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Demokratie als Idee

Eine Einführung

0515
2013
978-3-8385-3883-9
UTB 

Dieses Lehrbuch regt zum Denken und Diskutieren über Demokratietheorien an, um Demokratie zu verstehen. Anhand zwölf exponierter Denker - von Platon, über Aurelius Augustinus, Niccolò Machiavelli, hin zu Jean-Jacques Rousseau und Alexis de Tocqueville - erarbeitet Maria Kreiner von der Antike bis zur Moderne, worin die Idee der Demokratie besteht. 2500 Jahre lang hat sich die politische Philosophie bemüht, neben der empirischen Analyse der gesellschaftspolitischen Verhältnisse, positive Ideen zu entwickeln, die das Zusammenleben der Menschen in einer politischen Gemeinschaft verbessern. Die Ideen der Philosophen sind allerdings sehr unterschiedlich und stehen uns als umfangreiche Ideengeschichte zur Verfügung: Jedes Kapitel dieses einführenden Lehrbuchs enthält Auszüge aus den Werken des Denkers, in denen wesentliche Gedanken seiner politischen Theorie zum Ausdruck kommen. Durch anschließende Leitfragen können die Kerngedanken des Textes eigenständig erschlossen werden. Um die Theorien in ihrem Entstehungskontext angemessen deuten zu können, folgen biografische und gesellschaftspolitische Informationen über den Denker und die Zeit, in der sie entstanden sind. In den Interpretationen werden überzeitliche Ideen und theoretische Lösungsmuster für immer wiederkehrende praktische Probleme politischer Gemeinwesen herausgearbeitet. Der Erkenntnisgewinn dieser Einführung liegt u.a. darin, die Demokratie auch als Idee zu begreifen, die erstrebenswerte Ziele zwischenmenschlichen Zusammenlebens beinhaltet, die über zwei Jahrtausende argumentativ und in der Realität erkämpft wurde.

<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich <?page no="2"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 3 Maria Kreiner Demokratie als Idee Eine Einführung UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> www.claudia-wild.de: [UTB-M]__Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 10.04.2013/ Seite 4 Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2013 Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz Lektorat: Marit Borcherding, Göttingen und Verena Artz, Bonn Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Einbandmotiv: © The National Gallery Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Band Nr. 3883 ISBN 978-3-8252-3883-4 <?page no="4"?> 5 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 5 Inhaltsverzeichnis Danksagung 7 Einleitung 9 Kapitel I: Herodot 17 Historien Kapitel II: Platon 29 Der Staat (Politeia) Kapitel III: Aristoteles 49 Politik (Politika) Kapitel IV: Augustinus 67 Vom Gottesstaat (De civitate Dei) Kapitel V: Marsilius von Padua 85 Der Verteidiger des Friedens (Defensor Pacis) Kapitel VI: Giovanni Pico della Mirandola 109 Rede über die Würde des Menschen (Oratio de hominis dignitate) Kapitel VII: Niccolò Machiavelli 119 Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung Kapitel VIII: Thomas Hobbes 143 Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates Kapitel IX: John Locke 177 Zwei Abhandlungen über die Regierung Kapitel X: Charles de Montesquieu 207 Vom Geist der Gesetze Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau 243 Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts <?page no="5"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 6 6 Inhaltsverzeichnis Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville 287 Über die Demokratie in Amerika Kapitel XIII: Lehren aus der Ideengeschichte-- die Idee der Demokratie 339 Literaturverzeichnis 351 <?page no="6"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 7 7 Danksagung Dieses Buchprojekt ist von einigen Menschen begleitet worden, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. Zunächst danke ich Helene Gerhards, Georg Widelak, Marvin Behrmann und Maximilian Funk, die aus der Sicht von Studierenden die Buchkapitel kritisch auf Verständlichkeit durchgearbeitet und kommentiert haben. Als Fachkollege hat Matthias Bohlender Anregungen und Hinweise zur Optimierung meiner Interpretationen gegeben, wofür ihm mein ausdrücklicher Dank gebührt. Meinen Freundinnen und Freunden danke ich für ihre Geduld, ihre Nachsicht und ihre Unterstützung in jeder Hinsicht! Titelbild Für das Buchcover habe ich mir einen Ausschnitt aus dem Gemälde »Alter Mann auf einem Stuhl« von Rembrandt van Rijn gewünscht. Die Stirn des alten Mannes ist erleuchtet. Er ist ein Denker. Sein Kopf ist schwer voller Gedanken. Er wirkt erschöpft, verzweifelt und vielleicht hat er sogar Kopfschmerzen. Nachdenken, Verzweiflung und Schmerzen liegen oft eng beieinander. Der »Alte Mann auf einem Stuhl« steht für die zwölf Denker, die sich als reife Männer über das menschliche Zusammenleben den Kopf zerbrochen haben, deren Gedanken und Ideen in dieser Einführung nachvollzogen werden. Neben Erschöpfung, Verzweiflung und Schmerz strahlt das Gemälde aber auch Ruhe, Konzentration und Erleuchtung aus. Das wünsche ich mir für die Leserinnen und Leser dieser Einführung. <?page no="7"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 8 <?page no="8"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 9 9 Einleitung Die Bundesrepublik Deutschland ist laut Verfassung ein »demokratischer und sozialer Bundesstaat«. Das heißt: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« (Art. 20, Absatz 1-4, GG) Der Artikel 20 des Grundgesetzes beinhaltet die Erwartung, dass die Deutschen Widerstand leisteten, wenn eine Abschaffung der Demokratie drohte. Einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge würden 25 Prozent der befragten Bundesbürger die Demokratie »vorbehaltlos« verteidigen, 22 Prozent würden dies nicht tun und die Mehrheit der Befragten (53 Prozent) mit Einschränkungen. (Vgl. Embacher 2011, S. 12) Würde dies für den »Ernstfall« ausreichen? Müssten nicht 95 Prozent der Bundesbürger zur vorbehaltlosen Verteidigung ihrer Staatsordnung bereit sein? Woran würde man überhaupt merken, dass jemand versucht, diese zu beseitigen? Wenn Funktionäre der NPD das Reichstagsgebäude stürmten und eine Diktatur unter ihrem derzeitigen Parteichef ausriefen? Das Widerstandsrecht der Bürgerinnen und Bürger ist ein Instrument der »Wehrhaftigkeit« der deutschen Demokratie, wozu auch das Parteiverbotsverfahren, die Möglichkeit des Ausschlusses vom öffentlichen Dienst, eine mögliche Verwirkung von Grundrechten sowie die Vorsorge für den Notstandsfall gehören. Die Widerstandsinstrumente sind gegen konkrete Personen und Organisationen gerichtet sowie für den Kriegsfall gedacht, falls aufgrund von äußerer Zerstörung einzelne Verfassungsorgane sich nicht mehr versammeln können. Aber was ist mit Angriffen auf die Idee der Demokratie? Wie kann gegen die Zerstörung demokratischer Werte Widerstand geleistet werden? Die politische Bildung in Deutschland konzentriert sich auf die Vermittlung der Entstehungsgeschichte der Verfassung, des Staatsaufbaus und der Funktionsweise der politischen Institutionen. Die Entstehungsgeschichte der Demokratie als Idee, wie sie in der politischen Philosophie und Ideengeschichte 2500 Jahre lang in unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Kontexten entwickelt wurde, gerät dagegen weniger in den Blick. Diese Einführung will die Argumente und Vorstellungen in politischen Theorien von der Antike bis zur Moderne herausarbeiten, die hinter der Idee der Demokratie stecken und den demokratischen Verfassungen und ihren Institutionen zugrunde liegen. In der Ideengeschichte wurde nicht nur für die Idee der Demokratie <?page no="9"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 10 10 Einleitung argumentiert, sondern genauso leidenschaftlich für die Aristokratie oder absolute Monarchie. Man führte starke Gründe an, Herrschaft durch Religion zu rechtfertigen und die Kirche an der Herrschaft zu beteiligen. Und es gab einleuchtende Argumente dafür, dass Religion Privatsache und die Herrschaft durch das Parlament oder das Volk legitimiert sein sollte. Die politische Philosophie zeigt nicht nur, wie sich ein Gemeinwesen politisch organisieren kann, sondern auch, auf welchen geistigen Prinzipien und Argumenten politische Strukturen beruhen und wie sich die gesellschaftspolitischen Verhältnisse verbessern ließen. Es geht nicht darum, Demokratie einfach gut und richtig zu finden und als ordentliche Staatsbürgerin oder pflichtbewusster Staatsbürger ihre Institutionen und Theorien »auswendig« zu lernen, sondern ihre Grundlagen und Voraussetzungen nachzuvollziehen, um zu verstehen, was eine Gesellschaft durch Demokratie erreichen kann und welche Voraussetzungen sie erfordert, um gut zu funktionieren. »Es geht nicht darum, zum Lesen zu bewegen, sondern zum Denken.« (Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 1992, S. 253) Diese Einführung ist als Lehrbuch konzipiert-- verwendbar sowohl in der universitären Lehre für Erstsemester, als auch zum Selbststudium für Einsteiger in die politische Philosophie und Ideengeschichte. Sie ist anhand der politischen Theorien exponierter Denker der europäischen Ideengeschichte in chronologischer Abfolge aufgebaut und umfasst zwölf Kapitel, die sich in einem Semester durcharbeiten lassen. Zeitlich werden vier Epochen abgedeckt: die Antike (ab 5. Jh. v. Chr.), das Mittelalter (ab 5. Jh. n. Chr.), die Frühe Neuzeit (ab 15. Jh.) und die Moderne (vom 17. bis 19. Jh.). Jede Epoche ist durch drei Theoretiker vertreten, die einen Querschnitt der Ideengeschichte abbilden. Die Auswahl der Denker beruht auf drei Kriterien: (1) Sie gelten innerhalb der politischen Theorie als einschlägig und werden auch in anderen Theoriebüchern behandelt, sodass viele Informationen und Interpretationen vorliegen, mit denen man sich über die Lektüre dieser Einführung hinaus vergleichend auseinandersetzen kann. (2) An den Theorien lässt sich zeigen, wie die Theoretiker bezüglich desselben Gegenstands teils zu gegenteiligen Argumenten und Schlussfolgerungen gelangen, je nachdem, wie sie ihre Theorie aufgebaut haben und welche Ziele sie damit erreichen möchten, sodass sie argumentativ miteinander in Beziehung gesetzt werden können. (3) Die Wahl fiel einerseits auf solche Denker, die mit ihrer Theorie einen Denkumbruch einleiten und andererseits auf solche, die Denkströmungen zuspitzen und zusammenführen, sodass sich ein roter Faden der Ideengeschichte ergibt. Das Lehrbuch beginnt mit Herodot (480-430), der weniger ein Philosoph, als vielmehr ein Geschichtsschreiber war. Der Textauszug aus seinem Werk »Historien« eignet sich sehr gut, um in das vergleichende Argumentieren einzusteigen und mit den Verfassungsformen vertraut zu werden, die im Laufe der Ideengeschichte immer wieder Diskussionen hervorriefen. Für die Epoche der Antike folgen die politischen <?page no="10"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 11 Einleitung 11 Theorien Platons (427-347), auf der Grundlage seines politiktheoretischen Werkes »Politeia«, und Aristoteles’ (384-322), aufgearbeitet an seinem Werk »Politika«, auf deren Denkweisen alle nachfolgenden Theorien in irgendeiner Art und Weise aufbauen oder Bezug nehmen. Als Ausgangspunkt für das Denken im Mittelalter wurde Augustinus (354-430) ausgewählt, dessen schwer zugängliches Werk »Vom Gottesstaat« dennoch eine epochale Wirkung erzielte. Als Kirchenvater versuchte Augustinus zum einen die christliche Lehre zu vereinheitlichen und zum anderen gab er den Impuls, Kirche und Staat zu trennen, woraus praktisch die Spaltung von weltlicher und kirchlicher Herrschaft folgte, die aber eine Allianz eingingen, die für die folgenden tausend Jahre die gesellschaftspolitischen Verhältnisse in Europa prägte. Viele Jahrhunderte darauf haben sich die politischen Philosophen an dem Problem, in welchem Verhältnis weltliche und kirchliche Herrschaft stehen sollen, was Gott damit zu tun hat und welche Rolle das Individuum dabei einnimmt, intellektuell abgearbeitet. In »Defensor Pacis« vollzieht Marsilius von Padua (1275-1342) in logischer Schärfe und Klarheit eine Neuordnung des Verhältnisses von Staat, Kirche, Religion und Volk und legt damit bereits die Grundlagen für den Denkumbruch der Frühen Neuzeit. Der weniger bekannte Philosoph des Mittelalters Pico della Mirandola (1463-1494) nimmt in seiner kleinen Schrift »Rede über die Würde des Menschen« eine Neubestimmung der Natur des Menschen vor, wie sie für das mittelalterliche Denken vollkommen inakzeptabel war, womit er aber die Idee des aufkommenden Humanismus förderte. Als Zeitgenosse Picos steht Niccolò Machiavelli (1469-1527) mit seinen Werken gedanklich vollkommen im Zeitalter der Frühen Neuzeit. In den »Discorsi« und im »Il Principe« legt er eine intellektuelle Vorgehensweise an den Tag, die geprägt ist von analytischer Schärfe, die auf Tatsachen beruht und versucht aus einer pragmatischen, nüchternen und amoralischen Perspektive politische Prozesse zu beschreiben und politische Probleme zu lösen. Es folgt das Großwerk »Leviathan« von Thomas Hobbes (1588-1679), das den neuzeitlichen Absolutismus begründet. John Locke (1632-1704) bringt mit »Zwei Abhandlungen über die Regierung« hingegen den Parlamentarismus und die Gewaltenteilung als Idee der politischen Organisation auf. Als Theoretiker der Moderne arbeitet Charles de Montesquieu (1689-1755) in seinem Werk »Vom Geist der Gesetze« die Idee der Gewaltenteilung bzw. Machtteilung weiter aus. Seine politiktheoretische Bedeutung liegt allerdings in seiner besonderen Betrachtungsweise des Politischen: Er fragt nach dem »Stoff«, der die Gesellschaften im Innersten zusammenhält und entdeckt dabei die »Prinzipien«. Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) kann mit seinem »Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts« als eigentlicher »Vater« der modernen Demokratietheorie angesehen werden. Kein Theoretiker vor ihm hat die Demokratie als Staatsform so konsequent unter den ideellen Voraussetzungen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit theoretisch entwickelt wie er. Den Abschluss der Moderne vertritt Alexis de Tocqueville (1805-1859). Geboren kurz nach der Französischen Revolution (1789) erlebte er den politischen Etablierungsprozess der demokratischen Idee, der alles andere als <?page no="11"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 12 12 Einleitung reibungslos verlief und Jahrzehnte lang geprägt war von Revolutionen, Reformen und Restauration. Er stand im Epochenwechsel vom elitär-aristokratischen zum massendemokratischen Zeitalter, in der Umbruchsphase von der feudalen zur industriellen Gesellschaft. In seinem Werk »Über die Demokratie in Amerika« verbindet Tocqueville das Denken in Prinzipien mit der Analyse von Institutionen und versucht der damaligen französischen Gesellschaft einen Weg aufzuzeigen, wie sie ihre politische Struktur im Geiste der Demokratie weiterentwickeln kann. »Wer sich mit der gegenwärtigen und antiken Geschichte beschäftigt, erkennt leicht, daß alle Staaten und alle Völker von jeher die gleichen Wünsche und die gleichen Launen hatten. Untersucht man also sorgfältig die Vergangenheit, so ist es ein leichtes, in jedem Staat die Zukunft vorherzusehen und die gleichen Mittel anzuwenden, die auch von den Alten angewandt wurden, oder bei ähnlichen Ereignissen neue auszudenken, wenn bereits erprobte Mittel nicht zur Hand sind.« (Machiavelli, Discorsi, 1977, S. 107) Das Lehrbuch endet in der vordemokratischen Zeit, um zu zeigen, wie über die Demokratie gedacht und gestritten wurde, als sie noch eine Idee und keine Realität war. Die politischen Theorien der Gegenwart entstehen im Kontext der modernen Gesellschaft und reflektieren die Demokratie aus der Perspektive vorhandener demokratischer Institutionen und im Hinblick auf ihren Erfolg und ihre Funktionsfähigkeit. Hier geht der Blick auf die ideellen Wurzeln der Demokratie leicht verloren, sie erscheint kaum mehr als erstrebenswertes Ideal oder als Antwort auf gesellschaftspolitische Krisen, sondern ist ein problematisches System mit zu behebenden Funktionsstörungen. Aktuelle Demokratietheorien zu systematisieren und an die Ideengeschichte anzuschließen, wäre ein eigenes Buchprojekt. Der Aufbau der einzelnen Kapitel folgt einem bestimmten Schema. Jedes Kapitel beginnt mit mehrseitigen Auszügen von Primärtextstellen aus dem politiktheoretischen Hauptwerk des Denkers, in denen wesentliche Gedanken zur Demokratietheorie zum Ausdruck kommen. Die Leserinnen und Leser sollen zunächst in die Denkweise, den Schreibstil und die Textart des behandelten Autors eingeführt und damit vertraut gemacht werden. Aus der Vielzahl verschiedener Ausgaben und Übersetzungen wurden möglichst Ausgaben zugrunde gelegt, die auf dem Buchmarkt erhältlich und günstig zu erwerben sind. Die Verfasserin hat alle ins Deutsche übersetzen Originalwerke komplett durchgearbeitet, bei den ausgewählten Primärtextstellen die unterschiedlichen Übersetzungen miteinander verglichen und bei den englischen und französischen Autoren die Originalliteratur hinzugezogen. Stellenweise wurde der ursprüngliche Ausdruck aus dem englischen oder französischen Werk der Überwww.claudia-wild.de: <?page no="12"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 13 Einleitung 13 setzung in Klammern beigefügt. Übersetzungen sind immer schon Werksinterpretationen, weshalb es sich grundsätzlich lohnt, bei den Kerngedanken den originalen Wortlaut nachzulesen. Gut ausgestattete Universitätsbibliotheken verfügen über die Originalausgaben in englischer oder französischer Sprache. Viele Interessierte an der politischen Philosophie befürchten, die Werke der großen Denker seien zu schwer für sie und neigen deshalb dazu, sich politischen Theorien zunächst durch Überblicksliteratur, Zusammenfassungen und Einführungen zu nähern. Leider ist diese Sekundärliteratur meist schwieriger zu lesen und zu verstehen als die Originaltexte selbst, die sie eigentlich erhellen sollten- - die starke Komprimierung der Theorie setzt im Grunde die Kenntnis des Originals voraus. Deshalb an dieser Stelle die Ermunterung: Ran an die großen Werke! Sie sind verständlich und oft sogar sehr humorvoll geschrieben, was ein Interpret gar nicht wiedergeben kann. Im Anschluss an den Primärtext folgen Leitfragen, die dem Leser ermöglichen sollen, Kerngedanken des Primärtextauszuges zunächst eigenständig zu erschließen. Oft weiß man gar nicht, was an einem theoretischen Text wichtig und interessant sein soll. Sie enthalten keine schnell erfassbaren Informationen, sondern geben Gedankengänge wieder, durch die der Autor mit dem Leser kommunizieren möchte. Meistens genügt es nicht, theoretische Texte nur einmal oder gar »quer« zu lesen, um in dieses »Gespräch« zu kommen. Die Leitfragen sollen helfen, in die Gedankengänge des Autors hineinzufinden. Um Theorien in ihrem Entstehungskontext angemessen deuten zu können, bedarf es Informationen über die Zeit, in der sie entstanden, unter welchen gesellschaftspolitischen Umständen und von wem sie verfasst wurden. All dies ist unter dem Punkt Entstehungskontext der Theorie gefasst. Er beginnt mit biografischen Angaben über den Autor. Über das Leben der Philosophen in der Antike und im Mittelalter ist meist wenig bekannt, sodass hier die Ausführungen spärlich ausfallen. Ab Machiavelli liegt zu jedem Denker reichlich biografisches Material vor. Ziel war es, die Denker von ihrer sozialen Herkunft und ihrer Sozialisation her einordnen zu können und zu erfassen, durch welche gesellschaftspolitischen Umstände und Ereignisse sie besonders geprägt wurden. Auch die Persönlichkeit des Autors soll ein wenig zum Ausdruck gebracht werden. Unter dem Punkt »Zeitliches« werden die machtpolitischen Verhältnisse über die Lebenszeitspanne des Denkers dargestellt, also wann wer unter welcher politischen Verfassungsform herrschte. Der Punkt »Gesellschaftspolitisches« versammelt Informationen über die Lebensverhältnisse der Bevölkerung (soziale Schichtung, Epidemien, Hungersnöte etc.), die ökonomischen Bedingungen und Strukturen, den Stand der Technik und der Wissenschaft sowie die herrschenden Denkweisen (Religion, intellektuelle Bewegungen). Diese drei Dimensionen des Entstehungskontextes der Theorie überschneiden sich durchaus, weshalb es zu Wiederholungen kommt, allerdings immer unter der jeweils biografischen, zeitlichen oder gesellschaftspolitischen Perspektive. <?page no="13"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 14 14 Einleitung Auf den Entstehungskontext folgt eine Interpretation, die neben der Beantwortung der Leitfragen und einer Reflexion der Primärtextstellen eine Deutung des Gesamtwerkes vornimmt. Es soll vermittelt werden, was die Fragestellung des Autors ist und worin seine Antwort besteht; anders ausgedrückt: Welches Problem wollte der Denker mit seiner Theorie bearbeiten und wie sieht seine Lösung dafür aus? Weiterhin wird reflektiert, welche Annahmen den Argumenten der Problemlösung zugrunde liegen, inklusive der Aufdeckung von Widersprüchen. Zudem werden die Argumente für die Problemlösung mit denen der zuvor behandelten Denker verglichen. Dabei lässt sich nachvollziehen, zu »welchem Preis« (z. B. eine Annahme vernünftiger Bürger oder vernünftiger Herrscher) die Problemlösung entwickelt und ob sie aus Erfahrung (im Angesicht konkreter Fälle) oder vor dem Hintergrund wünschenswerter Verhältnisse (aus einem Ideal heraus) gewonnen wurde. Neben dieser metatheoretischen und vergleichenden Betrachtung umfasst die Interpretation zudem folgende inhaltliche Aspekte: Sieht der Theoretiker die gesellschaftspolitischen Probleme seiner Zeit aus einer noch nie dagewesenen Perspektive, sodass er mit seiner Theorie einen Denkumbruch in der Ideengeschichte vollzieht? In welchem Verhältnis stehen in seiner Theoriekonstruktion Staat, Religion, Kirche, Gott, Volk und Individuum? Welchen Beitrag leistet der Denker zur Entwicklung der Idee der Demokratie? Die Kapitel enden mit der Angabe der verwendeten Literatur. Es gibt keine Auswahlbibliografie, weil die Literaturrecherche zu Theoretikern und Themen zum Handwerkszeug im Studium gehört und die Verfasserin keine Vorselektion angeblich geeigneter Sekundärliteratur vornehmen wollte. Dieses Lehrbuch enthält keine Antworten, die als »richtig« gelten können und Studierende für eine Klausur auswendig lernen sollten. Es ist ein Arbeitsbuch und keine Fachliteratur, die den bisherigen und neuesten Forschungsstand über die Interpretationen der vorliegenden Theoretiker wiedergibt. Intention dieses Buches ist vielmehr, Primärtexte politischer Philosophen ohne umfassendes sekundärliterarisches Vorwissen zu bearbeiten. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Überzeugungskraft und Plausibilität von Argumenten und Ideen im Hinblick auf die Begründung menschlichen Zusammenlebens und nicht etwa die Verwertbarkeit der Theorien zur Lösung gegenwärtiger politischer Probleme. »Es ist feste Überzeugung aller, die irgend des Vernunftgebrauchs fähig sind, daß alle Menschen glückselig sein wollen. Doch wer es tatsächlich ist und wie man es wird, darüber entstanden beim Forschen der menschlichen Schwachheit viele und heftige Streitigkeiten, auf die die Philosophen ihre ganze Mühe und freie Zeit verwandt haben.« (Augustinus, Vom Gottesstaat, 2007, S. 463) Das persönliche Glück in einer autokratisch organisierten Gesellschaft ist mit Sicherheit ein anderes als in einer Demokratie. Dieser Zusammenhang zwischen gesellwww.claudia-wild.de: <?page no="14"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 15 Einleitung 15 schaftlicher Organisation und persönlicher Entwicklungschancen soll uns stets gewärtig sein. Redaktionelle Hinweise Wenn nichts anderes in Klammern angegeben, sind Anmerkungen in den Fußnoten von der Verfasserin. Anmerkungen von der Verfasserin innerhalb von direkten Zitaten sind mit dem Kürzel »M. K.« versehen. Schreibfehler in den direkten Zitaten wurden übernommen und mit einem »(sic! )« gekennzeichnet. Die Rechtschreibung und Zeichensetzung wurde in direkten Zitaten dem Original entsprechend belassen und nicht der aktuell geltenden Rechtschreibung angepasst. Die direkten Zitate aus dem Primärtextauszug wurden in der Interpretation mit dem Hinweis »(Primärtext)« belegt, wo sie im Kontext nochmals nachgelesen werden können. <?page no="15"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 16 <?page no="16"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 17 17 Kapitel I: Herodot 1. Primärtext Drittes Buch (…) 80. Als die Erregung sich gelegt hatte und fünf Tage vorüber waren, hielten die Verschwörer Rat über die Verfassung des Reiches, und es wurden folgende Reden gehalten, die zwar einigen Hellenen unglaublich erscheinen, die aber trotzdem wirklich gehalten wurden. Otanes sprach sich dafür aus, die Herrschaft an das ganze persische Volk zu geben. Er sagte: »Ich halte dafür, daß nicht wieder ein einziger über uns König werden soll. Das ist weder erfreulich noch gut. Ihr wißt, wie weit Kambyses sich von seinem Hochmut hat hinreißen lassen; ihr habt auch den Hochmut des Magers gekostet. Wie kann die Alleinherrschaft etwas Rechtes sein, da ihr gestattet ist, ohne Verantwortung zu tun, was sie will? Auch wenn man den Edelsten zu dieser Stellung erhebt, wird er seiner früheren Gesinnung untreu werden. Das Gute, das er genießt, erzeugt Überhebung, und Neid ist dem Menschen schon angeboren. Wer aber diese zwei hat, hat alle Schlechtigkeit beisammen. Er begeht viele Verbrechen: einige, übersättigt, aus Selbstüberhebung, andere wieder aus Neid. Freilich sollte er ohne Mißgunst sein, denn ihm als Herrscher gehört ja alles. Doch das Gegenteil davon ist der Fall. Er mißgönnt den Edelsten Leben und Luft, er freut sich der Elendesten. Trefflich weiß er den Verleumdungen sein Ohr zu leihen. Am sonderbarsten von allem ist, daß er sich über maßvolle Anerkennung ärgert, weil man nicht ehrerbietig genug sei, und sich über hohe Ehrerbietung ärgert, weil man ein Schmeichler sei. Und damit ist das Schlimmste noch nicht gesagt: er rührt an die altüberlieferten Ordnungen, er vergewaltigt die Weiber, er mordet, ohne rechtlich zu verurteilen. Die Herrschaft des Volkes aber hat vor allem schon durch ihren Namen - Gleichberechtigung aller - den Vorzug; zweitens aber tut sie nichts von all dem, was ein Alleinherrscher tut. Sie bestimmt die Regierung durchs Los, und diese Regierung ist verantwortlich; alle Beschlüsse werden vor die Volksversammlung gebracht. So meine ich denn, daß wir die Alleinherrschaft abschaffen und das Volk zum Herrscher machen; denn auf der Masse beruht der ganze Staat.« 81. Das also war die Meinung, die Otanes aussprach. Megabyzos dagegen riet zur Oligarchie und sagte: »Was Otanes über die Abschaffung des Königtums sagt, ist auch meine Meinung. Wenn er aber rät, die Menge zum Herrn zu machen, so hat er damit nicht das Rechte und Beste getroffen. Es gibt nichts Unverständigeres und Hochmütigeres als die blinde Masse. Wie unerträglich, daß wir die Selbstüberhebung der <?page no="17"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 18 18 Kapitel I: Herodot Tyrannen mit der Selbstüberhebung des zügellosen Volkes vertauschen sollen! Jener weiß doch wenigstens, was er tut; aber das Volk weiß es nicht. Woher sollte dem Volke Vernunft kommen? Es hat nichts gelernt und hat auch in sich selber keine Vernunft. Ohne Sinn und Verstand, wie ein Strom im Frühling, stürzt es sich auf die Staatslenkung. Nur wer den Persern Unheil sinnt, spreche vom Volk! Wir sollten vielmehr einem Ausschuß von Männern des höchsten Adels die Regierung übertragen. Zu diesen Männern gehören wir ja selber. Es ist doch klar, daß von den Adligsten auch die edelsten Entschlüsse ausgehen.« 82. Das war die Meinung, die Megabyzos aussprach. Als dritter sagte Dareios seine Meinung und sprach: »Was Megabyzos gegen die Masse gesagt hat, billige ich, nicht aber, was er über die Oligarchie sagt. Drei Verfassungen sind möglich; nehmen wir sie alle in ihrer höchsten Vollendung an, stellen wir uns also die vollkommenste Demokratie, die vollkommenste Oligarchie und die vollkommenste Monarchie vor, so verdient die letztere, behaupte ich, bei weitem den Vorzug. Es gibt nichts Besseres, als wenn der Beste regiert. Er wird untadelig für sein Volk sorgen, und Beschlüsse gegen Feinde des Volkes werden am besten geheimgehalten werden. In der Oligarchie, wo viele sich um das Allgemeinwohl verdient machen wollen, pflegt es zu heftigen Privatfehden zu kommen. Jeder will der Erste sein und seine Meinung durchsetzen; so verfeinden sie sich aufs ärgste miteinander, Unruhen entstehen, und in den Unruhen kommt es zu Mordtaten. Das pflegt dann wieder zur Monarchie zu führen, und man sieht daraus, daß sie doch die beste Verfassung ist. Herrscht dagegen das Volk, so kann es nicht ausbleiben, daß Schlechtigkeit und Gemeinheit sich einstellen. Drängt sich aber die Schlechtigkeit in die Sorge um die Allgemeinheit, so kommt es zwar nicht zu Fehden unter diesen Schlechten, aber umgekehrt zu festen Verbrüderungen. Sie verschwören sich gleichsam, um den Staat auszubeuten. Das dauert so lange, bis ein Führer des Volks ihrem Treiben ein Ende macht. Und dafür preist ihn dann natürlich das Volk, und der Gepriesene wird Alleinherrscher! So zeigt sich auch hier wieder, daß die Monarchie die beste Verfassung ist. - Um aber alle Gründe für und wider zusammenzufassen: wie ist denn Persien frei geworden? Wer hat ihm die Freiheit geschenkt? Das Volk, die Aristokraten oder ein Monarch? Ich meine, weil wir durch einen Alleinherrscher die Freiheit gewonnen haben, müssen wir daran festhalten, und überhaupt sollten wir die altüberlieferte Verfassung nicht umstoßen. Das ist vom Übel.« 83. So waren drei verschiedene Meinungen laut geworden. Die vier anderen Männer aber stimmten der Meinung des Dareios zu. Als Otanes sah, daß sein Vorschlag, den Persern die Demokratie zu schenken, unterlegen war, sprach er zu den Versammelten folgendermaßen: »Mitverschworene! So ist denn entschieden, daß einer unter uns König werden soll. Es fragt sich, ob wir ihn durchs Los wählen oder dem persischen Volke die Entscheidung überlassen oder ihn auf andere Weise küren. Ich nehme aber an der Bewerbung <?page no="18"?> 3. Entstehungskontext 19 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 19 keinen Teil. Ich will nicht herrschen und will nicht dienen. So trete ich zurück, mache aber zur Bedingung, daß ich keinem unter euch untertänig werde, ebenso auch nicht meine Nachkommen für alle Zeit.« Das bewilligten ihm die sechs anderen, und er verzichtete also auf den Thron. Noch heute ist sein Haus das einzig unabhängige Haus in Persien und ist dem König nur Untertan, soweit es will, darf aber die Gesetze der Perser nicht übertreten. (Aus: Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu herausgegeben und erläutert von H.W. Haussig. Mit einer Einleitung von W. F. Otto, 4. Auflage, Alfred Kröner Verlag: Stuttgart 1971, S. 217-220) 2. Leitfragen a. Wie argumentiert Otanes gegen die Regierungsform der Alleinherrschaft und welche Vorzüge hebt er bei der Demokratie hervor? b. Welche Argumente bringt Megabyzos gegen die Demokratie hervor und welche Vorzüge hat seiner Meinung nach die Oligarchie? c. Welche Gründe sprechen laut Dareios gegen eine Oligarchie sowie gegen eine Demokratie und welche sprechen für die Regierungsform der Monarchie? 3. Entstehungskontext Biografisches Die genauen Lebensdaten von Herodot aus Halikarnassos sind unbekannt. In der Literatur werden seine Lebensdaten aus seinem Werk rekonstruiert. Demnach wurde er vor 480 v. Chr. geboren und starb nach 430 v. Chr. Herodot war ein Geschichtsschreiber. (Vgl. Ploetz, S. 151) Er gilt als »Vater der Geschichte«, weil er als erster sich bemüht habe, die Geschichte des griechischen Volkes nicht so sehr mythisch und in ihrer Heldenhaftigkeit, sondern vielmehr den Tatsachen entsprechend darzustellen. (Vgl. Otto 1971, S. 16) Zudem war der Gegenstand seiner Betrachtung nicht nur die Geschichte einer Stadt oder eines Volkes, sondern die Vielfalt der Begebenheiten in Europa und Asien. (Vgl. Otto 1971, S. 15) Sein Werk habe also universalgeschichtlichen Anspruch. Herodots Deutungen der Ereignisse stünden allerdings deutlich im Zusammenhang der Mythologie, dem Glauben an die griechischen Götter. (Vgl. Otto 1971, S. 26) Herodot versuche einen Spagat zwischen Wahrheit und Mythos, Universalität und Besonderheit des griechischen Volkes und habe das Interesse, den Ursachen der Ereignisse auf den Grund zu gehen. (Vgl. Herodot, Historien, 1971, S. 1) <?page no="19"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 20 20 Kapitel I: Herodot Zeitliches Die griechische Gesellschaft im Altertum setzte sich aus Adligen und Nichtadligen zusammen. Die grundlegende soziale Einheit war der Oikos (Haus, Familie). Die Adligen hatten großen Besitz, zeichneten sich durch kriegerische Tüchtigkeit, physische Kraft und Schönheit aus. Sie brauchten nicht zu arbeiten, weshalb sie in ihrer Freizeit beispielsweise Wettkämpfen nachgingen. Die Nichtadligen waren Demiourgoi (für öffentliche Belange Arbeitende, wie Ärzte, Handwerker) 1 , Bauern, Sklaven und Theten (Tagelöhner, Händler oder auch Handwerker). (Vgl. Ploetz, S. 122) So gab es in der Zeit zwischen 1100 und 500 v. Chr. in Griechenland nur auf Autarkie ausgerichtete Höfe. (Vgl. Ploetz, S. 119) In den wohlhabenden Oiken lebten Sklaven und zu den adligen Häusern gehörten zudem Gefolgsleute. Weil die politische Organisation gering entwickelt war, übernahm der Oikos eine Schutzfunktion, indem nur derjenige Schutz genoss, der Mitglied eines von einem starken Herrn geführten Oikos war. Die kulturelle Einheit Griechenlands wird auf das 8. Jahrhundert datiert, in welchem die griechische Schrift geschaffen wurde, Homer seine Epen schrieb und die Olympischen Spiele begannen. Die Epen Homers, die »Ilias« und die »Odyssee«, beinhalten Mythen, die auf eine lange mündliche Tradition zurückgehen. Beide Werke prägten das Selbstverständnis der Griechen und die olympische Götterwelt derart, dass sie zu den Grundlagen der griechischen Erziehung wurden. (Vgl. Ploetz, S. 121) Als politische Institutionen wurden in den Epen Volksversammlungen, Adelsräte und Könige genannt. Allerdings bestand zwischen diesen kein geregelter institutioneller Zusammenhang. In den Volksversammlungen wurde nie etwas beschlossen. (Vgl. Ploetz, S. 122) Seit dem 8. Jahrhundert wuchs die griechische Bevölkerung sehr stark an. (Vgl. Ploetz, S. 125) Aufgrund von Land- und Nahrungsnot gründete man seit Mitte des 8. Jahrhunderts in der gesamten Mittelmeerwelt und im Schwarzmeergebiet griechische Kolonien. (Vgl. Ploetz, S. 124) Aber nicht nur die Kolonisation wurde vorangetrieben, sondern im 7. Jahrhundert kam es auch zur Bildung von Städten, den sogenannten Poleis (Stadtstaaten). »Die Konkurrenz zwischen den großen Adelsfamilien, der Konflikt zwischen Adligen und Bauern, die wachsende Bedeutung der Stadt als Bezugsrahmen des Handelns und vielleicht auch die Beteiligung der Bauern am Kriegsdienst sind Voraussetzungen für die beiden wichtigsten Phänomene des 7. und 6. Jahrhunderts, die Tyrannis und die Gesetzgebung.« (Ploetz, S. 127) In der Tyrannis 1 Demiourgoi konnten Adlige sein oder auch in der Nähe der Theten stehen. Die Bauern waren keine Leibeigenen, sondern verfügten über eigenen Besitz, gleichwohl mussten sie sehr hart arbeiten und waren der Gewalt der Adligen ausgesetzt. Die Sklaven gehörten den Oiken an, die Theten waren zwar frei, ihren »Arbeitgebern« aber schutzlos ausgeliefert. Ruhm und Anerkennung waren die sozialen Kategorien, nach denen sich der Erfolg eines Herrn definierte. Alle, die sich in der Konkurrenz nicht behaupten konnten, befanden sich in prekären Situationen (Witwen, Waise, Alte, Theten, Bettler und Fremde). <?page no="20"?> 3. Entstehungskontext 21 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 21 machten sich Adlige zu Alleinherrschern, indem sie die Machtmittel einer Stadt auf sich konzentrierten. Das versetzte sie in der Lage, Steuern einzuführen, das Leben der Bürger zu reglementieren, die Bauern zu stützen, die Rechtsprechung zu zentralisieren, Kulte zu fördern und große Bauten (wie Wasserleitungen, Hafenanlagen, Tempel) zu veranlassen. Systematische Planung und Entwicklung der Stadt waren somit zum ersten Mal möglich. Mit der Tyrannis begann fast gleichzeitig die Gesetzgebung. Die Gesetzgeber waren angesehene Männer wie z. B. Drakon und Solon in Athen, die durch Macht und Einsicht wirkten. Sie versuchten, geltendes Recht aufzuschreiben und neues Recht zu schaffen. Das Neue an der Gesetzgebung war das Konzept, die Polis durch Gesetze (Nomoi) zu ordnen, wodurch diese erst zum Staat wurde. (Vgl. Ploetz, S. 128) Die zwei größten Polisstaaten waren Sparta und Athen. In Athen verfasste Solon ein umfassendes Gesetzgebungswerk, das vorsah, möglichst viele Bürger am politischen Leben zu beteiligen. 2 Die solonischen Gesetze hatten aber zunächst keinen Einfluss auf die realen gesellschaftspolitischen Verhältnisse. Ab 560 herrschte in Athen der Tyrann Peisistratos und später setzten seine Söhne die Herrschaft fort. Die Herrschaft der Peisistratiden stärkte Athen als Zentrum Griechenlands und schwächte die Abhängigkeit der Bauern vom Adel. Sie gilt als wichtiges Stadium in der Entstehung der attischen Demokratie. (Vgl. Ploetz, S. 135-136) Als Blütezeit der griechischen Polis gilt die Zeit zwischen 510 und 404 v. Chr. Dabei gelang es, den Adel in die Polis, d. h. in eine politische Organisation, einzubinden. Diese Entwicklung wird der Wirkung der Tyrannis, der kleisthenischen Reformen und der Perserkriege zugeschrieben. 3 2 Unklar ist allerdings, wie groß der Kreis war, dem Solon eine umfassende Beteiligung an der Politik ermöglichen wollte. Er ging aber sicherlich über den Kreis der Adligen hinaus. (Vgl. Meier 1983, S. 81) 3 Die Antwort auf die Frage, warum sich in Griechenland die Demokratie entwickeln konnte, liegt für Meier im historischen Prozess. Sie lasse sich nicht an einem bestimmten Ereignis festmachen. (Vgl. Meier 1983, S. 52) Wann dieser Prozess einsetzte, könne man nicht wissen (vgl. S. 54), aber er schlussfolgert aus seinen Untersuchungen: »Der Beginn der intensiven Phase der griechischen Kulturbildung ist dadurch ausgezeichnet, daß in ihm die politischen Zentralgewalten, insbesondere die Monarchien, schwach waren. Die ungeheuren Handlungsmöglichkeiten, die Freiheit, viel ausrichten zu können, die enorme Ausweitung des Horizonts, der Kenntnisse, der Mittel und Spielräume-- all dies wurde von relativ Vielen über ganz Griechenland hin wahrgenommen, praktiziert und zum eigenen Vorteil ausgebeutet.« (S. 61) Gemeint ist damit vor allem die Abwanderung eines großen Teils der griechischen Bevölkerung in die Kolonien, wodurch die Abhängigkeiten zum Adel gebrochen wurden. (Vgl. S. 63) So waren es einerseits bestimmte Ereignisse und praktische Probleme, die zur Entwicklung der Demokratie als politische Organisationsform beigetragen haben. Meier betont aber auch, dass andererseits die Entwicklung einer bestimmten Denkweise, die sich in der gesamten Gesellschaft verbreitet hatte, zur Etablierung der Demokratie geführt hat. Und zwar das Denken im Zusammenhang der Allgemeinheit-- also was ist im Interesse der Polis und nicht im Interesse eines Einzelnen. (Vgl. S. 77) Im Weiteren führte der überraschende Sieg der Athener über die Perser zu einem besonderen Bewusstseins des Könnens. (Vgl. S. 477 ff.) Die Bürgerschaft könne Herr über ihre politische Ordnung sein und bedürfe dafür nicht der göttlichen oder adligen Legitimation. (Vgl. S. 489 f.) <?page no="21"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 22 22 Kapitel I: Herodot Die Tyrannis hatte die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Bauern und Adel geschwächt. Die Tyrannen unterstützten die Bauern, indem sie ihnen Land zuteilten, wodurch sie vom Adel unabhängiger wurden. Umgekehrt erwarteten die Tyrannen von den Bauern Loyalität. So konnte der Tyrann seine Machtstellung gegenüber den anderen Adligen ausbauen und behaupten. Kleisthenes legte der Volksversammlung Reformen vor (508/ 507), die eine Neugliederung Attikas vorsahen, durch die lokale Selbstverwaltungseinheiten geschaffen werden (Demen) und die Adligen ihre Herrschaft in politischen Institutionen ausüben sollten. Die Adligen konnten demnach nicht mehr Herrschaftsvorteile durch Gefolgschaft erlangen, wodurch eine Gleichheit (Isonomia) innerhalb des Adels entstand. 490 fielen die Perser in Griechenland ein und griffen die Städte Eretria und Athen an, die sich am Widerstand gegen die Perserherrschaft im Ionischen Aufstand 4 499 beteiligt hatten. Völlig unerwartet besiegten die Athener das persische Heer. Der Sieg wurde der Hilfe der Götter zugeschrieben. Es folgten weitere Angriffe der Perser 480, wobei nach verschiedenen Teilsiegen die Perser in der Seeschlacht von Salamis vollständig geschlagen wurden. Gleichwohl verheerten die Perser Athen 479 erneut. (Vgl. Ploetz, S. 139-142) Die Perserkriege endeten offiziell 448 oder 449 im Kallias-Frieden. Das Werk Herodots handelt von den Perserkriegen. Er stellt sich darin die Frage, wie es zu Feindseligkeiten und Gewalthandlungen der Perser gegen die Griechen gekommen ist. (Vgl. Otto 1971, S. 19) In der Zeit der Perserkriege war Athen politisch und kulturell zur führenden Macht Griechenlands (in Konkurrenz zu Sparta) aufgestiegen. Das verlieh den Athenern ein großes Selbstbewusstsein. (Vgl. Ploetz, S. 144) Die Adelsfamilien wurden durch verschiedene institutionelle Reformen (Reformen des Ephialtes, 462/ 461) und Gesetze (Bürgerrechtsgesetz des Perikles, 451/ 450) geschwächt und die Bedeutung der Volksversammlung gestärkt. Die Volksversammlung (Ekklesia) stand nach den Reformen des Ephialtes im Zentrum des politischen Systems. In ihr hatten alle männlichen Bürger Attikas, die das 18. Lebensjahr erreicht hatten, Stimmrecht. 