aber bei jeder Erfahrung): Gott ist nichts, das wir irgendwo vorfinden würden oder das wir durch logische Argumentation begründen könnten. Er muss sich dem Glaubenden offen- 27 Vgl. dazu Held 2001, s. bes. Kap. XI . <?page no="134"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 134 baren, was nichts anderes heißt, als dass der Glaubende eine Gotteserfahrung machen muss, die ihn so tief trifft, dass er sich fortan von dieser Erfahrung her, also von seinem Gottesbezug her - eben religiös - versteht. Das Pfingsterlebnis schildert eine solche Erfahrung. Der Geist Gottes kommt unter die Menschen, er begeistert sie, sie sind von ihm ergriffen und durch ihn über sich hinausgehoben, neue Menschen. Diese Erfahrung wird an andere weitergegeben und sie bestimmt fortan das eigene Leben. Aber natürlich muss auch die Gotteserfahrung immer wiederholt werden, sie lässt sich wie alle Erfahrung nicht halten. Darum feiern wir bis heute das Pfingstfest. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich aber auch im Christentum das, was da erfahren worden ist, sozusagen das Resultat der Erfahrung, immer weiter von der tatsächlichen Erfahrung gelöst und verselbstständigt. Das führt zunächst dazu, dass der christliche Glaube sich weiter verbreiten und zur bestimmenden Grundlage des Selbst- und Weltverständnisses ganzer Völker werden kann, weil sich das Resultat der Erfahrung im Unterschied zur Erfahrung selber sehr viel leichter vermitteln lässt. Zugleich liegt darin aber auch die Gefahr einer Entfremdung. Gott wird zu einer Entität, an die man glauben muss, nicht glauben darf, mit der man (Ablass-)Handel treiben kann und die für alle möglichen politischen Zwecke herangezogen wird. In einer solchen Situation braucht es dringend eine Erneuerung der ursprünglichen Erfahrung. Im Christentum kennen wir mehrere Beispiele solcher Erneuerungsversuche, etwa durch einen Meister Eckhart ( 1260 - 1328 ) oder einen Cusanus (Nicolaus von Kues, 1401 - 1464 ) und natürlich durch Martin Luther ( 1483 - 1546 ). Die Sache, um die es geht, muss aus der Entfremdung geholt und von neuem angeeignet werden. Nur dann kann sie auch wieder zum tragenden Boden des Lebens werden. Daran kann man sehen, dass der Erfahrungscharakter die Sache nicht relativiert, sondern im Gegenteil die Wirklichkeit der Sache bestärkt, ja eigentlich überhaupt erst schafft. Solange der Geist und die Kraft Gottes nicht erfahren sind, bleibt auch die Gottesvorstellung ohne Kraft und betrifft einen nicht wirklich. Erfährt man sie dann aber, ändert sich alles und derjenige, dem eine solche Erfahrung widerfährt, wird ein anderer, ein neuer Mensch (Paulus, Franz von Assisi). Die Taufe steht für genau diese Erfahrung. Das Verblassen der griechischen Grunderfahrung hat auf ähnliche Weise dazu geführt, dass in der Renaissance eine Erneuerung dieser Erfahrung angestrebt wurde. Die Erneuerung ist nun aber kein bloßer Nachvollzug, sondern eine eigene Erfahrung, und das heißt, dass sie die griechische Grunderfahrung eigens und eben auch etwas anders erfährt (schließlich fließen in diese Erfahrung fast zweitausend Jahre Geschichte mit ein). Die Grunderfahrung selber wird erneuert. Sie wird deshalb in der Neuzeit nicht nur als wieder tragfähig, sondern als jetzt überhaupt erst tragend erfahren. Das kann man besonders gut <?page no="135"?> Philosophie als Selbstklärung von Mensch und Welt (Neuzeit) 135 am Beispiel der Wissenschaft sehen, die zu Beginn der Neuzeit eine Revolution erfährt, die alles bis dahin erlangte Wissen als bloß vorläufig und noch gar nicht eigens wissenschaftlich gesichert erscheinen lässt. Dazu gleich mehr. Die mit der Erneuerung der griechischen Grunderfahrung verbundene Veränderung dieser Erfahrung ist der Grund dafür, dass wir heute von einem Epocheneinschnitt sprechen. Einerseits wird die europäische Geschichte fortgeführt, andererseits geschieht dies nun aber unter gänzlich neuen Vorzeichen, auf dem Boden eines neuen Selbst- und Weltverständnisses, an dem gemessen das alte Verständnis noch unausgereift war und in mancherlei Hinsicht geradezu wie ein Missverständnis wirkt. Der Umbruch, der sich mit der Neuzeit vollzieht, lässt sich als eine Umkehrung der Blickbzw. Bewegungsrichtung verstehen. Wird das Seiende im griechischen Denken auf den Bereich ›wahren Seins‹ hin überstiegen, so geht es in der Neuzeit umgekehrt gerade darum, die beobachtbare Welt aus sich selbst heraus zu erklären. Die antike Entdeckung ist darin freilich sehr wohl aufgenommen, ja vorausgesetzt. Sie wird durch den neuzeitlichen Umbruch vertieft, nicht über Bord geworfen. So geht es in der Neuzeit nicht darum, das einzelne Seiende aus sich selbst heraus zu erklären, sondern der Zusammenhang des Seienden soll aufgeklärt werden. Diese Frage kann aber nur auftauchen, wenn zuvor bereits erkannt ist, dass es einen solchen Zusammenhang überhaupt gibt. Diese Erkenntnis wird aus der Antike übernommen, in der mit dem Logos bei Heraklit und der Substanz bei Aristoteles bereits so etwas wie Einheit gedacht ist. Worin diese Einheit gründet, wird mit dem Verblassen der ursprünglichen Erfahrung (die ja gerade im Übersteigen selbst lag und damit in der schlichten Erkenntnis, dass sich in den Dingen ihr Sein zeigt; die also wesentlich in diesem ›dass sie sind‹ lag) im Laufe der Zeit immer fragwürdiger. Die Begründung der Einheit kann nun aber nur in ihr selbst gesucht werden, würde sie andernfalls doch gerade ihren Einheitscharakter verlieren. Dadurch kehrt sich die Bewegungsrichtung um, an die Stelle des Überstiegs tritt die Innenwendung. Begrifflich macht Kant diese Änderung der Bewegungsrichtung, die zugleich eine Änderung der Begründungsrichtung ist, deutlich, wenn er der Transzendenz der Welt die Transzendentalität der Erfahrungsbedingungen entgegensetzt. Die Innenwendung bedingt, dass sich der Blick auf die Welt radikal ändert. An die Stelle einer göttlichen Ordnung tritt die Suche nach dem, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, so Goethes Faust. Rombach hat den Umbruch zur Neuzeit als den Umbruch von der Substanz (dem ›wahren‹ Sein, das unter der Oberfläche der Gegebenheiten liegt) zum <?page no="136"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 136 System beschrieben. 28 Das Neue des Systemdenkens liegt in der Ontologie des Funktionalismus. Diese besagt, dass die Dinge ihr Sein nicht in sich selber haben (in der Substanz dagegen war gerade so etwas wie der wesentliche Kern des einzelnen Dings gedacht im Unterschied zu den ihm nur zufallenden Akzidenzien), sondern durch das Verhältnis, in dem sie zu den anderen Dingen stehen, bestimmt sind. Sie sind also gleichsam durch ihre Umgebung bestimmt, genauer: durch die Funktion, die sie in Bezug auf eine bestimmte Konstellation von Dingen haben. Beispielsweise erfüllt das Bremsgummi einer Fahrradbremse eine ganz bestimmte Funktion; das Gummi ist aber nicht von sich aus, sozusagen seinem Wesen oder seiner Substanz nach Bremsgummi, sondern wird das erst dadurch, dass es eingepasst in den Bremsschuh bei Zug auf die Radfelge drückt und diese abbremst. Ohne Fahrradbremse gibt es auch kein Bremsgummi. Dass ich trotzdem Bremsgummis in einem Karton im Keller vorrätig haben kann, liegt daran, dass diese Gummis bereits für den Einsatz am Fahrrad produziert und von mir besorgt worden sind. Die Bremse ist also auch in diesem Fall unerlässlich, um aus dem Gummi ein Bremsgummi zu machen. Das Bremsgummi ist also durch seine Funktionalität bestimmt. Gäbe es keine Felgenbremsen, dann wären auch Bremsgummis nutzlos, ja es gäbe sie dann gar nicht. ›Bremsgummi‹ ist weder das Wesen bzw. die Substanz des Dinges, das wir so nennen und als dieses gebrauchen, noch ist es seine Eigenschaft, sondern seine Funktionalität. Und diese bestimmt das Ding durch und durch. Das, was klassisch das Wesen war, ist nun also die Funktion. Das Ding, das durch diese Funktion bestimmt ist, wird deshalb als ein »Moment« dieser Funktion bezeichnet. Die Funktion ist das Grundlegende. So wie das Bremsgummi durch den Bezug, in dem es zu den anderen Teilen der Bremse und des Fahrrads steht, bestimmt wird, so werden auch die übrigen Teile jeweils vom Gesamt der Beziehungen, in denen sie zueinander stehen, bestimmt. Das Bestimmungsverhältnis ist also immer ein wechselseitiges. So wie das Bremsgummi ohne Bremse nutzlos ist, so gilt umgekehrt, dass die Bremse ohne Bremsgummi funktionslos (und damit eben auch nutzlos) ist. Die Funktion gehört gerade nicht dem einzelnen Moment zu, sondern beschreibt eine bestimmte Konstellation, ein bestimmtes - funktionales - Beziehungssystem von Momenten zueinander. Der Funktionalismus löst die Ontologie der Substanz ab. Kommt der alten Ontologie zufolge dem einzelnen Ding qua seiner Substanz Sein zu, so verliert das Ding mit seiner Wandlung zum Moment einer Funktion Substanz und Sein; es ist für sich selbst nichts, alles, was es ist, ist es durch seine Funktionalität, also durch die Art des Beziehungsgeflechts, in dem es steht. Man kann sich 28 Rombach 1966. <?page no="137"?> Philosophie als Selbstklärung von Mensch und Welt (Neuzeit) 137 das daran verdeutlichen, dass die Funktion zwar ohne Momente, die diese Funktion erfüllen, nicht realisiert werden kann, dass die Funktion aber nicht an spezifischen Momenten hängt, während umgekehrt die Momente sehr wohl ganz von der spezifischen Funktion abhängen. Die Bremsfunktion hängt weder am Bremsgummi noch an den Bremsschuhen oder der Felge; sie kann ebenso gut von einer Scheibenbremse wahrgenommen werden. Die Funktion bleibt die gleiche. Das Bremsgummi aber erfüllt im einen Fall eine Funktion, im anderen nicht und wird damit bedeutungslos. Aber auch der Funktion selbst kommt kein Sein im Sinne der alten Ontologie zu. Die Funktion besteht nicht jenseits ihrer Realisation durch Momente der Funktion, sie hat kein eigenes Sein. Dass etwas ist bzw. dass etwas ›Sein‹ zukommt, lässt sich im Funktionalismus nur mit Blick auf die Wechselbedingtheit von einer Funktion und ihren Momenten bzw., richtiger von ihrer Realisation durch Momente sagen. Die Realisation ist freilich als der Prozess des Realisierens zu verstehen. Zu keinem Zeitpunkt ist die Funktion in einer Weise realisiert, dass ihr von diesem Zeitpunkt an eine eigene Substanz zukäme. Wenn etwas seine Funktion erfüllt hat, dann bedeutet das, dass es diese Funktion in diesem Augenblick verliert und gerade nicht, dass es damit nun zum Sein gekommen ist. Eine Zeitung beispielsweise hat ihre Funktion erfüllt, wenn wir sie gelesen und sie uns informiert hat. Damit gewinnt sie aber nicht ein ihr zuvor verwehrtes substanzielles Sein, sondern sie wird weggelegt und wandert ins Altpapier. Sie kann uns nun nicht mehr informieren und ist damit funktionslos geworden. Von so etwas wie ›Sein‹ ließe sich also allenfalls mit Blick auf den Prozess des Funktionierens sprechen. Das, was da eigentlich ist, ist aber niemals greifbar. Das ist der Grund dafür, dass der Begriff der Ontologie in der Neuzeit nicht mehr wirklich trägt (an die Stelle der Ontologie tritt aber nicht einfach etwas anderes, z. B. die Epistemologie, wie häufig behauptet wird; vielmehr ändert sich der Sinn von Ontologie in der Neuzeit radikal, so dass man eigentlich versuchen müsste, dafür einen neuen Begriff einzuführen - wir werden in Kapitel 3 . 4 sehen, dass die neue Bedeutung von Ontologie am besten im Phänomen der Erfahrung getroffen ist; vorläufig sprechen wir einfach von Funktionalismus). Zugleich liegt darin, dass der Begriff der Ontologie in der Neuzeit nicht mehr trägt, auch eine Kritik und Klärung des antiken Denkens. Wir erinnern uns: Die ursprüngliche Entdeckung galt der Bewegung des über sich und das Gegebene Hinausgehens. Erst mit der Zeit verlagerte sich das Interesse auf dasjenige, woraufhin das Gegebene überstiegen werden kann, die Idee und schließlich die Substanz. Im Umbruch zur Neuzeit liegt also zugleich eine Klärung der Antike. So versteht sich die neue Epoche denn auch selbst keineswegs als bloße Erneuerung der griechischen Grunderfahrung, sondern als Korrektur und Richtigstellung. Jetzt erst arbeitet die Wissenschaft wirklich wissenschaftlich; <?page no="138"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 138 jetzt erst ist der Einzelne nicht nur immer auch Bürger der jeweiligen Polis, in der er lebt und an deren Gesetzgebung er im öffentlichen Streit teilhat, sondern wird zum Weltbürger aus Prinzip; und jetzt erst wird auch die Vernunft, in der die Griechen die menschliche Teilhabe an der kosmischen Ordnung entdeckt haben, tatsächlich aufgeklärt. Ich werde darauf gleich zurückkommen. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass dieses Überlegenheitsgefühl der Antike gegenüber (und natürlich dem Mittelalter gegenüber, in dem rückblickend immer mehr so etwas wie eine Verdunklung des antiken Denkens gesehen wurde) der Möglichkeit, den Erfahrungscharakter der eigenen Grunderfahrung zu erkennen und damit anderen Kulturen in der Dimension der Grunderfahrungen begegnen zu können, im Weg steht. Tatsächlich ist die Epoche der Neuzeit durch die größtmögliche Vereinnahmung anderer Kulturen und Traditionen durch die europäische Kolonialisierung weiter Gebiete auf der ganzen Welt gekennzeichnet. Rombach zeichnet vor allem zwei Motive nach, die den Umbruch wesentlich herbeigeführt haben. Zum einen ist das eine Entwicklung in der Theologie. Innertheologische Konflikte und Fragen haben wesentlich zur Erschütterung der überlieferten Überzeugungen geführt. Damit ist nun keineswegs nur die äußerlich sichtbare Entfremdung der Kirche von einer gelebten Glaubenserfahrung gemeint, wie sie bereits angesprochen wurde. Mindestens ebenso bedeutsam sind theologische Probleme, die sich mit Blick auf das Verhältnis von Gott und Welt stellen. Kurz gefasst, stellt sich die Frage, wie es neben Gott, der doch vollkommen, unbedürftig und allumfassend ist, überhaupt die Schöpfung, also die Welt geben kann. War die scholastische Antwort auf dieses Problem die Unterscheidung zweierlei Arten von Sein, nämlich des wahren Seins Gottes und des nur äußerlichen Seins alles Geschaffenen, so entwickelte Cusanus eine ganz andere Vorstellung, in der wir heute einen wichtigen Vorläufer des neuzeitlichen Denkens erkennen. Cusanus zufolge gibt es nur eine Art des Seins, nämlich das göttliche Sein. Die Schöpfung ist dann aber gewissermaßen utopisch, kann sich das göttliche Sein doch nicht vermehren, schließlich ist es vollständig und allumfassend. Cusanus nimmt darum für die Schöpfung eben diesen U-Topos, den Nicht-Ort bzw. das Nichts als Voraussetzung an. Nur in das Nichts hinein ist Schöpfung möglich, wenn das Sein Gottes durch die Schöpfung nicht relativiert werden soll. Dem ins Nichts hineingesetzten Geschöpf kommt kein eigenes Sein zu, es ist, was es als endliches Geschöpf ist, nicht durch sein eigenes Sein, sondern nur dadurch, dass es all die anderen Geschöpfe nicht ist. Es besitzt kein Sein, sondern ist umgekehrt gerade durch sein Nichtsein bestimmt. Damit steht das Geschaffene in keiner Konkurrenz zu Gott. Das Spannende dieses Gedankens wird freilich erst deutlich, wenn <?page no="139"?> Philosophie als Selbstklärung von Mensch und Welt (Neuzeit) 139 man dem Nichtsein des endlichen Seienden genauer nachgeht. Das Nichtsein liegt darin, dass das einzelne Seiende nicht das andere Seiende ist, und zwar weder dieses andere Seiende noch jenes andere Seiende. Es ist alles andere Seiende nicht. Damit ist das einzelne Seiende in seinem Nichtsein durch alles andere Seiende, mithin die gesamte Schöpfung bestimmt. Die gleiche Überlegung gilt nun aber natürlich für jedes beliebige Seiende, überall ist nichts als der Verweis auf anderes, das selbst nichts jenseits des Verweises auf anderes ist. Die Schöpfung ist ein einziger Verweisungszusammenhang, nirgendwo ist substanzielles Sein anzutreffen. Nun ist wichtig zu sehen, dass dieser Verweisungszusammenhang grundsätzlich nicht abgeschlossen sein kann, sondern immer weiter über sich hinausweisen muss. Andernfalls würde für den Verweisungszusammenhang als ganzen nicht gelten, was für jedes einzelne Seiende gilt: Dass er nichts an sich ist, sondern allein durch den Verwies, anderes nicht zu sein, bestimmt ist. Cusanus spricht von der »finita infinitas«, der endlichen Unendlichkeit. Unendlich ist sie aber nicht im Sinne der Unendlichkeit Gottes, sondern nur im abgeleiteten Sinn der Unabgeschlossenheit. Cusanus denkt konsequent relational; kein Seiendes hat sein Sein in sich, alles ist allein durch den Bezug zu anderem bestimmt. Das Seiende wird zum bloßen Moment des Verweisungszusammenhangs. Da dieser die gesamte Schöpfung durchzieht, ist das einzelne Moment in negativer Weise durch die ganze Welt bestimmt, es ist der unendliche Verweisungszusammenhang an einer bestimmten Stelle: »Das All ist deshalb, obwohl es weder Sonne noch Mond ist, dennoch in der Sonne Sonne und im Monde Mond.« 29 Alles hängt mit allem zusammen. Das ist die Geburt der neuen Ontologie; es dauert freilich noch weitere 200 Jahre, ehe sie mit Descartes schließlich ihren Durchbruch erfährt und zur Grundlage des neuzeitlichen Denkens wird. Die zweite Entwicklung, die den Umbruch zur Neuzeit herbeiführt, bezeichnet Rombach als die »Erfahrung der Sterne«. Sie ist eng mit dem Namen Nikolaus Kopernikus ( 1473 - 1543 ) (und später dann Galileo Galilei, 1564 - 1642 , und Johannes Kepler, 1571 - 1630 ) verbunden. Das Kopernikanische Weltbild ist bekanntlich ein heliozentrisches und löst das geozentrische Weltbild des Ptolemäus ab. Die Erde macht der Sonne Platz und rückt dafür selber ins Weltall, wo sie fortan ein Himmelskörper unter vielen ist. Dadurch fällt die Unterscheidung des sublunaren Bereichs der Erde vom translunaren Bereich der Sterne weg. Das ist deswegen so revolutionär, weil für die Sterne von alters her ideale Bewegungsbahnen angenommen worden waren. Die Sterne folgen strengen Gesetzmäßigkeiten. Dagegen, so die alte Vorstellung, herrscht auf der Erde wegen des ständigen Werdens und Vergehens alles Seienden keine strenge 29 De Cusa 1999, S. 35. <?page no="140"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 140 Gesetzmäßigkeit. Mit dem Wegfall der lunaren Grenze muss nun angenommen werden, dass auch die Erde den Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Das bedeutet, dass das ›wahre‹ Sein nicht jenseits der vergänglichen Welt gesucht werden darf, sondern in ihr selbst aufgedeckt werden muss. Dadurch dass auch das endlich Seiende strengen Gesetzmäßigkeiten gehorcht, kommt ihm selber ›wahres‹ Sein zu - freilich nur, insofern es von diesen Gesetzmäßigkeiten her verstanden wird. Funktionsontologisch gesprochen, wird das endlich Seiende damit zu Momenten der aufzudeckenden Gesetzmäßigkeiten. Richtig verstanden ist es deshalb erst, wenn es durch die Gesetze der Natur erklärt werden kann, und nicht schon dadurch, dass es definiert und in bestimmten Gattungen zusammengefasst wird. Darin liegt die Geburt der modernen Wissenschaften. 30 Freilich ist dieser Prozess durch Kopernikus allenfalls angestoßen; der Durchbruch gelingt erst Galilei, Kepler und schließlich Newton ( 1643 - 1727 ). Am Beispiel des Kopernikus’ kann man aber sehr schön sehen, wie eine Grunderfahrung umbricht. Die Himmelsbeobachtungen haben über einen langen Zeitraum zur Entdeckung von immer neuen Daten geführt, die den bestehenden Vorstellungen widersprachen und sich nur durch die Einführung von immer neuen Epizykeln überhaupt noch erklären ließen. Irgendwann sprechen so viele Beobachtungen gegen die bestehenden Vorstellungen, dass die Interpretation der Beobachtungen umkippt und ein völlig neues Bild herausspringt. Dabei passte das kopernikanische Modell zunächst nicht wirklich besser zu den Beobachtungen, aber es eröffnete ganz neue Denk- und Verstehensmöglichkeiten, die im Laufe der folgenden Jahrhunderte dann zur Bestätigung seiner radikalen Umkehr des Himmelsbildes führten. Vermutlich hätten die Himmelsbeobachtungen allein nicht ausgereicht, um das etablierte Weltbild umzustoßen, aber sie sind sicherlich ein wichtiger Baustein zum Anstoß einer Erneuerung der antiken Grunderfahrung gewesen. Philosophisch etabliert wird das neue Denken durch Descartes ( 1596 - 1650 ). Er verbindet sozusagen die beiden genannten Motive, indem er den durch theologische Spekulation gewonnenen Funktionalismus mit Hilfe beobachtbarer Naturgesetzmäßigkeiten erklärt. Anhand eines einfachen Gedankenexperiments gelingt es ihm, die Ordnung der Welt allein durch Naturgesetze zu erklären. 31 Descartes nimmt in diesem Gedankenexperiment an, die Welt sei ein völlig ungeordnetes Meer von Materie, ja mehr noch, auch die Materie selbst sei völlig unbestimmt und erstrecke sich bis über den Horizont. Erfährt dieses Materiemeer nun einen Anstoß von außen, so kommt es zu Verschiebungen; da sich einzelne Teile der Materie aufgrund ihrer räumlichen Nähe 30 Weidtmann 2016. 31 Descartes 1989, S. 38-57. <?page no="141"?> Philosophie als Selbstklärung von Mensch und Welt (Neuzeit) 141 zum Anstoßpunkt schneller bewegen als andere und die Bewegung zudem in unterschiedliche Richtungen verläuft, werden einzelne Materieteile voneinander differenzierbar. Das zuvor völlig undifferenzierte Materiemeer gewinnt eine Binnenstruktur, und diese Binnenstruktur ist keineswegs zufällig. So können sich die einzelnen Teile beispielsweise nur dorthin bewegen, wo ihnen ein anderes Materieteil Platz macht oder wo sie ein anderes Materieteil verdrängen können. Ja, die Struktur wird mit der Zeit sogar immer klarer, weil die Bewegung der Materieteile notwendigerweise folgenden Regeln unterliegt: »Die erste lautet: Daß jeder einzelne Teil der Materie solange immer im selben Zustand verharrt, wie das Zusammentreffen mit anderen ihn nicht zwingt, ihn zu verändern.« 32 Da die Materie in Descartes’ Gedankenexperiment als völlig unbestimmt vorgestellt wird, kann ihr auch nicht die Bestimmung zukommen, sich von sich aus zu teilen oder zu verändern. Veränderung muss von außen kommen. »Ich nehme als zweite Regel an: Wenn ein Körper einen anderen anstößt, kann er ihm keine Bewegung übertragen, wenn er nicht gleichzeitig ebensoviel von seiner eigenen verliert; und ihm auch keine davon entziehen, ohne daß die seinige sich ebenso sehr vermehrt.« 33 Diese Regel ist uns vom Energieerhaltungssatz her vertraut. »Ich werde als dritte hinzufügen: Wenn sich ein Körper bewegt, obgleich seine Bewegung sich meistens in gekrümmter Linie vollzieht, und er niemals eine andere als in irgendeiner Form kreisförmige vollziehen könnte, […] strebt dennoch jeder seiner Teile für sich immer danach, die seine geradlinig fortzusetzen.« 34 Jede Änderung der geradlinigen Bewegungsrichtung bedarf eines äußeren Impulses. Auch diese Regel ergibt sich konsequenterweise aus der angenommen Unbestimmtheit der Materie. Descartes beschreibt in seinem Gedankenexperiment also, wie aus substanzlos gedachter Materie eine geordnete Welt entstehen kann. Die Ordnungsprinzipien liegen zudem offen zutage. Die Materie war ja absichtlich als völlig unbestimmt und der Erkenntnis deshalb vollkommen zugänglich vorgestellt worden. Wenn allein durch die Wirkungen, die die Bewegungen hervorrufen, mit der Zeit einzelne Teile unterscheidbar werden, die Materie also doch Bestimmungen erlangt, und wenn sich darüber hinaus eine Ordnung ausbildet, dann braucht man bloß die Bewegungen zu studieren, um zu verstehen, worin die Ordnung gründet. Descartes nimmt mit seinem Ge- 32 Ebd., S. 47. 33 Ebd., S. 49. 34 Ebd., S. 53. <?page no="142"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 142 dankenexperiment die Vorstellung einer durch Druck und Stoß strukturierten Welt vorweg, die Newton ein halbes Jahrhundert später entwickelt. Vor allem aber zeigt er, dass wir verstehen können, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, indem wir die beobachteten Wirkungen auf ihre durch die Gesetzmäßigkeiten beschriebenen Ursachen zurückführen. Wollen wir die Ordnung der Welt verstehen bzw., klassisch ausgedrückt, ihr ›Wesen‹ erkennen, dann müssen wir die Naturgesetze erforschen. Solche Forschung führt uns zu Erkenntnissen, die über das aktuell Beobachtete weit hinausgehen; schließlich gelten die Naturgesetze überall und immer, können also auch solche Ereignisse erklären, die noch gar nicht beobachtet worden sind. Darin liegt der entscheidende Durchbruch der modernen Wissenschaften. Sie können Vorhersagen treffen. Und sie zielen grundsätzlich auf die Erklärung der ganzen Welt, hat doch jede beobachtbare Veränderung eines einzelnen Materieteils entsprechende Auswirkungen auf alle anderen Teile. Die neue Wissenschaft ist darum »Mathesis Universalis«, Universalwissenschaft. Jetzt erst, in der Neuzeit, ist das europäische Weltverständnis wesentlich ein universales. Die Griechen entdecken die Welt gleichsam als jenen Zwischenraum zwischen bloßer Materie und reinem Geist, der dem Menschen zum Aufenthalt und Ort seines vernünftig geführten Lebens wird. Sie entdecken die Welt als kulturelle Welt. In der Neuzeit erfährt diese Entdeckung eine Objektivierung, die Welt beschränkt sich nun nicht mehr auf die vom Menschen bewohnte Welt, sondern wird ursprünglich als Naturwelt erfahren. Damit rückt eine Begegnung der Kulturen in der interkulturellen Dimension in weite Ferne. Auf dem Boden der Naturwelt mögen sich unterschiedliche kulturelle Weltbilder ausbilden, sie bleiben, dieser Vorstellung zufolge, über den gemeinsamen Boden aber grundsätzlich vermittelbar. An die Stelle von Begegnung und Austausch treten darum Aufklärung und universaler Objektivitätsanspruch. Das gilt bis heute. Wenigstens die Naturwissenschaften arbeiten auch heute in dem Selbstverständnis, sich über ihre kulturelle Standortgebundenheit zu erheben und die Welt transkulturell und ›transhistorisch‹ zu erforschen. Das Bestreben, die Welt zu erkennen und die Oberfläche des Gegebenen auf ihren Grund hin zu durchbrechen, zielt in der Neuzeit, das zeigt Descartes, nicht auf die Substanz, sondern auf die Naturgesetze. Für das einzelne Seiende interessiert sich die neue Wissenschaft darum nur als Datum der in den Naturgesetzen gefundenen Funktionen. In der Entdeckung der neuen Wissenschaft liegt aber noch etwas anderes: Die Erkenntnis zielt auf Naturgesetze; diese lassen sich aber nicht beobachten; vielmehr lässt sich aus den Beobachtungen nur auf sie rückschließen. Das bedeutet, dass die Formulierung einer Gesetzmäßigkeit ein Akt der Vernunft ist, der an der beobachtbaren Realität über- <?page no="143"?> Philosophie als Selbstklärung von Mensch und Welt (Neuzeit) 143 prüft werden muss. Deshalb arbeitet die moderne Wissenschaft mit Hypothesen und Modellen, und deshalb bleibt die moderne Wissenschaft grundsätzlich kritikfähig. Wissenschaft ist ihrem Wesen nach undogmatisch. Allerdings bedeutet das auch, dass sich die eigentlichen Erkenntnisse auf (in der Überprüfung bestätigte) Modelle und Hypothesen stützen, sich also auf Leistungen der Vernunft beziehen. Die Wissenschaft entwickelt Modelle, die die Natur bestmöglich beschreiben; sie findet diese Modelle aber nicht in der Natur vor. Damit ist eine Schwierigkeit angezeigt, die Descartes noch nicht zu lösen vermag. Seine Entdeckungen zwingen ihn stattdessen gleichsam dazu, zwei voneinander unterschiedene Substanzen anzunehmen, die res cogitans, in der alle Erkenntnis beheimatet ist, und die res extensa, jenes Materiemeer, dessen Ordnung durch die Naturgesetze beschrieben werden soll. Um die Übereinstimmung beider zu gewährleisten, muss Descartes in seinen Meditationen den gütigen Gott wieder einführen. Das ist der Punkt, an dem Kant den entscheidenden Schritt über Descartes hinaus macht. 35 Kant zeigt, wie gesichertes Wissen von der äußeren Welt möglich ist, ohne dass ein gütiger Gott die Übereinstimmung von Wissen und Welt gewährleistet. Das Zauberwort heißt Erfahrung. In der Erfahrung kommen Vernunft und äußere Welt zusammen. Ich bin darauf, wie Vernunft und äußere Welt in der Erfahrung zusammenkommen, in Kapitel 2 . 1 . 1 bereits eingegangen und fasse deshalb hier nur kurz zusammen: Die von außen kommenden Sinneseindrücke müssen zunächst einmal überhaupt aufgenommen und ›angeschaut‹ werden, bevor die durch sie angezeigten Gegenstände verstanden werden können. Das Verstehen setzt solche Anschauungen immer schon voraus. Während das Verstehen eine Leistung des Verstandes ist, gehört die Rezeptivität der Anschauung in den Bereich der Sinnlichkeit. Die Anschauung beruht nun darauf, dass die verschiedenen Sinneseindrücke durch die Formen der Anschauung - nämlich Raum und Zeit - geordnet und so zu Gegenständen der Anschauung werden, auf die sich das verstehende Denken beziehen kann. Schon in die Sinnlichkeit fließen also Leistungen des Subjekts mit ein. Das wiederholt sich auf höherer Ebene, wenn der Verstand sich auf die Gegenstände der Anschauung bezieht und sie unter Begriffe subsumiert. Erst dadurch wird der in der Anschauung bloß gegebene Gegenstand auch verstanden. Der Verstand bezieht damit die vom rezeptiven Stamm der Erkenntnis aufgenommenen Sinneseindrücke auf einen Gegenstand der Erfahrung. Kant spricht von der Spontaneität des Verstandes. Der Verstand öffnet der Anschauung gleichsam die Augen: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe 35 Vgl. für das Folgende Kant 1973b. <?page no="144"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 144 sind blind.« 36 Wir können einen in der Erfahrung gegebenen Gegenstand also nur deshalb erkennen, weil Rezeptivität der Sinnlichkeit und Spontaneität des Verstandes ineinander greifen. Die Erfahrung, d. h. die Erkenntnis, die wir von der äußeren Welt haben, beinhaltet über die bloße Aufnahmeleistung des Gegebenen durch das Subjekt hinaus dessen Kategorisierung. Die erfahrenen Gegenstände selbst sind, was sie sind, nur dadurch, dass zu den von außen kommenden Sinneseindrücken eine spontane, d. h. eine aktive Leistung des Subjekts hinzukommt. In Kants eigenen Worten: »[D]ie Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung […].« 37 Damit ist nicht gesagt, dass das Subjekt die Gegenstände der Erfahrung beliebig konstruiert, vielmehr ist es umgekehrt gerade so, dass die Erfahrung durch die Ordnung, die der Verstand in sie legt, objektiviert wird. Gesicherte Erkenntnis ist nur auf dem Boden der Vernunft möglich, das hatte bereits Descartes gezeigt. Kant zeigt nun, wieso die vernünftige Erkenntnis auch tatsächlich der Ordnung der Erfahrungswelt entspricht: Die Vernunft selbst ordnet die Erfahrungswelt. Das erinnert an das Logos-Denken der Antike. Im Gegensatz zum antiken Denken ist der Mensch bei Kant aber nicht dazu aufgerufen, die bloße Gegebenheit der Dinge, bei Kant also die Erfahrung, zu durchbrechen, um sich auf die Suche nach dem Logos, der Vernunft, zu begeben. »Gedanken ohne Inhalt sind leer«, die Ordnungsfunktionen der Vernunft sind ohne die zu ordnenden Momente der Sinneseindrücke schlicht funktionslos. Alle Erkenntnis liegt darum in der Erfahrung selbst. Der Mensch, der an der Vernunft teilhat, gelangt also durch Erfahrung, sozusagen dadurch, dass er die Vernunft auf das sinnlich Gegebene anwendet, zu Erkenntnis. Dadurch ist die Schwierigkeit, die sich Descartes mit der Unterschiedenheit der zwei Substanzen gestellt hat, geklärt. Die Substanzen sind in der Erfahrung verbunden. Freilich bleiben sie jenseits der Erfahrung getrennt. Das rettet zum einen die menschliche Freiheit, weil sich der Mensch in seinen Handlungen ganz von Einflüssen der Erfahrung lösen und allein der reinen Vernunft folgen kann. Das bedeutet andererseits, dass der Mensch lediglich hoffen kann, dass die Erfahrung, die aufgrund seiner eigenen Endlichkeit immer vorläufig bleibt, am Ende der Geschichte tatsächlich mit der Welt, wie sie an sich ist, übereinstimmt. Kant entdeckt die Erfahrung als Mittlerin zwischen Vernunft und Welt, aber er versteht sie noch ganz von diesen beiden Polen her, so dass sowohl die Vernunft als auch die Welt immer schon vorausgesetzt bleiben. Das kantische Denken ist darum ähnlich wie das descartes’sche durch und durch universalistisch. 36 Ebd., B 75. 37 Ebd., B 197. <?page no="145"?> Das Phänomen des Fremden (20. Jahrhundert) 145 Mit Kant nimmt der etwas imperialistisch auftretende Universalismus des neuzeitlichen Funktionalismus freilich eine sehr viel freundlichere Gestalt an. Kant hält am Universalismus fest, aber er sieht in ihm mehr die Verpflichtung zur wechselseitigen Anerkennung denn das Recht, fremde Kulturen zu kolonialisieren. Auch bei Kant findet sich das Überlegenheitsgefühl der europäischen Kultur, dennoch entwickelt er Überlegungen, wie das friedliche Zusammenleben aller Völker möglich ist. 38 Dabei spielt die Toleranz anderen kulturellen Lebensformen gegenüber eine wichtige Rolle. Zum einen gebietet die Vernunft eine Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten. Zum anderen ist jedem Menschen ein Besuchsrecht einzuräumen, Kant spricht in diesem Zusammenhang von einem »Weltbürgerrecht«. Die Menschen besitzen zwar kein Bleiberecht in fremden Staaten, dennoch liegt Kant zufolge im Besuchsrecht die Chance, dass »entfernte Welttheile mit einander friedlich in Verhältnisse kommen […] und so das menschliche Geschlecht endlich einer weltbürgerlichen Verfassung immer näher bringen können«. 39 Die Menschen besitzen alle das gleiche Recht auf die Erde. Das ist dadurch begründet, dass sie als vernunftbegabte Wesen gleichberechtigt sind. So führt der Universalismus der Vernunft bei Kant zur Anerkennung der grundsätzlichen Freiheit aller Menschen statt zu Kolonialisierung und Versklavung. Freilich bleibt, wie in jedem Universalismus, das, was universalisiert wird, fraglos vorausgesetzt. Wenn nicht alle Völker derselben Einsicht folgen, lässt sich auch das friedliche Zusammenleben nicht realisieren. Und bis heute ist es leider nicht realisiert. 3 . 3 Das Phänomen des Fremden ( 20 . Jahrhundert) Für die nach-kantische Philosophie stellt sich die Aufgabe, die Voraussetzungen des kantischen Universalismus aufzuklären. Auch sie müssen sich in der Erfahrung aufweisen lassen. Lässt sich die Philosophie der Neuzeit als Geschichte der Selbstbegründung von Mensch und Welt lesen, so bedeutet der Schritt darüber hinaus deshalb, von der Selbstbegründung zur Selbstgestaltung von Mensch und Welt zu gelangen. Das gilt es im Folgenden zu zeigen. Kants Entdeckung, dass Erfahrung grundsätzlich zusammengesetzt ist aus Sinneseindrücken auf der einen und Leistungen der Erkenntnisvermögen auf der anderen Seite ist für den weiteren Gang der Philosophie von nicht zu überschätzender Bedeutung. In der Erfahrung sind Vernunft und Welt einander vermittelt. Diese Entdeckung führt dazu, dass der Erfahrung fortan ein beson- 38 Kant 1969a. 39 Ebd., S. 358. <?page no="146"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 146 deres Augenmerk gilt. Hegel wollte seine Phänomenologie des Geistes, in der er zeigt, wie sich die Vernunft geschichtlich an der Welt abarbeitet, ursprünglich »Erster Theil. Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseyns« nennen. 40 Herder und Humboldt denken über die Bedeutung der Sprache für die menschliche »Weltansicht« nach. Die Sprache ist der subjektive Weg des Menschen zu objektiver Erkenntnis. 41 Das würde gar keinen Sinn machen, wäre nicht dem zuvor gezeigt gewesen, dass die Welt dem Subjekt nur durch die Erfahrung vermittelt gegeben ist und die Sprache selbst eine Erfahrungsweise ist, ja die für den Menschen wesentliche Erfahrungsweise. »Die Summe des Erkennbaren liegt, als das von dem menschlichen Geiste zu bearbeitende Feld, zwischen allen Sprachen, und unabhängig von ihnen, in ihrer Mitte: der Mensch kann sich diesem rein objectiven Gebiet nicht anders, als nach seiner Erkennungs- und Empfindungsweise, also auf einem subjectiven Wege, nähern. […] Dies ist nur mit und durch Sprache möglich.« 42 Mit der Entdeckung der Geschichtlichkeit der Vernunft auf der einen und der Sprachgebundenheit der Erfahrung auf der anderen Seite bekommt der Universalismus Kants erste Risse. Sowohl Hegel als auch Herder und Humboldt halten zwar grundsätzlich am Universalismus fest, aber sie zeigen, dass und warum sich geschichtlich und kulturell verschiedene Weltansichten ausbilden. Die Realisierung der Universalität der Vernunft erfordert also, zunächst die fremden Weltansichten zu verstehen. An die Stelle von Aufklärung und Erziehung treten deshalb Gespräch und Verstehen. Diese Einsicht wird zum leitenden Gedanken der philosophischen Hermeneutik. Auf der anderen Seite ist die Hinwendung zur Sprache - und damit eben zugleich auf die Art und Weise, wie Welt erfahren wird - auch für die Analytische Philosophie ein entscheidender Ausgangspunkt gewesen. Frege bezeichnet es als entscheidende Aufgabe der Philosophie, die Sprache zu analysieren, um aufzuklären, wie uns der Gewohnheit gewordene Sprachgebrauch immer wieder über die Beziehung von Begriffen täuscht. 43 Noch einmal ganz anders kommt die Bedeutung der Erfahrung im Pragmatismus zum Tragen. Dem Pragmatismus zufolge bemisst sich die Richtigkeit einer Handlung ebenso wie die Wahrheit einer Theorie am Erfolg der Handlung bzw. der Theorie. Dieser lässt sich nur in der Erfahrung beurteilen, so dass es auch hier die Erfahrung ist, die zwischen Welt und handelndem bzw. erkennendem Subjekt vermittelt. Freilich ist der Erfahrungsbegriff des Pragmatismus insofern ein ganz anderer als derjenige Kants, als in 40 Bonsiepen 1988, S. XIX . 41 Vgl. dazu Weidtmann 2015. 42 W. v. Humboldt 1963, S. 20. 43 Frege 2014. <?page no="147"?> Das Phänomen des Fremden (20. Jahrhundert) 147 ihm gerade kein transzendentales Moment vorkommt. Sachlich am nächsten kommt die Phänomenologie dem kantischen Erfahrungsbegriff. Freilich führt sie ihn einen entscheidenden Schritt weiter. Bei Kant bindet die Erfahrung gleichsam die äußere Welt mit dem vernünftigen Subjekt zusammen, indem die Vernunft die von außen kommenden Sinneseindrücke aufnimmt und ordnet. Äußere Welt (da sich über sie nichts über die Erfahrung Hinausgehendes sagen lässt, spricht Kant von den »Dingen an sich«) und Vernunft sind also vorausgesetzt, die Erfahrung vermittelt nur zwischen beiden. Husserl will genau diese Voraussetzung hinterfragen und geht in seinen Analysen darum konsequent von der Erfahrung selbst aus. Hatte Kant schon gesagt, dass wir über die Dinge an sich nichts wissen können, so zieht Husserl daraus die Konsequenz darauf hinzuweisen, dass wir uns allein unserer Erfahrung sicher sein können. Wir mögen an der Existenz des Tisches, den wir vor uns stehen sehen, zweifeln; daran, dass wir ihn in diesem Moment wahrnehmen (erfahren) und er uns also zumindest in der Erfahrung gegeben ist, können wir aber nicht zweifeln. Diese einfache Überlegung, die Husserl in Anlehnung an Descartes macht, legt es nahe, sich zunächst der Analyse der Erfahrung zuzuwenden. Tut man das, dann fällt auf, dass alle Erfahrung die Doppelstruktur des ›etwas als etwas‹ besitzt. Die Erfahrung bleibt nicht bei dem stehen, was ihr im einzelnen Erfahrungsakt gegeben ist, sondern bezieht das darin Gegebene immer auf eine Vielzahl weiterer Erfahrungsakte, in denen dasselbe oder Ähnliches gegeben war. Erst vor diesem Horizont einer Erfahrungsbzw. in diesem Fall einer Wahrnehmungsvielfalt wird in dem, was aktuell wahrgenommen wird, ein Gegenstand erkannt. Husserl erläutert das an ganz einfachen Beispielen. Stehe ich vor einem Haus und schaue auf die Hausfront, dann nehme ich nicht nur die Hausfront, sondern das ganze Haus wahr. Oder, richtiger, ich nehme das, was sich mir zeigt, als die Frontseite eines Hauses wahr. Wäre das nicht so und würde ich lediglich das, was sich mir aktuell zeigt, wahrnehmen, dann könnte ich keine Hausfront wahrnehmen. Die Wahrnehmung der Hausfront verlangt, dass ich neben dem in der aktuellen Wahrnehmung Gegebenen zugleich eine Vorstellung von Häusern habe, weil ich nur im Abgleich des aktuellen Wahrnehmungsinhalts mit der Hausvorstellung erkennen kann, dass es sich um die Frontseite eines Hauses handelt. Ohne einen solchen Abgleich könnten wir das, was uns in der Wahrnehmung jeweils aktuell gegeben ist, niemals verstehen. Wir wären dauerhaft mit einer uns völlig fremden und fremd bleibenden Wahrnehmungswelt konfrontiert. Husserl zeigt nun, dass die Vorstellung eines Hauses, mit der wir unsere aktuelle Wahrnehmung abgleichen, keine angeborene Idee ist, sondern ihrerseits aus Erfahrung gewonnen wurde. Wir haben Erfahrung mit der Wahrnehmung von Häusern, <?page no="148"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 148 deshalb können wir die Hausfront, vor der wir stehen, als eine solche erkennen. Hätten wir noch nie ein Haus gesehen, dann bliebe uns auch die Hausfront fremd; woher sollten wir auch wissen, dass sich hinter der Front ein dreidimensionales Gebäude verbirgt, in das man hineingehen und in dem man wohnen kann? Wir müssen die Ideen, die uns ein sinnvolles Erfahren erst ermöglichen, die also ganz im kantischen Sinne »Bedingungen der Möglichkeit« von Erfahrung sind, selber erst erlernen. Die Erfahrung ermöglichende Vernunft muss selbst in der Erfahrung gewonnen werden. Husserl spricht deshalb von »transzendentaler Erfahrung«. 44 Zugleich zeigt sich in der Analyse der Erfahrung, dass auch die Vorstellung davon, dass das wahrgenommene Haus »an sich« existiert, es die Wahrnehmung also transzendiert, in der Erfahrung selbst gründet. In der aktuellen Wahrnehmung, in der lediglich die Hausfront gegeben ist, wird diese als Frontseite eines Hauses wahrgenommen, das Gegebene wird also als Teil eines Ganzen wahrgenommen, das selbst gar nicht zu sehen ist. Das funktioniert, wie erläutert, deshalb, weil der aktuelle Wahrnehmungsinhalt vor dem Horizont einer Vielzahl weiterer Wahrnehmungen verstanden wird. Das Haus selbst ist, wie Husserl sagt, bloß »vermeint«. Es ist intendiert, darum »intentionaler Gegenstand«. Der vermeinte Gegenstand aber ist das »an sich« seiende, die Wahrnehmung transzendierende Haus. Nur weil unsere Wahrnehmung die Struktur des ›etwas als etwas‹ hat und damit selbst auf Transzendenz angelegt ist, verstehen wir das in der Wahrnehmung Gegebene als »an sich« seiend. Vernunft und äußere Welt gründen also tatsächlich in der Erfahrung. Aber Vorsicht: Erfahrung meint nicht die Erfahrung eines für sich seienden Subjekts; ein solches Subjekt wäre ein weltloses Subjekt, würde es doch existieren, bevor es überhaupt je Welt erfahren hat. Die Phänomenologie versteht das Subjekt dagegen konsequent als ein weltliches. Das bedeutet, dass sich mit der Erfahrungswelt zugleich das Subjekt als ein erfahrendes Subjekt konstituiert. Wir leben folglich nicht nur in einer Erfahrungswelt, wie bereits Kant gezeigt hat, sondern diese erfährt sich auch noch gleichsam selbst, insofern ihre Konstitutionsbedingungen eben auch durch Erfahrung gewonnen werden. Die Erfahrung vermittelt nicht zwei »an« bzw. »für sich« bestehende Bereiche, auch entfaltet sie nicht nur den »an und für sich« bestehenden Weltgeist, sondern sie stiftet selbst Wirklichkeit. Nein, sie stiftet keine Wirklichkeit, sie ist wirklich, samt erfahrendem Subjekt und erfahrener Welt. Sie ist wirklich aber nur als Erfahrungsprozess, nicht »an und für sich«. Darum versteht Husserl sowohl die Vernunft als auch die Welt wesentlich geschichtlich. Die Welt ist das Korrelat 44 Vgl. Anm. 4 in diesem Kapitel. <?page no="149"?> Das Phänomen des Fremden (20. Jahrhundert) 149 der Erfahrungsgeschichte. Erfahrungen sedimentieren und ermöglichen neue Erfahrungen; auch können auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen eine Vielzahl weiterer Erfahrungen untereinander ausgetauscht werden, so dass nicht jeder Einzelne alle Erfahrungen selber machen muss, sondern sich stattdessen auf dem Boden allgemein geteilter Erfahrungen bewegen kann. Auf diese Weise entwickelt sich die Erfahrungswelt immer weiter, der äußerste Horizont unseres Verstehens vergrößert sich kontinuierlich. Die Welt verdankt sich also einem großen Erfahrungszusammenhang, darum spricht Husserl von der »Lebenswelt«. 45 Die Welt ist gelebte und erlebte Welt und sie setzt einen Lebenszusammenhang voraus, d. h. dass nur diejenigen Erfahrungen tatsächlich sedimentieren, die für das Leben einer menschlichen Gesellschaft relevant sind. Ebenso werden nur diejenigen Erfahrungen tradiert, die auch für künftige Generationen relevant bleiben. Was relevant ist und was nicht, entscheidet sich nach der konkreten historischen Situation. Die ist aber nicht nur geschichtlich eine je andere, so dass sich die Lebenswelt im Laufe der Geschichte nicht nur erweitert, sondern auch verändert, sie ist darüber hinaus auch für die verschiedenen Weltregionen, in denen die Menschen auf eine gemeinsame Erfahrungsgeschichte zurückblicken, eine spezifische. Damit taucht zwangsläufig die Möglichkeit einer Mehrzahl verschiedener kultureller Lebenswelten auf. Husserl spricht in den 1930 er Jahren explizit von einer Vielzahl an »Sonderwelten«, die sich in »Heim-« und »Fremdwelt« differenzieren (vgl. dazu Kapitel 2 . 2 . 1 ). Durch das Aufmerksamwerden auf die Differenzierung der Lebenswelt in verschiedene Sonderwelten wird erstmals bewusst, dass die Welt, in der wir leben, zunächst einmal die eigene bzw. die bekannte und vertraute Erfahrungswelt ist und dass sie sich deshalb nicht ohne weiteres universalisieren lässt. Damit stellt sich die Aufgabe, die verschiedenen Sonderwelten zu einer Lebenswelt zu integrieren. Die Fremdwelten unterscheiden sich von der Heimwelt darin, dass sie nicht bekannt und nicht vertraut sind, weil sie auf einer anderen Erfahrungstradition aufruhen. Der beste Weg, sie zu integrieren, ist also, sie kennen und verstehen zu lernen. Die Schwierigkeit, die sich einem solchen Verstehen stellt, liegt darin, dass alles Verstehen entsprechende Erfahrungshorizonte voraussetzt, wir in der Heimwelt aber nicht über die Erfahrungshorizonte der Fremdwelt verfügen. Gadamer spricht in seiner philosophischen Hermeneutik deswegen von der Aufgabe einer »Horizontverschmelzung«, in der sich die eigenen Erfahrungshorizonte so mit denen der Fremdwelt vereinen, dass vor dem erweiterten Horizont beide Traditionen verständlich werden. 46 Wie eine 45 Husserl 1962a. 46 Gadamer 1990. <?page no="150"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 150 Horizontverschmelzung möglich ist, kann man Gadamer zufolge am Beispiel der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte lernen. Auch die Überlieferung erschließt sich uns in vielen Fällen nicht unmittelbar. In den historischen Wissenschaften sind wir immer wieder mit der Aufgabe konfrontiert, einen überlieferten Text zu verstehen. Gadamer zeigt, dass dies nur möglich ist, wenn es uns gelingt, die Frage aufzudecken, auf die der Text eine Antwort geben will. Wenn uns die Frage auch heute noch sinnvoll erscheint, dann verfügen wir über einen ihr entsprechenden Fragehorizont und können den überlieferten Text vor diesem Hintergrund verstehen. Der Fragehorizont wird sich im Laufe der Geschichte verändert haben, weshalb wir den Text vermutlich nicht genauso verstehen, wie er zu seiner Zeit verstanden worden ist. Dennoch begegnet er uns dann als eine mögliche Antwort auf eine Frage, in deren Horizont wir uns auch heute noch bewegen. Möglicherweise können wir von der überlieferten Antwort etwas lernen; dann erweitert sich unser Fragehorizont. Aber auch, wenn das nicht der Fall ist und der aktuelle Fragehorizont den überlieferten ohnehin umfasst, so können wir den Text doch immerhin verstehen. Diese Überlegungen lassen sich nun auf das Verstehen von Fremdwelten übertragen. 47 Freilich ist es in diesem Fall ungleich schwieriger, gemeinsame Fragehorizonte aufzudecken. Und doch zeigt Gadamer, dass es grundsätzlich immer möglich sein muss. Der Garant dafür ist die Tatsache, dass alles Verstehen sprachlich abläuft. Sowohl das Weltverständnis der Fremdwelt als auch dasjenige der Heimwelt sind sprachlich verfasst - und ebenso ist es der Versuch, die Fremdwelt von der Heimwelt aus zu verstehen. In der Sprache sind die vielfältigen Erfahrungen einer Sprachgemeinschaft sedimentiert; solange Sprachen ineinander übersetzbar sind, ist es darum auch möglich, die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte nachzuvollziehen. Nun sind Sprachen immer nur unzulänglich ineinander übersetzbar, aber doch so gut, dass sie ein Gespräch ermöglichen, in dessen Verlauf an einem wechselseitigen Verständnis gearbeitet werden kann. Die Übersetzungsarbeit eines solchen Gesprächs liegt nicht darin, die Worte der einen in die Worte der anderen Sprache zu übertragen, vielmehr geht es gerade darum, die den unterschiedlichen Horizonten zugrunde liegenden Fragen und Motivationen in solche Fragen und Motivationen zu übersetzen, die aus der eigenen Lebenswelt bekannt sind. Wo dies gelingt, kommt es zur Horizontverschmelzung. Freilich gelingt es nicht überall, weshalb das Verstehen nie absolut sein kann. Die philosophische Hermeneutik teilt Husserls Vorstellung, dass im Laufe der Geschichte letztlich alle Sonderwelten in einer einzigen gemeinsamen Lebenswelt aufgehen werden, nicht. Dennoch reicht das Verstehen weit. 47 Vgl. dazu Kap. 2.2.2. <?page no="151"?> Das Phänomen des Fremden (20. Jahrhundert) 151 Verstehen freilich heißt, wie wir gesehen haben, den fremden Horizont mit dem eigenen Horizont zur Verschmelzung zu bringen. Verstehen heißt also nicht, den fremden Erfahrungshorizont nachzuvollziehen, sondern ihn in den eigenen zu integrieren. Im Prozess dieser Aneignung wird er ein anderer. »Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht.« 48 Aneignung ist das Prinzip allen Verstehens. Das ist zunächst durchaus positiv zu verstehen. In der Aneignung gewinnt der Mensch seinen Platz in der eigenen Geschichte; im Prozess des Verstehens bezieht er die Überlieferungen auf sich und webt sich so selbst ins Netz der historischen Wirklichkeit ein. Mit Blick auf die interkulturelle Begegnung aber erscheint die Aneignung problematisch. Obwohl - oder richtiger: weil - die hermeneutische Philosophie wesentlich geschichtlich denkt, vermag sie auch interkulturelle Phänomene nur von ihrer Aneignung her aufzunehmen. Eine Pluralität verschiedener Philosophietraditionen ist hermeneutisch deshalb nur denkbar, wenn diese der wechselseitigen Aneignung grundsätzlich offen stehen. Nur, das Wesentliche bleibt der Aneignung immer entzogen: die eigene Wirklichkeit der fremden kulturellen Lebenswelten. Konkret ist es zunächst die Erfahrung des Anderen und des Fremden, die sich der hermeneutischen Aneignung widersetzen. Der Andere ist gerade darin anders und der Fremde darin fremd, dass sie sich dem aneignenden Verstehen letztlich entziehen, weil sie selbst Verstehende sind und so den Aneignungsversuchen durch eigene Aneignung immer schon zuvorkommen. Und doch ist die Erfahrung des Anderen und des Fremden eine reale Erfahrung; nur dass wir sie als sich dem aneignenden Verstehen Widersetzende erfahren. Durch dieses Paradox wird nicht nur jede objektivierende Analyse an die Erfahrung rückverwiesen, sondern das Erfahrungssubjekt selbst wird über sich hinaus auf Anderes verwiesen, ohne dieses Andere je ganz durch Aneignung an seine eigenen Erfahrungshorizonte anknüpfen zu können. Der verstehende Ansatz der Philosophie stößt hier an seine Grenze. Die Frage nach dem Anderen und dem Fremden ist in der Philosophie vergleichsweise jung. Es ist nicht so, dass der Andere und der Fremde nicht immer schon eine Rolle gespielt hätten. So ist beispielsweise für die Konstitution der griechischen Polis die Absetzung von den nicht griechisch sprechenden Barbaren wichtig. Und die Odyssee lässt sich so lesen, dass Odysseus in der Abwehr und Überwindung aller möglichen Versuche, ihn in fremde Welten zu entführen, seine eigene Größe und Gestalt gewinnt. Freilich geht es hier gerade um die positive Erfahrung der Gestaltfindung, d. h. um die Konstitution 48 Gadamer 1990, S. 302. <?page no="152"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 152 des Eigenen, so dass das Andere und Fremde lediglich als Absetzungsfolien auftauchen. In ihrer ganzen Brisanz stellt sich die Frage nach dem Anderen und dem Fremden aber erst, nachdem das Subjekt in der Neuzeit zum Dreh- und Angelpunkt der menschlichen Welt geworden ist. Das neuzeitliche Subjekt erkennt in der Welt keine höheren Ordnungen, sondern nur seine eigenen Erfahrungen. Die erfahrene Welt hängt deshalb am Subjekt. Das Subjekt als Zentrum aller Welterfahrung ist in der frühen Neuzeit freilich nicht das, was wir heute unter Subjekt verstehen. Vor allem ist das neuzeitliche Subjekt ein einziges, es ist ein singulare tantum. Deshalb kann die Frage nach dem Anderen und dem Fremden zunächst auch noch nicht zum Problem werden. Das ändert sich erst, als das philosophische Denken im Laufe des 19 . Jahrhunderts einer geschichtlichen Kritik unterworfen wird. Wenn die menschliche Welt ganz von der Erfahrung her verstanden wird, dann darf, wie wir gesehen haben, auch die der Erfahrung zugrunde liegende Subjektivität nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern muss sich in der jeweiligen Erfahrung konkret erweisen. Andernfalls droht die ganze Konzeption in einen Idealismus abzugleiten, so als sei die Welt bloß vorgestellte Welt. Tatsächlich aber vermag das Subjekt nur deshalb das Zentrum unserer Welterfahrung zu sein, weil es selbst nichts anderes als die Zusammenführung der vielen verschiedenen Erfahrungen ist, die wir machen. Es ist Erfahrungssubjekt i. d. S., dass es Verknüpfungspunkt einer Vielzahl von Erfahrungen ist und diese so erst in einen Erfahrungszusammenhang stellt. Dadurch aber werden die Erfahrungen erst zu Erfahrungen von etwas, das in den verschiedenen Erfahrungen dasselbe bleibt: Erfahrungen von Welt. In diesem Sinne liegt das Subjekt der Erfahrung zugrunde. So wie die Welt von der Erfahrung des Subjekts her verstanden wird, so muss das Subjekt umgekehrt aber auch von seiner Welterfahrung her verstanden werden. Das vormals weltlose Universalsubjekt wird damit zum geschichtlichen, in der Welt verankerten jeweiligen Subjekt. Mit der Phänomenologie Husserls wird das Subjekt also geschichtlich. Es durchläuft eine Erfahrungsgeschichte. Und die ist immer ganz konkret. Auch das geschichtliche Subjekt ist darum immer ein konkretes, auf bestimmte Erfahrungen bezogenes Subjekt. Damit verliert es seinen Universalcharakter und es taucht die Frage nach möglichen anderen Subjekten auf. Nach zweieinhalb Tausend Jahren taucht im frühen 20 . Jahrhundert erstmals die Frage nach dem Anderen in seiner Alterität und nicht als Konstitutionsbedingung des Subjekts auf. Und das nicht, weil sie zuvor vergessen worden wäre, sondern weil sie zuvor sinnlos war. Solange das Subjekt Universalsubjekt ist, kann es kein anderes Subjekt geben. Die Frage nach dem Anderen kann erst da aufkommen, wo <?page no="153"?> Das Phänomen des Fremden (20. Jahrhundert) 153 das menschliche Subjekt aus seiner vormals weltlosen Stellung ganz in die Welt hineingezogen und von seinen Weltbezügen her verstanden wird. Auf die Analyse der Fremderfahrung, wie sie uns im Anschluss an Husserl vor allem in der Phänomenologie, aber natürlich auch in der Politischen Philosophie begegnet, bin ich in Kapitel 2 . 2 . 4 näher eingegangen. Ich will an dieser Stelle darum nur die wichtigsten Grundzüge der Fremderfahrung in Erinnerung rufen und dann anhand zweier Kritikpunkte zeigen, weshalb auch die Analyse der Fremderfahrung letztlich nicht in die interkulturelle Dimension vordringt. Die Erfahrung von etwas, nämlich dem Fremden, als sich entziehend und dem verstehenden Zugriff widersetzend, nötigt dazu, den Begriff der Erfahrung selbst einer Revision zu unterziehen. Lag im Begriff der Erfahrung seit Kant gerade die verstehende Aneignung des Gegebenen, so macht die Fremderfahrung auf die Ausgesetztheit und grundsätzliche Unabgeschlossenheit aller Erfahrung aufmerksam. Fremderfahrung meint, so könnte man in Anlehnung an Lévinas sagen, dass sich das Subjekt dem, was es da erfährt, aussetzt, ohne von ihm - bereichert durch eine neue Erfahrung - wieder zu sich zurückzukommen. Die Erfahrung widerfährt dem Subjekt mehr, als dass es sie selber macht. Das Subjekt selbst bleibt vorläufig, immer auf Anderes und Fremdes verwiesen. Als relativ vertraut, bekannt und eigen kann etwas nur angesichts weiterer Erfahrungen erfahren werden, in denen alles Vertraute wiederum in Frage gestellt und dem Fremden ausgesetzt ist. Damit kehrt sich gleichsam die Erfahrungsrichtung um: Nicht gibt es zunächst das Eigene mit all seinen ihm vertrauten Erfahrungen, das dann, gleichsam in einem zweiten Schritt, dem Fremden begegnet, das es gerade deswegen als fremd erfährt, weil es dem Vertrauten und Eigenen nicht entspricht. Sondern umgekehrt bemisst sich das, was eigen ist, daran, was dem Fremden ausgesetzt ist. Ein Beispiel kann das erläutern: Angesichts der Fremderfahrung, die wir bei einem längeren Aufenthalt in China machen können, erscheint uns möglicherweise ganz Europa trotz seiner internen Vielfalt und seiner vielen Widersprüche als sehr vertraut. Zugleich können uns aber schon die häuslichen Sitten des Nachbarn sehr fremd vorkommen, so dass das Eigene und Vertraute in diesem Fall auf die Regeln des Zusammenlebens in der eigenen Familie zusammenschrumpft. Es ist also nicht so, dass die eigene Erfahrungswelt immer größer wird, wie Husserl und mit einem etwas weniger idealistische Gestus auch Gadamer angenommen haben. Vielmehr stehen die eigene Lebenswelt und mit ihr auch das Subjekt selbst angesichts der Fremderfahrung immer wieder von neuem auf dem Spiel. Waldenfels spricht davon, dass der Fremderfahrung das Fremdwerden der Erfah- <?page no="154"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 154 rung vorausgeht. 49 Mit Blick auf die interkulturelle Situation heißt das, dass sich die verschiedenen kulturellen Lebenswelten nicht nur gegenseitig als fremd erfahren, sondern darüber hinaus alle auf eine die verschiedenen Lebenswelten überschreitende und niemals in Vertrautheit überführbare Fremdheit verwiesen bleiben. Allein angesichts dieser »Zwischenwelt« lässt sich überhaupt von so etwas wie Vertrautheit und Eigenheit in den jeweiligen Lebenswelten sprechen. Damit kehrt sich auch mit Blick auf die interkulturelle Begegnung die bisherige Erfahrungsrichtung um: Die Begegnung wird gerade dadurch ermöglicht, dass sich die verschiedenen kulturellen Lebenswelten gemeinsam einem noch weiter reichenden Fremden gegenüberstehen sehen. Nicht die Aneignung ermöglicht Verständigung, sondern umgekehrt gerade das Brüchigwerden der eigenen Identität und die Infragestellung der Selbstgewissheit der verschiedenen kulturellen Lebenswelten. Damit ist dem Totalitätsanspruch, den Lévinas in der Philosophie der Erfahrung ausmacht, Einhalt geboten. Die Begegnung mit dem Fremden führt nicht zu dessen Vereinnahmung und Aneignung, sondern fordert das Eigene und Vertraute heraus, verunsichert es und lässt es sich seiner eigenen Vorläufigkeit und Endlichkeit bewusst werden. Die Phänomenologie des Fremden leistet damit die entscheidende Kritik an den Überresten eines unreflektierten Universalismus, der in der Phänomenologie selbst in ihren Anfängen noch anzutreffen war. Die kritische Frage, die sich nun aber stellt, ist, ob die Phänomenologie des Fremden über die Kritik hinaus in der Lage ist, die Begegnung der verschiedenen kulturellen Lebenswelten richtig zu beschreiben. Lässt sich überhaupt noch von Begegnung sprechen, wenn sich die Begegnenden angesichts der Zwischenwelt immer schon in ihrer eigenen Identität in Frage gestellt sehen? Es ist eine Stärke der Phänomenologie des Fremden, auf die verschiedenen Grade des Fremdseins aufmerksam zu machen und zu zeigen, dass den jeweiligen Fremdheitsgraden entsprechende Vertrautheitszonen korrespondieren. Es gibt weder das Fremde noch das Eigene und Vertraute schlechthin; beides sind keine festen Größen, vielmehr bestimmen sie sich wechselseitig. Es ist deshalb auch richtig, wenn die Phänomenologie des Fremden anmerkt, dass sich das Fremde keinesfalls einseitig vom Eigenen her bestimmt, sondern umgekehrt das Eigene selbst erst von der Fremderfahrung her als vergleichsweise eigen und vertraut erfahren wird. Allerdings ist wenig gewonnen, wenn die Begründungsrichtung einfach umgekehrt wird und dem Fremden gleichsam das ontologische Primat eingeräumt wird. Darin liegt eine falsche Verabsolutierung des 49 Vgl. Kapitel 2.2.4. <?page no="155"?> Das Phänomen des Fremden (20. Jahrhundert) 155 Fremden, die mit dem Eigenen gleich die Erfahrung im Ganzen zu bloßem Schein degradiert. Angesichts der »Spur des Unendlichen«, auf die sich der Mensch Lévinas zufolge im Angesicht des Anderen gesetzt sieht, wird das endliche Dasein zweitrangig. Es sei denn, die Spur der Unendlichkeit würde nicht ontologisch überhöht, sondern als eine Erfahrung, die wir angesichts der Wirklichkeit des Anderen machen, ernst genommen. Die Erfahrung der Unendlichkeit meint dann, dass wir den Anderen nicht nur nicht aneignen und vereinnahmen können, sondern dass wir uns durch die Begegnung mit ihm über uns selbst hinaus gerissen und in eine neue Wirklichkeit gestellt sehen. Das ist ein Dimensionensprung. Die Erfahrung des Fremden führt immer wieder zu solchen Dimensionensprüngen. In der neuen Dimension gewinnt sich das Eigene bzw. das Ich aus der Auseinandersetzung mit dem Fremden ganz neu; dadurch verändert sich aber auch das Fremde. Es wird nicht angeeignet, weil das Eigene, dem es gegenüberstand in der neuen Dimension so gar nicht mehr besteht; das Eigene ist in der neuen Dimension vom Fremden durchdrungen, aber nicht so, dass es dadurch aufgelöst würde, sondern so, dass sich das Eigene jetzt erst wirklich als bei sich seiend erfährt. Ostasiatisch gesprochen: Das Eigene wird in der neuen Dimension zum »Selbst« und in einer weiteren Dimension möglicherweise zum »selbstlosen Selbst«. 50 Je mehr das Ich sein Eigenes loslässt und sich auf das Fremde einlässt, desto besser trifft es sein Selbst. Die Phänomenologie der Fremderfahrung verkennt diese Dimensionensprünge der Erfahrung allerdings. Der zweite Punkt, der darauf aufmerksam macht, dass die Phänomenologie des Fremden zwar den Stachel im Fleisch neuzeitlich-modernen Denkens richtig setzt, letztlich aber nicht in die Dimension der Interkulturalität einbricht, betrifft den Weltcharakter der Erfahrung. Schon die entscheidende Kritik, die Heidegger an Husserl übt, zielt auf sein Verständnis von Welt. Husserl versteht Welt als die Idee des äußersten, alle geschichtlichen Erfahrungen umgebenden Universalhorizonts. Die Erfahrung von Welt stünde damit gleichsam am Ende der Geschichte, deshalb ist sie uns gegenwärtig nur als eine Idee präsent. Dagegen wendet Heidegger ein, dass alle Erfahrung immer schon einen Erfahrungszusammenhang voraussetzt, von dem her sie erst ihre spezifische Bedeutung erhält. Der Erfahrungszusammenhang verweist seinerseits auf ein umfassendes Feld möglicher weiterer Erfahrungen; dieses Feld aller möglichen Erfahrungen wird als Welt erfahren. Die Welt ist nicht die letzte, sondern die erste Erfahrung. Beispielhaft zeigt Heidegger das an einer Passage aus Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die ich hier stark gekürzt wiedergebe: 50 Vgl. dazu Stenger 2006, S. 398-406. <?page no="156"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 156 »Wird man es glauben, daß es solche Häuser gibt? […] Häuser? Aber, um genau zu sein, es waren Häuser, die nicht mehr da waren. Häuser, die man abgebrochen hatte von oben bis unten. Was da war, das waren die anderen Häuser, die danebengestanden hatten, hohe Nachbarhäuser. […] Ich weiß nicht, ob ich schon gesagt habe, daß ich diese Mauer meine. Aber es war sozusagen nicht die erste Mauer der vorhandenen Häuser (was man doch hätte annehmen müssen), sondern die letzte der früheren. Man sah ihre Innenseite. Man sah in den verschiedenen Stockwerken Zimmerwände, an denen noch die Tapeten klebten, da und dort den Ansatz des Fußbodens oder der Decke. […] Am unvergeßlichsten aber waren die Wände selbst. Das zähe Leben dieser Zimmer hatte sich nicht zertreten lassen. Es war noch da, es hielt sich an den Nägeln, die geblieben waren, es stand auf dem handbreiten Rest der Fußböden. […] Und aus diesen blau, grün und gelb gewesenen Wänden, die eingerahmt waren von den Bruchbahnen der zerstörten Zwischenmauern, stand die Luft dieser Leben heraus, die zähe, träge, stockige Luft, die kein Wind noch zerstreut hatte. Da standen die Mittage und die Krankheiten und das Ausgeatmete und der jahrealte Rauch und der Schweiß, der unter den Schultern ausbricht und die Kleider schwer macht, und das Fade aus den Munden und der Fuselgeruch gärender Füße. Da stand das Scharfe vom Urin und das Brennen vom Ruß und grauer Kartoffeldunst und der schwere, glatte Gestank von alterndem Schmalze. Der süße, lange Geruch von vernachlässigten Säuglingen war da und der Angstgeruch der Kinder, die in die Schule gehen, und das Schwüle aus den Betten mannbarer Knaben. […] Ich habe doch gesagt, daß man alle Mauern abgebrochen hatte bis auf die letzte -? Nun, von dieser Mauer spreche ich fortwährend. Man wird sagen, ich hätte lange davorgestanden; aber ich will einen Eid geben dafür, daß ich zu laufen begann, sobald ich die Mauer erkannt hatte. Denn das ist das Schreckliche, daß ich sie erkannt habe. Ich erkenne das alles hier, und darum geht es so ohne weiteres in mich ein: es ist zu Hause in mir.« 51 Heidegger versteht diese Passage so, dass Rilke bzw. Malte hier die Welt unmittelbar aus den Dingen entgegen springt, an den Dingen aufspringt. Maltes Schilderung ist nur möglich als eine Auslegung dieser Welt; sie »ist nicht in die Mauer hineingedichtet«, sondern schildert die Wirklichkeit der Mauer. Das aber geht nur, wenn Malte diese Wirklichkeit zuvor erfasst hat. Das Schlagartige dieser Wirklichkeitserfassung macht Rilke daran deutlich, dass Malte nur einen Moment vor der Mauer verweilt und dann davonzulaufen beginnt. Malte ist getroffen von der Wirklichkeit, die ihn in der Mauer anspringt; seine Schilderungen differenzieren dieses unmittelbare Getroffensein nur aus. Heidegger erinnert mit diesem Beispiel daran, dass alle unsere Erfahrungen grundsätzlich Erfahrungen in der Welt sind und diese als Sinnraum immer schon voraussetzen. Mit Blick auf die Phänomenologie des Fremden bedeutet dies, dass alle Fremderfahrung so weltverändernd sie auch sein mag, doch die Welt immer schon voraussetzt, weil andernfalls gar keine Erfahrung möglich wäre. Insofern die Phänomenologie des Fremden verschiedene kulturelle Lebenswelten und 51 Heidegger 1975, S. 244 ff. Vgl. auch Rilke 1910. <?page no="157"?> Interkulturalität als Dimension (Gegenwart) 157 die Zwischenwelt differenziert, ohne sich bewusst zu sein, dass eine solche Differenzierung Welt bereits voraussetzt, ließe sich im Anschluss an Heidegger geradezu von einer ›Weltvergessenheit‹ sprechen. Die Erfahrung einer Pluralität kultureller Lebenswelten setzt ebenso wie die Verwiesenheit auf eine Zwischenwelt Welt bereits voraus. Umgekehrt ließe sich Heidegger, jedenfalls von Waldenfels her gesehen, so etwas wie eine Fremdvergessenheit vorhalten. Tatsächlich ist sein ontologisches Denken, darauf hat Lévinas zurecht aufmerksam gemacht, grundsätzlich auf Totalität angelegt. Die eigentliche Herausforderung, vor die uns die Frage der Interkulturalität stellt, liegt darum darin, den Weltcharakter der Erfahrung sehen zu lernen. Wir leben, das ist längst klar, immer in einer geschichtlich konstituierten Erfahrungswelt. Diese hat aber, und darauf kommt es an, in jedem geschichtlichen Moment Weltcharakter. Sie wird also nicht erst im Laufe der Geschichte zur Welt oder nähert sich der Idee Welt an, sondern sie ist immer schon Welt und ändert im Laufe der Geschichte nur fortwährend ihren Sinn - und zwar häufig dann, wenn sie sich mit anderen kulturellen Erfahrungstraditionen auseinandersetzt. Die Entwicklung verläuft darum, wie wir auch schon gesehen haben, nicht linear, sondern dimensional; das heißt, dass Veränderungen nicht einfach etwas Neues hinzufügen, sondern das ganze Erfahrungsfeld wandeln. Mit jeder Epoche wandelt sich das gesamte Menschen- und Weltbild einer Zeit. 3 . 4 Interkulturalität als Dimension (Gegenwart) Im griechischen Denken wird die Bewegung, die darin liegt, das Vorliegende zu hinterfragen und zu be-gründen (Logon didonai), als eigentliche Aufgabe des Menschen entdeckt. In der Neuzeit wird diese Aufgabe präziser gefasst und die Notwendigkeit einer Selbstbegründung erkannt. Auch die Bewegung der Selbstbegründung aber ist nicht voraussetzungslos. Lag der letzte und unhintergehbare Grund im griechischen Denken jenseits der Welt, so liegt er in der Neuzeit im Subjekt. Das Subjekt wird von Fichte und Hegel zwar als ein sich selbst setzendes erkannt, als solches bleibt es aber in aller Erfahrung vorausgesetzt. Die Phänomenologie und namentlich die Phänomenologie des Fremden zeigen, dass sich das Subjekt selber der Erfahrung verdankt - und das nicht so, dass das Subjekt über die Zerstreuung in die Erfahrung erst zu sich selbst kommt, indem es sich als die Einheit aller Erfahrung erfasst (wie Hegel die Selbstbegründung des Subjekts beschreibt). In der Erfahrung des Fremden sieht sich das Subjekt einem Geschehen ausgesetzt, das es nicht mehr beherr- <?page no="158"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 158 schen kann und das ihm darum mehr widerfährt, als dass es dieses Geschehen selbst erfährt. Im Fremden wird etwas als entzogen erfahren, weshalb das Subjekt diese Erfahrung nicht auf seine eigenen Erfahrungshorizonte beziehen und diese dadurch klären oder erweitern kann. Vielmehr erfährt es sich selbst angesichts des Fremden in Frage gestellt und zur Antwort aufgefordert. An die Stelle der Selbstbegründung tritt die Verantwortung dem Fremden gegenüber. Allerdings liegt in dieser Überlegung die Gefahr, die Figur einfach auf den Kopf zu stellen und an die Stelle des Subjekts nun das Fremde als letztgültige Referenz aller Erfahrung zu setzen. Damit wäre wenig gewonnen. Ja, die Sensibilität für die grundsätzliche Offenheit und den Geschehenscharakter aller Erfahrung wäre damit erkauft, dass streng genommen nun gar nichts mehr erfahren werden könnte, weil jede Erfahrung prinzipiell über sich hinaus auf das verweist, was sich der Erfahrung entzieht. Wenn wir diese Überlegungen auf die Anfänge des neuzeitlichen Denkens zurückbeziehen, ließe sich in etwa Folgendes sagen: Die Phänomenologie des Fremden stellt die Autorität des Ego, das nach Descartes das fundamentum inconcussum, den sicheren Boden aller Erkenntnis darstellt, infrage. Sie tut das, indem sie auf die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Erfahrungszusammenhangs (bei Descartes: des Funktionszusammenhangs) aufmerksam macht, die sowohl Descartes als vor ihm auch schon Cusanus (finita infinitas) vorausgesetzt hatten. Wenn wirklich alles mit allem zusammenhängt, dieser Zusammenhang aber prinzipiell unendlich ist, dann lässt sich kein einzelnes Moment dieses Zusammenhangs präzise erkennen, und schon gar nicht lässt sich die alles zusammenbindende Funktion bestimmen. Descartes ist dieses Problem in seinem in Kapitel 3 . 2 erwähnten Gedankenexperiment geschickt dadurch umgangen, dass er Gott als Garanten dafür hernimmt, dass die Natur der Materie so erhalten bleibt, wie sie geschaffen wurde. Weil sich die Natur der Materieteile nicht ändern kann (wohl aber ihr Zustand), ändern sich auch die Gesetze, die ihr Zusammenspiel beschreiben, nicht. Descartes beschreibt also eigentlich ein geschlossenes System. Das aber widerspricht dem Grundgedanken des Funktionalismus, demzufolge alles sein Sein im andern hat, weshalb der Verweisungszusammenhang nicht irgendwo enden oder anfangen und auch nicht von außen erhalten werden kann. Auf diese Konsequenz macht die Phänomenologie des Fremden aufmerksam. Es lohnt deshalb, sich nochmals dem Grundgedanken des Funktionalismus zuzuwenden. Rombach hat das in seinem Werk Substanz, System, Struktur, in dem er die Entwicklung des ontologischen Denkens in der europäischen Philosophie nachzeichnet, getan. Daraus ist der Entwurf einer Strukturontolo- <?page no="159"?> Interkulturalität als Dimension (Gegenwart) 159 gie hervorgegangen, auf den sich die folgenden Überlegungen stützen. 52 Mir erscheinen allerdings weder der Begriff der Struktur noch derjenige der Ontologie wirklich geeignet, die Phänomene, um die es hier geht, adäquat zu fassen. Es geht gerade nicht um Ontologie als der Lehre vom Sein des Seienden. Vielmehr geht es darum zu sehen, dass sich Sein und Seiendes überhaupt erst im Prozess des Zur-Erscheinung-kommens (bzw. der Erfahrung) des Seienden als verschiedene Pole desselben Geschehens differenzieren. Auch kann es nicht um Strukturen gehen, gibt es doch außer den Strukturen selbst nichts, das strukturiert würde. Ich werde deshalb statt von Strukturen weiterhin von Erfahrungen sprechen (Erfahrungen können nämlich sehr wohl erfahren werden) und statt von Ontologie lieber von der Wirklichkeit der Erfahrungen. Auf der Basis von Descartes’ Überlegung, dass die Natur der Materieteile von Gott erhalten wird, hat sich das Verständnis durchgesetzt, der Funktionalismus ordne Elemente. Tatsächlich sind geschlossene Systeme immer nur als das gesetzmäßige Zusammenspiel von Elementen vorstellbar. Das Modell dafür ist die Maschine. Zwar sind die Elemente in ihrem Verhalten ganz durch die Funktionen, die ihnen in der jeweiligen Maschine zukommen, gekennzeichnet; sie behalten aber ein davon unabhängiges Sein. Ein solches Verständnis des Funktionalismus beinhaltet also Reste der alten Substanzenontologie. Die Funktion legt sich gleichsam über die Substanz, sie zwingt diese, abhängig vom jeweiligen Funktionszusammenhang eine bestimmte Rolle zu spielen. Insofern sich die moderne Welt vollständig in solchen Funktionszusammenhängen beschreiben lässt, richtet sich auch das Interesse an den Elementen ausschließlich auf die möglichen Funktionen, die sie erfüllen können. Das substanzielle Sein der Elemente tritt dahinter zurück. Gegen diese Vorherrschaft des Funktionalismus und die damit verbundene Verdeckung des substanziellen Seins der Elemente richtet sich die Kritik am funktionalistischen Denken, wie sie vor allem Heidegger formuliert hat, wie sie uns aber auch - freilich in jeweils etwas anderer Gestalt - bei so unterschiedlichen Denkern wie Foucault und in der Postmoderne einerseits und bei Horkheimer, Adorno, Habermas und ihrer Kritik an den Fehlentwicklungen der Moderne andererseits begegnet. Besonders gut lässt sich die Kritik am funktionalistischen Denken am Beispiel des Menschen nachvollziehen. Wenn der Mensch nur noch danach beurteilt wird, wie gut er in den verschiedenen Systemen, in denen ihm eine Rolle zugedacht wird, funktioniert, dann geht der Blick für die Person verloren. Der Mensch wird dann ebenso instrumentalisiert, wie alles andere für die jeweiligen Funktionen instrumentalisiert wird. Wer nicht funktioniert, ist nutz- und wertlos. Die Menschen werden dadurch zu Sklaven der Systeme und verlieren ihre 52 Rombach 1988. Für eine Diskussion der Bedeutung dieses Ansatzes für die interkulturelle Philosophie vgl. Seubert 2006, Stenger 2006 und Weidtmann 2010a. <?page no="160"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 160 Selbstbestimmtheit und Würde. Wenigstens zum Teil lässt sich die Gegenwart unserer Gesellschaft tatsächlich so beschreiben. Das globale Wirtschaftssystem hat sich längst von der Steuerung durch den Menschen entkoppelt und funktioniert nach eigenen Gesetzen. Diesen Gesetzen sind wir heute unterworfen, ob wir wollen oder nicht. Man erkennt leicht, wo die Kritik anzusetzen hat: Der Mensch lebt nicht mehr selbst bestimmt, sondern muss sich äußeren Gesetzen beugen. Wenn das der Funktionalismus ist, dann ist er ein Irrweg, zumal in philosophischer Perspektive. Nur, er ist es nicht, jedenfalls seiner Grundidee nach nicht. Die liegt, wie wir gesehen haben, darin, dass das Einzelne sein Sein nicht in sich, sondern im anderen bzw., richtiger, in seiner Beziehung zum anderen hat. Das Einzelne ist ein Moment der Beziehung, in der es zu allem anderen steht und in der ebenso alles andere zueinander steht. Jenseits dessen ist es nichts. Als dieses Moment aber ist es das Gesamt des Beziehungsgeflechts: In der Sonne ist das All »Sonne und im Monde Mond« (Cusanus, s. Kapitel 3 . 2 ). Umgekehrt ist die Beziehung selber nichts jenseits der Art und Weise, wie ihre einzelnen Momente zueinander stehen. Sie ordnet die Momente deshalb keinesfalls nach einer vorgegebenen Gesetzmäßigkeit; dagegen verdankt sie sich selbst der Weise, wie die einzelnen Momente in eine Beziehung zueinander treten. Auf den Menschen bezogen: Es ist falsch anzunehmen, der Mensch müsse sich den Gesetzmäßigkeiten der Beziehung beugen, in die er mit einem anderen tritt. Vielmehr hängt die Beziehung ganz wesentlich von ihm selber ab, er gestaltet sie selbst. Und doch bleibt er abhängig von der Beziehung, ja es ist gerade so, dass er von der Beziehung desto abhängiger wird, je mehr er sich selbst darin einbringt, sie gegen Einflüsse von außen verwahrt und sie stattdessen selber gestaltet. Was für die Paarbeziehung offensichtlich zu sein scheint, gilt freilich ebenso für jede andere soziale Beziehung. Auch eine Familie gibt sich ihre Regeln selbst und erfindet die Rollen der einzelnen Familienmitglieder jeweils neu. Zwar gibt es im Fall der Familie auch einen gewissen Druck seitens der Tradition, aber der Wandel des Familienbildes und der Familienstruktur in den zurückliegenden fünfzig Jahren zeigt, dass auch eine solche Tradition immer wieder neu auf dem Spiel steht und nur beibehalten wird, wenn sie sich im konkreten Fall als tragfähig erweist. Auch in größeren sozialen Feldern spielen wir nie einfach nur die uns von diesen Feldern vorgegebenen Rollen, sondern interpretieren die Rollen neu, und zwar dadurch, dass wir unsere eigene Persönlichkeit in sie einbringen. Die Funktionsfähigkeit des sozialen Feldes (um in diesem Zusammenhang nicht von System sprechen zu müssen, weil darin immer die Konnotation ›Maschine‹ mitschwingt) hängt wesentlich daran, dass die einzelnen Personen nicht einfach vorgegebene Rollen ausfüllen, sondern sich diese Rollen aneignen, sie dadurch adaptieren und verändern. Erst so <?page no="161"?> Interkulturalität als Dimension (Gegenwart) 161 werden die Rollen lebendig, was in einem sozialen Feld, in dem nicht Zahnräder ineinander greifen, sondern Menschen miteinander agieren, von entscheidender Bedeutung ist. Würde beispielsweise ein Lehrer lediglich die ihm formal vorgegebene Rolle ausfüllen, dann gelänge es ihm nie, Kontakt zu seinen Schülern aufzubauen; er könnte sie dann auch mit den Lehrinhalten nicht erreichen und würde so seine eigene Funktion verfehlen. Bringt er sich aber ein, dann lässt er sich von den Umständen der Lehrsituation, von den Anforderungen, die die Schüler stellen, von ihren Wünschen und Ängsten und ihrem Auftreten ihm selbst gegenüber betreffen. Dann ist er als Person betroffen und kann sich nicht einfach aus seiner Rolle heraushalten. Das bedeutet, dass die Situation, in die er sich einbringt, seine Persönlichkeit nicht unbeeinflusst lässt; der Lehrerberuf macht ihn erst zu der Person, die er ist. Ja, mehr noch: Die Situation erst macht ihn zu der Person, die er sein kann. Wobei dieses Können selbst erst durch die Situation als eine Möglichkeit eröffnet wird. Der Lehrer wird über die ihm eigenen Möglichkeiten hinausgeführt und gewinnt eine Gestalt, die er von sich aus weder gehabt hat noch überhaupt hätte leisten können. Personsein meint eigentlich dies, dass der einzelne so auf die Anforderungen der Situation, in der er steht, antwortet, dass er darin über sich selbst hinaus gerissen wird. Die Nähe dieser Überlegung zur Interpretation der Figur des Diskobolos, die wir in Kapitel 3 . 1 diskutiert haben, ist offensichtlich. Beides hängt zusammen: Die Situation hängt an der Person des Lehrers ebenso, wie die Person des Lehrers an der Situation des Lehrens hängt. Der Gedanke lässt sich auch von anderer Seite erhellen. Wenn sich der einzelne Mensch in die verschiedenen sozialen Rollen, die er einnimmt, nie wirklich als Person einbrächte, sondern immer nur vorgegebene Rollenschemata erfüllte, dann wäre sie oder er weder wirklich Lehrerin noch Mutter, Liebende oder Autofahrerin. Die Person selbst würde nirgendwo im Leben dieses Menschen auftauchen; sie würde also letztlich ein Scheinleben führen. Tatsächlich verhält es sich aber anders: Wir sind ganz und gar Mutter oder Vater und zugleich ganz und gar Lehrerin oder Lehrer, Liebende und Autofahrende. Wir sind, was wir sind, immer ganz und mit unserer vollen Persönlichkeit. Das Besondere der Persönlichkeit liegt denn auch nicht irgendwo jenseits des Lebens, das wir führen, begründet, sondern gerade darin, wie wir die verschiedenen Rollen, die wie einnehmen, gewichten und zueinander in ein Verhältnis setzen. Auch hier bedeutet das Ins-Verhältnis-setzen freilich mehr als eine bloße Strukturierung. Das Zusammenspiel der verschiedenen Rollen stellt selbst eine Situation dar, durch die jede einzelne der Rollen herausgefordert ist und im gelingenden Fall über sich selbst hinausgeführt und gesteigert werden kann. Das Zusammenspiel eröffnet für die einzelnen Rollen neue Möglichkeiten, die sie nicht von sich aus hätten entwickeln können. Es stellt im besten Sinne <?page no="162"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 162 eine Befremdung für die einzelnen Rollen dar, durch die diese zu weiterer Entwicklung angestachelt werden. Noch einmal formal gesprochen: Die einzelnen Momente einer Funktion sind das Gesamt dieser Funktion mit all ihren Momenten. Die Funktion hängt also am einzelnen Moment, in ihm steht die Funktion und stehen alle weiteren Momente auf dem Spiel; durch ihn werden sie interpretiert und erhalten ihre Bedeutung. Zugleich verdankt sich das einzelne Moment ganz der Funktion, es ist nichts für sich selbst. Funktion und Momente lassen sich nicht gegeneinander ausspielen, weder zwingt die Funktion die Momente unter ihre Struktur noch gestalten die einzelnen Momente die Funktion nach ihrem Belieben. Das Verhältnis einer Funktion zu ihren Momenten darf also nicht mechanistisch verstanden werden, sondern sollte eher in Anlehnung an die Strukturen sozialer Felder interpretiert werden. Dafür hilft es, dieses Verhältnis in die Begrifflichkeit der Erfahrung zu übersetzen. Die Erfahrungen, die ein Mensch mit anderen macht, formen ihn selbst ganz wesentlich. In einer engen sozialen Beziehung erfährt sich der Einzelne als Partner, und er erfährt dieses Partnersein nicht als eine Rolle, die er zu spielen hat, sondern als ein Geschenk, das ihn überhaupt erst zu dem macht, der er ist; das ihm neue Möglichkeiten des Selbstseins eröffnet. Darin liegt der Widerfahrnischarakter, der zu jeder Erfahrung gehört, auch wenn er nur gelegentlich auch deutlich empfunden wird, wohingegen er andere Male zurücktritt. Darauf, dass uns alle Erfahrung mehr widerfährt, als dass wir sie aktiv machen, hat die Phänomenologie des Fremden erneut aufmerksam gemacht, nachdem dieser Zug der griechischen Grunderfahrung, der sich im Taumazein deutlich zeigt (Held spricht in diesem Zusammenhang im Anschluss an Heidegger von der »schamvollen Scheu«, die im staunenden Schauen mitschwingt 53 ), mit der Zeit fast vollständig verloren gegangen war. Erfahrung verändert uns, und das keinesfalls nur dadurch, dass wir mit der Zeit erfahrener werden. Zugleich hängt die Beziehung, wie gesagt, daran, dass der Einzelne sich ganz in sie einbringt. Beziehung und Person lassen sich nicht klar voneinander trennen, was spätestens daran ersichtlich wird, dass eine Person an einer scheiternden Beziehung zerbrechen kann. Nun wird am Beispiel zwischenmenschlicher Beziehungen auch deutlich, dass die Beziehungen zugleich ganz konkret sind und unendlich über sich hinausweisen. Wir können die Beziehung, die uns mit einem anderen Menschen verbindet, sei dies ein Arbeitskollege, das eigene Kind oder der Partner, nicht einfach als gegeben voraussetzen, so als ob sie den Umgang miteinander erst ermöglichen würde, ohne dass dieser Umgang seinerseits Einfluss auf die Beziehung 53 Held 2013c, S. 118. <?page no="163"?> Interkulturalität als Dimension (Gegenwart) 163 hätte. Die professionelle Beziehung zum Arbeitskollegen beispielsweise bleibt nicht unberührt davon, dass ich ihm auf einmal von meinen privaten Sorgen und Nöten berichte. Sie wird dadurch selber ein Stück weit privater. Überhaupt hängt die Beziehung ja gerade an der Art und Weise des Umgangs miteinander. Erst der Umgang, den wir mit anderen Personen pflegen, und die Erfahrungen, die wir mit ihnen machen und gegebenenfalls auch teilen, knüpfen so etwas wie eine Beziehung zu diesen Personen. Der Umgang ist die Weise, wie wir uns auf andere beziehen. Das heißt eben auch, dass die Beziehung zu einer anderen Person, in jedem Verhalten dieser Person gegenüber und in jeder Erfahrung mit dieser Person auf dem Spiel steht. Es gibt die Beziehung nur ganz konkret. Freilich gewinnt eine Beziehung mit der Zeit an Stabilität und ist dann auch nicht mehr durch jede Erfahrung zu erschüttern. Aber der Rahmen, in dem das gilt, ist durch frühere Erfahrungen gesetzt, und das heißt, er ist selbst nicht in Stein gemeißelt, sondern kann durch weitere Erfahrungen verändert werden. In jedem einzelnen Moment geht es um die Beziehung im Ganzen. Formal gesprochen: Das Ganze der Funktion ist auf ein einzelnes Moment hin zusammengezogen; in ihm ist die Funktion real - und nicht stellt die Funktion eine weiter ausgreifende Realität dar, in deren Feld sich das einzelne Moment bewegt und der das einzelne Moment gleichsam bloß zugehört. Zugleich sind gerade zwischenmenschliche Beziehungen dadurch gekennzeichnet, dass es niemals nur um das einzelne Moment gehen darf. Zwar steht in der einzelnen Erfahrung die gesamte Beziehung auf dem Spiel, das aber gerade deswegen, weil sich die Beziehung nicht auf die einzelne Erfahrung reduzieren lässt. Ein falsches Wort, eine falsche Handlung, eine ungute Erfahrung können alle bisherigen Erfahrungen in ein anderes Licht rücken und die gesamte Beziehung rückwirkend kaputt machen. Ebenso können umgekehrt ein geglücktes Wort, eine gelungene Handlung und eine gute Erfahrung der Beziehung für die Zukunft neue Möglichkeiten eröffnen und ihr über den Moment hinaus möglicherweise eine Perspektive für das Leben eröffnen. Sowohl die Zukunft wie auch die Vergangenheit einer zwischenmenschlichen Beziehung hängen an ihrer Gegenwart. Die einzelne Erfahrung erhält ihre Realität nicht von anderswoher. Vielmehr ist es so, dass das Gesamt der Realität mit all ihren verschiedenen Schichten, Verflechtungen, ihrer Herkunft und ihrer offenen Zukunft in der einzelnen Erfahrung als deren Erfahrungsfeld, ihr Erfahrungszusammenhang, ihr Widerfahrnischarakter und ihre innere Konsequenz aufblitzt. Uns ist diese Figur vom Phänomen der Zeit her vertraut. Auch die Zeit läuft nicht innerhalb der Zeit ab, sondern bringt sich so aus sich selbst hervor, dass Zukunft und Vergangenheit solche immer nur in Bezug auf eine Gegenwart sind. Als abwesende Di- <?page no="164"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 164 mensionen der Zeit wesen sie in der Gegenwart an - nur dadurch sind sie reale Zeitdimensionen. Zugleich ist auch die Gegenwart selbst nichts anderes als eben diese anwesende Abwesenheit der anderen Zeitdimensionen. Es ist also nicht richtig, die Unendlichkeit des Verweisungszusammenhangs, die im Funktionalismus grundsätzlich gefordert ist, gegen die Möglichkeit konkreter Erfahrungen auszuspielen. Funktionszusammenhänge brauchen keine geschlossenen Systeme zu bilden, um überhaupt Funktionen ausbilden zu können. Die Phänomenologie des Fremden hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Fremde als sich Entziehendes erfahren wird und die Erfahrung darum immer weiter verweist, ohne dass das Fremde je in der Erfahrung aufginge. Darin liegt ein Fremdwerden der Erfahrung, weil wir angesichts der Erfahrung des Fremden auf die Vorläufigkeit aller Erfahrung aufmerksam werden. Vorläufig ist eine Erfahrung aber nur dann, wenn sie sich auf ein vorgegebenes Feld bezieht, das in keiner einzelnen Erfahrung im Ganzen erfahren werden kann. Oder anders gesprochen: Eine Erfahrung würde ihre eigene Vorläufigkeit dann verkennen, wenn sie für sich beanspruchte, für den gesamten Erfahrungszusammenhang zu stehen, so dass dieser durch die einzelne Erfahrung gleichsam in alle Zukunft determiniert wäre. In dieser Vorstellung liegt aber ein entscheidender Fehler: Erfahrungen beziehen sich nie auf vor-gegebene Erfahrungsfelder und sie determinieren nicht den weiteren Verlauf künftiger Erfahrungen. Und dennoch setzen Erfahrungen immer ein Erfahrungsfeld voraus; auch stehen in der einzelnen Erfahrung alle zukünftigen ebenso wie alle zurückliegenden Erfahrungen mit auf dem Spiel. Darin liegt nur dann ein Widerspruch, wenn man die Erfahrungen, das Erfahrungsfeld und den Erfahrungszusammenhang verdinglicht vorstellt. Versteht man sie dagegen ganz von der Erfahrung selbst her, dann ist klar, dass es das Erfahrungsfeld und den Erfahrungszusammenhang gar nicht jenseits der aktuellen Erfahrung geben kann, sondern nur in ihr und durch sie. Das Erfahrungsfeld steckt gleichsam den Rahmen ab, innerhalb dessen sich eine Erfahrung bewegt. Es tut dies aber nur, indem es durch die Erfahrung aufgerufen und aktualisiert wird. In der Erfahrung selbst liegt, auf welches Erfahrungsfeld sie sich bezieht und wie sie dieses Erfahrungsfeld interpretiert und erneuert. Auch der Erfahrungszusammenhang geht der einzelnen Erfahrung nicht in dem Sinne voraus, dass er schon gegeben wäre und die neue Erfahrung gleichsam bloß an ihn angeklebt würde, sondern er ist in der Erfahrung selbst durch den Bezug, den die Erfahrung zu früheren und möglichen künftigen Erfahrungen herstellt, präsent. Die einzelne Erfahrung ist also keinesfalls vorläufig, sondern sehr bestimmt. Nur durch sie sind auch das Erfahrungsfeld und der Erfahrungszusammenhang mit präsent. Deswegen determiniert sie aber keinesfalls künftige Erfahrungen und sie zemen- <?page no="165"?> Interkulturalität als Dimension (Gegenwart) 165 tiert auch das Erfahrungsfeld nicht. In einer weiteren Erfahrung stehen erneut alle Erfahrungen auf dem Spiel, auch die eben gemachte. Möglicherweise erhält sie von der weiteren Erfahrung sogar eine neue und andere Interpretation, wird rückwirkend also zu einer anderen Erfahrung. Die Entwicklung der Erfahrungen, die in einem Erfahrungszusammenhang stehen, verläuft nicht linear, sondern sprunghaft. Übersetzt auf die Entdeckung des Funktionalismus, heißt das: Da jede noch so kleine Änderung in einem Funktionszusammenhang Auswirkungen auf den gesamten Zusammenhang hat, wandelt sich dieser Zusammenhang in jedem Moment vollständig. Im Prinzip bricht in jedem Moment die Welt im Ganzen um und wird eine andere. Das gilt auch für die Erfahrungen. Die Welt ist in jeder Erfahrung vorausgesetzt; aber als Erfahrungswelt kann sie immer nur in dem Sinne vorausgesetzt sein, dass sie in der konkreten aktuellen Erfahrung als deren ureigene Ermöglichung bzw. schlicht als ihre eigene Wirklichkeit mit erfahren wird. Die Welt wird also nicht Stück für Stück aus den Erfahrungen zusammengesetzt, die wir im Laufe der Geschichte machen, sondern ist in jeder einzelnen Erfahrung im Ganzen gegeben: »Der Weltcharakter der Erfahrung setzt sich nicht aus einzelnen Erfahrungsschritten zusammen (ist kein »Lernphänomen«), sondern springt an einer charakteristischen Erfahrung auf, wenn er überhaupt aufspringt.« 54 Allerdings lehrt uns die Analyse der Erfahrungen noch etwas anderes. Es ist nämlich keinesfalls so, dass die Welt mit jeder einzelnen Erfahrung eine ganz andere wird - obwohl sie Erfahrungswelt ist und deshalb immer nur als die Wirklichkeit der einzelnen Erfahrung mit erfahren wird. Zumeist ist es so, dass neue Erfahrungen alte bestätigen und sie gerade nicht völlig neu interpretieren. Wir haben diesen Punkt in Kapitel 2 . 3 bereits etwas ausführlicher betrachtet und dort bereits von den Grunderfahrungen gesprochen. In jeder Erfahrung wird der sie tragende Grund mit erfahren; dieser Grund bricht aber nicht laufend um, sondern wird durch weitere Erfahrungen allenfalls ausdifferenziert und dadurch gerade bestätigt. Das eben angeführte Zitat geht deswegen weiter: »Er [der Weltcharakter der Erfahrung] ist mit einem Schlage da und bewährt sich dann in allen Einzelerfahrungen.« Erst dort, wo die Grunderfahrung als nicht mehr tragend und gründend erfahren wird, bricht sie in eine neue Grunderfahrung um, von der her dann auch rückwirkend alle Erfahrungen uminterpretiert und in ein neues Licht gerückt werden. Beides ist richtig: Zum einen gibt es die Grunderfahrung nicht jenseits der konkreten einzelnen Erfahrung, in der sie als gründend erfahren wird; insofern hängt sie ganz an der 54 Rombach 1991, S. 34. <?page no="166"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 166 einzelnen Erfahrung. Zugleich gilt aber auch, dass die Grunderfahrungen vergleichsweise stabil sind und sich nicht mit jeder neuen Erfahrung grundlegend ändern. Das muss so sein, weil sich sonst gar kein Erfahrungszusammenhang herausbilden könnte und wir unsere Erfahrungen nicht aufeinander beziehen könnten. Welche Sichtweise die richtige ist, hängt von der jeweiligen Dimension ab, in der wir die Erfahrungen analysieren. Auch hier mag das Beispiel der Zeit helfen: Die Zeit läuft nicht in der Zeit ab, sondern sie differenziert sich selbst in die Gegenwart von Zukunft und Vergangenheit. Ob die jeweilige Zeit dann aber als Gegenwart oder als eine Vergangenheit und Zukunft umfassende Zeitspanne aufgefasst wird, hängt von der Dimension ab. Nicht vom Ablauf der Zeit. Jede Gegenwart lässt sich in das Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft ausdifferenzieren; und ebenso lässt sich jedes Zusammenspiel von Vergangenheit und Zukunft auf seine jeweilige Gegenwart hin ansprechen. Ein Jahrhundert kann ›Gegenwart‹ ebenso sein wie der kurze Moment eines Blickwechsels. Der ›Ablauf‹ von Zeit ist eine Frage der Dimension. Das Gleiche gilt für die Erfahrungen. Auch Erfahrungen gliedern sich dimensional. So stellt beispielsweise das Leben für den einzelnen einerseits einen Erfahrungszusammenhang dar, der es ihm erlaubt, von ›seinem‹ Leben zu sprechen. Andererseits gliedert sich das Leben in verschiedene Abschnitte oder Epochen, die auf sehr unterschiedlichen Grunderfahrungen aufruhen. Kindheit, Jugend, Erwachsensein und Alter sind klar voneinander unterschieden. Und selbstverständlich erfahren wir innerhalb dieser Lebensabschnitte weitere Differenzierungen. Sogar für die Differenzierung jedes einzelnen Moments ist das Leben ein gutes Beispiel, bedeutet Leben doch gerade Selbsterhaltung durch Wandel. Unser Körper muss sich beständig bis in die einzelne Zelle hinein erneuern, will er nicht zugrunde gehen. Wandel und Kontinuität sind zwei Seiten ein und desselben Prozesses. Der Weltcharakter aller Erfahrung lässt sich allerdings erst dann erfahren, wenn die Erfahrung weder vom Sein noch vom Subjekt oder vom Fremden her verstanden wird. Die Erfahrung setzt das, was sie erfährt so wenig voraus wie denjenigen, der sie erfährt. Es ist umgekehrt so, dass sich Erfahrender und Erfahrenes, Subjekt und Welt erst im und abhängig vom jeweiligen Erfahrungsprozess differenzieren. Insofern die Grunderfahrungen des europäisch-westlichen Denkens aber immer auf Begründung abzielten, sei es die Gründung des Seienden im Sein, wie in der Antike, oder die Gründung von Welt im Subjekt, wie in der Neuzeit, sah sich die Erfahrung eben immer an einen letzten Grund verwiesen. Grund bedeutet Sicherheit; auf ihm findet das Dasein unbeschadet allen Wandels, aller Brüche und Infragestellungen letztlich immer Halt. Der Grund stellt gleichsam den Hintergrund des Wandels dar, der im ständigen <?page no="167"?> Interkulturalität als Dimension (Gegenwart) 167 Werden und Vergehen liegt. (Genau so interpretiert Heidegger den von den Griechen entdeckten Grund in seiner Analyse des Spruchs des Anaximander: als die Zusammengehörigkeit von An- und Abwesen im Wesen des Seienden. Auch Heidegger verkennt freilich die darin liegende dimensionale Differenz von Sein und Seiendem und hält sie stattdessen für eine ontologische und damit für die einzig mögliche Differenz.) Grund meint keine von der Vielfalt des Seienden unterschiedene Grundlage, sondern die innere Zusammengehörigkeit alles Seienden, die das Erscheinen des Seienden erst ermöglicht. Im Seienden scheint diese seine Zusammengehörigkeit, seine eigene Ermöglichung selber mit auf und zeigt sich Heraklit zufolge dem zum Logos befähigten Philosophen. Das ist es, was er den Kosmos nennt. So hängt die Welt vom Beginn der europäisch-westlichen Philosophie an mit der Entdeckung des Grundes unmittelbar zusammen. Mit dem Wandel der Grunderfahrung in der Neuzeit wandelt sich auch das Phänomen Welt. Jetzt wird Welt als das einzige Seiende erfasst und im Subjekt der Grund der Welt gefunden. Die Welt wird so schon bei Kant zur Erfahrungswelt. Aber erst mit dem Ende des Systemdenkens und der Hinwendung zur Erfahrung werden auch das Subjekt bzw. die Vernunft an die Erfahrung zurück gebunden. An die Seite der Erfahrung von Grund tritt nun die Erfahrung von Grund. Damit bricht die Philosophie in die interkulturelle Dimension durch. Die interkulturelle Dimension, um die es der Philosophie in der interkulturellen Situation, in der wir heute leben, gehen muss, liegt eben darin, den Weltcharakter der Erfahrung sehen zu lernen. Und gerade die Erfahrung des Fremden und die durch sie auf die Spitze getriebene Kritik am Subjektdenken der Neuzeit helfen uns dabei. Dann, wenn wir den Weltcharakter der Erfahrung sehen, wird es möglich, in der Begegnung mit anderen Kulturen auch die eigenen Grunderfahrungen als Erfahrungen zu erkennen. Konkret heißt das, dass uns die Begegnung mit anderen Kulturen darauf stößt, dass das griechische Staunen, das Platon und Aristoteles als die europäische Grunderfahrung bezeichnet haben und aus dem die Philosophie hervorgegangen ist, kein Staunen über die Welt und über die darin bestehende Ordnung ist; vielmehr ist das Staunen eine Weise, wie Welt erfahren wird, es ist selbst eine Erfahrung mit Weltcharakter. Das griechische Staunen ob der Ordnung der Welt lässt die Griechen die Welt überhaupt erst als Welt sehen. Das Staunen selbst ist das Getroffensein von einer Welt als Welt. Das heißt auch, dass die Philosophie, die aus diesem ursprünglichen Staunen hervorgegangen ist, selbst eine Erfahrung ist; eine Erfahrung der Welt, die Weltcharakter hat. Nicht aber ist sie bloßes Nachdenken über eine vermeintlich an sich seiende, subjektlose, menschenfreie, für alle Kulturen gleich vorfindbare Welt. Die Philosophie griechisch-europäischer Provenienz ist eine Weise, wie dem Menschen Welt aufgehen kann, wie er <?page no="168"?> Interkulturalität als Stand gegenwärtiger Philosophie 168 Welt erfahren kann - nämlich als Welt. Die interkulturelle Aufgabe liegt nun darin, andere derartige kulturstiftende Grunderfahrungen zuzulassen, in denen dasselbe, nämlich die menschliche Welt, ganz anders aufgeht. <?page no="169"?