5 Die Volksversammlung wurde vom Rat der 500 vorbereitet, einberufen und durch den Vorsitzenden des Rates geleitet. Jedes Mitglied der Versammlung durfte zu den Vorlagen reden und Anträge einbringen. Bei den Abstimmungen wurde jede einzelne Stimme gezählt. Die Volksversammlung beschloss Gesetze, wählte die Magistrate und befasste sich mit allen laufenden Dingen der Politik. 6 Die Beschlüsse der Ekklesia wurden von den Behörden ausgeführt, die der Rat überwachte und die gegenüber der Volksversammlung und dem Rat strikt weisungsgebunden und rechenschaftspflichtig waren. Ein bedeutendes Wahlamt, für dessen Bekleidung Grundbesitz Voraussetzung und in welchem Gestal- 4 Die Perser hatten die kleinasiatischen Kolonien und Tochterstädte Griechenlands (ionischen Städte) unterworfen. Diese baten die griechischen Poleis um Unterstützung gegen die Herrschaft der Perser. 5 Ausgeschlossen waren Frauen, Sklaven und Fremdarbeiter ohne Bürgerstatus (Metoiken). 6 Die Ämter wurden entweder durch Wahl oder das Los bestimmt. Letzteres war das übliche Verfahren. <?page no="22"?> 3. Entstehungskontext 23 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 23 tungsspielraum vorgesehen war, was besonders den Ehrgeiz der Adligen weckte, war das Amt der Strategie. Für das Volksgericht wurden jedes Jahr 6000 Geschworene aus einer Menge Freiwilliger ausgelost, die das 30. Lebensjahr überschritten hatten. Der vormals bedeutsame Areiopag (Adelsrat) verlor durch die Reformen des Ephialtes seine politischen Funktionen und behielt lediglich die Blutsgerichtsbarkeit als richterliche Aufgabe. (Vgl. Ploetz, S. 149 ff.) Doch woher kam in der attischen Demokratie die politische Initiative, wenn doch eine Regierung und politische Parteien fehlten? Die politische Initiative übernahmen die Demagogen. Obwohl theoretisch jedes Mitglied der Volksversammlung Rederecht besaß, waren es faktisch die Demagogen, die redeten und Anträge stellten. Ihre Stellung beruhte auf persönlicher Einsicht und Redekunst. Sie waren zwar institutionell im politischen System nicht vorgesehen, aber bildeten darin ein unverzichtbares Strukturelement. Häufig nahmen adlige Strategen die Funktion des Demagogen wahr. Einer der berühmtesten war Perikles. Im Bereich der Rechtsprechung spielten die Sykophanten eine große Rolle, die ebenfalls institutionell nicht vorgesehen waren, aber eine strukturelle Funktion einnahmen. Da es keine staatliche Strafverfolgungsbehörde gab, übernahmen die Sykophanten diese Funktion. Aus privater Initiative erhoben sie Anklage gegen Personen, die ihrer Auffassung nach das öffentliche Interesse geschädigt hatten, woraus eine große Rechtsunsicherheit resultierte, weil die juristischen Maßstäbe unklar waren. (Vgl. Ploetz, S. 151) Das charakteristischste Merkmal der attischen Demokratie war allerdings die Souveränität der Volksversammlung, auch wenn aus der Versammlung die Mehrzahl der in Attika lebenden Menschen ausgeschlossen waren (nämlich Frauen, Sklaven, Fremdarbeiter). »Im attischen politischen System ist die Volksversammlung tatsächlich souverän, und zwar nicht nur im Sinne eines Gesetzgebers: Die Volksversammlung herrscht unmittelbar, alle nicht strikt routinemäßigen politischen Angelegenheiten müssen von ihr entschieden werden.« (Ploetz, S. 151) Die attische Demokratie lebte aus dem Bewusstsein, dass die Volksversammlung alles machen könne. (Vgl. Ploetz, S. 151) Gesellschaftspolitisches Im 5. Jahrhundert stellte die Landwirtschaft, ausgeführt von Bauern und Sklaven, den wichtigsten Teil der attischen Wirtschaft. Das Handwerk war in der Regel in häuslichen Kleinbetrieben organisiert (10 bis 30 Beschäftigte). Es existierten Nah- und Fernhandel, wobei der Import wichtiger war als der Export, da Athen für die Ernährung und die Flotte auf Einfuhren angewiesen war. Steuern wurden für die attischen Bürger nur in Notzeiten erhoben. Allerdings waren Bürger und Metoiken verpflichtet, bestimmte Aufgaben zu finanzieren (Leiturgien), wie zum Beispiel die Chöre für das Schauspiel oder die Instandhaltung der Kriegsschiffe für ein Jahr. (Vgl. Ploetz, S. 147 f.) <?page no="23"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 24 24 Kapitel I: Herodot Das Menschen- und Geschichtsbild zu Zeiten Herodots ging davon aus, dass der Mensch ohne den großen Zusammenhang des (göttlichen) Seins nicht zu verstehen ist. Er ist nicht allein und auf sich selbst gestellt, sein Schicksal sich schaffend, der Gunst oder Ungunst des Augenblicks ausgeliefert, sondern er steht in einem höheren Zusammenhang, aus dem letztlich die entscheidenden Gedanken und Antriebe kommen, die er als seine eigenen erfährt und zu verantworten hat. (Vgl. Otto 1971, S. 25) Die Geschichte steht in keinem Gesamtsinn. Somit blickt die griechische Geschichtsschreibung zwar zurück auf den Ursprung, aber sie blickt nicht nach vorn. »Sie weiß nichts von einer Idee, die sich in der Geschichte des Volkes (oder der Menschheit) verwirklichen soll.« (Otto 1971, S. 26) Während bei anderen Völkern das Geschichtsdenken von der Idee einer Zeitwende beherrscht ist, »so sieht der Grieche die Welt in einer für die Ewigkeit begründeten Seinsordnung; und wie er das Weltall als den ewigen Kosmos aller Dinge versteht, so weiß er auch von dem Kosmos menschlichen Geschehens in seiner unwandelbaren Wesenhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit. Daher die wundervolle Ruhe und Heiterkeit, ja Seligkeit, trotz tragischer Erschütterungen, die aus allen Schöpfungen der Griechen leuchtet und nirgends ihresgleichen hat. Die Idee der in sich ruhenden Welt und ihrer für die Ewigkeit gegründeten Seinsordnung ist dem Griechen (…) für das Daseinsbewußtsein entscheidend geblieben«. (Otto 1971, S. 27) Diese Auffassung mutet uns heute fremd an, wir müssen sie aber im Hinterkopf behalten, wenn wir die Primärtexte der griechischen Denker verstehen wollen. 4. Interpretation Die oben abgedruckten Primärtextstellen stammen aus dem Werk »Historien«. Ziel des Werkes ist die Beschreibung der »wahren« Ursachen der Perserkriege. Das erste Buch beginnt mit einer Darstellung der Meinungen der Perser und der Hellenen darüber, wer den Konflikt aus welchen Gründen verursacht hat. »So erzählen die Perser und so die Phoiniker. Ich selber will nicht entscheiden, ob es so oder anders gewesen ist. Aber den Mann will ich nennen, von dem ich sicher weiß, daß er es war, der mit den Feindseligkeiten gegen die Hellenen den Anfang gemacht hat. Und dann will ich fortfahren und berichten, was weiter geschehen ist, und will die Geschichte der großen und der kleinen Städte erzählen. Denn viele Städte, die einst mächtig waren, sind klein geworden, und die zu meiner Zeit mächtig waren, sind früher klein gewesen. Ich weiß, daß menschliche Größe und Herrlichkeit nicht von Bestand ist, und darum will ich der Schicksale beider in gleicher Weise gedenken.« (Herodot, Historien, 1971, S. 3) Die »Historien« umfassen neun Bücher mit jeweils zahlreichen Unterkapiteln. Die Abschnitte 80.-82. des abgedruckten Textes aus dem dritten Buch stellen die berühmte »Verfassungsdebatte« dar. Ein Grundproblem des menschlichen Zusammenlebens ist die Frage, wer eigentlich bestimmen soll, wie die Menschen in einer Gemeinschaft zusammenleben und <?page no="24"?> 4. Interpretation 25 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 25 die Probleme des Lebens meistern. Da diese Frage nicht jeden Tag neu verhandelt werden kann, gibt es eine institutionalisierte Ordnung, die regelt, wem das Recht zu bestimmen zukommt. Aus heutiger Sicht sind in einer Verfassung die grundlegenden Bestimmungen über die Staatsorganisation und Staatsfunktionen, die Staatsaufgaben und Staatsziele sowie die Rechte der Bürger niedergelegt. (Vgl. Schwegmann, in: Nohlen 1998, S. 669) In dem oben abgedruckten Primärtextauszug diskutieren Otanes, Megabyzos und Dareios darüber, welche Verfassung das persische Volk erhalten sollte. Otanes argumentiert für die Einrichtung einer demokratischen Verfassung. Aufgrund der schlechten Erfahrungen mit Alleinherrschern, wie Kambyses oder Mager, traut er einer Herrschaft des ganzen persischen Volkes eine bessere Regierung zu. Dem Alleinherrscher Kambyses sagt er Hochmut und Verantwortungslosigkeit nach. Diese würden sich auf Dauer bei jedem Alleinherrscher einstellen, egal, wie edel sein Gemüt zu Anfangs seiner Herrschaft gewesen sein mag. Ein Alleinherrscher genieße ständig Gutes, das heißt, er lebe in einer privilegierten Stellung, die ihn vom Volk abhebe und mit der Zeit bei ihm eine Überheblichkeit erzeuge. Davor sei keiner gefeit. Aus dieser Abgehobenheit heraus verliere er den Sinn für die gesellschaftlichen Sitten und die Moral: »er rührt an die altüberlieferten Ordnungen, er vergewaltigt die Weiber, er mordet, ohne rechtlich zu verurteilen« (Primärtext). Seine abgehobene Stellung und seine Überheblichkeit erzeugten beim Volk Neid und Missgunst. Unter diesem Spannungsverhältnis zwischen Herrschendem und Beherrschten sei kein innergesellschaftlicher Friede möglich. Der Herrscher sei genötigt, seine abgehobene Stellung mit Gewalt- - oder wenigstens mit deren Androhung- - gegen das eigene Volk zu verteidigen. Das Problem an der Alleinherrschaft sei, dass der Herrscher tun könne, was er wolle. Dies wertet Otanes im Grunde als Konstruktionsfehler, weil er es niemandem zutraut, mit einer absoluten Machtfülle verantwortungsvoll umzugehen. In einer demokratischen Verfassung herrsche hingegen Gleichberechtigung aller, das heißt, keiner habe gegenüber dem anderen eine abgehobene Stellung. Es würde zwar eine Regierung gebildet, diese bekomme aber keinen Freibrief, zu tun, was sie wolle, sondern sie würde zur Verantwortlichkeit gezwungen, indem sie alle Beschlüsse der Volksversammlung vorlegen müsse. Zudem würde die Regierung weder qua Erbfolge noch durch Wahl, sondern durch das Los bestimmt. Dies hat den Vorteil, dass die Bestimmung der Regierung qua Los nahezu voraussetzungslos ist. Man muss nicht in ein bestimmtes Familiengeschlecht hineingeboren worden sein, man braucht kein besonderes Charisma, keinen Machtinstinkt, kein Geld, keine Ideologie, keine Problemlösungsvorschläge, keine Parteien, keine Ochsentour. Es gibt keinen Machtkampf, keine Intrigen, keine Lügen- - es gibt schlicht keinen Wahlkampf. Gegen das Losverfahren spricht, dass das Los einen Unfähigen treffen könnte. Dies kann verhindert werden, indem sich nur diejenigen am Losverfahren beteiligen, die sich ernsthaft zutrauen, eine Regierung zu übernehmen. Zudem würde durch das Losverfahren nicht ausgeschlossen, dass sich die Regierung kompetent beraten ließe. Am Ende seiner Ausführungen begründet Otanes, warum eine <?page no="25"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 26 26 Kapitel I: Herodot Regierung überhaupt dem Volk verantwortlich sein sollte: »auf der Masse beruht der ganze Staat« (Primärtext). Megabyzos hingegen rät zu einer oligarchischen Verfassung. Begründen kann er dies allerdings nicht. Er behauptet schlicht: »Es ist doch klar, daß von den Adligsten auch die edelsten Entschlüsse ausgehen.« (Primärtext) Ende der Debatte. Gegen die demokratische Verfassung wendet er ein, dass es nichts Unverständigeres und Hochmütigeres gäbe, als die blinde Masse. Das Volk würde überheblich und zügellos. Es sei ohne Sinn und Verstand und habe keine Vernunft. Der Alleinherrscher wisse, was er tue, das Volk jedoch nicht. Die Gegenüberstellung Volk bzw. Masse und Alleinherrscher bzw. Adlige verweist auf eine Problematik, die theoretisch großes Kopfzerbrechen bereitet. Konkreten Personen wie Alleinherrschern oder einer Gruppe von Adligen können Eigenschaften wie Hochmut, Zügellosigkeit, Wissen, Sinn, Verstand und Vernunft zugesprochen werden. Die Frage aber wer oder was eigentlich »das Volk« ist, beschäftigt die Theoretiker bis heute. Ist es mehr als die Summe aller Bürger, die in einem Staat leben? Kann das Volk in der Realität identifiziert und zu einem handelnden Subjekt werden, das sich ohne Sinn und Verstand auf die Staatslenkung stürzt? Sartori als Theoretiker der Gegenwart stellt in seinem Werk »Demokratietheorie« Überlegungen zum »Volksbegriff« an. Darin gelangt er zu sechs Deutungen: Volk als (1) buchstäblich jedermann, als (2) ein unbestimmter großer Teil, sehr viele, als (3) Unterschicht, als (4) unteilbare Einheit, ein organisches Ganzes, als (5) größerer Teil im Sinne eines absoluten Mehrheitsprinzips und als (6) größerer Teil im Sinne eines eingeschränkten Mehrheitsprinzips. (Vgl. Sartori 1992, S. 30) In diesen Deutungen zeigen sich auch die zwei Möglichkeiten, das Volk entweder summarisch, bestehend aus vielen Individuen oder als eigene Entität (Wesenheit), als Ganzheit, wie ein Körper, der einen eigenen Willen oder eine Seele besitzt, zu verstehen. Diese beiden prinzipiellen Deutungen von »Volk« werden uns im Folgenden immer wieder begegnen und beschäftigen. Im Unterschied zu Otanes scheint jedenfalls Megabyzos einer Regierung des Volkes wenig zuzutrauen. Er ist offenbar der Auffassung, dass die Regierenden etwas Besonderes sein müssen und kann sich anscheinend nicht vorstellen, dass derart geeignete Herrscher aus dem Volk hervorgehen könnten. Dareios plädiert für eine monarchische Verfassung. Ohne auf die Bedenken seiner Vorredner einzugehen, hält er an der Idee fest: »Es gibt nichts Besseres, als wenn der Beste regiert.« (Primärtext) Der Beste würde untadelig für sein Volk sorgen. Doch wie man »den Besten« findet, dazu äußert er sich nicht. Zudem würde sowohl die Oligarchie als auch die Demokratie auf Dauer in eine monarchische Verfassung umschlagen. Und praktisch habe sich die Monarchie ohnehin bewährt, indem das persische Volk durch einen Alleinherrscher zur Freiheit gelangte. Gegen die Oligarchie bringt er vor, dass in einer Gruppe von Herrschenden jeder der Erste sein und seine Meinung durchsetzen wolle, weshalb es zu Verfeindungen untereinander, zu Unruhen und Mordtaten käme. Gegen die Demokratie führt er an, dass sich Schlechtigkeit und Gemeinheit einstellen würde und folgt dabei den Vorbehalten des Megabyzos’ gegen- <?page no="26"?> 5. Literatur 27 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 27 über dem Volk. Der Staat würde von verbündeten Schlechten des Volkes ausgebeutet. Am Ende seiner Ausführungen wird die konservative Einstellung Dareios’ deutlich, indem er sagt: »und überhaupt sollten wir die altüberlieferte Verfassung nicht umstoßen. Das ist von Übel.« (Primärtext) Dies ist im Zusammenhang dieser Debatte kein Argument, denn es geht um die theoretische Diskussion von Verfassungsformen. Ob gesellschaftspolitische Entwicklungen reformistisch-emanzipativ, revolutionärumstürzlerisch oder reaktionär-bewahrend vorangetrieben werden sollten, wäre eine eigene Debatte. Welchen Beitrag leistet Herodots Werk zur Entwicklung der Demokratietheorie? Die »Historien« stellen keine politische Theorie dar, sondern es handelt sich um den ersten Versuch, historische Ereignisse einer Stadt oder eines Volkes in einem Gesamtzusammenhang zu betrachten und zu beschreiben. Diese Art der Betrachtungsweise umfasst die Idee von Objektivität und Kausalität. Sie enthält den Gedanken, dass das Handeln der Menschen Alternativen hat und sie in der Lage sind, ihre Lebensverhältnisse zu gestalten. Dennoch sieht Herodot alles Sein und Geschehen mit dem Göttlichen verknüpft und bewegt sich damit noch nicht im Geiste eines modernen, rationalen, empiristischen (tatsachenorientierten) Wirklichkeitsverständnisses. (Vgl. Otto 1971, S. 26) Die in den »Historien« enthaltene Verfassungsdebatte setzt allerdings den Ausgangspunkt für die politische Philosophie, in welcher Weise ein Gemeinwesen institutionell organisiert werden kann und welche Argumente für oder gegen eine demokratische, aristokratische oder monarchische Form sprechen. Diese Argumente lassen sich bis heute durch die gesamte Ideengeschichte verfolgen. 5. Literatur Der Große Ploetz: die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, begründet von Dr. Carl Ploetz, 34., neu bearbeitete Auflage, bearbeitet von 80 Fachwissenschaftlern, Freiburg i. Br. ohne Jahr. Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu herausgegeben und erläutert von H. W. Haussig. Mit einer Einleitung von W. F. Otto, vierte Auflage, Stuttgart 1971. Meier, Christian: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/ M. 1983. Nohlen, Dieter/ Schultze, Rainer-Olaf/ Schüttemeyer, Suzanne S. (Hrsg.): Lexikon der Politik. Politische Begriffe, Band 7, Frankfurt/ M. 1998. Otto, Walter F.: Herodot und die Frühzeit der Geschichtsschreibung, in: Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe, 4. Auflage, Stuttgart 1971, S. 11-28. Sartori, Giovanni: Demokratietheorie. [Originalausgabe: The Theory of Democracy revisited, New Jersey 1987.] Aus dem Englischen übersetzt von Hermann Vetter. Herausgegeben von Rudolf Wildenmann, Darmstadt 1992. Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 17., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1999. <?page no="27"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 28 <?page no="28"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 29 29 Kapitel II: Platon 1. Primärtext 1.3 Die Demokratie 1.3.1 Ihre Entstehung Nächstdem haben wir wohl, wie es scheint, die Demokratie zu betrachten, auf welche Weise sie entsteht und nach welcher, wenn entstanden, sie sich hält, damit wir auch die Weise eines ebensolchen Mannes kennen lernen, um ihn dann vor Gericht zu ziehen.- - So wenigstens bleiben wir uns gleich in unserem Vorgehen.- - Der Staat aber wandelt sich wohl so ungefähr von der Oligarchie in die Demokratie, aus Unersättlichkeit in dem vorgesteckten Guten, nämlich dem größtmöglichen Reichtum.-- Wieso? -- Weil ja die Herrschenden in diesem Staat wegen ihres großen Besitzes herrschen, so mögen sie nicht gern solche Jünglinge, die etwa ausschweifend werden, durch das Gesetz in Schranken halten, so daß es ihnen etwa nicht freistände, das Ihrige zu verschwenden und durchzubringen, damit sie dann das Eigentum von solchen an sich kaufen oder als Unterpfand für Darlehen annehmen können, um dadurch noch reicher und geehrter zu werden.-- Das wäre ihnen eben recht.-- Nun ist das doch wohl klar, daß in einem Staat unmöglich der Reichtum geehrt und zugleich Besonnenheit und Mäßigung genug in den Bürgern hervorgebracht werden kann, sondern notwendig wird entweder das eine vernachlässigt oder das andere.-- Das ist hinreichend klar, sagte er.- - Indem sie also in Oligarchien Zügellosigkeit übersehen und freigeben, so werden oft Menschen, die gar nicht unedel sind, in die Armut hineingedrängt.-- Freilich wohl.-- Diese nun, denke ich, sitzen in der Stadt, wohlbestachelt und völlig gerüstet, einige verschuldet, andere ihrer bürgerlichen Stellung beraubt, noch andere beides, alle aber denen zürnend und auflauernd, welche das Ihrige besitzen, sowie den übrigen auch, und nach Neuerung begierig.- - So ist es.- - Jene Sammler aber, immer auf die Sache erpicht, als ob sie diese Menschen gar nicht sähen, verwunden immer wieder jeden, der nur um ein weniges ausweicht, indem sie ihm ihr Gold beibringen, und während sie nun an Zinsen das wer weiß wievielfache ihres ursprünglichen Vermögens aufhäufen, vermehren sie in dem Staate die Zahl der Drohnen und Armen.- - Wie sollten freilich, sprach er, deren nicht viele werden! -- Und weder auf jene Weise wollen sie dieses schon auflodernde große Unheil löschen, daß sie Schranken setzen, damit nicht jeder ganz nach Gutdünken mit dem Seinigen schalte, noch auch auf diese, wie wiederum vermöge eines anderen Gesetzes dergleichen aufgehoben wird.- - Welches anderen denn? -- Es ist nächst jenem das zweite und nötigt die Bürger, sich der Tugend zu befleißigen. Denn wenn man anordnet, daß jeder die meisten solcher freiwilligen Verhandlungen auf seine eigene Gefahr abschließen muß, so werden sie in der Stadt <?page no="29"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 30 30 Kapitel II: Platon schon minder schamlos Wucher treiben, mithin auch in ihr weniger von solchem Obel 1 aufkommen, als wir eben beschrieben haben.-- Bei weitem gewiß, sprach er.-- Nun aber, sagte ich, bringen doch durch alles dieses zusammen die Regierenden ihre Regierten in diese Stimmung. Was aber sie selbst und die Ihrigen betrifft, machen sie nicht ihre Jünglinge schwelgerisch, zu leiblichen und geistigen Anstrengungen untüchtig, weichlich aber und träge, wenn es darauf ankommt, sich gegen Lust und Unlust zu wahren? -- Wie anders? -- Sie selbst aber, unbesorgt um alles, ausgenommen den Gelderwerb, bemühen sich um nichts mehr um die Tugend als die Armen auch.-- Freilich nicht.-- Wenn nun beide in solcher Verfassung, Regierende und Regierte, zusammentreffen, sei es nun auf Reisen oder bei anderen Veranlassungen, bei öffentlichen Aufzügen oder im Kriege, als Gefährten zur See oder im Felde oder auch wenn sie im Augenblick der Gefahr selbst einander im Auge haben und hier dann keineswegs die Armen von den Reichen verachtet werden können, vielmehr gar oft ein hagerer, von der Sonne verbrannter Armer, wenn er in der Schlacht neben einem im Schatten verweichlichten Reichen zu stehen kommt, sieht, wie dieser wegen des vielen fremden Fleisches 2 an Engbrüstigkeit und Beschwerden aller Art leidet; meinst du nicht, daß er bei sich denken werde, solche Leute waren nur durch seine und der Seinigen Feigheit reich, und daß, wenn sie hernach unter sich zusammenkommen, einer dem anderen verkündigen wird: Unsere Herren sind nichts? - - Sehr wohl weiß ich, sprach er, daß sie es so machen.- - Wie nun ein kränklicher Körper nur einen kleinen Anstoß von außen bekommen darf, um ganz darniedergeworfen zu werden, ja bisweilen auch ohne irgendetwas Äußeres sich in sich selbst entzweit, so wird auch ein Staat, der sich in gleicher Verfassung befindet, schon aus einer geringen Veranlassung, wenn von außen her den einen von einem oligarchischen oder den anderen von einem demokratischen Staat Hilfe zugeführt wird, erkranken und der innere Streit ausbrechen, bisweilen wird er auch ohne etwas Äußeres in Aufruhr geraten.-- Gewiß, sagte er.-- So entsteht daher, denke ich, die Demokratie, wenn die Armen den Sieg davontragen, dann von dem anderen Teil einige hinrichten, andere vertreiben, den übrigen aber gleichen Teil geben am Bürgerrecht und an der Verwaltung, so daß die Obrigkeiten im Staat großenteils durchs Los bestimmt werden.-- Dieses, sagte er, ist wohl die Begründung der Demokratie, mag sie nun durch die Waffen zustande kommen oder nachdem der andere Teil aus Furcht sich zurückgezogen hat. 1.3.2 Die Eigenschaften der demokratischen Verfassung Auf welche Weise, sprach ich, leben nun diese? Und wie ist wiederum diese Staatsverfassung beschaffen? Denn offenbar wird uns auch ein solcher demokratischer Mann zum Vorschein kommen.-- Offenbar, sagte er.-- Und nicht wahr, zuerst sind 1 Gewinn. 2 Fettleibigkeit ist hier gemeint. <?page no="30"?> 1. Primärtext 31 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 31 sie frei und die ganze Stadt voll Freiheit und Zuversichtlichkeit, und Erlaubnis hat jeder darin zu tun, was er will? - - So sagt man ja wenigstens, sprach er.- - Wo aber solche Erlaubnis ist, da offenbar richtet jeder sich seine Lebensweise für sich ein, welche eben jedem gefällt.-- Offenbar.-- So finden sich denn in solcher Verfassung vorzüglich gar vielerlei Menschen zusammen.- - Wie sollten sie nicht! - - Am Ende, sprach ich, mag dies die schönste unter allen Verfassungen sein; wie ein buntes Kleid, dem recht vielerlei Blumen eingewirkt sind, so konnte auch diese, in welche allerlei Sitten verwebt sind, als die schönste erscheinen.- - Warum nicht? sagte er.- - Und vielleicht, sprach ich, werden auch wohl viele, die wie Kinder und Weiber auf das Bunte sehen, diese für die schönste erklären.-- Gewiß! sagte er.-- Und es ist auch gar bequem, sprach ich, in ihr eine Verfassung zu suchen.-- Wie das? -- Weil sie vermöge jener Erlaubnis alle Arten von Verfassungen in sich schließt; und wenn einer, wie wir es ja eben taten, einen Staat einrichten will, so scheint es, braucht er nur in eine demokratisch geordnete Stadt zu gehen und sich dort, welcher Schnitt ihm am besten gefällt, den aussuchen, als wenn er sich in einer Trödelbude von Staatsverfassungen umsähe, und nun, sowie er ausgewählt hat, seinen Staat einrichten.- - Nicht leicht freilich, sagte er, möchte es ihm an Mustern fehlen.-- Und, fuhr ich fort, daß man so gar nicht gezwungen ist, am Regiment teilzunehmen in einem solchen Staat, und wenn du auch noch so geschickt dazu bist, noch auch zu gehorchen, wenn du nicht Lust hast, und ebensowenig, wenn die anderen Krieg führen, auch mitzukämpfen, oder Frieden zu halten, wenn die anderen ihn halten, dir aber stände es etwa nicht an; und auf der anderen Seite, wenn auch ein Gesetz dir verbietet, ein Amt zu bekleiden oder zu Gericht zu sitzen, du doch nichtsdestoweniger regieren kannst und Recht sprechen, wenn es nur dir selbst in den Sinn kommt, ist solches nicht vornweg eine gar wundervolle und anmutige Lebensweise? -- Vielleicht, sagte er, so vornweg wohl.-- Und wie? Die Milde der Verurteilten, ist die nicht manchmal prächtig? Oder hast du noch nicht gesehen, daß in einem Staate Menschen, wenn sie zum Tode verurteilt oder des Landes verwiesen sind, nichtsdestoweniger bleiben und mitten unter den anderen herumgehen? Und als ob niemand sich darum kümmerte oder keiner es sähe, stolziert ein solcher umher wie ein Heros.- - Gar viele schon, sagte er.-- Und die Nachsicht dieses Staates, der so gar nichts weiß von irgendeiner Kleinigkeitskrämerei, sondern sich daraus gar nichts macht, was wir mit so gewichtigem Ernst vorbrachten, als wir unsere Stadt einrichteten, daß, wenn nicht einer eine ganz überschwengliche Natur habe, keiner ein tüchtiger Mann wird, wenn nicht schon seine Spiele als Knabe eine edle Abzweckung haben und er hernach auch nur dergleichen alles ernstlich treibt, wie großmütig über alles dieses hinwegschreitend ein solcher Staat nichts danach fragt, von was für Bestrebungen und Geschäften einer herkomme, der an die Staatsgeschäfte geht, sondern ihn schon in Ehren hält, wenn er nur versichert, er meine es gut mit dem Volk.-- Gar edel, sagte er, ist freilich diese Nachsicht.-- Dieses also, sagte ich, und anderes dem Verwandtes hätte die Demokratie und wäre, wie es scheint, eine anmutige, regierungslose, buntscheckige Verfaswww.claudia-wild.de: <?page no="31"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 32 32 Kapitel II: Platon sung, welche gleichmäßig Gleichen wie Ungleichen eine gewisse Gleichheit austeilt.-- Sehr kenntlich, sagte er, beschreibst du sie. 1.3.3 Der demokratische Mensch Sieh nun zu, sprach ich, wer ein solcher einzelner ist. Oder sollen wir, wie wir es auch bei der Verfassung getan haben, zuerst fragen, auf welche Weise er entsteht? -- Ja, sagte er.-- Sollte es also nicht so etwa geschehen? Jener sparsame oligarchische Mann habe einen Sohn, der von seinem Vater in dessen Sitten erzogen wird.-- Den habe er.-- Mit Gewalt also herrscht auch dieser über die ihm innewohnenden Lüste, sofern sie verschwenderisch sind, über die gewinnbringenden aber nicht, welche ja auch nicht notwendige heißen.-- Offenbar, sagte er.-- Sollen wir aber auch, sprach ich, damit unsere Rede nicht im Dunkeln tappe, zuvörderst die notwendigen und nicht notwendigen Begierden bestimmen? -- Das wollen wir.-- Also diejenigen sowohl heißen mit Recht notwendige, welche wir nicht imstande sind abzuweisen, als auch diejenigen, deren Befriedigung uns nützlich ist; denn zu diesen beiden treibt uns unsere Natur notwendig hin. Oder nicht? -- Allerdings.-- Mit Recht also sagen wir dieses von ihnen aus, das Notwendige.-- Mit Recht.-- Wie aber? -- Die einer loswerden kann, wenn er von Jugend auf daran denkt, und die, wo sie gehegt werden, zu nichts Gutem mitwirken, teils wohl gar zum Gegenteil, wenn wir von diesen insgesamt behaupten, daß sie nicht notwendig sind, wird das nicht richtig gesagt sein? -- Richtig allerdings.-- Wollen wir nicht lieber auch ein Beispiel von beiden aufstellen, was für welche es sind, damit wir einen Abriß von ihnen haben? - - Das ist wohl nötig.- - Also die Begierde, essen zu wollen, soviel wie Gesundheit und Leibesstärke erfordern, und zwar Brot und Fleisch, wäre eine notwendige? -- So denke ich.-- Und zwar die nach Brot in beider Hinsicht notwendig, sofern sie förderlich ist und sofern man nicht mehr leben könnte, wenn man sie nicht befriedigt.-- Ja.-- Die nach Fleisch aber nur, sofern es etwas zur Leibesstärke beiträgt.- - Allerdings.- - Wie aber, die hierüber hinaus und auf ausländische Leckereien und dergleichen geht und die doch durch gute Zucht von Jugend an und durch Unterricht den meisten vertrieben werden kann und dem Leibe schädlich, ebenso aber auch der Seele zur Weisheit und Besonnenheit hinderlich ist, diese würden wir ja wohl mit Recht eine nicht notwendige nennen? -- Vollkommen richtig.-- Können wir aber nicht auch sagen, daß diese verschwenderische sind, jene aber gewinnbringende, weil sie ja nützlich sind zur Führung der Geschäfte? - - Warum nicht? -- Auf dieselbe Weise demnach wollen wir uns auch über die den Geschlechtstrieb betreffenden und die übrigen erklären.-- Ebenso.-- Die wir nun vorher Drohnen nannten, sollten doch solche sein, die voll dieser Lüste und Begierden von den nicht notwendigen beherrscht werden, von den notwendigen aber die sparsamen oligarchischen? - - Wie wäre es anders? - - Und nun also kommen wir darauf zurück, wie aus einem oligarchischen ein demokratischer Mann wird. Es scheint mir aber größtenteils so zu geschehen.- - Wie? - - Wenn ein, wie wir vorher schon sagten, ungebildet und <?page no="32"?> 1. Primärtext 33 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 33 kärglich erzogener Jüngling von dem Honig der Drohnen kostet und mit feurigen und gewitzigten Unholden zusammenkommt, welche mannigfaltige und die größten Abwechslungen darbietende Vergnügungen aller Art zu verschaffen wissen, so glaube mir, von da nimmt es seinen Anfang, daß das Oligarchische in ihm sich in Demokratisches verwandelt.-- Ganz notwendig, sagte er.-- Und wie der Staat sich verwandelte, wenn dem einen Teil ein Bündnis von außen, Ähnliches dem Ähnlichen, zu Hilfe kam, so verwandelt sich auch der Jüngling, wenn der einen Gattung Begierden bei ihm die verwandten und ähnlichen von außen zu Hilfe kommen.-- Auf alle Weise.-- Und wenn nun, denke ich, auf der anderen Seite auch dem Oligarchischen in ihm eine andere Hilfsmacht Beistand leistet, sei es nun vom Vater her oder von den Verwandten, die ihn zurechtsetzen und schelten, so entstehen dann in ihm Parteien und Gegenparteien und Streit mit sich selbst.-- Wie sonst? -- Und das eine Mal muß wohl, meine ich, das Demokratische dem Oligarchischen weichen, und von den Begierden gehen einige zugrunde, andere werden auch vertrieben, wenn irgend Scham in des Jünglings Seele Raum gewonnen hat; und so wird er wieder zur guten Ordnung zurückgebracht.- - Das geschieht wohl bisweilen, sagte er.- - Dann aber, denke ich, werden wieder andere mit den Vertriebenen verwandte und mit aufgewachsene Begierden vermöge des Mangels an Einsicht in der väterlichen Erziehung mächtig und zahlreich.-- Das pflegt wohl so zu gehen, sagte er.-- Diese ziehen ihn dann wieder in denselben Umgang hinein und vermehren sich durch diesen heimlichen Verkehr.-- Wie sollten sie nicht! -- Und am Ende, denke ich, nehmen sie die Burg in der Seele des Jünglings in Besitz, nachdem sie gemerkt haben, daß es darin fehlt an schönen Kenntnissen und Bestrebungen und an richtigen Grundsätzen, welche doch immer die besten Hüter und Wächter sind in den Seelen gottbefreundeter Männer.- - Bei weitem wohl, sagte er.-- Hier aber, glaube ich, haben falsche Sätze und hoffärtige Meinungen einen Anlauf genommen und statt jener sich desselben Ortes bemächtigt.-- Jawohl, sagte er.-- Geht er dann nicht wieder zu jenen Lotophagen 3 und lebt nun ganz öffentlich mit ihnen? Und wenn von den Angehörigen her irgendeine Hilfe für das Sparsame in seiner Seele anlangt, so schließen jene hoffärtigen Reden die Tore der königlichen Feste in ihm und lassen weder die Hilfsmacht hinein, noch auch nehmen sie Reden von Älteren, weil sie ja doch nur von einzelnen kämen, als Abgesandte auf; dagegen siegen sie im Gefecht und treiben dann die Scham, welche sie Dummheit nennen, ehrlos als Flüchtling hinaus, die Besonnenheit nennen sie unmännliches Wesen und jagen sie unter schimpflichen Behandlungen fort, Mäßigkeit aber und häusliche Ordnung stellen sie als bäurisches und armseliges Wesen dar und bringen sie über die Grenze, unterstützt von einer Menge nutzloser Begierden.-- Sehr gewiß.-- Haben sie nun die Seele des von ihnen Eingenommenen und Geweihten von diesen 3 Vgl. Homer, Odyssee IX, 82-104: Der Lotos, den die Lotophagen (»Lotosesser«) zu sich nehmen, löscht alle Erinnerung und damit auch den Wunsch zur Heimkehr aus. [Anm. d. Hrsg.] <?page no="33"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 34 34 Kapitel II: Platon allen mit großem Aufwand ausgeleert und gereinigt, dann holen sie mit einem zahlreichen Chor den Übermut ein und die Unordnung und die Schwelgerei und die Unverschämtheit, glänzend geschmückt und bekränzt unter Lobpreisungen und süßen Schmeichelreden, indem sie den Obermut als Wohlgezogenheit begrüßen, die Unordnung als Freisinnigkeit, die Schwelgerei als großartige Lebensweise und die Unverschämtheit als mannhafte Zuversicht. Geschieht es nicht so, sprach ich, daß einer in der Jugend aus einem bei den notwendigen Begierden Auferzogenen zur Befreiung und Loslassung der nicht notwendigen übergeht? -- Und das sehr deutlich, antwortete er.-- Nach diesem nun, denke ich, lebt ein solcher so, daß er Geld, Zeit und Mühe um nichts mehr auf die notwendigen als auf die nicht notwendigen verwendet. Ja, wenn er glücklich ist und von jener bacchischen Begeisterung nicht noch weiter fortgerissen wird, vielmehr, nachdem er etwas älter geworden ist und das große Getümmel sich etwas verlaufen hat, er dann die Vertriebenen zum Teil wieder aufnimmt und sich den damals Eingedrungenen nicht gänzlich hingibt, so wird er dann in einem gewissen ruhigeren Gleichgewicht der Lüste leben, indem er der, welche jedesmal eintritt, als ob das Los sie getroffen hätte, die Herrschaft in sich übergibt, bis sie befriedigt ist, und dann wieder einer anderen, indem er keine nachteilig auszeichnet, sondern sie alle gleichmäßig pflegt.-- So allerdings.-- Eine wahre Rede aber, fuhr ich fort, nimmt er nicht an, noch läßt er sie in seine Wacht, wenn eine etwa aussagte, einige Lüste rührten von edlen und guten Begierden her, andere aber von schlechten, und jenen müsse man nachstreben und sie ehren, diese aber bändigen und unterwerfen; sondern hierüber hat er immer nur eine Antwort, daß sie alle einander ähnlich sind und auf gleiche Weise zu ehren.-- Gar sehr, sagte er, ist es so mit ihm bestellt, und so handelt er.- - Also, sprach ich, so verlebt er für sich seine Tage, immer der eben aufgeregten Begierde gefällig, bald im Rausch und übermütig, dann wieder trinkt er Wasser und hält magere Kost, bald emsig in Leibesübungen, manchmal auch träge und sich um nichts kümmernd, bald wieder, als vertiefe er sich ganz in die Wissenschaft. Oft auch treibt er die öffentlichen Angelegenheiten, und wenn er aufspringt, redet und handelt er, wie es sich gerade trifft. Wird er einmal eifersüchtig auf Kriegsmänner, so wendet er sich dahin, und wenn auf Geldmänner, dann auf diese Seite. So daß irgendeine Ordnung oder Notwendigkeit gar nicht über sein Leben schaltet; sondern ein solches Leben nennt er anmutig und frei und selig und hält sich überall danach.- - Auf alle Weise, sprach er, hast du das Leben eines Mannes durchgenommen, der alles zu gleichen Rechten behandelt.-- Und meiner Meinung nach, fuhr ich fort, ist der Mann ein gar mannigfaltiger, die meisten Sitten und Gemütsstimmungen in sich vereinigend und schier ebenso schön und bunt wie jener Staat, so daß ihn auch viele Männer und Frauen seiner Lebensweise wegen beneiden, weil er auch die Muster der meisten Verfassungen und Denkungsarten in sich trüge.-- So, sprach er, verhält es sich.- - Wie nun? Soll uns ein solcher Mann auf die Seite der Demokratie gestellt bleiben als einer, der mit Recht den Namen eines demokratischen führt? -- Dahin soll er gestellt bleiben, sagte er. <?page no="34"?> 3. Entstehungskontext 35 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 35 (Aus: Platon: Der Staat. Bearbeitet von Dietrich Kurz. Griechischer Text von Émile Chambry. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Werke in acht Bänden griechisch und deutsch, vierter Band, herausgegeben von Gunther Eigler, WBG, Darmstadt 2001, S. 675-695 [555 b-- 562 a.].) 4 2. Leitfragen a. Aus welchem Grund wandelt sich die Oligarchie in eine Demokratie, welcher Widerspruch liegt der Oligarchie zugrunde und welche Konsequenzen hat dieser? b. Welche Eigenschaften hat nach Platon eine demokratische Verfassung? c. Wodurch ist ein demokratischer Mensch charakterisiert? d. Belegen Sie, dass die Demokratie für Platon eine schlechte Verfassungsform darstellt. 3. Entstehungskontext Biografisches Platon wurde 427 v. Chr. als Sohn einer der führenden Familien Athens geboren. Mit 20 Jahren begegnete er Sokrates, dessen Schüler er von da an acht Jahre lang war. Sokrates wurde im Alter von 70 Jahren wegen angeblich verderblichen Einflusses auf die Jugend und Gottlosigkeit angeklagt und zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilt. Aus Achtung der Gesetze nahm er das Urteil an und verzichtete auf angebotene Fluchthilfen. Nach der Verurteilung und Hinrichtung von Sokrates (399 v. Chr.) wandte sich Platon von Athen ab, unternahm ausgedehnte Reisen und hielt sich einige Zeit am Hof des Tyrannen Dionys von Syrakus auf, um ihn für seine Idee eines idealen Staates zu gewinnen, was ihm aber nicht gelang. Unter dem Eindruck seines Lehrers Sokrates widmete er sein Leben der Philosophie und gründete 387 v. Chr. in seiner Heimatstadt eine Schule, die nach seinem Tode den Namen »Platonische Akademie« erhielt und noch Jahrhunderte fortbestand. Im Jahr 347 v. Chr. verstarb er in Athen im Alter von 80 Jahren mitten in voller Arbeit. (Vgl. Störig 1999, S. 172.) Zeitliches Während der Kindheit und Jugend Platons wütete der Peleponnesische Krieg (431- 404 v. Chr.). In der Zeit der »Pentekontaetie«, so werden die fünfzig Jahre zwischen den Perserkriegen und dem Peloponnesischen Krieg bezeichnet (480-431 v. Chr.), 4 Es gibt sehr viele Platon-Ausgaben. Damit die Textstellen auch in anderen Ausgaben wiedergefunden werden können, tragen alle Zitate die Abschnittszahlen, nach denen man Platon allgemein zitiert. <?page no="35"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 36 36 Kapitel II: Platon stieg Athen neben Sparta zur Hegemonialmacht auf. Der als Schutz gegen die Perser geschlossene »Delisch-Attische Seebund« (478/ 477), dem zahlreiche Poleis in Kleinasien und vorgelagerte Inseln angehörten, festigte die Vormachtstellung Athens in Griechenland. (Vgl. Ploetz, S. 144) Sparta verfügte durch die mehrere Poleis umfassende »Peloponnesische Liga« (um 560 v. Chr.) über ein eigenes Bündnissystem. (Vgl. Ploetz, S. 133) Athen und Sparta konkurrierten um die Vormachtstellung in Griechenland, hielten aber zwischen 480 und 431 Frieden. In Athen hatte es Perikles (um 490-429 v. Chr.) als Stratege und Demagoge zu großem Einfluss gebracht. Unter ihm entwickelte sich die attische Demokratie und Kultur zu voller Blüte (Perikleisches Zeitalter). Infolge verschiedener Auseinandersetzungen zwischen einigen Städten wurden die Bündnispartnerschaften aktiviert. Athen provozierte die »Peloponnesische Liga« durch den Ausschluss Megaras von allen Häfen der attischen Arche, woraufhin die Liga 432 Athen den Krieg erklärte. Mit dem »Archimedischen Krieg« im Jahr 431 wird der Beginn des Peloponnesischen Krieges datiert. 430 brach in Athen die Pest aus, der Perikles 429 erlag. Ihm folgte zunächst Kleon (gestorben in einer Schlacht 421) als der einflussreichste Demagoge Athens. Mit dem Tod des Perikles und den Kämpfen gegen die »Peloponnesische Liga« wurde die attische Demokratie instabil, ablesbar an mehreren Verfassungsänderungen zwischen 411 und 403. Die athenische Polis war im Niedergang und Verfall begriffen. Der Peloponnesische Krieg endete mit einem Sieg Spartas. (Vgl. Ploetz, S. 153 ff.) Gesellschaftspolitisches Hat Herodot als Geschichtsschreiber die geschichtlichen Ereignisse noch im Rahmen des griechisch-mythologischen Weltbildes interpretiert, stand das Denken der griechischen Philosophen nicht im Einklang mit dem Weltbild und Glauben der griechischen Bürger. Die griechische Religion war vor allem in den Dichtungen Homers und dem Werk Hesiods überliefert. Neben der dort entfalteten schönen, hellen, gütigen, menschliche Züge tragenden Götterwelt gab es eine weitere gleichermaßen wirkungsvolle, aus dem Orient stammende religiöse Strömung, die dem Dunkeln und Jenseits zugewandt war (hierzu können die Eleusinischen Mysterien, der Dionysoskult und die Orphik gezählt werden). (Vgl. Störig 1999, S. 135) Die Zeit, in der sich der griechische Geist allmählich von der überlieferten Religion und Vorstellungswelt abzulösen begann, um mittels selbständigen, vernunftmäßigen Denkens die Welt aus natürlichen Ursachen zu erklären, liegt um das Jahr 550 v. Chr. (Vgl. Störig 1999, S. 136) Die Geschichte der griechischen Philosophie, die im 6. Jahrhundert v. Chr. ihren Anfang nahm und mit dem 6. Jahrhundert n. Chr. endete, umfasst drei Hauptperioden: die erste Hauptperiode hebt mit den Naturphilosophen an, die unter Befreiung von theologischen Vorstellungen auf die Suche nach einem »Urstoff« gehen. Sie werden auch »Vorsokratiker« genannt. (Vgl. Störig 1999, S. 137) Zwischen der ersten und <?page no="36"?> 4. Interpretation 37 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 37 zweiten Hauptperiode finden sich die griechischen Sophisten 5 . Diese standen unter dem Eindruck der großen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen Griechenlands. Nach dem Sieg gegen die Perser entstand in Griechenland und vor allem in Athen Wohlstand und Reichtum, wodurch das Bedürfnis nach höherer Bildung stieg. In der demokratischen Verfassung gewann die öffentliche Rede an Bedeutung, denn in den Volksversammlungen und vor den Volksgerichtshöfen konnte derjenige einen Vorteil erzielen, der seine Sache überzeugend zu vertreten wusste. Wer also in der Gesellschaft erfolgreich sein wollte, benötigte eine Ausbildung als Staatsmann und Redner. Diesem Bedürfnis kamen die Sophisten entgegen, indem sie als Wanderlehrer gegen Entgelt Unterricht in Beredsamkeit erteilten. (Vgl. Störig 1999, S. 160) Die Sophisten gelten als Wegbereiter für die drei bekanntesten Denker der Antike, die für die zweite Hauptperiode der griechischen Philosophie stehen: Sokrates, Platon und Aristoteles, von denen der Jüngere jeweils Schüler des Älteren war. Hinsichtlich der politischen Geschichte der Griechen liegt der Schwerpunkt dieser Periode am Beginn des politischen Niedergangs. Die dritte und längste Hauptperiode wird mit dem Tode des Aristoteles markiert. In ihr neigte sich der Sinn für die Naturgeschichte. Die Schulen der Stoiker, Epikureer und Skeptiker stellten den Menschen und die Ethik in den Mittelpunkt ihres denkerischen Interesses. (Vgl. Störig 1999, S. 137 f.) Das politiktheoretische Denken Platons fand also in einer geistigen Umbruchsphase statt: Trennung von Mythologie und (mit den menschlichen Sinnen erfahrbarer) Wahrheit. Dementsprechend wurde die Begründung menschlichen Zusammenlebens ohne Rückgriff auf göttliches Wirken gedacht, der Mensch und damit auch seine Verantwortlichkeit in das Zentrum des politischen Handelns gerückt. 4. Interpretation Der oben zitierte Primärtext stammt aus dem Werk »Der Staat« (griechisch: »Politeia«, entstanden zwischen 387 und 367 v. Chr.), das als erste erhaltene und maßgebende Schrift der abendländischen politischen Theorie gilt. (Vgl. Zehnpfennig, in: Stammen 2007, S. 418) Sie ist in der für Platons Werk charakteristischen Dialogform geschrieben. Gleichwohl sind die Redeanteile der Dialogpartner sehr ungleich verteilt. In »Politeia« begründet Platon einen idealen Staat, der es den Menschen ermöglichen soll, ihre Seele zu vervollkommnen. Der Ausgangspunkt der Staatskonstruktion ist der Mensch und zwar der glückliche Mensch, der sittlich gut ist. Platon sieht demnach einen Zusammenhang von Glückseligkeit und Sittlichkeit. Das Ziel der Vervollkommnung der Seele wird bei ihm nicht durch einen demokratisch organisierten Staat ermöglicht, sondern durch den »Philosophenstaat«, der den gerechten Men- 5 Das griechische Wort »Sophistai« heißt »Lehrer der Weisheit«. (Vgl. Störig 1999, S. 160) <?page no="37"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 38 38 Kapitel II: Platon schen erzeugt. Er ist also ein Gegner der demokratischen Staatsform und diskutiert sie im Kapitel über die Verfallsformen des idealen Staates, was uns beim Lesen seiner Abhandlung über die Demokratie gewahr sein muss. Im Rahmen welcher Grundgedanken schreibt Platon nun über die demokratische Verfassung? In den ersten Dialogen der »Politeia« im ersten Hauptteil geht es um die Begründung von Gerechtigkeit. Denn diese ist der Zustand, in dem Sittlichkeit herrscht und nur der sittliche, also gerechte Mensch könne auch glücklich sein. Der Hauptdialogpartner ist Sokrates. 6 Für Sokrates gehört die Gerechtigkeit »zu dem Schönsten, was sowohl um seiner selbst willen als wegen dessen, was daraus folgt, dem, der glückselig sein will, wünschenswert ist.« Glaukon antwortet: »So scheint es indessen (…) den meisten nicht; sondern sie rechnen sie zu der mühseligen Art, wonach man sich nur des Lohns und des Ruhms wegen um der Meinung willen bemühen muß, an und für sich aber es fliehen, weil es beschwerlich ist.« (Platon, Politeia, S. 97 [358 a]) Die landläufige Meinung sei, dass »sowohl von seiten (sic! ) der Götter als der Menschen dem Ungerechten ein weit besseres Leben bereitet sei als dem Gerechten.« (Platon, Politeia, S. 109 [362 c]) Adeimantos, ein weiterer Gesprächspartner, fügt hinzu: »Alle nämlich singen aus einem Munde, wie schön zwar Besonnenheit und Gerechtigkeit sei, jedoch schwer und mühselig, Ungebundenheit aber und Ungerechtigkeit süß zwar und leicht zu haben, aber, wiewohl freilich nur der Meinung und dem Gesetze nach, schändlich. Nützlicher als das Gerechte sei das Ungerechte gewöhnlich, sagen sie; und Böse, die reich oder sonst vielvermögend sind, glücklich zu preisen und zu ehren wird ihnen gar leicht, sowohl öffentlich als sonst, wie sie denn auch solche gern geringschätzen und übersehen, die etwa unangesehen und arm sind, wiewohl gestehend, daß sie besser sind als die anderen.« (Platon, Politeia, S. 113 [363-e]) Wenn es so steht, dann fragt Adeimantos zu recht: »Nach welcher Voraussetzung also sollten wir wohl noch die Gerechtigkeit der größten Ungerechtigkeit vorziehen? « (Platon, Politeia, S. 119 [366 b]) Sokrates ist ratlos, weil er meint, darauf bereits geantwortet zu haben. Der Lohn für das Streben nach Gerechtigkeit sei die Glückseligkeit. Er nimmt sich im Folgenden vor, die Gerechtigkeit am idealen Staat zu zeigen, den er zunächst »Wächterstaat« nennt. »Gerechtigkeit, sagen wir doch, findet sich an einem einzelnen Manne, findet sich aber auch an einer ganzen Stadt.-- Freilich, sagte er.-- Und größer ist doch die Stadt 6 Sokrates steht im Text stellvertretend für die Position Platons. Insofern spricht eigentlich Platon und nicht Sokrates, weshalb im Folgenden die beiden Namen austauschbar sind und der Leser nicht zu unterscheiden braucht, welches die Platonische und welches die Sokratische Position ist: beide sind identisch. <?page no="38"?> 4. Interpretation 39 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 39 als der einzelne Mensch? -- Größer, sagte er.-- Vielleicht also ist wohl mehr Gerechtigkeit in dem Größeren und leichter zu erkennen. Wenn ihr also wollt, so untersuchen wir zuerst an den Staaten, was sie wohl ist, und dann wollen wir sie auch an den Einzelnen betrachten, indem wir an der Gestalt des Kleineren die Ähnlichkeit mit dem Größeren aufsuchen.« (Platon, Politeia, S. 127 [368-e-- 369-a]) So beginnt Platon im Namen Sokrates’ seinen idealen Staat zu begründen und zu konstruieren. »Es entsteht also (…) eine Stadt, wie ich glaube, weil jeder einzelne von uns sich selbst nicht genügt, sondern gar vieles bedarf.« (Platon, Politeia, S. 127 [369 b]) Der Grund, weshalb die Menschen sich zu einer Stadt bzw. einem Staat zusammenschließen, seien die Bedürfnisse. (Platon, Politeia, S. 129 [369 c]) In diesem Ausgangspunkt stecken zwei Momente der menschlichen Natur: die Bedürftigkeit der Individuen und die daraus folgende Angewiesenheit der Menschen aufeinander. Ein idealer Staat befriedige aber nicht nur die Grundbedürfnisse wie Essen, sondern er sorge auch für Wohlstand. Das Ziel der Wohlfahrt des Staates habe zur Folge, dass ein »Kriegsstand« eingerichtet werden müsse, der zur Sicherung und Erweiterung der Wohlfahrt gegen andere Staaten Krieg führe. (Vgl. Platon, Politeia, S. 141 ff. [373 d und folgende]) Der Kriegsstand ist in der Theoriekonstruktion der Wächterstand. Darin unterscheidet Platon die Krieger (»Helfer«, »Gehilfen«) und die Herrscher (»vollkommene Hüter«). (Vgl. Platon, Politeia, S. 145 [Fußnote zu 374 e] und vgl. S. 261 [412 b]) Der tüchtige Wächter des Staates sei philosophisch, eifrig, rasch und stark. (Vgl. Platon, Politeia, S. 153 [376 c]) Die Wächter genössen eine besondere Erziehung durch Gymnastik und Musik. (Vgl. Platon, Politeia, S. 155, [376 e]) Sokrates äußert im Dialog: Gott scheint »den Menschen zwei Künste gegeben zu haben, die Musik und Gymnastik, für das Mutige in uns und das Wißbegierige«. (Platon, Politeia, S. 259 [411 e]) Bei Platon ist die Erziehung der Menschen, insbesondere jener, die im Staat die politische Verantwortung tragen, ein zentrales Element der Staatstheorie. Über die Inhalte der Erziehung hat er klare Vorstellungen. Den Wächtern würde über die Götter, den Tod, die Heroen und die Menschen eine ganz bestimmte Auffassung vermittelt: »[W]ir werden sagen, daß eben Dichter sowohl als Redner auch über die Menschen gar verkehrt reden in den wichtigsten Dingen, daß nämlich viele Ungerechte doch glückselig wären und Gerechte elend und daß Unrechttun Vorteile bringe, wenn es verborgen bleibt, die Gerechtigkeit hingegen fremdes Gut sei, aber eigener Schade; und, denke ich, dergleichen werden wir zu sagen verbieten, das Gegenteil aber ihnen auftragen zu singen und zu dichten.« (Platon, Politeia, S. 199 [392 b]) Die Erziehung ist Platon so wichtig, dass seiner Auffassung nach die Sorge um die Erziehung unverändert bleiben müsse, denn <?page no="39"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 40 40 Kapitel II: Platon »eine Staatsverfassung, wenn sie einmal den rechten Ansatz genommen hat, geht sie immer wachsend wie ein Kreis. Denn tüchtige Erziehung und Unterricht aufrechtzuerhalten bildet gute Naturen, und wiederum tüchtige Naturen, von solcher Erziehung unterstützt, gedeihen noch trefflicher als die früheren, sowohl in anderer Hinsicht als auch für die Erzeugung, wie wir das auch an anderen lebenden Wesen sehen.« (Platon, Politeia, S. 291 [424 a]) Platon nimmt in der Erziehungsfrage eine stark konservative, d. h. bewahrende Haltung ein. Es sollte inhaltlich möglichst nichts geändert werden, jedenfalls nichts, was die politische Ordnung infrage stellt und ihr schaden könnte. Durch eine gute Erziehung würden kleinliche Gesetze überflüssig. (Vgl. Platon, Politeia, S. 295 [425 b]) Der Idealstaat Platons beruht auf vier Grundtugenden: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. (Vgl. Platon, Politeia, S. 303 [427 e]) Die Dialoge über die Grundtugenden im Staat verdeutlichen das Menschenbild Platons. In jeder Menschenseele gäbe es etwas Besseres und etwas Schlechteres. Das Bessere könne über das Schlechtere Gewalt und umgekehrt das Schlechtere Gewalt über das Bessere erlangen. Es hänge von der Erziehung ab, ob der bessere oder schlechtere Teil der Seele über den anderen herrsche. Entscheidend sei die einhellige Auffassung in der Gesellschaft darüber, welches der beiden zu herrschen habe. Platon traut nicht allen Menschen Vernunft zu, was sein Menschenbild deutlich von dem andere Epochen unterscheidet: »Einfache und mäßige aber, die von Vernunft und richtiger Vorstellung verständig geleitet werden, wirst du nur bei wenigen antreffen, und zwar bei den Bestgearteten und Besterzogenen.« (Platon, Politeia, S. 315 [431 c]) Das sind für ihn diejenigen, die herrschen sollten. Der Wächterstand, sowohl die Krieger als auch die Herrscher, lebten besitzlos und in Gemeinschaftslagern (vgl. Platon, Politeia, S. 271 ff. [415 d und folgende] und hätten dem Glück des Staates zu dienen (vgl. Platon, Politeia, S. 279 ff. [419 a und folgende]). Um dieses bzw. das Gemeinwohl zu erhalten, hätten die Wächter die Aufgabe, Reichtum und Armut im Staat zu verhindern. Warum? Sokrates erklärt: »Wenn ein Töpfer reich geworden ist, glaubst du, daß er sich dann noch wird um seine Kunst bekümmern wollen? -- Mitnichten, sagte er.-- Sondern er wird immer fauler und nachlässiger werden.- - Gar sehr.- - Also wird er ein schlechter Töpfer werden? -- Auch das, sagte er, immer mehr.-- Aber auch, wenn er sich seine Werkzeuge nicht anschaffen kann aus Armut oder sonst etwas zur Kunst Gehöriges, wird er sowohl seine Arbeit schlechter machen, als auch seine Söhne, oder wen er sonst in der Lehre hat, zu schlechteren Arbeitern aufziehen? -- Wie sollte er nicht! -- Durch beides also, Armut und Reichtum, werden sowohl die Werke der Arbeiter schlechter als auch sie selbst.-- Das leuchtet ein.« (Platon, Politeia, S. 285 [421 d, e]) Weisheit bzw. Vernünftigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit sieht Platon durch die Einrichtung des Staates in drei Stände verwirklicht. Diese sind die Gewerbetreiben- <?page no="40"?> 4. Interpretation 41 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 41 den, die für die Ernährung sorgen und die Wächter, die er in Krieger und Herrschende einteilt. So, wie Platon nicht allen Menschen Vernunft zutraut, geht er auch nicht davon aus, dass alle Menschen gleich und gleichermaßen begabt sind. Die Ernährung der Bürger, die Verteidigung des Staates und die Staatsführung erforderten unterschiedliche Fähigkeiten. Er hält nicht jeden dafür geeignet, sich beliebig jeder Aufgabe zu stellen. Die Einteilung des Staates in drei Stände resultiert also aus den unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen; die Tugenden sind mit den jeweiligen Fähigkeiten verbunden. Die Gerechtigkeit aber besteht für ihn darin, dass im Staat jeder das Seinige verrichtet: Im Menschen herrschten das Vernünftige, das Begehrliche und das Eifrige, das von Natur aus dem Vernünftigen beistehe, vorausgesetzt, es sei nicht durch schlechte Erziehung verdorben. (Vgl. Platon, Politeia, S. 347 [441 a]) Die Einrichtung des Staates allein gewährleiste aber nicht, dass er weise, tapfer, besonnen und gerecht würde. Die gerechte politische Ordnung hänge davon ab, dass die in ihr lebenden Menschen die Tugenden in sich hätten: »Ist es nun nicht uns ganz notwendig (…) zu gestehen, daß in einem jeden von uns diese nämlichen drei Arten und Handlungsweisen (besonnen, tapfer und weise, M. K.) sich finden wie auch im Staat? Denn nirgends anders her können sie ja dorthin gekommen sein. Denn es wäre ja lächerlich, wenn jemand glauben wollte, das Mutige sei nicht aus den Einzelnen in die Staaten hineingekommen, die vorzüglich diese Kraft in sich haben (…).« (Platon, Politeia, S. 331 [435 d]) Im Laufe der Schrift schreitet Platon immer mehr von der Einrichtung des Staates hin zur inneren Verfassung des Menschen, welche für ihn die Voraussetzung für das Gelingen des idealen Staates ist. Gerechtigkeit sei nicht nur, dass jeder im Staat das Seinige tue, sondern dass jeder Mensch in sich die verschiedenen Kräfte in Einklang bringe und sich selbst wertschätze: »In Wahrheit aber war die Gerechtigkeit (…) zwar etwas dieser Art, aber nicht an den äußeren Handlungen in bezug (sic! ) auf das, was dem Menschen gehört, sondern an der wahrhaft inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst und das Seinige, indem einer nämlich jegliches in ihm nicht Fremdes verrichten läßt noch die verschiedenen Kräfte seiner Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, sondern jeglichem sein wahrhaft Angehöriges beilegt und sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst ist und die drei in Zusammenstimmung bringt, ordentlich wie die drei Hauptglieder jedes Wohlklangs, den Grundton und den dritten und fünften, und wenn noch etwas zwischen diesen liegt, auch dies alles verbindet und auf alle Weise einer wird aus vielen, besonnen und wohl gestimmt, und so erst verrichtet, wenn er etwas verrichtet, es betreffe nun Erwerb des Vermögens oder Pflege des Leibes oder auch bürgerliche Geschäfte und besondere Verhandlungen, daß er in dem allen diejenigen für gerechte und schöne Handlungen hält und erklärt, welche diese Beschaffenheit unterhalten und mit hervorbringen, und für Weisheit die diesen Handlungen vorstehende Einsicht, sowie für ungerecht die Handlungen, welche diese Beschafwww.claudia-wild.de: <?page no="41"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 42 42 Kapitel II: Platon fenheit aufheben, und für Torheit die solchen vorstehende Meinung.« (Platon, Politeia, S. 357 f. [443 e]) In den Dialogen des zweiten Hauptteils der »Politeia« drängen die Gesprächspartner Sokrates dazu, die Bedingungen für die Verwirklichung des gerechten Staates auszubreiten. Als er aufgefordert wird, zu erklären, wer im Staat regieren soll, geht er davon aus, Schmach und Gelächter zu ernten. (Vgl. Platon, Politeia, S. 445 [473 c]) Aber er sagt dennoch, was er für richtig hält: »Wenn nicht (…) entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also dieses beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie, die vielerlei Naturen aber, die jetzt zu jedem von beiden einzeln hinzunahen, durch eine Notwendigkeit ausgeschlossen werden, eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten (…) und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht, noch kann jemals zuvor diese Staatsverfassung nach Möglichkeit gedeihen und das Licht der Sonne sehen, die wir jetzt beschrieben haben. Aber dies ist es eben, was mir schon lange Bedenken macht zu reden, weil ich sehe, wie es gegen aller Menschen Meinung angeht. Denn es geht schwer einzusehen, daß in einem anderen keine Glückseligkeit sein kann, weder für den einzelnen, noch für das Ganze.« (Platon, Politeia, S. 445 [473 c, e]) Einen Philosophen würde man an seiner Liebe zur ganzen Weisheit erkennen. (Vgl. Platon, Politeia, S. 449 [475 b]) Er sei schaulustig nach der Wahrheit. (Vgl. Platon, Politeia, S. 451 [475 e]) Sokrates versucht dies so zu erklären: »Die Hörbegierigen und Schaulustigen (…) lieben doch die schönen Töne und Farben und Gestalten und alles, was aus dergleichen gearbeitet ist, die Natur des Schönen selbst aber ist ihre Seele unfähig zu sehen und zu lieben. (…) Die nun aber dem Schönen selbst zu nahen vermögen und es für sich zu betrachten, sind die wohl nicht selten? « (Platon, Politeia, S. 453 [476 b]) Platon unterscheidet zwischen Einsicht und Meinung (vgl. Platon, Politeia, S. 455 [476 d]), zwischen Erkenntnis und Vorstellung (vgl. Platon, Politeia, S. 459 [477 e]). Das ist von Bedeutung, weil er mit diesen Unterscheidungen Ebenen des Denkens bestimmt. 7 Was bringt es, Denkebenen zu unterscheiden? Man könnte sagen, um eine Gesellschaft zu regieren, reicht es nicht aus, Ereignisse und Vorkommnisse zu 7 Diese Unterscheidung von Denkebenen ist in seiner Konstruktion der »Ideenwelt« abgebildet und wird in den drei Gleichnissen- - »Sonnengleichnis« (vgl. S. 535 ff. [506 b ff.]), »Liniengleichnis« (vgl. S. 545 ff. [509 c ff.]) und »Höhlengleichnis« (vgl. S. 555 ff. [514 a ff.])-- sinnbildlich erklärt. <?page no="42"?> 4. Interpretation 43 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 43 konstatieren, sondern sie müssen in ihren Zusammenhängen und Konsequenzen, das heißt in ihrer Logik verstanden und gedeutet werden, um gestaltend in den Ablauf der Geschichte eingreifen zu können und die Gesellschaft einerseits vor Katastrophen zu bewahren und andererseits zu bestimmten politischen Zielen, wie Wohlstand zu führen. Es muss das Wesen, das Prinzip, das Allgemeine, die Logik von Ereignissen erkannt werden, was eine bestimmte Denkfähigkeit voraussetzt. Für Platon besitzen die Philosophen diese Fähigkeit und zudem eine besondere Neigung, sie anzuwenden. Die Liebe zur Weisheit und Wahrheit sei die Voraussetzung dafür, als Herrscher nicht korrupt zu werden. »Daß sie ohne Falsch sind und mit Willen auf keine Weise das Falsche annehmen, sondern es hassen, die Wahrheit aber lieben.« (Platon, Politeia, S. 473 [485 c]) Ein Philosoph habe von Natur aus ein gutes Gedächtnis, sei gelehrig, edelmütig, anmutig, der Wahrheit Freund und verwandt, auch der Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit. (Vgl. Platon, Politeia, S. 477 [487 a] und S. 619 f. [535 b-- 336 b]) Wie kommen die Philosophen an die Regierung des Staates? Denn die Geschicklichkeit »ans Ruder zu kommen«, gehe nicht zwingend einher mit der Beherrschung der Steuermannskunst. Oder umgekehrt gefragt: Auf welche Weise muss sich ein Staat mit der Philosophie befassen, damit er nicht untergeht? (Vgl. Platon, Politeia, S. 509 [497 d]) Er müsse bereits die zehnjährigen Kinder mit philosophischem Denken vertraut machen und später diejenigen für das Amt des Herrschers vorsehen, die sich als junge Erwachsene von selbst weiterhin anstrengten, ihre Seele zu vervollkommnen. (Vgl. Platon, Politeia, S. 511 [498 b] und S. 635 [540 e- - 541 a]) Das Erkennen der philosophischen Naturen sei nicht einfach. »Die Gelehrigen und Gedächtnisreichen und Geistesgegenwärtigen und Scharfsinnigen und was damit zusammenhängt, weißt du wohl, pflegen eben nicht, sowie auch die von kühner und großartiger Gesinnung, zugleich auch so geartet zu sein, daß sie sittsam in Ruhe und Gleichmäßigkeit leben wollen; sondern diesolchen werden von ihrem raschen Geiste getrieben, wohin es sich trifft, und alles Beharrlichen sind sie bar. (…) Und wiederum die beharrlichen und nicht leicht veränderlichen Gemüter, auf die man sich am meisten als zuverlässig verlassen könnte und die im Kriege schwerbeweglich sind von der Furcht, verhalten sich zum Lernen auch ebenso: sie sind schwerbeweglich und schwerfassend, wie betäubt und gleich voll Schlaf und Gähnen, wenn sie dergleichen etwas durcharbeiten sollen. (…) Wir aber sagten, sie müßten in beidem gut und schön versehen sein, oder es dürfte einer auch weder an der höchsten Bildung Teil bekommen noch an der höchsten Ehre und Gewalt.« (Platon, Politeia, S. 527 [503 c, d]) Dass der Philosophenstaat eingerichtet wird, ist nach der Beschreibung Platons sehr voraussetzungsvoll. Zunächst müsse das Volk überzeugt werden, dass die Philosophenherrschaft für die Bürger am nützlichsten sei. (Vgl. Platon, Politeia, S. 511 ff. <?page no="43"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 44 44 Kapitel II: Platon [498 d und folgende]) Anschließend müssten die Philosophen den Staat und die Gemüter wie eine Tafel reinigen und den Grundriss der Staatsverfassung vorzeichnen. (Vgl. Platon, Politeia, S. 519 ff. [501 a und folgende]) Platon lässt sich ausführlich über die Prüfung und Bildung der Philosophen aus, denn auf ihnen ruht ja die Qualität des Staates. (Vgl. Platon, Politeia, S. 523-635 [502 a-- 540 c]) Auch wenn die Einrichtung des Philosophenstaates hoch voraussetzungsvoll ist, geht Platon davon aus, dass dieser ideale Staat möglich sei. (Vgl. Platon, Politeia, S. 637 [541 b]) Der dritte Hauptteil hat die Ungerechtigkeit zum Thema und stellt zunächst die vier Hauptformen der schlechten Verfassungen und »Seelenzustände« dar. Die schlechten Verfassungsformen seien die Timokratie, Oligarchie, Demokratie und Tyrannei. (Vgl. Platon, Politeia, S. 643 [545 a]) Zu jedem Verfassungstyp gibt es nach Platon einen Menschentyp, der diese Verfassung trägt. Wir erinnern uns an seine Auffassung, dass der gerechte Staat nur tugendhaft sein könne, wenn die in ihm lebenden Menschen tugendhaft seien. So stellt er bei jedem Verfassungstyp die Frage, wie der »timokratische Mensch«, der »oligarchische Mensch«, der »demokratische Mensch« oder der »tyrannische Mensch« beschaffen sei. Der oben abgedruckte Primärtext handelt von der Demokratie und dem demokratischen Menschen. Nach Platon entsteht die Demokratie aus der Oligarchie. In einer Oligarchie strebten alle nach Reichtum als dem höchsten Gut, was für Platon letztlich die Ursache für den Wandel der Oligarchie zur Demokratie sei. Die Herrschaft gründe auf großem Besitz bzw. Reichtum. Da die Herrschenden bestrebt seien, möglichst wenig Konkurrenz zu haben, nähmen sich die Menschen den Reichtum gegenseitig weg und verhinderten durch das Zins- und Kreditwesen dessen breite Verteilung. Es vermehrten sich die Armen, die einstmals Reichtum besaßen. Diese Armen »sitzen in der Stadt, wohlbestachelt und völlig gerüstet, einige verschuldet, andere ihrer bürgerlichen Stellung beraubt, noch andere beides, alle aber denen zürnend und auflauernd, welche das Ihrige besitzen, sowie den übrigen auch, und nach Neuerung begierig.« (Primärtext) Die Herrschenden nötigten die Bürger zur Tugend, um sie zu mäßigen. Hier liege ein Widerspruch in der oligarchischen Herrschaft: die Verehrung des Reichtums einerseits und die Forderung nach Besonnenheit und Mäßigung der Bürger andererseits. Die Reichen aber verweichlichten, würden fettleibig und träge. Träfen nun Reiche und Arme zusammen, etwa auf Reisen, bei öffentlichen Anlässen oder im Krieg, würde den Armen die körperliche Unterlegenheit der Reichen und der Widerspruch der Herrschaft offenbar. Spräche sich die Unterlegenheit der Reichen herum, komme es zum Aufruhr der Armen. »So entsteht, denke ich, die Demokratie, wenn die Armen den Sieg davontragen, dann von dem anderen Teil einige hinrichten, andere vertreiben, den übrigen aber gleichen Teil geben am Bürgerrecht und an der Verwaltung, so daß die Obrigkeiten im Staat großenteils durchs Los bestimmt werden.« (Primärtext) Demokratie entsteht also durch eine Revolution der Verarmten gegen eine unvorbildliche, degenerierte Elite. Nach der Revolution herrschte zunächst Freiheit und Zuversichtlichkeit und jeder richtete seine Lebensweise für sich ein, wie sie ihm gefalle. In der Demokratie herrsche <?page no="44"?> 4. Interpretation 45 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 45 Pluralismus. Sie erscheint wie die schönste unter allen Verfassungen, »wie ein buntes Kleid, dem recht vielerlei Blumen eingewirkt sind, so konnte auch diese, in welche allerlei Sitten eingewebt sind, als die schönste erscheinen« (Primärtext). Sie schließe wie eine »Trödelbude« (Primärtext) alle Arten von Verfassungen in sich ein. Die Demokratie sei nachsichtig und unverbindlich, da sie die Bürger zu nichts zwinge. Platon legte in seinem Idealstaat größten Wert auf Erziehung und Auslese der Herrschenden, hingegen würde der demokratische Staat nicht danach fragen, »von was für Bestrebungen und Geschäften einer herkomme, der an die Staatsgeschäfte geht, sondern (hält) ihn schon in Ehren, wenn er nur versichert, er meine es gut mit dem Volk« (Primärtext). Platon hält die Demokratie für eine scheinbar anmutige, regierungslose, buntscheckige Verfassung, die gleichmäßig Gleichen wie Ungleichen eine gewisse Gleichheit zukommen lasse. Doch welchen Charakters sind die Menschen, die eine solche Verfassung tragen? Der demokratische Mensch sei in sich nicht gefestigt und den notwendigen und nicht notwendigen Begierden frei ausgeliefert. Wenn er kärglich erzogen worden sei und mit gewitzten Unholden zusammenkomme, die ihn vom Honig der Drohnen kosten ließen, sei er dafür zu begeistern, würde er vom Vater oder Verwandten dafür gescholten, würden in ihm Parteien und Gegenparteien und ein Streit mit sich selbst entstehen. »Und am Ende, denke ich, nehmen sie (die schlechten Begierden, M. K.) die Burg in der Seele des Jünglings in Besitz, nachdem sie gemerkt haben, daß es darin fehlt an schönen Kenntnissen und Bestrebungen und an richtigen Grundsätzen, welche doch immer die besten Hüter und Wächter sind in den Seelen gottbefreundeter Männer.« (Primärtext) Der demokratische Mensch wisse einfach nicht, was richtig sei. Sein ganzes Leben sei er hin und hergerissen von Begierden, deren Notwendigkeit und Nicht-Notwendigkeit er nicht zu unterscheiden vermöge: »So verlebt er für sich seine Tage, immer der eben aufgeregten Begierde gefällig, bald im Rausch und übermütig, dann wieder trinkt er Wasser und hält magere Kost, bald emsig in Leibesübungen, manchmal auch träge und sich um nichts kümmernd, bald wieder als vertiefe er sich ganz in die Wissenschaft. Oft auch treibt er die öffentlichen Angelegenheiten, und wenn er aufspringt, redet und handelt er, wie es sich gerade trifft. Wird er einmal eifersüchtig auf Kriegsmänner, so wendet er sich dahin, und wenn auf Geldmänner, dann auf diese Seite. So daß irgendeine Ordnung oder Notwendigkeit gar nicht über sein Leben schaltet; sondern ein solches Leben nennt er anmutig und frei und selig und hält sich überall danach.« (Primärtext) Er sei ein mannigfaltiger Mensch, die meisten Sitten und Gemütsstimmungen in sich vereinigend »und schier ebenso schön und bunt wie jener Staat« (Primärtext), weil er auch die Muster der meisten Verfassungen und Denkungsarten in sich trage. Um zu verstehen, warum Platon die Demokratie für eine schlechte Verfassung hält, müssen wir seine Argumentation rekonstruieren. Was ist also das Ziel seiner theoretiwww.claudia-wild.de: <?page no="45"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 46 46 Kapitel II: Platon schen Überlegungen? Platon geht es um den glücklichen Menschen. Darüber, wie Menschen in einer politischen Gemeinschaft glücklich werden können, setzt er Annahmen voraus, eine davon das Vorhandensein von Gerechtigkeit. Eine gerechte Gesellschaft kann aber nur erreicht werden, wenn sich die Menschen sittlich verhalten, also gerecht sind. Platon unterstellt- - vielleicht aus Erfahrung- -, dass sich die meisten Menschen sehr schwer tun, sittlich und gerecht zu sein, aber es gäbe Ausnahmen. Platon sieht bei den Menschen durchaus Unterschiede in ihren Fähigkeiten. Das ist der Ausgangspunkt in seiner Theorie, aus dem er unterschiedliche Stände in der Gesellschaft und Selektion rechtfertigt. Die Einrichtung des Staates soll der Unterschiedlichkeit der Menschen Rechnung tragen. Er stellt also eine Analogie zwischen Mensch und Struktur auf, weil er davon ausgeht, dass die innere Verfassung der Menschen die Verfassung des Staates bestimmt. Aber auch umgekehrt fördert die Verfassung des Staates einen bestimmten Charakter des Menschen. Deshalb sucht Platon für sein Ziel des glücklichen Menschen nach einer Staatsform, durch die der gerechte Mensch erzeugt wird. Diese Staatsform ist für ihn der Philosophenstaat, in dem die Besten regieren, nicht jedoch der demokratische Staat. Weil die Demokratie von der Gleichheit der Menschen ausgehe und niemanden zu einem bestimmten Ideal erziehen würde, müsse man davon ausgehen, dass jeder nach seiner Fasson lebe und dementsprechend versuche, den Staat nach seinen eigenen Vorstellungen zu beeinflussen. Die Gefahr sei groß, dass Unfähige und Scharlatane regierten. Wenn nicht alle von einen einheitlichen Gerechtigkeitsideal ausgingen, könne auch keine Gerechtigkeit verwirklicht werden. Was ist an Platons Argumentation problematisch? Einerseits ist es einleuchtend, von unterschiedlichen Fähigkeiten der Menschen auszugehen. Andererseits ist es fraglich, ob man Menschen eindeutig nach Fähigkeiten einteilen kann, die sie ihr Leben lang behalten bzw. unfähig sind, im Laufe ihres Lebens zu lernen. Und zudem ist die Frage, ob die Fähigkeiten der einen tatsächlich »besser« sind als die der anderen und ob ein politisches Gemeinwesen auf Dauer überleben kann, wenn es sich nur von bestimmten Fähigkeiten leiten lässt. Für die Einzelnen ist es jedenfalls ein großer Unterschied, ob für verschiedene Staats- und Gesellschaftsaufgaben prinzipiell alle vorgesehen sind oder ob bereits im Kindesalter die Menschen für die unterschiedlichen Aufgaben selektiert, erzogen und dazu »verdammt« werden, ohne die Chance zu haben, später doch noch Philosoph, Handwerker oder Krieger zu werden. <?page no="46"?> 5. Literatur 47 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 47 5. Literatur Der Große Ploetz: die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, begründet von Dr. Carl Ploetz, 34., neu bearbeitete Auflage, bearbeitet von 80 Fachwissenschaftlern, Freiburg i. Br. ohne Jahr. Platon: Der Staat. Bearbeitet von Dietrich Kurz. Griechischer Text von Émile Chambry. Deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher. Werke in acht Bänden griechisch und deutsch, vierter Band, herausgegeben von Gunther Eigler, Darmstadt 2001. Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 17., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1999. Zehnpfennig, Barbara: Platon, in: Stammen, Theo/ Riescher, Gisela/ Hofmann, Wilhelm (Hrsg.): Hauptwerke der politischen Theorie, 2., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart 2007, S. 418-431. <?page no="47"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 48 <?page no="48"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 49 49 Kapitel III: Aristoteles 1. Primärtext 6. Unterschiede der Staatsverfassungen (politeía) (I.a) Nachdem aber dies festgestellt ist [wer als Staatsbürger gilt, M. K.], schließt sich hier zunächst die weitere Untersuchung an, ob man mehrere Verfassungen (politeía) oder nur eine anzunehmen hat, und wenn mehrere, welche dies sind und wieviele und welches ihre Unterschiede sind. Nun ist ja Verfassung die Ordnung (táxis) des Staates (pólis) in bezug auf die Staatsämter (archē) und vor allem in bezug auf das oberste von allen, denn das oberste von allen ist die Regierung (políteuma), und diese wiederum ist die Verfassung. (b) Zum Beispiel in den demokratischen Verfassungen ist das Volk (dêmos) oberste Staatsgewalt, in den Oligarchien dagegen die Wenigen, und eben deshalb nennen wir dort die Verfassung eine andere als hier, und ganz nach demselben Gesichtspunkt werden wir auch über alle anderen Verfassungen urteilen. (c) Demgemäß muß denn nun die Grundlage fürs erste der Zweck ausmachen, um dessentwillen der Staat sich gebildet hat, und sodann die Frage, wieviel Arten des Regierens es für den Menschen und seine Lebensgemeinschaft gibt. Da haben wir aber in den Anfängen unserer ganzen Erörterung in denen die Bestimmungen über die Hausverwaltung (oikonomía) und das Verhältnis des Herrn zum Sklaven (despoteía) getroffen wurden, auch gesagt, daß der Mensch von Natur ein politisches Lebewesen (zôon politikón) ist. Und aus diesem Grunde treibt es denn die Menschen, auch ganz abgesehen von dem Bedürfnis gegenseitiger Unterstützung, zum Zusammenleben. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, daß nicht auch der gemeinsame Nutzen sie zusammenführt, insoweit einem jeden sein Teil zukommt an der Vollendung des Lebens. Vielmehr ist dies gerade das eigentliche Ziel (télos), das sie alle gemeinsam und jeder einzelne für sich dabei verfolgen, jedoch auch schon um der bloßen Erhaltung des Lebens willen treten sie zusammen und halten an der staatlichen Gemeinschaft (politikē koinōnía) fest. Denn im Leben liegt, wie es scheint, eben schon selber ein Teil des Guten, solange nicht die Art, wie man lebt, allzu drückende Lasten mit sich bringt. Sieht man doch, daß die große Mehrzahl der Menschen aus Liebe zum Leben viel Ungemach zu ertragen bereit ist, so daß doch wohl in demselben schon ein gewisses Glück und eine natürliche Süßigkeit liegen muß. (2.a) Aber auch die in Frage stehenden Arten des Regierens sind nicht schwer zu unterscheiden, denn schon im gewöhnlichen Verkehr pflegen wir häufig die Bestimmungen über sie zu treffen. Die Herrschaft des Herrn über den Sklaven (despoteía) nämlich, obwohl in Wahrheit der Vorteil des Sklaven von Natur und des Herrn <?page no="49"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 50 50 Kapitel III: Aristoteles (despótēs) von Natur derselbe ist, wird dennoch im eigentlichen Sinne zum Vorteil des Herrn und zu dem des Sklaven nur zufällig (katà symbebēkós) ausgeübt, nämlich nur insofern, als die Herrschaft nicht aufrechterhalten werden kann, wenn der Sklave zugrunde geht. (b) Die Regierung dagegen über Weib und Kind und das ganze Haus, die wir die Hausverwaltung nennen, besteht um der Regierten oder, wenn man lieber sagen will: um des gemeinsamen Wohles beider Teile willen, doch an sich nur um desjenigen der Regierten und nur abgeleiteterweise auch um der Regierenden willen, wie wir ja ein ähnliches Verhältnis auch bei anderen Künsten (téchnē), wie z. B. der Heilkunst und der Gymnastik wahrnehmen. Denn nichts hindert ja den Gymnastikmeister, zuweilen auch selber einer von den Athleten zu sein, so gut wie der Schiffsführer immer auch zugleich selber einer der Schiffsleute ist: Gymnastikmeister und Schiffsführer haben nun aber das Wohl derer, die sie regieren, im Auge; sofern sie aber selbst einer von diesen sind, kommt in abgeleiteter Weise der Vorteil derselben auch ihnen mit zugute, denn der eine ist eben auch ein Schiffsmann und der andere wird, obwohl er Gymnastikmeister ist, doch selber einer der Athleten. Hiernach war denn auch in bezug auf die Regierungsämter im Staat, wo derselbe auf der Ebenbürtigkeit und Gleichheit der Bürger gegründet ist, das Verlangen der letzteren, daß die Bekleidung der Ämter unter ihnen abwechsele, früher der Natur der Sache entsprechend darauf gerichtet, daß man abwechselnd dem Staate diene und daß für das Wohl eines jeden auch wieder einmal ein anderer sorge, gleichwie er selbst vorher als Regierender für das Beste dieses anderen gesorgt habe; jetzt aber möchte jeder wegen der Vorteile, die ihm aus Staatsmitteln durch sein Amt erwachsen, gern für immer an der Regierung bleiben, und es ist gerade, wie wenn die Leute alle kränklich wären und der Besitz der Ämter ihnen die Gesundheit brächte, denn dann würden sie sich auch wohl nicht mehr um sie reißen. (c) Hieraus erhellt denn nun, daß alle diejenigen Verfassungen, welche den gemeinsamen Nutzen im Auge haben, richtige sind nach dem Recht (díkaion) schlechthin, diejenigen dagegen, welche nur den eigenen Vorteil der Regierenden, fehlerhafte und sämtlich bloße Abarten der richtigen Verfassungen, denn sie sind despotisch, während doch der Staat eine Gemeinschaft von freien Leuten ist. 7. Verfassungsformen (I.) An diese Feststellungen schließt sich nun unmittelbar jene Betrachtung selber an, wieviele Verfassungen es gibt und welches dieselben sind. Und zwar beginnen wir dabei mit den richtigen Verfassungen, denn sind diese erst festgestellt, so müssen sich daraus auch ihre Abarten ergeben. Da nun Staatsverfassung (politeía) und Staatsregierung (políteuma) ein und dasselbe bedeuten, die Staatsregierung aber die oberste Gewalt (kýrion) der Staaten (pólis) ist, so muß diese Gewalt entweder von einem oder von wenigen oder von der Mehrzahl des Volkes repräsentiert werden. Wenn dieser eine <?page no="50"?