> 4 | Aspekte interkultureller Philosophie 4 . 1 Das kulturelle Wesen des Menschen In seiner gleichnamigen Novelle von 1874 schildert Gottfried Keller, wie Kleider Leute machen. Ein armer Schneider kleidet sich sehr viel besser, als es seinem Stand und Auskommen entspricht, und wird in einer fremden Stadt deswegen für einen Grafen gehalten. Bevor er das Missverständnis aufklären kann, hat er sich in die Tochter eines angesehenen Bürgers verliebt und spielt seine Rolle darum weiter. Als die Sache schließlich auffliegt, bekennt sich die junge Frau zum Schneider; und mit etwas Startkapital ihres Vaters gelingt es dem Schneider ein Atelier zu gründen, das ihm zu Wohlstand und Ansehen verhilft. »Kleider machen Leute« steht zunächst für die Kritik daran, dass wir allzu leicht glauben, das Äußere sei entscheidend. Die Verpackung macht’s. Dagegen kommt es letztlich darauf an, was sich unter der Verpackung verbirgt. Darauf weisen in negativer Hinsicht der Nebenbuhler des Schneiders, der dessen Schwindel auffliegen lässt, und in positiver Hinsicht die junge Frau hin, die dem Schneider dennoch die Treue hält. Das ist aber nicht alles. Der Schneider hat am Ende nämlich sein Leben umgekrempelt, was ihm nie gelungen wäre, hätte er sich mit den guten Kleidern nicht über sein karges Dasein erhoben und in andere Schichten vorgewagt. Kleider machen eben doch Leute. Aber nicht dadurch, dass sie ein falsches Sein vorgaukeln, sondern dadurch, dass sie es erlauben, die Beschränkungen der jeweiligen Lebenssituation zu durchbrechen und bislang brach liegende Möglichkeiten des eigenen Daseins zu entfalten. Gute Kleider würden nur dann ein falsches Sein vorgaukeln, wenn sich die Seinsmöglichkeiten eines Menschen auf die tatsächlichen Gegebenheiten seines aktuellen Daseins beschränkten. Kellers Novelle ist nicht nur wegen ihrer Kritik an Äußerlichkeiten zeitlos aktuell, sondern vor allem auch deswegen, weil sie uns immer wieder von neuem daran erinnert, dass es nicht nur darauf ankommt, wie wir unser Leben vorfinden, sondern immer auch darauf, was wir daraus machen. Das könnte geradezu als eine Grundformel für das Selbstverständnis des Menschen gelten: Der Mensch findet sein Wesen darin, wie er mit den Gegebenheiten umgeht, die er vorfindet; was er daraus macht, welche Steigerungsmöglichkeiten er für sich und seine Welt in ihnen findet. Tatsächlich lässt sich die kulturelle Entwicklung des Menschen, wie sie uns <?page no="170"?> Aspekte interkultureller Philosophie 170 Archäologen und Urgeschichtler berichten, nach dieser Grundformel verstehen. Ich möchte dafür nur ein Beispiel nennen, ohne es an dieser Stelle freilich adäquat ausführen zu können. Der Übergang vom Jagen und Sammeln zu Ackerbau und Viehzucht stellt einen epochalen Umbruch in der menschlichen Entwicklung dar, auch wenn er sich vermutlich über einen sehr langen Zeitraum hingezogen hat und wir vereinzelt bis heute Gruppen von Jägern und Sammlern begegnen. Der Mensch hat gelernt, die Natur zu gestalten und für sich nutzbar zu machen, so dass er ihr nicht mehr hinterherlaufen muss; Ackerbau und Viehzucht ermöglichen, ja er-nötigen es, sesshaft zu werden. Dieser Akt der Befreiung, der mit der Kultivierung der Erde einhergeht, ermöglicht es dem Menschen erst, nicht mehr nur auf die Vorgaben und Anforderungen der Natur zu reagieren, sondern selbst zu agieren und sein Leben zu gestalten. Zugleich bedeutet der Schritt vom Jagen zum Pflanzen eine Bearbeitung und höhere Ordnung der Natur. Welche Bedeutung das Sesshaftwerden für den Menschen hatte, lässt sich am Phänomen der Hütten andeuten, die an die Stelle von Höhle und Zelt treten. Die Errichtung einer Hütte und eines Dorfes führt zu einer sehr viel klareren Unterscheidung von Innen und Außen, als sie für Höhle und Zelt möglich war. Ein nach eigenen Prinzipien geregeltes, von der Umwelt weitgehend unabhängiges Innenleben wird gegen das Leben außerhalb der menschlichen Umfriedung abgesetzt. Die Unterscheidung von Innen und Außen greift denjenigen von Geist und Welt, Leib und Seele, Eigenem und Fremdem voraus. Damit gewinnt der Mensch jene Distanz zur Umwelt, die Scheler als »Weltoffenheit« beschreibt und in der er gleichsam die entscheidende Voraussetzung für die Geburt des »Geistes« sieht. 1 Jetzt erst wird der Mensch zum selbstbewussten Akteur in der Welt, kann sich zu ihr ebenso wie zu seinen eigenen Trieben und Wünschen verhalten, mit ihnen umgehen und sie geistigen Zielen unterwerfen. Fortan ist die Welt eine geistig strukturierte, eine geordnete Welt. Dadurch erst wird sie menschliche Welt und bietet dem Menschen jenen Raum, den er braucht, um selbst menschlich zu werden. Diese Entwicklung, darauf kommt es hier an, ist durch den besonderen Umgang des Menschen mit den von der Natur gegebenen Bedingungen möglich geworden. Die Entwicklung betrifft aber nicht allein den Menschen; auch die Natur selbst entwickelt sich durch das Pflanzen und die damit verbundene Züchtung weiter und verändert sich. Der Mensch ist dasjenige Tier, so ließe sich vielleicht ganz vorläufig sagen, das immerfort bestrebt ist, über sein eigenes Dasein hinauszugehen und sich selbst neue Lebensmöglichkeiten zu eröffnen. Das geschieht grundsätzlich in Auseinandersetzung mit den Umständen seiner jeweiligen Lebenssituation, in 1 Scheler 1995. <?page no="171"?> Das kulturelle Wesen des Menschen 171 der Frühphase menschlicher Entwicklung also in Auseinandersetzung mit der Natur. Der Mensch hat in der Natur immer wieder Möglichkeiten zur Entwicklung seiner Lebensumstände entdeckt, die sowohl ihn selbst als auch die Natur grundlegend verändert haben. Das ist ein kultureller Akt und deshalb ist der Mensch in diesem Sinne seinem Wesen nach kulturell bestimmt. Das heißt nun aber nicht, dass man im Tierreich sonst keine Kultur findet. Im Gegenteil, überall gestalten die Tiere ihre eigene Umwelt und schaffen sich damit ein Stück weit auch ihre eigenen Lebensbedingungen. Jakob von Uexküll ( 1864 - 1944 ) hat die Idee der spezifischen Umwelten in die Biologie eingebracht. Demnach leben die verschiedenen Spezies in ihnen entsprechenden Umwelten, die sie so nicht mit anderen Spezies teilen. Zwar gestalten die Tiere ihre Umwelten nicht individuell, in einem evolutionären Prozess aber entwickelt sich eine Art immer erst im Zusammenspiel mit der Umwelt so, wie sie sich entwickelt. Neuere Arbeiten in der Primatenforschung zeigen darüber hinaus, dass es auch bei nicht-menschlichen Primaten bereits so etwas wie Kultur gibt. Das Besondere beim Menschen liegt eher darin, dass er die Weiterentwicklung seiner eigenen Lebensbedingungen zu seinem Lebensprinzip erhoben hat. Als Wesen des Menschen entdeckt haben das die Griechen (vgl. dazu auch Kapitel 3 . 1 ). Die griechische Grunderfahrung lässt sich als das Aufmerken darauf beschreiben, dass sich der Mensch über die Gegebenheiten, die er vorfindet, erheben und nach einer höheren Wahrheit streben muss. Der Mensch ist nicht vollständig Mensch, solange er sich nicht auf den Weg zu Höherem begibt. Äußerlich sichtbar wird das beispielsweise an der Akropolis, der Hochstadt, die sich von der Natur absetzt und sich über sie erhebt. Die Griechen könnten aber das Höherstreben nicht in dieser prinzipiellen Form als das Wesen des Menschen erkennen, wäre nicht dem zuvor bereits das Wesen des Höheren im Dauerhaften, Ewigen und Unveränderbaren entdeckt worden. Vermutlich hat der Mensch die Idee des Unveränderlichen am Stein erfahren. 2 Verschiedene Megalithkulturen sind im Mittelmeerraum schon seit dem 4 . Jahrtausend v. Chr. bekannt, etwa im heutigen Frankreich und Spanien, ab dem 3 . Jahrtausend dann auch auf Malta, Korsika, Sardinien und im nördlichen Europa. Vor allem aber die altägyptischen Kulturen entdecken den Stein und mit ihm die Ewigkeit und Unveränderlichkeit der Götter. Die Griechen sind es dann, die im Menschen mehr als nur den Diener (bzw. in der Person des Pharaos den Statthalter) der Götter sehen. Sie verstehen den Menschen als Mittler zwischen den Welten, der sich über das irdische Dasein der Vergänglichkeit erheben und nach dem ewigen und unveränderlichen Sein streben 2 Vgl. dazu Rombach 1996, S. 33 ff. <?page no="172"?> Aspekte interkultureller Philosophie 172 kann. In diesem Streben kann, wie gesagt, nur deswegen das Wesen des Menschen gesehen werden, weil zuvor das Prinzip des Höheren entdeckt worden ist. Das heißt dann zugleich, dass sich das Streben der Griechen auf eben dieses Prinzip richtet und nicht auf irgendeine konkrete kulturelle Weiterentwicklung des Menschen. Deshalb findet es seine Gestalt im Denken (»denn dasselbe ist Denken und Sein«, Parmenides; vgl. Kapitel 3 . 1 ) und das Sein im Logos. Der Mensch ist demnach das zum Logos fähige Tier, das Zoon Logon Echon, wie Aristoteles sagt. Das Verständnis des Menschen als desjenigen Wesens, das dazu befähigt und aufgerufen ist, sich über das irdische Dasein zu erheben und nach dem wahren Sein zu fragen, zieht sich durch die gesamte europäisch-westliche Geistesgeschichte. Im Christentum wird der Mensch als Gott grundsätzlich ebenbildlich vorgestellt, was ihn freilich vor die Aufgabe stellt, dieser Ebenbildlichkeit auch gerecht zu werden und sie zu verwirklichen. Descartes versteht den Menschen als geistiges Wesen, das zur Erkenntnis der die Welt ordnenden Naturgesetze fähig ist. Tatsächlich verdanken sich gerade die Wissenschaften dem kulturellen Schritt des Menschen über sein natürliches Dasein hinaus (vgl. dazu Kapitel 3 . 1 und 3 . 2 ). Es entbehrt darum nicht einer gewissen Ironie, dass heute ausgerechnet die modernen (Natur-)Wissenschaften gelegentlich meinen, den Menschen auf sein natürliches Wesen reduzieren zu können. Tatsächlich verdanken sich die Wissenschaften nicht nur der Hinwendung des Menschen zur Suche nach dem, was das Seiende gründet und »die Welt im Innersten zusammenhält«, sondern sie sind auch selbst ganz konkret eine Art und Weise, wie sich der Mensch sein natürliches Wesen aneignet und sich darüber erhebt. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung haben uns ein ganzes Stück unabhängiger von natürlichen Prozessen gemacht; etwa im Bereich der Landwirtschaft, aber auch mit Blick auf unsere Gesundheit. Heute befinden wir uns an der Schwelle zu einer Entwicklung, mit der die Wissenschaften es dem Menschen gar ermöglichen könnten, sein natürliches Wesen durch biotechnologische Eingriffe zu verändern. Darin liegt natürlich eine Reduzierung der Selbstgestaltung des Menschen auf die Verbesserung seiner natürlichen Voraussetzungen, die gefährlich sein kann. Der Mensch droht, die eigentliche Entdeckung völlig misszuverstehen, indem er die Bewegung des ›Über-sich-hinaus‹ verdinglicht und auf eine bloße Verbesserung der Funktionsweise des Gegebenen bezieht. Dennoch verdankt sich auch dieses Missverständnis noch dem griechischen Grundgedanken. Kant schließlich zeigt, wie im Menschen reine Vernunft und Natur zusammengehören und weshalb der Mensch gleichsam die Klammer zwischen beiden Bereichen darstellt. Auch die Phänomenologie und insbesondere die hermeneutische Phänomenologie Heideggers greifen den griechischen Grundgedanken wieder auf. Heidegger sieht <?page no="173"?> Das kulturelle Wesen des Menschen 173 die Gefährdungen, denen das griechische Denken durch Fehlentwicklungen in der Neuzeit und insbesondere dem daraus erwachsenen Selbstverständnis der modernen Wissenschaften ausgesetzt ist, und versteht sein eigenes Denken deshalb als eine Erneuerung (und Vertiefung) des ursprünglich griechischen Denkens. In Sein und Zeit fragt Heidegger nach dem Sein des menschlichen Daseins und zeigt, dass dieses wesentlich darin besteht, dass der Mensch sich und die ihn umgebende Welt von seinen eigenen Seinsmöglichkeiten her versteht. »Das Dasein ist ein Seiendes«, dem es »in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.« 3 Das Dasein nimmt weder sich noch die Dinge, die es umgeben, einfach so hin, wie es sie vorfindet, sondern versteht alles von einem möglichen inneren Zusammenhang her, den es als seine eigene Seinsmöglichkeit entwirft und von dem her sowohl das eigene Leben als auch die begegnenden Dinge erst ihren Sinn erhalten. Das Dasein ist, was es ist, indem es Welt (das ist der innere Zusammenhang des Seienden) entwirft und diese im Laufe seines Lebens auslegt und differenziert. Es ist ›ek-sistierend‹, über sich hinaus stehend. Heidegger erinnert damit nicht nur daran, dass die griechische Grundfrage die nach dem Sein des Seienden ist, sondern zeigt zugleich, dass es der Mensch ist, der diese Frage stellen kann und stellen muss. Deshalb auch kann Heidegger sagen, dass nur der Mensch Welt hat. Das Seiende kommt dagegen in der Welt lediglich vor; nur für den Menschen entdeckt sich der Zusammenhang, in dem das Seiende (für ihn) steht. Mit der Erkenntnis, dass Menschsein bedeutet, die Gegebenheiten des irdischen Daseins auf ihr eigentliches Sein hin zu befragen, öffnet sich dem Menschen nun ein ganz neuer Lebensraum. Ein Lebensraum, der - Heraklit folgend - vom Logos strukturiert ist. Logos bedeutet neben Verhältnis und Sammlung auch Rede und Sprache. Und so ist der neue Lebensraum, den der Mensch als seinen eigentlichen entdeckt, ein sprachlicher und setzt sich dadurch deutlich von der Natur als Lebensraum ab. Der sprachliche Raum, die sprachliche Welt ist die kulturelle Welt, die sich über die natürliche erhebt. In diesem Sinne ist es richtig zu sagen, dass die Griechen die Kulturwelt als den eigentlichen Lebensraum des Menschen entdecken (freilich ist der Begriff der Kultur selber erstens lateinischen Ursprungs und wurde zweitens erst gegen Ende des 17 . Jahrhunderts von Samuel von Pufendorf zur Bezeichnung der Tätigkeiten einer Gesellschaft verwendet; in den griechischen Begrifflichkeiten müsste man eher sagen, dass die ›wahre‹ Natur der Natur entdeckt wird; das steckt im Begriff der Physis, die das Hervorstreben der Natur meint und damit darauf hinweist, dass sich in den natürlichen Dingen, die wir als gegeben vor- 3 Heidegger 1977, S. 16. <?page no="174"?> Aspekte interkultureller Philosophie 174 finden, die verborgene Natur nur auf bestimmte Weise zeigt, die Dinge also eigentlich nur Erscheinungen der ›wahren‹ Natur sind). Das heißt aber auch, dass Kultur ein europäisch-westliches Konzept ist, das sich zwar universalisieren lässt, in dem aber nicht notwendiger Weise auch überall das Wesen des Menschen gesehen wird. Für die ostasiatische Tradition etwa hat Watsuji das Klima (fudo) als Grundstruktur des Daseins analysiert. 4 Der Mensch ist dem Klima nicht einfach ausgesetzt, sondern er erfährt sich selbst als der, der er ist, vom Klima her. So begegnet der Mensch beispielsweise dem Wetter nicht als einem äußerlichen Vorkommnis, mit dem er irgendwie umgehen muss, sondern er ist immer schon so vom Wetter betroffen, dass dieses seine eigene Existenz mitbestimmt. Oder, wie Watsuji (in Anlehnung an Heidegger) sagt, der Mensch existiert als ins Wetter Hinaustretender. Entsprechend sieht Watsuji das gesamte menschliche Leben und Tun - eben seine kulturelle Existenz - wesentlich vom Klima beeinflusst, beispielhaft nennt er etwa den Hausbau und die Kleidung. Auch diese Einsicht lässt sich universalisieren: »Wenn demnach der Charakter eines Klimas prägend ist für das Selbstverständnis des Menschen, dann müssen wir die Beschaffenheit des jeweiligen Klimatypus untersuchen«, wenn wir die jeweilige Kultur verstehen wollen. 5 Ohashi macht ähnliche Anmerkungen, die m. E. geeignet sind, die diesem Kulturverständnis zugrunde liegende Erfahrung besser zu verstehen. 6 Ohashi rückt weniger das Klima als vielmehr den Wind in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Im alten Japan (vor der Meiji-Restauration) wurden zahlreiche kulturelle Phänomene durch Begriffe gekennzeichnet, in denen das Zeichen für Wind (fu) enthalten ist (interessanter Weise auch im Begriff für das Klima - fudo). Ohashi interpretiert das so, dass der Wind überall weht und darum alles erfasst und mit gestaltet. Der Wind ist einerseits das Verbindende, andererseits aber gerade das Flüchtige, Form- und Gestaltlose. Er ist kein Einheit stiftendes Prinzip, sondern ein natürliches Geschehen. Das japanische Verständnis von Kultur zielt Ohashi zufolge deshalb anders als das europäisch-westliche weder auf Ordnung noch auf Erhebung über die Natur, sondern bindet den Menschen umgekehrt gerade an das natürliche Geschehen zurück. Natur bedeutet im Japanischen Shizen, was Ohashi mit »so sein, wie es aus sich selbst ist« übersetzt. Kultur bedeutet dann gerade nicht Selbstgestaltung des Menschen dadurch, dass er die vergängliche Natur hinter sich lässt und nach dem Unveränderlichen fragt, sondern Zurücknahme des Menschen in ein Geschehen, das sich von selbst tut. Die andere Haltung des Menschen, die damit gefordert ist bzw., richtiger, die darin immer schon liegt, wird in folgendem Zitat spürbar: »Jedoch wird diese Krise 4 Watsuji 1992. 5 Ebd., S. 19. 6 Ohashi 1999b. <?page no="175"?> Das kulturelle Wesen des Menschen 175 [gemeint ist eine politische Krise, N. W. ] im Grunde wie ein vorübergehendes Phänomen von Wind und Wolken angesehen, auch wenn sie im Moment des Vorübergehens katastrophal sein kann.« 7 Was für europäische Ohren geradezu fatalistisch klingt, deutet ein ganz eigenes Verständnis von Kultur und damit auch ein ganz eigenes Verständnis des Menschen an. Die Überlegungen zum griechischen Ursprung des Verständnisses von Kultur als der eigenen Welt des Menschen, die dieser mit seinem Dasein gleichsam als Zwischenraum von vergänglicher Natur und göttlicher Ewigkeit erst eröffnen und sich sprachlich bzw. vernünftig erschließen muss, haben natürlich auch Auswirkungen auf das Anliegen einer interkulturellen Philosophie. Interkulturalität ist dann streng genommen nämlich nur für das europäisch-westliche Denken überhaupt ein Problem. Wenn die Geburt von Kultur an der Entdeckung des wahren Seins bzw. des die Welt konstituierenden Logos hängt, dann muss die Pluralität von Kultur zum Problem werden. Wenn sich die Kultur dagegen der Bewegung des »Von selbst« verdankt, dann hängt sie an nichts, sondern ist einfach, was sie ist. Und das so vielfältig, wie überhaupt irgendetwas ist. Ich werde darauf in Kapitel 5 . 1 etwas näher eingehen. Interkulturalität jedenfalls, soviel können wir hier festhalten, steckt nicht den Rahmen ab, innerhalb dessen verschiedene Kulturen sich begegnen. Interkulturalität benennt die Dimension, in die die europäisch-westliche Kultur vordringen muss, um überhaupt anderen Kulturen - die, wie wir gesehen haben, ja gar nicht auf dieselbe Weise Kulturen sind - begegnen zu können. Das heißt nun freilich weder, dass die interkulturelle Gegenwart der Philosophie andere Traditionen nicht betreffen würde und zu interessieren hätte, noch heißt es, dass sich das Problem einer Pluralität von Kultur, das sich dann stellt, wenn man Kultur als die Entdeckung der menschlichen Welt versteht, einfach lösen ließe und der Einsicht in die Relativität der Traditionen Platz machen würde. Im Gegenteil. Eine Begegnung zwischen den verschiedenen Traditionen findet erst dort statt, wo sich diese wechselseitig in ihrer jeweiligen Universalität zu sehen lernen. Das vermeintliche Paradox einer »Universalisierung im Plural« (Waldenfels) entpuppt sich in der Begegnung der Traditionen gerade als eine Möglichkeit zur Korrektur von Selbstmissverständnissen in den einzelnen Traditionen. Mit Blick auf die europäisch-westliche Tradition hieße das: Der Mensch entdeckt sich und seine Welt in der Möglichkeit, über das Gegebene hinausgehen und dieses so sinnvoll verstehen zu können. Es ist aber nicht so, dass er die menschliche Welt jenseits der vorhandenen Natur als eine sinnvolle entdeckt und fortan nur dann Mensch ist, wenn er sich über die Natur 7 Ebd., S. 27. <?page no="176"?> Aspekte interkultureller Philosophie 176 erhebt und in der menschlichen Welt bewegt. Tatsächlich ist diese Trennung von Natur und Kultur in der Geschichte des europäisch-westlichen Denkens immer wieder gemacht worden. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch zweieinhalb Tausend Jahre Philosophie. Selbst Heidegger spricht von der »ontologischen Differenz«, die zwischen dem Sein und dem Seienden liegt. Den Sinn des Seins entdeckt Heidegger zufolge einzig der Mensch, nur ihm begegnet das Seiende in einer Welt. Und das, indem er zunächst die Welt entdeckt und dann alles Seiende vor dem Hintergrund der Welt versteht. Dieses Bild trifft die Erfahrung aber nicht. Die Fremderfahrung etwa macht auf den latenten Totalitätsanspruch aufmerksam, der in der Annahme liegt, alle Erfahrung müsse sich von der vor-entdeckten Welt her verstehen lassen. Ich habe die Entwicklung des Erfahrungsdenkens in den Kapiteln 3 . 3 und 3 . 4 nachgezeichnet und will deswegen an dieser Stelle nicht erneut darauf eingehen. Hier reicht es aus, darauf hinzuweisen, dass der Mensch nicht zuerst die Welt entdeckt und als Folge davon die Möglichkeit gewinnt, über das Seiende hinauszugehen und es aus einem Sinnzusammenhang heraus zu verstehen. Vielmehr geht die Welt selbst erst mit der Erfahrung, über das Seiende hinausgehen zu können, auf. Diese Erfahrung macht der Mensch aber gerade in der Auseinandersetzung mit dem Seienden. Am Seienden bzw. an der Natur springen ihm zugleich neue Möglichkeiten seiner selbst und ein neuer Sinn des Seienden auf. Die menschliche Welt erhebt sich nicht über die Natur, sie ist eine Höherführung der Natur, ja sie ist die Selbstgestaltung der Natur, ist der Mensch doch selber ein durch und durch natürliches Wesen. Das Aufgehen der Welt hängt an der Erfahrung, im Gegebenen mehr finden zu können, als darin liegt. Die Welt wird erfahren, nicht entdeckt oder entworfen. Die griechische Entdeckung der Kulturwelt meint also eigentlich die Erfahrung des Weltcharakters von Erfahrung. Das ist eine Erfahrung, die sich in die Begegnung mit anderen Traditionen einbringen lässt, ohne diese aneignen zu wollen und auch ohne die eigene Tradition zu relativieren. 4 . 2 Das Zwischen Der Cellist lebt für die Musik. Sie bedeutet ihm alles. Und das in besonderem Maße, wenn er selbst spielt. Nur wenn er am Cello sitzt, ist er ganz bei sich. Das Instrument im Arm, den Bogen in der Hand fühlt er sich erst vollständig, ohne sie fehlt ihm etwas, ist er nicht ›ganz‹. Auch spricht die Musik deutlicher zu ihm, als es die gesprochene Sprache je zu tun vermöchte. Nur die Musik klingt. Alles andere ist Geräusch, anstrengend, fordert ihn, ohne ihn wirklich zu meinen. Die Musik dagegen spricht ihn im Ganzen an, trägt ihn, öffnet ihm <?page no="177"?> Das Zwischen 177 den Blick für die Welt, die sich ihm sonst meist verschließt, die er als aufdringlich und belanglos erfährt. So stark wie in diesem Beispiel ist unsere Erfahrung normalerweise nicht. Und doch kennt jeder das Gefühl, in einer Sache ganz aufzugehen, sich nicht mühsam konzentrieren zu müssen, sondern im Gegenteil alles um sich herum zu vergessen, auch die Zeit. Sei dies beim Musizieren, beim Skifahren, beim Kochen, beim Lesen oder bei der Arbeit. Grundsätzlich können wir überall so eintauchen, dass wir darin ganz versinken und alles andere vergessen. Dann erfahren wir uns auch selbst ganz von den entsprechenden Tätigkeiten und Situationen her, wir erleben keine Distanz, sondern sind selbst Teil des Geschehens. Diese Form des ›Drin-seins‹ ist ursprünglich mit dem, was wir Interesse nennen, gemeint. Das ›Inter-esse‹ meint, dass wir selbst inmitten der Dinge und Ereignisse leben und uns ganz von diesem ›Dazwischen-sein‹ her verstehen. Ja, eigentlich ist es sogar so, dass wir uns gar nicht so sehr vom Geschehen in der jeweiligen Situation her verstehen, weil wir unsere Aufmerksamkeit gar nicht auf uns selbst richten. Wir sind mehr bei den Dingen und Ereignissen als bei uns selbst. Die Erfahrung lehrt uns aber, dass dies die stärkere Form des Selbstseins ist im Vergleich zu einer Situation, in der wir sehr viel mehr Distanz zum Geschehen halten. Von einem Abend mit Freunden etwa kehren wir desto zufriedener und übrigens auch ›selbstbewusster‹ zurück, je intensiver es uns gelungen ist, uns auf die anderen und die Gespräche mit ihnen einzulassen, gemeinsam zu lachen, zu essen, zu spielen oder zu schweigen. Tatsächlich ist es so, dass wir uns selbst nur dann bereichert erfahren, wenn wir uns von dem, was in der Situation, in der wir gerade stehen, geschieht, betroffen fühlen und daran teilhaben. Wir sind dann im Wortsinne mehr als wir selbst. Wenn es gelingt, an einem Geschehen teilzuhaben, dann erfahren wir uns selbst durch dieses Geschehen. Wir erfahren uns nicht einfach vor dem Hintergrund des Geschehens, sondern durch das Geschehen hindurch; ja, streng genommen, erfahren wir uns als das Geschehen selbst. Da das Geschehen aber sehr viel mehr umfasst als nur uns, die wir daran teilhaben, fühlen wir uns durch das Geschehen über uns hinausgetragen. Ja, wir fühlen uns getragen und d. h. von anderswoher als von uns selbst gegeben - und dadurch überhaupt erst in der Wirklichkeit angekommen. In der Teilhabe erfahren wir uns nicht der Wirklichkeit als einer äußeren gegenüberstehen, sondern in sie aufgenommen, ja mehr noch, wir erfahren, wie die Wirklichkeit sich durch uns hindurch realisiert. Wir sind wirklich. Tatsächlich ist das Interesse die Grundform menschlichen Daseins. Dass wir uns im Normalfall wenig interessiert und stattdessen eher distanziert erfahren, hat damit zu tun, dass wir uns meist aus der ganz allgemeinen und bloß vagen <?page no="178"?> Aspekte interkultureller Philosophie 178 Situation des »In-der-Welt-seins« (Heidegger) her verstehen. Auch das aber ist eine Form des ›Drin-seins‹; sie wird konkreter, wenn wir uns als Cellistinnen, Skifahrerinnen, Köchinnen, Leserinnen und Arbeiterinnen verstehen. Besonders offensichtlich ist unser Interesse an zwischenmenschlichen Situationen. ›Der Mensch ist ein soziales Wesen‹ - das meint, er versteht sich immer als Teil einer Gemeinschaft und gewinnt sein spezifisches Selbstverständnis von der jeweiligen Rolle her, die er in der Gemeinschaft spielt: Wir sind Mütter, Väter und Kinder, Partner, Freunde und Bekannte, vielleicht auch Randgänger, Einsame und Verlassene. Nie aber bleiben wir von der Gemeinschaft unberührt. Schon Husserl weist auf die grundsätzliche Bedeutung des anderen Menschen für das Ich hin. Nur dadurch, dass der Andere mir die Welt, in der ich lebe, auch als die seine bestätigt, kann ich die Welt überhaupt als eine transzendente, d. h. von meinem Ich unabhängige Welt verstehen. Ohne eine solche Bestätigung würde mich die ständige Sorge begleiten, dass die Welt gar nicht unabhängig von mir existiert und ich mich möglicherweise in einer Traumwelt bewege. Damit wäre ich zugleich selbst in meiner Existenz in Frage gestellt - denn, wie sollte ich existieren, wenn nicht in der realen Welt? Die Bestätigung der Welt durch den Anderen bestätigt darum zugleich mich selbst, weshalb Husserl sagen kann, dass »der fremde Mensch konstitutiv der an sich erste Mensch ist«. 8 Der Mensch verdankt seine eigene Existenz der Teilhabe an einem Geschehen, das ihn selbst bei weitem übersteigt. Nun ist es aber nicht so, dass der Mensch einfach Teil der gegebenen und nicht nur ihn selbst umfassenden Wirklichkeit ist. Dann wäre er für sich wirklich (wenn auch nicht selbst die ganze Wirklichkeit) und könnte die Bestätigung seiner Existenz gerade nicht im Anderen, sondern allein in sich selbst finden. Ein solches Ich ist das cartesianische Ego. Husserl hat in seinen Cartesianischen Meditationen gezeigt, dass Descartes im Rückgang auf das Ich nur deshalb Seinsgewissheit finden kann, weil er das Sein selbst immer schon voraussetzt und gar nicht eigens in Frage stellt. Die Frage Descartes’ ist deshalb eigentlich nur die, wo sich das Sein aufweisen lässt bzw. selbst zeigt, nicht wie es sich zeigt bzw. erfahren wird. Der Cellist ist nicht Teil einer schon vorhandenen Realität ›Cellospiel‹. Es gibt das Cellospiel ja gar nicht ›einfach so‹, sondern nur wenn der Cellist Cello spielt. Er hat am Cellospiel gerade dadurch Teil, dass er selber spielt, also an der Wirklichkeit mitwirkt, die ihn als Cellisten trägt. Teilhabe meint immer Mitwirkung an einem Geschehen, nie bloßes Teilsein eines größeren Ganzen. Nur in der Teilhabe ist der Mensch durch alle Umstände, die an dem Gesche- 8 Husserl 1963, S. 153. <?page no="179"?> Das Zwischen 179 hen mitwirken, in einer Weise betroffen, dass deren Schicksal auch sein eigenes ist - und nur dann, wenn das Schicksal aller Umstände auch sein eigenes ist, erfährt er sich als von anderem gegeben und damit wirklich. So ist beispielsweise das Schicksal des eigenen Kindes immer ganz unmittelbar auch das eigene; was meinem Kind passiert, passiert auch mir selbst, ja es betrifft mich in meinem Elternsein mehr als das, was mir selbst zustößt. Würde Elternsein dagegen einfach darin bestehen, Teil einer bestehenden Familie zu sein, dann hätte das, was einem anderen Teil der Familie zustößt, vielleicht Auswirkungen auf das Funktionieren des Ganzen, würde das Elternsein selbst aber nur indirekt betreffen. Elternsein müsste sein Sein in sich haben; das hat es aber nicht. Teilhabe bedeutet also, dass es in jedem ›Teil‹ immer auch um das ›Ganze‹ geht. Gadamer hat den Gedanken der Teilhabe am Beispiel des Zuschauers, der bei einem Schauspiel dabei ist (»Dabeisein heißt Teilhabe«), ausgeführt und gezeigt, dass der darstellende Charakter des Schauspiels an eben dieser Teilhabe des Zuschauers hängt. 9 Der Zuschauer ist kein unbeteiligter Beobachter, sondern verhilft dem Schauspiel erst dazu, das zu werden, was es eigentlich ist: Darstellung. Weder das nicht aufgeführte, bloß niedergeschriebene Stück noch die Aufführung ohne Zuschauer treffen den Sinn und das Sein des Schauspiels. Erst dort, wo es für andere, d. h. für Zuschauer gespielt wird, ist das Schauspiel tatsächlich Darstellung. Zugleich gewinnt der Zuschauer seinen ihm eigenen Sinn und sein ihm eigenes Sein in der Teilhabe am darstellenden Schauspiel, ganz so, wie der Cellist erst im Spiel eigentlich Mensch wird. »Dabeisein als eine subjektive Leistung menschlichen Verhaltens hat den Charakter des Außersichseins. […] In Wahrheit ist Außersichsein die positive Möglichkeit, ganz bei etwas dabei zu sein. Solches Dabeisein hat den Charakter der Selbstvergessenheit.« 10 Der Mensch gewinnt seine eigene Existenz durch die Teilhabe an einem Geschehen, das sich selbst im Zusammenspiel der verschiedenen an diesem Geschehen Teilhabenden entwickelt. Das Geschehen selbst ist also nicht noch einmal etwas von den am Geschehen Teilhabenden Unterschiedenes. Es ist ihre Zusammengehörigkeit, ihr »Logos« bzw. das ›Zwischen‹, das die Teilhabenden erst zu Teilhabenden macht. In diesem Sinne ist der Mensch das ›interessierte Wesen‹, er lebt im und aus dem Zwischen. Das lässt ihn weltoffen sein und sich um sich selbst, andere und die Welt sorgen. Kurz, das Interesse macht den Menschen zu einem kulturellen Wesen. Das Zwischen ist, soviel ist klar, nicht einfach der Bereich, der zwischen den Menschen oder zwischen dem Menschen und den Dingen in der Welt liegt. 9 Gadamer 1990, S. 129 ff. 10 Ebd., S. 130 f. <?page no="180"?> Aspekte interkultureller Philosophie 180 Es ist gar kein Bereich, sondern die Weise, wie die verschiedenen Umstände einer Situation so aufeinander eingehen und zusammenspielen, dass sie durch dieses Zusammenspiel jenes Geschehen in Gang bringen, das sie selbst über sich hinaushebt und ihnen die Erfahrung ihrer eigenen Wirklichkeit schenkt. Die Erfahrung der eigentlichen Wirklichkeit hängt am ›Dazwischen-sein‹, an der Teilhabe. Das heißt, dass sich der Mensch dann als wirklich erfährt, wenn er sich selbst vom Zwischen her erfährt. Das Zwischen ist der eigentliche Quell aller Wirklichkeit. Das heißt auch, dass sich von der Erfahrung des Zwischen her entscheidet, wer oder was der Einzelne ist. Im gelingenden Cellospiel ist der Mensch Cellist. In der gelingenden, d. h. Teilhabe ermöglichenden Familie ist der Einzelne Kind, Elternteil, Tante, Oma, oder auch Freundin der Familie. Im Teilhabe ermöglichenden Staat ist der Einzelne Bürger. Usw. Auf den Bereich der Interkulturalität bezogen, bedeutet das, dass die Kulturen erst durch die Teilhabe an der interkulturellen Begegnung überhaupt zu Kulturen werden. Erst in dieser Begegnung können sie sich selbst in ihrer kulturellen Wirklichkeit erfahren. Das heißt konkret, dass sie sich erst in der Begegnung mit anderen Kulturen und deren Grunderfahrungen als jene Selbstgestaltungen von Mensch und Welt erfahren, die sie zu dem machen, was sie sind. Die Grunderfahrungen, auf denen eine Kultur aufruht, werden in der interkulturellen Begegnung erneuert und so von neuem lebendig. In der interkulturellen Begegnung werden die Grunderfahrungen der einzelnen Kulturen erfahren - ganz so, wie der Cellist seine eigene Grunderfahrung, die ihn zum Cellisten macht, nur im Cellospiel erfahren und verwirklichen kann. Etwas anders stellt sich das Zwischen in der Phänomenologie des Fremden dar. Waldenfels beschreibt das Zwischen als das außerhalb aller Ordnungen Liegende, das »Außerordentliche«, das in den verschiedenen Ordnungen zu fassen und eben zu ordnen versucht wird, das aber in keiner der Ordnungen je aufgeht. 11 Auf Fremderfahrungen bezogen, ist das Zwischen also dasjenige, was in der Erfahrung erfahren wird. Freilich bleibt jede Erfahrung grundsätzlich auf weitere Erfahrungen verwiesen, erfährt sie das in ihr Erfahrene doch immer auf bestimmte Weise, weil »Sachverhalt und Zugangsart nicht voneinander zu trennen sind«. 12 Das Zwischen bleibt so ein Stachel im Fleisch der Ordnung, der die Ordnung an ihre Vorläufigkeit und Jeweiligkeit erinnert. Waldenfels überträgt diese Überlegungen auch auf den Bereich der Interkulturalität und spricht in diesem Zusammenhang von der »Zwischensphäre«. 13 Er 11 Waldenfels 1987. 12 Waldenfels 1997, S. 19. 13 Waldenfels 2006, S. 109. <?page no="181"?> Das Zwischen 181 bezeichnet die Zwischensphäre als »Niemandsland« und »Grenzlandschaft«, die sich auf keine einzelne Kultur reduzieren lässt, die aber ebenso wenig alle verschiedenen Kulturen zu einem Ganzen integriert. Die Zwischensphäre bleibt in den einzelnen Kulturen zugleich vorausgesetzt und entzogen. »Was einzig in der Weise da ist, daß es sich dem eigenen Zugriff entzieht, bezeichnen wir als fremd.« 14 Die Zwischensphäre ist also der eigentliche Ort des Fremden; erfahren tun wir sie freilich immer nur in der Begegnung mit anderen Kulturen. Das ist ein etwas anderer Begriff des Zwischen, als wir ihn eben im Zusammenspiel aller Umstände eines Geschehens kennen gelernt haben. Steht das Zwischen für die grundsätzliche Unmöglichkeit, eine Erfahrung abschließen zu können, dann kann in der Erfahrung des Zwischen grundsätzlich nur die Unterscheidung von ›bereits erfahren‹ und ›noch nicht erfahren‹ bzw. von bekannt und unbekannt, vertraut und fremd erfahren werden. Diese Erfahrung gibt es tatsächlich. Angesichts uns fremder Lebensformen in einer anderen Kultur erfahren wir die Lebensformen der eigenen Kultur als vertraut und bekannt. Allerdings führt diese Erfahrung keineswegs zur Erneuerung der vertrauten Lebensformen und den diesen zugrunde liegenden Grunderfahrungen, sondern nur zur Erfahrung dieser Lebensformen als vertraut. Die Fremderfahrung stachelt dazu an, die vertrauten Erfahrungen zu erweitern und das als fremd Erfahrene kennen zu lernen. Auch wenn das nie abschließend gelingen kann, so bleibt die Fremderfahrung doch immer Motivation zu neuer, weitergehender Erfahrung. Auch die weitergehenden Erfahrungen aber ruhen auf den kulturellen Grunderfahrungen auf. Die Fremderfahrung gehört deshalb immer in den Erfahrungsbereich der eigenen Kultur. Sie übersteigt diesen Erfahrungsbereich nicht hin auf ein interkulturelles Begegnungsgeschehen, in dem die einzelnen Kulturen sich gerade durch die Begegnung und ihr Zusammenspiel erst in ihrer eigenen Wirklichkeit erfahren. Das heißt aber auch, dass das Zwischen, wie es in der Fremderfahrung beschrieben wird, gerade nicht das ›Inter-esse‹ der Menschen im Intersubjektiven und der Kulturen im Interkulturellen ermöglicht, sondern stattdessen Gefahr läuft, in seiner grundsätzlichen Entzogenheit verdinglich zu werden. Tatsächlich ist das Zwischen aber der Quell der Wirklichkeit, das gilt für die Fremderfahrung ebenso wie für jede andere Erfahrung auch. Alles erhält seine Wirklichkeit durch die Teilhabe an einem Geschehen, das das Einzelne übersteigt und aus dem Zusammenspiel des Einzelnen mit anderem hervorgeht. Das Sein des Einzelnen gründet darum in seinem ›Inter-esse‹. So wie der Ein- 14 Ebd., S. 110. <?page no="182"?> Aspekte interkultureller Philosophie 182 zelne an einem solchen Geschehen teilhat, so hat auch dieses Geschehen seinerseits an einem weiteren Geschehen teil und wird erst von diesem Geschehen her selbst als wirklich erfahren. Das Wirklichkeitsgeschehen ist deshalb dimensional strukturiert (s. Kapitel 4 . 3 ). In jeder Dimension lässt sich nach dem ›Inter-esse‹ fragen, das diese Dimension kennzeichnet. Das Interesse des Cellisten liegt in der Musik bzw. ganz einfach im Cellospiel. Das Cellospiel aber hat Teil an einem größeren Geschehen, das wir als das musikalische Selbstverständnis einer Zeit verstehen können. Dieses wiederum hat Teil an einem Geschehen, in dessen Verlauf das Selbstverständnis des Menschen im Ganzen erstritten bzw. erspielt wird. Das ist die Dimension der Kultur. Die Kultur hat nun ihrerseits Teil an der interkulturellen Erfahrung und erfährt sich erst von dieser Begegnung her in ihrer Wirklichkeit. Das Interesse, das diese Dimension kennzeichnet, ist nun nicht mehr das konkrete Selbstverständnis des Menschen, sondern ganz allgemein die Menschlichkeit. Erst in ihrem Zusammenspiel nämlich müssen die Kulturen die Menschlichkeit ihrer jeweiligen Menschenbilder beweisen, weil sich die verschiedenen Menschenbilder in dieser Dimension aufeinander beziehen und einander korrigieren. Sie können ganz verschieden sein, aber sie müssen alle menschlich sein. Das »Zwischen« der Kulturen ist der ursprüngliche Ort des Interesses an der Menschlichkeit. 4 . 3 Dimensionalität Die Wirklichkeit gliedert sich nicht in verschiedene Bereiche, etwa in einen Bereich privaten und einen Bereich öffentlichen Lebens. Ebenso wenig gliedert sie sich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und auch nicht in eigene und fremde Wirklichkeit. Das Besondere der Wirklichkeit ist gerade, völlig ungegliedert zu sein. Unter dem Titel » IST « sagt Parmenides über sie: »Weil ungeboren ist es auch unvergänglich, denn es ist ganz in seinem Bau und unerschütterlich sowie ohne Ziel und es war nie und wird nie sein, weil es im Jetzt zusammen vorhanden ist als Ganzes, Eines, Zusammenhängendes (Kontinuierliches).« 15 Die Wirklichkeit ist nicht teilbar, wären diese Teile dann doch nur zum Teil wirklich. Das geht nicht, entweder wirklich oder nicht (bzw. richtiger: bloß wirklich; das ›nicht‹ ist nämlich rein privativ gesprochen). Die Wirklichkeit ist in jedem wirklich Seienden und in jedem wirklichen Moment im Ganzen präsent. Aber hieße das nicht, dass es die Wirklichkeit plural gibt? Schließlich ist 15 Diels und Kranz 1951, Parmenides B 8. <?page no="183"?> Dimensionalität 183 es doch unbestreitbar, dass es mehrere Seiende gibt. Sie ist aber Eines, wie uns Parmenides lehrt, nicht Vieles. Tatsächlich setzt das Nebeneinander von verschiedenem Seienden ja auch eine diesem Seienden gemeinsame Wirklichkeit voraus. Das aber heißt doch nur, dass zu den Wirklichkeiten der verschiedenen Seienden auch noch die ihnen gemeinsame Wirklichkeit hinzukommt. Wie ist das zu verstehen? Erinnern wir uns an das eben in Kapitel 4 . 2 Gesagte. Die Wirklichkeit ist nichts, was zum einzelnen Seienden noch hinzukäme oder sich von ihm unterscheiden ließe. Vielmehr liegt die Wirklichkeit in der Erfahrung des Gegebenseins. Das hat schon Kant gezeigt: Die Erfahrung kann nur deshalb wirklich sein, weil sie von außen gegebene Empfindungen als Sinneseindrücke aufnimmt, in der Anschauung ordnet und schließlich unter Begriffe subsumiert. Man muss sehr darauf achten, hier ein nahe liegendes Missverständnis zu vermeiden: Die Wirklichkeit liegt nicht darin, dass etwas faktisch gegeben wird; das faktische Geben setzt die Wirklichkeit von Gebendem, Gabe und Empfangendem bereits voraus. Die Wirklichkeit liegt darum einzig in der Erfahrung von Wirklichkeit und diese gründet in der Erfahrung des Gegebenseins. Das Einzelne wird als gegeben erfahren, wenn es als sich anderem verdankend erfahren wird. Der Cellist erfährt seine eigene Wirklichkeit im Cellospiel, weil er hier Anteil hat an einem Geschehen, das ihn im Ganzen betrifft, das ihn durch und durch meint und bestimmt, das aber zugleich über ihn hinaus anderes integriert und über das er folglich nicht verfügen kann. Das Geschehen gehört ihm nicht, eher gehört er selbst dem Geschehen. Und eben deswegen erfährt er durch seine Teilhabe an diesem Geschehen seine eigene Wirklichkeit; er erfährt sich als ein Mensch, der sich erst von dem Geschehen des Spiels her gegeben ist. Der Cellist erfährt seine eigene Wirklichkeit von einem Geschehen her, das ihn über sich hinausreißt und zu etwas macht, das er weder vorher schon war noch von sich aus hätte erreichen können. Die Erfahrung von Wirklichkeit geht grundsätzlich mit einem solchen Steigerungsgeschehen zusammen. Wirklichkeit ist Steigerung oder, richtiger, Geburt, denn der Cellist war zuvor nicht weniger Cellist (dann wäre er weniger wirklich gewesen), sondern gar kein Cellist (allenfalls hat er sich daran erinnert, bei früherem Spiel ein solcher gewesen zu sein, und deswegen das neuerliche Spiel gesucht). Die Erfahrung der Wirklichkeit liegt also in der Erfahrung des Gegebenseins - und das heißt konkret im ›Gegeben-werden‹ bzw. der Geburt. Geburt bedeutet zur Welt kommen bzw. aus der Sicht dessen, der geboren wird, Aufgang von Welt. Die Geburt des einzelnen Menschen ist zugleich die Geburt seiner Welt bzw. der Welt, so wie er sie erfährt. Die Geburt ist der Ursprung von allem und entspricht damit tatsächlich dem, was wir über die <?page no="184"?> Aspekte interkultureller Philosophie 184 Wirklichkeit als einer unteilbaren und einen gesagt haben. Die Wirklichkeit gliedert sich nicht in verschiedene Bereiche, sondern sie gebiert sich immer wieder neu. Was wir oberflächlich betrachtet als Übergang in einen anderen Wirklichkeitsbereich bezeichnen, ist tatsächlich die Geburt einer neuen Wirklichkeit. So z. B. der Übergang vom öffentlichen in den privaten Lebensbereich. Da wir ihn ständig vollziehen, erscheint er uns trivial, jedenfalls glauben wir uns in derselben Wirklichkeit zu bewegen und innerhalb dieser Wirklichkeit lediglich einen anderen Raum zu betreten. Diese Vorstellung wird dadurch bestärkt, dass sich unser privates Leben zumeist in der eigenen Wohnung abspielt und damit tatsächlich auch räumlich vom öffentlichen Leben getrennt ist. Bricht unser privates Leben dagegen in unser öffentliches ein, ohne sich an die räumliche Trennung zu halten - etwa dadurch, dass uns im Großraumbüro ein privates Telefongespräch erreicht, dann können wir unter Umständen irritiert sein. Wir merken in einem solchen Moment, dass viel von dem, wie wir uns im privaten Leben verhalten, am Arbeitsplatz unpassend wirkt. Das beschränkt sich keineswegs auf die Tatsache, dass private Telefonate am Arbeitsplatz nicht erwünscht sind, sondern es betrifft das eigene Verhalten, das Selbstverständnis und sogar die Einstellung anderen und der Welt gegenüber; ja es beginnt beim Tonfall, in dem man antwortet, und kann bis zu politischen Überzeugungen gehen, die am Arbeitsplatz möglicherweise an völlig anderen Zielen und Bedürfnissen ausgerichtet sind als im privaten Leben. Alles sieht in der privaten Perspektive anders aus als in der öffentlichen; und es sieht nicht nur anders aus, es ist anders, weil wir selbst andere sind und dementsprechend alles anders erfahren. Der vermeintlich harmlose Übergang ist eigentlich ein Umschlag. Alles bekommt eine neue Bedeutung, vieles bekommt überhaupt erst jetzt eine Bedeutung, anderes dagegen tritt völlig in den Hintergrund. Irgendwie wissen wir darum, auch wenn wir uns diesen Umschlag selten bewusst machen. Viele Menschen wechseln, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen, als erstes ihre Kleidung. Oberflächlich gesehen dient das der Schonung der Kleidung, aber es drückt sich darin doch auch die Veränderung der Person aus. Privat ist sie eine andere Person und fühlt sich deswegen auch nicht in der gleichen Kleidung wohl wie etwa im Arbeitsleben. Das bekannteste Beispiel für den Umschlag der Wirklichkeit als ganzer im Leben des Einzelnen ist vermutlich das Bekehrungserlebnis. 16 Es ist nicht so, dass im Leben des Bekehrten einfach etwas dazu käme und sich einzelne Interessen verändern würden. Vielmehr ändert sich alles, und das deswegen, weil es in einen neuen Sinnzusammenhang gestellt wird, ja von der Erfahrung 16 Vgl. Rombach 1994b, S. 23. <?page no="185"?> Dimensionalität 185 der Bekehrung her gesehen überhaupt erst jetzt in seinem eigentlichen Sinn erfasst wird. Nicht einzelne Interessen ändern sich, sondern das Lebens-›Interesse‹ im Ganzen ändert sich oder erwacht überhaupt erst. Der Bekehrte erfährt sich als neugeboren, weil er an einem Interpretationsgeschehen teilhat, das alles in ein neues Licht rückt und ihm selbst dadurch eine neue Wirklichkeit schenkt. Bei der christlichen Taufe wurden die Menschen früher unter Wasser getaucht, womit der Tod der alten Person und das Auftauchen einer neuen Person symbolisiert worden sind. Bekehrung meint Umschlag der Wirklichkeit im Ganzen. Das bedeutet zugleich Tod des alten Lebens und Geburt eines neuen Lebens. Wir können aber auch noch einmal das Beispiel des Cellisten bemühen. Wenn er zum Cello greift und spielt, dann bewegt er sich nicht einfach in einem besonderen Bereich seines Daseins, so als ob er, statt zu duschen oder zu telefonieren, nun eben Cello spielte. Nein, er, der erst in der Musik wahrhaft auflebt und sich mit der Welt und seinem Leben versöhnt, kommt im Cellospiel zu sich selbst, erfährt sich und alles um sich herum als von diesem Spiel getragen. Mit dem Cellospiel wird er überhaupt erst geboren oder wiedergeboren und zugleich geht mit seiner Geburt für ihn eine Welt auf. Alles erscheint nun ganz anders und neu, ja es bekommt überhaupt erst seinen Sinn. Das gilt für jedes Geschehen, in das wir so hineinkommen, dass wir daran teilhaben und uns selbst und alles, was uns umgibt, von dieser Teilhabe her verstehen. Das ist mit Dimensionalität gemeint: Mit dem Umschlag in eine neue Dimension ändert sich das Lebens- und Weltverständnis im Ganzen. »In diesem Sinne ist jede Dimension eine ›Welt‹.« 17 Es gibt nur Dimensionen der Wirklichkeit, keine Bereiche. Und das deshalb, weil die Wirklichkeit unteilbar ist. Die Dimensionen teilen die Wirklichkeit nicht untereinander auf, sondern bringen sie unterschiedlich zur Erfahrung. Die Dimension der Mathematik ist eine andere als die der Religion. In beiden aber ist die Wirklichkeit im Ganzen präsent. Es ist nicht so, dass die Mathematik nur für einen Teil der Wirklichkeit gilt, während sich ihr ein anderer entzieht. Das heißt umgekehrt aber auch nicht, dass alles auf Mathematik reduzierbar ist; das Glaubensphänomen etwa taucht in der Dimension der Mathematik nicht auf. Aber: Es bleibt auch nicht draußen. In der mathematischen Dimension finden sich alle Phänomene anderer Dimensionen übersetzt in mathematisch beschreibbare Phänomene wieder. Gerade darin besteht die Dimension, dass sie all das, was in einer anderen Dimension vorkommt, in ein neues Verhältnis zueinander setzt und ihm dadurch einen völlig neuen Sinn 17 Ebd., S. 87. <?page no="186"?> Aspekte interkultureller Philosophie 186 verleiht. In jeder Dimension sind alle anderen Dimensionen enthalten, aber neu und anders geordnet. Nur ist es eigentlich falsch, von einer Neuordnung dessen zu sprechen, was in einer anderen Dimension vorkommt. Solch ›Vorkommendes‹ lässt sich nur innerhalb der Wirklichkeit ordnen; so verstanden wäre die Dimension also lediglich eine Neustrukturierung der an sich gleich bleibenden Wirklichkeit, sie würde Wirklichkeit schon voraussetzen. Wirklichkeit gibt es aber nur dimensional. Es ist deshalb richtiger zu sagen, dass die Dimension das ›Vorkommende‹ nicht ordnet, sondern es in ein Zusammenspiel bringt, das sowohl die Dimension selbst als auch den spezifischen Sinn des in ihr Gegebenen erst hervorbringt. Die Dimension ist dieses Zusammenspiel. Das Zusammenspiel aber ist nichts jenseits der Momente, die in einer Dimension zusammenspielen. Deshalb kann die Dimension im einzelnen Moment erfahren werden, kann an ihm aufspringen. Eine Dimension springt immer an einem einzelnen Moment, an einer einzelnen Erfahrung auf. Man kann sich schon lange mit Mathematik beschäftigt haben, ohne dass die Dimension aufgesprungen wäre. Solche Beschäftigung bleibt mühsam, die Mathematik ist dann bloß von außen an die Dinge herangetragen und ergibt darum keinen rechten Sinn. Dann aber springt die Dimension auf einmal auf, möglicherweise an einer einzelnen Aufgabe oder an einer bestimmten Erklärung. Rückwirkend erscheint nun auch alles Vorherige in einem ganz anderen Licht. Mit einem Mal ist auch das, dessen Sinn sich eben noch nicht erschlossen hat, sinnvoll und einleuchtend. Eine Dimension bringt die Wirklichkeit immer als Ganze zur Erfahrung. Nichts fehlt. Und doch ist das Besondere der Dimension, dass sie im Plural vorkommt. Eine Dimension kann in eine andere umbrechen. Dann ändert sich alles, auch die vorangegangene Dimension erhält einen veränderten Sinn. Wirklichkeit gibt es überhaupt nur so, dass sie von einer in eine andere Dimension umbricht. Zum Beispiel das Leben. Und der Tod. Der Tod eines sehr nahe stehenden Menschen bedeutet zusammen mit dem Verlust dieses Menschen zugleich den Zusammenbruch des ganzen Lebens. Alles, was zuvor sinnvoll erschien, verliert diesen Sinn schlagartig. Nicht nur mit der Welt, auch mit sich selbst weiß man nichts mehr anzufangen. Die Erfahrung des Todes ist nicht eine einzelne, aus allen anderen Erfahrungen herausragende Erfahrung innerhalb einer gleich bleibenden Erfahrungsdimension. Sie führt dagegen zum Zusammenbruch dieser Dimension. Aus den Trümmern entsteht vielleicht irgendwann neues Leben, eine neue Dimension, die neuen Sinn gibt, die die Erfahrung des Todes freilich nicht ungeschehen macht, sie aber verwandelt. Auch ohne einen solch totalen Zusammenbruch kann unser Leben immer wieder umbrechen und einen neuen Sinn bekommen. Von Künstlern etwa kennen <?page no="187"?