> 1. Primärtext 51 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 51 oder diese wenigen oder die Mehrzahl des Volkes bei ihrer Regierung das allgemeine Wohl im Auge haben, so ergeben sich in allen drei Fällen richtige Verfassungen, wenn aber nur den eigenen Nutzen des einen oder der wenigen oder der großen Mehrzahl, dann bloße Abarten, denn entweder verdienen die Teilnehmer gar nicht den Namen von Staatsbürgern (polítēs), oder aber sie müssen auch alle Anteil an den Vorteilen haben. Diejenige Art von Alleinherrschaft nun aber, welche auf das Gemeinwohl ihr Augenmerk richtet, pflegen wir Königtum (basileía) zu nennen, die Herrschaft von wenigen, aber doch immer von mehr als einem Aristokratie, sei es nun, daß dies heißen soll Herrschaft der Besten oder daß es bedeutet, ihr Zweck sei das Beste des Staates und der Gemeinschaft; wenn endlich die Mehrzahl des Volkes den Staat mit Rücksicht auf das Gemeinwohl verwaltet, so wird dies mit dem gemeinsamen Namen aller Verfassungen, nämlich Politeia benannt. Dies mit Recht: denn daß ein einzelner oder eine Minderzahl sich durch besondere Tugend (aretē) auszeichnet, kann leicht vorkommen, daß aber eine größere Zahl es zu jeder Art von Tugend im strengen Sinne bringt, ist schon eine schwierige Sache, und am ehesten ist dies noch möglich in bezug auf die kriegerische Tüchtigkeit, denn das ist eine Tugend der Massen. Daher ist auf Grund dieser Verfassung die oberste Staatsgewalt bei der wehrhaften Bevölkerung, und diejenigen, welche an den Staatsrechten teilhaben, sind hier die Waffentragenden. (2.) Die Abarten der genannten Verfassungen sind nun aber: vom Königtum die Tyrannis, von der Aristokratie die Oligarchie und von der Politeia die Demokratie. Denn die Tyrannis ist eine solche Art von Alleinherrschaft, welche lediglich zum Vorteil des Monarchen, Oligarchie eine solche Herrschaft, welche zu dem der Reichen, und Demokratie eine solche, welche zu dem der Armen geführt wird, und auf das, was dem ganzen Gemeinwesen fromm, sieht keine von ihnen. (Aus: Politika, Drittes Buch, S. 139-142 [1278b-1279b]) 4. Verschiedene Bürgerstände. Arten der Demokratie (3.) Daß es nun mehrere Verfassungen gibt und aus welchen Ursachen, ist schon früher dargelegt worden, daß es aber auch mehrere Arten von Demokratie und Oligarchie gibt, haben wir jetzt zu entwickeln. […] (4.a) Die erste Art von Demokratie nun ist die, welche vorzugsweise auf Gleichheit beruht. Als Gleichheit nämlich bestimmt das Gesetz (nómos) dieser Demokratie, daß um nichts mehr die Armen oder die Reichen den Vorrang haben und daß weder die einen noch die anderen die oberste Staatsgewalt besitzen, sondern sich gleichstehen. Denn wenn die Freiheit (eleuthería) vorzugsweise in der Demokratie zu suchen ist, wie manche meinen, und die Gleichheit (isótēs), so durfte eine solche wohl am meisten da zu finden sein, wo wirklich alle gleichen Anteil an den Verfassungsrechten haben; und da doch immer das Volk die Mehrzahl bildet und hier auch immer die Beschlüsse der <?page no="51"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 52 52 Kapitel III: Aristoteles Mehrzahl gelten, so muß diese Staatsform Volksherrschaft (dēmokratía) sein. Das ist also eine Art der Demokratie; eine andere ist es, wenn die Regierungsämter (archē) auf Grund der Vermögensschätzung zugeteilt werden. Das erforderliche Vermögen ist klein, und jeder, der es erwirbt, hat auch das Recht der Teilnahme an den Ämtern, jeder aber, der es verliert, darf nicht mehr daran teilnehmen. Eine andere Art von Demokratie besteht dann, daß alle Bürger von unbescholtener Geburt an den Ämtern teilhaben, dabei aber das Gesetz regiert; eine andere aber darin, daß jemand nur noch Bürger (polítēs) zu sein braucht, um zu allen Staatsämtern gelangen zu können, dabei aber das Gesetz regiert; und eine weitere ist die, in welcher es im übrigen ebenso zugeht, aber die Menge (plêthos) die oberste Entscheidung hat und nicht das Gesetz. (b) Dies aber ist der Fall, wenn alles nach Volksbeschlüssen (psēphisma) entschieden wird und nicht nach dem Gesetz; und daß es dahin kommt, geschieht durch die Volksführer (dēmagōgós). Denn in solchen Demokratien, in welchen das Gesetz herrscht, kommt kein Demagog auf, sondern die tüchtigsten unter den Bürgern sind die Stimmführer, wo aber die Gesetze nicht entscheiden, da stehen Demagogen auf. Dort nämlich wird das Volk Alleinherrscher (mónarchos), wenn auch ein aus vielen einzelnen zusammengesetzter, da die vielen nicht jeder für sich, sondern als Gesamtheit die Regierungsgewalt ausüben. Ob übrigens Homer, wenn er von der »Vielherrschaft« spricht die »nimmer Gedeihen bringt«, damit diese Art von Vielherrschaft gemeint hat oder die, bei welcher mehrere, jeder für sich genommen, Regierende sind, steht dahin. Eine solche Art von Volk da es Alleinherrscher ist, sucht unumschränkt zu gebieten (monarcheín), indem es sich von den Gesetzen nicht regieren läßt, und wird so zu einem Despoten, so daß denn auch die Schmeichler bei ihm zu Ehren kommen, und es entspricht eine solche Volksherrschaft der Tyrannenherrschaft unter den Monarchien. Darum ist denn auch der Charakter (êthos) beider derselbe, und beide herrschen despotisch über alle Besseren, und die Volksbeschlüsse spielen hier die nämliche Rolle wie dort die Befehle; auch Demagog und Schmeichler entsprechen einander genau, und beide haben bei beiden am meisten Einfluß, der Schmeichler beim Tyrannen und der Demagog bei einem solchen Volk. Die Demagogen nun sind schuld daran, daß alles nach Volksbeschlüssen und nicht nach den Gesetzen entschieden wird, indem sie alles vors Volk ziehen. Denn dadurch werden sie mächtig, daß das Volk alles selbst entscheidet und sie nun eben wieder die Meinung (dóxa) des Volkes bestimmen, indem sie es ja sind, denen die Menge gehorcht. Dazu kommt nun aber noch, daß alle, welche Beschwerde gegen irgendwelche Staatsbeamten führen, sich auf die Entscheidung des Volkes berufen. Dies nun nimmt eine solche Berufung bereitwillig an, und so lösen sich alle Ämter auf. Mit Recht nun darf man dieser Art von Demokratie vorwerfen, daß sie gar keine Verfassung ist. Denn wo nicht die Gesetze regieren, da ist auch keine Verfassung. Denn das Gesetz muß über das Ganze gebieten, die Regierenden dagegen über die einzelnen Fälle, und nur wo dies geschieht, kann die Rede von einer Verfassung sein. Wenn also auch die Demokratie eine von den Verfassungen sein soll, so ist offenbar ein solcher Zustand, in welchem alles durch Volksbeschlüsse regiert wird, <?page no="52"?> 1. Primärtext 53 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 53 eigentlich auch keine Demokratie. Denn kein Volksbeschluß kann allgemeiner Natur sein. Damit durften die Arten der Demokratie festgestellt sein. (Aus: Politika, Viertes Buch, S. 185-187 [1291b-1292a]). 8. Die Erhaltung (sōtēría) der Verfassungen (I.) Im Anschluß hieran haben wir von der Erhaltung (sōtēria) der Verfassungen (politeía) im allgemeinen wie der einzelnen Verfassungen im besonderen zu sprechen. Hier ist nun zuvörderst klar, daß, wenn wir erkennen, woran die Verfassungen zugrunde gehen, wir eben damit auch wissen, wodurch sie erhalten werden, denn Entgegengesetztes (enantíon) wird durch Entgegengesetztes bewirkt, und das Zugrundegehen (phthorá) ist der Erhaltung entgegengesetzt. […] (6.a) Eine gemeinsame Regel für Demokratie, Oligarchie, Monarchie und jede andere Verfassung ist es ferner, daß man niemanden unverhältnismäßig emporkommen lasse, sondern lieber kleinere und langdauernde Ehren zu verleihen suche als rasch große-- denn letzteres verdirbt, und es ist nicht jedermanns Sache, Glück zu ertragen-- oder daß man wenigstens, falls man einem haufenweise gegeben hat, demselben nicht haufenweise wieder nimmt, sondern nach und nach, und namentlich muß man bedacht sein, durch die Gesetze die Verhältnisse so zu regeln, daß niemand aufkommen kann, der allzu mächtig ist durch Anhang oder Reichtum; und gelingt dies nicht, so muß man solche Leute ins Ausland verbannen. (b) Da sodann manche Leute infolge ihres Privatlebens zu Neuerungen getrieben werden, muß man eine Behörde einrichten, welche die Aufsicht darüber hat, daß niemand eine der Verfassung zum Schaden gereichende Lebensweise führe in der Demokratie eine undemokratische, in der Oligarchie eine der Oligarchie schädliche und entsprechend in jeder anderen Verfassung. (c) Und daß es jeweils nur einem Teil des Staates wohlergehe, muß man aus den nämlichen Gründen verhüten, und das Mittel dagegen ist dies, daß man immer die entgegengesetzten Teile der Bevölkerung zugleich an den Staatsgeschäften und Staatsämtern teilnehmen läßt (als Gegensätze meine ich die Vornehmen und die Volksmasse, die Reichen und die Armen) und versucht, entweder zwischen der Masse der Armen und der Reichen eine Verbindung herzustellen oder den Mittelpunkt zu fördern, denn dies wehrt den aus der Ungleichheit entspringenden inneren Unruhen. (7.a) Die Hauptsache aber ist in jeder Verfassung, daß durch die Gesetze und die ganze übrige Staatseinrichtung die Verhältnisse so geordnet sind, daß man sich an den Staatsämtern nicht bereichern kann. Namentlich aber hat man in den Oligarchien hierauf zu achten. Denn die große Masse empfindet es nicht so schmerzlich, von der Teilnahme an der Staatsregierung ausgeschlossen zu sein, ist vielmehr sogar ganz zufrieden damit, wenn man sie ruhig bei ihren Privatgeschäften läßt, wenn sie aber <?page no="53"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 54 54 Kapitel III: Aristoteles glaubt, daß die Regierenden sich am öffentlichen Gut vergreifen, dann schmerzt sie beides: von den Ehrenämtern ausgeschlossen zu sein und vom Gewinn. Und so allein ist es auch möglich, Aristokratie und Demokratie zu verbinden, wenn man die angegebene Vorkehrung trifft. Denn so allein ist es möglich, daß jeder von beiden Teilen, die Vornehmen und die Menge, bekommt, was er wünscht. Demokratisch nämlich ist es, daß alle an der Regierung teilnehmen dürfen, aristokratisch aber, daß nur die Vornehmen wirklich die Staatsämter innehaben, und letzteres wird geschehen, sobald bei den Staatsämtern nichts zu gewinnen ist, denn die Armen werden dann gar keine Lust haben, dieselben zu übernehmen, weil doch nichts dabei abfällt, sondern lieber bei ihren Geschäften bleiben, die Reichen aber werden es können, weil sie dabei keines Zuschusses aus öffentlichen Mitteln bedürftig sind, und so wird denn den Armen die Gelegenheit gegeben, reich zu werden, indem sie ihren eigenen Geschäften nachgehen, und den Vornehmen, daß sie nicht von dem ersten besten regiert werden. (b) Damit nun aber Unterschlagungen des öffentlichen Gutes vermieden werden, lasse man die Übergabe der Kassen in Gegenwart aller Staatsbürger vor sich gehen und ordne eine Niederlegung von Abschriften der Rechnungen bei den Geschlechtsverbänden (phratría), Kompanien (lóchos) und Stammverbänden (phylē) an; und damit man bereit sei, ohne Eigennutz zu regieren, müssen gesetzliche Ehrenauszeichnungen für die löbliche und unbescholtene Verwaltung festgesetzt sein. 9. Erhaltung der Verfassungen, Fortsetzung […] (4.a) Das wichtigste Mittel aber zur Erhaltung der Verfassung, wichtiger als alles bisher Gesagte, was bis jetzt von allen Seiten vernachlässigt wird, ist die Erziehung (paideúesthai) zur Verfassung. Denn auch die nützlichsten und von allen Staatsmännern einstimmig angenommenen Gesetze sind nutzlos, wenn die Staatsbürger nicht gewöhnt und auferzogen sind im Sinne der Verfassung, also im Sinne der Demokratie, wenn die Gesetze demokratisch, und im Sinne der Oligarchie, wenn dieselben oligarchisch sind. Denn wenn der einzelne zügellos ist, so ist es auch der ganze Staat. Im Sinne der Verfassung erzogen sein heißt aber nicht, zu tun, was den Freunden der Oligarchie und der Demokratie angenehm ist, sondern was den einen das Vermögen dazu gewährt, den demokratischen, den anderen, den obligarchischen (sic! ) Zustand aufrechtzuerhalten. (b) In Wirklichkeit aber leben in den Oligarchien die Söhne der Regierenden ausschweifend, während die der Armen durch Anstrengung sich üben und stählen, so daß sie eher den Willen und die Kraft erlangen, Neuerungen zu beginnen, und in den Demokratien, welche für möglichst demokratisch gelten, ist das Gegenteil von dem gebräuchlich, was ihnen zuträglich ist. Der Grund davon aber ist, daß sie den Begriff der Freiheit falsch bestimmen. Zweierlei nämlich ist es, was man als bestimmende Merkmale der Demokratie anzusehen pflegt, die entscheidende <?page no="54"?> 3. Entstehungskontext 55 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 55 Gewalt der Mehrzahl und die Freiheit. Denn das Recht scheint in der Gleichheit zu sein und die Gleichheit wieder darin, daß das gelten müsse, was die Mehrzahl beschließt, Freiheit und Gleichheit aber darin, daß jeder tun kann, was ihm beliebt. Und daher lebt denn in dieser Art von Demokratien jeder, wie er will, oder »nach seines Herzens Lust«, wie Euripides sagt. Dies aber ist grundverkehrt, denn man darf es nicht für eine Sklaverei (douleía) ansehen, im Geiste der Verfassung zu leben, sondern für die Selbsterhaltung. Dies sind denn nun so im allgemeinen die Ursachen der Veränderung und des Untergangs der Verfassungsstaaten (politeía) und die Mittel zur Erhaltung ihres Fortbestandes. (Aus: Aristoteles, »Politik«. Herausgegeben von Ursula Wolf. Deutsche Übersetzung von Franz Susemihl. Bearbeitet und mit einem Vorwort sowie Anmerkungen von Wolfgang Kullmann. Copyright © 1965, 1994 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Fünftes Buch, S. 241 [1307b]; S. 244-249 [1308b-1310a]). 2. Leitfragen a. Worin erweist sich für Aristoteles eine richtige Verfassung, worin eine falsche? b. Welche Verfassungsbezeichnungen ordnet Aristoteles den »richtigen« Verfassungsformen zu, welche deklariert er zu deren Abarten und worin besteht deren Abartigkeit? c. Aus welchem Grund ist Aristoteles gegen Volksbeschlüsse? d. Welche allgemeine Regel nennt Aristoteles für den Erhalt einer jeden Verfassung? e. Aufgrund welcher Annahme hält es Aristoteles für möglich, Aristokratie und Demokratie zu verbinden? f. Welches Freiheitsverständnis ist laut Aristoteles mit der demokratischen Verfassung verbunden und was hält er daran für falsch? 3. Entstehungskontext Biografisches Aristoteles wurde 384 v. Chr. als Sohn eines Arztes in Stageira, im Norden des heutigen Griechenland, geboren. Als Jugendlicher zog er nach Athen und war 20 Jahre lang Schüler der Platonischen Akademie. Aristoteles galt dort als großartigster Schüler, aber auch als bedeutendster Gegenspieler Platons. Nach dessen Tod lebte er in Kleinasien am Hof eines früheren Mitschülers der Platonischen Akademie, der es inzwischen zum Diktator gebracht hatte und wurde später an den Hof von Philipp, König von Makedonien, berufen, um dessen dreizehnjährigen Sohn Alexander, später der Große genannt, zu erziehen. Als Alexander die Regierung übernahm, kehrte Ariswww.claudia-wild.de: <?page no="55"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 56 56 Kapitel III: Aristoteles toteles nach Athen zurück und gründete dort eine eigene Schule, Lykeion (Lyzeum) genannt. Die Herrschaft Alexanders beraubte Athen der Freiheit, weshalb es nach dessen frühem Tod zu heftigen Anfeindungen gegen die Freunde und Unterstützer der mazedonischen Politik kam. Aristoteles wurde, wie einst Sokrates, der Gottlosigkeit angeklagt, entging aber dem Todesurteil durch Flucht. Im darauffolgenden Jahr, 322 v. Chr., starb er vereinsamt im Exil. (Vgl. Störig 1999, S. 194 f.) Zeitliches Im Jahr 386 v. Chr., zwei Jahr vor der Geburt des Aristoteles, wurde der »Königsfrieden« zwischen Sparta und seinen Gegnern, insbesondere den Persern, geschlossen. 377 v. Chr. konnte Athen einen verkleinerten Seebund 1 neu gründen. Der oben erwähnte König von Makedonien Philipp der II. (382-336 v. Chr.) besiegte Athen 338 v. Chr. in der Schlacht von Chaironeia, als Aristoteles 46 Jahre alt war. Es folgte der Beitritt Athens zum Korinthischen Bund unter der Hegemonie Philipps; die Polisverfassung durfte Athen beibehalten. Nach dem Tod Philipps eroberte dessen Sohn Alexander der Große (356-323 v. Chr.) das persische Weltreich vom Nil bis zum Indus. (Vgl. Ploetz, S. 159-163) Während Platon politisch eine ziemlich turbulente Zeit erlebte, hatte sich in der Kindheit und Jugend von Aristoteles die politische Lage Athens relativ stabilisiert. Auch wenn Athen nicht mehr die Bedeutung seiner Blütezeit unter Perikles (490-429 v. Chr.) erlangte, herrschte unter dem makedonischen Imperium dennoch Ruhe und Ordnung. Gesellschaftspolitisches Als jüngster der drei großen griechischen Philosophen konnte Aristoteles auf den Gedanken seiner Vorgänger Sokrates und Platon aufbauen. Während sich die Philosophie der Gebildeten weiterentwickelte, blieb in der Bevölkerung die traditionelle griechische Religion auch noch in der Zeit nach dem Tod Alexanders des Großen und damit auch des Aristoteles’ im Jahr 323 v. Chr. erhalten. Das bedeutet, die Kulte wurden weitergepflegt, die Götterfeste gefeiert, die gemeingriechischen Heiligtümer und Orakelstätten geehrt und aufgesucht. Allerdings geriet die griechische Religion zunehmend unter östlichen Einfluss und die Oberschicht begann Philosophie als Religionsersatz zu betrachten. Neben der Pflege des offiziellen Kultes verstärkte sich die individuelle Frömmigkeit. (Vgl. Ploetz, S. 181) 1 Der Attische Seebund entstand 476/ 77 v. Chr. unter Führung von Athen mit zahlreichen Poleis Kleinasiens. Er wurde gegen die Perser gegründet. Mit der vollständigen Niederlage Athens im Peleponnesischen Krieg 404 v. Chr. wurde er aufgelöst. <?page no="56"?> 4. Interpretation 57 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 57 4. Interpretation Der abgedruckte Primärtext stammt aus dem insgesamt acht Bücher umfassenden Werk »Politik« (griechisch »Politika«). Darin wird die Frage behandelt, wie ein Staat eingerichtet sein soll, damit die Bürger ein ethisch gutes und glückliches Leben führen können. Im ersten Buch begründet Aristoteles den ethischen Maßstab, den er im zweiten Buch einer vergleichenden Untersuchung bestehender Verfassungen zugrunde legt. Dabei setzt sich Aristoteles auch kritisch mit dem Staatsentwurf Platons auseinander. Im dritten Buch bringt er Anspruch und Wirklichkeit in Beziehung und gelangt zu einer Beschreibung und Klassifikation »richtiger« und »falscher« Verfassungen. Zunächst hält Aristoteles fest, dass die Menschen keine Wahl hätten, ob sie lieber zusammen oder alleine leben möchten. Nach seinem Menschenbild sei der Mensch von Natur aus ein politisches Wesen (zôon politikón). Es sei quasi die Bestimmung des Menschen in einer Gemeinschaft zu leben, die er allerdings selbst schaffen müsse. Der Mensch unterliege demnach einer Art Trieb zum Zusammenleben und besitze Urteilsvermögen, um dieses zu gestalten. »Denn das ist eben dem Menschen eigentümlich im Gegensatz zu den Tieren, daß er allein fähig ist, sich vom Guten (agathón) und Schlechten (kakón), von Recht und Unrecht Vorstellungen zu machen. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Vorstellungen ruft aber eben das Haus und den Staat ins Leben.« (Aristoteles, Politika, S. 47 [1253a]) Die Lebensweise selbst bestimmen zu können, bedinge wiederum, dass die Menschen nach irgendeinem Gut strebten. 2 Eine gemeinsame Lebensweise ließe sich nur in der Gemeinschaft, deren organisierte Form der Staat sei, verwirklichen. »Alles, was Staat (pólis) heißt, ist ersichtlich eine Art von Gemeinschaft (koinōnía), und jede Gemeinschaft bildet sich und besteht zu dem Zweck, irgendein Gut (agathón) zu erlangen. Denn um dessentwillen, was ihnen ein Gut zu sein scheint, tun überhaupt alle alles, was sie tun. Wenn nun aber sonach eine jede Gemeinschaft irgendein Gut zu erreichen strebt, so tut dies offenbar ganz vorzugsweise und trachtet nach dem vornehmsten aller Güter diejenige Gemeinschaft, welche die vornehmste von allen ist und alle anderen in sich schließt. Dies ist aber der sogenannte Staat und die staatliche Gemeinschaft (politikē koinōnía).« (Aristoteles, Politika, S. 43 [1252a]) 2 Ein Gut ist für Aristoteles etwas Wünschenswertes, das sich ein Einzelner oder eine Gemeinschaft als Ziel setzt: entweder materielle Güter oder das leibliche Wohlergehen oder das psychisch-geistige Wohlbefinden Betreffendes. <?page no="57"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 58 58 Kapitel III: Aristoteles In einem Staat zu leben, ist für Aristoteles die Grundlage für Gerechtigkeit. Die staatliche Einrichtung vermag die Menschen an Recht und Gesetz zu binden und sie somit zu gerechtem Verhalten zu zwingen bzw. schlechtes Verhalten zu unterlassen. »Diesen allen gemäß lebt nun zwar auch von Natur in allen Menschen der Trieb, in diese Art von Gemeinschaft einzutreten; aber derjenige, welcher den Staat zuerst wirklich ins Leben rief, war damit der Urheber der höchsten Güter. Denn wie der Mensch in seiner Vollendung das edelste aller Lebewesen ist, so wiederum losgerissen von Gesetz (nómos) und Recht (díke) das schlimmste von allen. Denn nie ist die Ungerechtigkeit (adikía) fürchterlicher, als wenn sie Waffen hat; der Mensch aber hat die natürlichen Waffen in Händen durch seine angeborene Klugheit und Tüchtigkeit, Waffen, die am allermeisten dazu geeignet sind, zu den entgegengesetzten Zwecken sich ihrer zu bedienen. Und daher ist er denn ohne Tugend (areté) das ruchloseste und wildeste Lebewesen und in bezug auf Geschlechts- und Gaumenlust das schlimmste von allen. Die Gerechtigkeit (dikaiosýne) aber stammt erst vom Staate her, denn das Recht ist die Ordnung der staatlichen Gemeinschaft; das Recht (díke) aber ist die Entscheidung darüber, was gerecht ist.« (Aristoteles, Politika, S. 48 [1253a]) Aristoteles unterscheidet das Herrschen vom Regieren und führt dazu zwei Beispiele an: Die Herrschaft des Herrn über den Sklaven würde zum Vorteil des Herrn und nur zufällig mal zum Vorteil des Sklaven ausgeübt. Die Regierung über »Weib und Kind« erfolge um der Regierten bzw. zum gemeinsamen Wohle des Hausvaters und des Weibes und Kinder willen. In Bezug auf die politische Praxis in Athen ist dieses Beispiel der »Regierung des Hausvaters über Weib und Kind« aber falsch. Denn regiert wurde nur über jemand, der selbst das Recht zu regieren hatte. Da aber Frauen und Kinder, wie die Sklaven, von der Regierung rechtlich ausgeschlossen waren, wurde über sie geherrscht und nicht regiert. Sie gehörten dem Oikos an, nicht der Polis. Im Oikos befanden sich die Unfreien, in der Polis die Freien. Die Regierung in der Polis war eine Regierung von Freien über Freie bzw. von Gleichen über Gleiche. Aber Aristoteles möchte hier einen anderen Punkt hervorheben, nämlich die Einstellung des Herrschers. Es ist ein Unterschied, ob ein Herrscher bzw. Regent bei seinen politischen Entscheidungen nur seinen eigenen Vorteil oder auch das Wohl der Beherrschten bzw. der Gemeinschaft im Auge hat. Eine »richtige« Verfassung erweist sich für Aristoteles darin, dass die Regierung den gemeinsamen Nutzen erstrebt. In einer »schlechten« Verfassung hingegen herrschten die Regierungen zum eigenen Vorteil. Die Bezeichnung einer Verfassung richtet sich in seiner Theorie danach, wie viele die oberste Gewalt (=-Staatsregierung) repräsentieren. Das können entweder einer oder wenige oder die Mehrzahl des Volkes sein. Die Art von Alleinherrschaft, in der einer zum Wohle aller regiert, nennt Aristoteles Königtum, das zur Tyrannis entarte, wenn der Monarch nur noch zu seinem eige- <?page no="58"?> 4. Interpretation 59 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 59 nen Vorteil herrschte. Wenn wenige zum Besten des Staates und der Gemeinschaft regieren, besteht eine Aristokratie, die in eine Oligarchie umschlage, wenn nur noch zum Vorteil der Reichen geherrscht würde. Die Regierungsform, in der die Mehrzahl des Volkes den Staat im Sinne des Gemeinwohls verwaltet, nennt er Politeia bzw. Politie, deren Abart bezeichnet er als Demokratie, in der zum Vorteil der Armen geherrscht würde. Aristoteles unterscheidet aus der Praxis fünf Arten von Demokratie. Die erste beruhe auf Freiheit und Gleichheit. In ihr hätten alle, Arme wie Reiche, den gleichen Anteil an den Verfassungsrechten. In der zweiten Art würden die Regierungsämter aufgrund der Vermögensschätzung zugeteilt. In der dritten Art von Demokratie könnten alle Bürger unbescholtener Herkunft, deren Familien also einen guten Leumund genießen, an den Ämtern teilhaben, aber das Gesetz würde regieren. In der vierten Art komme es nicht mehr auf den Leumund, sondern allein auf den Bürgerstatus an, um zu allen Staatsämtern zu gelangen, aber immer noch gelte das Gesetz und in der fünften Art von Demokratie habe die Menge die oberste Entscheidung und nicht das Gesetz. Die fünfte Art von Demokratie, in der durch Volksführer (Demagogen) Volksbeschlüsse herbeigeführt werden, ist für Aristoteles keine Verfassung. Diese kennzeichnet sich für ihn durch die Gesetzmäßigkeit der Regierung. Gesetze und Volksbeschlüsse unterschieden sich darin, dass Gesetze allgemein seien und nicht aus Willkür und bloßer Meinung beschlossen würden. »Denn wo nicht die Gesetze regieren, da ist auch keine Verfassung. Denn das Gesetz muß über das Ganze gebieten, die Regierenden dagegen über die einzelnen Fälle, und nur wo dies geschieht, kann die Rede von einer Verfassung sein.« (Primärtext) Bei einer Verfassung ist für ihn nicht nur von Bedeutung, wie sie beschaffen, sondern auch, ob sie von Dauer ist. Aristoteles entwickelt bei seinem Verfassungsvergleich eine allgemeine Regel, die zum Erhalt einer jeden Verfassung beiträgt, egal, ob es sich um eine Demokratie, Monarchie oder Oligarchie handelt. Die Regel lautet, »daß man niemanden unverhältnismäßig emporkommen lasse« (Primärtext). Die Verhältnisse wären durch die Gesetze so zu regeln, »daß niemand aufkommen kann, der allzu mächtig ist durch Anhang oder Reichtum: und gelingt dies nicht, so muß man solche Leute ins Ausland verbannen« (Primärtext). Die Hauptsache für den Erhalt jeder Verfassung sei allerdings, dass man sich an den Staatsämtern nicht bereichern könne. Wenn diese Regel beachtet würde, sieht Aristoteles sogar die Möglichkeit, Demokratie und Aristokratie zu verbinden. Der Anspruch der Armen sei es, ihren Privatgeschäften nachzugehen, um reich zu werden. Dies sei ihnen wichtiger als an den Staatsgeschäften teilzunehmen. 3 Der Anspruch der Vornehmen sei es, nicht 3 Damit meint er, dass sie arbeiten müssten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Insofern enthält diese Formulierung Ironie, wenn Aristoteles den Armen unterstellt, sie interessierten sich nicht für die Staatsgeschäfte, sondern nur dafür, »reich« zu werden. Schließlich haben sie keine Zeit für die Politik, weil sie mittels Arbeit um ihr Überleben kämpfen. <?page no="59"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 60 60 Kapitel III: Aristoteles von dem Erstbesten regiert zu werden. Wenn die Armen sähen, dass sich die Vornehmen nicht an den Staatsgeschäften bereicherten, hätten sie auch kein Problem, diesen die Regierungsämter zu überlassen. Die Vornehmen seien bereits reich und könnten es sich leisten, die Regierungsämter als Ehrenämter zu übernehmen, um zum Besten des Staates und der Gemeinschaft zu regieren. Die Verbindung von Demokratie und Aristokratie bestünde nun darin, dass theoretisch alle an der Regierung teilnehmen dürften, aber praktisch nur die Vornehmen die Staatsämter innehätten. Aristoteles möchte erreichen, dass die Vornehmen ohne Eigennutz regierten, indem gesetzliche Ehrenauszeichnungen für eine löbliche und unbescholtene Verwaltung festgesetzt würden. Er unterstellt den Vornehmen also ein ausgeprägtes Ehrempfinden. Dies wird plausibel, wenn wir uns das wichtigste Mittel zur Erhaltung der Verfassung vor Augen führen, das Aristoteles im letzten Abschnitt des oben abgedruckten Primärtextes benennt: die Erziehung zur Verfassung. »Denn auch die nützlichsten und von allen Staatsmännern einstimmig angenommenen Gesetze sind nutzlos, wenn die Staatsbürger nicht gewöhnt und auferzogen sind im Sinne der Verfassung (…). Denn wenn der einzelne zügellos ist, so ist es auch der ganze Staat.« (Primärtext) Diese Annahme, das Ganze sei die Summe seiner Teile und kein organisches Ganzes, in welchem jedem Teil eine bestimmte Funktion zukommt, ist für das politiktheoretische Denken der griechischen Philosophen grundlegend. »Da nun aber der Staat zu den zusammengesetzten Dingen gehört, geradeso gut wie jedes andere, das zwar ein Ganzes bildet, aber doch viele Teile in sich schließt, so ist klar, daß man erst nach dem Staatsbürger fragen muß, denn der Staat ist eben eine Vielheit von Staatsbürgern.« (Aristoteles, Politika, S. 126 [1274b]) Das Individuum erhält damit eine besondere Bedeutung in der Theorie, weil von ihm die Realisierung der politischen Ordnung abhängt. Die innere Haltung der Individuen im Staat (in der Vorstellung Platons und Aristoteles’ die Bürger) verursachen demnach eine bestimmte Verfassung. In der demokratischen Verfassung herrscht nach Aristoteles ein falsches Verständnis von Freiheit, nämlich, dass jeder tun könne, was ihm beliebt und nach seines Herzens Lust leben könne. »Dies aber ist grundverkehrt, denn man darf es nicht für eine Sklaverei (douleía) ansehen, im Geiste der Verfassung zu leben, sondern für die Selbsterhaltung.« (Primärtext) Wie bei Platon ist auch für Aristoteles die Demokratie eine schlechte Verfassung. Beide verbinden mit der Demokratie die Herrschaft der Armen bzw. Verarmten und teilen die Vorstellung, dass demokratisches Denken mit Beliebigkeit und Unverbindlichkeit einhergehe, dass die Menge bzw. das Volk unfähig sei, allgemein und gerecht zu urteilen und nur nach dem eigenen Nutzen streben würde. In welcher Verfassung sieht Aristoteles seine Ideale verwirklicht? Es ist die Politie (politeía) und zwar als Mischform von Aristokratie und Demokratie, in welcher der Mittelstand den Schwerpunkt des Staatswesens bildet. Worin liegt die Plausibilität <?page no="60"?> 4. Interpretation 61 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 61 eines derartigen Idealstaates? Aristoteles geht es darum, eine realistische Verfassungsform vorzuschlagen, an der die meisten Menschen imstande sind teilzunehmen. Die Voraussetzung sei allerdings, dass die Verfassung ermögliche, tugendhaft zu handeln. »Denn wenn in der ›Ethik‹ (damit meint er seine Schrift »Ethika Nikomacheia« (dt. »Nikomachische Ethik«), M. K.) richtig gesagt wurde, daß das glückliche Leben dasjenige sei, welches in ungehemmter Ausübung der Tugend (areté) besteht, die Tugend ihrerseits aber eine Mitte (mésotes) sei, so muß die mittlere Lebensform die beste sein, und zwar das Leben in einer Mitte, die eben jeder erreichen kann.« (Aristoteles, Politika, S. 199 [1295a]) In allen Staaten würde es sehr Reiche, sehr Arme und diejenigen geben, die in der Mitte zwischen beiden stünden. Mittlerer Besitz sei der allerbeste, weil er am meisten geneigt mache, der Vernunft zu gehorchen. Die Reichen neigten zu Übermut, die Armen zur Boshaftigkeit, woraus ungerechte Taten resultierten. Die Reichen seien herrsch- und ämtersüchtig, weil sie von Kindheit an nicht gewohnt seien zu gehorchen. Sie könnten nur despotisch regieren. Die Armen hingegen seien allzu unterwürfig und verstünden überhaupt nicht zu regieren. »Und so entsteht denn ein Staat nicht von Freien, sondern von Herren und Sklaven, wo die einen beneiden und die anderen verachten. Das aber ist sehr weit entfernt von Befreundung und staatlicher Gemeinschaft, denn jede Gemeinschaft beruht auf Befreundung, da man ja mit seinen Feinden nicht einmal den Weg teilen mag. Vielmehr will der Staat möglichst aus Gleichen und Ähnlichen bestehen, und diese Bedingung erfüllt am meisten der Mittelstand.« (Aristoteles, Politika, S. 200 [1295b]) Dies ist besonders im Hinblick auf die Erhaltung der Verfassung von Bedeutung: »Daß aber jene mittlere Verfassung die beste ist, leuchtet ein, denn sie allein ist frei von Aufruhr, weil da, wo der Mittelstand zahlreich ist, am wenigsten Unruhen und Spaltungen unter den Bürgern auftreten.« (Aristoteles, Politika, S. 201 [1296a]) Das Ziel, das Aristoteles mit seinem Staatsentwurf verfolgt, ist das gute und glückliche Leben. Bemerkenswert ist, dass im Denken unserer Zeit dieses Ziel unter völlig anderen Vorstellungen erreicht werden soll. Erstrebenswert erscheint uns heute die Selbstverwirklichung und freie Entfaltung des Individuums, die Durchsetzung der eigenen Interessen sowie die Pluralität der Lebensweisen, Glaubenssätze und Meinungen. Für Aristoteles wäre die Selbstverwirklichung des Individuums-- anders ausgedrückt: sich selbst einen Sinn zu geben-- ohne Einbettung in eine Gemeinschaft unmöglich. Wie begründet er diese Unmöglichkeit? Aristoteles sieht den Menschen als ein sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen (zôon lógon echón). Er unterliegt einem natürlichen Trieb zum Zusammenleben (zôon <?page no="61"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 62 62 Kapitel III: Aristoteles politikón) und kann seinen Sinn niemals in sich selbst, sondern nur im Handeln mit anderen finden. Für Aristoteles ist der Einzelne ohne die anderen und ohne die Einbettung in den Staat ein Tier oder ein Gott, aber kein Mensch: »Daß also der Staat von Natur besteht und ursprünglicher als der Einzelne ist, ist klar. Denn wenn eben jeder einzelne für sich nicht sich selber genügend ist, so verhält er sich zum Staat geradeso wie die Teile eines anderen Ganzen zu diesem letzteren; wenn er aber andererseits überhaupt nicht an einer Gemeinschaft sich zu beteiligen vermag oder dessen durchaus nicht bedarf wegen seiner Selbstgenügsamkeit, so ist er freilich kein Teil des Staates, aber eben damit ein Tier oder aber ein Gott.« (Aristoteles, Politika, S. 47 f. [1253 a]) Bei Aristoteles hängt die Glückseligkeit des Einzelnen von der Glückseligkeit der Gemeinschaft ab. Jedoch was ist für ihn Glück? »Denn in der Tat wird niemand diese eine Einteilung bestreiten wollen, daß es dreierlei Güter gibt, die äußeren, die des Leibes und die der Seele, und daß zur Glückseligkeit diese alle erforderlich sind; und niemand wird denjenigen glückselig (makários) nennen, der keine Spur von Mut (andreía), von Selbstbeherrschung (sōphrosýnē), von Gerechtigkeit (dikaiosýnē) und von Einsicht (phrónēsis) besitzt, sondern sich vor jeder vorüberflatternden Fliege fürchtet, sich, wenn die Begierde nach Essen und Trinken in ihm aufsteigt, auch von dem schlimmsten Exzeß nicht zurückhält und um einen Groschen seine nächsten Freunde zugrunde richtet, und ebenso steht es auch mit der Einsicht, denn auch den preist man nicht glücklich, der so verstandesschwach und verkehrt ist wie ein Kind oder ein Wahnwitziger.« (Aristoteles, Politika, S. 292 [1323a]) Doch wie ist das Verhältnis des Ausmaßes der drei Güter zueinander? Es könne sich derjenige glücklich schätzen, der ein Übermaß an Verstand und Charakter besitze und wenig äußere Güter. »Daß nun also einem jeden von der Glückseligkeit nur so viel wie von Tugend und Einsicht und einem diesen entsprechenden Handeln zukommt, dürfen wir als zugestanden betrachten und dafür den Gott als Zeugen anführen, der doch gewiß glückselig ist, aber durch keins von den äußeren Gütern, sondern lediglich durch sich selbst und die innere Beschaffenheit seiner Natur, wie denn eben aus diesem Grunde auch das Glück (eutychía) notwendig etwas anderes ist als die Glückseligkeit, denn die äußeren Güter hängen von der Willkür und vom Zufall ab, gerecht aber und enthaltsam wird niemand vom Zufall oder durch Zufall.« (Aristoteles, Politika, S. 294 [1323b]) <?page no="62"?> 4. Interpretation 63 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 63 Die Entwicklung von Tugendhaftigkeit, Charakterbildung und das Handeln im Sinne der Tugenden führten zur Glückseligkeit des Einzelnen. Der Staat müsse so eingerichtet sein, dass er dieses befördere. Das gemeinsame Tätigsein im Staat zum Wohle aller führe zur Glückseligkeit. Das Tätigsein bezieht sich dabei sowohl auf die Praxis kollektiven Handelns als auch auf die theoretische Betrachtung der Welt (Kontemplation). »Drum, wenn dies alles wahr und die Glückseligkeit (eudaimonía) in die richtige Tätigkeit (eupragía) zu setzen ist, so wird sowohl für den Staat im ganzen als auch für den Einzelnen das beste Leben das tätige (praktikós) sein. Allein, das tätige braucht nicht notwendig auf andere gerichtet zu sein, wie manche glauben, und nicht die Gedanken (diánoia) allein sind praktischer Natur, welche auf die Erfolge des Handelns gerichtet sind, sondern in weit höherem Grade sind es diejenigen Betrachtungen (theōría) und Gedanken, welche um ihrer selbst willen angestellt werden und in sich selbst ihr Ziel haben (autotelés). Denn nur das Wohlgelingen (eupraxía) ist ja das Lebensziel, dann aber eben als solches selbst eine Tätigkeit (prâxis), und auch bei den nach außen gerichteten Tätigkeiten bezeichnen wir diejenigen am meisten als die eigentlich Tätigen, welche die geistigen Baumeister sind.« (Aristoteles, Politika, S. 301 [1325b]) Das gute Leben wird für Aristoteles nicht nur durch praktische Arbeit und die Entwicklung technischen Denkens erreicht (im Sinne des Handwerks), sondern auch und geradezu vor allem durch das Reflektieren bzw. Nachdenken oder Philosophieren. Wie steht Aristoteles zur Demokratie? Das gemeinsame Tätigsein zum Wohle aller sieht er in seinem Verständnis von Demokratie nicht verwirklicht. In ihr versuche eben jeder nach seiner Fasson glücklich zu werden und die Bürger seien nicht befreundet, weil die Armen zu ihrem eigenen Vorteil herrschten. Im Vergleich zu Platon, der der Menge bzw. dem Volk völlig ablehnend gegenübersteht und die Regierung einer ausgebildeten Elite (Philosophen) überlassen möchte, ist Aristoteles der Idee der Beteiligung möglichst vieler an der Mitbestimmung der Staatsgeschäfte (Mittelstand) durchaus aufgeschlossen. Dies ist ein demokratischer Zug in seinem politiktheoretischen Denken. Allerdings hat seine politische Theorie eher einen elitären Charakter, weil er für die Staatsämter ausschließlich die Vornehmen, also die Reichen vorsieht. Sowohl Platon als auch Aristoteles stehen der Demokratie als Staatsform aus denselben Gründen ablehnend gegenüber. Ihre Ziele, die sie in ihren politischen Theorien verfolgen-- das gute Leben bzw. Glückseligkeit-- sind identisch. Dennoch gelangen beide zu unterschiedlichen Formen der politischen Ordnung-- Platon zum »Philosophenstaat« als Herrschaft der Besten und Aristoteles zur Mischverfassung aus Demokratie und Aristokratie, die er als »Politie« bezeichnet. Erklären lässt sich dies, indem wir nachvollziehen, auf welchen Annahmen die Theoretiker ihre Theorie aufbauen und wie sie argumentieren. <?page no="63"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 64 64 Kapitel III: Aristoteles Platon und Aristoteles repräsentieren nahezu idealtypisch zwei Denkweisen, die Wirklichkeit zu reflektieren und theoretisch weiterzuentwickeln, die bis heute für die Theoriebildung grundlegend sind, die aber auch zu verschiedenen Denkschulen geführt haben. Störig stellt fest, dass in der deutschen Philosophie eine Neigung erkennbar sei, Platon gegenüber Aristoteles den Vorzug zu geben. Hingegen sei in der angelsächsischen Welt die Vorliebe für Aristoteles größer. (Vgl. Störig 1999, S. 208) Worin genau liegen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der platonischen und aristotelischen Denkweise? Für Platon sind die Ideen realer als die wirklichen Gegenstände, weil sie vom Gegenstand das Sein offenbaren, das immer ist und nicht durch Entstehen und Vergehen unstet gemacht wird. (Vgl. Platon, Politeia, S. 471 [485 b]) Für ihn steckt in jedem vergänglichen Gegenstand ein Prinzip (bzw. eine Idee oder ein Wesen), das sich im Gegenstand verwirklicht und sein Dasein, seine Erscheinung bestimmt und von dem aus sich die Kraft seiner Wirkung in der Welt entfaltet. Prinzipien sind grundsätzlich weder gegenständlich noch materiell, weshalb sie unabhängig von den Gegenständen existieren. Prinzipien verschwinden nicht aus der Welt, wenn ihre materiellen Phänomene zerstört werden. Es gibt also mehrere Formen von Existenz: eine materielle, gegenständliche und eine immaterielle, geistige. Um die unterschiedlichen Denkweisen von Platon und Aristoteles zu erfassen, müssen wir jedoch nicht den Zusammenhang materieller und immaterieller Existenz verstehen. 4 Bei Platon steht die Ideenwelt für die immaterielle Existenzform. Unser Geist hat Teil an der Ideenwelt und ist in der Lage, die Ideen, Prinzipien, die durch die Gegenstände in der Welt verwirklicht sind, zu erfassen und dadurch überhaupt die Gegenstände zu erkennen. Platon versucht die Welt von ihren Prinzipien, ihren Ideen her zu verstehen, weshalb der einzelne reale Gegenstand in seinen Details weniger wichtig ist. Sein Zugang zur gegenständlichen Welt erfolgt über die Welt des Geistes. Da der Geist eines Menschen die Ideen entdecken kann, geht Platon davon aus, dass es eine »Ideenwelt« unabhängig vom einzelnen menschlichen Bewusstsein geben muss. Aristoteles folgt ihm nicht in dieser Sichtweise, weil er seinen Zugang zur Welt durch die genaue Betrachtung und den Vergleich der existierenden Einzeldinge findet. Für ihn sind es die Einzeldinge, aus denen wir Allgemeines ableiten. Dabei vergleicht er die Gegenstände in ihren Erscheinungen miteinander und systematisiert sie, indem er ähnliche in Gruppen zusammenfasst. Störig schreibt über die wissenschaftliche Arbeitsweise von Aristoteles: »Aristoteles legte sich eine große Privatbibliothek an, dazu eine naturwissenschaftliche Sammlung mit Pflanzen und Tieren aus der ganzen damals bekannten Welt. Alexander soll seine Gärtner, Jäger und Fischer angewiesen haben, Exemplare aller vorkommenden Pflanzen- und Tierarten an Aristoteles zu senden. Zu Vergleichszwecken ließ Aristoteles auch alle bekannten Staatsverfassungen sammeln, insgesamt 158.« (Störig 1999, S. 194) Sein Zugang zur gegenständlichen 4 Dieser Zusammenhang ist Gegenstand der philosophischen Debatte des »Leib-Seele-Problems«. <?page no="64"?> 4. Interpretation 65 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 65 Welt erfolgt über die Gegenstände selbst, also über das Seiende. Obwohl Aristoteles die Existenz einer »Ideenwelt« ablehnt und allgemeine Erkenntnis über die Welt in den Dingen sucht, ist er sich mit seinem Lehrer Platon einig, dass diesen Dingen ein allgemeines Wesen innewohnt, das durch genaue Betrachtung und den Vergleich der Einzeldinge erfasst werden kann. »Wenn wir aus der Wahrnehmung vieler ähnlicher und niemals gleicher Einzelwesen den Begriff Mensch bilden, so haben wir damit nicht bloß ein Hilfsmittel, das uns in den Stand setzt, uns in der verwirrenden Vielfalt der Einzeldinge zurechtzufinden-- wir erfassen vielmehr das Gemeinsame, das Wesen, das in den Einzelwesen und -dingen verkörpert ist.« (Störig 1999, S. 202) Damit kommt Aristoteles nicht umhin, dieses Unveränderliche, das unberührt fortbesteht, wenn die Gegenstände vergehen, zu benennen. Er nennt es Form. Das, was geformt wird, nennt er Stoff bzw. Materie. Die Formen, als gestaltende Kräfte, prägen die Materie. Die Materie leistet den formenden Kräften Widerstand, weshalb alles Entstehende unvollkommen ist. (Vgl. Störig 1999, S. 203) Störig merkt zu Recht an, dass die Formen bei Aristoteles den platonischen Ideen zum Verwechseln ähneln. (Vgl. Störig 1999, S. 204) Wie erfolgt nun die Theoriebildung nach diesen beiden Denkweisen? Die Wissenschaftstheorie, die sich mit Theoriebildung und dem methodischen Vorgehen in der Wissenschaft beschäftigt, würde die platonische Denkweise als deduktiv und die aristotelische als induktiv bezeichnen. Deduktive Theoriebildung erfolgt vom Allgemeinen zum Besonderen. In der politischen Theorie wird dabei von theoretischen Annahmen und Gesetzmäßigkeiten ausgegangen; zum Beispiel wie das Wesen des Menschen sei, wie sich das Volk oder der Adel verhält. Man formuliert bestimmte »Probleme« (z. B. Willkürherrschaft, Krieg, Armut) und Ziele (z. B. Glückseligkeit, Wohlstand), die theoretisch gelöst bzw. erreicht werden sollen. Aus den Annahmen erfolgen Ableitungen, wie ein Gemeinwesen eingerichtet werden sollte, um die Probleme zu lösen und die Ziele zu erreichen. Es entsteht ein theoretisches Konstrukt, das noch nicht existiert, das es aber so geben könnte, sofern die Annahmen und Gesetzmäßigkeiten richtig sind. Induktive Theoriebildung erfolgt umgekehrt vom Besonderen zum Allgemeinen. Durch die Analyse und den Vergleich von realen Fällen (z. B. 158 Staatsverfassungen) wird versucht, durch die Verallgemeinerung der Gemeinsamkeiten der Einzelfälle Gesetzmäßigkeiten ausfindig zu machen (wie z. B. dass Verfassungen, in denen ein Einzelner herrscht, zur Willkürherrschaft neigen). Weil die Verallgemeinerungen unmittelbar aus der Wirklichkeit abgeleitet sind, lassen sie sich in der Realität immer wieder überprüfen bzw. verifizieren. Die induktive Theoriebildung ist die Voraussetzung für deduktive Theorien. Bei Aristoteles können wir sehen, dass er beim Entwurf seines idealen Staates auch deduktiv vorgeht. Seinen Verfassungsvorschlag leitet er allerdings aus anderen Annahmen ab als <?page no="65"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 66 66 Kapitel III: Aristoteles Platon. Bei Platon fehlt beispielsweise die Annahme, dass der Mittelstand für die Stabilität eines politischen Gemeinwesens eine große Rolle spiele. Aristoteles geht genauso wie Platon davon aus, dass die Menschen ungleich in ihren Fähigkeiten sind. Diese Annahme berücksichtigt er in seiner Theorie aber anders als Platon. Wenn wir also herausfinden wollen, weshalb Denker zu teilweise völlig unterschiedlichen theoretischen Lösungen gelangen, dann müssen wir auch immer eine »metatheoretische« Perspektive einnehmen und den Aufbau der Theorien von ihren Annahmen, Zielen und Ableitungen her überprüfen. So können wir leichter nachvollziehen, weshalb die Demokratie bei den griechischen Philosophen als schlechte und entartete Verfassungsform galt und bei welchen Denkern der Ideengeschichte die Demokratie aus welchen Gründen zur erstrebenswerten Staatsform wurde. 5. Literatur Der Große Ploetz: die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, begründet von Dr. Carl Ploetz, 34., neu bearbeitete Auflage, bearbeitet von 80 Fachwissenschaftlern, Freiburg i. Br. ohne Jahr. Aristoteles: Politik. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl mit Einleitung, Bibliographie und zusätzlichen Anmerkungen von Wolfgang Kullmann, Hamburg 1994. Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 17., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1999. <?page no="66"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 67 67 Kapitel IV: Augustinus 1. Primärtext Elftes Buch Ursprung der Beiden Staaten in der Engelwelt 1. Einleitung zum zweiten Teil des Werkes Wir sprechen vom Gottesstaat. Ihn bezeugt die Heilige Schrift, die hoch über dem ganzen Schrifttum aller Völker stehend, nicht etwa infolge zufälliger Regungen in menschlichen Gemütern, sondern kraft Anordnung der höchsten Vorsehung die Menschengeister ausnahmslos durch ihr göttliches Ansehen sich unterworfen hat. Denn in ihr lesen wir: »Herrliche Dinge werden in dir gepredigt, du Stadt Gottes«, und in einem anderen Psalm: »Groß ist der Herr und hochberühmt in der Stadt unsers Gottes, auf seinem heiligen Berge. Frohlocken verbreitet er auf der ganzen Erde«, und ein wenig später in demselben Psalm: »Wie wir gehört haben, so sehen wir’s auch an der Stadt des Herrn der Heerscharen, der Stadt unsers Gottes. Gott erhält sie ewiglich«, ferner in noch einem andern: »Des Flusses Brausen erfreut die Gottesstadt; der Höchste hat sein Zelt geheiligt; Gott ist in ihrer Mitte, sie wird nicht wanken.« Aus diesen und ähnlichen Zeugnissen, die sämtlich aufzuzählen zu umständlich wäre, ersehen wir: Es gibt solch einen Gottesstaat, dessen Bürger zu sein wir in jener Liebe begehren, die uns sein Begründer eingeflößt hat. Diesem Begründer des Heiligen Staates ziehen die Bürger des irdischen Staates ihre Götter vor. Denn sie wissen nicht, daß er der Gott der Götter ist nicht der falschen, nämlich der bösen und übermütigen Götter, die, seines unwandelbaren, allen gemeinsamen Lichtes beraubt und darum auf ihre eigene armselige Macht beschränkt, eine Art Privatherrschaft aufzurichten trachten und von ihren betrogenen Untertanen göttliche Ehren heischen, sondern der Gott frommer und heiliger Götter, die lieber sich selbst dem einen unterwerfen, als daß sie viele sich untertänig machen möchten, lieber Gott verehren, als an seiner Statt verehrt zu werden wünschen. Doch den Feinden dieses heiligen Staates haben wir in den zehn vorausgehenden Büchern bereits mit Hilfe des Herrn, unsers Königs, nach bestem Vermögen Antwort gegeben. Nun aber will ich, dessen bewußt, was man von mir erwartet, und eingedenk meiner Verpflichtung, stets vertrauend auf den Beistand unsers Herrn und Königs, die Erörterung über beide Staaten, den irdischen und himmlischen, die in diesem Weltlauf, wie gesagt, einstweilen gewissermaßen ineinander verwirrt und vermengt sind, über ihre Entstehung, ihren Fortgang und ihr verdientes Ende, soweit meine Kraft reicht, in Angriff nehmen und <?page no="67"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 68 68 Kapitel IV: Augustinus zunächst ausführen, wie der Ursprung der beiden Staaten schon in der voraufgehenden Verschiedenheit der Engel zutage tritt. (Aus: Vom Gottesstaat, Zweiter Band, S. 3-4) VIERZEHNTES BUCH EINE WEITERE FOLGE DES ABFALLS: DER AUFRUHR DES FLEISCHES […] 28. Die beiden Staaten Demnach wurden die zwei Staaten durch zweierlei Liebe begründet, der irdische durch Selbstliebe, die sich bis zur Gottesverachtung steigert, der himmlische durch Gottesliebe, die sich bis zur Selbstverachtung erhebt. Jener rühmt sich seiner selbst, dieser »rühmt sich des Herrn«. Denn jener sucht Ruhm von Menschen, dieser findet seinen höchsten Ruhm in Gott, dem Zeugen des Gewissens. Jener erhebt in Selbstruhm sein Haupt, dieser spricht zu seinem Gott: »Du bist mein Ruhm und hebst mein Haupt empor.« In jenem werden Fürsten und unterworfene Völker durch Herrschsucht beherrscht, in diesem leisten Vorgesetzte und Untergebene einander in Fürsorge und Gehorsam liebevollen Dienst. Jener liebt in seinen Machthabern die eigene Stärke, dieser spricht zu seinem Gott: »Ich will dich lieben, Herr, meine Stärke.« Daher haben in jenem die Weisen dieser Welt sich entweder die Güter ihres Leibes oder ihrer Seele oder beider Güter zum Ziel gesetzt; oder, welche Gott erkennen konnten, haben »ihn doch nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert. Da sie sich für weise hielten«-- das heißt, von Stolz beherrscht sich ihrer eigenen Weisheit überhoben--, »sind sie zu Narren geworden und haben verwandelt die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes in ein Bild, gleich dem vergänglichen Menschen und der Vögel und der vierfüßigen und kriechenden Tiere«-- in Anbetung solcher Götzenbilder gingen sie bald der Menge vorauf, bald folgten sie ihr nach-- »und haben geehrt und gedient dem Geschöpfe mehr als dem Schöpfer, der da gelobt ist in Ewigkeit«. In diesem Staate aber gibt es nur eine Weisheit des Menschen, die Frömmigkeit, die den wahren Gott recht verehrt und in der Gemeinschaft der Heiligen, nicht nur der Menschen, sondern auch der Engel, als Lohn erwartet, »daß Gott sei alles in allen«. (Aus: Vom Gottesstaat, Zweiter Band, S. 210-211) <?page no="68"?> 1. Primärtext 69 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 69 FÜNFZEHNTES BUCH DER WERDEGANG DER BEIDEN STAATEN BIS ZUR SÜNDFLUT (sic! ) 1. Der Anfang der beiden Staaten-- Kain und Abel Über das Glück im Paradiese oder das Paradies selbst und das Leben der ersten Menschen darin sowie über ihre Sünde und Strafe haben viele vielfach nachgedacht, viel gesagt und viel geschrieben. Auch wir haben hierüber in den voraufgehenden Büchern auf Grund der Heiligen Schrift manches vorgebracht, was wir in ihr gelesen oder was wir im Einklang mit ihr aus ihr erschließen konnten. Sucht man aber noch genauere Auskunft, erheben sich zahlreiche, verschiedenartige Streitfragen, deren Behandlung mehr Bände und mehr Zeit erfordern würde, als sie für dies Werk vorgesehen sind. So viel Zeit haben wir ja nicht, daß wir bei allem verweilen könnten, was müßige und spitzfindige Leute, deren Neugier größer ist als ihr Verständnis, vielleicht wissen möchten. Doch meine ich bereits große und schwierige Fragen wie die nach dem Anfang der Welt, der Seele und des Menschengeschlechts hinreichend geklärt zu haben. Was letzteres anlangt, unterschieden wir zwei Arten, nämlich derer, die nach dem Menschen, und derer, die nach Gott leben. In Gleichnisrede sprechen wir hier von zwei Staaten, das ist zwei menschlichen Genossenschaften, deren eine vorherbestimmt ist, ewig mit Gott zu herrschen, die andere, mit dem Teufel ein ewiges Strafgericht zu erleiden. Doch von diesem Ausgang wird später zu reden sein. Ihren Anfang nahmen sie teils mit den Engeln, deren Zahl uns unbekannt ist, teils mit den beiden ersten Menschen, und davon war bereits die Rede. So müssen wir nunmehr ihre Entfaltung beschreiben, von dem Zeitpunkt an, wo jene beiden Nachkommen zu erzeugen anfingen, bis dahin, wo keiner mehr Nachkommen erzeugt. Denn den Inhalt dieser ganzen Zeit oder Weltperiode, in der die Kette von Sterben und Geborenwerden nicht abreißt, bildet die Entfaltung dieser beiden Staaten, denen unsere Betrachtung gilt. Von den beiden Eltern des Menschengeschlechts ward also zuerst Kain geboren, der dem Menschenstaate angehört, darauf Abel, der Angehörige des Staates Gottes. Denn wie beim einzelnen Menschen die Erfahrung das Apostelwort bestätigt, daß nicht das Geistliche das erste ist, sondern das Seelische und danach das Geistliche-- denn da jeder aus verdammtem Geschlecht abstammt, muß er als Adams Nachfahr unausweichlich zunächst böse und fleischlich sein, aber durch Wiedergeburt und Wachstum in Christus wird er später gut und geistlich--, so verhält es sich auch mit der Menschheit als ganzer. Als jene beiden Staaten mit ihrer Aufeinanderfolge von Geburt und Tod anfingen sich zu entfalten, da ward zuerst der Bürger dieser Erdenwelt geboren, nach ihm aber, der ein Fremdling auf Erden und Glied des Gottesstaates war, aus Gnaden vorherbestimmt, aus Gnaden auserkoren, aus Gnaden ein Fremdling hier unten, aus Gnaden ein Bürger droben. Denn was ihn selbst anlangt, so <?page no="69"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 70 70 Kapitel IV: Augustinus stammt er aus jener Masse, die ganz und gar in ihrem Ursprung verdammt ist, doch hat Gott wie ein Töpfer-- nicht unbedacht, sondern wohlüberlegt führt der Apostel dies Gleichnis an- - aus derselben Masse das eine Gefäß zur Ehre, das andere zur Schmach zubereitet. Zuerst aber ward das Gefäß zur Schmach zubereitet, danach das andere zur Ehre, da ja auch, wie gesagt, beim Einzelmenschen das Böse, mit dem wir notwendig anfangen, aber in dem wir nicht notwendig verharren, vorangeht und das Gute nachfolgt, zu dem wir fortschreitend gelangen und bei dem wir dann verharren sollen. Indes wird nicht jeder böse Mensch gut, niemand jedoch wird gut, der nicht zuvor böse war. Aber je schneller sich jemand zum Besseren wandelt, um so eher wird er nach dem genannt, was er ergriffen hat, und überdeckt dann mit dem späteren Namen den früheren. Von Kain nun steht geschrieben, daß er einen Staat gründete, Abel aber als Fremdling tat dies nicht. Denn droben ist der Staat der Heiligen, wenn er auch hienieden Bürger erzeugt, in denen er dahinpilgert, bis die Zeit seines Reiches herbeikommt. Dann sammelt er alle leiblich Auferstandenen, und das verheißene Reich wird ihnen gegeben, wo sie mit ihrem Fürsten, dem Könige der Welten, ohne zeitliches Ende herrschen werden. (Aus: Vom Gottesstaat, Zweiter Band, S. 212-214) NEUNZEHNTES BUCH VOM ENDZIEL, DEM HÖCHSTEN GUT UND WAHREN FRIEDEN […] 17. Der irdische und himmlische Staat und Beziehung zum irdischen Frieden Jedoch eine menschliche Hausgemeinschaft, die nicht aus dem Glauben lebt, trachtet nur danach, im Genuß der Gaben und Güter des zeitlichen Lebens irdischen Frieden zu gewinnen. Eine Hausgemeinschaft aber von solchen, die aus dem Glauben leben, erwartet die ewigen Güter, die für die Zukunft verheißen sind, und gebraucht die irdischen und zeitlichen Dinge nur wie ein Gast, läßt sich von ihnen nicht fangen und vom Wege zu Gott abbringen, sondern stärkt sich durch sie, die Last des vergänglichen Leibes, der die Seele beschwert, leichter zu ertragen und so wenig wie möglich zu vermehren. So ist zwar der Gebrauch der für unser sterbliches Leben notwendigen Dinge beiderlei Menschen und Häusern gemeinsam. Aber der Endzweck, zu dem man sie gebraucht, ist bei beiden anders und grundverschieden. Demnach strebt auch der irdische Staat, der nicht im Glauben lebt, nach irdischem Frieden und versteht die Eintracht der Bürger im Befehlen und Gehorchen als gleichmäßige Ausrichtung des menschlichen Wollens auf die zum sterblichen Leben gehörenden Güter. Der himm- <?page no="70"?> 1. Primärtext 71 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 71 lische Staat dagegen oder vielmehr der Teil desselben, der noch in dieser vergänglichen Welt auf der Pilgerfahrt sich befindet und im Glauben lebt, bedient sich notwendig auch dieses Friedens, bis das vergängliche Leben selbst, dem solcher Friede not tut, vergeht. Solange er darum im irdischen Staate gleichsam in Gefangenschaft sein Pilgerleben führt, trägt er, bereits getröstet durch die Verheißung der Erlösung und den Empfang des Unterpfandes der Geistesgabe, kein Bedenken, den Gesetzen des irdischen Staates, die all das regeln, was der Erhaltung des sterblichen Lebens dient, zu gehorchen. Da ja das sterbliche Leben beiden Staaten gemeinsam ist, kann zwischen ihnen in allen darauf bezüglichen Angelegenheiten Eintracht bestehen. Nun hatte aber auch der irdische Staat seine Weisen, die jedoch von der göttlichen Lehre verworfen werden. Sie mutmaßten oder glaubten, von Dämonen betrogen, wirklich, man bedürfe für die menschlichen Angelegenheiten des Beistandes vieler Götter, die sich auf verschiedene Weise betätigen und je nachdem die verschiedenen Dinge überwachen sollten. Der eine, hieß es, habe auf den Leib achtzugeben, der andere auf die Seele, und wenn auf den Leib, dann der eine auf den Kopf, der andere auf den Nacken und so fort, jeder auf seinen Teil, wenn aber auf die Seele, dann der eine auf den Verstand, der andere auf das Lernen, der andere auf den Zorn, der andere auf die Begierde. Was ferner die Dinge des täglichen Lebens betrifft, so sei dem einen das Vieh anvertraut, dem andern das Korn, dem andern der Wein, dem andern das Öl, dem andern die Wälder, dem andern das Geld, dem andern die Schiffahrt, dem andern die Kriege und Siege, dem andern die Ehen, dem andern Geburt und Fruchtbarkeit und so immerfort, jedem etwas anderes. Der himmlische Staat dagegen weiß nur von der Verehrung eines einzigen Gottes und ist in frommem Glauben überzeugt, daß man nur ihm jenen Dienst weihen soll, der auf griechisch »Latreia« heißt und allein Gott gebührt. So konnte er unmöglich die Religionsgesetze mit dem irdischen Staate teilen, sondern mußte darin von ihm abweichen und somit den Andersdenkenden lästig fallen und ihre Zornes- und Haßausbrüche und Verfolgungen ertragen, falls nicht gelegentlich die Wut der Gegner durch die Angst vor der großen Zahl der Gläubigen und die ihnen stets gewährte göttliche Hilfe in Schranken gehalten wurde. Während also dieser himmlische Staat auf Erden pilgert, beruft er aus allen Völkern seine Bürger und sammelt aus allen Zungen seine Pilgergemeinde. Er fragt nichts nach Unterschieden in Sitten, Gesetzen und Einrichtungen, wodurch der irdische Friede begründet oder aufrechterhalten wird, lehnt oder schafft nichts davon ab, bewahrt und befolgt es vielmehr, mag es auch in den verschiedenen Völkern verschieden sein, da alles ein und demselben Ziele irdischen Friedens dient. Nur darf es die Religion, die den einen höchsten und wahren Gott zu verehren lehrt, nicht hindern. So benutzt auch der himmlische Staat während seiner Erdenpilgerschaft den irdischen Frieden, sichert und befördert in allen Angelegenheiten, die die sterbliche Natur der Menschen betreffen, die menschliche Willensübereinstimmung, soweit es unbeschadet der Frömmigkeit und Religion möglich ist, und stellt diesen irdischen Frieden in den Dienst des himmlischen Friedens. Denn der allein ist in Wahrheit Friede, und wenigswww.claudia-wild.de: <?page no="71"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 72 72 Kapitel IV: Augustinus tens für ein vernunftbegabtes Geschöpf gibt es im Grunde nur ihn, und nur ihn darf man so nennen, nämlich die bestgeordnete, einträchtigste Gemeinschaft des Gottesgenusses und wechselseitigen Genusses in Gott. Ist man aber erst dahin gelangt, gibt es kein sterbliches Leben mehr, sondern nur das ganz und gar und immerdar lebendige, und keinen seelischen Leib mehr, der in seiner Gebrechlichkeit die Seele beschwert, sondern nur einen geistlichen, der keine Bedürfnisse kennt und vollständig dem Willen unterworfen ist. Diesen Frieden besitzt der Gottesstaat, solang er hier pilgert, im Glauben, führt in der Kraft dieses Glaubens ein gerechtes Leben und zielt mit allem, was er Gutes tut für Gott und den Nächsten-- denn das Leben des Gottesstaates ist ein Leben in Gemeinschaft-- auf die Erlangung jenes Friedens hin. (Aus: Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Vollständige Ausgabe in einem Band, Buch I bis 10, Buch II bis 22. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, Berlin: Akademie Verlag (2011), Zweiter Band, S. 560-563) 2. Leitfragen a. Worauf begründet Augustinus den »irdischen Staat« und den »Gottesstaat« und worin unterscheiden sich die beiden Staaten? b. Erklären Sie die Metapher von Kain und Abel in Bezug auf den »irdischen Staat« und den »Gottesstaat«. c. Worin unterscheidet sich eine gläubige menschliche Hausgemeinschaft von einer nicht-gläubigen? d. Welche Voraussetzung muss ein irdischer Staat erfüllen, damit Gläubige dessen Gesetzen gehorchen können? 3. Entstehungskontext Biografisches Augustinus wurde 354 in der Stadt Thagaste in der nordafrikanischen römischen Provinz Numidien, im heutigen Algerien, geboren. Als kleiner Landbesitzer gehörte sein Vater der Provinzstadt als Stadtrat an. Seine Mutter war überzeugte Christin, die ihre Kinder im christlichen Glauben erzog und der es gelang, ihren heidnischen Mann zu überreden, sich kurz vor seinem Tod noch taufen zu lassen. Nach einer ausschweifenden Jugend in Karthago wurde Augustinus durch die Schriften Ciceros zum Studium der Philosophie angeregt und begab sich auf die Suche nach der Wahrheit. Er suchte sie neun Jahre lang in der Lehre der Religionsgemeinschaft der Manichäer, die ihn an seine psychischen Grenzen brachte. Dann verfiel er dem philosophischen <?page no="72"?> 3. Entstehungskontext 73 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 73 Skeptizismus, dem er wieder entrann, als er die neuplatonischen Schriften, insbesondere Plotinos, studierte. Inzwischen war er als Rhetorikprofessor nach Mailand berufen worden. Dort hatte er ein religiöses Erlebnis 1 , infolgedessen er seine Lebensweise radikal änderte, den christlichen Glauben annahm und sich ein Jahr später taufen ließ. 388 kehrte er nach Nordafrika zurück und wurde 396 Bischof von Hippo. Dort verfasste er folgende einschlägige Schriften: die Confessiones (Bekenntnisse, 396- 398), De Trinitate (Die Dreieinigkeit, 399-419) und De civitate Dei (Vom Gottesstaat, 413-426). Im Jahr 430 fielen die Vandalen in die Bischofsstadt ein. Augustinus starb dort drei Monate nach der Besetzung. (Vgl. Schöpf 1970, S. 21, 37; vgl. Flasch 1980, S. 12; vgl. Störig 1999, S. 253) Zeitliches Herodot, Platon und Aristoteles lebten im Zusammenhang der griechischen Geschichte im Zeitalter zwischen 500 und 300 v. Chr. Augustinus lebte im historischen Kontext des Imperiums Romanum Christianum. Er wurde in eine sehr unruhige Zeit hineingeboren: der Zeit des Untergangs des Weströmischen Reiches 2 und der Etablierung des Christentums als Staatsreligion, die sehr konfliktreich verlief, zumal das Christentum zu dieser Zeit eine sehr zersplitterte Glaubensströmung war. Wurden unter der Herrschaft des Kaisers Diocletian (284-305) die Christen noch verfolgt, duldete und förderte Kaiser Konstantin I. der Große (306-337) sie und berief das erste ökumenische Konzil 3 nach Nikeia (325) ein. Im Geburtsjahr Augustins herrschte Kaiser Constantius II. (337-361), der die Religionspolitik Konstantins im Prinzip fortsetzte. Der ihm nachfolgende Kaiser Julian Apostata (361-363) regierte zwar nur kurz, bemühte sich aber die Christen wieder zurückzudrängen zugunsten des hellenistischen Glaubens, den er nach christlichem Vorbild zu organisieren versuchte. Julian Apostata wird auch der »Abtrünnige« (vom Christentum) genannt. Nach dessen Tod folgten die Kaiser Jovian (363-364) und Valens (364- 378), der allerdings die Arianer 4 bevorzugte. Erst Kaiser Theodosius I. der Große 1 Über sein Bekehrungserlebnis schreibt Augustinus in seinem autobiografischen Werk »Bekenntnisse« im achten Buch, zwölftes Kapitel. 2 Der Untergang des Weströmischen Reiches wird auf das Jahr 476 datiert. (Vgl. Ploetz, S. 361) 3 Ein Konzil ist eine Versammlung in kirchlichen Angelegenheiten. Synonymer Begriff ist Synode. Über 300 Bischöfe sollen an dem Konzil von Nikeia teilgenommen und die dort getroffenen Beschlüsse unterzeichnet haben. 4 Die Arianer sind Anhänger der Lehre des Arianus (gestorben 336). Sie sind zwar auch Christen, aber keine Katholiken. Arianus lehrte, dass der Gottessohn nicht wesensgleich mit Gottvater, sondern diesem untergeordnet sei und als Mittler zwischen Gott und den Menschen stehe. Athanasius (gestorben 373) war anderer Meinung und lehrte, dass der Gottessohn wesenseins mit dem Vater sei. Auf dem Konzil von Nikeia siegte die Ansicht von Athanasius und die Wesensgleichheit wurde als verwww.claudia-wild.de: <?page no="73"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 74 74 Kapitel IV: Augustinus (379-395) trieb die von Konstantin begonnene Christianisierung wieder konsequent voran. 380 definierte er per Gesetz den Begriff »katholisch« und schrieb allen Untertanen den christlichen Glauben vor. Der Glaubenszwang wurde damit zum Staatsgesetz. Die Bestätigung erfolgte im zweiten ökumenischen Konzil in Konstantinopel 381. Unter seiner Herrschaft kam es zu blutigen Verfolgungen von Häretikern 5 und Heiden. Theodosius I. gilt als letzter Kaiser des Imperiums, der noch in der Lage war, das Reich zusammenzuhalten und zu stabilisieren. Nach seinem Tode zerfiel das Imperium in das Weströmische und Oströmische Reich. Die Eroberung Roms-- der »Ewigen Stadt«- - durch den Westgotenkönig Alarich im Jahr 410 erschütterte die lateinischen Zeitgenossen aufs Tiefste. (Vgl. Ploetz, S. 281-286) Unter dem Eindruck dieses Ereignisses und den aufkommenden Zweifeln gegenüber dem Christentum als Staatsreligion schrieb Augustinus das Werk »Vom Gottesstaat«. Gesellschaftspolitisches Die Kernprobleme des 4. und 5. Jahrhunderts für das Weströmische Reich waren innenpolitisch die Religionspolitik und außenpolitisch die Völkerwanderungen. Die Alamannen, Sweben, Langobarden und Franken als germanische Stämme, die Westgoten, Ostgoten, Vandalen, Burgunder und Heruler als ostgermanische Stämme sowie die Hunnen, Alanen, Awaren und Slawen als nichtgermanische Völker fielen in das Imperium Romanum ein. (Vgl. Ploetz, S. 364) Im Inneren des Reiches herrschte eine gesteigerte Religiosität. Demandt schreibt: »Religion war in Rom nie bloß Privatsache. Der Senat sorgte dafür, daß die alten Kulte versehen wurden, er wachte darüber, welche neuen Religionen in Rom Eingang fanden. Je weiter die Römer in alle Himmelsrichtungen vordrangen, je mehr Fremde sich am Tiber niederließen, desto bunter wurde das Bild der hier verehrten Götter.« (Demandt 2007, S. 493, Herv. i. Orig.) Allein unter den Heiden herrschten etwa 300 verschiedene religiöse Ansichten. (Vgl. Demandt 2007, S. 494) Neben den heidnischen Religionen spielten die jüdische und die christliche Religion sowie Asketen und Sektierer eine große Rolle. Zudem griff der Aberglaube massiv um sich. (Vgl. Demandt 2007, S. 567) Die Herrschenden waren der Auffassung, dass sie die Religion politisch integrieren müssten, um das Reich erhalten zu können. »Ein 361 von Constantius und Julian erlassenes Gesetz verkündete, was die meisten ihrer Vorgänger und Nachfolger glaubten: ›Freude und Ruhm suchen Wir (sic! ) allzeit im Glauben, denn Wir (sic! ) wissen wohl, daß es für den Bestand Unseres (sic! ) Reiches mehr auf die Religionsausübung ankommt als auf Amtspflichten, Arbeit und Schweiß.‹« (Demandt 2007, S. 493) Das Großreich bindliche Kirchenlehre festgelegt. Die germanischen Stämme hingegen blieben weiterhin Arianer. Sie wurden erst im 6. Jahrhundert zum Katholizismus bekehrt. (Vgl. Störig1999, S. 251) 5 Personen, die von der offiziellen Lehre abweichen. Sie werden auch Ketzer genannt. <?page no="74"?> 3. Entstehungskontext 75 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 75 stand also unter einem enormen inneren und äußeren Druck. Erinnern wir uns an die griechischen Stadtstaaten. Diese waren so klein, dass die Herrschenden auf dem Marktplatz zum ganzen Volk (bis zu 6000 männliche Personen, die das Bürgerrecht besaßen) sprechen und politische Entscheidungen in Volksversammlungen per Handzeichen abgestimmt werden konnten. Damit war jeder Bürger politisch integriert. 6 Das weltumspannende Imperium Romanum wurde hingegen von einem absolut regierenden fernen Herrscher gelenkt, in dem die öffentlichen Angelegenheiten dem Alltag des Einzelnen immer ferner gerückt waren. Dieses »zusammen mit dem Ungenügen an der hergebrachten Religion, die immer mehr zu einem äußerlichen Staatskultus mit Vergötterung des Kaisers geworden war, hatten ein tiefes Bedürfnis nach persönlicher Religiosität entstehen lassen.« (Störig 1999, S. 243) Der christliche Glaube ist eine persönliche Religion, die sich auf das eigene Seelenheil konzentriert und keine Herrschaftsansprüche auf Erden erhebt. 7 Danach ist Gott ein allmächtiger Schöpfer, der die Welt aus seinem Willen aus dem Nichts geschaffen hat. Kern der christlichen Frömmigkeit ist die Demut gegenüber dem göttlichen Schöpfer und Herrn. Im christlichen Menschenbild ist der Mensch von Natur aus sündig und dem Tod überantwortet. Deshalb spielen das Jenseits und das »ewige Leben« eine zentrale Rolle. Der Mensch könne zwar gegen das Böse ankämpfen, aber nicht aus eigener Kraft davon erlöst werden. Nur der gnädige Gott könne die Menschen von der Sünde und dem Bösen erlösen. Das Ziel der Erlösung, die auf das Jenseits gerichtet ist, die Demut vor Gott und seinen Stellvertretern auf Erden sowie die Annahme der unüberwindlichen Sündhaftigkeit der Welt entwerten das Weltliche und führen zu einer Haltung des Erduldens diesseitigen Martyriums. Für das Verhältnis der Menschen untereinander ist im christlichen Glauben die Nächstenliebe grundlegend. 8 Mit dieser Forderung geht das Christentum über alle anderen Religionen hinaus. Das Gebot 6 Ausgenommen Frauen, Sklaven und Fremdarbeiter. 7 Die Antwort Jesu auf die Frage nach der Steuer verdeutlicht, dass Christen die weltliche Herrschaft nicht infrage stellen und dass es ihnen allein auf die Beherrschung der Geisteshaltung ankommt. Mit der Steuerfrage wollen die Gesandten des Kaisers Jesus testen, ob er mit seiner Lehre nicht doch gegen die weltliche Herrschaft predigt: »Da gingen die Pharisäer hin und hielten Rat, wie sie ihn in seinen Worten fangen könnten; und sandten zu ihm ihre Jünger samt den Anhängern des Herodes. Die sprachen: Meister, wir wissen, dass du wahrhaftig bist und lehrst den Weg Gottes recht und fragst nach niemand; denn du achtest nicht das Ansehen der Menschen. Darum sage uns, was meinst du: Ist’s recht, dass man dem Kaiser Steuern zahlt, oder nicht? Als nun Jesus ihre Bosheit merkte, sprach er: Ihr Heuchler, was versucht ihr mich? Zeigt mir die Steuermünze! Und sie reichten ihm einen Silbergroschen. Und er sprach zu ihnen: Wessen Bild und Aufschrift ist das? Sie sprachen zu ihm: Des Kaisers. Da sprach er zu ihnen: So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist! Als sie das hörten, wunderten sie sich, ließen von ihm ab und gingen davon.« (Matthäus 22, 15-22) 8 Die Frage nach dem höchsten Gebot beantwortet Jesus wie folgt: »Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus aber antwortete ihm: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt.‹ Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.« (Matthäus 22, 36-40) <?page no="75"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 76 76 Kapitel IV: Augustinus der Nächstenliebe ist für die innere Haltung der Menschen sehr folgenreich. Es richtet sich gegen die Herrschaft von Menschen über Menschen, bildet die Grundlage für die Idee der Gleichheit (vor Gott) und die Utopie des Weltfriedens. Das aufsteigende Christentum förderte den geistesgeschichtlichen Umbruch, der eine neue Epoche einleitete. Der Geist der Griechen ist im Vergleich zu dem der Christen ein unbeschwerter und aufs Diesseits gerichteter. Störig schreibt treffend: »Ist ein größerer Gegensatz denkbar als der zwischen dem schöngeistig und theoretisch gebildeten, auf harmonisches Ebenmaß und heiteren Sinnengenuß ausgehenden Geist eines Griechen oder Römers der Spätantike und dem der ersten Christen, die als Blutzeugen eines neuen Glaubens mit sittlicher Unbedingtheit alles Weltliche verwerfen, den nahenden Untergang der Welt und die bevorstehende Herabkunft des Gottesreiches verkünden? « (Störig 1999, S. 245) Die ersten Christen entstammten den unteren Schichten der städtischen und ländlichen Bevölkerung ohne klassische Bildung. Die Gebildeten, wie Tacitus oder Kaiser Mark Aurel verachteten die Christenlehre und hielten sie für einen barbarischen Aberglauben. (Vgl. Störig 1999, S. 245) Deshalb wurden die Christen zunächst verfolgt- - staatlich organisiert sowie erbarmungslos und grausam. Zahlreiche Verfolgte erlitten den Märtyrertod. Ihr Vorbild war Jesus von Nazareth, der für seine Überzeugungen sterben musste. Dass der vollkommene Christ für seine Überzeugungen sein Leben opferte, beeindruckte die Menschen in einer Zeit des sittlichen Verfalls, von Weltuntergangsstimmung und geistiger Orientierungslosigkeit. Die sittliche Größe und Standhaftigkeit der Märtyrer überzeugte die Menschen von der Richtigkeit und Wahrhaftigkeit des christlichen Glaubens. Die Gewaltanwendung des Staates führte nicht zur geplanten Ausrottung der Christen, sondern im Gegenteil zur Vermehrung ihrer Anhängerschaft. Konstantin I. reagierte darauf, indem er fortan die Christen zu integrieren statt auszulöschen suchte. Das Problem war, dass zu dieser Zeit die Christen keine homogene Glaubensgemeinschaft waren, weshalb er das Konzil von Nikeia einberief, um eine Grundlage für die Homogenisierung zu schaffen, indem die beim Konzil anwesenden Bischöfe per Mehrheitsentscheid eine für alle Christen verbindliche Lehre beschlossen. Eine homogenisierte Glaubensgemeinschaft lässt sich besser steuern. Die Integration der Christen mündete in der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion. Dieser Weg von der versuchten Ausrottung bis zur Erhebung zur allgemein verbindlichen Staatsreligion kann als ungeheuerliche Erfolgsgeschichte für die christliche Glaubensrichtung angesehen werden. Dazu hatte auch der vom Judentum übernommene Ausschließlichkeitsanspruch- - das auserwählte Volk zu sein- - sowie die strenge und hierarchische Organisation der Kirche beigetragen. Sie bildete in der Zeit des Niedergangs ein eigenständiges Gemeinwesen, das fast einem Staat im Staate gleichkam. (Vgl. Störig 1999, S. 252) <?page no="76"?> 4. Interpretation 77 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 77 4. Interpretation Der oben abgedruckte Primärtext stammt aus dem Hauptwerk Augustinus’ »De civitate Dei«, im Deutschen »Vom Gottesstaat« genannt, und umfasst 22 Bücher. In den ersten zehn Büchern tritt Augustinus den Nachweis an, dass Rom nicht wegen des Christentums gefallen sei, sondern aufgrund von Selbstsucht und Sittenlosigkeit und dass zwischen dem Wohlergehen des Reiches und der Verehrung der alten Götter kein Zusammenhang bestehe. Zudem setzt er sich eingehend mit der griechischen und römischen Philosophie im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit für den christlichen Glauben auseinander. Dabei findet er vor allem Anknüpfungspunkte bei den Platonikern. Nach dieser Auseinandersetzung entfaltet Augustinus im elften Buch dann seine eigene Perspektive vom »Gottesstaat«. Der Gottesstaat ist kein real existierender Staat, sondern eine Vorstellung, eine Idee, noch treffender: eine innere Einstellung, eine Geisteshaltung. Die Aussage »Es gibt solch einen Gottesstaat« (Primärtext) bedeutet nicht, dass Augustinus irgendwo einen solchen Staat entdeckt hat, den er uns so beschreibt, wie er ihn vorfand. So, wie es die Ideen der Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe gibt, die sich in der Realität in bestimmten Handlungen, Zuständen und Institutionen verwirklichen, sofern sie Grundlage unserer inneren Einstellung und Geisteshaltung sind, gibt es für Augustinus den Gottesstaat. 9 Er spricht also von der inneren Realität der Menschen, von ihren Seelenzuständen, aus denen heraus sie handeln. 10 Woher kommt diese innere Einstellung, der Seelenzustand des Gottesstaates, »dessen Bürger zu sein wir in jener Liebe begehren, die uns sein Begründer eingeflößt hat« (Primärtext)? Der Begründer des Gottesstaates ist keine real existierende Person, kein Herrscher, sondern Gott. Gott ist Geist und zwar der Heilige Geist, der gute Geist in uns, gleichsam die Vernunft. Augustinus interpretiert die platonische Ideenwelt, die für Platon wahrer ist als die realen vergänglichen Gegenstände, als Gott. Auf der Suche nach Wahrheit müssen wir die Ideenwelt schauen, die immer und ewig ist. »Diese Philosophen also [die Platoniker, M. K.], deren Ruf und Ruhm mit Recht alle übrigen in Schatten stellt, sahen ein, daß Gott kein Körper ist, und haben darum auf der Suche nach Gott [der Wahrheit, M. K.] alles Körperliche hinter sich gelassen. Sie sahen auch, daß alles, was wandelbar ist, nicht der höchste Gott sein 9 Dass Augustinus nicht von realen Staaten spricht, zeigt sich schon in der Überschrift des elften Buches »Ursprung der beiden Staaten in der Engelwelt«. Im neunten Buch, Kapitel 23 ff. unterscheidet er Engel, Menschen und Dämonen. Engel und Dämonen sind Geisteswesen. Und aus der Welt dieser Geisteswesen entspringen die beiden Staaten, von denen das elfte Buch handelt. 10 Augustinus schreibt im 15. Buch, dass er in seinem Werk große und schwierige Fragen klären möchte, »wie die nach dem Anfang der Welt, der Seele und des Menschengeschlechts« (Primärtext). <?page no="77"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 78 78 Kapitel IV: Augustinus kann, und haben darum auf der Suche nach dem höchsten Gott alles, was bloß Seele ist, und alle wandelbaren Geister hinter sich gelassen.« (Augustinus, Vom Gottesstaat, 2007, Achtes Buch, 6. Kapitel, S. 381) Für Gott sei Leben, Erkennen und Seligsein dasselbe wie Sein. »Vermöge dieser seiner Unwandelbarkeit und Einfachheit, so erkannten sie [die Platoniker, M. K.], hat er dies alles geschaffen und konnte er von niemand geschaffen werden. Denn es war ihnen klar, daß alles, was ist, entweder Körper ist oder Leben, daß Leben aber etwas Besseres ist als Körper, und daß die Form des Körpers sinnenfällig, die des Lebens geistig ist. So zogen sie die geistige Form der sinnenfälligen vor. Sinnenfällig aber nennen wir, was durch leibliches Sehen oder Fühlen wahrgenommen, geistig, was durch geistiges Schauen erfaßt werden kann.« (Augustinus, Vom Gottesstaat, 2007, Achtes Buch, 6. Kapitel, S. 382) Augustinus spricht der Ideenwelt schöpferische Kraft zu und geht davon aus, dass die reale Welt aus dem göttlichen Geist, einem göttlichen Plan geschaffen wurde 11 . Staaten bzw. Städte seien Menschenwerk, Ausdruck menschlicher Seelenzustände und Ergebnis dämonischer Geister. Der Mensch unterliege wechselnden Seelenzuständen, aus denen heraus er in der Welt agiere. Die beiden Staaten, von denen Augustinus spricht, würden zwei Seelenzuständen entsprechen. Sie gründeten auf einem Gefühl der Liebe. Der irdische Staat auf Selbstliebe, die sich bis zur Gottesverachtung steigere und der himmlische Staat auf Gottesliebe, die sich bis zur Selbstverachtung erhebe. Da die Menschen beiderlei Liebe empfinden könnten, seien beide Staaten »in diesem Weltlauf, wie gesagt, einstweilen gewissermaßen ineinander verwirrt und vermengt« (Primärtext). Das Verwirrende bei Augustins Überlegungen ist, dass er einerseits von Seelenzuständen spricht, die er als »irdischen Staat« und »Gottesstaat« bezeichnet und dass andererseits der Seelenzustand des irdischen Staates der Realität irdischer Staaten entspricht, sodass die Beschreibung des Seelenzustands mit der Beschreibung des realen Staates identisch ist. Für den Seelenzustand des Gottesstaates gibt es keine Entsprechung in der Realität. Vermutlich hat Augustinus aus der Beobachtung des realen Staates den Seelenzustand abgeleitet und deshalb diesen inneren Zustand entsprechend »irdischer Staat« genannt. Erinnern wir uns an Platon, der zu jeder Staatsform den dazu passenden menschlichen Charakter beschrieben hat. 12 Das bedeutet, dass jede Staatsform für ihre Reali- 11 Im Buch Genesis heißt es: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.« (Genesis, 1, 1-2) 12 Der demokratische Mensch sei demnach ein mannigfaltiger Mensch, die meisten Sitten und Gemütsstimmungen in sich vereinigend »und schier ebenso schön und bunt wie jener Staat«, weil er auch die Muster der meisten Verfassungen und Denkungsarten in sich trage. <?page no="78"?