> Dimensionalität 187 wir diese Erfahrung. Eine intensive Schaffensphase kann von einer tiefen Krise jäh beendet werden, aus der irgendwann neue Kreativität erwächst. Das künstlerische Schaffen war dann freilich nicht einfach unterbrochen, sondern es hat sich durch die Krise auch verändert, die neue Schaffensphase ist durch einen anderen Stil geprägt und setzt sich deutlich vom früheren Schaffen ab. Jeder Umbruch muss durch eine Phase des Zusammenbruchs gehen. Im Prinzip ist der Zusammenbruch der alten Dimension immer ein totaler; er muss freilich nicht immer so erlebt werden. Das hängt auch damit zusammen, dass die verschiedenen Schaffensphasen des Künstlers und allgemein die verschiedenen Lebensphasen eines Menschen trotz der Umbrüche doch auch irgendwie zusammengehören. Wir können von unserem Leben sprechen, obwohl das Leben von der Kindheit zum Erwachsenenleben umbricht und ein ganz anderes wird. Der Umbruch der verschiedenen Lebensdimensionen ist selbst wirklich und gehört folglich in eine eigene Wirklichkeitsdimension. Neben dem sich gleichsam ›horizontal‹ (die Raummetapher trügt allerdings; Raum gibt es nur in einer Dimension, als dimensionalen Raum) vollziehenden Umbruch von Dimensionen, gibt es also auch ›vertikale‹ Umbzw. Einbrüche. Es gibt Höhen- und Tiefendimensionen. Wenn eine Erfahrungsdimension in eine andere umbricht, wird dies entweder aus der alten Dimension erlebt; dann erscheint der Umbruch bedrohlich, weil er alles in Frage stellt und nichts mehr gelten lässt. Oder er wird bereits von der aufgehenden neuen Dimension her erlebt; dann wird der Umbruch als sinnstiftend, klärend und befreiend erfahren. Schließlich ist es auch möglich, dass der Umbruch als solcher erfahren wird, die beiden Dimensionen also gerade in ihrer Bezogenheit aufeinander gesehen werden; dann wird die Erfahrung des Umbruchs, aus der eine neue Dimension hervorgeht, in der ihr eigenen Herkunft und Ermöglichung erfahren. Es ist dies die Erfahrung einer Erfahrung bzw. eine Grunderfahrung, die eine eigene (Tiefen-)Dimension konstituiert. Die ineinander umbrechenden Dimensionen sind Momente dieser Tiefendimension. Uns ist die hier angedeutete Verschachtelung der Dimensionen vom Phänomen der Zeit her eigentlich vertraut. So wie es eine Erfahrung der Erfahrung gibt, so auch eine Gegenwart der Gegenwart. Die politische Gegenwart des aktuellen Jahres beispielsweise kann von der Gegenwart der zurückliegenden Jahrzehnte her verstanden werden. Dabei ist es nicht so, dass die eine Gegenwart einfach in die andere hineingehörte, ein Teil von ihr darstellte. Gegenwart ist immer absolut, ganz gleich in welcher Dimension. Das heißt, dass in jeder beliebigen Dimension immer alle anderen Dimensionen enthalten sind. Das führt dazu, dass sich Dimensionen gelegentlich selbst verabsolutieren. Sie tun das einerseits völlig zu Recht; eine jede Dimension ist umfassend und bringt <?page no="188"?> Aspekte interkultureller Philosophie 188 die Wirklichkeit als Ganze zur Erfahrung. Andererseits aber verkennen sie in der Selbstverabsolutierung die Möglichkeit des Umbruchs. Diese Möglichkeit ist für eine Dimension freilich konstitutiv, andernfalls erstarrt das Zusammenspiel ihrer Momente, das die Dimension ja ausmacht, und weicht starren Regeln der Zusammengehörigkeit. Dann sind weder Leben noch Teilhabe mehr möglich. An dieser Stelle müssen wir nochmals auf das eingangs aufgeworfene Problem zurückkommen, wie das einzelne Seiende wirklich sein kann, wo doch die Wirklichkeit nicht plural ist. Am einzelnen Seienden springt eine Dimension auf; nur deshalb ist es wirklich. »Der Sprung führt immer auf Einzigkeit. […] Die darin eröffnete Möglichkeit führt nicht über sich hinaus. Alles, was aus ihr folgt, ist sie voll in ihrer ›Anfänglichkeit‹. […] Bleibende Nullpunkterfahrung.« 18 Die im Seienden aufspringende Wirklichkeitsdimension reißt das Seiende unendlich über sich hinaus, aber nur um es in seiner vollen Wirklichkeit erstrahlen zu lassen. Die gesamte Wirklichkeit hat den Sinn, die Wirklichkeit des einzelnen Seienden zu erweisen. Wir kennen eine solch intensive Erfahrung eines einzelnen Seienden kaum. Vielleicht aber können wir doch wenigstens eine Ahnung davon bekommen, wenn wir etwa an das Erblühen einer Pflanze denken, die zum Mittelpunkt der ganzen Landschaft wird, so als sei die Landschaft nur dazu da, der blühenden Pflanze einen angemessenen Hintergrund zu bieten. Noch besser kennen wir eine solch ausschließliche Erfahrung in Bezug auf einzelne Menschen. Die Liebe zu einem Menschen kann uns für alle anderen blind machen, sie sind dann nicht viel mehr als Statisten in einem Film, in dem es allein um die geliebte Person geht. Üblicherweise aber bewegen wir uns in Dimensionen, in denen mehrere Menschen und viele Dinge zusammengehören. Dennoch: Alles Wirkliche kann grundsätzlich in der ihm eigenen Wirklichkeitsdimension erfahren werden. Darin liegt die vielleicht wichtigste Kritik an einem so entschiedenen Denker des Seins wie Heidegger. Auch Heidegger hat die Einigkeit des Seins gesehen, er hat sie aber zumindest in seiner frühen Philosophie als vom Seienden unterschieden gedacht. In Sein und Zeit erhält das Seiende seinen jeweiligen Sinn von der Vorerschlossenheit des Seins durch das Dasein. Der Seinssinn liegt also nicht im Seienden selbst. In seiner Analyse der vorsokratischen Philosophie Anaximanders hört sich das später schon anders an. Hier beschreibt er Sein als Anwesen. 19 Das Seiende ist das Anwesende. In ihm west aber etwas an, das sich selbst entzieht, und zwar so, dass im Anwesen immer schon der Verweis auf die Vergänglichkeit seiner Anwesenheit liegt und sich damit im Anwesen- 18 Rombach 1988, S. 231. 19 Heidegger 1980b und 2010. <?page no="189"?> Dimensionalität 189 den zugleich die künftige Anwesenheit des gegenwärtig Abwesenden sowie die künftige Abwesenheit des gegenwärtig Anwesenden, mithin die Zusammengehörigkeit von Anwesendem und Abwesendem zeigen. Das scheint den oben formulierten Gedanken, dass sich am einzelnen Seienden Wirklichkeit im Ganzen erweist, ziemlich genau zu treffen. Und doch besteht ein entscheidender Unterschied: Das Anwesen wandelt sich nicht abhängig davon, was genau gerade anwesend ist; d. h. unabhängig davon, in welchem Seienden sich das Seiende zeigt, bleibt es doch immer das gleiche. Das kann für das Seiende nicht gelten, also sind Seiendes und Sein doch unterschieden. Aber wie sollte etwas (das Seiende) von der Wirklichkeit (dem Sein) unterschieden sein? Der erste Denker, der das Phänomen der Dimensionen gesehen und beschrieben hat, ist Blaise Pascal ( 1623 - 1662 ). 20 Descartes, der nur wenig älter ist als Pascal, beschreibt die Welt als einen einzigen Funktionszusammenhang. Insofern die Wissenschaft bestrebt ist, diesen Funktionszusammenhang aufzuklären, ist sie Mathesis universalis, Universalwissenschaft. Anders bei Pascal, der verschiedene »Ordnungen« der Wirklichkeit unterscheidet und der Ordnung der Vernunft, die auf Erkenntnis zielt, die Ordnung des Herzens zur Seite stellt, in der die Wirklichkeit nicht erkannt, sondern im Glauben erfahren wird. 21 Was in der einen Ordnung gilt, gilt deshalb nicht auch schon in der anderen Ordnung. Man kann in beiden Ordnungen zu Hause sein, aber man kann die eine nicht auf die andere reduzieren. Deshalb, so schreibt Pascal, hat man »unendlich viel Mühe« das in der einen Ordnung Gesehene einem anderen zu vermitteln, der es nicht selbst in dieser Ordnung erfährt. Die dimensionale Unterscheidung der Wirklichkeit, die Pascal als erster entdeckt hat, ist von größter Bedeutung, um beispielsweise die Entwicklung und den je eigenen Sinn so unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche wie der Geistes- und Naturwissenschaften verstehen zu können; sie ist aber auch für das Verständnis der lebendigen Entwicklung einer Kultur unabdingbar. Keine Kultur ist eindimensional. Im Gegenteil, das, was eine Kultur ausmacht und von anderen Kulturen unterscheidet, ist die Art und Weise, wie sie die verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen so integriert, dass keine von ihnen eingeschränkt und beschnitten wird, sich zugleich aber auch keine einzelne Dimension selbst verabsolutiert und über alle anderen erhebt. Solche Tendenzen gibt es in der Geschichte von Kulturen immer wieder. Wenn eine Dimension aufgrund innerer Unstimmigkeiten in sich selbst umbricht und sich so erneuert, dass sie die Wirklichkeit fortan völlig anders zur Erfahrung bringt, dann wendet sie sich häufig nicht nur gegen ihre eigene alte Form, sondern auch gegen 20 Vgl. dazu Rombachs einzigartige Darstellung: Rombach 1966, S. 99-298. 21 Pascal 2012. <?page no="190"?> Aspekte interkultureller Philosophie 190 alle anderen Dimensionen. Sie wird zum Fremdkörper in der bis dato austarierten Dimensionenvielfalt. Ein Beispiel dafür ist das Verhältnis der Wissenschaften zur Religion in der Neuzeit. Die Entwicklung der modernen Wissenschaften ist durch offene Fragen und neue Ideen, die im Bereich der Theologie diskutiert wurden, zweifellos gefördert worden; nachdem die Wissenschaften aber erst einmal den entscheidenden Durchbruch erlebt hatten, haben sie begonnen, sich zunehmend über alle anderen Dimensionen der kulturellen Wirklichkeit zu erheben und eigentliche Erkenntnis für sich allein zu beanspruchen. Mit der Zeit hat sich so die Geltung objektiver Erkenntnis, die den Bereich der wissenschaftlichen Dimension kennzeichnet, verselbstständigt und über die Erfahrungen, die in anderen Dimensionen gemacht werden, gestellt. Das ist bis heute so. Wir reden ernsthaft über objektiv messbare Grundlagen religiöser Erfahrung, nicht aber umgekehrt über die (religiöse) Erfahrungsqualität wissenschaftlicher Erkenntnis. Dabei wäre beides richtig - das eine in der Dimension der Wissenschaften, das andere in der Dimension der Religion. Nun ist es nicht so, dass die Dimension der Wissenschaften heute alle anderen Dimensionen marginalisiert, aber der Bedeutungsgewinn dieser Dimension hat doch zu erheblichen Verschiebungen im mehrdimensionalen Geflecht der kulturellen Lebenswelt geführt. Einzelne Dimensionen sind stärker in den Vordergrund getreten, neben den Wissenschaften beispielsweise die ökonomische Dimension, andere sind dagegen in den Hintergrund getreten. Noch entscheidender freilich ist, dass der Wandel in einer einzelnen Dimension Veränderungen auch innerhalb anderer Dimensionen nach sich zieht. Die Religion z. B. muss sowohl auf die Entwicklungen in den Wissenschaften wie auch in der Ökonomie reagieren, um selbst noch eine überzeugende Wirklichkeitsdimension bleiben zu können. So bildet das Zusammenspiel der verschiedenen Dimensionen den besonderen Charakter der geschichtlichen Gegenwart einer Kultur. So wie die Dimension der Kultur vom Zusammenspiel der verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen geprägt ist, so ist ihrerseits die interkulturelle Dimension vom Zusammenspiel der Kulturen geprägt. Es kommt nun aber darauf an, die Differenz zwischen diesen beiden Dimensionen nicht nur formal zu benennen, sondern sie auch der Sache nach zu sehen. Kulturen bilden sich ja bereits daraus, wie die verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen, in denen sich menschliches Leben abspielt, jeweilig geschichtlich zusammengehören und dadurch eine zwar vielfältige, wandelbare, gelegentlich auch widersprüchliche und in sich zerrissene, aber eben doch nie völlig auseinander fallende Welt konstituieren. Eine Kultur hat grundsätzlich Weltcharakter, weil sie selbst nichts anderes ist als die Zusammengehörigkeit aller Wirklichkeitsdimensionen. Was kann da die interkulturelle Dimension noch sein? Die interkulturelle Dimension bricht in der Begegnung der Kulturen auf. Die Kulturen begegnen <?page no="191"?> Grundphilosophien 191 sich als Kulturen (und nur dann begegnen sie sich in der interkulturellen Dimension; natürlich gibt es Kulturkontakt und -austausch auch in anderen Dimensionen, etwa der Dimension der Ökonomie oder der Dimension der Wissenschaft oder auch der Dimension der Religion) dann, wenn sie sich als Welten begegnen. Die Dimension der Kultur ist die ›mundane‹, die der Interkulturalität die ›intermundane‹ Dimension. Das relativiert die Universalität von Welt nicht. Welt ist die Zusammengehörigkeit aller Wirklichkeitsdimensionen, in denen der Mensch lebt. Die intermundane Begegnung macht den Weltcharakter der Kulturen nur erfahrbar, und das heißt, sie macht darauf aufmerksam, dass Welt gerade deswegen, weil sie die Zusammengehörigkeit - und nicht die bloße Summe oder gar nur so etwas wie der Container - aller Wirklichkeitsdimensionen ist, immer eine ganz konkrete Gestalt besitzt. Die Wirklichkeitsdimensionen wandeln sich, also wandeln sich die Kulturen und mit ihnen die Welten. Aber nicht in einer noch umfassenderen Welt (›dem Universum‹), sondern als Welt. Die sich wandelnde Wirklichkeit wandelt sich nicht auf dem Boden einer unwandelbaren Wirklichkeit. Sie ist eins, unveränderbar und ewig gerade darin, dass sie in jedem einzelnen Moment der Geschichte ganz da ist, ganz ›verwirklicht‹ ist. Die interkulturelle Dimension macht auf diese Unbedingtheit der kulturellen Welten aufmerksam. Zugleich, das werden wir etwas weiter unten in den Kapiteln 4 . 6 und 4 . 7 noch genauer sehen, eröffnet sie die Möglichkeit zu Kritik. Jede Kultur ist welthaft; das bedeutet eben auch, dass sie alles, was andere Kulturen zu leisten vermögen, auf ihre Weise auch leisten muss. Da Kulturen menschliche Welten sind, ist das erste und höchste, was jede Kultur leisten muss und was die Kulturen einander in der interkulturellen Dimension abfordern können, Menschlichkeit. In der interkulturellen Dimension muss sich die Menschlichkeit der Kulturen erweisen. Das ist ihr eigentlicher Sinn. 22 4 . 4 Grundphilosophien Die Philosophie hebt mit der Entdeckung an, dass sich in dem, was der Mensch in der Natur und um sich herum an vielfältigen Dingen vorfindet und an Ereignissen erlebt, etwas zeigt, das in diesen Dingen und Ereignissen selbst nicht 22 Der vermeintliche »Kampf der Kulturen« (»The Clash of Civilizations«), von dem Huntington gesprochen hat und der seither als ein vermeintlich realistisches Szenario für die Entwicklung der interkulturellen Situation diskutiert wird, reicht nicht annähernd in die interkulturelle Dimension hinab. Der Kampf deutet vielmehr auf die Probleme hin, die der Menschheit aus der Verabsolutierung einzelner Wirklichkeitsdimensionen erwachsen; das betrifft noch nicht einmal in erster Linie die Dogmatik einzelner Religionen, sondern vor allem das Diktat der ökonomischen Dimension, das zu zahlreichen Verteilungskämpfen führt. Vgl. Huntington 1996. <?page no="192"?> Aspekte interkultureller Philosophie 192 aufgeht, das aber doch nicht völlig von ihnen abgetrennt ist und dem Menschen deshalb grundsätzlich entzogen bliebe. Vielmehr wird der Mensch durch dieses ›Sich-im-Seienden-zeigen‹ auf die Spur dessen, was sich da zeigt, gesetzt. Er muss es nicht einfach hinnehmen, sondern kann danach fragen, sich darauf besinnen und ihm nach-denken. Das zu tun, heißt zu philosophieren. Schon lange vor solchem Philosophieren sind dem Menschen in der Natur und in den Dingen, mit denen er zu tun hatte, höhere Mächte begegnet; auch hat er schon immer in einzelnen Ereignissen einen höheren Sinn erfahren. Freilich hat er diese Mächte und diesen Sinn als unabhängig von den Dingen und Ereignissen bestehend verstanden. Er hat in ihnen eben ›höhere‹ Kräfte am Werk gesehen. Das Besondere der Philosophie ist es, dass der Mensch entdeckt, dass ihm diese Kräfte nicht grundsätzlich verschlossen bleiben müssen, ja dass sie sich ihm im Seienden geradezu offenbaren, wenn er es nur richtig zu sehen lernt. Die Philosophie fragt seither nach dem, was sich im Seienden zeigt. Sie nimmt die Dinge nicht einfach so hin, wie der Mensch sie vorfindet, sondern durchbricht die Oberfläche und begibt sich auf die Suche nach dem unter der Oberfläche liegenden ›wahren Sein‹. Die Philosophie besteht weder in einer bestimmten Einsicht noch bearbeitet sie ein eingegrenztes Feld. Vielmehr bedeutet Philosophieren, sich auf die Suche zu begeben nach dem, was sich in allem, was der Mensch vorfindet, zeigt - Heraklit und Parmenides haben das, was sich da zeigt, Logos, Welt bzw. Sein genannt. So etwa hatten wir in Kapitel 3 . 1 den Anfang der Philosophie in Griechenland beschrieben. Wenn die Philosophie in der Suche besteht, dann muss dem Menschen zunächst aufgehen, dass es etwas zu suchen gibt bzw. dass er sich auf die Suche begeben kann. Die Möglichkeit der Philosophie selbst muss dem Menschen aufgehen. Platon und Aristoteles haben den Ursprung der Philosophie deswegen im Taumazein verortet, im Staunen ob des unendlichen Frageraumes, der sich dem Menschen auftut, wenn er die Dinge nicht so hinnimmt, wie er sie vorfindet, sondern auf das hin befragt, was sich in ihnen zeigt. Das Staunen muss der Philosophie vorausgehen. Das Staunen aber ist eine Erfahrung, keine Erkenntnis oder dergleichen. Und so hebt die griechische Philosophie mit der besonderen Erfahrung der Wirklichkeit als einer sich-zeigenden an. Philosophie ist nicht in erster Linie eine Sache des Wissens und der Kenntnis, sondern der Erfahrung der Fragwürdigkeit all dessen, was wir um uns herum vorfinden. Erfahrungen aber verblassen, darum muss sich die Philosophie immer wieder um ihre Erneuerung bemühen. Dennoch bildet sich mit der Zeit natürlich so etwas wie eine philosophische Wissenschaft aus. Die Suche, zu der die Philosophie auffordert, betreiben die des Logos kundigen Menschen gemeinsam; entsprechend lernen sie voneinander, so dass nachfolgende Generationen versu- <?page no="193"?> Grundphilosophien 193 chen können, die Suche dort fortzusetzen, wo die Älteren sie hingeführt haben. Auch die Philosophie kennt ihren Fortschritt. Dadurch entfernt sie sich aber zwangsläufig immer weiter von der ursprünglichen Erfahrung, die ihr den Anstoß gab. Solange diese Erfahrung dennoch irgendwie präsent bleibt, die Suchenden also wissen, weshalb sie sich auf der Suche befinden, stört das nicht. Irgendwann verselbstständigt sich der Weg, der im Laufe der Suche zurückgelegt wurde, aber in einer Weise, dass einzelne Lehren der Philosophie als gesichertes Wissen gelten und damit an die Stelle des offenen Anstoßes durch die Erfahrung treten. An die Stelle des Staunens darüber, ›dass sich im Seienden etwas zeigt‹, tritt die Lehre, dass es ein höchstes Seiendes gibt, das die Substanz eines jeden Seienden darstellt. Diese Entwicklung führt irgendwann zu einem Punkt, an dem sie der ursprünglichen Erfahrung nicht mehr entspricht. Wenn in dieser Situation Einzelne - angestoßen zumeist durch Entwicklungen außerhalb der Philosophie - auf die ursprüngliche Erfahrung zurückkommen, dann kann das das gesamte Gebäude der Philosophie zum Einsturz bringen. Die Suche beginnt von neuem und sie schlägt in der Folge einen etwas anderen Weg ein. Das ist der Grund dafür, dass auch die Philosophie epochale Umbrüche kennt (ich habe in Kapitel 3 . 2 beispielhaft den Umbruch zur Neuzeit nachgezeichnet). Nicht nur das; auch die Wiederholung der Erfahrung wiederholt nicht einfach dieselbe Erfahrung. Das geht gar nicht. Jede Erfahrung erfährt neu und anders, sonst erfährt sie nicht, sondern kopiert bloß. Die der Philosophie zugrunde liegende Erfahrung durchläuft deshalb selber einen geschichtlichen Wandel. Die Nachzeichnung dieses Wandels kann nicht durch die Philosophie selbst erfolgen. Wir haben es dagegen mit so etwas wie einer Philosophie der Philosophie bzw. einer »Grundphilosophie« zu tun. Die Philosophie der Philosophie ist keine Metaphilosophie. Es geht nicht um das Reflektieren auf Philosophie, sondern um den sich geschichtlich ändernden Anstoß bzw. die sich geschichtlich ändernde Ermöglichung von Philosophie. Den Begriff der Grundphilosophie hat Rombach geprägt. 23 Er zeigt, dass ein Verständnis der Geschichte der Philosophie, so wie sie sich in den zurückliegenden zweieinhalb Tausend Jahren entwickelt hat, erst auf dem Boden der Grundphilosophie möglich ist. So lässt sich beispielsweise das Besondere der neuzeitlichen Philosophie erst richtig verstehen, wenn der entsprechende Umbruch in der Erfahrung, die aller Philosophie den Anstoß gibt, gesehen wird. Die Geschichte der Philosophie ist nicht richtig verstanden, wenn sie als fortlaufende Entwicklung interpretiert wird; vielmehr verdankt sich ihr geschichtlicher Wandel den Umbrüchen in der Dimension der Grundphilosophie. 23 Rombach 1962 / 1988, S. 23-36, und 1985. Vgl. auch Weidtmann 2010. <?page no="194"?> Aspekte interkultureller Philosophie 194 Nun ist die Philosophie aber nicht einfach eine bestimmte wissenschaftliche Disziplin oder ein besonderer Lebensbereich des Menschen. Sie ist sehr viel mehr. Jedenfalls bedeutete die Erfahrung, die die Philosophie im antiken Griechenland angestoßen hat, sehr viel mehr. Nämlich die Entdeckung, dass der Mensch nur dann wirklich Mensch ist, wenn er Philosophie treibt bzw., grundlegender und anfänglicher, wenn er sich über das, was er vorfindet, erhebt und damit frei umzugehen versucht. Das hat der Mensch immer getan; das Besondere der menschlichen Entwicklungsgeschichte liegt gerade darin, dass der Mensch in der Natur immer wieder neue Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten für sich selbst entdeckt und diese hebt. Die Griechen aber haben diese Bewegung als das Prinzip des Menschseins entdeckt und damit den Menschen als denjenigen, der sich die Natur aneignet und frei mit ihr umgeht, gegen die Natur abgegrenzt. Die Griechen haben das kulturelle Wesen des Menschen entdeckt. Und nur weil sie in dieser Entdeckung das Wesen bzw. das Prinzip des Menschseins gesehen haben, konnten sie auch die Erhebung des Menschen über die Natur als eine prinzipielle (auf ein Prinzip gerichtete) fassen. Das erst ist die Geburtsstunde der Philosophie (vgl. auch Kapitel 3 . 1 ). Das bedeutet nun aber, dass der Wandel der Grundphilosophie, also der Wandel der die Philosophie anstoßenden Erfahrungen, nicht nur zu Veränderungen in einem Sonderbereich, genannt Philosophie, führt, sondern das Selbstverständnis - richtiger: das Wesen - des Menschen betrifft. Mit der Grundphilosophie verändern sich auch das Wesen des Menschen und das Verständnis, das der Mensch von der Welt hat. Alles ändert sich. Die Grundphilosophie läuft darum nicht in der Geschichte ab; umgekehrt öffnet sich erst dadurch, dass in der Dimension der Grundphilosophie die Erfahrung eine andere wird, überhaupt ein neuer geschichtlicher Raum. Die Umbrüche in der Dimension der Grundphilosophie sind folglich dafür verantwortlich, dass die Geschichte epochal verläuft. Rombach hat deshalb auch von einer »Fundamentalgeschichte« gesprochen, die keine Seinsgeschichte (Heidegger), sondern eine Erfahrungsgeschichte ist. 24 Mit Grundphilosophie ist also nicht Philosophie im geläufigen Sinn gemeint, sondern der Wandel jener Erfahrungen, die der geschichtlichen Entwicklung der europäisch-westlichen Kultur zugrunde liegen. Es sind dies Grunderfahrungen, die sich nicht allein in dem, was wir Philosophie nennen, ausdrücken. Die Grunderfahrungen, die den Umbruch in eine neue Epoche anstoßen, lassen sich überall im Leben dieser Epoche wiederfinden. Häufig ist es sogar so, dass sie sich leichter als in den Philosophien dieser Epoche in ganz anderen Bereichen, nicht zuletzt auch im alltäglichen Leben aufweisen lassen. So ist 24 Vgl. dazu Rombach 1977. <?page no="195"?> Grundphilosophien 195 etwa die Entdeckung der Selbstbegründung von Welt, der sich der Funktionalismus der Neuzeit verdankt (vgl. Kapitel 3 . 2 ), lange bevor sie in der Philosophie nachvollzogen wurde bereits in der Kunst gemacht worden. Und sie ist dort auch sehr viel besser getroffen. Die Kunst entdeckt das schöpferische Moment, das eine Selbstbegründung von Welt überhaupt erst ermöglicht, und arbeitet dieses Moment konsequent heraus. Aufgrund ihres Blicks für das Schöpferische kann die Kunst die Entfaltung der neuzeitlichen Grunderfahrung auch auf alle möglichen Bereiche frei geben. Sie braucht keine letzte Wahrheit für sich in Anspruch zu nehmen, es reicht aus, das schöpferische Moment selbst zur Entfaltung zu bringen. Die Renaissance ist ganz von dieser Erfahrung des Schöpferischen geprägt. Die Philosophie erfasst den Gedanken erst sehr viel später und systematisiert ihn zugleich. Descartes gelingt damit zwar eine Grundlegung moderner Wissenschaft, das schöpferische Moment aber weicht dem Modell der Maschine. Die Nachzeichnung der Grundphilosophie darf sich deshalb nicht allein an die etablierte Philosophie halten, sondern muss alle Lebensbereiche einer Kultur berücksichtigen. Der Umbruch zur Neuzeit vollzieht sich in der Philosophie nicht nur später als in anderen Bereichen, allen voran der Kunst, er wird auch nicht durch die Philosophie ausgelöst. Entscheidender sind Entwicklungen in der Theologie und der Astronomie, die zur Umgestaltung des Weltbildes führen. Sichtbar wird der Umbruch dagegen erst einmal nicht in der Theologie, sehr wohl aber in der Astronomie, in der Kunst, auch in den Entdeckungsreisen, die in diese Zeit fallen, im Handel, dem Aufstreben des städtischen Bürgertums, der Architektur und in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens. Die Grundphilosophie nachzuzeichnen, ist nicht Sache der Philosophie allein, sondern ein interdisziplinäres Unterfangen. Die Einsicht in die Dimension der Grundphilosophie, die der Philosophie ihre geschichtlich konkreten Möglichkeitsräume eröffnet, erlaubt es erst, jeder Kulturwelt eine ihr eigene Philosophie zuzuschreiben. Das ist nach dem, was wir über den griechischen Ursprung der Philosophie gesagt haben, ja alles andere als selbstverständlich. Im Gegenteil, wir haben die Philosophie explizit als griechische Entdeckung gekennzeichnet. Zwar haben sich die verschiedenen Kulturen im Zuge des Austausches untereinander auch mit der europäisch-westlichen Philosophie auseinandergesetzt und eigene moderne philosophische Schulen begründet. Aber berechtigt das schon dazu, von einer interkulturellen Pluralität der Philosophien zu sprechen? Doch nur dann, wenn sich die verschiedenen Philosophien erstens auch tatsächlich unterscheiden und zweitens diese Unterschiede auf die kulturellen Differenzen zurückzuführen sind. Tatsächlich ist das der Fall. Verantwortlich dafür sind die <?page no="196"?> Aspekte interkultureller Philosophie 196 jeweiligen Grundphilosophien. Die Grundphilosophie eröffnet einen geschichtlichen Möglichkeitsraum, der in einer Kultur vielfach realisiert, interpretiert, umgestaltet, verworfen und erneuert wird. Auch die Aufnahme von fremdkulturellen Einflüssen findet in diesem von der jeweiligen Grundphilosophie eröffneten Raum statt. Das soll heißen, dass die europäisch-westliche Philosophie von anderen Kulturen nicht einfach übernommen, sondern angeeignet worden ist. Aneignung bedeutet Integration in bzw. Anknüpfung an bestehende Horizonte - und damit immer auch Veränderung der angeeigneten Philosophie. Sowohl im ostasiatischen als auch im islamisch-arabischen und im afrikanischen Kulturkreis (und vielen anderen mehr), auf die ich in Kapitel 5 noch zu sprechen kommen werde, ist die europäisch-westliche Philosophie angeeignet worden, indem sie mit entscheidenden Momenten der eigenen Tradition verknüpft wurde. Daraus sind eigenständige Philosophietraditionen hervorgegangen, die es richtig erscheinen lassen, heute von einer interkulturellen Pluralität von Philosophien zu sprechen. Darin liegt bereits der entscheidende Hinweis darauf, dass es in der interkulturellen Begegnung in erster Linie um die verschiedenen Grundphilosophien geht. Die Vielfalt der Philosophien lässt sich überhaupt nur von der Dimension der Grundphilosophien her richtig verstehen. In der interkulturellen Begegnung geht es aber nicht um einen Vergleich der verschiedenen Grundphilosophien. Es geht darum, dass die Kulturen in ihrer Begegnung miteinander überhaupt erst auf ihre je eigenen Grundphilosophien aufmerksam werden. Die Grundphilosophien lassen sich zwar überall wiederfinden, sie liegen aber nirgendwo offen zutage und sie sind nirgendwo aufgeschrieben oder sonst irgendwie explizit gemacht. Tatsächlich wissen die Kulturen zumeist selbst nicht um ihre eigenen Grundphilosophien, da diese den geschichtlichen Möglichkeiten, die die Kulturen ausgestalten, und den Anforderungen, denen sie begegnen, ja noch vorausgehen. Erst in der interkulturellen Begegnung brechen sie in die Dimension der Grundphilosophien durch, weil erst von ihnen her die wesentlichen Unterschiede sowohl zwischen den einzelnen Philosophien wie auch zwischen den übrigen Formen der kulturellen Lebenswirklichkeit fassbar werden. Einem möglicherweise nahe liegenden Missverständnis möchte ich an dieser Stelle noch vorbeugen: Der Hinweis auf die Grundphilosophien könnte so verstanden werden, als würde einem Essentialismus der Kulturen das Wort geredet, nur dass dieser nun nicht in der Gestalt einer Wesenssubstanz, sondern in der etwas elaborierteren Form einer Philosophie auftritt. Das ist nicht der Fall. Die Grundphilosophien heißen so, weil sie die verschiedenen Philosophien begründen. Philosophie aber gründet, das haben wir am Beispiel Griechenlands gesehen, nicht in einer wesenhaften Substanz, sondern in einer Erfah- <?page no="197"?> Welt und Welten 197 rung. Gerade weil auch diese Erfahrung weder andauert noch unverändert wiederholt werden kann, lässt sich so etwas wie eine Geschichte der die Philosophien gründenden Erfahrungen nachzeichnen. Das tut die Grundphilosophie. Sie ist also eine Geschichte des Wandels. Mehr noch: Die Grundphilosophie wandelt sich selbst nur deshalb, weil die durch sie eröffneten Gestaltungsräume in den verschiedenen Lebensbereichen anders ausgelegt und realisiert werden, als durch die Erfahrung zunächst angestoßen. Der Wandel der Erfahrungen ist also durch die kulturelle Realisation der Grundphilosophie ebenso angestoßen, wie umgekehrt die kulturelle Gestaltung überhaupt erst durch diese Erfahrungen ermöglicht wird. 4 . 5 Welt und Welten Welt ist uns einerseits das Vertrauteste, leben wir doch in ihr und haben ständig mit ihr zu tun. Zugleich ist sie aber auch das Fremdeste, dasjenige, das nicht nur am weitesten entfernt von uns ist, sondern das uns sogar grundsätzlich entzogen bleibt. Die Welt ist zwar bei allem, was wir tun und erfahren, immer schon vorausgesetzt, sie selbst zeigt sich uns aber nie. Uns kann sich etwas immer nur in der Welt zeigen, die Welt selbst kommt aber in der Welt gar nicht vor. Gabriel schreibt in seinem gleichnamigen, etwas launigen Buch deshalb, dass es »die Welt nicht gibt«. 25 Die Einsicht, dass die Welt in aller Erfahrung schon vorausgesetzt und deshalb nie »an sich« erfahrbar ist, bringt Kant dazu, in ihr eine bloße Idee der Vernunft zu sehen. Was wir über die Welt wissen, wissen wir aus Erfahrung. Damit wir aber überhaupt etwas erfahren können, muss der Bereich des Erfahrbaren jenen des bereits Erfahrenen übersteigen. Andernfalls würden wir uns dauerhaft im bereits Bekannten bewegen, was dazu führen würde, dass wir nichts Neues mehr kennen lernen könnten und die Erfahrung zum Erliegen käme. Erfahrung ist darauf angewiesen, das Bekannte auf Unbekanntes hin zu übersteigen und gleichsam neues Terrain zu gewinnen. Darin liegt ja die Erfahrung. Wir wissen über die Welt also einerseits nur das, was wir aus Erfahrung wissen, müssen aber andererseits - jedenfalls solange Erfahrung möglich ist - davon ausgehen, dass sich die Welt in dem, was wir erfahren haben, nicht erschöpft. ›Welt‹ ist darum bei Kant nicht nur eine Vorstellung, die wir uns machen, sondern eine notwendige regulative Idee. Nun gilt es, zwei in der Philosophie des 20 . Jahrhunderts unabhängig voneinander vollzogene, sachlich aber aufs engste zusammengehörige Schritte in der 25 Gabriel 2013. <?page no="198"?> Aspekte interkultureller Philosophie 198 Analyse der Erfahrung nachzuvollziehen, um die Bedeutung des Phänomens Welt für die interkulturelle Begegnung erfassen zu können. Erstens: Die regulative Idee ›Welt‹ ist nicht nur aus formalen Gründen in jeder Erfahrung vorausgesetzt, vielmehr ist sie selbst Teil einer jeden Erfahrung. Eine Erfahrung erfährt sich nicht selbst (zwar kann auch eine Erfahrung erfahren werden, dies ist dann aber eine andere Erfahrung bzw., richtiger, eine andere Erfahrungsdimension). In der Erfahrung wird also etwas erfahren, das die Erfahrung übersteigt bzw. transzendiert. Gegenüber der kantischen Analyse der Erfahrung ist es nun entscheidend zu sehen, dass die Transzendenz des Erfahrenen nicht einfach aus logischen Gründen vorausgesetzt werden darf, sondern tatsächlich ganz konkret erfahren wird und sich deshalb auch in der Erfahrung ausweisen lassen muss. Wir erfahren Dinge als die Erfahrung transzendierend, also als unabhängig von der Erfahrung bestehend. Husserl zeigt, dass das so ist, weil eine Erfahrung immer über sich hinaus auf weitere mögliche Erfahrungen verweist, die von dem, was in der Erfahrung gegeben ist, gemacht werden können. Wir erfahren etwas immer so, dass es uns zwar gegeben, aber nie im Ganzen präsent ist; dadurch sind wir immer schon auf mögliche weitere Erfahrungen verwiesen, die das Erfahrene weiter erschließen. Das bedingt, dass wir das Erfahrene als verschiedenen Erfahrungen zugänglich und mithin als unabhängig von unserer konkreten Erfahrung bestehend erfahren. Wir erfahren das in der Erfahrung Gegebene deshalb als transzendent - und können es zugleich nur deshalb als transzendent erfahren, weil die Erfahrung selbst über sich hinausweist, die Transzendenz also gewissermaßen in die Erfahrung selbst hineinwirkt. Diese Überlegung ist in der Phänomenologie des Fremden konsequent herausgearbeitet worden (vgl. dazu Kapitel 3 . 3 ). Fremd ist etwas, das als sich entziehend erfahren wird. Als sich entziehend kann etwas aber nur erfahren werden, wenn sich die Erfahrung nicht mit dem ersten Eindruck zufrieden gibt (das würde das Fremde nicht als fremd, sondern nur als unbekannt oder unverstanden erfahren), sondern immer weiter fortfährt, das Fremde zu erkunden. Wir können etwas als fremd nur erfahren, weil die Fremdheit in die Erfahrung hineinwirkt, ja die Erfahrung sich selbst immer fremd bleibt. Sie erfährt zwar dies und das als bekannt, bleibt darin aber immer auf weitere Erfahrung verwiesen, die gegebenenfalls auch das Bekannte in ein neues Licht rücken kann. Andererseits: Nur weil die Erfahrung selbst immer schon auf weitere Erfahrung verwiesen ist, stehen die vielfältigen Erfahrungen in einem Zusammenhang miteinander, können aufeinander bezogen werden und ergeben so eine zusammenhängende Erfahrungswelt, in der wir uns bewegen und in der wir zuhause sein können. Die Ausbildung eines Erfahrungszusammenhangs und die prinzipielle Unabgeschlossenheit der Erfahrung bedingen sich wechselseitig. Darauf macht die Phänomenologie des Fremden aufmerksam. <?page no="199"?> Welt und Welten 199 Welt ist also nicht einfach eine regulative Idee, die vorausgesetzt sein muss, damit Erfahrung überhaupt möglich ist, sondern Welt taucht als das ›Immerweiter‹ der Erfahrung, ihre ständige Verwiesenheit auf weitere Erfahrungen in der einzelnen Erfahrung selber auf. Die Welt ist als entzogene in jeder einzelnen Erfahrung präsent und für jede einzelne Erfahrung konstitutiv. Es ist also nicht so, dass Welt schlicht aus logischen Gründen vorausgesetzt ist; es ist auch gar nicht so, dass Welt selbst überhaupt nicht erfahren würde. Wohl aber ist es so, dass Welt kein Erfahrungsgegenstand ist, sondern ein Erfahrungsmoment bzw. ein Erfahrungsaspekt, der konstitutiv für jede einzelne Erfahrung ist. In jeder Erfahrung ist Welt als entzogene mit erfahren, andernfalls könnte in der Erfahrung gar nichts erfahren werden. Den zweiten Schritt über Kant hinaus können wir mit Heidegger machen. Heidegger hält das Phänomen Welt weder von Kant noch von der Phänomenologie auch nur für annähernd getroffen: »Der Begriff der Welt bzw. das damit bezeichnete Phänomen ist das, was bisher in der Philosophie überhaupt noch nicht erkannt ist.« 26 Der Grund dafür ist, dass Welt alles andere als eine unbestimmte Idee oder das Moment des Entzogenseins in einer Erfahrung ist. Welt ist im Gegenteil das Bestimmteste überhaupt. Das muss so sein, weil die Dinge und Ereignisse in der Welt ihre jeweilige Bedeutung immer nur vor dem Hintergrund eines Bedeutungsganzen, dem sie sich einfügen, bekommen. Heideggers berühmt gewordenes Beispiel in Sein und Zeit ist der Hammer, der seine Bedeutung vom Gebrauch erhält. Der Hammer ist zum Hämmern da, das ist seine Bedeutung. Zum Hämmern kann er aber nur da sein, wenn es Holz und Nägel gibt und einen Plan, was daraus gebaut werden soll, etwa eine Kiste. Der Hammer ist sinnvoll nur dann, wenn er in diesem Zusammenhang gesehen wird. In der Bibliothek beispielsweise ist er dagegen nicht zu gebrauchen und wird bedeutungs- und wertlos. Es sei denn, in der Bibliothek wäre ein Regal zu reparieren, was dann aber auch die Bibliothek in einen anderen Zusammenhang stellt, so dass sie vorübergehend mehr Werkstatt als Bibliothek ist. Heidegger spricht zur Bezeichnung des Gebrauchszusammenhangs, der dem Hammer seine Bedeutung verleiht, von einer »Zeugganzheit«. 27 Der Hammer ist wesentlich Werkzeug, er gehört in das Zeugganze Werkstatt. Aber auch die Werkstatt ist nur in einem bestimmten Zusammenhang sinnvoll. Im Leben eines Handwerkers etwa hat sie ihren festen Platz, in dem eines Bankangestellten dagegen nicht unbedingt. Vermutlich kommt auch im Leben des Bankangestellten irgendwann eine Werkstatt vor, beispielsweise die Autowerkstatt. Sie hat für ihn dann aber eine andere Bedeutung als für den Handwerker oder für 26 Heidegger 1975, S. 234. 27 Vgl. Heidegger 1977, S. 90-97. <?page no="200"?> Aspekte interkultureller Philosophie 200 einen Kfz-Mechaniker. Der Bankangestellte kann die Werkzeuge in der Werkstatt nicht gebrauchen, sie gewinnen für ihn Sinn nur durch den Gebrauch, den der Kfz-Mechaniker von ihnen macht. Ohne Kfz-Mechaniker bleiben die Werkzeuge, ja bleibt die ganze Werkstatt unbrauchbar und damit eigentlich sinnlos. Ob uns Werkzeuge als sinnvolle Gerätschaften begegnen oder nicht, hängt also auch davon ab, welchen Beruf wir wählen, wofür wir uns interessieren und welche Möglichkeiten, die sich uns bieten, wir ergreifen. Das gilt nun nicht nur für die Werkzeuge, sondern für alles, mit dem wir es in der Welt zu tun haben. Es ist nicht einfach alles gleichermaßen bedeutsam, sondern einiges erhält Bedeutung dadurch, dass wir damit zu tun haben, es für unsere Zwecke gebrauchen, uns dafür interessieren, es als wichtig erachten usw., wohingegen anderes für uns weniger bedeutsam bleibt. Wenn wir Hobbytaucher sind, sind Tauchanzug, Sauerstoffflasche, Brille, aber auch Wassertiefe und -temperatur für uns bedeutungsvolle Größen, die Ergebnisse des letzten Tennis Daviscup dagegen eher nicht. Aber auch die Bedeutung, die Ideale wie Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Vertrauen und dergleichen mehr für uns haben, ist nicht in Stein gemeißelt, sondern hängt stark von unserem eigenen Selbst- und Weltverständnis ab. Heidegger macht deshalb darauf aufmerksam, dass unser Umgang mit den Dingen ebenso wie mit den Menschen davon abhängt, wie wir die Welt verstehen und welchen Platz wir selbst uns darin zuschreiben. Auf die Erfahrung bezogen bedeutet das, dass wir nichts als irgendwie bedeutsam (oder auch bedeutungslos) erfahren können, wenn wir nicht zuvor bereits Welt auf so bestimmte Weise vor-verstanden haben, dass dieses Verständnis als Hintergrund dienen kann, vor dem etwas, das wir erfahren, als bedeutsam (oder bedeutungslos) erfahren wird. Ist Welt nur eine regulative Idee oder wird Welt nur als sich entziehend in jeder Erfahrung mit erfahren, dann fehlt dem Erfahrenden das Bedeutungsganze, von dem her das in der Erfahrung Erfahrene seine Bedeutung erhält. Wir könnten also gar keine bedeutungsvolle Erfahrung machen, sondern würden uns in unendlicher Offenheit verlieren. Für Heidegger ist Welt immer eine bestimmte und folglich auch endliche Welt. Erfahrungen können nur endliche Wesen in endlichen Welten machen. Auch die Idee der Unendlichkeit der Welt gehört in das endliche Verständnis der Welt mit hinein. Diese beiden hier genannten, freilich nur in Ansätzen ausgeführten Schritte über die kantische Analyse der Erfahrung hinaus, scheinen unversöhnlich gegeneinander zu stehen. Einerseits ist durch die Phänomenologie des Fremden gezeigt, dass die Erfahrung von Welt als ein Moment der Entzogenheit zu jeder einzelnen Erfahrung dazugehört; andererseits aber hat Heidegger deutlich gemacht, dass Welt zunächst ganz konkret vor-verstanden sein muss (bzw. <?page no="201"?> Welt und Welten 201 »geschickt« sein muss, wie es in der Spätphilosophie heißt), um überhaupt etwas erfahren zu können. Es ist deshalb m. E. kein Zufall, dass das Phänomen des Fremden bei Heidegger keine besondere Rolle spielt, und dass umgekehrt auf der anderen Seite Heidegger in der Phänomenologie des Fremden nicht nur keine herausgehobene Rolle spielt, sondern überaus kritisch beurteilt wird. Dabei sind beide Schritte enorm wichtig. In jeder einzelnen Erfahrung wird Welt mit erfahren; es genügt nicht, dass Welt vorab verstanden ist, sie muss in der einzelnen Erfahrung mit erfahren werden, soll das Erfahrene als gegeben, das heißt als wirklich und unabhängig von der Erfahrung bestehend erfahren werden. Zugleich ist es aber auch so, dass die Erfahrung von Welt zwar vage, nicht aber völlig unbestimmt sein und nur in der Erfahrung der Entzogenheit liegen kann. Welt gibt es nur konkret und endlich. Rombach hat gezeigt, wie sich beide Schritte integrieren lassen. 28 In der Erfahrung wird etwas so erfahren, dass daran das Bedeutungsganze, von dem her es seinen Sinn erhält, überhaupt erst aufgeht. Das Bedeutungsganze ist nicht dem zuvor bereits entworfen, so dass es durch die Erfahrung nur noch ausgelegt würde, sondern es wird am konkreten Erfahrungsgegenstand erfahren. Die Erfahrung bricht in die Welt des Erfahrenen ein, nur deshalb kann sie es erfahren. Sie kann diese Welt aber nicht dem zuvor schon kennen, weil es das Bedeutungsganze ohne die bedeutungsvollen Erfahrungsgegenstände gar nicht gibt. Nicht nur gibt es den bedeutungsvollen Erfahrungsgegenstand nicht ohne das Bedeutungsganze der konkreten Welt, in die er gehört; ebenso gibt es auch das Bedeutungsganze der Welt nicht, ohne dass es auf einen konkreten Erfahrungsgegenstand bezogen ist. Welt ist also tatsächlich ein Moment jeder Erfahrung - ganz so, wie es die Phänomenologie des Fremden lehrt; sie wird aber nicht als entzogen, sondern als Bedeutung gebend erfahren - wie es Heidegger gezeigt hat. Welt wird nicht einfach nur mit erfahren in jeder einzelnen Erfahrung. Vielmehr hat jede Erfahrung Weltcharakter in dem Sinne, dass in ihr und mit ihr Welt aufgeht als das Sinnganze, das dem Erfahrenen seine konkrete Bedeutung verleiht. Das bedeutet auch, dass nie einfach Vorhandenes als diese oder jene Bedeutung tragend erfahren wird (wie sollte das auch möglich sein, müsste es dafür doch bereits als vorhanden erfahren worden sein). Stattdessen wird etwas so erfahren, dass an ihm eine Welt aufgeht, die sowohl das Erfahrene als auch den Erfahrenden von einem bislang nicht bekannten Sinnganzen her verständlich werden lassen. Nur weil Erfahrung grundsätzlich Weltcharakter hat, kann in ihr Wirklichkeit erfahren werden. Wirklichkeit ist, das haben wir in Kapitel 4 . 3 28 Vgl. Rombach 1988 und 1994b. <?page no="202"?> Aspekte interkultureller Philosophie 202 bereits gesehen, nicht teilbar. Sie ist immer ganz und sie ist grundsätzlich eine. Wenn Wirklichkeit erfahren werden soll, geht das nur, wenn die Erfahrung Weltcharakter hat. Erfahrung meint also eigentlich Einbruch in die Wirklichkeit, d. h. Geburt, und zugleich Aufgang von Welt. In diesem Sinn haben wir die griechische Grunderfahrung beschrieben, in der dem Menschen aufgeht, dass es ein Sein bzw. eine Welt hinter dem Seienden gibt, das bzw. die diesem überhaupt erst seinen Sinn verleiht; zugleich erfährt sich der Mensch darin dazu aufgerufen, über das Gegebene hinauszugehen, sich also über die Natur zu erheben und freier Mensch zu werden. Das Philosophieren ist erster Ausdruck dieser Freiheit. Die griechische Grunderfahrung lässt sich also durchaus als Aufgang einer Welt und zugleich als (Neu-)Geburt des Menschen verstehen. Ich hatte in Anlehnung an Rombach aber auch den Übergang vom Jagen und Sammeln zu Ackerbau und Viehzucht, der durch die Erfahrung der Pflanze und ihres Wachstums aus Samen angestoßen ist, als eine solche Grunderfahrung beschrieben. Mit diesen Erfahrungen geht eine neue Welt auf, die alles Bisherige uminterpretiert und neu bewertet und die zugleich die Erfahrenden selbst verwandelt. Rombach hat dafür den Begriff der »Philosophischen Hermetik« geprägt. 29 Hermetik bedeutet, dass an allem, wenn es nur richtig gesehen wird, eine Welt aufspringen kann, die zugleich das Ich verwandelt. Erfahrung ist also eigentlich immer hermetisch. Sie ist welthaft. Hermes ist der Götterbote, er ist derjenige, der vom einen Absoluten zum anderen Absoluten springt und der dadurch (anders als die absoluten Götter selbst) weiß, dass das Absolute jeweils aufspringen muss, dass es seinen eigenen Sinn gebiert und absolut nur darin ist, dass es alle anderen Absolutheiten auf seine Weise aufnimmt, ja all die anderen Absolutheiten auf seine Weise selbst ist. Hermetik steht also zunächst für den Aufgang von Welt und für die Möglichkeit, in fremde Welten einzutauchen und sie ineinander zu übersetzen. Hermetisch abgeriegelt ist sie dagegen nur für denjenigen, der zum Eintauchen nicht bereit ist, sondern darauf besteht, die fremde Welt in den bekannten Horizonten der eigenen Lebenswelt zu verstehen. Eine Welt kann man aber nicht in anderen Horizonten verstehen, sondern immer nur aus sich selbst heraus. Das bedeutet, dass man in sie eintauchen und sie einem aufgehen muss. Welt gibt es nur als den Aufgang von Welt, sie ist niemals einfach vorhanden. Auch für denjenigen, der in ihr lebt nicht. Erfährt er die Welt nicht immer wieder von neuem, sondern setzt sie stattdessen einfach voraus, dann verliert die Welt für ihn ihre Evidenz; d. h. er hält sie für selbst-verständlich - damit aber, darin bestand ja gerade die griechische Einsicht, fällt die Welt in sich zusammen und alles wird nur noch von seinem 29 Vgl. Rombach 1983 und 1991. Zum Zusammenhang von Hermetik und Strukturontologie s. Röhrig 1995. <?page no="203"?> Welt und Welten 203 bloßen Vorhandensein her verstanden. Oder anders gesagt: Wenn die Welt als selbstverständlich vorausgesetzt wird, ordnet sich alles in diese Welt ein, ohne dass die Welt davon eigens betroffen wäre. Sie wird gleichsam zu einer Art ›Container‹. Die Vorstellung einer ›Containerwelt‹ mag im Alltag weit verbreitet sein, philosophisch ist sie nicht haltbar. Je weniger die Welt von dem, was in ihr geschieht, betroffen ist, desto bedeutungsloser wird aber auch dieses Geschehen. Die Welt steht ja gerade für die Wirklichkeit all dessen, was in ihr geschieht und in ihr seinen Platz findet. Wenn die Wirklichkeit aber von dem, was in ihr geschieht, unberührt bleibt, dann ist dieses Geschehen eben auch unwirklich. Bleibt sie von allem Geschehen unberührt, dann ist alles Geschehen unwirklich und die Wirklichkeit selbst löst sich auf und es bleibt nicht mehr als eine Erinnerung an sie zurück. Welt gibt es also nur als aufgehende bzw., richtiger, Welt erfahren wir nur als aufgehende - Hermes, der Weltenbummler, ist darum der »kommende Gott«, was soviel meint wie der Gott des Kommens. 30 In der Auseinandersetzung mit der Phänomenologie des Fremden einerseits und Heideggers ontologischer Phänomenologie andererseits sind wir also auf den Weltcharakter der Erfahrung gestoßen. Es liegt auf der Hand, dass das für eine Philosophie der Interkulturalität von größter Bedeutung ist. Die Begegnung der Kulturen lässt sich jetzt als die Begegnung von Welten verstehen. An die Stelle der Interkulturalität tritt die »Intermundaneität«, wie Stenger sagt. 31 Zugleich stellt sich aber doch die Frage, weshalb die Einsicht in den Weltcharakter der Erfahrung ihre volle Kraft und Bedeutung erst in der interkulturellen Dimension entfaltet. Müsste diese Einsicht nicht dazu führen, dass die interkulturelle Fragestellung relativiert wird und aufhört, länger die Gegenwart der Philosophie auszumachen? Schließlich gibt es Erfahrungen in allen möglichen Dimensionen, mithin auch dort Welt im Plural. Tatsächlich können wir in jeder Dimension Welten entdecken; und doch gehört der Weltcharakter der kulturellen Dimension in besonderem Maße zu. Das liegt wesentlich daran, dass die kulturelle Dimension im Fall der griechisch-europäischen Geistesgeschichte an der Entdeckung von Welt aufgesprungen ist. Vielleicht müssen wir etwas vorsichtiger formulieren: Die griechische Kultur fußt auf der Entdeckung des Einheit stiftenden Logos, an dem die Zusammengehörigkeit des vielfältig Seienden, das der Mensch um sich herum vorfindet, erfahren wird. Diese Zusammengehö- 30 Rombach interpretiert die Figur des Hermes als den »kommenden Gott«; vgl. sein gleichnamiges Buch. Auch Schelling hat Hermes schon als den Herold des kommenden Gottes bezeichnet. In seiner Interpretation der Großen Gottheiten (Kabiren) von Samothrake spricht er davon, dass die Götterfolge aufsteigend ist, die Götter also Höheres als sich selber zeugen. Hermes (Kadmilos) ist jener Gott, der für das Prinzip dieses Aufgehens, ja der Geburt der Götterwelt aus sich selbst heraus steht. Schelling 1815, S. 23. 31 Stenger 2006, S. 1023 ff. und passim. <?page no="204"?> Aspekte interkultureller Philosophie 204 rigkeit wird später als Welt gefasst; zunächst im Sinne einer Ordnung, in der Neuzeit dann als das einzige Seiende (im Sinne des Funktionalismus, vgl. Kapitel 3 . 2 ). Die griechisch-europäisch-westliche Kultur versteht sich selbst wesentlich von der Entdeckung der menschlichen Welt her, die sich über die bloße Natur erhebt und dieser erst ihren eigentlichen Sinn verleiht. Deshalb kann der Weltcharakter der Erfahrung nur dann tatsächlich erfasst werden, wenn auch der Erfahrungscharakter des kulturellen Selbstverständnisses evident ist. Dafür aber sind die Begegnung mit anderen Kulturen und der Einbruch in die interkulturelle Dimension unerlässlich. Nur von der interkulturellen Dimension aus wird der Erfahrungscharakter des kulturellen Selbstverständnisses deutlich. Damit ist bereits angedeutet, was die interkulturelle bzw. intermundane Begegnung ausmacht. In ihr werden den Kulturen zugleich der Erfahrungscharakter ihres kulturellen Selbst- und Weltverständnisses und der Weltcharakter dieser Erfahrung bewusst. Das heißt nichts anderes, als dass den Kulturen in ihrer Begegnung bewusst wird, dass in ihnen jeweils die Wirklichkeit im Ganzen auf dem Spiel steht. Um die Wirklichkeit im Ganzen geht es, weil jede einzelne Kultur Weltcharakter hat; auf dem Spiel steht die Wirklichkeit, weil sie in den Kulturen nicht einfach vorhanden ist, sondern erfahren wird, weil die Wirklichkeit in ihnen also aufgehen und sich verwirklichen muss. Die Intermundaneität der Begegnung bedeutet keinesfalls, dass die Kulturen einander vollständig verschlossen bleiben. Sie bedeutet stattdessen vor allem, dass sich die Kulturen ihrer eigenen Wirklichkeit bewusst werden und von da aus die Wirklichkeit der anderen Kulturen schätzen lernen. Überhaupt können die Kulturen jetzt erst voneinander lernen, stehen sie doch nicht länger in Konkurrenz zueinander. Auch begegnen sie sich nicht länger als Fremde. Die Kulturen lernen, dass ihre Wirklichkeit zwar eine, aber nicht die einzige ist, weil sie nie vorhanden ist, sondern immer von neuem aufgehen muss. Die Einheit der Wirklichkeit steht deshalb nicht gegen ihre Pluralität, sondern umgekehrt gerade gegen den Besitzanspruch, der auf die Wirklichkeit erhoben wird. In Hölderlins Worten: »Einig zu sein, ist göttlich und gut; woher ist die Sucht denn unter den Menschen, daß nur Einer und Eines nur sei? « (Wurzel alles Übels) Rombach spricht statt von der Begegnung lieber vom »Gespräch der Welten«. 32 Das Besondere des Gesprächs ist, dass es in zwei Richtungen zugleich verläuft: Die Sache, um die es im Gespräch geht, wird dadurch höher geführt, dass sich die Gesprächsteilnehmer dessen, was sie ins Gespräch einbringen können, kla- 32 Rombach 1996, S. 142 ff. <?page no="205"?> Welt und Welten 205 rer werden. Die Gesprächsteilnehmer werden durch das Gespräch tiefer in ihr Selbst zurückgeführt. »Bei diesem Gang erfährt sich der Mensch überhaupt erst selbst und erlebt dabei zugleich, daß die Alltagsdimension, in der er sich zunächst aufgehalten hat, auf sehr viel tieferen Schichten aufruht, die auch viel wichtiger und wertvoller sind. Ein Gespräch führt immer in die ›Tiefe‹, was primär eine Tiefendimension in den Teilnehmern meint.« 33 Ein Gespräch besteht nur auf den ersten Blick aus dem Austausch von Positionen, Meinungen und Kenntnissen. Häufig beginnt es mit einem solchen Austausch. Dann aber kommt es in Gang, und das heißt, dass die Sache des Gesprächs in Bewegung gerät. Durch die Weise, wie die Sache, um die es geht, von den Gesprächsteilnehmern beleuchtet und dargestellt wird, zeigt sie sich anders als zuvor. Das fordert die Gesprächsteilnehmer zu einem neuen Beitrag heraus; dieser ergibt sich also erst aus dem Verlauf des Gesprächs. Unter Umständen kann das Gespräch in der Folge so sehr an Fahrt aufnehmen, dass sich die Gesprächsteilnehmer nun nicht mehr primär als diejenigen, die das Gespräch führen, verstehen, sondern sich selbst vom Gespräch mitgenommen fühlen. Sie erfahren ihre Teilhabe an einem Gesprächsgeschehen, über das sie nicht einfach verfügen. Die Bewegung des Hin und Her, die ein Gespräch kennzeichnet, meint dann weniger den Austausch zwischen den verschiedenen Gesprächsteilnehmern als vielmehr das wechselseitige Hebungsgeschehen zwischen Gesprächsteilnehmern und dem Gespräch selbst bzw. der Sache, um die es im Gespräch geht. Die Gesprächsteilnehmer erfahren im Laufe des Gesprächs, dass ihre eigenen Beiträge weit über das hinausgehen, was sie vor dem Gespräch von sich aus zu der im Gespräch verhandelten Sache hätten sagen können. Die Herausforderung, die das Gespräch an den Einzelnen stellt, steigt im Laufe des Gesprächs; im gelingenden Fall vermag der Einzelne ihr aber zu begegnen, was bedeutet, dass er selbst über sich bzw. seine alltägliche Selbsthabe hinausgeführt wird, also eigentlich tiefer in sich selbst zurück findet. Im interkulturellen Gespräch geht es ganz wesentlich darum, dass die Gemeinsamkeit der Kulturen nur gefördert werden kann, indem jede einzelne Kultur sich ihrer eigenen Gestalt bewusster wird. 34 Einig sind die Kulturen gerade darin, dass sie jede für sich Weltcharakter haben. Das aber kann ihnen erst aufgehen, wenn sie nicht mehr auf bestimmten Positionen beharren, denn diese Beharrlichkeit missversteht die Welt als einzige und grenzt sie damit gegen die Jeweiligkeit - auch des eigenen - kulturellen Selbst- und Weltverständnisses ab. Ihren Weltcharakter gewinnen die Kulturen also gerade dann, 33 Ebd., S. 142. 34 Vgl. dazu Stenger 1997. <?page no="206"?> Aspekte interkultureller Philosophie 206 wenn sie in der Begegnung und im Gespräch nicht mehr auf bestimmten Positionen verharren, sondern alle Positionen so ins Gespräch einbringen, dass es darin nicht mehr um falsch oder richtig der einzelnen Positionen geht, sondern allein darum, ob sie einen Beitrag zum jeweiligen Weltcharakter der Kulturen leisten können. Die Sache, um die es im interkulturellen Gespräch geht, ist eben dieser Weltcharakter der Kulturen. Sie gewinnen ihn nur durch Teilhabe am Gespräch. Das Gespräch der Welten »führt zu höheren Gemeinsamkeiten und zugleich zu bewußteren Sondergestalten zurück«. 35 Wie treten Kulturen in ein Gespräch miteinander? Das geschieht ganz vielfältig und auf zahlreichen Ebenen. Überall, wo Austausch stattfindet, ist auch Gespräch möglich: in der persönlichen Begegnung ebenso wie in der Politik, dem Handel und Tourismus, der Literatur und grundsätzlich selbst im Konflikt. Allerdings ist der Austausch nicht per se schon ein Gespräch der Kulturen. Entscheidend ist, dass er bis in die interkulturelle Dimension hinabreicht, und das heißt, dass »immer auch der jeweilige Horizont bzw. die jeweilige Welt mitthematisiert ist«. 36 Dieser Anforderung wird die philosophische Begegnung am ehesten gerecht. Ein Beispiel dafür auf europäisch-westlicher Seite ist Heidegger, der als einer der ersten das Gespräch mit ostasiatischem Denken gesucht und sich dabei auf der Ebene von Grundworten bewegt hat, in denen er das Wesen der unterschiedlichen Kulturwelten zu fassen versuchte. 37 Auf japanischer Seite wären etwa Nishida, Nishitani und Ueda zu nennen, die sich darum bemüht haben, die eigene Gestalt und Tiefe des japanischen Denkens im Gespräch mit der europäisch-westlichen Philosophie zu ergründen. Inzwischen ist das interkulturelle Gespräch in der Philosophie sehr lebendig geworden; vor allem nehmen immer mehr Kulturen an ihm teil. Ich werden in Kapitel 5 einige Beispiele nennen. Und doch ist sein Gelingen nach wie vor sehr gefährdet. 4 . 6 Kritik und Kritikfähigkeit Im letzten Abschnitt haben wir gesehen, dass jede Erfahrung Weltcharakter besitzt. Das bedeutet, dass alle früheren ebenso wie alle künftigen Erfahrungen in ihr auf bestimmte Weise mit präsent sind (»appräsentiert« sind, wie Husserl sagt). Und zwar so, dass sie durch die aktuelle Erfahrung hindurch präsent sind, nämlich als Sinnfolie der aktuellen Erfahrung; die Sinnfolie wird nicht in 35 Ebd., S. 144. 36 Stenger 2006, S. 876. 37 Vgl. Heidegger 1985b. S. auch Buchner 1989; und Denker, Kadowaki, Ohashi, Stenger und Zaborowski 2013. <?page no="207"?> Kritik und Kritikfähigkeit 207 Abgrenzung zur aktuellen Erfahrung erfahren, sondern schlicht als deren Sinn. Die Sinnfolie, mithin das Gesamt aller Erfahrungen, wird also auf die Weise mit erfahren, in der sie für die aktuelle Erfahrung relevant ist. Wenn sich zwei Erfahrungen voneinander unterscheiden, dann muss auch ihr Sinn, jedenfalls geringfügig, verschieden sein - und damit muss zugleich das Gesamt aller Erfahrungen geringfügig anders erfahren werden. In jeder einzelnen Erfahrung werden alle Erfahrungen neu und anders mit erfahren. Wir können uns das am Beispiel eines ganz einfachen Erfahrungszusammenhangs deutlich machen, etwa der Wahrnehmung eines Hauses. Wir haben schon an anderer Stelle gesehen, dass das Besondere der Wahrnehmung darin liegt, dass das im aktuellen Wahrnehmungsakt tatsächlich Gegebene, also beispielsweise die Hausfront, als eine Ansicht des von der Wahrnehmung unabhängig existierenden Gegenstandes, also in diesem Fall des Hauses, wahrgenommen wird. Das Haus selbst ist immer nur in solchen Ansichten gegeben, niemals »an sich«. Das heißt aber nicht nur, dass das Haus von vorne anders aussieht als von hinten, sondern auch, dass die Hauswahrnehmung, die wir haben, wenn wir es von vorne betrachten, dann, wenn wir darum herumgehen und es von hinten ansehen, revidiert werden muss. Das Haus als Ganzes erschließt sich uns von hinten etwas anders als von vorne, vielleicht bemerken wir jetzt erst, wie groß es ist, oder dass es doch nicht so modern gebaut ist, wie uns von vorne schien. Auch viel später noch können die Erfahrungen wieder aufgenommen und korrigiert bzw. schlicht verändert werden. Der Kölner Dom kommt uns riesig vor; Jahre später reisen wir nach New York und lernen dort eine völlig andere Größenordnung von Gebäuden kennen. Das verändert noch rückwirkend unser Bild vom Kölner Dom. Besonders deutlich wird die Korrektur früherer Erfahrungen, wenn wir ein Kunstwerk sehen lernen, das uns zuvor verschlossen geblieben ist. Vielleicht sind wir als Kinder gelangweilt durch eine Ausstellung geschlendert und haben uns über die vielen grimmigen Selbstportraits eines Max Beckmann gewundert. Irgendwann später begegnet und in diesen Selbstportraits ein Antlitz, das Antlitz eines Menschen, der groß und stark und doch zugleich verletzt und verloren wirkt. Ein drängender Anspruch, der doch nichts anderes von uns verlangt, als gesehen zu werden, und an dem wir erfahren können, was eine Person ist. Erfahrungen bilden überhaupt nur einen Zusammenhang aus, wo sie sich wechselseitig korrigieren, uminterpretieren und erneuern. Mit jeder weiteren Wahrnehmung eines Hauses stehen alle früheren Hauswahrnehmungen und das daraus gewonnene Bild von Haus auf dem Spiel. Wo Husserl von der »Konstitution« des Wahrnehmungsgegenstandes spricht, spricht Rombach des- <?page no="208"?> Aspekte interkultureller Philosophie 208 halb von der »Re-Konstitution«. 38 Wirklichkeit kann es nur als rekonstituierte geben, weil sie immer aus der Wirklichkeit selbst hervorgeht. Solcher Hervorgang erfordert die Erneuerung aller Momente der Wirklichkeit, weil die Wirklichkeit nur dann aus sich selbst hervorgehen kann, wenn sie sich im Ganzen verändert. Die Wirklichkeit kann sich nicht in Teilen verändern, sie ist unteilbar. Die »ontologische Kategorie« zur Beschreibung dieses Vorgangs ist das Leben. Das Leben geht aus sich selbst hervor, aber immer so, dass es sich darin im Ganzen erneuert. Der Gedanke der Konstitution ist noch zu sehr von einer konstituierenden Instanz her gedacht; bei Husserl ist dies das transzendentale Subjekt. Rekonstitution dagegen meint Selbsthervorgang der Wirklichkeit aus sich selbst, Leben. So wie das Leben nur lebensfähig ist, wenn es sich in seiner Erneuerung beständig selbst korrigiert und auftretende Fehler entweder beseitigt oder aber dazu nutzt, sich eine neue Gestalt zu geben, so durchläuft auch die Erfahrung einen permanenten Korrekturprozess. Wir können einen solchen Korrekturprozess sowohl auf der biologischen wie auf der kulturellen Ebene beschreiben. Bei der Teilung von Zellen und der dafür nötigen Verdopplung des genetischen Materials passieren Fehler; deswegen läuft kontinuierlich ein Reparationsprogramm mit, das diese Fehler korrigiert. Zugleich wissen wir aber aus der Evolution, dass die Fehler, die übersehen werden und sich als Mutationen im Genom festsetzen können, eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Organismen spielen. Ähnliches gilt auf kultureller Ebene: Durch Erziehung werden die Überzeugungen, Kenntnisse, Gewohnheiten, Sitten und Gesetze weitergegeben, die für eine Gesellschaft entscheidend sind. Mindestens ebenso wichtig wie die Weitergabe und Kontinuität dieses gesellschaftlichen Selbst- und Weltverständnisses aber sind die Unregelmäßigkeiten, die bei der Aufnahme dieses Verständnisses durch nachfolgende Generationen auftreten. Gewohnheiten ändern sich, Kenntnisse werden erweitert, Sitten uminterpretiert - kurz, die Gesellschaft verändert sich und bleibt gerade dadurch lebensfähig. Sowohl in der Korrektur als auch in der Aufnahme von Fehlern bzw., richtiger, schlicht von Veränderungen liegt ein Moment der Kritik. Neue Erfahrungen schließen niemals unkritisch an frühere Erfahrungen an, sondern prüfen und kritisieren sie, ja verwerfen sie unter Umständen sogar oder nehmen andere Erfahrungen wichtiger, als dies zuvor der Fall war. Auch verknüpfen sie die Erfahrungen neu miteinander und ziehen möglicherweise Erfahrungen hinzu, die eigentlich einem ganz anderen Erfahrungszusammenhang entstammen. Um das noch einmal an der Hauswahrnehmung zu illustrieren: Unter Umstän- 38 Rombach 1994b, S. 65 ff. <?page no="209"?> Kritik und Kritikfähigkeit 209 den gehen wir um das Haus herum und stellen fest, dass es sich gar nicht wirklich um ein Haus handelt, sondern lediglich um eine Filmkulisse. In diesem Moment wird nicht nur die Interpretation der bisherigen Erfahrungen revidiert, sondern diese Erfahrungen werden mit einem ganz neuen Erfahrungszusammenhang verknüpft, nämlich dem, was wir über Filme und Kulissen wissen und damit an früheren Erfahrungen verbinden. Bezogen auf Kulturen spielen hier beispielsweise Erfahrungen eine Rolle, die mit anderen Kulturen oder mit Migranten gemacht werden, die ihre Erfahrungen mit in eine Gesellschaft einbringen. Kulturen sind so kritikfähig wie lebendig. Sie erfinden sich im Grunde ständig neu, das allerdings auf der Grundlage des Dagewesenen, also durch Uminterpretation und Rekonstitution. Im Begriff der Rekonstitution liegt auch, dass jede Erfahrung nicht nur frühere Erfahrungen aufgreift, sondern auch späteren Erfahrungen vorgreift. Sie erfährt das, was sie erfährt, im Vorgriff auf weitere Erfahrungen und hängt deshalb von der Bestätigung dieses Vorgriffs in der weiteren Erfahrung ab. »Korrektur ist ein Wechselgeschehen, in dem aus den Einzelheiten ein ›Ganzes‹ wird und das ›Ganze‹ in den Einzelheiten gegenwärtig ist.« 39 Ein Beispiel dafür ist das Gespräch, auf das wir im letzten Abschnitt bereits eingegangen sind. Die Sache, um die es im Gespräch geht, ist von Anfang an, das heißt schon mit der ersten Äußerung eines der Gesprächsteilnehmer, im Ganzen gemeint; ebenso sind auch die Gesprächsteilnehmer immer schon im Ganzen in das Gespräch involviert. Und doch läuft das Hin und Her des Gesprächs wie ein Korrekturvorgang ab, aus dem die Sache des Gesprächs ebenso verändert hervorgeht wie die einzelnen Gesprächsteilnehmer sich als über sich selbst hinausgehoben und gleichsam gereift erfahren. Erlahmt die Bewegung der Rekonstitution und damit der Kritik und Steigerung des Lebens, dann fällt das Leben auf die Stufe bloßen Vorhandenseins zurück (eigentlich noch nicht einmal das, denn das, was einmal gelebt hat, kann, wenn es zu leben aufhört, nicht vorhanden sein, es stirbt; was dann noch vorhanden ist, ist allenfalls bloßes Material für einen neuen Lebensprozess). Auf der Stufe solchen Vorhandenseins sieht es so aus, als müsse alles immer so bleiben, wie es ist. Jede Änderung erscheint als Abweichung, Fehler und Verlust. Alle Anstrengung gilt dem Erhalt des Status quo. Eine solche Situation bezeichnen wir als Borniertheit. Gerade gegenüber anderen Kulturen treten Kulturen häufig borniert auf; ja in den seltensten Fällen verstehen sich Kulturen wirklich als lebendige und selbstkritische Erfahrungsprozesse, zumeist herrscht der Glaube vor, bestimmte Lebensformen, Überzeugungen und Werte gegenüber 39 Rombach 1988, S. 87. <?page no="210"?> Aspekte interkultureller Philosophie 210 anderen verteidigen zu müssen. Der Begriff der Wertegemeinschaft, der heute vor allem mit Blick auf Europa häufig bemüht wird, greift viel zu kurz, wenn man meint, die Gemeinschaft könne erhalten werden, wenn nur ihre Werte geschützt bleiben. Sobald Werte geschützt werden müssen (und nicht Menschen, die bestimmte Werte vertreten), haben sie ihre Überzeugungskraft im Grunde schon verloren. Die interkulturelle Begegnung birgt aber auch die Chance, solche erlahmten Erfahrungsprozesse wieder zu beleben. In ihr werden die Kulturen auf ihre Grunderfahrungen angesprochen. Wenn sie sich auf das Gespräch einlassen, dann reicht es nicht mehr aus, Lebensformen, Überzeugungen und Werte, die sich längst überlebt haben, in das Gespräch einzubringen, sondern dann werden die Kulturen zu einer inneren Erneuerung und Selbstkorrektur herausgefordert. Die interkulturelle Begegnung hat damit ein enorm kritisches Potential. Der Nachvollzug der Grunderfahrungen, die von einer Kultur in die interkulturelle Begegnung eingebracht werden, durch andere kann dazu führen, dass die Menschen dieser Kultur auf Selbstmissverständnisse, Verhärtungen und Borniertheiten aufmerksam gemacht werden, die sie aus eigener Kraft nicht mehr zu sehen fähig waren. So, wie wir gelegentlich erst in der Fremde wirklich lernen, wer wir selber sind, so kann uns auch das Eintauchen anderer in die eigene Kultur helfen, uns selber besser zu verstehen. Eine ähnliche Erfahrung haben wir in Deutschland mit dem Fall der Berliner Mauer gemacht. Im Grunde hatten sich zumindest im Westen die meisten Menschen mit dem Status quo abgefunden. Der Fall der Mauer hat kurzzeitig zu einer Verlebendigung gesellschaftlicher Erfahrungsprozesse geführt, in der auch die zur Gewohnheit gewordenen Überzeugungen und Werte des Westens auf dem Spiel standen und zu Erneuerung herausgefordert waren. Durch die politisch gewollte Beschleunigung des Vereinigungsprozesses ist, was eben noch auf dem Spiel stand, allerdings sehr schnell wieder festgezurrt worden. Dennoch, wir haben seither wieder eine Ahnung davon, dass wir der Geschichte nicht einfach ausgeliefert sind, sondern Geschichte selber mitgestalten. Vor allem aber muss sich die Überzeugungskraft einer jeden kulturellen Welt in der interkulturellen Begegnung an der Überzeugungskraft anderer kultureller Welten messen lassen. Dem ist die einzelne Kultur nur dann gewachsen, wenn sie die Grunderfahrungen freilegen kann, an denen sie selbst tatsächlich als eine Welt aufgeht. Bei jeder Unstimmigkeit ist sie dagegen angesichts der Stimmigkeit in anderen kulturellen Welten zu Korrekturen aufgefordert. So können sich die Kulturen in ihrer Begegnung wechselseitig dabei helfen, ihre jeweils eigene Gestalt von Verhärtungen zu befreien und in einem lebendigen Erfahrungsgeschehen neu zu gewinnen. Die interkulturelle Begegnung ist deshalb weit davon entfernt, wechselseitigen Respekt und wechselseitige Aner- <?page no="211"?> Menschlichkeit und Menschenrechte 211 kennung bloß aus Prinzip und noch dazu unkritisch einzufordern. Interkulturalität ist kein Imperativ. Stattdessen muss sich solche Anerkennung durch die Erfahrung, dass die Kulturen in ihrer Begegnung an einem Geschehen teilhaben, das ihnen wechselseitig hilft, ihren Weltcharakter zu klären, ergeben. Dann tritt an die Stelle von Anerkennung eine Freundschaft zwischen den Kulturen. Eine Freundschaft, die die Bereitschaft beinhaltet, vom anderen zu lernen und dem anderen zu helfen, auch dann wenn das Kritik und Streit bedeutet; eine Freundschaft, die auf dem wechselseitigen Vertrauen gründet, an einem gemeinsamen Wirklichkeitsgeschehen teilzuhaben, das jede einzelne Kultur über sich selbst hinaushebt und sich darin überhaupt erst als die, die sie ist, erfahren lässt. 4 . 7 Menschlichkeit und Menschenrechte Die Menschenrechte werden, darauf habe ich in Kapitel 2 . 1 bereits verwiesen, häufig dazu herangezogen, gegen jede Form interkultureller Vielfalt einen grundsätzlichen Universalismus zu rechtfertigen. Die Menschenrechte müssen für jeden einzelnen Menschen gelten, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht und sozialer Stellung. Andernfalls handelt es sich nicht um Menschenrechte, sondern allenfalls um irgendeine Form partikularen Rechts. Auch dürfen einmal formulierte Menschenrechte keinesfalls kulturell verschieden interpretiert werden, würden damit doch der Willkür Tür und Tor geöffnet und verlören die Menschenrechte damit ihre Funktion als kritischer Maßstab zur Beurteilung anderer Kulturen. Da sich die universale Gültigkeit der Menschenrechte philosophisch nur begründen lässt, wenn vorausgesetzt werden kann, dass alle Menschen gleich sind, folgt aus dieser Überlegung, dass man entweder die Gleichheit aller Menschen jenseits kultureller Differenzen akzeptieren oder aber die Menschenrechte ablehnen muss. Es ist klar, auf welche Seite man sich da schlägt. Die Prämisse, die darin besteht, dass wir wollen, dass die Menschenrechte gelten, wird freilich zumeist unterschlagen. Nur deshalb können die Menschenrechte zur Rechtfertigung eines Universalismus herangezogen werden. Darin liegt aber ein Sein-Sollens-Fehlschluss (naturalistischer Fehlschluss), insofern durch das Unterschlagen der Prämisse direkt von dem Faktum, dass sich gleiche Rechte nur für gleiche Menschen begründen lassen, auf die Universalität des Menschlichen geschlossen wird. Die Prämisse von der universalen Gültigkeit der Menschenrechte ist aber sowohl in faktischer als auch in prinzipieller Hinsicht problematisch. Wir wissen aus leidvoller Erfahrung, dass die Menschenrechte bei weitem nicht überall und nicht immer eingehalten werden, faktisch also keine universale Gültigkeit beanspruchen können. Um ihre prinzi- <?page no="212"?> Aspekte interkultureller Philosophie 212 pielle Gültigkeit begründen zu können, muss man zuvor die universale Gleichheit des Menschen aufweisen. Die Begründungsrichtung kehrt sich also um, so dass die Menschenrechte nicht dazu taugen, ihrerseits Universalität zu rechtfertigen. Was freilich bestehen bleibt, ist unser Wunsch, die Menschenrechte mögen universal gültig sein. Diesen Wunsch sollten wir auf keinen Fall aufgeben; wenn wir nun den Verdacht haben, ein allzu vehementes Pochen auf interkulturelle Vielheit stünde der Verwirklichung universaler Gültigkeit der Menschenrechte im Weg, dann ist es sinnvoll, die Bedeutung der interkulturellen Situation, in der wir heute leben, anhand der Menschenrechtsfrage nochmals kritisch zu beleuchten. 40 Das will ich im Folgenden tun. Historisch geht die Formulierung von Menschenrechten auf die Virginia Declaration of Rights zurück, die im Zuge der Unabhängigkeit Virginias von Großbritannien im Jahr 1776 von George Mason formuliert worden ist. Sie hatte großen Einfluss sowohl auf die US -amerikanische Bill of Rights aus dem Jahr 1789 als auch auf die französische Declaration des Droit de l’homme et du citoyen aus demselben Jahr. 41 Auf internationaler Ebene sind sie erst nach der Unrechtserfahrung des Nationalsozialismus, die auf drastische Weise deutlich gemacht hat, wie nationale Rechtssysteme korrumpiert und missbraucht werden können, formuliert worden. Am 10 . Dezember 1948 verabschiedeten die Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. In der Präambel der Erklärung heißt es, dass die UN die Erklärung verabschieden, »weil die Anerkennung der angeborenen Würde und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der menschlichen Familie die Grundlage für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt ist«. Worin die »angeborene Würde« des Menschen gründet, darüber herrschte freilich keine Einigkeit. So wurden auf einem im Jahr 1947 von der Unesco organisierten Symposium ganz verschiedene Begründungen diskutiert, neben vernunfttheoretischen, die wir heute meist heranziehen, vor allem christliche, islamische, buddhistische und konfuzianische. 42 Pollmann macht zudem darauf aufmerksam, dass die Verknüpfung von Menschenrechten und Menschenwürde, wie sie uns in der UN -Erklärung begegnet, zu dieser Zeit neu und vermutlich auf die Erfahrung zurückzuführen ist, dass die Würde des Menschen dringend des Schutzes bedarf. 43 Die UN haben die Erklärung in den 40 Gute Übersichten über die aktuellen Diskussionen im Bereich einer Philosophie der Menschenrechte bieten: Bielefeldt 1998; Gosepath und Lohmann 1998; Menke und Pollmann 2007. 41 Vgl. Quellen zur Geschichte der Menschenrechte 2014. 42 von Bernstorff 2013. 43 Pollmann 2010. <?page no="213"?> Menschlichkeit und Menschenrechte 213 folgenden Jahrzehnten in mehreren Pakten differenziert. Vor allem aber sind alternative Menschenrechtserklärungen formuliert worden, am bekanntesten ist die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam vom 5 . August 1990 , es gibt aber beispielsweise auch eine Erklärung der Organisation für Afrikanische Einheit OAU aus dem Jahr 1982 . Sowohl die Uneinigkeit, die in Bezug auf eine Begründung menschlicher Würde schon 1948 bestand, als auch die Pluralität der Erklärungen weisen darauf hin, dass die Universalität der Menschenrechte zwar mehrheitlich gewünscht, aber keinesfalls selbstverständlich ist. Walzer hat deshalb vorgeschlagen, zwischen der allgemeinen Idee der Menschenrechte und den konkreten Gestaltungen zu unterscheiden, die diese Idee in verschiedenen Kulturen und Gesellschaften erfährt. 44 Menke und Pollmann sprechen in diesem Zusammenhang von einer »Universalisierung« der Menschenrechte, die an die Stelle des Postulats ihrer (statischen) Universalität tritt. 45 Man kann hier vielleicht eine Parallele zum diskurstheoretischen Ansatz ziehen, den wir in Kapitel 2 . 1 . 1 kennen gelernt haben. Dort war es so, dass eine Aussage nur dann Wahrheit beanspruchen kann, wenn alle, die sich theoretisch am Diskurs beteiligen könnten, ihr zustimmen können. Wahrheit unterliegt damit zwar keineswegs einem Aushandlungsprozess, sie ist aber auch nicht im Besitz des Einzelnen. Vielmehr gelangen wir zu Wahrheit nur, indem sich die Vernunft einer Aussage im Diskurs bewährt. Eine ähnliche Figur scheint in dem Begriff einer Universalisierung der Menschenrechte zu liegen. Die universale Idee muss sich in der Vielstimmigkeit kultureller Konkretionen bewähren; umgekehrt kann keine dieser Konkretionen für sich selbst schon in Anspruch nehmen, universal gültig zu sein. So, wie wir das für den Diskurs gesehen haben, so gilt freilich auch im Fall einer Universalisierung der Menschenrechte, dass diese Figur nicht voraussetzungslos ist. Im Diskurs ist vorausgesetzt, dass er rational strukturiert ist und entsprechenden Regeln folgt. Ebenso kann die Universalisierung der Menschenrechte nur funktionieren, wenn die verschiedenen kulturellen Gestaltungen der allgemeinen Idee der Menschenrechte vergleichbar bleiben, es also einen gemeinsamen Boden gibt (die ›allgemeine Idee‹), der von allen Kulturen als verbindlich anerkannt wird. Damit taucht von neuem das Problem der Begründung auf. An eine weitere Problematik, die ich in Kapitel 1 . 1 bereits angesprochen habe und die im Kontext interkultureller Menschenrechtsüberlegungen diskutiert wird, möchte ich an dieser Stelle noch erinnern. Es handelt sich um eine Problematik, die unter dem Titel der ›Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte‹ intensiv diskutiert worden ist und noch diskutiert wird. 46 Dabei geht es, 44 Walzer 1996b. 45 Menke und Pollmann 2007. 46 Für eine kurze, sehr gute und kritische Zusammenfassung der Debatte s. Stenger 2006, S. 962-970. <?page no="214"?> Aspekte interkultureller Philosophie 214 kurz gesagt, darum, ob den Rechten des Einzelnen grundsätzlich Vorrang vor den Interessen einer Gruppe zu gewähren ist oder ob es Fälle geben kann, in denen das Recht des Einzelnen auch eingeschränkt werden kann, um einer Gruppe den Erhalt jener Grundlagen zu ermöglichen, die ihren Zusammenhalt gewährleisten. Es ist offensichtlich, dass beispielsweise die Ausübung bestimmter religiöser Praktiken, die für die Gemeinschaft der Gläubigen zu den Grundlagen ihres Verständnisses als einer Glaubensgemeinschaft gehört, auch für das einzelne Mitglied dieser Gemeinschaft von entscheidender Bedeutung ist. Unter Umständen gilt das aber nicht für alle Mitglieder der Gesellschaft, zu der die Glaubensgemeinschaft gehört. In den meisten Gesellschaften leben verschiedene Religionsgemeinschaften zusammen. In diesen Gesellschaften kann es dazu kommen, dass die Gewährung des Rechts, bestimmte religiöse Praktiken auszuüben, gegen die Interessen von Bürgern verstößt, die nicht der entsprechenden Religionsgemeinschaft angehören. Ein simples Beispiel dafür ist das Recht, die Kirchengelocken zu läuten, auch wenn dies Einzelne (z. B. in ihrer Nachtruhe) stört. Einen sehr viel dramatischeren Fall berichtet Taylor aus dem kanadischen Quebec. 47 Um der mehrheitlich französischsprachigen Gesellschaft Quebecs, die im sonst weitgehend anglophonen Kanada eine Minderheit darstellt, die Möglichkeit zu geben, ihre eigene kulturelle Identität zu bewahren, sind, wie in Kapitel 1 . 1 erwähnt, in den 1970 er Jahren Sprachgesetze erlassen worden, die vorschreiben, dass Kinder französischsprachiger Familien auch französischsprachige Schulen zu besuchen haben. Damit ist das Recht auf freie Schulwahl und die Entscheidung, ob die eigenen Kinder vielleicht lieber englischsprachig aufwachsen sollen, eingeschränkt worden. Das Recht des Einzelnen ist zugunsten des Rechts der Gruppe beschnitten worden. Taylor, der sich selbst nicht als Kommunitaristen, sondern als einen kritischen Liberalen bezeichnet, anerkennt freilich sehr wohl die Notwendigkeit, auch die Identität von Gruppen und dementsprechend die für diese Identität konstitutiven Grundlagen ernst zu nehmen. Der Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt, vielmehr gewinnt er seine eigene Persönlichkeit immer erst in der Auseinandersetzung mit der Welt. Der Mensch ist ein kulturelles Wesen. Deswegen wäre es naiv, die Rechte des Einzelnen gegen die für kulturelle Gemeinschaften konstitutiven Bedingungen ausspielen zu wollen. Der Fehler im Fall der Sprachgesetze Quebecs liegt deshalb nicht darin, den Erhalt der kulturellen Identität der frankophonen Kanadier ermöglichen und fördern zu wollen, sondern darin, diese Identität auf die französische Sprache zu reduzieren und ihr damit zugleich eine Statik zu verpassen, die der Lebendigkeit der kulturellen Gemeinschaft eher schadet denn nützt. Auf diese Konsequenzen hat Bedorf hingewiesen. 48 47 Taylor 2009. 48 Bedorf 2010. Vgl. auch Kapitel 1.1. <?page no="215"?> Menschlichkeit und Menschenrechte 215 Wir müssen nun versuchen, die Frage der Menschenrechte in der Perspektive einer Philosophie der Interkulturalität, wie ich sie in den letzten Kapiteln entwickelt habe, aufzugreifen. Dann stellt sich als erstes die Frage, in welcher Dimension eigentlich über das Menschsein entschieden wird? Denn nur vom Wesen des Menschen her kann sich die Universalität der Menschenrechte begründen lassen. Die Antwort auf diese Frage lautet: in jeder einzelnen Dimension. In jeder Dimension wird entschieden, was Menschsein bedeutet. Damit ist nicht gemeint, dass sich in allen Dimensionen zusammen entscheidet, was Menschsein bedeutet; vielmehr entscheidet sich tatsächlich in jeder einzelnen Dimension jeweils neu, was Menschsein bedeutet. Dimensionen sind ja gerade dadurch charakterisiert, dass sie nicht ein nur bestimmtes Wirklichkeitsfeld eröffnen, also einen Bereich innerhalb der Wirklichkeit, sondern dass in ihnen die Wirklichkeit im Ganzen, wenn auch auf jeweils ganz besondere Weise aufgeht. So auch der Mensch. Mit der Wirklichkeit zeigt sich auch der Mensch in jeder Dimension auf besondere Weise, ja mehr noch, er ist in ihr auf besondere Weise Mensch. Menschsein bedeutet im 18 . Jahrhundert etwas anderes als im 12 . Jahrhundert und es bedeutet in der Jugend etwas anderes als im Greisenalter und im Sport etwas anderes als in der Religion. Die verschiedenen Bedeutungen lassen sich weder addieren noch gegeneinander ausspielen oder anhand einer allgemeinen Skala bewerten. Der Mensch ist in jeder Dimension ganz und vollgültig Mensch. Dementsprechend meinen auch die Menschenrechte in den verschiedenen Dimensionen Verschiedenes. Das relativiert sie freilich nicht, beziehen sie sich doch jeweils auf eine je eigene Form des Menschseins. Relativiert würden die Menschenrechte allenfalls dann, wenn sie in jeder Dimension die gleichen wären. Das mag dramatisch klingen, ist uns im Alltag aber ganz selbstverständlich. Im Sport etwa liegt das entscheidende Recht darin, fair behandelt zu werden. Sportliche Fairness kann im Sport gewissermaßen eingeklagt werden, geahndet wird dementsprechend in erster Linie unsportliches Verhalten (Foulspiel - und noch was ein Foulspiel ist, ändert sich von Sportart zu Sportart). In der Religion geht es dagegen nicht um Fairness; dafür möglicherweise um Gnade. Kann Gnade ein Menschenrecht sein? In der Dimension des Rechts nicht, in der Religion, jedenfalls der christlichen, ist es vermutlich das entscheidende Recht des Menschen. Einklagbar im Sinne der rechtlichen Dimension ist es nicht; Anklagen gegen einen Gott, der die Gnade scheinbar verweigert, aber finden sich in der Bibel sehr wohl (»Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen? «, Matthäus 27 ). Nun geht es bei den allgemeinen Menschenrechten freilich gerade um den Versuch, verbindliche Rechte jenseits solch dimensionaler Unterschiede zu benennen. Allerdings ist bislang nicht gesehen, dass es die menschliche Wirklich- <?page no="216"?> Aspekte interkultureller Philosophie 216 keit nur dimensional gibt. Das ist das entscheidende Problem, an dem bislang alle Versuche, die Menschenrechte universal verbindlich durchzusetzen, gescheitert sind. Stenger hat mit Blick auf die kantische Trennung von Recht und Moral auf die Gefahr hingewiesen, die in einer Verselbstständigung des Rechts liegt, und vor »solch ›reine[m] Funktionalismus‹« im Rechtsdenken gewarnt. 49 Diese Gefahr liegt in allen bisherigen Versuchen, die Menschenrechte zu formulieren. Die Rechte verselbstständigen sich und dienen schließlich, wie eingangs dieses Abschnitts erwähnt, selbst zur Rechtfertigung eines universalen menschlichen Wesens, anstatt ihrerseits durch das menschliche Wesen überhaupt erst begründet zu werden. Es ist deshalb kein Zufall, dass sich die Formulierung der Menschenrechte zunächst auf nationalem und dann auf internationalem Boden bewegt, wohingegen sie von einer religiösen und kulturellen Ebene aus problematisiert wird (so z. B. im Fall der Menschenrechtserklärung im Islam). 50 Das heißt nun natürlich nicht, dass Menschenrechte nicht auf nationaler und internationaler, sondern nur noch auf kultureller und interkultureller Ebene behandelt werden sollen. Die nationale und die internationale Ebene bleiben für die Regelungsgewalt des Rechts wichtig. Die Rechtsdiskurse müssen aber an die jeweiligen Verständnisse von Menschsein zurückgebunden werden, und das heißt, sie müssen in der kulturellen bzw., wie wir sehen werden, in der interkulturellen Dimension verhandelt werden. Obwohl sich das Recht in zahlreiche Fachdisziplinen aufspaltet, bildet es doch so etwas wie eine Rechtsordnung aus, in der sich einzelne Rechtsbereiche nicht völlig unabhängig von allen anderen in eine bestimmte Richtung entwickeln können. Die Entwicklung des Rechts ist immer nur innerhalb eines bestimmten Rahmens möglich, der sich zwar auch verändern kann, der aber nicht beliebig anpassbar ist. In den europäischen Staaten der Gegenwart bilden die jeweiligen Verfassungen diesen Rahmen. Allerdings müssen auch die Verfassungen ausgelegt werden und stellen darum, schon ohne dass sie sich verändern, kein völlig starres Gerüst dar. Sowohl die Verfassungen als auch die Rechtsordnungen im Ganzen spiegeln das jeweilige Selbst- und Weltverständnis einer Gesellschaft wider. Das ist vor allem daran zu sehen, dass die Rechtsordnung nicht isoliert neben den anderen Ordnungen steht, in die sich das Leben einer Gesellschaft differenziert. Besonders deutlich ist das im Fall der politischen Ordnung, mit der die Rechtsordnung in ständigem Kontakt und Austausch steht. Zur Geschichte der politischen Ordnung gehört freilich auch die Entwicklung der Nationalstaatlichkeit, die also keinesfalls zeitlose Voraussetzung jeder Rechtsordnung ist, sondern das politische Selbstverständnis der europäischen Gesell- 49 Stenger 2006, S. 972. 50 Vgl. dazu beispielsweise Bassiouni 2014; Heinisch und Scholz 2012; Bielefeldt 1998. <?page no="217"?> Menschlichkeit und Menschenrechte 217 schaften seit dem 18 . Jahrhundert widerspiegelt. Sowohl die politische als auch die rechtliche Ordnung stehen im Austausch mit weiteren Ordnungen, etwa der Ordnung der Sprache, der Ordnung der Wirtschaft, aber auch der Ordnung der Sittlichkeit. Jede einzelne Ordnung kann als eigenständige Dimension betrachtet werden, in ihrem Zusammenspiel konstituieren sie die kulturelle Dimension. 51 Die Rechtsordnung hat an diesem Zusammenspiel teil und sie gewinnt ihre Bedeutung aus diesem Zusammenspiel. Das heißt auch, dass die Rechtsordnung in einem anders gearteten Zusammenspiel eine etwas andere Bedeutung erhält. Weder die politische Ordnung noch die Rechtsordnung lassen sich deshalb ohne weiteres in andere historische oder in andere kulturelle Zusammenhänge einfach übertragen. Wohl kann es einen intensiven Austausch geben bis dahin, dass einzelne Ordnungen von anderen Kulturen tatsächlich mehr oder weniger übernommen werden. Auch dann aber gewinnen sie durch das Zusammenspiel mit allen anderen Ordnungen in diesen Kulturen eine eigene, neue Gestalt und werden nicht eins zu eins übertragen. Das gilt nun natürlich auch für das Verständnis der Menschenrechte. Menschenrechte lassen sich in der Dimension der Kultur formulieren, aber sie lassen sich nicht ohne weiteres, d. h. ohne Anpassungen und Verschiebungen auf andere Kulturen übertragen. Das bedeutet, dass die Menschenrechte in der interkulturellen Dimension verhandelt werden müssen. Damit ist nun gerade nicht gesagt, dass sich Vertreter der verschiedenen Kulturen zusammensetzen und auf eine gemeinsame Formulierung der Menschenrechte einigen sollen. Eine solche Einigung hat es mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die UN ja gegeben. Und dennoch wird seither immer wieder kritisch diskutiert, ob sie dem Selbstverständnis aller Kulturen auch zu entsprechen vermag. Tatsächlich kann das gar nicht sein, kommen die Rechte doch in aller Regel innerhalb der Lebenswirklichkeit einer Kultur zum Tragen, werden also in die Dimension der Kultur übernommen. Dort erfahren sie automatisch eine Anpassung, müssen sie doch, um überhaupt greifen zu können, in das Zusammenspiel der verschiedenen sozialen Ordnungen mit einfließen. In der interkulturellen Dimension lassen sich keine Rechte festlegen, die in einer anderen Dimension gelten sollen. Lassen sich die Menschenrechte also gar nicht universal formulieren? Ja und nein. In der interkulturellen Dimension geht es um das Zusammenspiel der Kulturen. Das entscheidende ›Recht‹ dieser Dimension liegt deshalb darin, dass sich keine Kultur über die anderen erhebt, sondern umgekehrt dabei unterstützt, ihre eigene Gestalt bestmöglich herauszuarbeiten; die interkulturelle Dimension, das haben wir in Kapitel 4 . 3 gesehen, besteht ja gerade darin, dass 51 Rombach hat Kultur als das Zusammenspiel der transzendentalen Ordnungen beschrieben, in denen sich das soziale Leben des Menschen bewegt. Rombach 1994a. <?page no="218"?> Aspekte interkultureller Philosophie 218 sich die Kulturen selbst von ihrer Teilhabe am Gespräch der Kulturen her verstehen. Die eigene Gestalt kann eine jede Kultur aber nur dann bestmöglich verwirklichen, wenn sie in ihrem Weltcharakter gesehen und erfahren wird (vgl. Kapitel 4 . 5 ). »Mehr noch als auf den durchaus berechtigten und notwendigen Ruf nach den ›allgemeinen Menschenrechten‹ wird man jetzt darauf aufmerksam werden, daß es um die Erfassung, Wahrnehmung und Würdigung einer jeden Kulturwelt geht, ja daß man einer jeden Kulturwelt zugesteht, sich in freier und eigener Selbstgestaltung zu entfalten, einer Selbstgestaltung, die den anderen und die jeweils andere Kultur als Partner, als wohlmeinende Korrektur und fruchtbare Kritik erfährt und mitaufnimmt. Jede Kultur und damit jede Welt hat ihre eigene und unüberholbare Wahrheit. D arin liegt das eigentliche Grundrecht aller Menschen.« 52 Das Recht, das in der interkulturellen Dimension verhandelt wird, lässt sich als das Recht auf Entfaltung des eigenen Weltcharakters verstehen. Es ist dies mehr ein ›Kulturrecht‹, denn ein klassisches Menschenrecht. Insofern in der kulturellen Dimension freilich über den Sinn der Menschenrechte entschieden wird, begründet dieses ›Kulturrecht‹ auch die Menschenrechte. Das zeigt sich vor allem daran, dass die Formulierung der Menschenrechte von der interkulturellen Dimension her gesehen keinesfalls ins Belieben der verschiedenen Kulturen gestellt ist. Jedes Recht kennt seine ihm korrespondierenden Pflichten. So auch im Fall des Rechts auf Entfaltung des kulturellen Weltcharakters. Die damit verbundene Pflicht besteht, kurz gesagt, darin, sich auch tatsächlich als Welt auszuweisen, und zwar ganz konkret dadurch, dass jede einzelne Kultur im Gespräch der Kulturen darlegen muss, dass sie das, worum es im Gespräch geht, auf ihre Weise auch verwirklicht. Der Maßstab liegt wie bei jedem Gespräch darin, dass die Gesprächspartner die Weise, wie das, worum es im Gespräch geht, durch die betreffende Kultur aufgenommen und verwirklich ist, als förderlich für das Gespräch und damit zugleich für sich selbst erfahren. Die entscheidende Frage ist dann, worum es im Gespräch der Kulturen eigentlich geht? Zunächst um den Weltcharakter der Kulturen; insofern dieser Weltcharakter darin besteht, dass die Kulturen je eigene Welt- und Menschenbilder verwirklichen, geht es im interkulturellen Gespräch neben dem Weltcharakter auch um die Menschlichkeit der Kulturen. Die Menschlichkeit kann nur in der kulturellen Dimension konkret realisiert werden; sie kann aber nur in der interkulturellen Dimension eingefordert werden, weil erst in der interkulturellen Dimension die Möglichkeit der Kritik durch andere Kulturen gegeben ist. 52 Stenger 1996, S. 336. <?page no="219"?> Menschlichkeit und Menschenrechte 219 Mit Blick auf die Menschenrechte heißt das, dass sie in der kulturellen Dimension formuliert werden müssen, in der interkulturellen Dimension aber auf ihre Entsprechungen untereinander geprüft und gegebenenfalls korrigiert werden können. Stenger macht darauf aufmerksam, dass die meisten Menschenrechtsdiskurse auf einen Minimalkonsens abzielen. 53 Das ist der Grund dafür, dass immer wieder die biologische Dimension des Menschen zur Begründung von Menschenrechten herangezogen wird. In der biologischen Dimension sind alle Menschen kulturenübergreifend vergleichbar. Aus der biologischen Dimension sind aber auch nur Rechte zum Schutz des Menschen als eines biologischen Wesens ableitbar. Der Mensch ist aber sehr viel mehr (sonst hätte er nie so etwas wie das Recht entdeckt): Er ist ein kulturelles Wesen. Dessen Rechte lassen sich nur in der Dimension der Kultur begründen. Es muss deshalb um sehr viel mehr als nur um einen Minimalkonsens gehen. Die Kulturen müssen sich wechselseitig so bei der Verwirklichung der Menschlichkeit helfen, dass diese Hilfe die Menschlichkeit, um die es im Gespräch der Kulturen ja geht, für alle Kulturen klarer hervortreten lässt und in einem höheren Sinn fassbar macht, als es zuvor der Fall war. Die Menschenrechte würden dann keinem Minimalkonsens mehr entsprechen, sondern umgekehrt die Weise, wie die Menschlichkeit in jeder einzelnen Kultur verwirklicht ist, widerspiegeln. 53 Stenger 2006, S. 992. <?page no="220"?> 5 | Philosophische Begegnung der Kulturen Die Philosophie im engeren Sinne ist europäischen Ursprungs. Sie nimmt, das kann man in jedem Lehrbuch nachlesen, ihren Anfang um 600 v. Chr. mit Thales von Milet, der erstmals nach so etwas wie einem Grundprinzip alles Seienden fragt und dieses im Wasser findet. Die Philosophie ist aber nicht einfach zufällig in Griechenland entdeckt worden und hat sich dann über die ganze Welt verbreitet. Vielmehr drückt sich in der Entdeckung der Philosophie das Selbst- und Weltverständnis des antiken griechischen Volkes aus, das in der Folge auch wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung eines europäischen Selbst- und Weltverständnis gehabt hat. Die Entdeckung der Philosophie macht nur vor dem Hintergrund dieses Selbst- und Weltverständnisses Sinn. Damit ist klar, dass sie sich nicht ohne weiteres ausbreiten kann, sondern eigentlich nur dann, wenn die Menschen und Völker, die die Philosophie übernehmen, zu Griechen werden. Heidegger hat das in einem Vortrag zugespitzt formuliert: »Die oft gehörte Redeweise von der ›abendländisch-europäischen Philosophie‹ ist in Wahrheit eine Tautologie. Warum? Weil die ›Philosophie‹ in ihrem Wesen griechisch ist […].« 1 So verstanden ist der Beitrag, den Vertreter anderer Kulturen zur Philosophie leisten, immer ein Beitrag zur griechischen Philosophie. Je selbstverständlicher das ist, desto häufiger fällt freilich die explizite Bestimmung der Philosophie als griechisch weg. Die Philosophie hat sich darum mit der Zeit universalisiert. Uns ist das von den Wissenschaften her sehr vertraut. Die Wissenschaften sind aus der Philosophie hervorgegangen und demnach ebenso griechischen Ursprungs. 2 Längst wird Wissenschaft aber international betrieben, und das keinesfalls nur so, dass europäisch-westliche Entdeckungen anderswo nur nachvollzogen würden, sondern so, dass überall auf höchstem Niveau eigenständig Wissenschaft betrieben wird und es in der Wissenschaft schon lange keine europäische Vormachtstellung mehr gibt. Ähnliches gilt für die Philosophie. Zu Kant beispielsweise wird überall auf der Welt geforscht, und überall auf der Welt kann man auf einen Kant-Kongress gehen und dort ähnliche Fragestellungen behandeln wie auf einem anderen Kant-Kongress am anderen Ende der Welt. Auf dieser Ebene macht dann aber interkulturelle 1 Heidegger 1956, S. 7. 