> 4. Interpretation 79 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 79 sierung einen bestimmten Menschentypus, bestimmte Charaktereigenschaften- - Augustinus würde sagen, einen bestimmten Seelenzustand-- im Menschen erfordert und fördert. Der Gottesstaat von Augustinus ist nicht wie die Monarchie, Oligarchie und Demokratie als Staatsform gedacht, sondern er ist, wie bereits gesagt, ausschließlich ein Begriff für einen Seelenzustand, eine Geisteshaltung, die jedoch, wenn sie eingenommen wird, Konsequenzen für die Wirklichkeit hat. Der Gottesstaat beruht nach Augustinus auf dem guten Gewissen. Im irdischen Staat werde aus Ruhmsucht, Überheblichkeit, Stolz und Eigennutz geherrscht und das Volk durch Demonstration von Stärke unterworfen. Im himmlischen Staat regiere der Geist Gottes durch die Regierenden, die in Demut vor seiner Weisheit gleichsam sich selbst, das heißt den Seelenzustand der übermäßigen Selbstliebe in sich, beherrschten. Nicht ihre physische Stärke erhebe sie über das Volk, sondern ihre Unterwerfung unter das Gesetz Gottes. Sie agierten nicht aus Eigennutz, sondern seien am Gemeinwohl orientiert: »Vorgesetzte und Untergebene [leisten] einander in Fürsorge und Gehorsam liebevollen Dienst« (Primärtext). Die Voraussetzung für die Verwirklichung des Gottesstaates wäre, dass in allen Menschen die Geisteshaltung des Gottesstaates vorherrschte, »dass Gott sei alles in allen« (Primärtext). Dies ist ein starker Anspruch. Augustinus verlangt von den Menschen nichts Geringeres als Selbstbeherrschung. Dass sie einen Kampf in sich austragen, der mit einem Sieg über die Emotionen der Selbstliebe, des Stolzes und der körperlichen Begierden zugunsten des heiligen Geistes 13 und des guten Gewissens enden soll. Woher soll die Motivation kommen, sich einem solchen Gewissenskampf zu stellen? Wodurch sollen die Menschen angehalten werden, sich selbst zu beherrschen? Dafür bedarf es einer Begründung, die Augustinus im fünfzehnten Buch des Primärtextes als Drohszenario im Jenseits liefert. Innerhalb des Menschengeschlechts unterscheidet er jene, die nach dem Menschen und solche, die nach Gott lebten. Als Gleichnis gesprochen lebten die Menschen eben in jenen zwei Staaten: im irdischen und im Gottesstaat. Die nach dem Menschen lebten, würden mit dem Teufel ein ewig Strafgericht erleiden und die nach Gott lebten, würden ewig mit ihm herrschen. Die Angst vor einem ewigen Leben nach dem Tod mit dem Teufel in der Hölle soll die Menschen »motivieren«, sich selbst zu beherrschen und nach den Gesetzen Gottes zu leben. Augustinus denkt jedoch nicht, dass die Menschen, die nur nach Gott lebten, auserwählt und alle anderen unverbesserlich der Verdammnis preisgegeben seien, sondern die Menschen würden einer persönlichen Entwicklung unterliegen, in der es jeder schaffen könne, nach Gottes Geist 13 Der heilige Geist, der Geist Gottes bedeutet im hebräischen Wortsinn »Wind, Hauch«. Gemeint sei damit das Lebensprinzip, das Gott seinen Geschöpfen verliehen habe. Vom Geist Gottes gingen aber auch Wirkungen auf bestimmte Menschen aus: Er komme über einen Menschen und treibe ihn zu einer bestimmten Tat. Er beseele die ekstatischen Prophetengemeinschaften. Propheten des Alten Testamentes haben für die Zukunft eine Ausgießung des Gottesgeistes über das ganze Volk erwartet. Im Neuen Testament wird diese Erwartung durch Jesus erfüllt, der nicht nur selbst vom Geist Gottes erfüllt war, sondern diesen auch an die Seinen vermittelt hat. (Vgl. Die Bibel 1999, S. 314.) <?page no="79"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 80 80 Kapitel IV: Augustinus zu leben. In dem Gleichnis von Kain und Abel ist diese Entwicklung metaphorisch beschrieben. Dabei steht Kain, der Erstgeborene, für den irdischen Staat und Abel, der Zweitgeborene, für den Gottesstaat. Nach der Geburt sei jeder Mensch »böse und fleischlich«, nur auf sein Ich bezogen und fordere die Befriedigung seiner Bedürfnisse ein. Durch Erziehung und die geistige Reifung, »durch Wiedergeburt und Wachstum in Christus wird er später gut und geistlich« (Primärtext). Als Glied des Gottesstaates, also ein Mensch, der nach den Gesetzen Gottes lebt, wandle der Mensch als ein Fremdling auf Erden. Warum? Weil Kain aus dem Seelenzustand des »bösen und fleischlichen« einen Staat auf Erden gründete und Abel nicht. Das Vernünftige, die Ideale, die Utopien aus dem »heiligen Geist« muteten angesichts der an den menschlichen Bedürfnissen, Leidenschaften und Interessen ausgerichteten Realität als »Fremdlinge« an. Solange der Mensch ein Mensch sei, von beiden Seelenzuständen bestimmt werde, ein »Gefäß zur Ehre« und ein »Gefäß zur Schmach« in sich trage, hält es Augustinus für unmöglich, dass die Menschen den Gottesstaat auf Erden errichten könnten. Auf Erden herrsche »das Böse«. Es setze sich gegenüber dem Geistlichen durch: Kain schlug Abel tot. Weil es dann aber einen guten Grund geben muss, trotzdem nach Gott zu leben, postuliert Augustinus den »Staat der Heiligen« droben, der »hienieden [auf Erden, M. K.] Bürger erzeugt, in denen er dahinpilgert, bis die Zeit seines Reiches herbeikommt« und die Guten »ohne zeitliches Ende herrschen werden« (Primärtext). Das ist Glaube und Hoffnung, aber keine Philosophie. Wie sollen sich die Gläubigen nach Augustinus auf Erden verhalten? Wie können sie in einem irdischen Staat leben? Augustinus unterscheidet eine gläubige von einer menschlichen Hausgemeinschaft. Letztere trachte nur nach dem Genuss der Gaben und Güter des zeitlichen Lebens. Die gläubige Hausgemeinschaft gebrauche die irdischen und zeitlichen Dinge nur wie ein Gast, weil sie die ewigen Güter erwartete, die für die Zukunft verheißen seien. Die gläubige Hausgemeinschaft lebe nicht asketisch, sondern stärke sich durch die irdischen Güter, um »die Last des vergänglichen Leibes, der die Seele beschwert, leichter zu ertragen« (Primärtext). Beide Hausgemeinschaften gebrauchten die notwendigen irdischen Dinge für ihr sterbliches Leben. »Aber der Endzweck, zu dem man sie gebraucht, ist bei beiden anders und grundverschieden« (Primärtext). Für die menschliche Hausgemeinschaft sei der Genuss der irdischen Güter der Endzweck des Lebens selbst. Für die gläubige Hausgemeinschaft bestehe der Endzweck des Lebens im ewigen Leben im Reich Gottes. Der irdische Staat benötige den irdischen Frieden, damit seine Bürger in Ruhe dem Genuss der irdischen Güter nachgehen können. Die Gläubigen seien auch diesem irdischen Frieden verpflichtet. Sie befänden sich zwar in Gefangenschaft des irdischen Staates und führten dort ihr Pilgerleben 14 , aber es sei nicht ihre Aufgabe, die Herrschaft des irdischen 14 Die Gläubigen sollten sich innerhalb des irdischen Staates als »wanderndes Gottesvolk« begreifen. Der Kirche kommt dabei als »civitas peregrina« vorläufig die Rolle zu, den Gläubigen einen Ort auf Erden zu geben. <?page no="80"?> 4. Interpretation 81 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 81 Staates infrage zu stellen und womöglich im Namen Gottes durch Aufstände, Gewalt, Krieg und Revolution den irdischen Frieden zu stören, um den Gottesstaat auf Erden zu errichten. Dieses obliege Gott allein. Im Gegenteil: Die Gläubigen seien aufgefordert, aus allen Völkern Bürger zu berufen, die sich der Pilgergemeinde anschließen 15 und hätten alle Arten von Herrschaft auf Erden um des Frieden Willens zu erdulden. Der himmlische Staat, der durch seine Gläubigen auf Erden pilgere, »fragt nichts nach Unterschieden in Sitten, Gesetzen und Einrichtungen, wodurch der irdische Friede begründet oder aufrechterhalten wird, lehnt oder schafft nichts davon ab, bewahrt und befolgt es vielmehr« (Primärtext), allerdings nur, wenn der irdische Staat die Religionsfreiheit gewähre. Nur unter dieser Voraussetzung sei es den Gläubigen möglich, nach dem Gesetz ihres einen einzigen Gottes zu leben und weitere Bürger für ihre Glaubensgemeinschaft zu gewinnen. Im Gegensatz zum irdischen Staat, der auf dem Egoismus beruhe, sei der Gemeinschaftsgedanke ein Argument für das Leben im Glauben des himmlischen Staates: »denn das Leben des Gottesstaates ist ein Leben in Gemeinschaft« (Primärtext). Wir haben einen geistig-psychologischen Ansatz benutzt, um die Begriffe »Gottesstaat« und »irdischer Staat« bei Augustinus nachvollziehen zu können. In der Forschung ist jedoch bis heute nicht ganz geklärt, was Augustinus eigentlich genau darunter versteht. Vermutet wird, dass sich die Beschreibung des Gottesstaates nicht auf die Wirklichkeit bezieht, sondern eschatologisch (heilsgeschichtlich) gemeint ist. In der Rezeptionsgeschichte hat sich allerdings die Auffassung durchgesetzt, dass Augustinus mit dem Gottesstaat die Institution Kirche gemeint habe. (Vgl. Detjen 2006, S. 59 ff.) Diese Deutung erschien jedoch nicht plausibel, vor allem, wenn man den Bezug Augustinus’ zur platonischen Philosophie ernst nimmt. Darin herrscht die Vorstellung, dass der geistig-seelische Zustand des Menschen die politische Struktur der Gesellschaft bestimmt, weshalb die Erziehung des Menschen zu bestimmten Einstellungen und Geisteshaltungen bzw. Tugenden in der platonischen Philosophie eine so große Rolle spielt, um eine bestimmte politische Organisation zu erreichen und zu erhalten. Zwischen Platon, Aristoteles und Augustinus liegen rund 700 Jahre geistesgeschichtliche und politische Entwicklung. Um zu verstehen, inwiefern sich das augustinische Denken vom platonischen und aristotelischen unterscheidet, soll jetzt nachvollzogen werden, welches Weltbild die augustinische Denkweise geprägt hat. Gemäß den griechischen Denkern muss der Staat bzw. die Polis so eingerichtet sein, dass die Bürger ein ethisch gutes und glückliches Leben auf Erden führen können. Diese Vorstellung hat Augustinus offenbar aufgegeben. Er sieht die Leiden und 15 Dies ist der Missionsgedanke des Christentums, der im Pfingstfest seinen Ausdruck findet: »Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle an einem Ort beieinander. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt wie von Feuer, und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.« (Apostelgeschichte des Lukas, 2, 1-4) <?page no="81"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 82 82 Kapitel IV: Augustinus Schlechtigkeiten, die Menschen einander zufügen und glaubt angesichts dessen nicht mehr daran, dass ein ethisch gutes und glückliches Leben in einem irdischen Staat 16 möglich wäre. Wer dies erwartete, würde zwangsläufig von der Realität enttäuscht. Augustinus kann nicht erkennen, dass im Staat Vernunft herrscht, sondern es waltet dort offenbar der Egoismus. Selbst der irdische Frieden werde nicht von einer höheren Einsicht getragen, sondern würde aus Gründen des persönlichen Nutzens, nämlich unbehelligt die irdischen Güter genießen zu können, eingehalten. Ein solcher Friede ist für Augustinus labil, weil die irdischen Güter knapp sind und im Schweiße des Angesichts erarbeitet werden müssen. Von einem Staat, in dem die Güter begrenzt sind (die alle begehren), der sich, wie das Römische Reich, in eine ungeheuerliche räumliche Weite erstreckt und in dem die Bürger selbstsüchtig sind, kann kein persönliches Heil zu erwarten sein, wie es die Griechen unter ihren Lebensbedingungen noch zu glauben vermochten. Dennoch will Augustinus nicht auf die Möglichkeit eines ethisch guten und glücklichen Lebens verzichten. Da die Begründung bzw. die Basis für ein solches Leben nicht im Weltlichen liegen kann, wo es um die Lebenserhaltung und Befriedigung der leiblichen Bedürfnisse geht, muss es jenseits des Weltlichen liegen: im Geistigen bzw. Metaphysischen. Hiermit verabschiedet Augustinus die Einheit von Religion und Staat und schafft gleichzeitig zwei Reiche, die zwar »ineinander verwirrt und vermengt« (Primärtext) sind, aber zwei völlig unterschiedliche Legitimationsgrundlagen haben, die allerdings beide mit der menschlichen Natur vereinbar sind: die Bedürftigkeit des Leiblichen und die egoistische Natur des Menschen auf der einen Seite sowie das aufeinander Angewiesensein und die soziale Natur des Menschen auf der anderen Seite. Für beide Ausprägungen der menschlichen Natur begründet Augustinus eine Institution: den irdischen Staat und den Gottesstaat. Beide Institutionen können Macht über den Menschen beanspruchen: die weltliche Macht und die geistige Macht. Letztere verweltlicht sich in der Organisation der Kirche. Die geistlichen Machtträger bilden den Klerus. Der innere Kampf der Gläubigen zwischen Selbstliebe und Gottesliebe erhält seine Inkarnation im Kampf der christlichen Kirche mit der weltlichen Herrschaft. Nach Detjen sind es drei Aspekte, mit denen Augustinus das politische Denken bis heute beeinflusst: die Profanisierung des Staates, die Gewaltenteilung zwischen temporaler und spiritueller Gewalt und das eschatologische Politikverständnis. Demnach werde die irdische Gewalt metaphysisch entmachtet, es entstehe eine Bipolarität von 16 Der Begriff »Staat« eignet sich im Zusammenhang der griechischen und mittelalterlichen Philosophie eigentlich nicht als Übersetzung, weil wir heute darunter Gebilde verstehen, in denen sich Massengesellschaften politisch organisieren, die es zu Zeiten der griechischen und mittelalterlichen Denker noch gar nicht gab. »Polis« oder »civitas« bedeutet eher »Stadt«, allerdings weckt diese Übersetzung wiederum falsche Vorstellungen, weil damit auch nicht die Stadt im heutigen Sinne gemeint ist. Um diese Übersetzungsprobleme kommen wir nicht herum. Gleichgültig, welchen Übersetzungsbegriff wir verwenden (Stadt oder Staat), wichtig ist, dass wir versuchen, uns darunter Vorstellungen zu machen, die der damaligen historischen Wirklichkeit entsprechen. <?page no="82"?> 4. Interpretation 83 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 83 zwei Reichen, aus denen der Kampf der »zwei Schwerter« resultiere und die Geschichte der Menschheit werde als Heilsgeschichte aufgefasst. (Vgl. Detjen 2006, S. 62) Das augustinische Denken ist ein dualistisches Denken, das nicht nur die zwei Schwerter der geistlichen und weltlichen Macht hervorgebracht hat, sondern auch eine Spaltung der menschlichen Seele. Die menschliche Natur unterliegt dem Spannungsverhältnis zwischen dem Leiblichen bzw. dem Egoismus und dem Geistigen bzw. der Vernunft. Die griechische Philosophie und die heidnischen Religionen haben versucht, dieses Spannungsverhältnis in ihren Ideen und Vorstellungen in einer Gleichwertigkeit von Leib und Seele aufzuheben. Augustinus nimmt eine einseitige Aufwertung des Geistigen bzw. Vernünftigen und eine Abwertung bzw. Verwerfung des Leiblichen und Egoistischen vor. Er macht sich über die vielen Götter der Heiden lustig: »Der eine, hieß es, habe auf den Leib achtzugeben, der andere auf die Seele, und wenn auf den Leib, dann der eine auf den Kopf, der andere auf den Nacken und so fort« (Primärtext). Nun: »Der himmlische Staat dagegen weiß nur von der Verehrung eines einzigen Gottes« (Primärtext). Der Monotheismus stellt zum einen eine Vereinfachung gegenüber dem pluralistischen Götterglauben dar und zum anderen bietet er eine bessere Grundlage zur Selbstbeherrschung und Beherrschung der Gläubigen durch die Kirche. Welchen Beitrag leistet Augustinus’ Werk für die Entwicklung der Idee der Demokratie? Sicherlich keinen zur Entwicklung der Demokratie als politische Organisationsform. Er spricht von Seelenzuständen und nicht von Staatsformen. Der Beitrag der augustinischen Gedanken zur Idee der Demokratie liegt in ihrer Wirkung auf die Denkweise der nachfolgenden Theoretiker, in deren Überlegungen der Denkumbruch, den Augustinus markiert, verarbeitet wird. Seine größte Wirkung besteht aber darin, Religion und Staat voneinander getrennt zu haben, wodurch dem Staat die ideelle Legitimationsgrundlage entzogen wurde und die Kirche einen Staat im Staat bilden konnte. Das gute und glückliche Leben wurde fortan mit dem religiösen Leben und somit der Institution Kirche verbunden. Damit konnte sich die Kirche als Stellvertreterin des Reichs Gottes auf Erden von der weltlichen Macht emanzipieren, was praktisch im Mittelalter zur Spaltung der kirchlichen und weltlichen Macht führte. Letztere hatte damit ihre ideologische Grundlage verloren und war vorläufig zur Legitimation auf die kirchliche Macht angewiesen. Denn der Adel hatte gegenüber seinen Mitmenschen außer Gewalt, die einerseits Unterwerfung, andererseits Schutz bedeutete, und die Berufung auf Tradition nichts zu bieten, um seine Herrschaft zu rechtfertigen. Die Kirche hingegen versprach das Heil der Seele. Die Trennung von Staat und Religion schuf theoretisch die Möglichkeit, staatliche Herrschaft auch durch nicht-religiöse Motive zu begründen. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung zur Entwicklung der Idee der Demokratie, die keiner Religion dient. <?page no="83"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 84 84 Kapitel IV: Augustinus 5. Literatur Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate Dei). Vollständige Ausgabe in einem Band, Buch I bis 10, Buch II bis 22. Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München 2007. Der Große Ploetz: die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, begründet von Dr. Carl Ploetz, 34., neu bearbeitete Auflage, bearbeitet von 80 Fachwissenschaftlern, Freiburg i. Br. ohne Jahr. Detjen, Joachim: Augustinus, in: Massing, Peter/ Breit, Gotthard (Hrsg.): Demokratie-Theorien. Von der Antike bis zur Gegenwart. Texte und Interpretationen, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, 2. Auflage, Bonn 2006, S. 55-64. Flasch, Kurt: Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980. Schöpf, Alfred: Augustinus. Einführung in sein Philosophieren, Freiburg/ München 1970. Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 17., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1999. <?page no="84"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 85 85 Kapitel V: Marsilius von Padua 1. Primärtext Teil I, KAPITEL XII Die nachweisbare bewirkende Ursache der menschlichen Gesetze und auch die, die man logisch nicht nachweisen kann; das bedeutet, nach dem Gesetzgeber forschen. Daraus ergibt sich auch, daß allein die Abstimmung unter Ausschluß jeder Bestätigung dem Abstimmungsergebnis Rechtskraft verleiht § 1 Anschließend ist von der bewirkenden Ursache der Gesetze zu sprechen, die wir logisch feststellen können; von der Gesetzgebung nämlich, die durch Gottes Eingreifen oder Verkündigung unmittelbar ohne menschliche Entscheidung vor sich gehen kann oder schon vorgekommen ist, wofür wir die Einsetzung des Mosaischen Gesetzes als Beispiel genannt haben, auch hinsichtlich der in ihm enthaltenen Gebote für das Zusammenleben im Diesseits, beabsichtige ich nicht, hier eine ausführliche Darstellung zu geben, sondern ausschließlich von der Gesetzgebung und der Einsetzung der Regierung, die unmittelbar aus der Entscheidung des menschlichen Geistes hervorgehen. § 2 Wenn wir nun dazu übergehen, so wollen wir sagen: Ein Gesetz, gleichsam nur seinem Inhalt nach genommen und in der dritten Bedeutung, als Wissen vom Gerechten und Nützlichen im bürgerlichen Leben, zu finden, das kann jedem einzelnen Bürger gelingen, mag auch das Forschen danach zweckmäßiger sein und besser zum Ziele kommen aus den Beobachtungen derer, die sich Zeit nehmen können, der Älteren und im praktischen Leben Erfahreneren, die man kluge Köpfe nennt, als aus den Überlegungen der Handwerker, die durch ihre Arbeit nach dem Erwerb des Lebensnotwendigen streben müssen. Aber weil die wahre Erkenntnis oder Findung des Gerechten und Nützlichen und ihres Gegenteiles nur dann Gesetz in der letzten und eigentlichen Bedeutung ist, in der es Maßstab für das menschliche Handeln im bürgerlichen Leben wird-- ›nur dann‹, wenn derjenige eine zwingende Vorschrift, es zu befolgen, erlassen oder es als solche Vorschrift formuliert hat, kraft dessen Ermächtigung eine Bestrafung der Übertreter erfolgen kann und soll, deswegen muß gesagt werden, wem die Befugnis zusteht, eine solche Vorschrift zu erlassen und deren Übertreter zu strafen. Das heißt forschen nach dem Gesetzgeber oder Gesetzesschöpfer. § 3 Wir aber wollen sagen, wie es der Wahrheit und dem Rate des Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 6 entspricht: Gesetzgeber oder erste und spezifische bewirkende Ursache des Gesetzes ist das Volk oder die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit durch ihre Abstimmung oder Willensäußerung, die in der Vollversammlung der Bürger in <?page no="85"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 86 86 Kapitel V: Marsilius von Padua einer Debatte zum Ausdruck gekommen ist; ›diese Mehrheit‹ schreibt vor oder bestimmt unter zeitlicher Buße oder Strafe, daß im Zusammenleben der Menschen etwas getan oder unterlassen werden soll: die Mehrheit, sage ich-- unter Berücksichtigung der Zahl und Bedeutung der Personen- -, in jener Gemeinschaft, für die das Gesetz gegeben wird, mag die vorhin genannte Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit das selbst unmittelbar erledigen, mag sie es einem oder einigen zur Erledigung überweisen, die an und für sich nicht Gesetzgeber sind und es nicht sein können, sondern nur zu einem bestimmten Zwecke und nur manchmal und nur kraft Ermächtigung durch den primären Gesetzgeber. Im Anschluß daran sage ich: Durch dieselbe primäre Instanz, nicht eine andere, müssen die Gesetze und alle Abstimmungsergebnisse die notwendige Bestätigung ›ihrer formalen Korrektheit‹ erhalten, was es auch mit gewissen Zeremonien oder Feierlichkeiten für eine Bewandtnis haben mag, die zum Sein des Abstimmungsergebnisses nicht erforderlich sind, sondern nur zum Gutsein, und ohne die die Abstimmung auch gültig wäre; ferner: von derselben Instanz müssen die Gesetze und alle Abstimmungsergebnisse Zusätze, Streichungen oder völlige Änderung, Auslegung und Aufhebung erfahren nach dem Erfordernis von Zeit, Ort und anderen Umständen, sofern sie eine derartige Maßregel zum Nutzen der Gesamtheit in solchen Dingen zweckmäßig erscheinen lassen. Dieselbe Instanz muß die Gesetze nach ihrer Annahme auch veröffentlichen oder verkünden, damit kein Bürger oder Fremder beim Verstoß gegen sie sich mit deren Unkenntnis entschuldigen kann. § 4 Bürger nenne ich nach Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 1, 3 und 7, wer in der staatlichen Gemeinschaft an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat, je nach seinem sozialen Rang. Diese Beschreibung schließt von den Bürgern die Knaben, die Sklaven, die Fremden und die Frauen aus, wenn auch in verschiedenem Sinne. Denn Knaben von Bürgern sind künftige und potentielle Bürger, nur genügt das Alter noch nicht. Die Mehrheit aber muß man auffassen nach der guten Gewohnheit der Staaten oder man muß sie bestimmen nach der Meinung des Aristoteles Pol. B. 6, Kap. 2. § 5 Nachdem nun Bürger und Mehrheit der Bürger in dieser Weise bestimmt ist, wollen wir zu unserem Thema zurückkehren, dem Nachweis, daß die menschliche Befugnis zur Gesetzgebung allein der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit zukommt. Das werden wir zuerst so zu erschließen versuchen: Dem allein steht die primäre menschliche Vollmacht, Gesetze zu geben oder zu schaffen, schlechthin zu, von dem allein die besten Gesetze ausgehen können (OS) 1 . Nun ist das die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit, die die Gesamtheit vertritt (US) 2 ; denn es ist nicht leicht oder geradezu unmöglich, daß alle Personen sich zu einer Meinung zusammenfinden, weil gewisse Leute mit Blindheit geschlagen sind und aus persönlicher Bosheit 1 Obersatz. 2 Untersatz. <?page no="86"?> 1. Primärtext 87 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 87 oder Unwissenheit von der allgemeinen Meinung abweichen; deren unvernünftiger Einspruch oder Widerspruch darf ›die Wahrnehmung‹ der Interessen der Allgemeinheit nicht beeinträchtigen oder unmöglich machen. Also kommt es der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit ausschließlich zu, Gesetze zu geben oder zu beschließen (SS) 3 . Der Obersatz dieses Beweises ist beinahe selbstverständlich, obwohl man aus I 5 seine Geltung ›beweisen und‹ letzte Gewißheit entnehmen kann. Den Untersatz, daß nur, wenn das ganze Volk den Vorschlag gehört und gutgeheißen hat, ausschließlich das beste Gesetz gegeben werden kann, beweise ich, indem ich mit Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 7 die Voraussetzung mache, am besten sei das Gesetz, das für das Gemeinwohl gegeben ist. Daher hat er gesagt: Das Richtige, in den Gesetzen, dient wohl dem Vorteil des Staates und dem allgemeinen Nutzen. Daß dies am besten ausschließlich von der Gesamtheit der Bürger erreicht wird oder deren Mehrheit, was als dasselbe fortan angenommen werden soll, zeige ich so: Dessen Wahrheit wird am sichersten beurteilt und dessen Nutzen für die Allgemeinheit am sorgfältigsten beachtet, worauf die Gesamtheit der Bürger mit Verstand und innerer Anteilnahme ihre Aufmerksamkeit richtet. Einen Mangel an der Gesetzesvorlage kann nämlich eine größere Zahl eher bemerken als ein Teil von ihr; denn jedes körperhafte Ganze wenigstens ist größer an Masse und Kraft als jeder Teil von ihm für sich. Ferner wird aus dem ganzen Volk heraus der Nutzen des Gesetzes für die Allgemeinheit schärfer beachtet, weil niemand sich wissentlich schadet. Dort aber kann jeder beliebige überblicken, ob der Gesetzentwurf mehr zum Vorteil eines einzelnen oder gewisser Leute neigt als zu dem der anderen oder der Gemeinschaft, und kann Einspruch erheben. Das wäre nicht möglich, wenn nur einer oder einige wenige, die mehr auf den eigenen Vorteil aus sind als auf den der Allgemeinheit, dieses Gesetz gäben. Diese Meinung stützt auch hinlänglich, was wir über die Notwendigkeit von Gesetzen in I 11 festgestellt haben. § 6 Weiter zum Haupt-Schlußsatz! Dem kommt ausschließlich die Gesetzgebung zu, der dadurch bewirkt, daß die gegebenen Gesetze am besten oder ausnahmslos befolgt werden (OS). Das ist ausschließlich die Gesamtheit der Bürger (US). Also kommt ihr ausschließlich die Gesetzgebung zu (SS). Der Obersatz dieses Beweises ist beinahe selbstverständlich; denn zwecklos wäre ein Gesetz, wenn es nicht befolgt würde. Daher sagt Aristoteles Pol. B. 4, Kap. 7: Eine gute gesetzliche Ordnung besteht nicht, wenn die Gesetze gut gegeben sind, aber keinen Gehorsam finden. Dasselbe hat Aristoteles B. 6, Kap. 5 desselben Werkes festgestellt: Es hat keinen Wert, wenn Entscheidungen über das, was gerecht sein soll, gefällt werden, diese aber nicht zum Ziele kommen. Den Untersatz beweise ich so: Das Gesetz befolgt jeder Bürger am besten, das er glaubt sich selbst auferlegt zu haben (OS). Dies gilt für das Gesetz, das gegeben ist, nachdem die Gesamtheit der Bürger es angehört und gutgeheißen hat (US). Der Obersatz dieses Vor-Schlusses ist fast unmittelbar einsichtig: Weil nämlich der Staat eine Gemeinschaft freier Männer ist, wie Pol. B. 3, Kap. 4 steht, muß jeder einzelne 3 Schlusssatz. <?page no="87"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 88 88 Kapitel V: Marsilius von Padua Bürger frei sein und nicht eines anderen Tyrannei, d. h. Knechtschaft, tragen. Das wäre nicht der Fall, wenn ein einzelner oder eine Minderheit von Bürgern ein Gesetz gäben aus eigener Vollmacht für die Gesamtheit der Bürger; wenn sie nämlich so Gesetze gäben, wären sie Tyrannen der anderen, und darum würden die übrigen Bürger, die Mehrzahl, ein solches Gesetz, wäre es auch noch so gut, mit Unwillen oder gar nicht hinnehmen, in dem Gefühl, verachtet zu sein, dagegen Einspruch erheben und, da sie nicht zur Beschlußfassung darüber gerufen waren, es in keiner Weise befolgen. Ein Gesetz jedoch, das gegeben ist, nachdem die Gesamtheit es angehört und ihre Zustimmung gegeben hat, wäre es auch weniger nützlich, würde jeder Bürger leicht befolgen und hinnehmen; denn jeder hat dann das Gefühl, es für sich selbst beschlossen zu haben, und hat darum ›keinen Anlaß‹, dagegen Einspruch zu erheben, sondern vielmehr ›Anlaß‹, sich in Ruhe damit abzufinden.-- Ferner, den Untersatz des ersten Schlusses beweise ich von einem anderen Gesichtspunkt aus so: Der ausschließlich hat Macht über die Befolgung der Gesetze, der eine zwingende Gewalt gegen die Übertreter besitzt; das ist die Gesamtheit oder deren Mehrheit; also steht ihr allein die Gesetzgebung zu. § 7 Noch ein Beweis zum Hauptgedanken: Jene Norm des Handelns, von deren richtiger Aufstellung größtenteils das befriedigende Dasein der Allgemeinheit in diesem Leben abhängt und in deren verfehlter Aufstellung für die Allgemeinheit Schaden droht, darf ausschließlich von der Gesamtheit der Bürger aufgestellt werden (OS). Diese Norm ist das Gesetz (US). Also kommt der Gesamtheit der Bürger ausschließlich die Gesetzgebung zu (SS).-- Der Obersatz dieses Beweises ist fast selbstverständlich und gründet sich auf unmittelbar einsichtige Wahrheiten, die I 4 und I 5 statuiert worden sind. Die Menschen sind nämlich zur staatlichen Gemeinschaft zusammengetreten, um Vorteil und ein befriedigendes Dasein zu erlangen und das Gegenteil abzuwenden. Was also Vorteil und Nachteil aller berühren kann, müssen alle wissen und hören, um Vorteil erreichen und das Gegenteil zurückweisen zu können. Solcher Art sind die Gesetze, wie im Untersatz angenommen wurde; denn von einer richtigen Gesetzgebung hängt großenteils das befriedigende Dasein der ganzen menschlichen Gemeinschaft ab. Unter ungerechten Gesetzen aber entsteht Knechtschaft und Unterdrückung und Elend für die Bürger, eine unerträgliche Lage, woraus schließlich die Auflösung des Staates hervorgeht. (…) <?page no="88"?> 1. Primärtext 89 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 89 KAPITEL XIII Einige Einwände gegen die Behauptungen des vorausgehenden Kapitels, deren-Entkräftung und eine weitere Klärung des vorliegenden Problems § 1 An unseren Behauptungen wird jedoch mancher zweifeln und einwenden, der Gesamtheit der Bürger komme es nicht zu, Gesetze zu geben oder zu beschließen. Erstens (1): Das Böse und das in den meisten Dingen Urteilslose darf ein Gesetz nicht beschließen (OS). Denn folgende beiden Fehler müssen dem Gesetzgeber fernbleiben: Bosheit und Unwissenheit; um sie auch aus den gerichtlichen Urteilen auszuschließen, haben wir die Notwendigkeit des Gesetzes in I 11 angenommen. Nun ist das Volk oder die Gesamtheit der Bürger derart; die Menschen nämlich sind zumeist, wie man sieht, böse und töricht (US); denn unendlich ist die Zahl der Toren, wie im Prediger B. 1 steht. Ferner (2): Es ist sehr schwierig oder geradezu unmöglich, die Meinung einer Anzahl von bösartigen und unvernünftigen Menschen zusammenzubringen (OS); das ist nicht der Fall bei wenigen und gutwilligen (US). Also ist es nützlicher, wenn wenige ein Gesetz geben als die Gesamtheit oder deren Mehrheit, die hierbei ganz überflüssig ist (SS). Weiter (3): In jeder staatlichen Gemeinschaft gibt es nur wenige Weise und Gebildete im Verhältnis zu der übrigen ungebildeten Menge (OS). Da es also nützlicher ist, wenn Weise und Gebildete ein Gesetz geben als ungebildete und rohe Menschen (US), so scheint es richtig, daß die Gesetzgebung wenigen zukommt, nicht der Mehrheit oder allen (SS). Endlich (4) ist es zweckloser Aufwand, wenn sehr viele das tun, was eine geringere Anzahl tun kann (OS). Da also Weise, die ihrer wenige sind, ein Gesetz geben können (US), wie gesagt, so wäre es grundlos, hierbei das gesamte Volk heranzuziehen oder seine Mehrheit. Also kommt der Gesamtheit oder ihrer Mehrheit die Gesetzgebung nicht zu (SS). § 2 Aus unserer früheren Voraussetzung, dem Grundprinzip fast alles dessen, was in diesem Buche bewiesen werden soll, daß nämlich alle Menschen nach einem befriedigenden Dasein streben und das Gegenteil ablehnen, haben wir in I 4 mit strenger Logik ›die Notwendigkeit‹ ihres Zusammenschlusses im Staate erschlossen; denn nur durch ihn können sie dieses befriedigende Dasein erreichen und ohne ihn nicht im geringsten; deswegen sagt auch Aristoteles Pol. B. 1, Kap. 1: Von Natur aus lebt also in allen ein Trieb nach einer solchen Gemeinschaft, der staatlichen. Aus dieser Wahrheit folgt mit Notwendigkeit eine andere, die Pol. B. 4, Kap. 10 steht: Stärker muß der Teil der Bürgerschaft sein, der will, daß der Staat bestehen bleibt, als der, der das nicht will. Denn nichts streben Naturwesen gleicher Art in ihrem größten Teil an, was unmittelbar mit ihrem Verderben verbunden sein müßte; sinnlos wäre doch ein solches Streben. Ja, wer nicht will, daß der Staat erhalten bleibe, wird zu den Sklaven gerechnet, nicht zu den Bürgern, wie es gewisse Fremde sind, weshalb Aristoteles Pol. B. 7, Kap. 12 sagt: Denn zusammen mit den Beherrschten ›in der Stadt‹ sind alle Bewohner des Landgebietes zum Aufruhr bereit, und dann fügt er hinzu: Und daß diese in einem <?page no="89"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 90 90 Kapitel V: Marsilius von Padua Staatswesen, nämlich die aufrührerischen Elemente oder die, denen das Leben im Staate gleichgültig ist, so zahlreich wären, daß sie alle die, die eine staatliche Gemeinschaft bilden wollen, an Stärke überträfen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Warum es aber ein Ding der Unmöglichkeit ist, das ist klar; denn das hieße, die Natur begehe einen Fehler oder versage meistenteils. Wenn also die Mehrheit der Menschen will, daß der Staat bestehen bleibt- - und das ist offenbar richtig- -, so will sie auch dies, ohne das ein Staat nicht bestehen kann. Das aber ist die Regel für das Gerechte und Nützliche, gegeben mit einer Vorschrift, dem Gesetz, darum, weil es ein Ding der Unmöglichkeit ist, daß ein am besten, d. h. ein in Abstufung nach der Leistung regierter Staat nicht gut durch Gesetze geordnet wird, wie Pol. B. 4, Kap. 7 steht und wir I 11 bewiesen haben. Die Mehrheit der Bevölkerung will also das Gesetz, oder es würde Verblendung im Reich des Natürlichen und dem des künstlich Geschaffenen auftreten, wenigstens im größten Teil; das soll als unmöglich unterstellt werden auf Grund der Wissenschaft von der Natur. Ich setze ferner neben den obengenannten unmittelbar einsichtigen Wahrheiten eine allgemeine intuitive Einsicht voraus, daß jedes Ganze größer ist als ein Teil von ihm, was ebenso für die Größe oder Masse gilt wie auch für die wirkende Kraft und Tätigkeit. Daraus läßt sich ganz überzeugend mit Notwendigkeit folgern: Die Gesamtheit der Bürger oder ihre Mehrheit-- die beide als dasselbe aufzufassen sind-- ist fähiger, über Annahme oder Ablehnung zu entscheiden, als jeder beliebige Teil von ihr gesondert. § 3 Wenn wir das nun als vor aller Augen liegende Wahrheiten voraussetzen, ist es eine Leichtigkeit, die Einwände zurückzuweisen, mit denen jemand den Nachweis versuchen könnte, die Gesetzgebung komme nicht der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit zu, sondern einigen wenigen. Wenn also erstens gesagt wurde: Dem, was böse oder in den meisten Dingen urteilslos ist, kommt die Gesetzgebung nicht zu, so wird das zugegeben. Wenn aber hinzugefügt wird, die Gesamtheit der Bürger sei derart, so ist das zu verneinen, denn die Bürger sind in der Mehrzahl ihrer Individuen und in der meisten Zeit ihres Lebens weder böse noch urteilslos; denn alle oder die meisten haben gesunden Menschenverstand, Vernunft und das richtige Streben nach dem Staat und dem, was für sein Bestehen notwendig ist, z. B. nach Gesetzen und anderen Satzungen oder Gewohnheitsrechten, wie eben gezeigt worden ist. Obwohl nämlich nicht jeder beliebige oder eine größere Menge von Bürgern Erfinder von Gesetzen ist, kann dennoch jeder über die von einem anderen gefundenen und ihm vorgeschlagenen sich ein Urteil bilden und entscheiden, ob etwas zugesetzt, gestrichen oder geändert werden soll. Wenn man daher unter dem, was im Obersatz genannt wird: urteilslos, verstehen wollte: weil die meisten der Bürger aus eigner Kraft ein Gesetz nicht erfinden können, deshalb dürfen sie ein Gesetz nicht beschließen, so müßte man den Obersatz verneinen als offenbar falsch; Zeugen sind eine vernünftige Induktion und Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 6: durch Induktion können wir feststellen, daß viele ein <?page no="90"?> 1. Primärtext 91 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 91 richtiges Urteil haben über die Güte eines Gemäldes, Hauses oder Schiffes und der übrigen technischen ›handwerklichen‹ Erzeugnisse des Menschen, ohne das doch erfinden zu können. Zeuge dafür ist Aristoteles an der oben angeführten Stelle, wenn er seine Erwiderung auf den genannten Einwand in folgende Worte faßt: Und weil über manche Dinge ihr Schöpfer weder der einzige noch der beste Richter ist; das beweist er an sehr vielen Arten von technischen Erzeugnissen und gibt damit dasselbe für die übrigen zu verstehen. § 4 Dem widerspricht nicht die Behauptung: Die Weisen, die ihrer wenige sind, können Fragen des Handelns, die zu Gesetzvorlagen führen sollen, klarer beurteilen als das übrige Volk. Denn mag das auch wahr sein, so folgt daraus doch nicht, daß die Weisen die Vorlagen klarer zu beurteilen verstünden als das ganze Volk, in dem sie selbst einbegriffen sind zusammen mit den übrigen weniger Gebildeten. Denn jedes Ganze ist größer als ein Teil von ihm im Handeln und auch im Beurteilen. Dies war unzweifelhaft die Meinung des Aristoteles Pol. B. 3, Kap. 6, wenn er sagte: Deshalb ist gerechterweise in dem Wichtigeren das Volk entscheidend, d. h., gerechterweise muß die letzte Entscheidung über das Wichtigere im Staate das Volk oder die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit haben, die er mit dem Wort Volk bezeichnet, wobei er als Grund dafür feststellt: Aus vielen besteht ja das Volk und die Volksversammlung und das Gericht und die Oberschicht, und alle diese zusammen sind zahlreicher als irgendein einzelner oder eine Gruppe, einschließlich der wenigen, die hohe Ämter bekleiden. Er will sagen, daß stärker als alle Gruppen des Staates oder der Stadt zusammengenommen die Menge oder das Volk ist und folglich das Urteil der Menge sicherer ist als das Urteil eines Teiles gesondert, mag dieser Teil die Masse sein, die er hier mit dem Wort Volksversammlung bezeichnet hat wie Bauern, Handwerker und derartige Leute, mag es das Gericht sein, d. h. die im Dienste der Regierung stehenden Juristen wie Anwälte oder Rechtskundige und Notare, mag es die Oberschicht sein, d. h. die Schicht der Vornehmsten, die ihrer wenige sind und die zweckmäßig allein in die höchsten Ämter gewählt werden, mag es jeder beliebige andere Teil der Bevölkerung sein für sich genommen. Ferner: Mögen auch, wie es der Wahrheit entspricht, einige weniger Gebildete nicht gleich gut über einen Gesetzentwurf und eine andere Frage des Handelns wie ebensoviel Gebildete urteilen, so könnte doch die Zahl der weniger Gebildeten so weit gesteigert werden, daß sie gleich gut oder besser darüber, urteilten als wenige Gebildetere. Das hat Aristoteles an der oben angeführten Stelle klar ausgesprochen, wobei er folgende Meinung sichern will: Wenn die Menge nicht zu minderwertig ist, wird zwar jeder einzelne ein schlechterer Richter sein als die Wissenden, alle aber zusammengenommen werden besser sein oder wenigstens nicht schlechter. Auf das Zitat aus dem Prediger B. 1 aber: Unendlich ist die Zahl der Toren, muß man entgegnen, daß unter Toren verstanden werden weniger Gebildete oder solche, die keine Muße für geistige Arbeit haben, aber doch auch Verständnis für die Fragen des praktischen Handelns und ein Urteil darüber haben, wenn auch nicht in gleicher Weise wie diejenigen, die Muße haben. Oder vielleicht hat dort der weise Prediger mit den <?page no="91"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 92 92 Kapitel V: Marsilius von Padua Toren die Ungläubigen gemeint, wie ebenda Hieronymus sagt, die auch, mögen sie in weltlichen Wissenschaften noch so gelehrt sein, schlechthin Toren sind im Sinne jenes Ausspruchs des Apostels im 1. Korintherbrief im 3. Kap.: Die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott. § 5 (2) Der zweite Einwand hat wenig Gewicht; denn mag es auch leichter sein, die Meinung weniger zusammenzubringen als die sehr vieler, so darf man daraus nicht schließen, die Meinung der wenigen oder eines Teiles sei trefflicher als die des ganzen Volkes, von dem die wenigen ein Teil sind. Denn diese wenigen würden nicht ebenso gut entscheiden noch den Vorteil der Allgemeinheit ebenso wollen wie die Gesamtheit der Bürger. Vielmehr; wie aus dem eben Gesagten hervorging, wäre es unsicher, dem Ermessen von wenigen die Gesetzgebung anzuvertrauen. Sie würden nämlich dabei vielleicht als Einzelpersonen oder als Gruppe mehr auf den eignen Vorteil sehen als auf den der Allgemeinheit, was bei denen, die die Dekretalen der Kleriker erlassen haben, deutlich genug ist, wie wir II 28 auch hinreichend klarmachen werden. Dadurch würde nämlich der Oligarchie ein Weg gebahnt, wie, wenn man einem allein die Gewalt über die Gesetzgebung überträgt, der Tyrannis Raum gegeben wird, was wir I 11, 4 aus der Ethik des Aristoteles B. 4, der Abhandlung über die Gerechtigkeit, angeführt haben. § 6 Der dritte Einwand (3) läßt sich auf Grund des eben Gesagten leicht zurückweisen: Wenn auch Weise Gesetze besser geben können als weniger Gebildete, so darf man daraus doch nicht schließen, daß Weise allein sie besser geben als die Gesamtheit der Bürger, in der auch die eben genannten Weisen eingeschlossen sind. Nein, deren aller geschlossene Masse kann das für die Allgemeinheit Gerechte und Nützliche klarer beurteilen und energischer wollen als ein beliebiger Teil der Gesamtheit für sich allein genommen, mag er noch so klug sein. § 7 Daher spricht nicht die Wahrheit, wer behauptet, die weniger gebildete Menge hindere die Wahl und Annahme des Richtigen oder des allgemeinen Besten. Vielmehr, sie hilft dabei, wenn sie vereinigt ist mit den Gebildeteren und Erfahreneren. Denn mag sie auch richtige und nützliche Vorschläge aus eigener Kraft nicht zu finden wissen, so kann sie doch das von anderen Gefundene und ihr Vorgelegte entscheiden und kann beurteilen, ob es nötig scheint, in dem Entwurf etwas zuzusetzen, zu streichen oder völlig zu ändern oder abzulehnen. Denn vieles erfaßt ein Mensch durch die Rede eines anderen und kann dann zur Vervollkommnung vieler Dinge beitragen, zu deren Anfängen oder Erfindung er aus eigener Kraft nicht hätte kommen können. Die Anfänge der Dinge sind nämlich sehr schwer zu finden, weshalb Aristoteles in den Widerlegungen B. 2 im Schlußkapitel sagt: Es ist sehr schwierig, den Anfang zu sehen, den der Wahrheit und den für jedes Wissenschaftsgebiet spezifischen. Dann aber ist es leicht, Zusätze und Erweiterungen zu machen; denn die Anfänge der Wissenschaften und Techniken und anderer Disziplinen zu finden ist nur den besten und nur scharfsinnigen Geistern gegeben; zu dem Gefundenen aber können auch bescheidenere Geister Zusätze machen; die darf man doch deswegen <?page no="92"?