2 Vgl. dazu Held 2013c. <?page no="221"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 221 Philosophie gar keinen rechten Sinn bzw. findet sie ihre Berechtigung allenfalls darin, ein Spezialgebiet der Philosophie zu sein, das sich einzelnen Denkern anderer Traditionen widmet, die philosophisch von Interesse sind, obwohl sie sich selbst noch nicht am internationalen Diskurs der Philosophie beteiligt haben. Dieses Verständnis von Philosophie reicht freilich noch nicht bis in die interkulturelle Dimension hinab. Es bleibt dagegen ganz auf dem Boden einer aus dem griechischen Denken hervorgegangenen Überzeugung stehen, dass die Philosophie ebenso wie auch die verschiedenen Einzelwissenschaften das ›wahre Sein‹ bzw. den begründenden Zusammenhang alles Seienden erforscht, der sich hinter dem Seienden verbirgt und den wir darin als den eigentlichen Sinn des Seienden erfahren. Durch die Internationalisierung und Universalisierung von Philosophie und Wissenschaften ist das Wissen um diese zugrunde liegende Überzeugung verloren gegangen, die Philosophie hat ihren eigenen Ursprung vergessen. Das wiederum hat dazu geführt, dass das ›wahre Sein‹ in Gestalt von Ideen, Substanz und Ordnung bzw. der begründende Zusammenhang in Gestalt eines Kausalzusammenhangs auf eine Weise objektiviert worden sind, die ihre Erforschung tatsächlich völlig unabhängig vom jeweiligen Welt- und Menschenbild zu sein scheinen lassen. Wenn man dann von einer »abendländisch-europäischen Philosophie« spricht, ist das nur noch eine geographisch-historische Eingrenzung, keine sachliche Notwendigkeit mehr. Diese Beobachtung bringt Heidegger dazu, daran zu erinnern, dass die Philosophie ihrem Wesen nach griechisch ist. Sein Hinweis darauf, dass »[d]ie oft gehörte Redeweise von der ›abendländisch-europäischen Philosophie‹ […] in Wahrheit eine Tautologie« ist, will gerade nicht der Verallgemeinerung der Philosophie das Wort reden, sondern von neuem an die ursprüngliche Bedeutung von Philosophie erinnern. Und die liegt nicht in der Erforschung eines höchsten Seienden oder eines objektiv auffindbaren Kausalzusammenhangs, sondern in der Hinwendung des Menschen zu jenem Wirklichkeitsoder, in Heideggers Worten, jenem Seinsgeschehen, an dem der Mensch selbst teilhat und dem er ebenso sich selbst wie seine Welt verdankt. Philosophie kann man nur treiben, indem man sich selbst dem verborgenen Sein zuwendet. Der Mensch muss sich umwenden, darum spricht Platon von der periagoge tes psyches, dem Umschwung der Seele. Griechisch verstanden hängt die Philosophie also auf das engste mit dem Menschenbild zusammen; philosophieren kann nur, wer selbst zum Philosophen wird. Und solange der Mensch diesen Schritt nicht mitmacht, betreibt er nicht ernsthaft Philosophie. Das erst ist die Ebene, auf der interkulturelle Philosophie zu einer wichtigen Fragestellung wird. Mit Heidegger freilich sieht es so aus, als müsse die entscheidende Forderung interkultureller Philosophie lauten, dass die anderen Kulturen in einem philosophischen <?page no="222"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 222 Sinne griechisch werden. Sie müssen griechisch werden, weil die Philosophie ihren Sinn von der griechischen Grunderfahrung her erhält, dass das Wesen des Menschen darin liegt, sich über das Offensichtliche und Gegebene, das er um sich herum vorfindet, zu erheben und nach dem Offensichtlichwerden und dem Gegebenwerden selbst zu fragen; also danach zu fragen, was darin offensichtlich bzw. gegeben wird. In Kapitel 4 . 4 haben wir gesehen, dass die Grunderfahrung, die der Philosophie ihren Sinn gibt, keinesfalls starr ist; sie ist wie auch jede andere Erfahrung nicht verfügbar, sondern muss immer wieder erneuert werden. In der Erneuerung wird die Erfahrung freilich anders erfahren und das hat Auswirkungen auf den Sinn von Philosophie. Wir kennen solche Erneuerungen von Grunderfahrungen aus der europäischen Geschichte in Gestalt der Epochen. Eine Epoche markiert den Einschnitt, der durch die Erneuerung und damit verbundene Veränderung der Grunderfahrungen hervorgerufen wird. Auch die Philosophie hat in jeder Epoche einen eigenen Sinn; nicht so, dass die verschiedenen Bedeutungen von Philosophie nichts mehr miteinander zu tun hätten (schließlich werden in der Epoche die alten und nicht irgendwelche völlig anderen Grunderfahrungen erneuert), aber doch so, dass sich die Philosophie nicht in Teilen ändert, sondern als Ganze einen neuen Sinn erhält. Fragt die antike Philosophie nach dem Sein des Seienden bzw. nach dem höchsten Seienden, dann wendet sich die Frage in der Neuzeit der Selbstbegründung des Seins bzw. des einzigen Seienden, das ist die Welt, zu. Damit erhält beispielsweise die Metaphysik einen neuen Rang; galt sie der antiken Philosophie als »erste Philosophie« (Aristoteles) und höchste Form des Denkens, so betrachtet die Neuzeit die Metaphysik zunehmend kritisch. Es ist aber nicht so, dass der Fortschritt in der Philosophie dazu führt, dass Metaphysik irgendwann kritisch gesehen wird. Vielmehr hat Metaphysik in der Neuzeit einen anderen Sinn als in der Antike, weil sich die Begründungsrichtung umkehrt. Die Philosophie der Neuzeit geht wie die antike Philosophie auf Begründung, sie sucht solche aber in der Welt und dem Menschen und nicht jenseits der Welt. Der Mensch wird in der Neuzeit deshalb auch nicht mehr dadurch Philosoph, dass er sich über das Seiende erhebt und nach dem Sein fragt, sondern dadurch, dass er sich ganz auf sich besinnt und in seiner eigenen Vernünftigkeit einen sicheren Ausgangspunkt für Philosophie und Wissenschaft findet. Descartes hat diese Bewegung des Denkens mit seinen Meditationen berühmt gemacht und noch Husserl bezieht sich darauf, wenn er schreibt, dass sich »[j]eder, der ernstlich Philosoph werden will, […] ›einmal im Leben‹ auf sich selbst zurückziehen und in sich den Umsturz aller ihm bisher geltenden Wissenschaften und ihren <?page no="223"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 223 Neubau versuchen« muss. 3 Den Wandel der Grunderfahrungen, die der Philosophie, aber nicht nur ihr, sondern der Lebenswelt im Ganzen zugrunde liegen, zeichnet die Grundphilosophie nach. Die Philosophie erhält ihre Bedeutung deshalb vor dem Hintergrund der jeweiligen Grundphilosophie. Grundphilosophien hängen nun anders als die Philosophie selbst nicht an bestimmten Erfahrungen, sondern beschreiben lediglich deren Wandel. Während also die Philosophie in den Bereich der griechisch-europäischen Grundphilosophie gehört, steht der Begriff der Grundphilosophie für die Beschreibung des Wandels von Grunderfahrungen unabhängig davon, welche Grunderfahrungen dies sind. Deshalb kann man zwar nicht ohne weiteres davon sprechen, dass alle Kulturen ihre eigene Philosophie haben, wohl aber haben sie alle ihre eigenen Grundphilosophien. Ein entscheidender Anspruch interkultureller Philosophie muss deshalb darin liegen, die verschiedenen Grundphilosophien, die nirgendwo aufgeschrieben sind, zu klären. Das ist ein interdisziplinäres Unterfangen, drücken sich die Grundphilosophien doch in allen Bereichen der jeweiligen kulturellen Lebenswelt aus. Wichtig ist an dieser Stelle vor allem zu sehen, dass die Kulturen selber erst durch den Austausch und das Gespräch mit anderen Kulturen auf ihre Grundphilosophien aufmerksam werden. Nun ist die europäisch-westliche Philosophie allerdings in viele andere Kulturen übernommen worden. Und das nicht nur so, dass, wie eben beschrieben, Vertreter anderer Kulturen am etablierten philosophischen Diskurs teilnehmen, sondern auch so, dass die Auseinandersetzung mit philosophischen Fragestellungen vor dem Hintergrund der eigenen Traditionen und überlieferten Überzeugungen gesucht wird. Andere Kulturen erkennen in der Philosophie den Versuch, sich über das eigene Selbst- und Weltverständnis Rechenschaft abzulegen, und so wird die Philosophie auch deshalb übernommen, weil sich daran das eigene Selbst- und Weltverständnis schärfen oder auch überhaupt erst klären lässt. Mit anderen Worten, es ist nicht nur so, dass sich Vertreter anderer Kulturen an der etablierten Philosophie beteiligen, sondern die Philosophie wird von anderen Kulturen auch auf die eigene Situation übertragen und vor dem Hintergrund der eigenen Grundphilosophie nachvollzogen. Das verändert den Sinn der Philosophie und lässt zugleich die eigene Grundphilosophie deutlicher hervortreten. Auf diese Weise haben sich längst zahlreiche eigenständige Philosophien entwickelt, die nicht einfach einen Beitrag zur europäisch-westlichen Philosophie leisten, sondern Philosophie im Ganzen anders entwickeln. Andere Kulturen haben deshalb längst auch eigene Philosophien, nicht nur eigene Grundphilosophien. Da sie diese Philosophien, jeden- 3 Husserl 1963, S. 44. <?page no="224"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 224 falls in ihrer gegenwärtigen Gestalt, zumeist in der Auseinandersetzung zwischen der europäisch-westlichen Philosophie und den eigenen Traditionen gewonnen haben, stehen sie auch für die Reflexion auf die dem eigenen kulturellen Selbst- und Weltverständnis zugrunde liegenden Erfahrungen und Überzeugungen. Sie haben selber Teil an jenem interkulturellen Gespräch, in dem die verschiedenen Grundphilosophien eine wechselseitige Klärung erfahren. Das Interesse, das andere Kulturen der europäisch-westlichen Philosophie schon lange entgegenbringen, muss nun dringend erwidert werden. Auch die europäisch-westliche Philosophie kann im Gespräch mit den Philosophien anderer Kulturen auf den eigenen Sinnhorizont von Philosophie und damit auf die eigenen Grunderfahrungen und Grundüberzeugungen aufmerksam werden. Darin liegt die Chance, bestehende Selbstmissverständnisse zu erkennen - etwa das Missverständnis, Philosophie und Wissenschaft gehe es um die Entdeckung der Welt statt der Entdeckung von Welt (vgl. dazu Kapitel 4 . 5 ). Ich werde im Folgenden an drei ausgewählten Beispielen aufzeigen, wie die Auseinandersetzung mit europäisch-westlicher Philosophie vor dem Hintergrund der jeweils eigenen Grundphilosophien zur Entwicklung eigenständiger Philosophien geführt hat, von denen wiederum die europäisch-westliche Philosophie einiges lernen kann. Dabei behaupte ich keinesfalls, dass die gewählten Beispiele tatsächlich exemplarisch für die großen Kulturkreise Ostasien, Arabisch-islamische Welt und Sub-Sahara Afrika stünden. Es handelt sich lediglich um Beispiele, die diesen Kulturkreisen zugehören. Die philosophische Vielfalt ist in jedem dieser Kulturkreise sehr groß; überhaupt verbietet es sich grundsätzlich, von ›der‹ europäischen, ›der‹ asiatischen, ›der‹ arabisch-islamischen oder ›der‹ afrikanischen Philosophie zu sprechen. Und das nicht nur aufgrund der Vielfalt unterschiedlicher Philosophien in jedem einzelnen Kulturkreis, sondern auch wegen des fortlaufenden Wandels dieser Philosophien. 5 . 1 Ostasien Jaspers hat die Zeit um 800 - 200 v. Chr. als »Achsenzeit« bezeichnet, weil sich in diesem Zeitraum an verschiedenen Orten der Welt unabhängig voneinander Geist-Konzeptionen entwickelt haben, aus denen verschiedene Hochkulturen hervorgegangen sind. 4 Jaspers nennt China (Konfuzius, Laotse), Indien (Upanischaden, Buddha), den Orient (Zarathustra, Propheten des alten Testaments) und Griechenland (Homer, Philosophen). Auch wenn das Konzept der Ach- 4 Jaspers 1949. Vgl. auch Kap. 3.1 des vorliegenden Buches. <?page no="225"?> Ostasien 225 senzeit heute kritisch diskutiert wird, weil einige der Voraussetzungen, die Jaspers macht, von der historischen Forschung zwischenzeitlich widerlegt worden sind, so bleibt doch unbestritten, dass in mehreren Weltgegenden eigene Geistestraditionen kulturstiftend gewirkt haben und bis heute fortbestehen. Zahlreiche Hochkulturen haben unabhängig voneinander eigene Welt- und Menschenbilder entwickelt, die sich zwar im Laufe der Jahrhunderte mehrfach gewandelt und die durch den Kontakt mit anderen Kulturen immer wieder auch Momente anderer Weltbilder aufgenommen und integriert haben, die aber dennoch bis heute in ihrer Unterschiedlichkeit nebeneinander bestehen. Gerade die Unterschiedlichkeit freilich hat immer wieder das wechselseitige Interesse belebt. Die orientalischen Hochkulturen standen von Beginn an in enger Beziehung zur griechisch-europäischen Kultur. Aber auch die indischen und die chinesischen Kulturen haben früh das Interesse der Europäer geweckt. Die geistesgeschichtliche Bedeutung von Hinduismus, Jainismus, Buddhismus, Konfuzianismus, Daoismus und anderer ostasiatischer Traditionen ist früh gesehen worden. Seit dem 19 . Jahrhundert findet auch eine intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Traditionen statt. Das philosophische Gespräch mit ihnen steht allerdings bis heute noch ganz am Anfang, obwohl sich schon früh einzelne Philosophen intensiv mit asiatischem Denken beschäftigt haben. In Europa findet die Auseinandersetzung mit den verschiedenen asiatischen Traditionen bis heute überwiegend in den Regionalwissenschaften und - das gilt nur für einige der genannten Traditionen - der vergleichenden Religionswissenschaft statt. Tatsächlich hat das philosophische Gespräch zwischen Europa und Asien seine entscheidenden Impulse bislang von asiatischer Seite erhalten. Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass in den asiatischen Kulturen eine Auseinandersetzung mit der europäisch-westlichen Philosophie vor dem Hintergrund der eigenen Traditionen und Überzeugungen stattfindet und auf diesem Weg eigenständige Philosophien entwickelt werden. Diese Entwicklung ist selbst der Beginn eines interkulturellen philosophischen Gesprächs, das nun freilich von europäisch-westlicher Seite erwidert werden muss. Die modernen asiatischen Philosophien sind der europäischwestlichen einen entscheidenden Schritt voraus, weil sie sehr viel besser als die europäisch-westliche Philosophie darum wissen, welche Grunderfahrungen und Überzeugungen sie in das Gespräch einbringen können. Die europäischwestliche Philosophie ist deshalb heute dringend dazu aufgerufen, sich selbst in dieses Gespräch einzubringen und sich dabei über die eigenen Grunderfahrungen, auf denen das philosophische Denken in seiner ganzen Vielfalt aufruht, von neuem klar zu werden. <?page no="226"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 226 Japan zählt trotz seiner langen Abschottung zu denjenigen ostasiatischen Kulturen, die als erste intensiv westliche Philosophie aufgenommen und die eigenen Traditionen in der Auseinandersetzung mit dieser Philosophie reflektiert und artikuliert haben. Das ist insofern bemerkenswert, als die oben genannten geistesgeschichtlichen Traditionen nicht von Japan ausgegangen sind, sondern erst von China aus nach Japan gelangt sind. Vor allem der Buddhismus hat freilich auf seinem Weg von Indien über China nach Japan eine Entwicklung durchlaufen, die es durchaus rechtfertigt, von so etwas wie japanischen Ausprägungen des Buddhismus zu sprechen. Philosophisch besonders einflussreich ist der in China entstandene Zen-Buddhismus, der seine Blütezeit in Japan hatte und der im japanischen Denken zusammen mit dem älteren Shintoismus bis heute lebendig geblieben ist. Die Beschäftigung mit europäisch-westlicher Philosophie fällt in die Zeit der Öffnung Japans in der zweiten Hälfte des 19 . Jahrhunderts. Heute gibt es alle möglichen Spielarten von Philosophie in Japan. Etwas näher eingehen möchte ich auf die »Philosophie der Kyoto-Schule«, 5 weil sie beispielhaft für die Aufnahme europäisch-westlicher Philosophie vor dem Hintergrund der japanischen Tradition steht. Es ist vor allem der Zen-Buddhismus, den die Vertreter der Kyoto-Schule für das eigene philosophische Denken fruchtbar zu machen versuchen. Der zentrale Begriff, der für die Philosophie der Kyoto-Schule steht, ist das ›Nichts‹ bzw. die Erfahrung des ›Nichts‹. Durch die Konfrontation der europäisch-westlichen Philosophie mit der Erfahrung des ›Nichts‹ hat sich eine ganz neue, eigenständige japanische Philosophie entwickelt, die heute weltweit wahrgenommen und rezipiert wird. Zugleich hat das zen-buddhistische Denken eine Klärung erfahren, die für das japanische Verständnis der eigenen Tradition extrem wertvoll ist. Die Philosophie der Kyoto-Schule steht deshalb auch dafür, wie Japan sich der Welt öffnen und doch die eigene Tradition bewahren und so in die Moderne einbringen konnte, dass diese nicht mehr den Charakter einer bloß von außen übernommenen Entwicklung hat. Ohashi macht darauf aufmerksam, dass die Philosophie deshalb exemplarisch für die weltgeschichtliche Situation im Ganzen steht: »Jedoch hängt die moderne Konstellation der Philosophie, in der das Nichts immer mehr in den Vordergrund tritt und das Wesen der Philosophie fragwürdig macht, mit der Konstellation der geschichtlichen Welt innig zusammen, in der die abendländische Welt nicht mehr der selbstverständliche Maßstab sein kann und für die ›Welt‹ die asiatische Welt mitkonstitutiv geworden ist.« 6 5 Vgl. das gleichnamige Buch, in dem Ohashi wichtige Texte dieser philosophischen Strömung herausgegeben hat. Ohashi 1990. 6 Ebd., S. 23. <?page no="227"?> Ostasien 227 Als Begründer der Philosophie der Kyoto-Schule gilt Kitaro Nishida ( 1870 - 1945 ), der an der Universität Kyoto Philosophie gelehrt hat. Ohashi stellt ihm freilich Hajime Tanabe ( 1885 - 1962 ) als Mitbegründer zur Seite, obwohl dieser Nachfolger Nishidas auf dessen Lehrstuhl war. Tanabe aber war bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung ein wichtiger Kritiker Nishidas, was wiederum dessen Denken beeinflusst hat, so dass es gerechtfertigt erscheint, beide gemeinsam als Initiatoren einer philosophischen Beschäftigung mit der zen-buddhistischen Tradition Japans zu nennen. Der Name der ›Philosophie der Kyoto- Schule‹ ist Ohashi zufolge auf einen Schüler Nishidas zurückzuführen. Für Nishida selbst war die Beschäftigung mit dem US -amerikanischen Psychologen und Vertreter des philosophischen Pragmatismus William James ( 1842 - 1910 ) von großer Bedeutung. Von ihm übernimmt Nishida die Hinwendung zur Erfahrung, steigert den Begriff der Erfahrung allerdings zur »reinen Erfahrung«. Rein ist die Erfahrung, wenn sie nicht mehr als subjektive Erfahrung von etwas aufgefasst und reflektiert wird, sondern es gelingt, so in die Erfahrung einzutauchen, dass diese zur einzigen Realität wird. Was bei James nur zur Beurteilung der Richtigkeit von Handlungen herangezogen wird, gilt Nishida als Quelle allen Seins. Die reine Erfahrung vermittelt nicht zwischen Subjekt und Objekt; solange die Erfahrung strömt, gelangt sie nicht zur Differenzierung, sondern bleibt rein in sich. Erst im Moment des Rückbezugs der strömenden Erfahrung auf sich selbst, kommt es zur Differenzierung. Erst hier lassen sich Erfahrungssubjekt und Objekt der Erfahrung voneinander unterscheiden. 7 Diese ›Subjektlosigkeit‹ verbunden mit der gleichzeitigen ›Objektlosigkeit‹ machen die reine Erfahrung zu einer Erfahrung des ›Nichts‹. Die reine Erfahrung ist damit nicht nur eine positive Beschreibung der im Zen-Buddhismus angestrebten ›Ichlosigkeit‹ und ›Leere‹; es wird darüber hinaus zugleich deutlich, dass der Gedanke der reinen Erfahrung nur nachvollzogen werden kann, wenn das ›Nichts‹ nicht negativ bestimmt wird, sondern positiv als ungeschiedene Wirklichkeit alles Seienden erfahren wird. Die dem Zen-Buddhismus entlehnte Erfahrung wird auf diese Weise zum Quell eines eigenständigen Denkens, das die europäisch-westliche Philosophie aufnimmt, aber auf eigene Weise adaptiert und weiterführt, ja - japanisch verstanden - überhaupt erst voll entfaltet. Ich möchte im Folgenden beispielhaft auf einen Text von Nishitani ( 1900 - 1990 ) eingehen, den Ohashi zur zweiten Generation der Philosophie der Kyoto- Schule zählt. In seinem Text Vom Wesen der Begegnung zeigt Nishitani beispielhaft, was Begegnung vor dem Hintergrund zen-buddhistischer Erfahrung be- 7 Vgl. dazu Nishida 1989. Für eine ausführliche Darstellung der Philosophie Nishidas s. Elberfeld 1999. <?page no="228"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 228 deuten kann. 8 Davon, so scheint mir, kann die interkulturelle Begegnung Entscheidendes lernen. Nishitani zitiert folgende Unterredung zweier Zen-Meister: »Einmal frug Meister Gyôsan Ejaku den Meister Sanshô Enen ›Wie heißt du? ‹ Sanshô antwortete: ›Ejaku‹ - also mit dem Namen des Fragers! Dieser, Gyôsan Ejaku, sagte darauf: ›Ejaku - das bin ich! ‹ Darauf Sanshô: ›Mein Name lautet Enen.‹ Da brach Gyôsan Ejaku in ein großes Lachen aus.« Nishitani erläutert, dass die Frage nach dem Namen des Anderen gleichbedeutend ist mit der Aufforderung, dem Frager sein inneres Wesen offen zu legen. Der Name meint das innerste Selbst. Da Gyosan den Namen des berühmten Zen-Meisters Sansho sicherlich ohnehin kennt, zielt seine Frage offensichtlich auf dieses innerste Selbst Sanshos. Gibt sich Sansho zu erkennen, dann kann Gyosan Besitz von ihm ergreifen. Nishitani nennt einen weiteren chinesischen Zen-Meister, den Meister Engo, der die Frage nach dem Namen als den Versuch versteht, »[d]en Namen wie auch den Gehalt [zu] rauben«. Gyosan beabsichtigt mit seiner Frage nach dem Namen Sanshos also, von Sansho Besitz zu ergreifen. Er setzt sich, so Nishitanis Erläuterung, selbst absolut. Nun antwortet Sansho allerdings mit dem Namen des Fragers, d. h. er offenbart sich Gyosan als derjenige der seinerseits bereits Besitz von Gyosan ergriffen hat. Sansho setzt sich ebenso absolut, wie das Gyosan tut. »Ich und du ist ein Entweder- Oder: entweder Verschlucken oder Verschlucktwerden - in einem wesenhaften Sinne.« Gyosan und Sansho treten in eine Gegnerschaft zueinander, weil sie sich beide absolut setzen und den jeweils anderen zu schlucken versuchen. Nishitani spricht vom »unendlichen Schrecken«, den die Begegnung birgt. Zugleich aber sind sich Gyosan und Sansho gerade darin gleich, Absolute zu sein. Gerade dann, wenn Gyosan Besitz von Sansho ergreift und umgekehrt Sansho Besitz von Gyosan ergreift, sind die beiden ununterschieden. Sie sind, in den Worten Nishitanis, »je der absolut Relative«. Damit ist das Problemfeld benannt, das in dieser Zen-Erzählung zur Sprache kommt: Wie können Gyosan und Sansho zugleich »je als Herr der Absolute« und »je der absolut Relative« sein? Die Absolutheit von Gyosan und Sansho bedeutet, dass sie absolut frei sind. Nur wer nicht durch andere und anderes eingeschränkt wird, kann in einem absoluten Sinne frei sein. Das aber ist nur der Absolute, das heißt derjenige, der von den anderen immer schon Besitz ergriffen hat und diese gleichsam mit umfasst. Die absolute Relativität der beiden dagegen verweist auf ihre Gleichheit. Völlig gleich sind sie nur, wenn sie absolut relativ sind. Nishitani arbeitet also den Gegensatz von Freiheit und Gleichheit heraus. Wie können diese beiden in einem absoluten Sinne realisiert 8 Nishitani 1990. <?page no="229"?> Ostasien 229 sein, ohne sich wechselseitig auszuschließen? Wir können die Frage auch anders formulieren: Wie ist das Absolute im Plural denkbar? Oder in den Worten von Waldenfels: Wie ist »das Paradox einer Universalisierung im Plural« möglich? 9 Das ist eine Grundfrage interkultureller Philosophie, jedenfalls sobald man die Wirklichkeit kultureller Selbst- und Weltgestaltungen ernst nimmt und nicht als bloß subjektive Interpretationen einer an sich objektiv gegebenen Welt versteht. Nishitanis Überlegungen können als eine japanische Antwort auf diese interkulturelle Grundfrage verstanden werden. Zunächst sieht es so aus, als sei die Schwierigkeit, die sich in der Begegnung von Gyosan und Sansho ergibt, vergleichsweise einfach zu lösen. Das Problem entsteht ja erst dadurch, dass sich die beiden jeweils absolut setzen und vom anderen Besitz zu ergreifen versuchen. Was liegt da näher, als sie zurechtzuweisen und auf gegenseitigen Respekt zu verpflichten? Gyosan und Sansho schießen deutlich über das Ziel hinaus. Sie könnten sich doch wenigstens auf einer solch grundlegenden Ebene wie ihrem Menschsein friedlich begegnen. Nishitani macht nun aber darauf aufmerksam, dass der Vorschlag einer solchen Verständigung auf der Ebene gegenseitigen Respekts der Problemhöhe nicht gerecht wird. Um es am Beispiel einer möglichen Verständigung auf dem Boden des gemeinsamen Menschseins zu sagen: Ja, beide sind Menschen, soll diese Einsicht aber den Boden für eine Verständigung hergeben, dann muss das Menschsein über den Einzelnen hinausgehen und neben ihm auch den anderen umfassen. Das bedeutet zugleich, dass der Einzelne zwar teilhat am Menschsein, dieses aber nicht im Ganzen verwirklicht. Streng genommen ist der Einzelne dann eben nur auf eine bestimmte Weise Mensch, während das Menschsein selbst ein Allgemeines ist, das sich im einzelnen Menschen nie ganz realisieren lässt. Zugespitzt formuliert, ist der Einzelne dieser Überlegung nach eben nur ein bisschen Mensch, nicht Mensch überhaupt. Das aber ist zu wenig. Gefordert wäre doch, dem Einzelnen so zu begegnen, dass darin das Menschsein im Ganzen gemeint ist. Dann aber ist das Menschsein nichts vom Einzelnen Unterschiedenes und der Einzelne ist ›absolut‹ Mensch. Wenn sowohl das ›Ich‹ als auch der Andere als ›absolute‹ Menschen gesehen werden, stellt sich überhaupt erst die Frage, wie Relation noch möglich ist. Nishitani erkennt überall in der europäisch-westlichen Philosophie den Versuch, Gegeneinanderstehendes über ein Allgemeines zu vermitteln, sei dies das staatliche Gesetz (im Gesellschaftsvertrag, z. B. bei Hobbes), das sittliche Gesetz (Kant) oder das heilige Gesetz (in der Religion). »Auf diese Weise wird aber die Absolutheit des einzelnen Menschen auf halbem Wege abgeschnitten und relativiert.« 10 9 Waldenfels 1993, S. 63. 10 Nishitani 1990, S. 260. <?page no="230"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 230 Von der Konzeption eines vermittelnden Allgemeinen her gesehen, ist der Einzelne, was er ist, in Relation zum allgemeinen Gesetz; damit, so Nishitani, gehen sein Selbstsein und seine Freiheit aber letztlich ganz verloren. Tatsächlich ist der Mensch, Kant zufolge, gerade dann frei, wenn er sich dem Sittengesetz unterwirft. Das Sittengesetz aber ist deswegen sittlich, weil es ein allgemeines Gesetz ist. Auf der anderen Seite ist aber auch die Relativität der sich begegnenden Menschen in der europäisch-westlichen Tradition nicht konsequent gedacht. Sie besteht in der Unterordnung des Einzelnen unter das allgemeine Gesetz; solche Unterordnung führt als ihre Schattenseite aber immer die Möglichkeit des Verstoßes und der Auflehnung gegen das Gesetz mit sich. Der Einzelne kann dem Gesetz die Gefolgschaft verweigern und gesetzeswidrig oder eigensinnig handeln. In dieser negativen Form bleibt die Freiheit erhalten und steht so der absoluten Relativität entgegen. »In einem menschlichen Verhältnis aber, in dem Freiheit und Gleichheit nicht zugleich miteinander bis zum Letzten vollzogen werden, gibt es kein wahres Begegnen der Menschen.« 11 Dagegen setzt Nishitani nun die Forderung, Freiheit und Gleichheit absolut zu denken. Absolute Freiheit führt dazu, dass der Einzelne den Anderen verschluckt, Gyosan also Besitz von Sansho ergreift und umgekehrt Sansho Besitz von Gyosan ergreift. Die Folge ist die »Todfeindschaft« beider. Allerdings lässt sich, so Nishitani, nun auch kein Grund mehr anführen, weshalb der eine Absolute getötet werden sollte, der andere aber nicht. Oder anders gesagt: Gyosan würde sich selber treffen, wollte er Sansho tatsächlich töten. Gerade weil Gyosan Besitz von Sansho ergreift, muss er an dessen Wohlergehen interessiert sein. Die vermeintliche Todfeindschaft wendet sich gegen sich selbst. Gyosan steht Gyosan feindlich gegenüber, ebenso steht Sansho Sansho feindlich gegenüber. Damit aber löst sich die Todfeindschaft auf. Gerade in ihrer Absolutheit sind Gyosan und Sansho ununterscheidbar. Absolute Relativität. Aber sie sind deshalb noch lange nicht eins (wie es uns der logische Schluss nahe zu legen scheint), würde dann doch die Freiheit wieder völlig verschwinden. Sie sind zwei, aber zwei Absolute. Wie lässt sich die Relativität zweier Absoluter verstehen? Nur so, dass sie durch ein Allgemeines vermittelt sind, das sie in ihrer Absolutheit nicht beschränkt. Ein solches Allgemeines ist die »Leere« bzw. das »Nichts«. Bezogen auf das ›Nichts‹ sind Gyosan und Sansho absolut relativ und das heißt, sie sind gleich, ohne dass sie dadurch in ihrer Freiheit beschränkt würden. Deshalb kann Gyosan darauf, dass Sansho Gyosans Namen nennt, seinerseits erwidern: »›Ejaku - das bin ich! ‹«, worauf Sansho einstimmt: »›Mein Name lautet Enen‹«. 11 Ebd., S. 262. <?page no="231"?> Ostasien 231 Nun muss es darum gehen, diese Zen-Erzählung und Nishitanis Erläuterungen nicht als bloße Wortspielerei zu nehmen, sondern das darin Gesagte tatsächlich zu erfahren. Der Hinweis darauf, dass das vermittelnde Allgemeine nur das ›Nichts‹ bzw. die ›Leere‹ sein kann, sieht auf den ersten Blick wie ein zwar logischer, aber inhaltsleerer Schluss aus. Wenn ein Verbindendes gesucht wird, das die Absolutheit der miteinander zu Verbindenden nicht einschränkt, dann scheint das ›Nichts‹ deswegen eine logische Möglichkeit zu sein, weil es das ›Nichts‹ nicht gibt und die miteinander zu Verbindenden dann zusammenfallen, in ihrer Absolutheit also nicht eingeschränkt werden. Dann allerdings wäre nicht nur nichts gewonnen, sondern dann wären die beiden Absoluten einander eben doch nicht vermittelt, sondern schlicht identisch. Das ist aber nicht der Gedanke, den Nishitani uns nahe bringen will. Das Allgemeine ist ›Nichts‹ jenseits der Unterscheidung von Sein und ›Nichts‹; das ›Nichts‹ bzw. die ›Leere‹, von der Nishitani spricht, meint nicht die Abwesenheit von Sein, sondern die Fülle der Wirklichkeit. Die beiden Absoluten sind darüber vermittelt, dass sie beide wirklich sind. Wirklichkeit aber ist unteilbar, sie ist immer ganz - absolut eben. Die beiden Absoluten sind also gerade darüber vermittelt, nicht über ein Drittes, ein Allgemeines vermittelt zu sein, sondern durch das ›Nichts‹, das sie beide wirklich und darin gleich sein lässt und doch zugleich eine absolute Differenz zwischen ihnen aufreißt, weil die Wirklichkeit unteilbar ist. Die beiden Absoluten sind nicht jeder ein bisschen wirklich, sondern sie sind beide im Ganzen wirklich. Das bedeutet, dass der eine den anderen enthalten (»schlucken«) muss - ebenso, wie umgekehrt der andere den einen enthält. Sie sind beide Ich und Du, Gyosan ist ebenso Sansho, wie Sansho seinerseits Gyosan ist. Aber Gyosan ist Sansho als Gyosan und Sansho ist Gyosan als Sansho. Nur so kann die Wirklichkeit, das ist das Nichts, erblühen. Das Besondere der Wirklichkeit ist gerade dies, dass sie nichts jenseits des Wirklichen ist; sie geht im Wirklichen ganz auf. Sie ist also in einem negativen Sinne nichts, solange sie nicht aufgeht; dann aber ist sie alles - und das jeweilig. Der japanische Zen-Meister Daito hat die Zen-Erzählung der Begegnung von Gyosan und Sansho durch folgendes Lobgedicht ergänzt: »Im Lichte der warmen Sonne taut der Schnee; es ist Frühling, Pflaumenblüten und Weidenkätzchen wetteifern in ihrer duftenden Frische miteinander. Anlaß zum Gedicht: das Heitere des Windes, ein unendlicher Sinn; Ihn zu verstehen sei nur dem erlaubt, der sich im Freien mit dem Gesang abgemüht hat.« 12 12 Ebd., S. 258. <?page no="232"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 232 Nishitani liest das Gedicht als einen Kommentar bzw. als eine Interpretation der Zen-Erzählung. Der Schnee muss tauen, das bedeutet, die Ich-Gebundenheit, die das Ich immer in Differenz zum Du versteht, muss überwunden werden. Dann ist Frühling, d. h. dann ist Aufgang von Wirklichkeit möglich: Pflaumenblüten und Weidenkätzchen blühen auf. Sie wetteifern miteinander, weil sie beide wirklich sind, und das heißt die jeweils andere Blüte auch sind. Sie sind jede für sich Aufblühen im Ganzen, nur deshalb können sie wetteifern. Der Anlass zum Gedicht ist das Heitere des Windes, ein unendlicher Sinn. Der Wind, darauf macht Ohashi in einem Aufsatz über den ›Wind‹ als Kulturbegriff in Japan aufmerksam, 13 steht für das natürliche Prinzip des »So sein, wie es aus sich selbst ist« (vgl. dazu auch Kapitel 4 . 1 ). Er weht überall, d. h. er weht alles an und nimmt alles in sich auf, und ist doch selbst gestaltlos. Der Wettstreit von Pflaumenblüten und Weidenkätzchen ist das Spiel der Wirklichkeit, die darin auf unterschiedliche Weise ganz aufgeht und selber kein vermittelndes Drittes darstellt. Um das noch einmal am Beispiel des Menschseins, das wir oben herangezogen haben, deutlich zu machen: Menschsein bedeutet von der Zen-Erzählung her verstanden kein Allgemeines, das den verschiedenen Menschen gemein ist und sie deshalb miteinander vermittelt. Menschsein bedeutet stattdessen ›dieser eine‹ mit all seinen Besonderheiten; das Menschsein ist ungeteilt, es kommt dem Einzelnen weder nur zum Teil zu noch macht es nur einen Teil des Einzelnen aus. Und gerade, weil das Menschsein ganz im Einzelnen aufgeht und nichts darüber hinaus ist, kann auch der Andere ganz Mensch sein - schließlich ist der Einzelne ja selbst schon dieser Andere. »Da brach Gyosan Ejaku in ein großes Lachen aus.« In dem Moment, in dem Sansho Gyosan in seiner vollen Wirklichkeit begegnet und Gyosan ihn als Absoluten zu sehen lernt, der gerade durch seine Absolutheit die Absolutheit Gyosans bestätigt und damit die Gleichheit beider offenbart, bricht Gyosan in ein großes Lachen aus. Das Lachen ist das Ereignis der Begegnung selbst, in ihm bricht die Wirklichkeit hervor. In den Worten Nishitanis: »In diesem Ort des Ausbruches ins große Lachen muß sich das wirkliche Begegnen der Menschen in seiner vollen Wirklichkeit zu einer Überwirklichkeit verwandeln - wobei es kaum nötig sein dürfte zu sagen, daß die hier gemeinte Überwirklichkeit keine Überrealität des sur-realisme, aber auch nichts Transzendentes ist. Hier läßt das Wirkliche die Überwirklichkeit als seine eigene Wirklichkeit anwesen: ›Anlaß zum Gedicht: das Heitere des Windes, ein unendlicher Sinn‹.« 14 13 Ohashi 1999b. 14 Nishitani 1990, S. 274. <?page no="233"?> Ostasien 233 Wenn wir das Wesen der Begegnung, wie Nishitani es erläutert, auf die interkulturelle Begegnung übertragen, dann zeigt sich, dass diese Begegnung erst dann tatsächlich in der interkulturellen Dimension stattfindet und die Kulturen einander wirklich als Kulturen begegnen, wenn die Begegnung nicht von einem vermittelnden Allgemeinen her verstanden wird. In der interkulturellen Begegnung geht es darum, dass sich die Kulturen je als »Absolute« begegnen und gerade darin ihre Gleichheit erkennen. Die Absolutheit der Kulturen haben wir in den Kapiteln 3 . 4 und 4 . 5 als ihren Weltcharakter kennen gelernt. In jeder Kultur ist Welt im Ganzen erfahren bzw. mit jeder einzelnen Kultur geht Welt als Ganze auf. Der Weltcharakter der Kulturen steht nicht gegen die Möglichkeit der Begegnung, sondern wird in der Begegnung erst eigens geklärt und gesehen. Zugleich treten auch die Kulturen in einen Wettstreit miteinander. Sie sind immer auch alle anderen Kulturen - auf ihre eigene Weise. Das bedeutet aber, dass sie zeigen müssen, dass sie die Höhe der anderen Kulturen auch erreichen und auf ihre eigene Weise sogar noch steigern und so überhaupt erst wirklich werden lassen können. Dieser Wettstreit richtet sich freilich nicht gegeneinander; im Gegenteil, die Kulturen müssen bestrebt sein, den anderen Kulturen bei ihrer eigenen Gestaltfindung zu helfen; sie müssen ein wechselseitiges Interesse daran haben, dass der Aufgang von Welt in allen Kulturen gelingt, sind sie diese Kulturen auf ihre Weise doch selber. Das von Nishitani beschriebene Wesen der Begegnung zweier Zen-Meister trifft tatsächlich sehr gut das, worum es in der interkulturellen Begegnung geht. Solange sich die Kulturen nicht in ihrem Weltcharakter begegnen und wechselseitig helfen, diesen zu klären, solange begegnen sie sich nicht in der interkulturellen Dimension. Auch bei der Klärung der Dimensionenfrage kann die asiatische Erfahrung hilfreich sein. Wir gehen bei Fragen interkultureller Verständigung üblicherweise zunächst davon aus, dass sich einzelne Personen unterschiedlicher kultureller Herkunft treffen, um sich über kulturelle Werte und Überzeugungen auszutauschen und Möglichkeiten der wechselseitigen Verständigung und eines friedlichen Zusammenlebens auszuloten. Auf dieser Ebene scheint es wichtig und richtig zu sein, die jeweiligen kulturellen Besonderheiten und Sensibilitäten sehr ernst zu nehmen und möglichst weitgehend zu respektieren; zugleich soll aber der gemeinsame Boden offen gelegt werden, von dem aus es erst möglich wird, die jeweiligen Besonderheiten als Besonderheiten zu erkennen und in der Folge zu respektieren - es muss also das vermittelnde Allgemeine gefunden werden. Damit ist dann auch ein Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen die Unterschiedlichkeit der Werte und Überzeugungen einem friedlichen Zusammenleben nicht im Weg stehen. Man glaubt nun üblicherweise, diesen Boden bzw. dieses Allgemeine unabhängig von jeder inhaltli- <?page no="234"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 234 chen Bestimmung darin finden zu können, dass die unterschiedlichen Werte und Überzeugungen in den Kulturen grundsätzlich auf dieselbe Art und Weise gewonnen werden. Die Vorstellung ist die, dass sich die Menschen mit der Welt auseinandersetzen, sie interpretieren und kulturell überformen. Dieser Prozess verläuft abhängig von der jeweiligen historischen und geographischen Situation unterschiedlich, so dass es wenig verwunderlich ist, dass wir eine Vielzahl verschiedener Weltbilder vorfinden. Wenn wir uns die jeweiligen Situationen gegenseitig aber nur gut genug erklären, müssten die jeweiligen Weltbilder auch mehr oder weniger nachvollziehbar sein. Vor allem aber bietet die Einsicht darein, dass die Menschen abhängig von den konkreten Gegebenheiten unterschiedliche Weltbilder konstituieren, bereits einen entscheidenden Ansatzpunkt zur Offenlegung des vermittelnden Allgemeinen. Wir sind alle Menschen und wir setzen uns alle mit der Welt auseinander. Dass wir dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, sollte uns nicht daran hindern, uns wechselseitig zu respektieren und globale Herausforderungen künftig gemeinsam anzugehen. Diese Sichtweise ist nicht falsch, und doch greift sie zu kurz. Sie greift deshalb zu kurz, weil sie die verschiedenen Weltbilder als bloße Interpretationen auffasst, die den Menschen als das interpretierende Wesen weitgehend unberührt lassen - nur deshalb kann er, bei entsprechenden Kenntnissen, die anderen Weltbilder nachvollziehen. Man könnte, asiatischen Erfahrungen folgend, diese Ebene als die Ebene des ›Ich‹ bezeichnen, auf der der Mensch sein eigenes Wesen als unabhängig von der Welt versteht. Das ›Ich‹ wird nun aber vom ›Selbst‹ unterfangen. Der Begriff bzw., richtiger, das Phänomen des ›Selbst‹ will darauf aufmerksam machen, dass der Mensch der Welt nicht gegenübersteht, sondern dass er sich stattdessen selbst erst in der Auseinandersetzung mit der Welt als der gewinnt, der er ist. Der Mensch sammelt die Erfahrungen, die er in der Welt macht, nicht wie Andenken, die er besitzt, derer er sich aber jederzeit auch entledigen kann, sondern er wächst an seinen Erfahrungen. Er konstituiert sich selbst im Prozess der Konstitution eines Weltbildes. Das hat für die europäisch-westliche Tradition v. a. Heidegger herausgearbeitet. Der Mensch konstituiert sich selbst durch sein Weltverständnis. In der asiatischen Tradition hat beispielsweise Nishida die Bedeutung der Erfahrung herausgestellt. In der Erfahrung sind Subjekt und Objekt noch ungeschieden, sie differenzieren sich erst aus dem Erfahrungsprozess heraus. Insofern ist das ›Selbst‹ konstitutiv für das ›Ich‹; es handelt sich deshalb eigentlich nicht um zwei verschiedene Ebenen, sondern um unterschiedliche Dimensionen (vgl. dazu Kapitel 4 . 3 ). In der Dimension des ›Selbst‹ werden einerseits die verschiedenen Weltbilder der Kulturen sehr viel ernster genommen, weil sie nun in ihrer konstitutiven Bedeutung für die Menschen, die in diesen Kulturen leben, gese- <?page no="235"?> Ostasien 235 hen werden. Andererseits droht der gemeinsame Boden verloren zu gehen, auf dem eine Verständigung möglich ist. Weder der Mensch noch die Welt taugen noch länger als vermittelnde Allgemeinheiten, wenn sie selbst vom Erfahrungsprozess her verstanden werden. Der erste entscheidende Schritt in Richtung der interkulturellen Problemdimension führt deshalb zur Wahrnehmung der Differenzen und der unvermittelten Eigenheit eines jeden kulturell konstituierten Weltbildes. Die Dimension des ›Selbst‹ wird nun aber ihrerseits noch einmal unterfangen von dem, wie ich es in Anlehnung an Stenger nennen möchte, »selbstlosen Selbst«. 15 Das Phänomen des ›selbstlosen Selbst‹ will darauf aufmerksam machen, dass sich auch das ›Selbst‹ nicht selber gehört. Wenn Heidegger davon spricht, dass das Gewissen das Dasein in die Eigentlichkeit zurückruft, bedeutet dies, dass dem Dasein ein eigentliches Sein eignet, das es zu sein hat. Darin liegt ein ›Gehören‹, das nun zwar kein Subjekt im klassischen Sinn mehr hat, das aber doch die Abgeschlossenheit des Zugehörens deutlich macht. Oder anders gesprochen: Die Erfahrung des ›Selbst‹ wird deswegen, weil sie unvermittelt ist, als eine wesenhafte missverstanden. Darin gründet denn auch der häufig erhobene Einwand gegen interkulturelle Philosophie: Die Hypostasierung kultureller Differenzen zu Wesensunterschieden scheint nicht nur jede Verständigung unmöglich zu machen, sondern darüber hinaus die Menschen einer Kultur an dieses Wesen zu binden (vgl. Kapitel 1 ). Der Schritt zum ›selbstlosen Selbst‹ gleicht deshalb der Einsicht in den Erfahrungscharakter der Erfahrung bzw. den Durchbruch in die Dimension der Grunderfahrungen (vgl. Kapitel 4 . 4 ). Auch die Erfahrungen werden erfahren, d. h. dass auch das Wesen der Kulturen auf Erfahrungen aufruht und dementsprechend wandelbar ist. Der Schritt vom ›Selbst‹ zum ›selbstlosen Selbst‹ liegt in der Erfahrung des ›von selbst‹, die bislang wohl nirgendwo anders als in der asiatischen Tradition in aller Schärfe gesehen worden ist. Dort begegnet sie uns beispielsweise in den Zen-Übungen, die alle darauf abzielen, ein Geschehen ›von selbst‹ geschehen zu lassen. Wir können aber auch an den bereits erwähnten japanischen Begriff für Natur, shizen, denken, den Ohashi wörtlich übersetzt: »So sein, wie es aus sich selbst ist«. 16 Mit Blick auf die interkulturelle Begegnung meint das ›selbstlose Selbst‹, dass die Kulturen in ihrem Weltcharakter zwar einerseits absolut voneinander unterschieden, zugleich aber doch alle absolut gleich sind, weil sie als Welten doch immer auch alle anderen Kulturen mit umfassen. Die Kulturen verdanken sich der Weise, wie Wirklichkeit jeweilig ›von selbst‹ geschieht. 15 Stenger hat mit der Unterscheidung von »Ich«, »Eigenem« und »selbstlosem Selbst« auf die Dimensionalität aufmerksam gemacht, die mich hier interessiert und die ich auf die interkulturelle Begegnung im Ganzen zu beziehen versuche. Stenger 2006, S. 398-406. 16 Ohashi 1999b, S. 30. <?page no="236"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 236 5 . 2 Arabisch-Islamische Welt Beim Studium nicht-europäischer philosophischer Traditionen stellt sich immer wieder die Frage, wodurch es gerechtfertigt ist, diese Traditionen von der europäischen zu unterscheiden. Mit Blick auf die islamische Philosophie stellt sich die Frage, was eigentlich islamisch an der islamischen Philosophie sei, mit besonderem Nachdruck. Zum einen deshalb, weil die islamische Philosophie im 9 . Jahrhundert ihren Ausgang von der Übersetzung griechischer Texte aus der Antike nahm, also mit Blick auf die grundlegenden Texte auf dem gleichen Boden steht wie die europäische Tradition; zum anderen stellt sich die Frage deshalb mit besonderem Nachdruck, weil islamisch eine Religionszugehörigkeit bezeichnet, durch den Titel ›islamische Philosophie‹ also suggeriert wird, es handele sich um eine religiöse Auslegung von Philosophie. Von der europäischen Tradition her gesehen, würde das die Bedeutung islamischer Philosophie erheblich einschränken. Gutas, Islamwissenschaftler an der Yale University, plädiert deshalb dafür, von »arabischer Philosophie« zu sprechen. 17 Das gemeinsame Kennzeichen der arabischen Philosophie ist demnach die arabische Sprache, in der sie verfasst ist. Das Arabische hat sich im Mittelalter nicht nur in den arabischen Staaten, sondern in der gesamten damaligen islamischen Welt als Sprache der Philosophie etabliert. Kurtoğlu, Philosoph an der Universität Izmir, spricht dagegen von der »Philosophie in der islamischen Welt«. 18 Damit hebt er darauf ab, dass diese Philosophie im Kontext einer vom Islam geprägten Lebenswelt entstanden ist, ohne dass sie deshalb selbst religiös sein oder von der Religion handeln muss. Die Philosophie ist nicht wegen ihres vermeintlichen Bezugs zur Offenbarung islamisch, sondern weil sie die islamisch geprägte Lebenswelt auf den Begriff bringt. In der Annahme, dass die Philosophie die Erfahrung der Lebenswelt ihrer Zeit auf den Begriff bringe, klingt natürlich eine hegelianische Lesart an, dennoch macht Kurtoğlu zu Recht darauf aufmerksam, dass jedes Philosophieren in konkrete historische und kulturelle Zusammenhänge eingebunden und von diesen entscheidend mitgeprägt ist. Es mag sehr wohl eine Reihe von philosophischen Texten in arabischer Sprache geben, die sich ohne weiteres ganz in die europäische Tradition einreihen lassen. Interkulturell spannend sind aber gerade jene Texte, die in der Auseinandersetzung mit den antiken Überlieferungen einen eigenen Weg einschlagen. Gerade diese Eigenständigkeit hat die islamische Philosophie des Mittelalters für die europäische Tradition so interessant gemacht. Aus der Beschäftigung mit ihr hat sie wichtige Anstöße 17 Gutas 2002. 18 Kurtoğlu 2007. <?page no="237"?> Arabisch-Islamische Welt 237 für die eigene Entwicklung erhalten, die den Übergang des mittelalterlichen Denkens zur Neuzeit vorbereiten halfen. Die Eigenständigkeit islamischer Philosophie ist viel zu lange übersehen worden. Der marokkanische Gelehrte al-Jabri hat gar davon gesprochen, dass »kein bedeutender Aspekt menschlichen Denkens von den Historikern des Denkens ungerechter behandelt [wird] als die islamische Philosophie«. 19 Tatsächlich wird die islamische Philosophie des Mittelalters zwar bereits seit etwa Mitte des 19 . Jahrhundert intensiv erforscht, Gutas verweist aber darauf, dass diese Forschung bestimmten Mustern gefolgt sei, die allesamt zu einer grundsätzlichen Fehleinschätzung der islamischen Philosophie geführt hätten: Die so genannte »orientalistische« Interpretation will die islamische Philosophie als der europäischen diametral entgegenstehend verstehen. Befördert durch die im 19 . Jahrhundert gängigen Vorstellungen von den wenig rationalen, dafür aber umso religiöseren Menschen des Orients wird das islamische Denken als irrational und mystisch gekennzeichnet. Abgesehen davon, dass sich eine solche Kennzeichnung unschwer als der Versuch einer Bestätigung des europäischen Selbstverständnisses entlarven lässt, führt Gutas sie auf ein im 12 . Jahrhundert von ibn Tufaīl vorsätzlich in die Welt gesetztes Gerücht zurück: ibn Sīnā, der Avicenna des lateinischen Mittelalters, hat die Lehren seines Hauptwerks Die Heilung in einer kleinen Schrift mit dem Titel Die Östlichen in Kurzform zusammengefasst. Der Titel »Die Östlichen« bezieht sich dabei auf die im Osten der islamischen Welt tätigen Philosophen, also ibn Sīnā und seine Anhänger selbst. Da diese Schrift die Lehren nur zusammenfasste, ohne sie im Einzelnen zu begründen, erschien sie sehr viel dogmatischer als ibn Sīnās sehr analytisch gehaltenes Hauptwerk. Ibn Tufaīl, der aus Granada stammt und in Andalusien und Marokko lehrte, nutzte das aus und bezeichnete ibn Sīnās Schrift und die sich im Osten auf ibn Sīnā berufenden Philosophen als mystisch. Dagegen verteidige er, ibn Tufaīl, in Andalusien den wahren, den analytisch-rationalen Stil der Philosophie. Damit spielte er die Philosophie im Westen der islamischen Welt geschickt gegen die Philosophie im Osten aus und wertete so die eigene Position auf. Gutas zufolge ist die europäische Philosophiegeschichtsschreibung dieser von ibn Tufaīl beschworenen Zweiteilung des islamischen Denkens lange Zeit aufgesessen. Mit dieser Zweiteilung hängt auch die weit verbreitete Ansicht zusammen, die islamische Philosophie ende mit ibn Rušd, der im 12 . Jahrhundert in Andalusien zum bestimmenden Denker der islamischen Welt aufstieg und dem lateinischen Mittelalter als Averroes bekannt ist, und habe den Staffelstab des 19 al-Jabri 2009, S. 117. <?page no="238"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 238 Denkens anschließend an die lateinisch-christliche Tradition übergegeben. Tatsächlich ist die Blütezeit islamischer Philosophie in Andalusien auf das 12 . Jahrhundert beschränkt, was freilich auch damit zu tun hat, dass der größte Teil Andalusiens im 13 . Jahrhundert an die kastilischen Könige fiel. Im östlichen Teil der damaligen islamischen Welt aber ging die Philosophie damit keineswegs zu Ende. Die Legende vom Ende der islamischen Philosophie ist eng verbunden mit dem so genannten »al-Ghazālī-Mythos«: al-Ghazālī, ein persischer Religionsgelehrter des ausgehenden 11 . Jahrhunderts, hatte eine Streitschrift gegen die Philosophie verfasst, Tahafut al-falasifah (Die Inkohärenz der Philosophen), 20 in der er einige Lehren v. a. aus der Metaphysik des ibn Sīnā als ungläubig verwirft. Zusammen mit der von ibn Tufaīl propagierten Zweiteilung der islamischen Philosophie in einen östlichen und einen westlichen Strang hat die theologische Kritik al-Ghazālīs dazu geführt, dass sich europäische Gelehrte für die weitere Entwicklung des Denkens im östlichen Teil der damaligen islamischen Welt nicht weiter interessierten. So konnte das Bild vom Ende der islamischen Philosophie mit dem Tod ibn Rušds entstehen. Folgerichtig ist die islamische Philosophie des Mittelalters in der europäischen Philosophiegeschichtsschreibung überwiegend als eine Mittlerin zwischen der griechischen Antike und dem lateinisch-christlichen Mittelalter, das viele antike Texte nur auf dem Umweg über arabische Übersetzungen kennen lernte, verstanden worden. Wie sich dieses Verständnis islamischer Philosophie allerdings so lange halten konnte, ist angesichts der vielen ungemein reichhaltigen Texte, die uns heute vorliegen, kaum nachzuvollziehen. Offensichtlich wurde die Eigenständigkeit des Denkens in diesen Texten nicht gesehen. Stattdessen, und das ist das dritte Interpretationsmuster, das Gutas nennt, ist die islamische Philosophie in der Forschung des 19 . Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20 . Jahrhunderts als eine Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Religion gelesen worden. Strauss ( 1899 - 1973 ) hat die These aufgestellt, dass die islamischen Philosophen ihre Lehren wegen des religiösen Umfelds, in dem sie arbeiteten und lebten, nur verschlüsselt weitergeben und veröffentlichen konnten. 21 Dementsprechend seien die Texte heute zu dechiffrieren. Diese These öffnet natürlich allen möglichen Interpretationen Tür und Tor, v. a. aber hat sie dazu geführt, dass die islamische Philosophie von den ›Straussianern‹ als überwiegend politische Philosophie verstanden wurde, was sie Gutas zufolge aber zumindest bis ibn Khaldun im 14 . Jahrhundert nicht war. 20 Diese Schrift ist uns durch ibn Rušd überliefert worden, der sie in seinem gegen al-Ghazālīs Schrift gerichteten Tahafut at-tahafut (Die Inkohärenz der Inkohärenz) ausführlich zitiert. Vgl. van den Bergh 1987. S. auch die englischsprachige Übersetzung von al-Ghazālīs Schrift: Kamali 1963. 21 Vgl. dazu Gutas 2002. <?page no="239"?> Arabisch-Islamische Welt 239 Strauss’ These von der Verschlüsselung philosophischer Texte im Islam geht von der Annahme einer der Philosophie feindlich gesonnenen Umgebung aus. Das aber stimmt so pauschal keinesfalls. Zwar ist es eine Besonderheit der islamischen Religion im Vergleich zur christlichen, dass sie noch zu Lebzeiten des Propheten institutionalisiert wurde und damit von Beginn an auch staatliche Macht ausgeübt hat. Gerade die Anfänge islamischer Philosophie im 9 . Jahrhundert aber zeigen, dass diese Verbindung keinesfalls notwendig zu einer Schwächung der Philosophie führen musste. Die junge islamische Kultur wuchs in den ersten Jahrhunderten rasant; das machte Kenntnisse im Bereich der Staatsführung ebenso erforderlich wie vertieftes Wissen in den Bereichen von Medizin und Rechtssprechung und vielen anderen mehr. Die junge Kultur sog darum die Kenntnisse der benachbarten älteren Kulturen auf und entwickelte sie weiter. In zahlreichen Wissenschaftsbereichen ist sie so rasch führend geworden. Ibn Sīnās Kanon der Medizin war bis ins 17 . Jahrhundert hinein eine wichtige Grundlage der Medizinerausbildung in Europa. Auch im Bereich von Mathematik und Astronomie waren die islamischen Gelehrten ihren Zeitgenossen um einiges voraus. Bagdad, das die abbasidischen Kalifen Mitte des 8 . Jahrhunderts zur neuen Hauptstadt gemacht hatten, war im Mittelalter eines der bedeutendsten intellektuellen Zentren der Welt. Eine ähnliche Entwicklung durchlief die Philosophie. Im Folgenden sollen die wichtigsten Vertreter der islamischen Philosophie des Mittelalters etwas näher vorgestellt werden: 22 Abū Yūsuf Ya’qūb ibn Ishāq al-Kindī (ca. 800 - 873 ), geboren in Basra (im heutigen Irak) gilt als der erste große Philosoph im Islam. Er hatte eine hochrangige Stellung am Bagdader Kalifat inne und ließ zahlreiche Schriften aus dem Griechischen ins Arabische übersetzen, darunter auch Aristoteles’ Metaphysik. Auf der Grundlage der Übersetzungen entwickelte al-Kindī sein eigenes philosophisches Denken. Da er keine bekannten Vorläufer hatte, wurde er schon zu Lebzeiten als »Philosoph der Araber« bezeichnet. Diesen Titel hat er trotz seiner vielen Nachfolger behalten, da die großen Denker, die auf ihn folgten, selbst nicht aus dem arabischen Kernland stammten. Aufgrund der regen Übersetzungstätigkeit, die al-Kindī angestoßen hatte, war die Textgrundlage, auf die er sich stützen konnte, recht inhomogen. Er las Schriften von Platon und Aristoteles ebenso wie Texte der Neuplatoniker, unter ihnen Plotin und Proklos. Von allen wurde sein eigenes Denken beeinflusst. Liest man heute seine Texte, so scheint es gelegentlich, als habe er mitten in der Fertig- 22 Eine Auswahl klassischer Texte findet sich in: McGinnis und Reisman 2007. Einen hervorragenden Überblick über die klassische islamische Philosophie und ihre Rezeption im Westen gibt: Eichner, Perkams und Schäfer 2013. <?page no="240"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 240 stellung eines Kapitels eine neue Übersetzung vorgelegt bekommen, deren Lektüre den Fortgang des Kapitels dann erheblich beeinflusst hat. Seine Arbeiten als eklektizistisch zu bezeichnen, wird al-Kindī aber nur zum Teil gerecht; er verwandte die unterschiedlichen Gedankenstränge durchaus auch dafür, seine eigene Position zu verdeutlichen. In seinem Hauptwerk Die erste Philosophie (entstanden zwischen 833 und 842 ) begründet er zunächst Aufgabe und Stellung der Philosophie. 23 Der Philosophie kommt demnach der erhabenste Rang unter den menschlichen Künsten zu, weil sie Wissen um die erste Wahrheit und damit um die Ursachen alles Wahren ist. Dieses Wissen freilich muss sich der Philosoph erarbeiten und so strebt er immerzu nach der Erkenntnis der Ursache der ihm erscheinenden Dinge bis hin zum höchsten Sein. Diese Überlegung ist eng an Aristoteles’ Metaphysik angelehnt (»Die Wahrheit aber wissen wir nicht ohne Erkenntnis der Ursache.«, Metaphysik Buch II ). Im zweiten Abschnitt seines Werks freilich wendet sich al-Kindī gegen Aristoteles, indem er dafür argumentiert, dass die Welt nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich begrenzt sein muss. Die zeitliche Endlichkeit der Welt ist anders als die aristotelische Lehre mit dem Schöpfungsglauben vereinbar; es ist deshalb durchaus möglich, dass al-Kindī hier auf andere Überlieferungen zurückgreift (Akasoy verweist auf eine Studie von Walzer, in der Philoponos als Quelle genannt wird 24 ), weil er an einer Verbindung von antiker Philosophie und islamischer Schöpfungslehre arbeitet. Im dritten Abschnitt schließt al-Kindī von der Tatsache, dass in allen wahrnehmbaren Dingen Einheit und Vielheit zusammen bestehen, ein solches gemeinsames Vorkommen aber verursacht sein muss, auf die Einheit des höchsten Seins, das Ursache der Existenz aller Dinge ist. Hier lassen sich unschwer neuplatonische Einflüsse erkennen. Im vierten Abschnitt schließlich beschreibt al-Kindī Gott, indem er eine Analogie zur Eins herstellt, die zwar Quelle der Zahlen ist, selbst aber nicht den gleichen Prinzipien wie die Zahlen untersteht. Der Argumentationsgang ist hier häufig ein negativer; al-Kindī führt alle möglichen Argumente ad absurdum und begründet damit die Gültigkeit seiner positiven Behauptungen. Diese Art der Argumentationsführung findet sich auch bei anderen Vertretern der islamischen Philosophie. Al-Kindīs Philosophie ist sicherlich nur der Anfang einer eigenständigen Auseinandersetzung mit antiken Überlieferungen. Akasoy schreibt gar, er sei nicht nur der erste Philosoph der Araber, sondern zugleich der letzte der Spätantike gewesen. Dennoch wird schon bei al-Kindī deutlich, dass die Beschäftigung 23 al-Kindī 2011. 24 Vgl. die Einleitung von Akasoy in al-Kindī, ebd., S. 48. <?page no="241"?> Arabisch-Islamische Welt 241 mit der antiken Philosophie im Kontext der islamischen Welt neue Anforderungen an den Interpreten stellt. Klar ist aber auch, dass al-Kindī vom Kalifen unterstützt wurde. Sowohl die Übersetzungstätigkeit, die er veranlasste, als auch seine eigenen Arbeiten sind gefördert worden. Hinzu kommt, dass auch die islamische Theologie noch im Entstehen begriffen war und sich Philosophie und Theologie so wechselseitig beeinflussen konnten. Zu al-Kindīs Zeiten hatten die Mu’taziliten, die eine rationale Theologie (Kalām) vertraten, großen Einfluss unter den islamischen Theologen. Die äußeren Bedingungen waren also sehr gut für die Philosophie. al-Jabri nimmt sogar an, der Kalif al-Ma’mūn ( 813 - 833 ) habe die Übernahme griechischen Vernunftdenkens gefördert, um damit der persischen Aristokratie und der Tradition des Gnostizismus an der ideologischen Front entgegentreten zu können. 25 Die Zeit zwischen dem 9 . und 12 . Jahrhundert wird gemeinhin als »Blütezeit« des Islam bezeichnet. Neben der Philosophie (falasifah) und dem Kalām entwickeln sich zu dieser Zeit auch die islamische Rechtswissenschaft (fiqh), die Koranwissenschaft (hadīt) und die arabische Literatur (adab). Abū Nasr Muhammad al-Fārābī (ca. 870 - 950 ) stammt aus Farab in Taschkent (heutiges Kasachstan), also einem Randgebiet des islamischen Reiches. al-Fārābī war der erste seiner Familie, der sich zum Islam bekannte. Er ging zunächst auch nach Bagdad, wo er nun auf Übersetzungen der gesamten griechischen Tradition zurückgreifen konnte, so dass seine Philosophie insgesamt systematischer und stimmiger wirkt als die von al-Kindī. Nachdem sich das wissenschaftsfreundliche Klima in Bagdad im Laufe des 10 . Jahrhunderts verschlechterte, verließ al-Fārābī Bagdad und lehrte bis zu seinem Tod in Aleppo (Syrien). Auch hier freilich stieß er auf Ablehnung bei den Religionsgelehrten. Das hat seinen Grund darin, dass al-Fārābī der Philosophie einen deutlichen Vorzug vor der Religion gab: Die Offenbarung, so al-Fārābī, ist nur mittels der Vernunft, und das heißt auf dem Weg der Philosophie, adäquat zu verstehen. Um diese Behauptung zu begründen, stellte al-Fārābī eine systematische Ordnung der Wissenschaften und Erkenntniswege auf, die durchaus als eine Art Rangliste gelesen werden kann. 26 Dabei lehnt er sich eng an Aristoteles Organon an, eine Sammlung von Texten die im Mittelalter gemeinsam als eine Art Lehrbuch der Logik gelesen wurden. Der Philosophie ordnet er den demonstrativen Schluss (entsprechend dem in der zweiten Analytik von Aristoteles behandelten beweisenden Syllogismus) zu, den Wissenschaften den dialektischen Schluss (Aristoteles’ Topik) und der Religion den rhetorischen und den poetischen 25 al-Jabri 2009, S. 120 ff. 26 al-Fārābī 2005. <?page no="242"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 242 Schluss (in Anlehnung an Aristoteles’ Rhetorik und Poetik). Die eine Wahrheit, die sich in der Offenbarung ausdrückt, lässt sich nur auf dem Weg der Philosophie rational nachvollziehen. Allerdings sind dazu bei weitem nicht alle Menschen intellektuell befähigt. Um ihnen die Wahrheit dennoch vermitteln zu können, brauchen die Menschen die Religion und die Propheten. Die Propheten müssen mit rhetorischen und poetischen Fähigkeiten ausgezeichnet sein, um das Volk mit ihren Botschaften erreichen zu können. Während die Religion also eine Sache der breiten Masse ist, bleibt die Philosophie als der Weg zu eigenständiger Erkenntnis der Wahrheit einigen wenigen vorbehalten. Philosophie wird darum, so al-Fārābī, auch nicht überall auf der Welt gelehrt. Stattdessen ist sie ausgehend von Griechenland über Alexandria im 9 . Jahrhundert nach Bagdad gewandert. Diese Aussage verdeutlicht das große Selbstbewusstsein der islamischen Denker im Mittelalter. So wie die Wissenschaften in einer Rangordnung stehen, ist auch die Welt systematisch geordnet. Aller Anfang liegt dabei in Gott. Aus ihm gehen stufenweise zehn Intellekte hervor, die die verschiedenen Himmelssphären bilden. Aus dem zehnten Intellekt schließlich gehen die menschliche Welt und die Erkenntniskraft hervor. al-Fārābī verbindet ihn mit dem aktiven Intellekt bei Aristoteles. Unterhalb des aktiven Intellekts unterscheidet er drei weitere Intellektstufen des Menschen. Obwohl sich al-Fārābī sehr viel enger an Aristoteles anlehnt als seine Vorgänger (er wurde schon zu Lebzeiten der »zweite Lehrer« genannt - nach Aristoteles 27 ), ist seine Kosmologie doch stark von der neuplatonischen Emanationslehre geprägt, nach der die Stufenfolge des Seins als eine Art Ausfließen oder Ausfaltung des zuvor eingefalteten Seins verstanden wird. Das hängt auch damit zusammen, dass al-Fārābī auf eine Schrift zurückgriff, die im Mittelalter als Theologie des Aristoteles kursierte, tatsächlich aber auf den Enneaden Plotins beruht. Die Ordnung der Welt spiegelt sich nun auch in al-Fārābīs Staatslehre wider. al-Fārābī widmet ihr sein Hauptwerk, Die Prinzipien der Ansichten der Bewohner des vernünftigen Staates. Der Staat ist hierarchisch geordnet; an seiner Spitze steht eine Person, die idealer Weise zugleich Philosoph und Prophet sein sollte. Findet sich eine solche Person nicht, sollte die Staatsmacht von zwei Personen gemeinsam ausgeübt werden, einem Philosophen und einem Propheten. Die Demokratie dagegen ist kein gutes Staatswesen, da in ihr jeder nach seinem eigenen Vorteil strebt, ohne dabei durch die Einsicht in die Wahrheit geleitet zu sein. Nur die Bürger eines idealen Staates haben die Möglichkeit, tugendhaft zu leben und geistige Seligkeit zu erreichen. 27 Vgl. die Einleitung von Schupp in al-Fārābī 2005, S. XVIII f. <?page no="243"?> Arabisch-Islamische Welt 243 Abū Alī al-Husayn ibn Abdallāh ibn Sīnā ( 980 - 1037 ), der im lateinischen Mittelalter als Avicenna bekannt wurde, stammt aus der Nähe von Buchara (heutiges Usbekistan). Er galt früh als ein Ausnahmetalent und diente einer Vielzahl verschiedener persischer Fürsten als Wesir und Leibarzt, zuletzt dem Herrscher von Isfahan. Er verfasste über hundert Bücher, von denen einige eine enorme Wirkung erzielten und noch Jahrhunderte später rezipiert wurden - unter ihnen der bereits erwähnte Kanon der Medizin sowie seine beiden philosophischen Hauptwerke, das Buch der Genesung der Seele und die Hinweise und Mahnungen. 28 Ibn Sīnā knüpft einerseits an al-Fārābīs Denken an; auch er setzt die Trennung von Philosophie und Religion voraus. Anders als bei al-Fārābī stehen nun aber Fragen der Ontologie sowie der Seelenlehre im Mittelpunkt. Dabei entwickelt er eine völlig neue Metaphysik. 29 Er setzt in seinen Überlegungen beim Seienden in der Welt an: Die Existenz des Seienden muss eine Ursache haben; diese Ursache liegt entweder im Seienden selbst oder in einem anderen Seienden. Liegt die Ursache im Seienden selbst, so handelt es sich um ein notwendig Seiendes; hat es seine Ursache dagegen in einem anderen, so ist es ein lediglich mögliches Seiendes. Tatsächlich lehrt uns die Erfahrung aber, dass alles Seiende seine Ursache in etwas anderem hat und so verweist das Seiende also in einer langen Kette von Seienden, die einerseits Ursache von anderem Seienden, andererseits aber selbst verursacht sind, letztlich auf ein notwendig Seiendes, das in sich ruht und einzig ist; ibn Sīnā setzt es mit Gott gleich. Die in der Welt vorkommenden Dinge, einschließlich der Menschen, erhalten ihre Existenz von Gott; in seiner spezifischen Gestalt aber ist das möglich Seiende durch sein jeweiliges Wesen geprägt. Ibn Sīnā unterscheidet damit erstmals zwischen der Existenz, die von Gott kommt, und der Essenz des Seienden, die weltlich-kontingent ist. Diese Differenzierung wird für die islamische Philosophie nach ibn Sīnā leitend. Der Unterschied zwischen Gott und den Geschöpfen liegt also in der verschiedenen Art und Weise begründet, wie ihnen das Sein zukommt - notwendig versus verursacht. Das ermöglicht es ibn Sīnā, eine völlig neue Antwort auf die Frage zu finden, ob die Welt in der Zeit geschaffen ist (wie es die Schöpfungslehre fordert) oder aber von Ewigkeit her besteht (wie Aristoteles sagt): Zwar ist die Welt von Gott geschaffen, aber nicht in der Zeit, sondern als Zeit. Obwohl also Gott die Welt verursacht, ist er doch nicht ihr zeitlicher Beginn. Vielmehr spricht ibn Sīnā davon, dass die Verursachungskette eine »unendliche Zahl von Mittelgliedern« haben könne, womit sie de facto endlos wäre. Gott als Verursacher der Welt ist demnach so etwas wie das zugrunde liegende Prinzip der Welt, nicht aber das erste Glied der als Welt erscheinen- 28 S. dazu Hendrich 2011, S. 70 ff. 29 Horten 1960. <?page no="244"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 244 den und damit zeitlich strukturierten Verursachungskette. Ibn Sīnā formuliert hier den Gedanken einer völlig neuen Ontologie, der an Nikolaus von Kues’ Unterscheidung zwischen der »Einfaltung von allem« in der Einheit Gottes und der Entfaltung bzw. »Ausfaltung« dieser Einheit in die Vielheit des weltlich Seienden erinnert. 30 Ihrem Sein nach sind die Dinge in der Welt alle gleich, nämlich bloß möglich; ihnen kommt kein eigenes Sein zu, sie haben ihr Sein im anderen. Unterschieden sind sie durch ihr jeweiliges Wesen, das in ontologischer Hinsicht aber belanglos ist. Die Erkenntniskraft darf sich demnach nicht auf die Gestalt des einzelnen Seienden richten, sondern muss der alles Seiende miteinander verbindenden Verursachungskette nachgehen. Sie muss sich deshalb von der Sinnlichkeit befreien und reine Vernunfterkenntnis werden. Die Ähnlichkeit zu Descartes, die hier neben derjenigen zu Nikolaus von Kues anklingt, wird noch deutlicher in ibn Sīnās Argument vom »Fliegenden Menschen«: »Kehre zurück zu dir selbst und überlege […], ob du deine eigene Existenz leugnen und dich selbst in Abrede stellen kannst. Ich meine nicht, dass dies einem aufmerksamen Betrachter möglich ist. Selbst ein Schlafender oder ein Betrunkener geht seines Wesens/ Selbst (dhāt) niemals verlustig, auch wenn er in seinem Gedächtnis nicht immer eine Repräsentation davon besitzt. [Der Grund dafür ist folgender: ] Würdest du dir vorstellen, dein Wesen/ Selbst wäre von Anfang an mit einem gesunden Verstand und einer gesunden Disposition [das heißt voll ausgebildet] geschaffen; [würdest du dir weiterhin vorstellen,] es wäre so angeordnet, dass es seine [körperlichen] Teile nicht sehen könnte und dass sich seine Gliedmaßen gegenseitig nicht berührten, sondern getrennt und für einen Moment in der freien Luft aufgehängt wären; dann könntest du feststellen, dass sich dein Wesen/ Selbst keiner Sache bewusst ist - außer der Tatsache, dass es existiert.« 31 Der Anfang aller Erkenntnis liegt also in der Evidenz der eigenen Existenz. Von diesem Punkt aus muss die Erkenntnis fortschreiten und nach Vervollkommnung suchen. Anders als bei al-Fārābī hängt die Glückseligkeit des Menschen deshalb auch nicht von der guten Staatsform und dem weisen Staatslenker ab, sondern liegt in der Verantwortung eines jeden einzelnen. Ibn Sīnā kennt neben dem vernünftigen Verstehen allerdings noch eine weitere Form der Erkenntnis: die Intuition. Unter Intuition versteht er die Fähigkeit einiger weniger, nicht jeden einzelnen Schritt eines rationalen Beweises mühsam nachvollziehen zu müssen, sondern den Beweis gleichsam auf den ersten Blick hin zu erfassen. Solche Intuition zeichnet die Propheten aus, sie kommt aber auch besonders begabten Philosophen zu, also ibn Sīnā selbst. 30 De Cusa 1999, S. 25 ff. 31 Aus ibn Sīnās Hinweisen und Mahnungen, zitiert nach Rudolph 2004, S. 49 f. <?page no="245"?> Arabisch-Islamische Welt 245 Mit der Unterscheidung zwischen Existenz und Essenz und der Einführung der Intuition als einer weiteren Erkenntnisform wird ibn Sīnā zu einem wichtigen Bezugspunkt sowohl der Mystiker als auch der Illuminationsphilosophie as-Suhrawardīs. Zugleich hat sein Denken eine große Zahl von Anhängern gefunden, die es gegen jede Kritik (etwa die al-Ghazālīs, s. u.) verteidigten, und es hat das lateinisch-christliche Mittelalter ebenso wie die neuzeitliche Philosophie beeinflusst. Gutas sieht in ihm darum den bedeutendsten islamischen Philosophen, der im Zentrum der verschiedenen Entwicklungslinien steht. 32 Abū Hāmid Muhammad al-Ghazālī ( 1058 - 1111 ) stammt aus Tus (im heutigen Iran). Al-Ghazālī steht einerseits für eine theologische Kritik an der Philosophie; zugleich aber führte er die aristotelische Logik in das islamische Recht und die Theologie ein. Bis heute gilt er als einer der bedeutendsten religiösen Denker des Islam. Er lehrte im Auftrag der Seldschuken in Bagdad; nachdem ihn dort eine Sinnkrise befiel, beendete er seine Lehrtätigkeit aber und reiste für einige Jahre quer durch die islamische Welt, bevor er in seine Heimatstadt Tus zurückkehrte. Während seiner Reisen beschäftigte er sich intensiv mit der Mystik, die er als die einzige Möglichkeit ansah, sich adäquat auf das Leben im Jenseits vorzubereiten. Er stellte die Erfahrung der Mystik darum neben die Rationalität der Philosophie, ja über sie. Die einzige Quelle wahrhaften und universalen Wissens ist Gott. Die göttliche Wahrheit aber kann nicht auf rationalem Weg, sie kann nicht prozedural gewonnen werden; vielmehr muss sie erlebt bzw., wie al-Ghazālī sagt, sie muss »geschmeckt« werden. Und das von jedem einzelnen und immer wieder von neuem. Religiöse Erfahrungen dürfen deshalb nicht einfach nachgeahmt werden, das Vertrauen in die Autoritäten der Tradition ersetzt nicht die eigene Erfahrung. Al-Ghazālī unterwirft deshalb ähnlich wie später Descartes all seine Kenntnisse einem radikalen Zweifel: »Alsdann schien es mir, daß die sichere Erkenntnis diejenige ist, in der sich das Erkannte in der Weise enthüllt, daß es keinen Zweifel mehr zuläßt. […] Ich prüfte also alle meine Erkenntnisse und fand mich bar jeder Erkenntnis mit dieser Eigenschaft.« 33 Dabei beschränkt sich sein Zweifel nicht auf die Sinneswahrnehmungen, sondern bezieht auch alle Vernunfterkenntnis mit ein. Selbst experimentell arbeitende Wissenschaften wie die Astronomie und die Medizin setzen so etwas wie 32 Vgl. dazu seine schematische Überblicksdarstellung der arabischen Philosophie: Gutas 2002, S. 7. 33 al-Ghazālī 1988, S. 5 ff. <?page no="246"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 246 intuitiv gewonnene Vorstellungen darüber voraus, was diese Wissenschaften eigentlich ausmacht. Al-Ghazālī macht also darauf aufmerksam, dass auch rationale Erkenntnis nicht voraussetzungslos ist. Die Voraussetzungen rationaler Erkenntnis sind aber auf rationalem Wege nicht zu klären; und so ist alles Wissen haltlos, solange es nicht in tieferen religiösen Einsichten verankert wird. Das gilt auch mit Blick auf die Philosophie. Allerdings unterteilt al-Ghazālī die Philosophie in mehrere Bereiche, die er sehr unterschiedlich bewertet. Vor allem die aristotelische Logik würdigt er nachdrücklich und fordert, sie in Rechtswissenschaft und Theologie zu übernehmen; andere Teile der Philosophie wie etwa die Ethik hält er immerhin für brauchbar und für mit den Einsichten der Theologie kompatibel. Anstoß nimmt er dagegen an der Metaphysik. Die Kritik an einigen Aussagen der Metaphysik (vor allem in der Form, in der sie von ibn Sīnā vertreten worden ist) steht im Zentrum seiner Schrift Die Inkohärenz der Philosophen (Tahafut al-falasifah). 34 Darin diskutiert er zwanzig »Irrtümer« der Philosophie, von denen er freilich nur drei für so gravierend hält, dass er sie als »ungläubig« verwirft: Das ist zum einen die Behauptung, die Welt bestehe von Ewigkeit her; zum anderen die Feststellung, Gott kenne die Einzeldinge nur auf allgemeine Weise; und drittens die Einschränkung der menschlichen Auferstehung auf die Seele. Alle drei Einwände lassen sich auf ibn Sīnās These beziehen, wonach sich das göttliche Sein und das weltlich Seiende in der Art und Weise unterscheiden, wie ihnen Existenz zukommt: notwendiger oder nur möglicher Weise. Al-Ghazālī dagegen sieht Gott nicht im Seinsmodus vom weltlich Seienden unterscheiden, sondern hält an einer radikalen Trennung fest, die sich allein von Gott her überbrücken lässt. Die theologische Kritik, die al-Ghazālī an der Philosophie übte, hat sich nachhaltig auf den weiteren Gang islamischer Philosophie ausgewirkt. In der europäischen Wahrnehmung galt sie bis ins 20 . Jahrhundert hinein üblicherweise gar als das Ende der islamischen Philosophie. Davon freilich kann gar keine Rede sein, weshalb man heute auch vom »al-Ghazālī-Mythos« spricht (s. o.). Tatsächlich hat al-Ghazālī die Stellung von Teilen der Philosophie (Logik, Mathematik, aber auch Ethik) gegenüber der Theologie deutlich gestärkt. Zudem ist seine Kritik an den Philosophen nicht unerwidert geblieben, sondern hat im Gegenteil zu einer philosophischen Belebung der Diskussionen geführt und zahlreiche Anhänger ibn Sīnās auf den Plan gerufen. Am wirkmächtigsten aber war seine Öffnung des Denkens zur Mystik hin. Vor allem diesen Zug hat as- 34 Für den Text dieser Schrift vgl. van den Bergh 1987 und Kamali 1963. <?page no="247"?> Arabisch-Islamische Welt 247 Suhrawardī in seiner Illuminationsphilosophie aufgegriffen, mit der er neben ibn Sīnā für die folgenden Jahrhunderte zum prägenden islamischen Denker wenigstens im östlichen Teil der islamischen Welt des Mittelalters wurde. Inwieweit die Öffnung zur Mystik hin einen entscheidenden Erkenntnisgewinn bedeutet oder aber die islamische Philosophie geradewegs in eine Sackgasse geführt hat, diese Frage wird bis heute diskutiert. Seinen schärfsten Kritiker hat al-Ghazālī in ibn Rušd gefunden, der sich im 12 . Jahrhundert wieder stärker dem Aristotelismus zuwandte. Abū al-Walīd Muhammad ibn Rušd ( 1126 - 1198 ), im lateinischen Mittelalter unter dem Namen Averroes bekannt, wurde in Cordoba in Andalusien geboren. Seit dem frühen 8 . Jahrhundert stand Andalusien unter der Herrschaft islamischer Fürsten, später erlangte es gar den Rang eines Kalifats, bevor es im 13 . Jahrhundert weitgehend an die kastilischen Könige fiel. Die Philosophie etablierte sich in diesem Teil der islamischen Welt vergleichsweise spät. Die entscheidenden Namen lauten ibn Bādjdja (gestorben 1138 ) und ibn Tufaīl (gestorben 1185 ), vor allem aber ibn Rušd. Er wurde vom Kalifen damit beauftragt, Aristoteles zu kommentieren, und kam dieser Aufgabe so umfangreich nach, dass er im Mittelalter schlicht »der Kommentator« genannt wurde. Kein Werk des Aristoteles, zu dem ibn Rušd nicht einen Kommentar geschrieben hätte. Auch in seinem eigenen Denken lehnt sich ibn Rušd stark an Aristoteles an, ja er folgt ihm in allen wichtigen Punkten, so dass seine größte eigenständige Leistung vielleicht darin bestand, die aristotelische Philosophie im islamisch geprägten Umfeld zu behaupten. Wie er dabei vorgeht, wird besonders deutlich in seiner Schrift Die maßgebliche Abhandlung. 35 In ihr geht er der Frage nach, ob ein islamischer Gelehrter überhaupt Philosophie betreiben darf oder dies gar tun soll. Seine Antwort lautet eindeutig: Er darf sich nicht nur mit der Philosophie auseinandersetzen, er soll und muss es sogar tun. Diese Verpflichtung zur Philosophie begründet ibn Rušd wie folgt: Die Lehren des Koran sind wahr; also muss der Gläubige sich um ein Verständnis des Koran bemühen; nun weist aber gerade die Philosophie mit ihren demonstrativen Schlüssen einen Weg zur Erlangung der Wahrheit; da es nur eine Wahrheit geben kann, muss die philosophisch erlangte Wahrheit mit der Wahrheit des Koran übereinstimmen; also muss der Gläubige, so er intellektuell dazu in der Lage ist, Philosophie betreiben. Ibn Rušd geht aber noch einen Schritt weiter: Die Philosophie gibt den Gelehrten auch einen Maßstab an die Hand, mit dessen Hilfe sich entscheiden lässt, ob die Lehren des Koran wörtlich oder aber allegorisch 35 ibn Rushd 2010. <?page no="248"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 248 zu verstehen sind und folglich interpretiert werden müssen. Dann nämlich, wenn die Lehren des Koran den philosophisch gewonnenen Einsichten widersprechen, dürfen sie nicht wörtlich genommen, sondern müssen interpretiert werden. Da es nur eine Wahrheit gibt, dürfen keine Widersprüche auftreten; da aber bei den demonstrativen Schlüssen der Philosophie keine Fehler auftreten können, müssen in Zweifelsfällen die Aussagen des Koran anders zu verstehen sein. Damit rückt ibn Rušd die Philosophie nun tatsächlich ins Zentrum islamischer Gelehrsamkeit. Zugleich widerspricht er al-Ghazālī, der die höchste Wahrheit ja gerade als der Vernunft unzugänglich bezeichnet hatte. Für ibn Rušd ist klar: Wahr, auch im Sinne der Offenbarung, kann nur sein, was vernünftig ist. Ibn Rušd rückt die islamische Philosophie damit wieder eindeutig in die Traditionslinie der europäischen Antike ein. Entsprechend kritisch wendet er sich gegen al-Ghazālī; gegen dessen Kritik an der Philosophie verfasst er gar eine eigene Erwiderung, Die Inkohärenz der Inkohärenz (Tahafut at-tahafut), 36 in der er al-Ghazālī vorhält, die Philosophen missverstanden zu haben. Zugleich wendet sich ibn Rušd aber auch kritisch gegen ibn Sīnā und dessen Begriff der Intuition. Mit der Einführung der Intuition als einem alternativen Erkenntnisweg habe ibn Sīnā dem mystischen Denken Tür und Tor geöffnet. Mit dem 12 . Jahrhundert endet die kurze Blütezeit islamischer Philosophie in Andalusien. Wie kein anderer islamischer Denker aber hat ibn Rušd Eingang in die europäische Tradition gefunden. In der islamischen Welt dagegen wurde er weit weniger intensiv rezipiert. Heute gibt es Stimmen, die genau darin das entscheidende Handicap der islamischen Philosophietradition sehen; die Abwendung von ibn Rušd habe den Weg in eine islamische Aufklärung verstellt. 37 Freilich gibt es auch prominente Gegenstimmen. 38 Schihāb ad-Dīn Yahyā as-Suhrawardī (geboren vermutlich 1154 , gestorben 1191 ) aus dem Nordwesten Persiens ist für seine Illuminationsphilosophie bekannt geworden, die Elemente von Philosophie und Mystik, aber auch Ideen der alten zarathustrischen Tradition aus Persien vereint. as-Suhrawardī stand dem Sufismus nahe. Er wurde zunächst von einem der Söhne des Sultans Saladin gefördert, fiel dann aber offenbar in Ungnade und wurde 1191 auf Befehl Saladins hingerichtet. 36 Vgl. van den Bergh 1987. 37 So etwa al-Jabri 2009. 38 Siehe beispielsweise Hanafi 1995. <?page no="249"?> Arabisch-Islamische Welt 249 In seiner Illuminationsphilosophie (Philosophie der Erleuchtung 39 ) greift as- Suhrawardī auf den Begriff der Intuition zurück, den ibn Sīnā eingeführt hatte. Allerdings leugnet as-Suhrawardī die Möglichkeit, auf rationalem Weg zu wahrer Erkenntnis zu gelangen; Erkenntnis ist nur auf dem Weg der Intuition bzw. der Erleuchtung möglich. Mit seiner ablehnenden Haltung rationaler Erkenntnis gegenüber stellt sich as-Suhrawardī gegen die gesamte Tradition der Philosophie und insbesondere gegen Aristoteles. Diese Haltung muss er natürlich begründen und so führt er mehrere Argumente gegen die aristotelische Logik und das Organon ins Feld: Der wohl wichtigste Einwand richtet sich gegen Aristoteles’ Definitionslehre, wonach sich ein Seiendes durch den zugehörigen Gattungsbegriff und eine einzelne für dieses Seiende spezifische Eigenschaft bestimmen lässt. Für as-Suhrawardī lässt sich ein Ding oder Lebewesen niemals durch eine einzelne Eigenschaft hinreichend bestimmen. Vielmehr wird das einzelne Seiende gerade durch die Fülle seiner Eigenschaften und Erscheinungen zu dem, was es ist. Will man es adäquat erfassen, dann muss man es auch in dieser seiner Vielfältigkeit begreifen, man muss es im Ganzen erfassen. Während Erkenntnis für Aristoteles ein logischer Abstraktionsprozess ist, verbindet as-Suhrawardī mit Erkenntnis die Erfahrung bzw. Vereignung des sinnlich Wahrnehmbaren. Das wird auch an einem weiteren Argument gegen Aristoteles deutlich, das hier noch genannt sein soll: Aristoteles’ Behauptung, alle Menschen verfügten über ein unmittelbares Wissen um logische Axiome, wie etwa den Satz des Widerspruchs, ist as-Suhrawardī zufolge unbegründet und stellt den Erkenntnisvorgang gewissermaßen auf den Kopf. Die Erkenntnis ist gerade darin unmittelbar, dass sie sich auf konkretes Seiendes richtet, allem voran auf unser eigenes Selbst; das Wissen um logische Sätze ist dagegen abgeleitet (Aristoteles argumentiert genau umgekehrt: Nach ihm besteht Erkenntnis in der Anwendung logisch strukturierter Vernunft auf sinnlich Gegebenes). Wie stellt sich as-Suhrawardī das von ihm geforderte Erkennen des Seienden in seiner Ganzheit nun vor? Um das erläutern zu können, muss man einen Blick auf seine Metaphysik werfen, die eine Licht-Metaphysik ist. Gott ist reines, absolutes Licht. Als solches aber ist das reine Licht nicht erfassbar; das wird es erst dadurch, dass es sich mitteilt, indem es anderes erleuchtet. Das Licht wird dort sichtbar, wo es auf einen Widerstand stößt, etwas erleuchtet, das dieses Licht reflektiert, abschwächt und Schatten wirft (as-Suhrawardī spricht von der »Schranke«). Die Schranken bestehen aus »finsterer Substanz«; diese ist von sich aus ununterschieden; sie differenziert sich erst durch das Licht, das auf sie fällt, in voneinander unterscheidbare Schranken. So entsteht 39 as-Suhrawardī 2011. <?page no="250"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 250 aus dem Lichteinfall auf die finstere Substanz die wahrnehmbare Welt, in der wir leben. Das Wesen der einzelnen Dinge aber liegt nicht in der von sich aus ja völlig undifferenzierten finsteren Substanz begründet, sondern im Licht, das die Dinge erleuchtet. Wahre Erkenntnis des Seienden bedeutet also Erfassen des Lichts dieses Seienden. Das Licht erleuchtet den Erkennenden, darum Illuminationsphilosophie. Freilich ist das erkennende Selbst seinem Wesen nach ebenso Licht. Der Erkenntnisprozess, der in der Erleuchtung liegt, unterscheidet sich deshalb nicht vom Selbst des Erkennenden: Sein und Erkennen sind für das Selbst dasselbe. Das Selbst wächst im Erkenntnisprozess und nähert sich so dem Höchsten, dem Licht aller Lichter kontinuierlich an. Von ibn Sīnā greift as-Suhrawardī den Begriff intuitiver Erkenntnis auf; auch ibn Sīnās Unterscheidung zwischen Existenz und Essenz taucht bei ihm wieder auf, allerdings nun mit einer Vorrangstellung der Essenz (Licht). Anders als ibn Sīnā hält as-Suhrawardī den Weg rationaler Erkenntnis aber nicht für möglich, weil die Welt keine Kette von Verursachungen ist, die sich zurückverfolgen ließe, sondern eine einzige Illumination durch Gott. Aber auch von al- Ghazālī unterscheidet sich as-Suhrawardī deutlich, obwohl er mit ihm die Vorstellung teilt, dass alleine die Intuition zur Erkenntnis höchster Wahrheit führen kann. Während al-Ghazālī die Intuition aber tatsächlich für die letzte und höchste Wahrheit reserviert und darin so etwas wie eine je individuelle Offenbarung Gottes versteht, erfolgt für as-Suhrawardī alle Erkenntnis rein intuitiv. Der Einfluss as-Suhrawardīs auf die islamische Philosophie war groß. Für Corbin, jenem Islamwissenschaftler, der etwa Mitte des 20 . Jahrhunderts die Vorstellung eines Endes der islamischen Philosophie mit al-Ghazālī als einen Mythos entlarvt hat, ist seine Illuminationsphilosophie gar der Schlüssel zum Verständnis islamischen Denkens überhaupt. 40 So weit muss man nicht gehen, und Corbin wird dafür mittlerweile scharf kritisiert; stattdessen rückt heute zunehmend ibn Sīnā in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Dennoch wäre es falsch, die Bedeutung as-Suhrawardīs zu unterschätzen oder sein Denken gar als unphilosophisch zu klassifizieren. In einer derartigen Kategorisierung spräche sich einmal mehr die Borniertheit europäischen Philosophierens aus. Tatsächlich wurde as-Suhrawardīs Denken vor allem im 13 . Jahrhundert intensiv diskutiert und neben der Philosophie ibn Sīnās zu einer der wichtigsten Traditionslinien in der islamischen Philosophie, die auch so etwas wie eine eigene Schule ausbildete. 41 Im Fall von ibn Sīnā lässt sich die Weitergabe seines Denkens durch Schüler bis ins 15 . Jahrhundert hinein zeigen. Neben diesen 40 Corbin 1964 und 1993. 41 Für die Entwicklungen der islamischen Philosophie in der Zeit zwischen 1200 und 1600 s. Rudolph 2004, S. 91-98. <?page no="251"?> Arabisch-Islamische Welt 251 beiden innerphilosophischen Traditionslinien erlebte die philosophische Logik, die bereits al-Ghazālī der Theologie ans Herz gelegt hatte, im 13 . Jahrhundert einen enormen Aufschwung und fand Eingang in die Ausbildung der Religionsgelehrten. Auf der anderen Seite greift der Sufismus philosophische Lehren auf und entwickelt sie weiter (bekannt ist ibn al-Arabī, 1165 - 1240 ). Ab dem 14 . Jahrhundert gibt es zudem Versuche, die Ansätze as-Suhrawardīs und ibn Sīnās miteinander zu verbinden. Daraus entwickelten sich neue Ansätze des Denkens, von denen im Folgenden noch einer kurz vorgestellt werden soll. Sadraddīn asch-Schīrazī ( 1572 - 1641 ), besser bekannt unter dem Namen Mullā Sadrā, aus Schiraz (im Süden des heutigen Iran) wurde zur Leitfigur einer Gruppe von Philosophen, die in Isfahan (ebenfalls Iran) lehrte. Er greift in seinem Denken auf die gesamte islamische und griechische Tradition der Philosophie zurück, maßgebend aber sind auch für ihn as-Suhrawardī und ibn Sīnā. Anders als as-Suhrawardī, dafür in Einklang mit ibn Sīnā räumt Mullā Sadrā der Existenz bzw. dem Sein den Vorrang gegenüber der Essenz ein. 42 Gott ist absolutes Sein. Durch sein Denken bringt er zum einen ein weiteres reines Sein hervor, das sich von ihm selbst aber darin unterscheidet, dass es sich ausfaltet und so das Sein in die Vielheit des weltlich Seienden differenziert; zum anderen bringt er die göttlichen Attribute hervor, die so etwas wie ideale Essenzen sind und deshalb auch die Essenzen des Seienden gestalten. Der Gedanke einer Ausfaltung des Seins erinnert an ibn Sīnā. Allerdings stellt sich Mullā Sadrā diese Ausfaltung nicht wie ibn Sīnā als Verursachungskette vor, sondern denkt sie wie eine Aufteilung des einen Seins auf die Vielzahl des weltlich Seienden. Das Sein des Seienden ist deshalb auch ein unvollkommenes und strebt nach Vervollkommnung; Mullā Sadrā spricht davon, dass das Seiende in fortwährender Bewegung ist, weil es zu seinem Ursprung, dem reinen Sein, hinstrebt. Das Verhältnis des Seienden zum reinen Sein ist das der Teilhabe. Ganz ähnlich wie bei as-Suhrawardī meint darum auch Mullā Sadrā, dass Erkenntnis grundsätzlich nur intuitiv möglich sei; durch Erkenntnis wächst unser Sein und so nähern wir uns dem reinen Sein an und damit Gott. Mullā Sadrās Denken fand vor allem im Iran eine große Anhängerschaft und wurde im 18 . und 19 . Jahrhundert intensiv diskutiert. Im arabischen Raum dagegen fand sein Werk weniger Beachtung, was sicherlich auch mit den veränderten politischen Bedingungen und dem zunehmenden Einfluss europäischer Traditionen zusammenhing. Seit dem 15 . Jahrhundert standen weite Tei- 42 Vgl. für die folgenden Ausführungen Rahman 1975. Zur Auseinandersetzung Mulla Sadras mit dem Denken von as-Suhrawardi s. auch Tabari 2008, S. 89-108. <?page no="252"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 252 le der arabischen Welt unter osmanischer Herrschaft. Im 19 . Jahrhundert wurden die Osmanen von europäischen Mächten zurückgedrängt und verloren im ersten Weltkrieg die Kontrolle über das arabische Gebiet schließlich komplett. Aus arabischer Sicht freilich wurde damit nur die eine von der anderen Fremdherrschaft abgelöst. Diese Jahrhunderte lange Kolonialgeschichte muss man mit bedenken, wenn man nach der Entwicklung der islamischen Philosophie ab dem 14 . Jahrhundert fragt. Hinzu kommt das selektive Interesse der Philosophiegeschichtsforschung im 19 . Jahrhundert, das sich nahezu ausschließlich auf die für das lateinisch-christliche Mittelalter wichtigen Quellen islamischer Philosophie bezog. Das hat sich in der Auswahl von Übersetzungen niedergeschlagen und verzerrt heute ein Stück weit unser Bild von der islamischen Philosophie. Es ist aber wohl dennoch nicht ganz falsch, eine latente, im 17 ./ 18 . Jahrhundert beginnende Konkurrenz oder Entfremdung zwischen einer stärker arabisch geprägten und einer überwiegend iranisch geprägten Tradition zu konstatieren, die bis hin zu Versuchen reicht, nahezu die gesamte islamische Philosophiegeschichte für die iranische Traditionslinie zu beanspruchen. 43 Das ist insbesondere vor dem Hintergrund der Aussagen al-Jabris interessant, denen zu Folge die rege Übersetzungstätigkeit in der Frühzeit islamischer Philosophie wesentlich durch die damalige Gegnerschaft zwischen Arabien und Persien motiviert war (s. o.). In der Folge fanden freilich auch andere Traditionen als die griechische Eingang in das islamische Denken, unter ihnen der Gnostizismus; so kam es zu einer zunehmenden Verschmelzung der Traditionen bis, wie im Fall von Mullā Sadrā, einzelne Denker im arabischen Raum kaum noch rezipiert wurden. Im Laufe des 20 . Jahrhunderts hat die Philosophie einen neuen Aufschwung erfahren, der sich auch in der erneuten Hinwendung zu den Autoren des islamischen Mittelalters bekundet. Zudem werden seit dem 19 . Jahrhundert europäische Quellen intensiv rezipiert und für das eigene Denken fruchtbar gemacht. Schon unter der osmanischen Herrschaft fand eine Öffnung nach Westen hin statt; mit der europäischen Eroberungs- und Kolonialpolitik im 19 . Jahrhundert waren europäische Traditionen dann ohnehin omnipräsent. 44 Das Verhältnis zur europäischen Kultur und ihrer philosophischen Tradition war und ist dabei bis heute ambivalent. So anerkennt beispielsweise Djamāl ad-Dīn al-Afghānī ( 1839 - 1897 ) die naturwissenschaftlich-technische Überlegenheit des Westens, kritisiert mit Blick auf die Philosophie aber zugleich die ausschließliche Fokussierung auf rationale Diskurse. Eine Besinnung auf die Grundwerte des Islam könne dagegen die Zusammengehörigkeit von spirituel- 43 Vgl. etwa Johardelvari 1994. 44 Vgl. dazu Hendrich 2004, Kap. 10. <?page no="253"?> Arabisch-Islamische Welt 253 ler Einsicht und wissenschaftlicher Erkenntnis aufweisen. Hier hört man unschwer die Diskussion um das Verhältnis zwischen rationaler und intuitiver Erkenntnis durch, die in der islamischen Tradition seit ibn Sīnā geführt worden ist. Auch al-Jabri ( 1936 - 2010 ), der eingangs bereits erwähnt wurde, setzt auf eine spezifisch islamische Aufklärung. In seiner Kritik der arabischen Vernunft 45 argumentiert er gegen eine bloße Übernahme der westlichen Moderne durch die arabische Welt. Dagegen fordert er eine kritische Auseinandersetzung mit den eignen Traditionen ein, um auf diesem Weg eine eigene, arabisch geprägte Moderne gestalten zu können. Das ist auch der Grund, weshalb al- Jabri bewusst nahezu ausschließlich auf Arabisch publiziert hat. Der wichtigste Referenzpunkt ist für ihn ibn Rušd. Sein Denken hat al-Jabri zufolge die Weichen für eine von der Vernunft geleitete Kritik an den Überlieferungen und insbesondere am Koran gestellt. Die kritische Auseinandersetzung mit der Tradition sieht al-Jabri aber im 13 . Jahrhundert enden; seither habe sich ein Verständnis durchgesetzt, das »in der Tradition eingeschlossen ist«. 46 Im Anschluss an ibn Rušd plädiert al-Jabri nun dafür, die Religion keinesfalls zu verwerfen, den Koran aber doch als allegorische Vermittlung philosophischer Wahrheiten zu verstehen. So könne die Rationalität dazu eingesetzt werden, den spezifisch arabisch-islamischen Weg zur Wahrheit besser zu verstehen. In der Philosophiegeschichtsschreibung werde dagegen immer wieder der Fehler gemacht, »das philosophische Denken im Islam von seinem kulturellen, politischen und zivilisatorischen Kontext [zu trennen], was darauf hinausläuft, seine Identität und seine Rolle zu entstellen«. 47 In der Ausbildung einer arabischen Moderne sieht al-Jabri deshalb auch die Möglichkeit, die westliche Moderne zu kritisieren. Im Westen sei die Rationalität in vielen Bereichen zum bloßen Selbstzweck geworden und werde nicht immer in den Dienst an der Menschheit gestellt. Diese Kritik am Westen teilt auch Hanafi (geboren 1935 ), ein Philosoph aus Ägypten. Anders als al-Jabri hält Hanafi es aber für falsch, sich nur auf ibn Rušd zu berufen. Er sieht vielmehr gerade in der Mystik und der Illuminationsphilosophie as-Suhrawardīs wichtige Quellen für eine philosophische Kritik am westlichen Rationalismus, der zum bloßen Selbstzweck verkommen sei und die geistige Kraft verloren habe. 48 Hanafi spricht davon, dass die islamische Kultur zur »Peripherie« der europäischen Kultur zähle. Mit einer solchen Begrifflichkeit sollte man sicherlich äußerst vorsichtig umgehen; es lässt sich aber nicht leugnen, dass die islamische und die europäische Tradition in der Philosophie ein ganzes Stück des Weges gemeinsam zurückgelegt und 45 Auf Deutsch ist bislang nur die Einleitung erschienen: al-Jabri 2009. 46 Ebd., S. 56. 47 Ebd., S. 118. 48 Vgl. Hanafi 1995. Für aktuelle Diskussionen über eine arabische Moderne siehe Hendrich 2004. <?page no="254"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 254 sich über viele Jahrhunderte gegenseitig nachhaltig beeinflusst haben. Vielleicht darf man deshalb von so etwas wie Schwesterkulturen sprechen, auch wenn uns dies angesichts gegenwärtiger Konflikte etwas überraschen mag. 5 . 3 Sub-Sahara Afrika Am Beispiel Afrikas südlich der Sahara lässt sich besonders gut zeigen, was es bedeutet, dass sich in anderen Kulturen eigenständige moderne Philosophien im Spannungsfeld zwischen europäisch-westlichem Denken einerseits und den eigenen Grunderfahrungen und Grundüberzeugungen andererseits entwickelt haben. Hier trifft die auf einer schriftlichen Tradition beruhende europäischwestliche Philosophie auf orale Traditionen, was entgegen manch anders lautender Ansicht Auswirkungen auf das gegenwärtige Philosophieverständnis hat. Das Fehlen schriftlicher Überlieferungen ist zunächst freilich erst einmal ein Grund dafür, dass man bis heute mit Blick auf die vorkoloniale Zeit allenfalls in Anführungszeichen von einer ›afrikanischen Philosophie‹ spricht. Die Verschriftlichung des Denkens ist zweifellos eine Voraussetzung für die Entwicklung einer modernen Philosophie, zumindest aber dafür, dass diese Philosophie auch kulturenübergreifend wahrgenommen wird. Tatsächlich beschränkt sich die Rolle der Schrift freilich nicht auf die Möglichkeit, das niedergeschriebene Denken zu verbreiten. An der Verschriftlichung hängt ganz wesentlich die Möglichkeit der kritischen Bezugnahme auf dieses Denken und damit zugleich die Möglichkeit, das eigene Denken gegenüber anderem abzugrenzen. Vor allem aber kann mündlich, d. h. ohne Schrift nur das überliefert werden, was einzelne erinnern - und das wird jeweils das sein, was für das aktuelle Denken noch von Bedeutung ist. So kann sich keine Geschichte des Denkens ausbilden. Hegel rechnet die Völker im sub-saharischen Afrika deshalb zu den geschichtslosen Völkern: »Was wir eigentlich unter Afrika verstehen, das ist das Geschichtslose und Unaufgeschlossene, das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist […].« 49 Wo es keine Geschichte gibt, kann es natürlich auch keine Philosophie geben, ist die Philosophie, Hegel zufolge, doch »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«. 50 Man mag diese Feststellung Hegels kritisieren und in ihr eine typisch europäische Haltung der Überlegenheit erkennen, wie dies etwa Neugebauer tut, 51 um sie aber widerlegen zu können, müsste man zeigen, dass Schrift keine Voraussetzung von Philosophie ist. In diesem Zusammenhang 49 Hegel 1970a, S. 129. 50 Hegel 1970b, S. 26. 51 Neugebauer 1989. <?page no="255"?> Sub-Sahara Afrika 255 wird gelegentlich auf Sokrates verwiesen, der Philosophie auch nur mündlich betrieben hat. Freilich wüssten wir heute nichts von Sokrates, hätte Platon ihn nicht zum Protagonisten seiner Dialoge gemacht. Vor allem aber würde es die mittlerweile über zweieinhalbtausend Jahre geführte kritische Reflexion auf das sokratische Denken nicht geben und folglich auch keine Entwicklung des philosophischen Denkens. Zumindest für das europäisch-westliche Verständnis von Philosophie ist die Schriftlichkeit deshalb unerlässlich. Im sub-saharischen Afrika aber gab es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Schrift. Erst zu Beginn des 20 . Jahrhunderts wurde damit begonnen, afrikanische Sprachen zu transkribieren. Etwa seit dem 10 . Jahrhundert gab es in einigen afrikanischen Reichen arabische Schriftgelehrte, die im Auftrag der Herrscher einzelne Schriftstücke verfasst haben. 52 Freilich hat dieser Brauch nicht zur Übernahme der arabischen Schrift oder gar zur Entwicklung eigener Schriftsprachen geführt. Eine eigene Schriftsprache gab es nur am Horn von Afrika (dem Reich von Axum, heutiges Äthiopien). Dort wurde schon früh die griechische Schrift verwendet, die dann um 400 n. Chr. vom Ge’ez abgelöst worden ist. Sumner, der sich sehr verdient gemacht hat um die Sammlung früher auf Ge’ez verfasster Schriftstücke, interpretiert einen Text, der vermutlich aus dem 5 . oder 6 . Jahrhundert stammt, als das älteste überlieferte Schriftstück der afrikanischen Philosophie. 53 Auch das Ge’ez hat sich aber nicht verbreitet, und so ist das sub-saharische Afrika bis ins frühe 20 . Jahrhundert hinein weitgehend schriftlos geblieben. Diese Tatsache hat dazu geführt, dass die Möglichkeit einer eigenständigen afrikanischen Philosophie lange Zeit geleugnet worden ist, und das auch dann noch, als nach der Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Staaten (zumeist um 1960 ) längst eigene Philosophie-Departments an verschiedenen afrikanischen Universitäten entstanden waren und sich zahlreiche afrikanische Autoren in philosophische Debatten einmischten. Dabei ist die Frage keinesfalls nur von außen aufgeworfen worden. Seit den siebziger Jahren des 20 . Jahrhunderts sind es vor allem afrikanische Denker, die nach den Kriterien von Philosophie fragen und diese in der kritischen, logisch vorgehenden und individuellen Autoren zuzuschreibenden Reflexion auf Grundfragen menschlicher Existenz finden. Darin spiegelt sich die europäisch-westliche Ausbildung dieser ersten Generation afrikanischer Philosophen wider. Hountondji, Wiredu, Bodunrin und viele andere haben deswegen lange Zeit ein Missverständnis darin gesehen, von einer spezifisch afrikanischen Philosophie zu sprechen. Ihrer Ansicht nach gab es in der Tradition der sub-saharischen Staaten keine Philosophie; die seit der Unabhängigkeit entstehende Philosophie in Afrika sollte sich deshalb ganz 52 Vgl. dazu Keita 1984. 53 Sumner 1982. <?page no="256"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 256 an der international etablierten Philosophie europäisch-westlicher Provenienz orientieren. 