> 1. Primärtext 93 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 93 nicht urteilslos nennen, wenn sie aus eigener Kraft dergleichen nicht finden können, vielmehr muß man sie auch unter die Guten rechnen; so hat Aristoteles Ethik B. 1, Kap. 2 gesagt: Der ist der Beste, der sich allein alles ausdenkt. Gut aber ist andererseits auch, wer einem, der gute Gedanken hat, gehorcht, wenn er nämlich ihn anhört und ihm nicht ohne vernünftigen Grund widerspricht. § 8 Deswegen ist es zweckmäßig und sehr nützlich, wenn die Gesamtheit der Bürger es den Klugen und Erfahrenen überläßt, für das im staatlichen Leben Gerechte und Nützliche und für das Unbequeme oder die öffentlichen Lasten und ähnliches mehr Gesetzentwürfe, künftige Gesetze oder Satzungen, zu suchen oder zu finden und zu prüfen, entweder so, daß gesondert jeder der ersten Bestandteile des Staates, wie sie I 5, 1 aufgeführt sind-- jedoch im Verhältnis zu seiner Stärke--, einige Vertreter wählt, oder so, daß die Vollversammlung alle erfahrenen oder klugen eben genannten Männer wählt. Dies wird das zweckmäßige und nützliche Verfahren sein, zur Findung von Gesetzen zusammenzutreten ohne Schaden für die übrige Bevölkerung, die weniger Gebildeten, die beim Suchen derartiger Entwürfe wenig Erfolg hätte und von den übrigen für sie und für andere notwendigen Arbeiten abgelenkt würde, was für die einzelnen wie für die Gesamtheit lästig wäre. Die gefundenen und sorgfältig geprüften Entwürfe dieser Art, die künftigen Gesetze, müssen in der Vollversammlung zur Annahme oder Ablehnung vorgelegt werden, damit jeder Bürger sich äußern kann, wenn ihm Zusätze, Streichungen, Änderungen oder völlige Ablehnung notwendig scheinen; denn dadurch wird die Fassung des Gesetzes nützlicher werden können. Wie eben gesagt, können nämlich die weniger gebildeten Bürger manchmal an dem Gesetzentwurf etwas als verbesserungsbedürftig empfinden, obwohl sie ihn selbst niemals finden könnten. Da die so gegebenen Gesetze besser befolgt werden, weil das ganze Volk sie angehört und ihnen zugestimmt hat, so wird auch keiner Anlaß haben, gegen sie etwas einzuwenden. Wenn die eben genannten Entwürfe, die künftigen Gesetze, veröffentlicht worden sind, und zwar in der Vollversammlung, und wenn die Bürger gehört worden sind, die etwas über sie in vernünftiger Weise zu sagen wünschten, muß man wieder Männer wählen, wie wir sie vorhin geschildert haben, und in dem geschilderten Verfahren, oder die vorhin Genannten müssen bestätigt werden, die als Repräsentanten der Gesamtheit und ihrer Autorität die obengenannten in Frage stehenden und eingebrachten Entwürfe annehmen oder verwerfen sollen im ganzen oder teilweise, oder wenn sie es will, wird die Gesamtheit der Bürger das tun oder ihre Mehrheit. Nach dieser Annahme sind die eben erwähnten Entwürfe Gesetze und verdienen diesen Namen, aber nicht vorher. Diese bedrohen auch nach ihrer Veröffentlichung oder Verkündung als einzige von menschlichen Vorschriften die Übertreter mit Schuld und Strafe im öffentlich-rechtlichen Sinne. Daß also die Befugnis, Gesetze zu geben oder zu beschließen und über ihre Befolgung eine zwingende Vorschrift zu erlassen, allein der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit als bewirkender Ursache zusteht oder dem oder denen, die die eben <?page no="93"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 94 94 Kapitel V: Marsilius von Padua genannte Gesamtheit mit der Vollmacht dazu betraut hat, glauben wir mit dem Gesagten zur Genüge nachgewiesen zu haben. (Aus: Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens. Originaltitel: Defensor Pacis. Auf Grund der Übersetzung von Walter Kunzmann, bearbeitet von Horst Kusch, Auswahl und Nachwort von Heinz Rausch, Stuttgart 1971, S. 51-66) 2. Leitfragen a. Welche Urheber für Gesetze werden im Text genannt? b. Welche Argumente führt Marsilius an, weshalb es nur dem Volk zustehen kann, Gesetze zu erlassen? c. Welche Einwände gegen die Volksgesetzgebung diskutiert er? Stellen Sie dabei heraus, welche Annahmen diesen zugrunde liegen. d. Skizzieren Sie die Widerlegung dieser Einwände. e. Welche Rolle spricht Marsilius den Klugen und Weisen einer Gesellschaft bei der Gesetzgebung zu? 3. Entstehungskontext Biografisches Über Marsilius sind nur wenige Lebensdaten überliefert. Weder Geburtsnoch Todesjahr stehen eindeutig fest. Lediglich der Geburtsort Padua ist aus seinem eigenen Werk abzulesen. Man vermutet, dass er zwischen 1275 und 1280 als Sohn eines Universitätsnotars geboren wurde. An der Pariser Universität ist er 1312 als Magister Artium bezeugt, deren Rektor er für eine kurze Zeit gewesen ist. Gemäß den Briefen des Dichters und Landsmannes Albertino Mussato hatte Marsilius Medizin studiert, als Arzt praktiziert, war aber immer wieder politisch und militärisch tätig gewesen. Zwischendurch beschäftigte er sich mit naturwissenschaftlichen Studien. (Vgl. Rausch 1971, S. 219) Wann er mit der Konzeption und Niederschrift seines »Defensor Pacis« begonnen hat und welche Gründe ihn dazu bewogen, sei unklar. »Sie dürfte jedoch in den Prozessen liegen, die Papst Johannes XXII. 1323 gegen Ludwig 4 führte und in denen er ausdrückte, daß Ludwig den Königstitel widerrechtlich führe, sich Herrschaftsrechte anmaße und insbesondere die ghibellinischen Ketzer in Italien unterstütze.« (Rausch 1971, S. 220) Daraufhin wurde Ludwig der Bayer vom päpstlichen Gericht von Frankreich aus gebannt und ihm alle Herrschaftsrechte abgesprochen, was Ludwig 4 König Ludwig der Bayer (1281/ 82-1341). <?page no="94"?> 3. Entstehungskontext 95 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 95 nicht daran hinderte, weiterhin seine Herrschaft von Deutschland aus auszuüben, da er noch Anerkennung bei den anderen Königen (Luxemburg, Habsburg), den Kurfürsten und den Reichs- und Freien Städten besaß. (Vgl. Ploetz, S. 489) 1324 vollendete Marsilius sein Werk »Defensor Pacis« und als er 1326 als Verfasser bekannt wurde, musste er aus Paris fliehen. Er begab sich an den Hof Ludwigs und wurde dessen Ratgeber. Unter seinem Einfluss dürfte sich Ludwig entschlossen haben, den Italienfeldzug 1328 zu unternehmen. (Vgl. Rausch 1971, S. 220) Ludwig zog unter dem Jubel des Volkes in Rom ein und wurde zum Kaiser gekrönt. »Diese Kaiserkrönung ohne und gegen den Willen des Papstes ging weitgehend auf Marsilius zurück, ebenso die Absetzung des Papstes im April 1328 unter Berufung auf das Vorbild Kaiser Otto I.« (Rausch 1971, S. 221) Die Italienpolitik scheiterte jedoch und Marsilius kehrte mit Ludwig 1330 zurück nach Deutschland, wo er den Rest seines Lebens verbrachte und wahrscheinlich 1342 in München starb. (Vgl. Rausch 1971, S. 221) Zeitliches Während Augustinus in einer gesellschaftspolitischen Übergangszeit lebte, die geprägt war von Religionschaos, Völkerwanderungen und dem Verfall des Römischen Reiches, wurde Marsilius von Padua in eine geistig und politisch relativ geordnete, jedoch nicht völlig friedliche und spannungsfreie Zeit hineingeboren. Unter der erstarrten Ordnung gärten zunehmend Kämpfe um Macht und Geltung. Von 1095-1291 tobten die Kreuzzüge, durch die ganz Europa christianisiert wurde. Mitte des 11. Jahrhunderts war die Herausbildung von Staaten-- also den Vorläufern der neuzeitlichen »Nationalstaaten«-- beendet. 5 Zentren der Machtbildung im Hochmittelalter waren das »Reich« und das Papsttum. (Vgl. Ploetz, S. 388) Staatliche und kirchliche Maßnahmen ließen sich kaum voneinander trennen. (Vgl. Ploetz, S. 393) Kirchliche Institutionen und Würdenträger nahmen administrative Aufgaben wahr, auch weil sie des Lesens und Schreibens mächtig waren. 6 Das gesamte Mittelalter ist geprägt von der Rivalität des Kaisertums mit dem Papsttum, im Hochmittelalter ergänzt durch den Konflikt mit den Städten. Einschlägige Herrschergestalten des Hochmittelalters waren zum einen die Stauferkaiser Friedrich I. (Barbarossa, 1122-1190), Heinrich 5 »Staat« ist zu dieser Zeit ein stabilisiertes Geflecht von Herrschaftsbeziehungen. Staat und Gesellschaft waren eine Einheit. Boockmann schreibt in seiner Einführung in die Geschichte des Mittelalters, dass ein Staat im Mittelalter nicht die Herrschaft über ein Gebiet und die darauf lebenden Menschen mit Hilfe von Institutionen gewesen sei, sondern Herrschaft über eine Gruppe von Mächtigen, also ein Gebilde unfester Art. (Vgl. Boockmann 2007, S. 78) 6 Die Hofgeistlichen waren die einzigen in der Umgebung des Königs, die schreiben und lesen konnten. »Ungefähr jeder zweite unter den Königen des 10. und 11. Jahrhunderts war Analphabet- - ebenso noch wie Rudolf von Habsburg im 13. und Ludwig der Bayer im 14. Jahrhundert, und die Adligen der Zeit waren es erst recht.« (Boockmann 2007, S. 79) <?page no="95"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 96 96 Kapitel V: Marsilius von Padua VI. (1165-1197) und Friedrich II. (1194-1250) sowie ihre Widersacher Papst Alexander III. (1100/ 05-1181), Papst Innozenz III. (1160/ 61-1216) und Papst Innozenz IV. (1195-1254). Der Tod Friedrichs II. im Jahr 1250 bedeutete einen Markstein im politischen Ringen zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Friedrich II. und Papst Innozenz IV. stritten um die Frage, wer an der Spitze der Christenheit stehen sollte. Auf einem Konzil setzte 1245 Innozenz die Absetzung Friedrichs durch. Die Zeit nach dem Tode Friedrichs II. bis zur Wahl Rudolfs I. im Jahr 1273 wird als »Interregnum« bezeichnet. Die Fürsten und Bischöfe waren sich zum einen uneinig, ob die Absetzung Friedrichs durch Papst Innozenz rechtmäßig war und zum anderen nutzten sie die Zeit, ihre Ansprüche und Territorien zu vergrößern. Zu der Auseinandersetzung zwischen Kaiser- und Papsttum traten Streitigkeiten zwischen Kaisertum und den immer mächtiger werdenden Fürsten. Aber auch das städtische Bürgertum verlangte, seine Interessen zu unterstützen, indem ihnen Entscheidungsautonomie in den Städten zugesprochen würde und die Handelswege besser geschützt würden. Das Papsttum durch Bonifaz VIII. beendete den Streit über die Vorherrschaft vorläufig in der Bulle »Unam sanctam« 1302 mit den Worten: »Beide [Schwerter] liegen in der Gewalt der Kirche, das geistliche Schwert nämlich und das weltliche, nur daß dieses für die Kirche, jenes von der Kirche zu führen ist, jenes von der Hand des Priesters, dieses von der des Königs und der Krieger, doch nach dem Wink und nach Erlaubnis des Priesters. Es muß aber ein Schwert unter dem anderen stehen und die weltliche Autorität der geistlichen Gewalt unterworfen sein.« (Zit. nach Rausch 1971, S. 217) Heinrich der VII. (1278/ 79-1313) und Ludwig der Bayer nahmen jedoch den Kampf mit dem Papsttum wieder auf. Marsilius von Padua stand an der Seite Ludwigs. Gesellschaftspolitisches Zu den bedeutendsten Entwicklungen des Hochmittelalters zählt die massenweise Gründung neuer Städte- - bald die Zentren der gewerblichen Produktion und des Handels. Damit war ein Aufschwung des Wirtschaftslebens verbunden, der auch als »Industrielle Revolution des Mittelalters« bzw. als große »Handelsrevolution« bezeichnet wird. (Vgl. Ploetz, S. 388) Die wirtschaftlichen Veränderungen zogen soziale Umschichtungen nach sich. Die »Dreiständelehre« festigte die soziale Schichtung in drei Stände. Der erste Stand, der Klerus, waren die Personen mit kirchlichen Weihen, getrennt vom Rest der Bevölkerung durch eine Reihe formaler Kriterien. Der zweite Stand, der Adel, wurde im Besitz zwischen Allod (Erbgut) und Lehen (abhängiges, »verliehenes« Gut) unterschieden. Der Adel war hoch differenziert und keine homogene Gruppe (alter und neuer Adel, hoher und niedriger Adel, etc.). Insgesamt aber handelte es sich um einen Stand, der Herrschaft über Leute, Grund und Boden ausübte und besondere erbliche Vorrechte beanspruchte. Alle nichtadligen und nichtklerikalen Personen bildeten undifferenziert den dritten Stand (Bürger, Bauern, Tagelöh- <?page no="96"?> 3. Entstehungskontext 97 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 97 ner, etc.). Es gab wohl erfolglose Versuche, eine Vierständelehre, in der die Bürger eine Sonderstellung einnehmen sollten, zu etablieren. (Vgl. Ploetz, S. 390) Eine besonders bedeutsame institutionelle Entwicklung des Hochmittelalters war die Entstehung der Universitäten. Bis dahin lag das Bildungsmonopol in geistlicher Hand in den Klöstern, weshalb die Geistlichen für den administrativen Teil von Herrschaft unentbehrlich waren. Der Zugang zur Bildung wurde durch die Universitäten auch nicht-geistlichen Personen ermöglicht, wovon Marsilius profitierte. Geistige Entwicklung Um besser zu verstehen, weshalb sich die Schreib- und Denkweise von Marsilius so drastisch von der augustinischen unterscheidet, beschäftigen wir uns mit der Entwicklung der Denkweisen im Mittelalter. Immerhin liegen zwischen Augustinus und Marsilius rund 850 Jahre. »Wichtiger als die unmittelbare Erfahrungswelt ist das, was hinter den sicht-, greif- und benennbaren Dingen steckt, das Denken in Symbolen spielt somit eine große Rolle, die uns in der Zahlensymbolik (u. a. drei, vier, sieben, acht) der Kirchenbaukunst (Grundformen von Kreis [Vollkommenheit] und Kreuz), der Liturgie und der Naturbetrachtung entgegentritt, am eindrucksvollsten wohl in der Wortsymbolik, die das Studium von Wörtern und Sprachen zur Grundlage von Erziehung und Wissenschaft erhebt: Wörter sind Symbole der Dinge, und diese sind Widerspiegelungen anderer Dinge, die einer höheren Sphäre angehören. Die menschliche Gesellschaft ist hier das Abbild der himmlischen Gesellschaft (Engelshierarchie)-- ein Aufbegehren gegen die irdische Sozialordnung wäre also gleichbedeutend mit einer Auflehnung gegen die göttliche Schöpfung. In diesem Geflecht der Unter- und Überordnung wird der Mensch von Kunst und Literatur kaum als Individuum gesehen, vielmehr als Vertreter von Rang und gesellschaftlicher Position, als Ausdruck seines Typus in Kleidung, Gestik, dann auch Wappen.« (Ploetz, S. 394) Dass dem Allgemeinen die höhere Wirklichkeit gegenüber den realen Gegenständen zuerkannt wird, ist der Ansatz der platonischen Denkweise, die das vorangegangene Kapitel vorgestellt hat. Sie eignet sich gut zur Begründung transzendenter Vorstellungen über die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens, d. h. die Ableitung menschlichen Daseins von einer höheren Macht, die nicht von dieser Welt ist, in deren Dienst das menschliche Leben gestellt ist. Der Platonismus prägte das intellektuelle Denken des Mittelalters von der Patristik bis zur Hochscholastik 7 . In der Hoch- 7 Die philosophische Phase der Patristik (vom lateinischen pater =-Vater, gemeint sind die Kirchenväter) wird von 400-800 angesetzt. Das Anliegen der Kirchenväter (z. B. Augustinus) war es, aus der <?page no="97"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 98 98 Kapitel V: Marsilius von Padua scholastik wurde intellektuell versucht, Glaube und Vernunft zu vereinigen. Es entstanden viele Schriften zum Gottesbeweis. Man nahm vermehrt aristotelisches Gedankengut auf, nachdem die gesamten aristotelischen Schriften bekannt wurden 8 , was als »Jahrhundertereignis« (Ploetz, S. 396) des 13. Jahrhunderts angesehen wird. Die Hochscholastik stand quasi unter der »Weltherrschaft des Aristoteles« (Störig 1999, S. 281) »Das Ansehen des Aristoteles stieg so hoch, daß man ihn, als Vorgänger Christi in weltlichen Dingen, Johannes dem Täufer als dem Vorgänger Christi in geistlichen Dingen an die Seite stellte. Sein Werk galt als nicht mehr überbietbare Summe aller weltlichen Weisheit schlechthin. Eine Weltherrschaft der aristotelischen Philosophie entstand, die bis ins 16. Jahrhundert andauerte. Niemals sonst hat ein einzelner das Denken des Abendlandes so vollständig beherrscht.« (Störig 1999, S. 282) Wie im vorangegangenen Kapitel erläutert, sind für die aristotelische Denkweise die Einzeldinge wirklich. Die allgemeinen Begriffe sind nur in unserem Intellekt vorhanden. Mit der aristotelischen Sichtweise wurde es möglich, die Gültigkeit, d. h. den Wahrheitsanspruch transzendenter Begründungen für das menschliche Dasein radikal infrage zu stellen. Wenn Gott nur ein geistiges Produkt, eine-- wenn auch irgendwie hilfreiche-- Einbildung wäre, dann ließe sich kaum rechtfertigen, dass diese Einbildung bzw. die Stellvertreter der Einbildung über das Wohl und Wehe der Menschen gebieten sollten. Die Auseinandersetzung mit den aristotelischen Schriften bot die Grundlage für eine geistige Wende, die einen Denkumbruch einleitete und damit der Ausgangspunkt für gesellschaftliche Umwälzungen war. Auch Marsilius von Padua beeindruckte die auf Tatsachen beruhende Perspektive des Aristoteles und er arbeitete sich intellektuell an den dessen Schriften ab, wie der Primärtext zeigt. Heiligen Schrift, insbesondere der Botschaft der Apostel ein System von Dogmen zu gewinnen. Die Scholastik (vom lateinischen schola =-Schule) umfasst die Zeit von 800 bis zum Ende der mittelalterlichen Philosophie um 1500 und wird wiederum eingeteilt in Früh- (900-1000), Hoch- (1300) und Spätscholastik (1400-1500). Sie ist geprägt von der Verschmelzung der christlichen Glaubenslehren mit dem Gedankengut der antiken Philosophie. In der Scholastik bestand die Aufgabe des Denkens darin, die unumstößlichen Glaubenswahrheiten, das heißt die von den Kirchenvätern aufgestellten Dogmengebäude (»auctoritas«), vernunftmäßig (»ratio«) zu begründen und verständlich zu machen. (Vgl. Störig 1999, S. 228, 265) 8 In der Frühscholastik waren von Aristoteles nur wenige kleinere logische Abhandlungen bekannt. Erst in der Hochscholastik wurde auf dem Umweg der arabischen und jüdischen Wissenschaft das Gesamtwerk des Aristoteles übersetzt und zugänglich gemacht. (Vgl. Störig 1999, S. 266) <?page no="98"?> 4. Interpretation 99 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 99 4. Interpretation Der oben abgedruckte Primärtext stammt aus dem Werk »Defensor Pacis« (dt. »Der Verteidiger des Friedens«, kurz »Defensor« genannt), das Marsilius von Padua 1324 verfasste. Es beginnt mit dem Satz: »Jedem Reich muß ja Ruhe erwünscht sein, in der die Völker gedeihen und der Nutzen der Menschen gewahrt wird.« (Marsilius, DP, S. 3) 9 Er postuliert folgenden Zusammenhang: Ruhe-- Gedeihen-- Nutzen. Umgekehrt gelte auch folgender Zusammenhang: Zwietracht-- Zerfall-- Verderben. Dass der Nutzen der Völker in den Mittelpunkt einer philosophischen Betrachtung gestellt wird, ist für das Denken im Mittelalter ein Unding, gleicht einer vollkommenen geistigen Verirrung. Intellektuelle Überlegungen hatten allein zu erfolgen, um die als unumstößlich geltenden Glaubenswahrheiten vernünftig zu begründen und verständlich zu machen. Und die umgekehrte Behauptung, dass das Verderben und Unglück von Völkern nicht Gottes Wille und Strafe, sondern eine Folge der menschlichen Zwietracht, des Unfriedens sei, musste als nicht minder schamlos empfunden worden sein. Jedoch Marsilius untermauert sein Anliegen nach Ruhe eindringlich mit Hilfe von Bibel-Zitaten, womit er sich in der damals üblichen Art und Weise des Argumentierens bewegt und seine Zeitgenossen zu überzeugen versucht: »Daher erzählt Johannes: Jesus kam, trat mitten unter die Jünger und sprach: Friede sei mich euch! Frieden untereinander zu wahren, mahnte er sie und sprach bei Markus: Frieden haltet unter euch! Diesen nicht nur untereinander zu halten, sondern ihn auch anderen zu wünschen, lehrte er sie; daher schreibt Matthäus: Wenn ihr ein Haus betretet, so grüßt es mit den Worten: Friede diesem Hause. Friede war wiederum das Erbe, das er beim Herannahen der Leidens- und Sterbenszeit seinen Jüngern letztwillig hinterließ, wenn er bei Johannes im 14. Kap. sagte: Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.« (Marsilius, DP, S. 4) Der Friede ist das zentrale Thema von Marsilius. Es geht ihm aber nicht um einen persönlichen Seelenfrieden oder »ewigen Frieden«, wie ihn Augustinus zu begründen versuchte, sondern um den gesellschaftlichen Frieden, einen säkularen Frieden als Ausdruck der Stabilität eines Gemeinwesens. Ihm ist nicht nur wichtig, über die Bedingungen des sozialen Friedens, sondern auch über die Ursachen zu sprechen, an denen das Römische Reich gelitten hat. Eine geistige Autorität in Sachen Staatstheorie ist für ihn Aristoteles. Dieser habe fast alle Ursachen für die Zwietracht und das Unglück eines Staatswesens in seiner Lehre vom Staat beschrieben und 9 Zitate aus Marsilius’ »Defensor Pacis« sind im Folgenden mit »DP« als Kürzel der Ausgabe von 1971 angegeben. <?page no="99"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 100 100 Kapitel V: Marsilius von Padua »dennoch gibt es außer diesen Ursachen eine ganz einzigartige und tief verborgene, an der das römische (sic! ) Reich schon lange gelitten hat und beständig leidet; sie ist sehr ansteckend, immer auf der Lauer, sich ebenso in alle übrigen Gemeinwesen und Reiche einzuschleichen, und sie hat tatsächlich in die meisten von ihnen gierig, wie sie ist, einzudringen versucht. Diese Ursache und deren Ursprung und Art hat weder Aristoteles noch ein anderer Philosoph seiner oder einer früheren Zeit in den Blick bekommen können. Es ist und war dies nämlich eine ganz irrige Meinung«. (Marsilius, DP, S. 5) Mit dieser Passage baut Marsilius eine große Spannung auf, die er erst im Laufe des Buches gedenkt aufzulösen, denn er sagt uns vorläufig nicht, worin diese irrige Meinung besteht. Am Ende seiner Einleitung verkündet er: »Es ist also mein Vorsatz, mit Gottes Hilfe nur diese einzigartige Ursache des Haders bloßzulegen.« (Marsilius, DP, S. 8) Im zweiten Teil des Buches geht er auf diese Ursache ein. Marsilius beschreibt darin, wie sich die Bischöfe die oberste Rechtsprechung und Gewalt angeeignet haben, Regierungsrechte zu verleihen und zu übertragen. »Diese unrichtige Meinung gewisser römischer Bischöfe nun und vielleicht ein verderbtes Streben nach der Herrschaft, die nach ihrer Versicherung ihnen zustehe auf Grund der ihnen-- sagen sie-- von Christus übertragenen Fülle der Gewalt, ist jene besondere Ursache von Unruhe oder Zwietracht in Stadt oder Staat, die wir genannt haben.« (Marsilius, DP, S. 94) In der folgenden Passage kommt der Impetus seiner Schrift deutlich zum Ausdruck: »Weil jene verderbliche Pest, der menschlichen Ruhe und jedem Glück der Ruhe todfeind, infolge der Fäulnis ihrer verderbten Wurzel, die übrigen Reiche der gläubigen Christen in der Welt aufs schwerste vergiften könnte, halte ich es für das Allernotwendigste, sie zurückzuwerfen, wie in der Einleitung gesagt ist, indem ich zunächst die Hülle von dem oben genannten Wahn als der Wurzel der schon eingetretenen und der künftigen Übel wegreiße, ferner, indem ich seine unwissenden oder unmoralischen Schutzherren oder Ertüfteler und hartnäckigen Verteidiger, wenn nötig, mit äußerem Handeln im Zaum halte. Außerdem sind aber auch alle zur Gegenwehr verpflichtet, die das Wissen und die Macht dazu haben. Auch wer diese Pflicht unter irgendeinem Vorwand vernachlässigt oder versäumt, ist schlecht […]. Um nun wenigstens mich selbst nicht wegen wissentlicher Übertretung dieses Rechtsgebotes schlecht nennen zu müssen, nehme ich mir vor, diese Pest von den christusgläubigen Brüdern zunächst durch Belehrung und dann, so gut ich vermag, mit der Tat abzuwehren.« (Marsilius, DP, S. 96) <?page no="100"?> 4. Interpretation 101 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 101 Hierin steckt revolutionäre Sprengkraft und Marsilius lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht nur eine politische Theorie begründen will, sondern auch bereit ist, für seine Überzeugung mit Gewalt zu kämpfen. Wenn der Herrschaftsanspruch der Kirche die Ursache für den Unfrieden in der Gesellschaft ist, welches ist dann die Ursache für die Ruhe? Die Ursachen der Ruhe in Stadt und Staat versucht er im ersten Teil des Buches zu erschließen. Die Ruhe ist für Marsilius eine Art Form oder Zustand des Staates und hat keine formale, sondern eine treibende oder bewirkende Ursache. Der Regent ist für ihn die Ursache des Friedens in einem Staat. (Vgl. Marsilius, DP, S. 91 f.) Er zitiert aus einem Brief der Apostel: »Ich mahne dich also, zuerst zu bitten usw. für Könige und alle, die in hoher Stellung sind, damit wir ein stilles und ruhiges Leben führen mögen.« (Marsilius, DP, S. 92) Unter welchen Bedingungen soll der Regent wirken? Marsilius geht es darum, ein »allen« nützliches Staatswesen zu begründen. In den oben abgedruckten Kapiteln 12 und 13 forscht er nach dem Gesetzgeber und geht der Frage nach, wem es zukommt, Gesetze für das Gemeinwesen zu erlassen. Er unterscheidet die Gesetzgebung, die durch Gottes Verkündigung unmittelbar ohne menschliches Eingreifen vor sich gehen kann und die Gesetzgebung und Einsetzung der Regierung, die unmittelbar aus der Entscheidung des menschlichen Geistes hervorgehen. Mit der Gesetzgebung Gottes möchte er sich nicht weiter beschäftigen, weil man diese logisch nicht nachweisen kann-- ein Affront gegen den Zeitgeist. In den mittelalterlichen Ordnungsvorstellungen gründet das Recht selbstverständlich in Gott und sonst nirgends. Ein Gesetz enthält nach Marsilius das Wissen vom Gerechten und Nützlichen und diene als verbindlicher Maßstab für das menschliche Handeln im bürgerlichen Leben. Zuwiderhandlungen würden Bestrafungen nach sich ziehen. Gesetze dienen also dazu, das Verhalten der Menschen zu regulieren. Insofern ist es von höchster Bedeutung, wem die Befugnis zusteht, Gesetze zu erlassen und ihre Übertretung zu bestrafen. Marsilius hat dazu eine klare Position: »Gesetzgeber oder erste und spezifisch bewirkende Ursache des Gesetzes ist das Volk« (Primärtext). Hiermit entlarvt er sich als Verfechter der Volkssouveränität. In seiner Definition von »Volk« beruft er sich auf das aristotelische Verständnis, nach dem Frauen, Knaben, Sklaven und Fremde vom Volk ausgeschlossen sind. Wer aus den Ständen zum Volk dazugehört, woraus sich eine Mehrheit bildet, lässt er offen: »Die Mehrheit aber muß man auffassen nach der guten Gewohnheit der Staaten.« (Primärtext) Die Gesamtheit der Bürger umfasst also nicht alle Menschen der Gesellschaft. Die Volkssouveränität, im eben genannten Sinne, begründet er mit logischer Argumentation. Bedingung (OS): Nur dem steht es zu, Gesetze zu geben, von dem allein die besten Gesetze ausgehen können. Behauptung (US): Dies ist die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit, die die Gesamtheit vertritt. Begründung: Weil gewisse Leute mit Blindheit geschlagen, persönlich boshaft oder unwissend sind, weichen sie von der allgemeinen Meinung ab. Deren unvernünftiger Widerspruch darf nicht die Wahrnehmung der Allgemeininteressen beeinträchtigen. Schlussfolgerung (SS): Deshalb kommt es auswww.claudia-wild.de: <?page no="101"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 102 102 Kapitel V: Marsilius von Padua schließlich der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit zu, Gesetze zu geben. Den Untersatz, dass die Gesamtheit der Bürger die besten Gesetze erlässt, begründet Marsilius mit der Annahme, dass die Gesetze am besten seien, die für das Allgemeinwohl gegeben sind. »Dessen Wahrheit wird am sichersten beurteilt und dessen Nutzen für die Allgemeinheit am sorgfältigsten beachtet, worauf die Gesamtheit der Bürger mit Verstand und innerer Anteilnahme ihre Aufmerksamkeit richtet.« (Primärtext) Ein mangelhaftes Gesetz könne von einer größeren Zahl eher bemerkt werden als von einem Teil von ihr. Die Güte, d. h. die Qualität eines vom Volk gegebenen Gesetzes folge aber letztlich daraus, dass niemand sich wissentlich schaden wolle und deshalb würden die Gesetzesvorschläge besonders scharf auf ihren allgemeinen Nutzen hin beachtet. Eine weitere Bedingung ist, dass es nur dem zusteht, Gesetze zu geben, der bewirkt, dass die gegebenen Gesetze am besten oder ausnahmslos befolgt werden (OS). Marsilius behauptet, dies sei wiederum die Gesamtheit der Bürger (US). Die Bedingung hält er für selbstverständlich, denn das beste und gerechteste Gesetz sei wertlos, wenn es keinen Gehorsam fände und damit nicht zum Ziel komme. Die Behauptung begründet er mit der Annahme, dass jeder Bürger das Gesetz am besten verfolgt, das er glaubt, sich selbst auferlegt zu haben. An dieser Stelle wird deutlich, dass Marsilius auf eine freiwillige Befolgung der Gesetze abzielt, denn üblicherweise wurden die Menschen mit Gewalt gezwungen, sich an die Gesetze der Herrschenden zu halten. Dass es ihm auf die Freiwilligkeit ankommt, liegt an seinem besonderen Staatsverständnis. Zweck des Staates sei es, dass die Menschen darin ein gutes Leben führen können. »[A]lle Menschen, die nicht verblendet oder sonst gehemmt sind, [erstreben] von Natur ein befriedigendes Dasein und [fliehen und meiden] das diesem Schädliche«. (Marsilius, DP, S. 16) Marsilius muss in seiner Argumentation auf die Freiwilligkeit des Gehorsams setzen, weil er in seiner politischen Theorie von einem »Staat freier Männer« (Primärtext) ausgeht. Der Einfluss der griechischen Philosophie ist hier unübersehbar. Auch bei Platon und Aristoteles dient der Staat dem Zweck, den freien Bürgern ein gutes und glückliches Leben zu ermöglichen. Marsilius weiß, dass seine Behauptungen und Begründungen dem Zeitgeist zuwider laufen und möchte in Kapitel 13 zeigen, dass ihm die Einwände gegen seine Überlegungen durchaus bekannt sind, um sie anschließend mit »strenger Logik« zu widerlegen. Der Zeitgeist würde einwenden, dass es dem Volk nicht zukomme, Gesetze zu geben oder zu beschließen. Bedingung sei nämlich, dass Bosheit und Unwissenheit vom Gesetzgeber fernbleiben müssten. Es wird behauptet, dass das Volk oder die Gesamtheit der Bürger böse und töricht sei. Denn in der Bibel steht: Unendlich ist die Zahl der Toren. Es sei unmöglich, die Meinung einer Anzahl bösartiger und unvernünftiger Menschen zu einer am Gemeinwohl orientierten Meinung zusammenzubringen. Es wird behauptet, dass dies aber bei wenigen und gutwilligen Menschen möglich sei. Deshalb sei es nützlicher, wenn wenige ein Gesetz gäben als die Gesamtheit der Bürger. An dieser Argumentationskette wird noch weitergesponnen. In jeder Gemeinschaft gäbe es Kluge und Weise, die wenige sind im Verhältnis <?page no="102"?> 4. Interpretation 103 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 103 zur Menge der Ungebildeten. Es sei nützlicher, wenn die wenigen Weisen und Klugen die Gesetze gäben statt der vielen Ungebildeten. Und es sei zweckloser Aufwand wenn viele das tun, was wenige auch vermögen. Zusammengefasst werden drei wesentliche Annahmen gemacht, auf die Marsilius im Anschluss eingeht: (1) Das Volk ist in seiner Mehrheit boshaft und unwissend. (2) Die Meinung einer Anzahl bösartiger und unvernünftiger Menschen kann nicht auf einen vernünftigen Nenner gebracht werden. (3) Es gibt Kluge und Weise, die frei von Egoismus für die Gemeinschaft nützliche Gesetze beschließen können. Marsilius reagiert auf die Einwände und ihre Annahmen mit einer Gegenannahme, die er als intuitiv richtig ansieht: Jedes Ganze sei größer als ein Teil von ihm. Daraus folgert er: Die Gesamtheit der Bürger ist fähiger, über die Annahme oder Ablehnung eines Gesetzes zu entscheiden, als jeder beliebige Teil von ihr. Er verneint die erste Annahme, dass die Mehrheit der Bürger böse und unwissend bzw. urteilslos sei. Marsilius behauptet, dass die meisten über einen gesunden Menschenverstand und Vernunft verfügten und durchaus das richtige Streben nach dem Staat und dem hätten, was für sein Bestehen notwendig sei. Das belegt er durch Induktion 10 , d. h. empirisch (also aus der Erfahrung). Die Erfahrung zeige, dass viele Menschen richtig über eine Sache urteilen könnten, ohne die Sache selbst geschaffen zu haben oder gar in der Lage zu sein, sie schaffen zu können: »Viele [haben] ein richtiges Urteil über die Güte eines Gemäldes, Hauses oder Schiffes […] ohne das doch erfinden zu können.« (Primärtext) Das andere ist, dass auf der obigen Annahme beruhend, die Menge bzw. die Gesamtheit der Bürger urteilsfähiger sei als ein noch so großer Anteil Gebildeter: »Mögen auch […] einige weniger Gebildete nicht gleich gut über einen Gesetzentwurf […] wie ebensoviel Gebildete urteilen, so könnte doch die Zahl der weniger Gebildeten so weit gesteigert werden, daß sie gleich gut oder besser darüber, urteilten als wenige Gebildetere.« (Primärtext) Diese Überlegung ist schwer fassbar. Wie kann es sein, dass die Summe von Teilen über die Teile hinauswächst und zu etwas Eigenem fähig ist, zu dem die einzelnen Teile nicht imstande sind, ohne dass das Ganze quasi ein Subjekt ist? 11 Weil dies schwer zu erklären ist, geht Marsilius auch »intuitiv« davon aus und nicht mit Gewiss- 10 Induktion ist ein wissenschaftstheoretischer Begriff, der sich auf die Art der Bildung einer Schlussfolgerung (oder einer Theorie) bezieht. Man schließt entweder vom Allgemeinen auf das Besondere (Deduktion) oder vom Besonderen aufs Allgemeine (Induktion). Man geht also entweder von der Theorie aus und schließt davon auf die Fälle in der Wirklichkeit oder man geht von den Fällen in der Wirklichkeit aus und bildet daraus eine Theorie. Im Aristoteles-Kapitel wurde bereits auf die zwei unterschiedlichen Arten der Theoriebildung eingegangen. Die politische Theorie, die uns Marsilius im »Defensor Pacis« insgesamt vorlegt, ist eine deduktive Theorie, in der durch theoretische Annahmen auf die Wirklichkeit geschlossen wird, wie sie sein soll. 11 In der gegenwärtigen Philosophie wird dieses Phänomen unter dem Begriff »Emergenz« behandelt. <?page no="103"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 104 104 Kapitel V: Marsilius von Padua heit und Beweiskraft. Der zweiten Annahme entgegnet Marsilius unter Berufung auf seine obige Gegenannahme, dass es unsicher sei, einer Gruppe die Gesetzgebung anzuvertrauen, weil sie vielleicht mehr auf ihren eigenen Vorteil sehen würde als auf den der Allgemeinheit. Der Gefahr der Oligarchie und Tyrannis würde damit der Weg bereitet. Bei der dritten Annahme gibt er zu bedenken, dass die Weisen in der Gesamtheit der Bürger eingeschlossen seien: »Nein, deren aller geschlossene Masse kann das für die Allgemeinheit Gerechte und Nützliche klarer beurteilen und energischer wollen als ein beliebiger Teil der Gesamtheit für sich allein genommen, mag er noch so klug sein.« (Primärtext) Allerdings gibt er zu, dass es sehr schwer sei, die Initiative für Dinge zu finden: »Die Anfänge der Wissenschaften und Techniken und anderer Disziplinen zu finden ist nur den besten und nur scharfsinnigen Geistern gegeben; zu dem Gefundenen aber können auch bescheidenere Geister Zusätze machen.« (Primärtext) Dies gilt auch für die Gesetzentwürfe. Diese zu suchen oder zu finden, zu formulieren und zu prüfen, traut er den Klugen und Weisen eher zu als einem Beliebigen aus dem Volk. Die künftigen Gesetze müssten aber in der Vollversammlung zur Annahme oder Ablehnung vorgelegt werden, »damit jeder Bürger sich äußern kann, wenn ihm Zusätze, Streichungen, Änderungen oder völlige Ablehnung notwendig scheinen« (Primärtext). Der argumentative Kern seiner Begründung eines für alle nützlichen Staatswesens ist und bleibt also die Volkssouveränität, die er nach dem Vorbild der griechischen Polis begreift. Im Folgenden thematisiert Marsilius, was für ein Mensch derjenige sein muss, der mit der Regierung betraut werden soll, wie die Regierung am besten eingesetzt wird und dass die oberste Regierung eine Einheit sein muss, womit er der Zwei- Gewalten-Lehre des Mittelalters eine Absage erteilt. Die Einsetzung der Regierung erfolgt bei Marsilius in derselben Logik wie die Gesetzgebung. Demnach komme es nur der Gesamtheit der Bürger zu, die Regierung zu wählen und abzusetzen. (Vgl. Marsilius, DP, S. 70) Er nennt zwei innere Eigenschaften, die ein vollkommener Regent haben müsste: Klugheit und sittliche Tüchtigkeit. Der Regent sei Hüter des Gerechten. Neben diesen beiden Tugenden benötige der Regent als äußeres Mittel eine bewaffnete Gewalt. Über diese müsse er aber nicht bereits vor seiner Wahl verfügen-- im Gegensatz zu den Tugenden-- weil sonst tüchtige arme Bürger niemals zu Regenten gewählt würden. Damit die Qualität und Fürsorglichkeit seiner Staatsführung gesteigert würde, sollte er eine besondere Liebe oder wohlwollende Gesinnung für den Staat und die Bürger hegen. (Vgl. Marsilius, DP, S. 67 ff.) Was die Art der Regierung anbelangt, hält er sich an die Klassifizierung von Aristoteles. Der Regent sei nur dem Gemeinwohl und Gesetz verpflichtet und könne nur durch den Gesetzgeber zurechtgewiesen werden, wenn er in seinen Handlungen fehle. (Vgl. Marsilius, DP, S. 87 f.) Im gesamten zweiten Teil des Buches argumentiert Marsilius gegen den päpstlichen Einfluss im Staat und gegen eine päpstliche Vorherrschaft. Das Prinzip der Volkssouveränität (im eingeschränkten Sinne) wendet er konsequent auch auf die Glaubensge- <?page no="104"?> 4. Interpretation 105 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 105 meinschaft an. Bei Konzilien wird über den Sinn zweifelhafter Stellen im göttlichen Gesetz entschieden, das alle Gläubigen mit Strafe oder Schuld für die gegenwärtige und künftige Welt bindet. Die Frage, wem die zwingende Befugnis zukomme, ein allgemeines Konzil zu versammeln, beantwortet Marsilius so: »Allein dem gläubigen menschlichen Gesetzgeber, der keinen höheren über sich kennt, oder demjenigen oder denjenigen, dem bzw. denen der eben genannte Gesetzgeber diese Gewalt übertragen hat, kommt zu, ein allgemeines Konzil einzuberufen, dafür geeignete Personen zu bestimmen, es zu versammeln, abzuhalten und in der ordndungsgemäßen Form durchführen zu lassen.« (Marsilius, DP, S. 154) Ebenso die Befugnis, Geistliche in ihre Ämter einzusetzen, schreibt Marsilius allein dem menschlichen Gesetzgeber zu. (Vgl. Marsilius, DP, S. 171) Er provoziert seine Zeitgenossen im zweiten Teil des Buches nicht nur durch theoretische Argumente, sondern auch durch konkrete Anschuldigungen geistlicher Würdenträger. So stellt er den römischen Bischof seitenweise bloß und beschimpft ihn: »In dieser neuen und früher niemals erhörten Erfindung (nach Christi Meinung Regierungsgewalt und zwingende Gerichtshoheit über alle Menschen zu besitzen, M. K.) scheut sich der römische Bischof nicht, ebenso falsch wie dreist gegen seine eigene Vernunft und die Vernunft wohl aller Gläubigen, die dieser Erwägung folgen, vor aller Welt zu verkünden und hartnäckig zu versichern, ohne jeden Zweifel habe er die Obergewalt, die nach seiner Auffassung in zwingender Rechtsprechung und Regierungsgewalt besteht, gegenüber dem römischen Kaiser, und ferner: bei Erledigung des Kaiserthrones sei er Stellvertreter des obengenannten Kaisers. Dadurch wird nämlich ganz deutlich eine unbegründete und rechtswidrige Anmaßung von kaiserlichen Gerichtshoheiten erwiesen, die römische Bischöfe bisher sich erlaubt haben und, wie gesagt, heutzutage sich erlauben, besonders wenn der Kaiserthron unbesetzt ist.« (Marsilius, DP, S. 176) Das Buch endet mit einem dritten Teil, in welchem er die Hauptthesen und Hauptergebnisse des ersten und zweiten Teils in 42 Punkten als Handlungsempfehlungen für Herrscher und Untertanen zur Beachtung zusammenfasst. Er leitet den dritten Teil mit dem Hauptergebnis seiner Untersuchung ein: »Im vorstehenden haben wir die einzige Ursache der Zerrissenheit oder Unruhe im Leben der Staaten festgestellt, die bereits bestimmte Staaten und Gemeinwesen heimsucht, und wenn man ihr nicht Einhalt gebietet, alle anderen heimsuchen wird: der Wahn, das Verlangen, das Bemühen besonders des römischen Bischofs und seines Klerikerkreises mit dem Ziel, weltliche Herrschaft und zeitliche Güter im Übermaß zu besitzen.« (Marsilius, DP, S. 181) <?page no="105"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 106 106 Kapitel V: Marsilius von Padua Sein Werk endet mit »Dir sei Lob und Preis, Christus! « (Marsilius, DP, S. 191) Es ist kein Wunder, dass der »Defensor Pacis« offiziell von der Kirche verworfen wurde: »Nicht weniger als 240 unorthodoxe Behauptungen [wurden] in ihm festgestellt und Papst Clemens V. [hat] das Buch als das ketzerischste bezeichnet, das er je gelesen habe.« (Rausch 1971, S. 240) Hubert Jedin habe den »Defensor Pacis« als die in »der Nüchternheit ihrer Beweisführung revolutionärste aller Kampfschriften gegen das mittelalterliche Papsttum« (Jedin, zit. nach Rausch 1971, S. 221) bezeichnet. Die Wirkung von Marsilius auf die nachfolgenden Theoretiker und die weitere Entwicklung der Demokratietheorie ist kaum zu unterschätzen. Indem er auf die griechische Philosophie zurückgreift, bringt er die Idee der Volkssouveränität wieder zurück in die politische Theorie. Zudem gilt er in der Rezeption als erster Theoretiker des laizistischen Staates, indem er in der praktischen Politik eine strikte Scheidung der weltlichen und geistlichen Sphäre fordert. (Vgl. Rausch 1971, S. 223) Auch Augustinus hatte in seinem Werk »Vom Gottesstaat« Religion und Staat voneinander getrennt. Worin besteht der Unterschied zu Marsilius? Blicken wir zunächst auf die griechische Philosophie zurück, in der der Staat bzw. das Gemeinwesen dafür da war, den Bürgern ein ethisch gutes und glückliches Leben zu ermöglichen. Aus diesem Zweck bezog der Staat seine Legitimation (Rechtfertigung). Dieser Zweck war selbstredend und bedurfte keiner Begründung. Das religiöse Denken stand nicht im Widerspruch zur Realität. Der Mensch galt als eingebettet in einer für die Ewigkeit gegründeten göttlichen Seinsordnung, in der er sein Schicksal nicht selbst bestimmen kann. In der Realität des Römischen Großreiches- - besonders in der Zeit des Verfalls-- konnten die Bürger kaum mehr die Erfahrung machen, innerhalb der staatlichen Ordnung ein ethisch gutes und glückliches Leben führen zu können. Die Menschen verfielen in geistige Orientierungslosigkeit, Religionschaos, der Sittenverfall hielt Einzug. All dem versuchte Augustinus mit seinem Werk Herr zu werden, indem er über die inneren Zustände des Menschen aufklärt. Sein Anliegen bestand darin, dem ethisch guten und glücklichen Leben einen Ort zu verschaffen, an dem die Menschen wieder an Moral und Wahrheit glauben können. Er begründet den Gottesstaat als inneren Seelenzustand, in dem die Regeln Gottes gelten. Davon getrennt ist der irdische Staat mit seinen weltlichen Regeln, die mit einem anderen, als böse geltenden Seelenzustand in uns korrespondieren. Um die christliche Religion gegenüber den anderen Glaubensrichtungen als den »richtigen« Glauben durchzusetzen, hat Augustinus Staat und Religion getrennt, indem er dem Staat die religiöse Legitimationsgrundlage entzogen und zwei Reiche geschaffen hat. Augustinus lehnte einen Anspruch der Kirche auf weltliche Herrschaft ab, weil sie sich sonst den Gesetzen des irdischen Staates unterwerfen müsste und folglich ruhmsüchtig, überheblich, stolz und eigennützig handeln und sich damit in Widersprüche zum christlichen Glauben verstricken würde. Allerdings ist im Mittelalter genau das passiert. Die Kirche ist eine Verbindung mit der weltlichen Herrschaft eingegangen, indem sie einerseits ihren Glauben doch als Legitimationsgrundlage zur Verfügung gestellt hat und andererseits <?page no="106"?