54 Hintergrund dieser rigorosen Haltung der eigenen Tradition gegenüber war (und ist gelegentlich bis heute) das Bestreben, sich deutlich gegen den Versuch westlicher Missionare und Ethnologen abzugrenzen, die verschiedenen religiösen und kosmologischen Vorstellungen afrikanischer Völker als nicht artikulierte philosophische Systeme darzustellen. Die Missionare und Ethnologen glaubten, den Menschen in Afrika ihre Stimme und ihre Fähigkeit zur logischen Argumentation leihen zu müssen, um die in diesen Vorstellungen implizierten Philosophien ans Licht zu holen. So lesenswert einzelne dieser Arbeiten sind, 55 so ist doch auch klar, dass in diesem Ansatz eine Geringschätzung der rationalen Fähigkeiten afrikanischer Völker lag, gegen die sich die jungen afrikanischen Intellektuellen der gerade erst unabhängig gewordenen afrikanischen Staaten geradezu wehren mussten. Eine Brücke zur afrikanischen Tradition hat dagegen schon früh Oruka zu schlagen versucht. Er hat 1974 begonnen, so genannte »sages« zu interviewen, das sind als Weise anerkannte, zumeist ältere Männer. Oruka hat ihre Lehren aufgeschrieben und sie anhand dieser Lehren in zwei Gruppen eingeteilt: 56 Zum einen die »folk sages« (Volksweisen), die viele überlieferte Weisheiten kennen und deshalb auch als Ratgeber aufgesucht werden, die aber keine eigenen Lehren verfassen oder überlieferte Lehren kritisch kommentieren; zum anderen die »philosophical sages« (philosophischen Weisen), die mit den Überlieferungen kritisch umgehen und ihre eigenen Überlegungen und Reflexionen weitergeben. Orukas Anliegen war es zu zeigen, dass es - in Gestalt der »philosophical sages« - auch im traditionellen Afrika immer schon Philosophie und Philosophen gegeben hat. Oruka zieht deshalb für die Unterscheidung von Volksweisen und philosophischen Weisen ganz bewusst mehr oder weniger dieselben Kriterien heran, die von den Kritikern einer eigenen afrikanischen Philosophie für die Kennzeichnung von Philosophie verwendet werden. Oruka argumentiert also dafür, dass es Philosophie im europäisch-westlichen Sinn 54 Vgl. dazu Wiredu 1980; Bodunrin 1981; Hountondji 1983. 55 Herausheben möchte die Arbeit des belgischen Missionars Tempels, der in den 1940er Jahren über das Denken der Bantu geschrieben und viel gesehen hat, das bis heute immer wieder aufgegriffen und diskutiert wird (Tempels 1956, franz. Original 1945). Freilich ist seine Arbeit auch ein Beispiel dafür, wie ein bestimmtes Ordnungsmuster von außen herangezogen und auf ein Denken angewandt wird, mit dem es nichts zu tun hat. Vgl. dazu Weidtmann 1998a, Kap. 7. 56 Oruka konnte sein Projekt nicht mehr zu Ende bringen und deshalb auch nur Teile publizieren. Für eine Einführung in das Projekt s. Oruka 1990. Ausführlich dokumentiert sind die Lehren des Weisen Oginga Odinga in Oruka 1992. <?page no="257"?> Sub-Sahara Afrika 257 auch schon in vorkolonialer Zeit in Afrika gegeben hat. Einen eigenen Begriff afrikanischer Philosophie entwickelt er dagegen nicht. Im deutschsprachigen Raum ist die Frage, ob es eine afrikanische Philosophie gibt, seit den 1980 er Jahren, vor allem aber seit dem Erscheinen von Kimmerles Philosophie in Afrika im Jahr 1991 diskutiert worden. 57 Kimmerle plädiert dafür, die Frage nach der Existenz einer eigenen afrikanischen Philosophie gelassen anzugehen. Er sieht, dass sich die afrikanische Philosophie im Spannungsfeld von Tradition und Moderne neu konstituieren muss, und versteht die kritischen Diskussionen um die Existenz einer afrikanischen Philosophie als Ausdruck dieses Konstitutionsprozesses. 58 Entsprechend plädiert er auch dafür, die vier Strömungen afrikanischer Philosophie, die Oruka unterscheidet, nicht gegeneinander auszuspielen. 59 Das sind: die Ethnophilosophie (damit sind in erster Linie die bereits erwähnten Berichte von Missionaren und Ethnologen gemeint), die philosophischen Weisheitslehren, die nationalistisch-ideologische Philosophie (die von mehreren afrikanischen Staatsgründern vertreten worden ist) und die professionelle akademische Philosophie. 60 Einen ganz anderen Weg als die oben genannten afrikanischen Philosophen der ersten Generation haben der senegalesische Historiker Diop und in seiner Nachfolge Keita, Olela und Obenga eingeschlagen. 61 Diop hat bereits in den 1950 er Jahren die These vertreten, Ägypten sei ursprünglich von Schwarzafrikanern bevölkert und beherrscht gewesen, zähle mithin eigentlich zum subsaharischen Afrika. Von der ägyptischen Hochkultur sei zudem das antike Griechenland stark beeinflusst worden, so dass sich letztlich die gesamte europäisch-westliche Kultur wesentlich schwarzafrikanischen Einflüssen verdanke. Diese These hat in jüngerer Zeit Bernal aufgegriffen; er versucht, den altägyptischen Einfluss auf Griechenland anhand einer Analyse der griechischen Sprache zu belegen. 62 Demnach gehen rund zwanzig Prozent des griechischen Vokabulars auf das Altägyptische zurück. Inzwischen ist es um diese Thesen wieder sehr viel ruhiger geworden, aber es ist klar, dass sich in den Arbeiten Diops ein eigenes afrikanisches Selbstbewusstsein ausdrückt, für das es eine abwegige Vorstellung ist, Philosophie nur vor dem Hintergrund der griechischen Grunderfahrungen betreiben zu können. 63 57 Kimmerle 1991. 58 Vgl. dazu auch Weidtmann 2010. 59 Kimmerle 1991, S. 34 ff. 60 Oruka 1981. 61 Harding und Reinwald 1990; Keita 1984. Olela 1984; Obenga 1990. 62 Bernal 1992. 63 Vgl. dazu Stenger 1996 (2). <?page no="258"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 258 In der Zwischenzeit hat sich, zumeist entlang einzelner Fragestellungen und Themenfelder, zunehmend der Versuch etabliert, genuin afrikanische Traditionen und überlieferte Überzeugungen in die Auseinandersetzung mit europäisch-westlicher Philosophie einzubringen und auf diese Weise eine eigene afrikanische Philosophie zu etablieren. Auch unter den bereits genannten afrikanischen Philosophen hat nach und nach ein Umdenken stattgefunden. Zumindest Wiredu hat seine ablehnende Haltung gegenüber einer philosophisch relevanten afrikanischen Tradition zwischenzeitlich teilweise revidiert und selber wichtige Beiträge zu einer afrikanischen Philosophie geleistet, die sich nicht mehr ausschließlich an westlichen Diskursen orientiert, sondern versucht, die afrikanischen Traditionen aufzunehmen und philosophisch fruchtbar zu machen. Es ist freilich entscheidend zu sehen, dass es dabei nicht um eine bloße Vermittlung von Tradition und Moderne gehen kann, sondern dass es um eine Auseinandersetzung mit der europäisch-westlichen Philosophie vor dem Hintergrund afrikanischer Grunderfahrungen bzw. der afrikanischen Grundphilosophie gehen muss, auch wenn diese gar nicht offen zu Tage liegt. Diese Auseinandersetzung gebiert eine afrikanische Philosophie, die nun nicht darin aufgeht, einfach einen Beitrag zur europäisch-westlichen Philosophie zu leisten, sondern die eine eigenständige Bedeutung von Philosophie hervorbringt. Zugleich hilft die Auseinandersetzung, die afrikanische Grundphilosophie zu klären, und fördert darum auch die Erneuerung von Grunderfahrungen, was angesichts der völlig veränderten postkolonialen und interkulturellen Situation, in der sich die afrikanischen Kulturen heute befinden, dringend geboten ist. Im Folgenden will ich am Beispiel von Wiredus Modell einer ›Konsensdemokratie‹ auf einzelne Aspekte dieser Auseinandersetzung kurz eingehen. Wiredu hat dafür plädiert, die Demokratien in afrikanischen Staaten südlich der Sahara dadurch zu stärken, dass sie auf ein Nichtparteiensystem aufbauen und konsensorientiert arbeiten sollen. 64 Das Prinzip des Konsenses entlehnt er der Lebenswirklichkeit vorkolonialer afrikanischer Gesellschaften (insbesondere der Gesellschaft der Ashanti im heutigen Ghana, der Wiredu selber zugehört). Es wird auch von anderen Autoren als Schlüssel für eine afrikanische Erneuerung der Demokratie herangezogen. Das Stichwort lautet ›Konsensdemokratie‹. 65 In Anlehnung an Busia 66 erläutert Wiredu, dass die Ashanti-Gesellschaft in so genannte »lineages«, das sind matrilinear organisierte Verwandtschaftsgruppen, gegliedert ist, die jeweils ein Oberhaupt haben, das in den Rat der Stadt oder des Dorfes entsandt wird. Dem Rat sitzt ein Mitglied 64 Wiredu 1996b. Vgl. auch Weidtmann 1998c. 65 Vgl. bspw. Wamba-dia-Wamba 1992 und 1997. 66 Busia 1951. <?page no="259"?> Sub-Sahara Afrika 259 der Königsfamilie vor. Dieses Muster wiederholt sich zwei weitere Male auf höheren Ebenen: Die Räte der Städte entsenden jeder ein Mitglied in den Bezirksrat und die Bezirksräte entsenden ihrerseits je einen Vertreter in den landesweiten Rat, dem der »Asantehene«, der König der Ashanti, vorsitzt. Das Besondere sieht Wiredu nun zum einen darin, dass die Bürger eines Landes nicht durch Interessengruppen, sondern sehr viel direkter durch Verwandtschaftsgruppen - und damit durch Gemeinschaften, die das tägliche Zusammenleben prägen - vertreten werden, und zum anderen darin, dass in den verschiedenen Räten keine Mehrheitsregierungen gebildet werden, sondern alle Beschlüsse im Konsens ausgehandelt werden. Der Vorsitzende eines Rates ist primus inter pares, kann aber nicht gegen den Rat regieren. Angesichts der schrecklichen Erfahrungen, die Afrika seit seiner Unabhängigkeit immer wieder mit ethnischen Konflikten gemacht hat, schlägt Wiredu allerdings nicht vor, zu dieser vorkolonialen Form der Machtausübung zurückzugehen, sondern bringt stattdessen ein Nichtparteiensystem ins Spiel, in dem Ratsmitglieder weder aufgrund ihrer ethnischen Abstammung noch wegen irgendeiner Parteizugehörigkeit gewählt werden. Stattdessen sollen die Ratsmitglieder unmittelbar die Meinung ihrer Wähler vertreten. Vor allem aber sollen sie keine Mehrheiten bilden, um regieren zu können, sondern stattdessen jede Entscheidung im Konsens treffen. Wiredu wendet sich mit seinem Vorschlag eines Nichtparteiensystems ausdrücklich auch gegen das Einparteiensystem, das in mehreren afrikanischen Staaten nach der Unabhängigkeit eingeführt worden ist und das berühmte Staatsgründer wie Nyerere in Tansania und Kaunda in Sambia mit dem Verweis auf die Tradition des Konsenses gerechtfertigt haben. Das Einparteiensystem ist immer wieder für die Machtsicherung einer einzelnen Ethnie missbraucht worden und deshalb in Misskredit geraten. Wiredu ist freilich klar, dass nicht in jedem Fall ein Konsens zu erreichen ist; er hält es jedoch für entscheidend, einen solchen grundsätzlich anzuzielen, weil sich nur so eine Alternative zur Durchsetzung des Mehrheitswillens aufweisen lässt. Den Konsens selbst charakterisiert er als gemeinsame Entscheidung, die getroffen wird, auch wenn die einzelnen Ratsmitglieder ihre unterschiedlichen Meinungen behalten. Der Konsens führt also nicht notwendiger Weise zu einer Einheitsmeinung, sondern lediglich zu einer gemeinsamen Entscheidung darüber, wie im Sinne des Allgemeinwohls gehandelt werden soll. Graness hat dieses Konsensmodell Wiredus der Diskursethik, wie sie vor allem von Apel und Habermas entwickelt worden ist, 67 gegenübergestellt. Um den Vergleich zu pointieren spricht sie von der Konsensethik Wiredus. 68 Vergleiche zwischen afrikanischer Konsensethik und westlicher Diskursethik fin- 67 Zur Diskursethik vgl. Kapitel 2.1.1. 68 Graness 1998. <?page no="260"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 260 den sich auch bei einigen afrikanischen Autoren, beispielsweise bei Ntumba und Bujo. 69 Graness zufolge liegt die entscheidende Differenz darin, dass Apel und Habermas vom »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« ausgehen, einen Konsens also dann als erreicht ansehen, wenn alle Diskursteilnehmer von der Richtigkeit einer Aussage überzeugt sind (und damit zugleich die Überlegenheit dieses Arguments über ihre eigenen Argumente anerkennen). Demgegenüber bedeutet Konsens bei Wiredu nicht, dass sich alle Diskursteilnehmer von der Richtigkeit eines Arguments überzeugen lassen, sondern meint eine Einigung, die nicht notwendigerweise zur Revision der verschiedenen partikularen Ansichten führt. Graness rückt den Begriff des Konsenses damit in die Nähe des Kompromisses, den alle akzeptieren, in dem die Diskursteilnehmer aber nicht zwangsläufig auch das rationalere bzw. wahrere Argument erkennen. Das trifft es aber nicht ganz. Wiredu spricht nämlich zur Begründung des Konsenses ausdrücklich davon, »that ultimately the interests of all members of society are the same, although their immediate perceptions of those interests may be different«. 70 Die Suche nach einem Konsens ist also von der Überzeugung geleitet, dass die Mitglieder einer Gesellschaft letztlich alle dieselben Interessen teilen. Worin, so fragt Eze, gründet diese Überzeugung? 71 Seine Vermutung ist, dass sie sich auf »gut gestaltete soziale, religiöse, mythologische oder auf die Ahnenverehrung bezogene Phantasien« stützt. Da sich diese »Phantasien« und »Mythologien« nicht länger aufrechterhalten lassen, müssten zur Stärkung einer Konsensdemokratie neue »Mythologien« erfunden werden. Eze selbst plädiert deshalb nicht für eine Konsensdemokratie, sondern dafür, die Rechte der Opposition sowie der verschiedenen gesellschaftlichen Minderheiten in einem an politischen Mehrheiten orientierten demokratischen Modell durch geeignete ›checks and balances‹ wirkungsvoll zu sichern. Das Konzept einer Konsensdemokratie, das Wiredu und mit ihm viele andere afrikanische Denker vertreten, lässt sich als der Versuch interpretieren, das europäisch-westliche Modell der Demokratie vor dem Hintergrund afrikanischer Grunderfahrungen aufzunehmen und neu zu interpretieren. Mit Blick auf eine genuin afrikanische Philosophie, die sich in der Auseinandersetzung mit europäisch-westlicher Philosophie herausbildet, muss uns an der Diskussion um eine Konsensdemokratie deshalb besonders interessieren, welche Grunderfahrungen hier sichtbar werden. Dabei geht es offensichtlich um die Erfahrung des Konsenses. Aber worin gründet sie? Fußt sie, wie Eze meint, tatsächlich auf vormodernen und heute überholten »Mythologien«? Oder ver- 69 Ntumba 1989; Bujo 1993. 70 Wiredu 1996b, S. 185. 71 Eze 1998. <?page no="261"?> Sub-Sahara Afrika 261 weist die Erfahrung des Konsenses auf tiefer liegende Grunderfahrungen, die vielleicht erneuert werden müssen (und sich dabei verändern), die aber immer noch lebendig sind? In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Wiredu darauf verweist, dass der Repräsentant einer Verwandtschaftslinie im Rat von Dorf oder Stadt nicht gewählt, sondern aufgrund seines hohen Alters, seiner Weisheit, seinem Verantwortungsbewusstsein und seiner Überzeugungskraft im Konsens bestimmt wird. Tatsächlich wird in der Regel »the most senior, but non-senile, member of the lineage« zum Führer und Repräsentanten bestimmt. 72 Das hohe Alter scheint eine besondere Rolle zu spielen; mit ihm geht Weisheit einher - eine Vorstellung, die wir aus unserer eigenen Gesellschaft so nicht mehr kennen. In der oralen Gesellschaft aber steht der älteste Vertreter einer Verwandtschaftsgruppe für deren soziales und kulturelles Gedächtnis. Er kann deshalb am ehesten für das etablierte Selbstverständnis der Gruppe sprechen. Es ist gewissermaßen so, dass der Älteste für den Konsens der Gruppe steht und deswegen nicht gewählt werden muss. Weiter berichten Wiredu und Busia, auf den Wiredu sich bei seinen Schilderungen häufig stützt, davon, dass sowohl der Vorsitz des Rates einer Stadt als auch der Vorsitz des Bezirksrats und schließlich der Vorsitz des landesweiten Rates von Vertretern der Königsfamilie wahrgenommen werden. Und das deshalb, weil sie es sind, die die Verbindung zu den Ahnen halten. Tatsächlich hat das Wort der Ahnen ein großes Gewicht. Im traditionellen Palaver, in dem ein Konsens gesucht wurde, kam Äußerungen, die sich auf die Autorität der Ahnen berufen konnten, besondere Bedeutung zu. Das hat nichts Mythologisches an sich, sondern macht deutlich, dass auch in einer oralen Gesellschaft die Überlieferung von früheren Erfahrungen und Einsichten eine wichtige Rolle spielt. Im Palaver wurde um eine gemeinsame Haltung gerungen. Gewonnen werden konnte sie nur, weil sich die am Palaver Beteiligten auf einen gemeinsamen Prozess eingelassen haben. Wie bei jedem guten Gespräch bleibt es auch beim Palaver nicht beim bloßen Austausch von Meinungen, sondern es kommt ein Geschehen in Gang, das die einzelnen Sprecher mitnimmt, so dass diese mit der Zeit auf den Fortgang des Gesprächs antworten und nicht mehr nur ihre eigenen vorgefertigten Positionen vertreten. Die Sache, um die es im Palaver geht, ist nun einerseits immer die aktuelle Fragestellung, die eine gemeinsame Antwort erfordert; andererseits aber auch die Gemeinschaft der Redenden selbst. 73 »La palabre est donc une lutte qui doit restaurer l’unité de la communauté.« 74 Beiträge, die diese Gemeinschaft besonders stärken, wie es etwa der Verweis auf die gemeinsame Tradition in Gestalt des Wortes der Ahnen tut, wiegen deshalb besonders 72 Wiredu 1996b, S. 184. 73 Vgl. dazu Weidtmann 1998a, Kap. 8 b. 74 Wamba-dia-Wamba 1985. <?page no="262"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 262 schwer. Dem Wort der Ahnen kommt gewissermaßen ein Expertenstatus zu - und das weder aus Traditionshörigkeit noch deswegen, weil den Ahnen höhere Intelligenz zugeschrieben wird; vielmehr werden in einer oralen Kultur nur diejenigen Ansichten über Generationen weitergegeben, die für das Selbstverständnis der jeweils gegenwärtigen Gemeinschaft von hoher Bedeutung sind. Und sie werden auch nur in der Form tradiert, in der sie für die gegenwärtige Gemeinschaft wichtig sind. In den Überlieferungen drückt sich also das Selbstverständnis der Gemeinschaft aus. Das ist der eigentliche Grund dafür, dass dem Wort der Ahnen so großes Gewicht zukommt. Zugleich ist das der Grund dafür, dass die Beiträge der Älteren wichtiger genommen werden als diejenigen jüngerer Mitglieder der Gemeinschaft. Der Konsens wird nicht dadurch erzielt, dass die verschiedenen Ansichten durch einen Kompromiss zu vermitteln gesucht werden. Vielmehr werden die verschiedenen Redner im Streitgespräch an das gemeinsame Selbstverständnis erinnert und ihre Ansichten auf den Erhalt bzw. die Erneuerung dieses Selbstverständnisses verpflichtet. Es wird also eine gemeinsame Sicht der Dinge angestrebt, dadurch dass die Sache, um die es im Streitgespräch geht, von der persönlichen auf die gemeinschaftliche Ebene gehoben wird. Der ›Con-sensus‹ meint zunächst diesen Gemeinsinn, dem sich die einzelnen trotz ihrer verschiedenen Ansichten auf der persönlichen Ebene alle verpflichtet fühlen. Das meint Wiredu, wenn er davon spricht, dass sich im Streitgespräch »letztlich« die allen Beteiligten gemeinsamen Interessen aufdecken lassen. Freilich zeigt dies zugleich, dass das Konsensmodell nicht von den Lebensgemeinschaften, in denen die Menschen zusammenleben und für die sie mit der Zeit ein eigenes Selbstverständnis ausbilden, losgelöst werden kann. Das Nichtparteiensystem muss sich zwar nicht notwendigerweise auf die Ethnien berufen, aber es muss sich auf real existierende Lebensgemeinschaften stützen können. Das bringt uns zurück zur Oralität vorkolonialer afrikanischer Gesellschaften, die wir eingangs dafür verantwortlich gemacht haben, dass es in diesen Gesellschaften keine mit der europäisch-westlichen Tradition vergleichbare Philosophie gegeben hat. Nun sieht es so aus, als sei das Fehlen von Schriftlichkeit auch die Ursache für die Bedeutung der Ahnen und die Fähigkeit der vorkolonialen Gesellschaften, einen Konsens zu erzielen. Das aber greift deutlich zu kurz, liegt darin doch nur eine negative Erklärung, die die vorkolonialen Gesellschaften als defizitär darstellt. Aus westlicher Sicht fehlt diesen Gesellschaften der ganze Bereich geschichtlicher Ausdifferenzierung und Entwicklung; dadurch dass es immer um das Ganze geht, kann sich dieses Ganze gar nicht eigens entfalten. Das ist es, was Hegel meint, wenn er von der »Geschichtslosigkeit« und der damit verbundenen »Natürlichkeit« afrikanischer Kulturen <?page no="263"?> Sub-Sahara Afrika 263 spricht. Die Oralität ist aber nicht nur ein Defizit und taugt darum auch nicht dazu, die Fähigkeit zur Konsensfindung als Folge dieses Defizits zu erklären. Es ist umgekehrt so, dass die orale Struktur der vorkolonialen Gesellschaften im sub-saharischen Afrika deren Selbst- und Weltverständnissen in anderen Bereichen sehr gut entspricht. Die positive Erfahrung, die in der Konsensfindung liegt, ist die Erfahrung der Mehrdimensionalität der Lebenswirklichkeit. Die Einigung kommt eben nicht dadurch zustande, dass ein Kompromiss gefunden wird; der Konsens steht aber auch nicht für die ›wahre‹ Äußerung, durch die alle anderen Äußerungen hinfällig werden. Vielmehr steht der Konsens für den Durchbruch in die gemeinschaftliche Dimension der Lebenswirklichkeit. Die Bedeutung dieser gemeinschaftlichen Lebenswirklichkeit ist im afrikanischen Kontext vielfach betont worden. »Umuntu ngumuntu ngabantu«, so lautet ein bekanntes afrikanisches Sprichwort, das Shutte zum ersten Mal zitiert hat und das in diesem Kontext seither immer wieder zitiert wird. 75 Übersetzen lässt es sich in etwa mit ›Ich bin, weil wir sind‹. Das ist häufig so verstanden worden, dass das ›Wir‹ in afrikanischen Gesellschaften an die Stelle des ›Ich‹ in europäischwestlichen Gesellschaften tritt. 76 Das ist aber gar nicht gemeint, Ich und Wir dürfen in keiner der beiden Traditionen gegeneinander ausgespielt werden. Gyekye etwa macht darauf aufmerksam, dass dem Individuum im afrikanischen Denken eine ebenso wichtige Rolle zukommt wie der Gemeinschaft. 77 Das entscheidende Moment liegt nicht in der Gemeinschaft selbst, sondern in der Erfahrung des Durchbruchs in eine neue Dimension der menschlichen Lebenswirklichkeit. In einem solchen Durchbruch erfährt sich der Einzelne als von der Gemeinschaft getragen, er hat Teil an einem Geschehen, das ihn bei Weitem übersteigt und ihn doch durch und durch bestimmt. Darin liegt die Erfahrung des Gegebenseins, das ist die Erfahrung der eigenen Wirklichkeit (vgl. dazu Kapitel 4 . 3 ). Es ist nun aber nicht so, dass die Dimension der Gemeinschaft als die ›wahrere‹ im Unterschied zur individuellen Dimension verstanden würde. Die Annahme einer ontologischen Differenz zwischen diesen Dimensionen geht an der Erfahrung, die in vielen afrikanischen Gesellschaften bis heute sehr lebendig ist, völlig vorbei. Das entscheidende Moment dieser Erfahrung liegt nicht in der faktischen Gemeinschaft, sondern darin, dass der Einzelne sich von der gemeinschaftlichen Dimension getragen fühlt und aus ihr Kraft für sein eigenes Leben bezieht. Dementsprechend drängt auch die Dimension der Gemeinschaft auf den Durchbruch in eine weitere Dimension, von der her sie sich als an einem 75 Shutte 1990 und 1993, S. 46. 76 So z. B. bei Ntumba 1989. 77 Gyekye 1987 und 1996. <?page no="264"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 264 größeren Geschehen teilhabend erfahren kann. Dies ist zunächst die Gemeinschaft mit den Ahnen sowie den noch nicht Geborenen. Die Gemeinschaft macht die Erfahrung, an einem Geschehen teilzuhaben, das sie selbst nur in der Gegenwart repräsentiert, das sie aber übersteigt und aus dem sie ihre eigene Kraft ziehen kann. Und auch die Gemeinschaft mit den Ahnen und noch nicht Geborenen wird ein weiteres Mal überstiegen hin auf die Gemeinschaft mit dem Göttlichen, in dem so etwas wie das ursprüngliche Lebensprinzip und die ursprüngliche Quelle aller Lebenskraft gesehen und das deshalb gelegentlich als Urahn angesprochen wird. Keine dieser Dimensionen darf als umfassend, letztgültig, wahr oder dergleichen verstanden werden. Es geht zu keinem Zeitpunkt darum, zu höherer Wahrheit oder zum eigentlichen Sein aufzusteigen. Stattdessen geht es auf jeder Ebene darum, die Wirklichkeit der jeweiligen Lebensdimensionen dadurch zu erfahren, dass sie auf weitere hin überstiegen werden. Die Grunderfahrung, die sich darin andeutet, ist eine ekstatische. Ekstase meint hier nicht das ›Über-sich-hinaus-in-die-Welt-hinein-stehen‹, als welches Heidegger das menschliche Dasein beschreibt. Das »In-der-Welt-sein« ist die Struktur des menschlichen Daseins in einer einzelnen Dimension. Im afrikanischen Kontext bedeutet Ekstase das Überschreiten der Dimension des menschlichen Daseins auf weitere Dimensionen hin; es geht in ihr um die Erfahrung von Mehrdimensionalität. Offensichtlich wird solche Ekstase beispielsweise in rituellen Tänzen, in denen die Ahnen und Gottheiten herbeigerufen werden und schließlich von Einzelnen Besitz ergreifen, durch die sie dann zu den anderen sprechen. Solche Ekstase ist keine bloße Phantasie; vielmehr drückt sich in der Ekstase auf zugespitzte Weise die von allen geteilte Erfahrung aus, dass das einzelne Leben seine Kraft aus der Teilhabe an weiter ausgreifenden Dimensionen bezieht. Die Ekstase führt tiefer in die Wirklichkeit hinein, in ihr gewinnt das Leben seine Kraft. Auch die Bedeutung der Gemeinschaft erschließt sich von diesem ekstatischen Zug der afrikanischen Grunderfahrung her. Das Leben kann in der Erfahrung der Mehrdimensionalität der Lebenswirklichkeit Kraft gewinnen, weil Leben - wie wir in Kapitel 4 . 6 gesehen haben - Selbsterneuerung der Wirklichkeit im Umschlag von der einen in die andere Dimension bedeutet. Der Begriff der Lebenskraft taucht schon in Tempels Arbeit über die Philosophie der Bantu aus dem Jahr 1945 auf (vgl. dazu Anm. 55 ) und ist seither vielfach diskutiert und kritisiert worden. Tatsächlich macht Tempels den Fehler, den Begriff der Lebenskraft mit dem des Seins in der europäisch-westlichen Tradition zu analogisieren. 78 So kommt es, dass er den unterschiedlichen Di- 78 Vgl. dazu Weidtmann 1998d. <?page no="265"?> Sub-Sahara Afrika 265 mensionen, die als Lebenskraft spendend erfahren werden, schlicht eine höhere Lebenskraft zuspricht und auf diese Weise die gesamte Wirklichkeit als ein System gestaffelter Lebenskräfte darstellt. Damit wird die Erfahrung verdinglicht und es sieht so aus, als handele es sich um eine primitive Form der Wirklichkeitsbeschreibung. Eine solche Verdinglichung der Erfahrung findet sich gelegentlich auch in den afrikanischen Gesellschaften selbst. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Ethnien. Traditionell war es natürlich so, dass die engsten Verwandten auf einem Hof zusammengelebt haben und dass auch die Menschen eines Dorfes in einem vergleichsweise engen Verwandtschaftsverhältnis zueinander standen. Das Beispiel der Ashanti, das Wiredu gibt, zeigt, dass die verschiedenen Dimensionen der Lebensgemeinschaft (Familie, Dorf, Region, Land) früher in etwa den Verwandtschaftsverhältnissen entsprachen. Die tatsächliche Blutsverwandtschaft ist aber für die Konstitution einer Gemeinschaft gar nicht wichtig; es geht nur um die gemeinsamen Erfahrungen, die gemeinsamen Überlieferungen, die gemeinsamen Überzeugungen und Werte. Solche Gemeinsamkeiten werden im Zusammenleben ausgebildet, unabhängig davon, ob die Menschen miteinander verwandt sind oder nicht. Da die Ethnien früher aber de facto eine Dimension solch gelebter Gemeinschaftlichkeit dargestellt haben, konnte sich das Missverständnis etablieren, die Zugehörigkeit zur gleichen Ethnie spiele eine entscheidende Rolle. 79 Dieses Missverständnis ist von den Kolonialmächten bestärkt worden, indem sie mit einzelnen Ethnien kooperiert und diese begünstigt haben, um andere zu unterdrücken. Seit der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten ist es deshalb immer wieder dazu gekommen, dass die Macht im Staat entlang ethnischer Zugehörigkeit aufgeteilt wurde. Das hat seither wiederholt zu fürchterlichen Auseinandersetzungen und Kriegen geführt. Heute taucht der Begriff der Lebenskraft in verschiedenen afrikanischen Kulturen in Gestalt des Ubuntu-Konzepts von neuem in der philosophischen Auseinandersetzung auf. 80 Ubuntu ist ein Begriff aus den Nguni-Sprachen, die im südlichen Afrika weit verbreitet sind. Tatsächlich wird Ubuntu heute besonders in Südafrika intensiv diskutiert. Der Begriff steht seit dem Ende der Apartheid und den ersten freien Wahlen Südafrikas im Jahr 1994 für die Suche nach einer eigenen afrikanischen bzw. südafrikanischen Identität. Sowohl der Begriff als auch das Konzept, das mit diesem Begriff verbunden wird, sind aber sehr viel weiter verbreitet. ›Ntu‹ bedeutet in vielen Bantu-Sprachen, zu denen auch die Nguni-Sprachen zählen, so etwas wie Lebenskraft. Die Endung findet sich bei- 79 Vgl. Weidtmann 2002. 80 Besonders einflussreich war das Buch von Ramose 1999; s. außerdem Ramose 1998. Für eine Kritik an Ramose s. van Binsbergen 2001. <?page no="266"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 266 spielsweise im Wort für ›Mensch‹, ›muntu‹, Plural ›bantu‹. ›Ubu‹ steht für eine Form der Verallgemeinerung bzw. Abstraktion; es bedeutet soviel wie die Gesamtheit aller Dinge. Ubuntu meint also so etwas wie die Universalisierung der Lebenskraft. Es wird freilich zumeist mit Menschlichkeit, also der Universalisierung dessen, was den Menschen zum Menschen macht, übersetzt und dann als Ausdruck der besonderen Bedeutung, die der Gemeinschaft in afrikanischen Gesellschaften zukommt, verstanden. Ramose etwa interpretiert Ubuntu entlang dreier Sprichwörter, die besagen, dass der Mensch erst in seinen Beziehungen zu anderen wahrhaft Mensch wird, das Wohlergehen anderer wichtiger ist als persönlicher Reichtum und der König seine Autorität den Menschen verdankt. Das Konzept der Menschlichkeit, mit dem Ubuntu verknüpft wird, ist immer wieder dem vermeintlich europäisch-westlichen Konzept eines uneingeschränkten und kompetitiven Individualismus gegenübergestellt worden. Dagegen hat sich Kimmerle gewandt, der den Kommunalismus in afrikanischen Gesellschaften zwar für stärker ausgeprägt hält, ihn aber nicht gegen den Individualismus ausspielen will. 81 Unabhängig davon, ob man die größere Rolle, die die Gemeinschaft in afrikanischen Gesellschaften spielt, dem Individualismus entgegensetzt oder nicht, bleibt der entscheidende Punkt ungesehen. Ubuntu meint nicht die Verallgemeinerung irgendeiner vagen Form von Menschlichkeit (die zumeist recht unbestimmt als eine Art ›Gutmenschentum‹ verstanden und dann den europäisch-westlichen Menschenverständnissen entgegengesetzt wird, so als gäbe es das Ideal des guten Menschen in dieser Tradition nicht), sondern die Universalisierung der Erfahrung, die im Durchbruch in die gemeinschaftliche Dimension gemacht wird. Die Erfahrung, dass das eigene Leben dadurch getragen wird, dass es am gemeinschaftlichen Leben teilhat, wird auf alle Lebensbereiche und auf alle Lebensdimensionen übertragen. Das Leben zieht seine Kraft grundsätzlich aus der Teilhabe an weiter ausgreifenden Dimensionen. Zugleich bedeutet dies, dass diese weiter ausgreifenden Dimensionen im Leben des Menschen immer mit auf dem Spiel stehen. Es geht in jedem Moment um das Leben im Ganzen. Im Unterschied zur Entdeckung von Welt und Universalität im antiken Griechenland, betont das Konzept des Ubuntu also eher die gelebte Wirklichkeit, die den Einzelnen weniger in der Welt als vielmehr in zahlreichen vermittelnden Lebensgemeinschaften verortet. Daraus ergeben sich zwei zumindest für das Verständnis der vorkolonialen afrikanischen Lebenswirklichkeit wichtige Konsequenzen. Zum einen bedeutet ein Missgeschick, das dem Einzelnen widerfährt, zugleich eine Störung des 81 Kimmerle 2007. <?page no="267"?> Sub-Sahara Afrika 267 Lebens in der gemeinschaftlichen Dimension, an der der Einzelne teilhat. Diese Störung muss behoben werden. In den vorkolonialen Gesellschaften wurden sowohl selbst verschuldete Vergehen, etwa ein Diebstahl, als auch dem Einzelnen widerfahrenes Unheil, beispielsweise eine Krankheit, als Bedrohungen für die Gemeinschaft angesehen. Dementsprechend reichte es nicht aus, den Einzelnen zu bestrafen oder zu heilen, er musste in einem rituellen Akt auch von neuem in die Gemeinschaft aufgenommen werden. Ein prominentes modernes Beispiel für dieses Vorgehen findet sich in der Einsetzung einer »Truth and Reconciliation Commission« ( TRC ) durch Präsident Mandela im Jahr 1996 . Diese Wahrheits- und Versöhnungskommission, der Bischof Tutu vorsaß, sollte das seit 1960 begangene Unrecht aufarbeiten und die Gesellschaft allein durch die Offenlegung der Wahrheit versöhnen helfen. Die Personen, die bereit waren, vor der Kommission auszusagen und so zur Wahrheitsfindung beizutragen, wurden nicht strafrechtlich belangt, die Opfer wurden finanziell entschädigt. Die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission wird immer wieder mit dem Ubuntu-Konzept in Verbindung gebracht. Graness macht darauf aufmerksam, dass Ubuntu in der Übergangsverfassung Südafrikas aus dem Jahr 1993 ausdrücklich zur Rechtfertigung der Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission genannt wird: »Diese können nur auf der Grundlage angegangen werden, dass es ein Bedürfnis nach Verstehen gibt, aber nicht nach Rache, ein Bedürfnis nach Wiedergutmachung, aber nicht nach Vergeltung, ein Bedürfnis nach ubuntu, aber nicht nach Viktimisierung.« 82 Die Wahrheits- und Versöhnungskommission hat nun freilich nicht darauf gehofft, dass den geständigen Tätern vergeben wird, nur weil sie zur Gemeinschaft Südafrikas gehören und die Gemeinschaft wichtiger ist als das Individuum. Sie hat sich stattdessen von der Überzeugung leiten lassen, dass die Wiederherstellung der Gemeinschaft dadurch, dass die Wahrheit ans Licht kommt, sowohl für die Opfer wie für die Täter wichtiger ist als die individuelle Bestrafung und Vergebung. Die Offenlegung der Wahrheit dient gleichsam als ein ritueller Akt, der die Täter wieder in die Gemeinschaft integriert; sie ermöglicht es der Gemeinschaft, mit den Verbrechen umzugehen. Damit ermöglicht sie auch erst Versöhnung. Es ist also nicht so, dass die Gemeinschaft wiederhergestellt wird, weil die Opfer den Tätern vergeben; vielmehr ist es umgekehrt so, dass sich Opfer und Täter (vermutlich in einem langwierigen Prozess) miteinander versöhnen, weil die Störung der Gemeinschaft beseitigt und die Gemeinschaft in einem gleichsam rituellen, öffentlichen Akt wiederhergestellt wird. 82 Constitution of the Republic of South Africa Act 200 of 1993, zitiert nach Graness 2016. <?page no="268"?> Philosophische Begegnung der Kulturen 268 Allerdings sehen viele Südafrikaner/ innen den Erfolg der TRC kritisch. Das hängt zum einen daran, dass nur ein Bruchteil der Wahrheit tatsächlich ans Licht gekommen ist, die Versöhnung heute aber dennoch mehr oder weniger vorausgesetzt wird. Zum anderen hat sich die TRC an eine Vielzahl verschiedener Kulturen, die in Südafrika zusammenleben, gerichtet, und besonders offensichtlich natürlich sowohl an Weiße wie an Schwarze. Nicht in all diesen Kulturen aber ist das Konzept des Ubuntu verankert. So haben viele Südafrikaner/ innen den Verdacht, dass sich vor allem (aber nicht nur) weiße Personen durch ihre Beteiligung an der TRC mehr freigekauft haben, als dass sie sich durch die TRC der Wiederherstellung der Gemeinschaft aller in Südafrika lebenden Volksgruppen verpflichtet gefühlt haben. Der schwerwiegendste Einwand betrifft aber vielleicht die Tatsache, dass die Wiederherstellung der Gemeinschaft durch die Offenlegung der Wahrheit voraussetzt, dass es die wiederherzustellende Gemeinschaft vorab bereits gegeben hat. Das Konzept des Ubuntu bezieht sich auf die Erfahrung der Mehrdimensionalität tatsächlich gelebter Gemeinschaftlichkeit; es ist kein regulatives Prinzip zur Konstitution neuer Gemeinschaften. Eine Gemeinschaft aller in Südafrika lebender Volksgruppen hat es so aber vor der Apartheid gar nicht gegeben. Der zweite Aspekt, der aus dem skizzierten Verständnis von Ubuntu folgt, betrifft das Verständnis von Philosophie. Die überlieferte Philosophie, d. h. die Philosophie der vorkolonialen Gesellschaften besteht aus Weisheitslehren. Diese drücken keine allgemeinen Wahrheiten aus, die dem Menschen helfen, sich selber und die Welt besser zu verstehen, sondern sie beziehen sich grundsätzlich auf konkrete Situationen, in denen Menschen Rat suchen. 83 Dabei versuchen die Lehren dadurch zu helfen, dass sie die konkrete Situation des Ratsuchenden in einer weiter ausgreifenden Dimension verorten und dem Ratsuchenden so die Erfahrung von Halt und Sinn ermöglichen. Das kann durch den Rückbezug der konkreten Situation auf das Leben des Ratsuchenden im Ganzen oder auf die Dimension der Gemeinschaft oder auch auf die Dimension der Natur erfolgen. Entscheidend ist, dass die Weisheitslehren eine »Übersetzungsfunktion« wahrnehmen, die den Ratsuchenden nicht belehrt, sondern ihm hilft, seine Situation in eine andere Dimension zu übersetzen und so in einem neuen Licht zu sehen. 84 Die Weisheitslehren dienen dazu, einzelne Situationen, die als schwierig oder gar aussichtslos wahrgenommen werden und den Einzelnen deshalb ganz gefangen nehmen, in die Vielschichtigkeit des Lebens und der Lebenswelt zurückzustellen und den Ratsuchenden dadurch zu ermöglichen, die konkreten Situationen als Momente eines größeren Ge- 83 Kimmerle 1993. 84 Ich habe das in einem Aufsatz etwas genauer ausgeführt. Weidtmann 1998b. <?page no="269"?> Sub-Sahara Afrika 269 schehens zu sehen und sie von dorther neu zu beurteilen. Die Weisheitslehren vermitteln also kein besonderes Wissen, sondern unterstützen die Erneuerung der Grunderfahrung, durch die Teilhabe an einem über-individuellen Geschehen getragen zu sein und Kraft für das eigene Leben zu bekommen. In den traditionellen Weisheitslehren steckt deshalb so etwas wie eine Heilkunst des Ubuntu. Die orale Struktur der vorkolonialen Gesellschaften passt dazu sehr gut. Mündliche Überliefrungen erlauben keine hermeneutische Auslegung des in ihnen Gesagten. Sie rufen stattdessen die gemeinsamen Tiefenschichten einer Gemeinschaft in Erinnerung, denen der Einzelne verpflichtet ist und von denen er zugleich getragen wird. Mündliche Überlieferungen können kaum zum besseren Verständnis einer konkreten Lebenssituation beitragen, sie können dieser Situation aber durch die Erinnerung an die gemeinschaftlichen Tiefenschichten einen Platz in der Mehrdimensionalität der Lebenswelt zuweisen. 85 Die Erfahrung der Mehrdimensionalität begegnet einem im vorkolonialen Afrika überall. Beispiele sind etwa die Initiationsriten, mit denen Jugendliche in das Erwachsenenleben aufgenommen werden. Solche Initiationsriten haben sich in allen Kulturen erhalten, in den vorkolonialen afrikanischen Gesellschaften aber haben sie zweifellos eine besonders große Rolle gespielt. Auch die Maskentänze stehen für die Erfahrung der Mehrdimensionalität der Lebenswirklichkeit. Ähnliches kann man für die Musik und für zahlreiche andere Lebensbereiche zeigen. 86 Heute arbeiten die Philosophinnen und Philosophen in den afrikanischen Kulturen zumeist schriftlich. Die orale Struktur der Gesellschaften ist mit der Einführung von Schriftsprachen aber nicht verloren gegangen; bis heute spielt die Mündlichkeit in afrikanischen Gesellschaften eine größere Rolle als in europäisch-westlichen Gesellschaften (in denen sie selbstverständlich auch eine wichtige Rolle spielt). Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass die Mündlichkeit sehr gut zu der hier beschriebenen Erfahrung der Mehrdimensionalität der Wirklichkeit passt. Die moderne afrikanische Philosophie greift diese Erfahrung auf und bringt sie in ihre Auseinandersetzung mit der europäischwestlichen Philosophie ein. Das zeigen exemplarisch die Beispiele einer Konsensethik und des Ubuntu. 85 Ebd., S. 81. 86 Vgl. Weidtmann 1998a, Kap. 8. <?page no="270"?> Literatur al-Fārābī (2005): Über die Wissenschaften. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Franz Schupp, Hamburg. al-Ghazālī (1988): Der Erretter aus dem Irrtum. Übersetzt und eingeleitet von Abd-Elsamad Abd-Elhamīd Elschazlī, Hamburg. al-Jabri, Mohammed A. (2009): Kritik der Arabischen Vernunft - die Einführung. Übersetzt von Vincent von Wroblewsky und Sarah Dornhof, Berlin. al-Kindī (2011): Die erste Philosophie. Arabisch-Deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Anna Akasoy, Freiburg. as-Suhrawardī (2011): Philosophie der Erleuchtung. Übersetzt und herausgegeben von Nicolai Sinai, Berlin. Antoni, Klaus und Alfred Nordheim (Hg., 2013): Grenzüberschreitungen. 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Bonsiepen, Wolfgang 146 Braun, Ina 50 Buber, Martin 88 Buchner, Hartmut 206 Bujo, Bénézet 260 Busia, Kofi A. 258, 261 Connolly, Tim 69-71 Corbin, Henry 250 Cusa, Nicolai de 139, 244 De Waal, Frans 54 Denker, Alfred 206 Derrida, Jacques 29, 90 Descartes, René 15, 79, 139-143, 147, 158 f., 172, 178, 189, 195, 222, 244 f. Diels, Hermann 126 f., 182 Dilthey, Wilhelm 16, 51 Diop, Cheikh Anta 257 Droysen, Johann G. 51 Eckhart, Meister 134 Eichner, Heidrun 239 Elberfeld, Rolf 68, 71, 227 Elm, Ralf 46 Eze, Emmanuel Chukwudi 260 Fichte, Johann G. 77, 118, 157 Foucault, Michel 90, 159 Frege, Gottlob 146 Freud, Sigmund 90 Gabriel, Markus 197 Gadamer, Hans-Georg 52, 83-86, 88, 149, 151, 153, 179 Galilei, Galileo 139 Gauguin, Paul 116 Gmainer-Pranzl, Franz 63, 65 Gosepath, Stefan 212 Gould, Stephen J. 54 Graness, Anke 259, 267 Gutas, Dimitri 236-238, 245 Gyekye, Kwame 263 Habermas, Jürgen 53, 61-64, 66, 73, 117, 159, 259 Halbfass, Wilhelm 71 Hanafi, Hasan 248, 253 Harding, Leonhard 257 Hegel, Georg W. F. 16, 77, 79, 88, 118, 146, 157, 254, 262 Heidegger, Martin 17, 83, 90-92, 99, 132, 155 f., 159, 162, 167, 172-174, 176, 178, 188, 194, 199-201, 203, 206, 220 f., 234 f., 264 Heinisch, Heiko 216 <?page no="282"?> Personenregister 282 Held, Klaus 11, 58, 65, 81-83, 111, 126 f., 129, 131, 133, 162, 220 Hendrich, Geert 243, 252 f. Heraklit 10, 111, 126 f., 135, 167, 173, 192 Herder, Johann G. 26, 33, 61, 146 Hochkeppel, Willy 69 Hölderlin, Friedrich 204 Holenstein, Elmar 53 f. Homer 123, 132, 224 Horkheimer, Max 159 Horten, Max 243 Hountondji, Paulin J. 255 f. Humboldt, Wilhelm v. 14, 26, 50, 61, 68, 146 Huntington, Samuel P. 191 Husserl, Edmund 11, 77-83, 85, 90 f., 93-95, 97, 103, 108, 118, 131, 147-150, 152 f., 155, 178, 198, 206 f., 222 f. ibn al-Arabī 251 ibn Bādjdja 247 ibn Khaldun 238 ibn Rušd 237 f., 247 f., 253 ibn Sīnā 237 f., 243-246, 248-251, 253 ibn Tufaīl 237 f., 247 Jaspers, Karl 65, 129, 224 Johardelvari, Abdolamir 252 Kadowaki, Shunsuke 206 Kamali, Sabih A. 238, 246 Kant, Immanuel 47, 55, 57-61, 64, 67, 97, 117, 135, 143, 145-148, 153, 167, 172, 183, 197, 199, 220, 229 Kaunda, Kenneth 259 Keita, Lancinay 255, 257 Keller, Gottfried 136, 169 Kepler, Johannes 139 Kimmerle, Heinz 41, 88-90, 257, 266, 268 Kopernikus, Nikolaus 139 Kranz, Walther 126 f., 182 Kurtoğlu, Zerrin 236 Langenohl, Andreas 31 Lévinas, Emmanuel 29, 41, 91-93, 98 f., 101, 153-155, 157 Lévi-Strauss, Claude 19 Linné, Carl v. 55 Lohmann, Georg 212 Lohmar, Dieter 81 Luther, Martin 134 Mall, Ram A. 54, 82 f., 86, 88 Mandela, Nelson 267 McGinnis, Jon 239 Meigs, Anna S. 56 Meng Zi 54 Menke, Christoph 212 f. Merleau-Ponty, Maurice 91, 93, 113 f. Mulla Sadra 251 Neugebauer, Christian 254 Newton, Isaac 140, 142 Nietzsche, Friedrich 90 Nishida, Kitaro 206, 227, 234 Nishitani, Keiji 48, 206, 227-233 Ntumba, Marcel Tshiamalenga 260, 263 Nussbaum, Martha 25 Nyerere, Julius 259 Obenga, Théophile 257 Ohashi, Ryosuke 174, 206, 226 f., 232, 235 Olela, Henry 257 Ortiz, Fernando 31 Oruka, Henry Odera 256 f. Parmenides 128, 172, 182 f., 192 Pascal, Blaise 189 Paul, Gregor 53 Perkams, Matthias 239 Picasso, Pablo 116 Platon 12, 57, 88, 111, 123, 125, 129, 132, 167, 192, 221, 239, 255 Pollmann, Arnd 212 f. Poole, Ralph 31 Ptolemäus, Claudius 139 Rahman, Fazlur 251 Ramose, Mogobe B. 265 f. <?page no="283"?> Personenregister 283 Reichardt, Dagmar 31 Reisman, David C. 239 Rilke, Rainer M. 155 f. Röhrig, Margarete 202 Rombach, Heinrich 12, 44 f., 48, 65, 93, 99, 102, 105, 113, 119, 126, 129 f., 135 f., 138 f., 158 f., 165, 171, 184, 188 f., 193 f., 201-204, 207-209, 217 Rorty, Richard 27, 53, 66 Rudolph, Ulrich 244, 250 Sartre, Jean-Paul 17, 93 Schäfer, Christian 239 Scheler, Max 170 Schelling, Friedrich W. J. 203 Schleiermacher, Friedrich D. E. 83 Scholz, Nina 216 Schupp, Franz 242 Sen, Amartya 20 Seubert, Harald 159 Shutte, Augustine 263 Sloterdijk, Peter 123 f. Stenger, Georg 13, 28, 42, 51, 75, 88, 105, 108 f., 113, 116, 125, 132, 155, 159, 203, 205 f., 213, 216, 218 f., 235, 257 Strauss, Leo 238 f. Sukopp, Thomas 53 Sumner, Claude 255 Tabari, Esfandiar 251 Tanabe, Hajime 227 Taylor, Charles 25 f., 28, 30 f., 34, 214 Tempels, Placide 256, 264 Thales 220 Tomasello, Michael 54 f. Tutu, Desmond 267 Ueda, Shizuteru 206 Uexküll, Jakob v. 171 van den Bergh, Simon 238, 246, 248 Waldenfels, Bernhard 11, 29, 39, 41, 49, 63, 78, 87, 93-96, 98 f., 101, 103, 153, 157, 180, 229 Walzer, Michael 213, 240 Wamba-dia-Wamba, Ernest 258, 261 Watsuji, Tetsuro 174 Weidtmann, Niels 43, 62, 72, 74, 88, 96, 140, 146, 159, 193, 256-258, 261, 264 f., 268 f. Weinberg, Manfred 31 Welsch, Wolfgang 31-34, 36, 38, 40 Wimmer, Franz M. 41 f., 72-74, 87 Wiredu, Kwasi 16, 54, 72, 255 f., 258-261, 265 Wohlfart, Günter 67 Yousefi, Hamid R. 50 Zaborowski, Holger 206 <?page no="286"?> Peter V. Zima Moderne / Postmoderne UTB 1967 S 3., überarbeitete Au age 2014 444 Seiten €[D] 24,99 ISBN 978-3-8252-4175-9 Das Buch leistet eine umfassende Darstellung des Verhältnisses von Moderne, Modernismus und Postmoderne auf soziologischer, philosophischer und literarischer Ebene sowie eine Abgrenzung der Begriffe Neuzeit, Moderne, Modernismus, Postmoderne, Posthistoire und nachindustrielle Gesellschaft. Der Autor versucht, sowohl der Ideologisierung als auch der Indifferenz zu entgehen, indem er im letzten Kapitel eine dialogische Theorie entwickelt, die zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, zwischen Indifferenz und ideologischem Engagement vermittelt. „Der Verfasser bietet hier eine eigenständige und, was aus einer didaktischen Perspektive betont werden soll, verständige und verständliche Darstellung des ausufernden Diskurses über die kontroversen Bestimmungen und Besetzungen moderner und nachmoderner Denkprozesse.“ Referatedienst zur Literaturwissenschaft Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de <?page no="287"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de Peter V. Zima Entfremdung Pathologien der postmodernen Gesellschaft 2014, VIII, 204 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-4305-0 Der Begriff Entfremdung, bisher vorwiegend auf die Arbeitswelt angewandt, wird hier mit verwandten soziologischen Begriffen wie Differenzierung, Anomie, Anonymität und Tauschwert verknüpft und als gesellschaftskritischer Begriff auf Bereiche angewandt, die jenseits der Produktionsprozesse liegen: Freizeit, Konsumverhalten und Medien. Durch diese Erweiterung des Terminus und seines Anwendungsbereichs trägt das Buch der Tatsache Rechnung, dass Entfremdung in der Postmoderne so allgegenwärtig ist, dass sie trotz des Unbehagens, welches sie - in Stress, Burnout oder Depression - bewirkt, kaum noch wahrgenommen und beim Namen genannt wird. Dass es sie gibt, lassen indessen die vielen Varianten der ästhetischen Verfremdung erkennen, die im letzten Kapitel als Reaktionen auf die soziale Entfremdung kommentiert werden. <?page no="288"?> Peter V. Zima Die Dekonstruktion Einführung und Kritik utb S 2., überarbeitete und erweiterte Au age 2016 280 Seiten €[D] 22,99 ISBN 978-3-8252-4689-1 eISBN 978-3-8385-4689-6 Der Autor stellt die Theorien von Jacques Derrida, Paul de Man, J. Hillis Miller, Geoffrey Hartman und Harold Bloom in ihrem philosophischen und ästhetischen Kontext dar. Seine Kommentare zu konkreten Textanalysen - etwa zu Derridas Kritik der Sprechakttheorie oder zu seiner Interpretation von Baudelaires „La Fausse monnaie“ - schlagen eine Brücke von der Theorie zur Praxis der Dekonstruktion. Die Kritik der Dekonstruktion aus der Sicht der Kritischen Theorie mündet weder in Ablehnung noch in Vereinnahmung, sondern in einen offenen Dialog, in dem die Dialektik von Konsens und Dissens sowohl die Verwandtschaft als auch die Heterogenität der beiden Ansätze erkennen lässt. In der vorliegenden Neuau age, in der die Subjektproblematik bei Derrida und Deleuze im zweiten Kapitel ausführlicher kommentiert wird, wird der Dialog im letzten Kapitel auf feministische Theorien ausgedehnt, von denen sich einige an der Dekonstruktion orientieren, um den Subjektbegriff in Frage zu stellen, während andere an diesem Begriff festhalten. NEUAUFLAGE + alle wichtigen Vertreter der Dekonstruktion werden behandelt und kommentiert + ergänzt um ein Kapitel zur Subjektproblematik und zur feministischen Theorie Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (07071) 9797-0 \ Fax +49 (07071) 97 97-11 \ info@narr.de \ www.narr.de NEU <?page no="289"?> ,! 7ID8C5-cdgggd! ISBN 978-3-8252-3666-3 Heute wird die europäisch-westliche Philosophie endlich auf die Pluralität der Kulturen und auf deren Philosophien aufmerksam. Reflexartig werden diese Philosophien jedoch als bloße Varianten europäischwestlichen Denkens aufgefasst. Das aber greift zu kurz. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, die anderen Erfahrungen, die den außer-europäischen Philosophien zugrunde liegen, ernst zu nehmen und zu erkennen, dass auch die europäisch-westliche Philosophie ursprünglich auf einer Erfahrung aufruht. In der Begegnung mit anderen Philosophien liegt heute die Chance, diese Erfahrung zu erneuern. Interkulturelle Philosophie ist deshalb mehr als nur eine neue Disziplin der Philosophie. Es geht ihr um eine Selbstbestimmung der Philosophie angesichts der interkulturellen Situation, in der wir heute leben. Der vorliegende Band bietet eine umfassende Einführung in die interkulturelle Philosophie, stellt ihre zentralen Ansätze und Aspekte vor und ordnet diese in den Gang des Denkens durch die Jahrhunderte ein. Philosophie Dies ist ein utb-Band aus dem A. Francke Verlag. utb ist eine Kooperation von Verlagen mit einem gemeinsamen Ziel: Lehrbücher und Lernmedien für das erfolgreiche Studium zu veröffentlichen. utb-shop.de QR-Code für mehr Infos und Bewertungen zu diesem Titel