> 5. Literatur 107 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 107 ihre Kompetenzen in Sachen Verwaltung und Administration von Herrschaft. Im Gegenzug mussten die weltlichen Herrscher für die Kirche das Schwert führen. Kirche und Kaiser waren nun gemeinsam in der Lage, die Gläubigen zu beherrschen und sich gegenüber dem Volk abzuheben, dieses für ihre Zwecke auszunutzen, um persönlich ein besseres Leben führen zu können. Kirche und Kaiser rangen folglich in diesem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis um die Vormachtstellung. Während die Kaiser vor dem Volk von Gott und der Kirche legitimiert waren, musste die Kirche ihre Vormachtstellung und Herrschaftsansprüche gegenüber den Kaisern und Königen wiederum durch das Wort Gottes (die Bibel) rechtfertigen und verstrickte sich dabei in unhaltbare Widersprüche, die Gelehrte, wie Marsilius von Padua argumentativ gegen sie verwenden konnten. Augustinus hatte versucht, die Religion vor dem Staat zu retten. Marsilius möchte umgekehrt den Staat aus den Fängen der Religion befreien. Augustinus entzieht dem Staat die christlich-religiöse Legitimationsgrundlage und entstellt damit das irdische Dasein als boshaft und elend. Marsilius lehnt die Religion als staatliche Legitimationsgrundlage prinzipiell ab und stellt die Kirche als widerwärtige, verkommene, sich selbst ad absurdum geführte Einrichtung bloß. Hiermit leitet Marsilius einen Denkumbruch in der Ideengeschichte ein, indem er dem Politischen einen neuen Sinn gibt. Es geht nicht mehr um die Verwirklichung des göttlichen Heilsplans, sondern um die Nützlichkeit der Politik und des Staates für ein friedliches und geglücktes Dasein der Bürger auf Erden. Die neue Legitimationsgrundlage des Staates ist die »Volkssouveränität«. Somit wird die Kirche für die Herrschaft überflüssig und die Religion erhält ihren Platz in der persönlichen Sphäre. Indem Marsilius dem irdischen Dasein bzw. dem Leben in der staatlichen Gemeinschaft wieder den Sinn eines guten und glücklichen Lebens zuschreibt, knüpft er an die griechische Polis-Vorstellung an. Nicht umsonst ist Aristoteles die geistige Autorität von Marsilius. Dennoch vermeidet er es, die Quelle dieses Glücks in religiösen Vorstellungen zu begründen, sondern beruft sich auf die Nützlichkeit. An dieser Neuausrichtung des Begründungszusammenhangs von Staat, Religion und Volk werden sich die nachfolgenden Denker abarbeiten. Die Trennung von Staat und Kirche sowie die Legitimation des Politischen durch die »Menge der Bürger« sind die theoretischen Anknüpfungspunkte, an denen sich die Idee der Demokratie weiterzuentwickeln vermochte. 5. Literatur Boockmann, Hartmut: Einführung in die Geschichte des Mittelalters, 8. Auflage, München 2007. Der Große Ploetz: die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, begründet von Dr. Carl Ploetz, 34., neu bearbeitete Auflage, bearbeitet von 80 Fachwissenschaftlern, Freiburg i. Br. ohne Jahr. Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens. Auf Grund der Übersetzung von Walter Kunzmann, bearbeitet von Horst Kusch. Auswahl und Nachwort von Heinz Rausch, Stuttgart 1971. <?page no="107"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 108 108 Kapitel V: Marsilius von Padua Rausch, Heinz: Nachwort, in: Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens. Auf Grund der Übersetzung von Walter Kunzmann, bearbeitet von Horst Kusch. Auswahl und Nachwort von Heinz Rausch, Stuttgart 1971, S. 213-241. Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 17., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1999. <?page no="108"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 109 109 Kapitel VI: Giovanni Pico della Mirandola 1. Primärtext Hochverehrte Väter! In den Schriften der Araber habe ich gelesen, der Sarazene Abdala habe auf die Frage, was sozusagen auf der Bühne dieser Welt als das Bewundernswerteste erscheine, geantwortet, nichts erscheine der Bewunderung würdiger als der Mensch. Dieser Ansicht pflichtet jener Ausspruch des Merkur bei: »Asklepius, ein großes Wunder ist der Mensch.« Als ich über die Bedeutung dieser Worte nachsann, stellten die vielen Äußerungen mich nicht zufrieden, die über die Vortrefflichkeit der menschlichen Natur von vielen Leuten vorgetragen werden, es sei der Mensch der Mittler unter den Geschöpfen, den Wesen über ihm sei er vertrauter Freund, und Lenker sei er derer, die tiefer stehen als er; mit der Schärfe seiner Sinne, mit seinem Forschergeist und mit dem Lichte seines Verstandes begreife er die Natur, zwischen ewiger Dauer und verfließender Zeit sei er das Zwischenglied, sei (wie die Perser sagen) mit der Welt verbunden, ja sei sogar mit ihr vermählt und stehe nach dem Zeugnis Davids im Rang nur wenig unterhalb der Engel. Bedeutende Vorzüge sind dies zwar, doch nicht entscheidende, so daß sie das Vorrecht auf höchste Bewunderung mit Recht für sich in Anspruch nehmen dürften. Denn warum sollten wir nicht die Engel selbst und die seligsten Chöre des Himmels mehr bewundern? Schließlich glaubte ich erkannt zu haben, warum der Mensch das glücklichste und demgemäß das Lebewesen ist, das jegliche Bewunderung verdient, und worin schließlich jene Stellung besteht, die er in der Ordnung des Universums erhalten hat, um die ihn nicht allein die Tiere, sondern auch die Gestirne und auch die überweltlichen Geister beneiden? Die Sache übersteigt den Glauben und scheint wunderbar. Warum auch nicht? Denn auch deshalb sagt man mit Recht und glaubt es auch, der Mensch sei ein großes Wunder und in der Tat ein Lebewesen, das Bewunderung verdient. Doch hört, ihr Väter, was es denn mit dieser Sache auf sich hat, und schenkt mit gütigem Gehör-- wollt ihr so freundlich sein-- mir für mein heutiges Bemühen eure Nachsicht. Schon hatte der höchste Vater und Schöpfergott dieses Haus der Welt, das wir hier sehen, den hocherhabenen Tempel seiner Göttlichkeit nach den Gesetzen geheimer Weisheit kunstvoll errichtet. Die Gegend oberhalb des Himmels hatte er mit Geistern ausgestattet, des Himmels Sphären mit unsterblichen Seelen belebt und die schmutzigen und unreinen Bereiche der unteren Welt mit einer Schar von Lebewesen aller Art gefüllt. Doch als das Werk vollendet war, da wünschte sein Erbauer, es sollte jemanden geben, der imstande wäre, die Einrichtung des großen Werkes zu beurteilen, seine Schönheit zu lieben, seine Größe zu bewundern. Deswegen dachte er, als alles schon vollendet war (wie Moses und Timaios es bezeugen), zuletzt daran, den <?page no="109"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 110 110 Kapitel VI: Giovanni Pico della Mirandola Menschen zu erschaffen. Doch gab es unter den Urbildern keines, wonach er den neuen Sprößling hätte formen können, auch fand sich in den Schatzkammern nichts, das er dem neuen Sohn als Erbgut hätte schenken können, und nirgends auf der ganzen Welt gab es noch einen Platz, auf dem dieser Betrachter des Universums sitzen konnte. Schon voll besetzt war alles und alles an die obersten, die mittleren und untersten Rangordnungen verteilt. Es hätte aber nicht für eines Vaters Schöpferkraft gesprochen, wenn diese bei ihrer letzten Zeugung gleichsam erschöpft versagte, es hätte auch der Weisheit nicht entsprochen, aus Mangel an Entschlußkraft bei etwas Notwendigem geschwankt zu haben, auch nicht wohltätiger Liebe, wenn der, der göttliche Freigebigkeit bei anderen loben sollte, gezwungen würde, sie bei sich selbst als unzulänglich zu verwerfen. So traf der beste Bildner schließlich die Entscheidung, daß der, dem gar nichts Eigenes gegeben werden konnte, zugleich an allem Anteil habe, was jedem einzelnen Geschöpf nur für sich selbst zuteil geworden war. Also nahm er den Menschen hin als Schöpfung eines Gebildes ohne besondere Eigenart, stellte ihn in den Mittelpunkt der Welt und redete ihn so an: »Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst. Die fest umrissene Natur der übrigen Geschöpfe entfaltet sich nur innerhalb der von mir vorgeschriebenen Gesetze. Du wirst von allen Einschränkungen frei nach deinem eigenen freien Willen, dem ich dich überlassen habe, dir selbst deine Natur bestimmen. In die Mitte der Welt habe ich dich gestellt, damit du von da aus bequemer alles ringsum betrachten kannst, was es auf der Welt gibt. Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenem Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst. Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.« Welch übergroße Freigebigkeit des Vatergottes, welch übergroßes und bewundernswertes Glück des Menschen, dem gegeben ist zu haben, was er wünscht, und zu sein, was er zu sein verlangt. Die Tiere bringen bei ihrer Geburt aus dem Mutterleib (so sagt Lucilius) alles mit sich, was sie besitzen werden. Die höchsten Geister sind entweder von Beginn an oder bald darauf gewesen, was sie von Ewigkeit zu Ewigkeit sein werden. Dem Menschen hat bei der Geburt der Vater Samen jedweder Art und Keime zu jeder Form von Leben mitgegeben. Die, die jeder pflegt, werden sich entwickeln und ihre Früchte an ihm tragen: Sind sie pflanzlicher Natur, wird er zur Pflanze werden. Sind es Keime der Sinnlichkeit, so wird er zum Tier werden. Sind es Keime der Vernunft, so wird er zum himmlischen Lebewesen werden. Sind es Keime <?page no="110"?> 1. Primärtext 111 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 111 des Geistes, wird er ein Engel sein und Gottes Sohn. 1 Und wenn er unzufrieden ist mit jedem Lose der Geschöpfe und sich zurückzieht in den Mittelpunkt des eigenen einheitlichen Wesens, wird er mit Gott zu einem Geist vereint im einsamen Dunkel des Vaters, der über alle Dinge gesetzt ist, alle Geschöpfe übertreffen. Wer wollte dieses unser Chamäleon nicht bewundern? Oder wer sollte überhaupt etwas anderes mehr bewundern? Asklepios von Athen hat unter Hinweis auf seine wechselnde und sich selbst verwandelnde Natur nicht ohne Recht von ihm gesagt, der Mensch werde durch die Gestalt des Proteus in den Mysterien symbolisch dargestellt. So wird verständlich, daß bei den Juden und bei den Pythagoreern jene Verwandlungsmythen weit verbreitet sind. Denn auch die geheimere Theologie der Juden kennt die Verwandlung bald des Enoch in einen heiligen Engel Gottes, (…) bald die anderer Menschen in andere göttliche Wesen. Und auch die Pythagoreer lassen verbrecherische Menschen sich in die Gestalt von Tieren und, glaubt man Empedokles, sogar in Pflanzen wandeln. Ihnen folgte Mohammed, der immer wieder betonte, wer vom Pfad des göttlichen Gesetzes abweiche, werde zum Tier, und zwar verdientermaßen. Denn nicht die Rinde macht den Baum aus, sondern seine Natur ohne Verstand und irgendein Gefühl, und nicht das Fell die Tiere, sondern ihr Leben, das vernunftlos nur dem Instinkt gehorcht, den Himmel nicht die Rundung seines Baus, sondern seine vernunftgemäße Ordnung, und nicht die Körperlosigkeit bezeichnet einen Engel, sondern die Fähigkeit, zu geistiger Erkenntnis. Denn siehst du einen Menschen, der seinem Bauche frönend auf der Erde kriecht, so ist es nur ein Strauch, kein Mensch, was du siehst; und siehst du einen, der sich blenden läßt vom leeren Gaukelspiel der Phantasie, als narrte ihn Kalypso, und der, gelockt von den Verführungen der Wollust, als Sklave seiner Sinne lebt, ist es nur ein Tier, kein Mensch, was du siehst. Erblickst du einen Philosophen, der mit rechtem Maßstab alles unterscheidet, so sollst du ihn verehren: er ist ein himmlisches, kein irdisches Wesen; gewahrst du schließlich einen reinen Betrachter, der seinen Leib vergaß und sich ins Innere des Geistes ganz zurückgezogen hat, der ist kein irdisches und nicht einmal ein himmlisches Geschöpf, er ist ein noch erhabeneres göttliches Wesen, gekleidet freilich in die Hülle menschlichen Fleisches. Wer also sollte den Menschen nicht bewundern, der nicht zu Unrecht in den heiligen Schriften des Alten und des Neuen Testamentes bald mit dem Ausdruck »alles Fleisch«, bald mit dem Ausdruck »alle Kreatur« mit vollem Recht bezeichnet wird, da er sich doch selbst zur äußeren Gestalt von allem Fleisch und zur Beschaffenheit von aller Kreatur ausprägt, ausbildet und umgestaltet? Deswegen schreibt der Perser Euantes in seinem Kommentar zur chaldäischen Theologie, der Mensch besitze keinen besonderen ihm angeborenen Typus, dagegen viele von außen kommende und vom Zufall bestimmte. Darauf bezieht sich jener Ausspruch der Chaldäer: (…) »Mensch, 1 Die Unterscheidung zwischen »Vernunft« und »Geist« ist entsprechend der daraufhin folgenden Unterscheidung zwischen dem »Philosophen«, der vernünftig alles im rechten Maßstab unterscheidet und dem »reinen Betrachter«, der sich vollkommen vergeistigt dem mystischen Leben hingibt. <?page no="111"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 112 112 Kapitel VI: Giovanni Pico della Mirandola du Lebewesen von bunter und vielgestaltiger und sprunghafter Art.« Doch wozu trage ich dies vor? Damit wir begreifen: Wir sind geboren worden unter der Bedingung, daß wir das sein sollen, was wir sein wollen. Daher muß unsere Sorge vornehmlich darauf gerichtet sein, daß man uns jedenfalls nicht das nachsagen kann, wir hätten, als wir in Ansehen standen, keinen Verstand gezeigt, dem Vieh und vernunftlosen Tieren ähnlich. Vielmehr soll jener Ausspruch des Propheten Asaph für uns gelten: »Götter seid ihr und Söhne des Höchsten alle«, damit wir nicht das gütigste Geschenk des Vaters, den freien Willen, den er uns verliehen hat, mißbrauchen und ihn gebrauchen statt zu unserem Heil, zu unserem Schaden. Geradezu heiliger Ehrgeiz soll uns befallen, daß wir, nicht zufrieden mit dem Mittelmaß, nach dem Höchsten lechzen und, um es zu erreichen (was wir ja können, wenn wir wollen), mit allen Kräften uns bemühen. (Aus: Giovanni Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate. Rede über die Würde des Menschen. Lateinisch/ Deutsch. Auf der Textgrundlage der Editio princeps herausgegeben und übersetzt von Gerd von der Gönna, Stuttgart 2005, S. 5-13.) 2. Leitfragen a. Aus welchem Motiv heraus schuf Gott den Menschen? b. Worin besteht die Natur des Menschen und welche Entwicklungsmöglichkeiten folgen für ihn daraus? c. Welche Bedingungen werden genannt, die das Wesen des Menschen bestimmen? 3. Entstehungskontext Biografisches Giovanni Pico della Mirandola wurde als Sohn eines Grafen 1463 in Mirandola bei Modena geboren. Der Vater verstarb früh und seine Mutter hatte ihn für den geistlichen Stand und das Studium der Wissenschaften bestimmt. Er lernte in frühester Kindheit Latein und wahrscheinlich auch Griechisch. Im Alter von 14 Jahren studierte der junge Graf zunächst kanonisches Recht in Bologna und anschließend bis 1482 Philosophie in Ferrara. Er kam mit verschiedensten Denkrichtungen in Berührung: dem klassischen Aristotelismus, dem aufkommenden Nominalismus 2 , selbstverständlich mit mittelalter- 2 Der Nominalismus ist eine Anschauung innerhalb des Universalienstreits. Dieser entzündete sich an der Frage, ob die Allgemeinbegriffe eine eigenständige Existenz haben, wie es die Ideenlehre Platons und die mittelalterliche Philosophie postulieren, oder ob sie gedankliche Abstraktionen sind, die als Bezeichnungen von Menschen ausgedacht wurden, wie es die Nominalisten behaupten. <?page no="112"?> 3. Entstehungskontext 113 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 113 lichen Denkern, aber auch orientalischer Philosophie. Um 1482 widmete er sich Platons Schriften, um die Platonische und Aristotelische Lehre miteinander zu vergleichen. 1485 beschäftigte er sich mit der scholastischen Philosophie und Theologie, ein Jahr später lernte er Hebräisch und Arabisch. Seine vielseitigen philosophischen Beschäftigungen ließen in ihm die Idee reifen, die Lehren Platons und Aristoteles’ sowie viele weitere philosophische und theologische Ansätze miteinander zu vereinen. Als Ergebnis dieser Arbeit verfasste er 900 Thesen, die 1486 in Rom veröffentlicht wurden. Er bereitete eine öffentliche Disputation vor, um diese Thesen zu verteidigen. Dazu lud er viele Gelehrte aus ganz Europa nach Rom ein, so überzeugt war er von seinem Werk. Papst Innozenz VIII. verbot jedoch die Disputation, weil er sieben von Picos 900 Thesen als häretisch ansah und ihm weitere sechs als verdächtig erschienen. Pico unternahm einen Rechtfertigungsversuch der 13 problematischen Thesen, woraufhin Innozenz alle Thesen als häretisch verurteilte und gegen Pico einen päpstlicher Haftbefehl verhängte. In Frankreich wurde er eingekerkert, jedoch auf Fürsprache mächtiger Gönner, wie Karl VIII. aus der Haft entlassen. Im Haus seines Freundes Lorenzo de’ Medici in Florenz fand er Schutz vor weiteren Verfolgungen der Kirche. 1493 hob Papst Alexander VI. die kirchlichen Sanktionen gegen Pico auf. Mit nur 31 Jahren starb er 1494 in der Nähe von Florenz. (Vgl. Buck 1990, S. VIII-IX; vgl. Wolf 2009, S. 105-108) Zeitliches Zu Pico della Mirandolas Lebzeiten befand sich das Papsttum in der Krise, es gab keine dominante europäische Führungsmacht mehr, Frankreich wurde im Hundertjährigen Krieg geschwächt, die Könige rangen mit den zunehmenden politischen Machtansprüchen der Städte, die Wirtschaft stagnierte, in der Landwirtschaft herrschte technischer Stillstand, nach mehreren Pestwellen im 14. Jahrhundert kam es nach deutlicher Erholung des Bevölkerungswachstums wieder zu einer demografischen Stagnation, Geldentwertung und Kursverfall griffen um sich und sorgten für eine tief empfundene Unsicherheit in der Bevölkerung. Im Handwerk wurden allerdings neue Erfindungen gemacht: etwa die mechanische Uhr, die Feuerwaffe und der Buchdruck. Auf politischer Ebene entstanden neue Organisationsformen: Parlament, Reichstag und Etats. Große Entdeckungsfahrten auf See revolutionierten das geografische Weltbild. (Vgl. Ploetz, S. 408) Gesellschaftspolitisches Der technische Stillstand in der Landwirtschaft löste eine Agrarkrise aus, die eine Verödung von Feldern und Dörfern sowie eine Verarmung der Bauern und des Kleinadels nach sich zog. Kurzfristige Hungersnöte folgten. Verarmte Bauern und verarmwww.claudia-wild.de: <?page no="113"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 114 114 Kapitel VI: Giovanni Pico della Mirandola ter Kleinadel bildeten ein Reservoir für große Söldnerbanden. Durch Krieg und Fehden kam es zu Verwüstungen des Landes. Das Spätmittelalter war ein Zeitalter der Aufstände und städtischen Revolten. Andererseits florierte die Entwicklung der Städte. Während die Landbevölkerung schrumpfte, wuchs die städtische Bevölkerung. Die größten Städte des Mittelalters waren Venedig und Florenz (ca. 120 000 Einwohner). Das Bürgertum betrieb inzwischen auf der Basis von Geldwirtschaft und Bankwesen internationalen Handel, was den Kaufleuten Wohlstand bescherte, der wiederum der Entwicklung der städtischen Kultur zugute kam. Die neue Bildungsaristokratie, die aufkommenden Signoria 3 in den Zentren Norditaliens förderten Kunst und Architektur. Die wirtschaftliche Macht lag also in den Städten und beim Bürgertum, dennoch gelang es diesem nicht, seine politische Position durchschlagend zu verbessern und die politische Macht der Könige und Päpste zu brechen. Religionspolitisch war bis zum Ende des Mittelalters (1492) Europa christianisiert worden. (Vgl. Ploetz, S. 409-411) Intellektuell gab es allerdings eine starke geistige Emanzipation vom scholastischen, also in der christlichen Lehre verhafteten, Denken. Die antike Philosophie und Literatur wurde als geistiger Ausgangspunkt wiederentdeckt. Zwar studierten die mittelalterlichen Gelehrten die griechischen Schriften Platons und Aristoteles’ und Augustinus oder Thomas von Aquin bezogen sich ebenso auf das griechische Gedankengut, aber Ausgangspunkt ihres Denkens war die christliche Lehre, um deren Bestätigung und Aufarbeitung es ging. Die Wiederentdeckung der Antike als geistiger Referenzpunkt, um die herrschende Denkweise infrage zu stellen und die gesellschaftspolitischen Entwicklungen neu und anders zu begreifen und zu beurteilen, markierte den Epochenwechsel vom Mittelalter zur Renaissance. Eine institutionelle Ausdrucksform der Hinwendung zur Antike als Ausgangspunkt war die Neugründung der »Platonische Akademie« durch Cosimo de’ Medici. Die Bankiersfamilie Medici beherrschte Florenz fast 300 Jahre lang. Cosimo de’ Medici etablierte ihre Herrschaft ab 1434. Sein Enkel Lorenzo de’ Medici, ein Freund Picos, machte Florenz zur politischen, kulturellen und intellektuellen Führungsmacht Italiens. Zweimal wurden die Medici aus der Stadt vertrieben (1494-1512 und 1527-1530). Danach herrschten sie ohne Unterbrechung bis 1737. Pico war als Humanist 4 Mitglied der einst von Cosimo gegründeten Platonischen Akademie. Picos Denken vollzog sich im Lichte der Erfahrung starker gesellschaftspolitischer Veränderungen: einerseits die Erfahrung von Krisen, Verfall, Elend und Unruhe, 3 Monokratischer Herrscher einer Stadt, der aus dem Bürgertum hervorging. 4 Die humanistische Bewegung entdeckte den Menschen als Individuum und maß seiner Individualität eine größere Bedeutung zu. Im mittelalterlichen Menschenbild kam es überhaupt nicht auf das Persönliche eines Menschen an, sondern auf seine gesellschaftliche Position, die er einnahm, die durch Symbole und Insignien gekennzeichnet wurde. Nach dem humanistischen Idealbild kann der Mensch seine Persönlichkeit durch allseitige theoretische und moralische Bildung frei entfalten. In der mittelalterlichen Anschauung hat der Mensch nach dem Willen Gottes und der Lehre Christi zu leben. <?page no="114"?> 4. Interpretation 115 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 115 andererseits die Erfahrung des Aufblühens durch Errungenschaften in technischer, kultureller und ökonomischer Hinsicht. Die Umbrüche und Krisenhaftigkeit der Zeit erforderten, die Frage nach der Bestimmung des Menschen neu zu stellen und neu zu begründen. 4. Interpretation Der oben abgedruckte Primärtext ist der Beginn der Vorrede der von Pico geplanten »Rede des Giovanni Pico della Mirandola, Grafen von Concordia« (lt. »Oratio Ioannis Pici Miradulani, Concordiae Comitis«), in der er seine 900 Thesen verteidigt. Da die Disputation nie stattfand, gab sein Neffe die Schrift postum heraus und versah sie mit dem Titel »Oratio de hominis dignitate« (dt. »Rede über die Würde des Menschen«). Pico stellt darin den Menschen in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Er behauptet, dass der Mensch jegliche Bewunderung verdiene und möchte dies begründen. Das ist für seine Zeit ein Novum. Der Mensch an sich ist im mittelalterlichen Denken keiner philosophischen Betrachtung wert und schon gar nicht der Bewunderung würdig. Was der Mensch sei, ist eine typische Fragestellung der antiken Philosophie, von der Pico inspiriert ist. Es muss gut überlegt sein, wie dieser Betrachtungsgegenstand eingeführt werden kann, damit ihm die zeitgenössischen Gelehrten ernsthaft Gehör und Aufmerksamkeit schenken und nicht von vornherein als indiskutabel ablehnen. Pico knüpft an Gott und die Schöpfungsgeschichte an. In deren Kontext versucht Pico das von Gott geschaffene und gewollte Wesen des Menschen und seine Stellung in der Welt zu erklären und zu begründen. Die Art der Beschaffenheit des Menschen erkläre sich aus dem Wunsch Gottes, ein Lebewesen zu kreieren, das fähig sei, seine Schöpfung zu würdigen. Das Lebewesen müsse imstande sein, »die Einrichtung des großen Werkes zu beurteilen, seine Schönheit zu lieben, seine Größe zu bewundern.« (Primärtext) Deshalb müsse es gottähnlich sein, damit es die Schöpfung Gottes begreifen und aus ihr seine menschliche Welt schöpfen könne, aber es dürfe nicht gottgleich sein, weil es mit einem sterblichen Körper auf der Welt leben solle. Die Eigenart des menschlichen Wesens im Vergleich zu den anderen Geschöpfen sei seine Unbestimmtheit. Der Mensch sei ein Gebilde »ohne besondere Eigenart« (Primärtext). Er habe keinen bestimmten Platz auf der Welt, habe kein bestimmtes Äußeres, keine bestimmte Gabe, er sei ein Chamäleon 5 . So beschrieben, wirkt das Wesen des Menschen auf den ersten Blick eher mangelhaft und bedauernswert statt bewunderungswürdig. Doch in seiner Unbestimmtheit sieht Pico die Voraussetzung für aus seiner Sicht etwas ganz Großartiges: nämlich seine Eigenart, seinen Platz, sein Äußeres selbst, nach eigenem Willen zu bestimmen. 5 Der Vergleich mit dem Chamäleon steht für die Wandlungsfähigkeit des Menschen. <?page no="115"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 116 116 Kapitel VI: Giovanni Pico della Mirandola »Keinen bestimmten Platz habe ich dir zugewiesen, auch keine bestimmte äußere Erscheinung und auch nicht irgendeine besondere Gabe habe ich dir verliehen, Adam, damit du den Platz, das Aussehen und alle die Gaben, die du dir selber wünschst, nach deinem eigenen Willen und Entschluß erhalten und besitzen kannst.« (Primärtext) Aus dem Mangel wird eine Auszeichnung. Die Natur des Menschen besteht also darin, dass er seine Natur selbst bestimmen kann. Das ist eigentlich ein Widerspruch. Denn der Begriff »Natur« weist auf die Anlage hin, die gerade nicht veränderbar ist und die den Ausgangspunkt, aber auch die Grenzen der Entwicklungsmöglichkeiten bildet. Wenn wir sagen »das liegt in der Natur der Sache«, wollen wir zum Ausdruck bringen, dass wir eben keinen Einfluss haben, die Sache zu verändern. Die natürliche Anlage ist beim Menschen demnach flexibel und somit inhaltlich unbestimmt. Folgen wir Picos Ausführungen, dann ist das Spezifische der natürlichen Beschaffenheit des Menschen seine inhaltliche Unbestimmtheit in Kombination mit dem freien Willen. Anders ausgedrückt: Die Natur des Menschen ist, dass er einen freien Willen hat, um sich selbst zu bestimmen, d. h. sich selbst einen Sinn zu geben und seine menschliche Welt aus der Schöpfung Gottes zu erschaffen. Der freie Wille-- und die damit einhergehende Wahlfreiheit-- habe zur Folge, dass der Mensch vor eine gewisse Ratlosigkeit gestellt sei, was er wollen solle, was aus ihm werden solle, wer er sei und welchen Sinn sein Leben habe. So verfüge der Mensch über eine große Spannbreite, sein Leben in unterschiedliche Richtungen zu entwickeln. »Du kannst nach unten hin ins Tierische entarten, du kannst aus eigenem Willen wiedergeboren werden nach oben in das Göttliche.« (Primärtext) Der Mensch habe diese Entwicklungsmöglichkeiten sein ganzes Leben lang. Er könne »abstürzen« und sich der reinen Sinnlichkeit und Nutzlosigkeit verschreiben, aber er könne durch seinen Willen sein Leben verändern, hin zum Vernünftigen. Nach Pico sei für keinen Menschen festgelegt, wie er sich entwickeln werde. Das menschliche Leben unterliegt gemäß ihm keinem Determinismus, keinem göttlichen Plan, keinem unausweichlichen Schicksal, was für das mittelalterliche Denken bemerkenswert »modern« ist. Jeder Mensch trage Samen jedweder Art und Keime zu jeder Form von Leben in sich: »Die, die jeder pflegt, werden sich entwickeln und ihre Früchte an ihm tragen: Sind sie pflanzlicher Natur, wird er zur Pflanze werden. Sind es Keime der Sinnlichkeit, so wird er zum Tier werden. Sind es Keime der Vernunft, so wird er zum himmlischen Lebewesen werden. Sind es Keime des Geistes, wird er ein Engel sein und Gottes Sohn.« (Primärtext) Obwohl der Mensch in seiner Seins- und Entwicklungsweise prinzipiell nicht festgelegt sei und sein ganzes Leben auf der Stufe des Pflanzendaseins führen könnte, legt Pico für ihn eindeutig einen Lebenssinn fest: Das höchste Ziel des menschlichen <?page no="116"?> 4. Interpretation 117 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 117 Lebens sei der Aufstieg der Seele zu Gott und sein Lebenssinn bestehe darin, den Wunsch Gottes zu erfüllen, dessen Schöpfung zu bewundern und zu würdigen. Deshalb wertet Pico das pflanzliche und tierische Leben für den Menschen als unwürdig ab. Es sei geradezu die Pflicht des zu Höherem geborenen Menschen, seine Freiheit zu gebrauchen, den göttlichen Wunsch-- die Einrichtung seines großen Werkes zu beurteilen, dessen Schönheit zu lieben und Größe zu bewundern-- zu erfüllen. Die Botschaft von Pico lautet, dass die Würde des Menschen ihm nicht von Geburt an anhaftet und dass er nicht allein wegen seiner göttlichen Herkunft schon Würde besitzt, sondern erst durch den Gebrauch seines freien Willens zum Zweck der Entwicklung seiner Seele hin zu Gott, kann ein Mensch zur Würde gelangen. »Denn siehst du einen Menschen, der seinem Bauche frönend auf der Erde kriecht, so ist es nur ein Strauch, kein Mensch, was du siehst; und siehst du einen, der sich blenden läßt vom leeren Gaukelspiel der Phantasie, als narrte ihn Kalypso, und der, gelockt von den Verführungen der Wollust, als Sklave seiner Sinne lebt, ist es nur ein Tier, kein Mensch, was du siehst.« (Primärtext) Die Würde des Menschen besteht demnach darin, dass er nur durch Mühe zum Menschen wird, durch Reflexion seiner selbst und durch Arbeit an sich selbst, weshalb Bildung bei Pico eine so große Rolle spielt. 6 Die Würde ist eine potentielle Würde. Doch was bedeutet es, wenn die menschliche Seele zur Einheit mit Gott wird? Durch seine Ratio sei der Mensch in der Lage, die Gesetzmäßigkeiten der Welt geistig zu durchdringen. Diese Tätigkeit nennt er Kontemplation. Sie führe zur Erkenntnis der Welt. Dies ist für Pico das Geschäft der Philosophen, auf die er große Stücke hält, weil sie durch Gebrauch der Ratio mit rechtem Maßstab alles unterscheiden. Doch über dem geistigen steht für ihn das mystische Leben als die höchste und würdigste Daseinsform des Menschen. Der »reine Betrachter«, der seinen Leib vergisst und in sein Innerstes versinkt, stehe in der Einheit mit Gott. Die Idee des Menschen ist demnach, als göttliches Wesen in »Fleisch gehüllt« auf der Welt zu leben, »ein Gottmensch zu sein, erhabener göttlicher Geist, verwirklicht im physischen Körper« (Wolf 2009, S. 147). So zu denken, mutet für unsere stark am Materiellen orientierte heutige Lebensauffassung kurios an. Den mittelalterlichen Zeitgenossen dürfte jedoch weniger der mystische Zug in Picos Überlegungen als vielmehr seine Betonung des gütigsten Geschenks Gottes- - den freien Willen- - zu denken gegeben haben: »Wir sind geboren worden unter der Bedingung, daß wir das sein sollen, was wir sein wollen.« (Primärtext) 6 In späteren Werken (»De ente et uno«) distanziere sich Pico von dieser Auffassung. Einzig die Hingabe an die Liebe zu Gott könne den Menschen zu einem guten Menschen machen. »Nicht mehr der Mensch strengt sich an, gut zu werden, sondern Gott allein macht den Menschen gut.« (Wolf 2009, S. 157) <?page no="117"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 118 118 Kapitel VI: Giovanni Pico della Mirandola Diese individualistische Betrachtung des Menschen, obwohl begründet auf Gottes Vernunft und Willen, ist für die damals Herrschenden inakzeptabel, weil die Menschen dadurch aufgefordert werden, sich auf sich selbst und ihr Leben im Diesseits zu besinnen. Wie im Augustinus-Kapitel beschrieben, hält die christliche Lehre zur Demut gegenüber dem göttlichen Schöpfer und seinen Stellvertretern auf Erden an. Der Mensch ist danach von Natur aus sündig und dem Tod überantwortet, weshalb sein Leben auf das Jenseits ausgerichtet ist. Und nun gibt Pico den Menschen einen Lebenssinn im Diesseits, begründet durch die Schöpfungsgeschichte. Er spricht dem Menschen im Namen Gottes Freiheit und Würde zu, die an eine reflektierte Entwicklung der Persönlichkeit gebunden ist. Er aktiviert die Menschen, statt sie zu passivieren und in Demut zu versetzen. »Geradezu heiliger Ehrgeiz soll uns befallen, daß wir, nicht zufrieden mit dem Mittelmaß, nach dem Höchsten lechzen und, um es zu erreichen (was wir ja können, wenn wir wollen), mit allen Kräften uns bemühen.« (Primärtext) Welchen Beitrag leistet Pico mit seiner Schrift zur Entwicklung der Idee der Demokratie? Die Neubestimmung der Natur des Menschen auf der Basis des freien Willens, die Aufwertung des Individuums, indem ihm zugesprochen wird, nach eigenem Willen zu leben und seine Welt aus der Schöpfung Gottes im Diesseits zu gestalten, markiert einen Denkumbruch in der Ideengeschichte vom mittelalterlichen hin zum neuzeitlichen Denken. Der Gedanke der menschlichen Freiheit und Würde ist grundlegend für die Idee der Demokratie, gleichwohl der Freiheitsgedanke bei Pico noch in die Begründungsmuster des mittelalterlichen Denkens eingebettet ist. Die menschliche Freiheit ist demnach noch ein Geschenk Gottes, die dazu dient, die Persönlichkeit zu einem göttlichen Abbild zu formen. Darin liegt für ihn die Würde des Menschen. 5. Literatur Buck, August: Einleitung, in: G. Pico della Mirandola: Über die Würde des Menschen. Übersetzt von Norbert Baumgarten. Herausgegeben und eingeleitet von August Buck, Hamburg 1990. Der Große Ploetz: die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, begründet von Dr. Carl Ploetz, 34., neu bearbeitete Auflage, bearbeitet von 80 Fachwissenschaftlern, Freiburg i. Br. ohne Jahr. Giovanni Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate. Rede über die Würde des Menschen. Lateinisch/ Deutsch. Auf der Textgrundlage der Editio princeps herausgegeben und übersetzt von Gerd von der Gönna, Stuttgart 2005. Wolf, Gabriela: Menschenbild und Bildungsideal in der italienischen Renaissance. Untersuchung zu Ficino, Pico della Mirandola und Castiglione. Diss., Köln 2009. <?page no="118"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 119 119 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli 1. Primärtext I. Buch 2. Wieviel Arten von Staatsformen 1 es gibt und zu welcher der römische Staat gehört Ich will nicht Staaten, die von ihrem Anfang an einer anderen Macht unterworfen waren, in meine Überlegungen einbeziehen; vielmehr will ich nur von solchen Staaten sprechen, die von Anfang an frei von jeder äußeren Abhängigkeit waren und sich nach eigenem Gutdünken als Republiken oder Monarchien eingerichtet haben. So verschieden ihr Ursprung war, so verschieden waren auch ihre Gesetze und Einrichtungen. Einigen wurden gleich bei ihrer Gründung oder bald danach die Gesetze, und zwar alle auf einmal, von einer einzigen Persönlichkeit gegeben wie den Spartanern von Lykurg; andere erhielten ihre Gesetze bei Gelegenheit und nach und nach entsprechend ihren Schicksalen wie Rom. Glücklich das Volk, das einen Weisen hervorbringt, der ihm bleibende Gesetze gibt, unter denen es lange Zeit sicher leben kann! Über 800 Jahre hat Sparta die Gesetze Lykurgs befolgt, ohne sie anzutasten und ohne daß eine gefährliche Umwälzung stattgefunden hätte. Weit schlechter daran sind die Staaten, die sich keinem weisen Gesetzgeber gefügt haben und die sich selbst eine neue Ordnung geben mußten. Von diesen aber ist am unglücklichsten der Staat, in dem gar keine Ordnung herrscht. Das ist der Fall, wenn seine Einrichtungen völlig vom geraden Weg abweichen, der ihn zum wahren Ziel staatlicher Vollkommenheit führen kann. Befindet sich ein Staatswesen einmal in diesem Zustand, so ist es fast unmöglich, daß es durch irgendein Ereignis wieder in Ordnung kommt. Diejenigen Staatswesen, die zwar keine vollkommene Verfassung haben, deren Anfänge aber gut und entwicklungsfähig sind, können durch das Zusammentreffen günstiger Ereignisse vollkommen werden. Sicher ist jedoch, daß dies nie ohne Gefahr geschieht; denn die Mehrzahl der Menschen stimmt einem neuen Gesetz, das eine Neuordnung im Staat bezweckt, nur zu, wenn dessen Notwendigkeit unmittelbar vor Augen liegt. Da diese Notwendigkeit aber nur bei Gefahr eintreten kann, so geht der Staat leicht zugrunde, bevor er seine Vollkommenheit erreicht hat. 1 Unter dem Begriff »Staat« versteht Machiavelli Städte, Republiken, politische Ordnungen, also Verfassungen und keine Nationalstaaten im heutigen Sinne. <?page no="119"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 120 120 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli Einen schlagenden Beweis liefert die Republik Florenz; sie wurde durch den Vorfall in Arezzo im Jahr 1502 neu geordnet 2 und durch die Ereignisse in Prato 3 im Jahr 1512 gestürzt. Um nun die Staatsordnung Roms und die Ereignisse, die es zur politischen Vollkommenheit führten, zu untersuchen, stelle ich fest, daß einige Schriftsteller, die über den Staat geschrieben haben, drei Regierungsformen annehmen, nämlich die Alleinherrschaft, die Herrschaft des Adels und die Volksherrschaft; und jeder, der einen Staat gründen will, müsse sich je nach Zweckmäßigkeit für eine dieser drei Formen entscheiden. Einige andere Schriftsteller, nach der Meinung vieler sind es die gescheiteren, vertreten die Meinung, daß es sechs Regierungsformen gäbe, von denen drei sehr schlecht und die anderen drei an und für sich gut wären, aber so leicht entarteten, daß sie gleichfalls unheilvoll würden. Die guten sind die drei oben genannten 4 , die schlechten sind die drei anderen, die aus ihnen entstehen; jede von ihnen ist der ihr nächstverwandten so ähnlich, daß die eine leicht in die andere übergeht; denn die Alleinherrschaft wird leicht zur Tyrannis, die Herrschaft einer bevorrechtigten Schicht mit Leichtigkeit zur Oligarchie und die Demokratie artet unschwer zur Anarchie aus. Führt also der Gründer eines Staatswesens eine dieser drei Regierungsformen ein, so ist dies nur für kurze Zeit. Es läßt sich durch kein irdisches Mittel verhindern, daß sie in ihr Gegenteil ausartet; denn gut und schlecht sind einander in diesem Fall sehr ähnlich. Diese verschiedenen Regierungsformen sind durch Zufall entstanden; am Anfang der Welt, als es noch wenig Menschen gab, lebten diese zerstreut, ähnlich den wilden Tieren. Als sich später das Menschengeschlecht vermehrte, schlossen sie sich zusammen und begannen, um sich besser verteidigen zu können, den stärksten und beherztesten unter ihnen herauszustellen, machten ihn zu ihrem Führer und gehorchten ihm. Daraus entstand der Begriff von ehrenvoll und gut im Gegensatz zu verderblich und böse; denn man sah, daß es bei den Menschen Haß und Mitleid erweckte, wenn einer seinem Wohltäter Unrecht zufügte, daß die Undankbaren getadelt und die Dankbaren geehrt wurden; überdies sagte sich jeder, es könnte ihm dasselbe Unrecht zugefügt werden. Um ähnliche Übel zu vermeiden, entschloß man sich, Gesetze zu schaffen und Strafen gegen Zuwiderhandelnde einzuführen. Hieraus entstand der Begriff der Gerechtigkeit. Infolgedessen folgte man später bei der Wahl eines Oberhaupts nicht mehr dem Stärksten, sondern dem Verständigsten und Gerechtesten. Als man aber später daran ging, das Oberhaupt durch Erbfolge und nicht durch Wahl zu bestimmen, begannen die Erben sofort zu entarten, dachten nicht mehr an die wirkungsvollen Maßnahmen ihrer Vorfahren und glaubten, die Herrscher hätten nichts weiter zu tun, als die anderen an Prunk, Zügellosigkeit und jeder Art von Lüsten zu 2 Die Vorgänge in Arezzo bewirkten eine Veränderung der Verfassung in Florenz. 3 Die Eroberung Pratos durch die Spanier führte zum Sturz der republikanischen Regierung in Florenz, wodurch auch Machiavelli seines Amtes enthoben wurde. 4 Monarchie, Aristokratie und Demokratie. <?page no="120"?> 1. Primärtext 121 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 121 übertreffen. So wurde der Herrscher verhaßt und begann sich wegen dieses Hasses zu fürchten. Und bald ging er von der Furcht zu Gewalttaten über; daraus entstand rasch eine Tyrannis. Dies war der Anfang der Umstürze, der Meutereien und Verschwörungen gegen die Staatsoberhäupter; diese wurden nicht von den Furchtsamen und Schwachen unternommen, sondern von denen, die durch Großmut, Hochherzigkeit, Reichtum und Vornehmheit die anderen übertrafen; sie konnten den ehrlosen Lebenswandel ihres Herrschers nicht ertragen. Das Volk hinwiederum folgte der Autorität dieser mächtigen Persönlichkeiten, erhob die Waffen gegen den Herrscher, besiegte ihn und gehorchte seinen Befreiern. Da diesen der Name Alleinherrscher verhaßt war, bildeten sie aus ihrer Mitte eine Regierung und leiteten eingedenk der vergangenen Tyrannei anfangs den Staat entsprechend den von ihnen gegebenen Gesetzen, ordneten ihren eigenen Vorteil dem Gemeinwohl unter, verwalteten und hielten die privaten und öffentlichen Angelegenheiten mit größter Sorgfalt auseinander. Dann aber ging die Regierung auf ihre Söhne über, die den Wechsel des Glücks nicht kannten und nie das Unglück erfahren hatten. Sie wollten sich mit der bürgerlichen Gleichheit nicht zufrieden geben, sondern ergaben sich der Habsucht, dem Ehrgeiz und dem Gelüst nach Weibern; so machten sie aus der Herrschaft der Vornehmen eine Herrschaft der Wenigen, ohne irgendwelche Rücksicht auf das Allgemeinwohl. Die Folge war, daß es ihnen binnen kurzem erging wie den Tyrannen. Das Volk, ihrer Herrschaft überdrüssig, gehorchte jedem, der die Herrschenden auf irgendeine Weise stürzen wollte; und so erhob sich bald einer, der sie mit Hilfe des Volks beseitigte. Nun war die Erinnerung an den Fürsten und die von ihm erlittenen Ungerechtigkeiten noch frisch; man hatte die Herrschaft der Wenigen gestürzt, aber man wollte die des Fürsten nicht wieder aufrichten und ging infolgedessen zur Volksherrschaft über, in der weder mehrere Machthaber noch ein Fürst irgendwelche Gewalt erhielten. Da nun jede Regierungsform in ihren Anfängen einige Achtung einflößt, so hielt sich auch die Volksherrschaft eine Zeit lang, höchstens aber so lang, bis die Generation, die sie eingeführt hatte, ausgestorben war. Bald kam es zur Zügellosigkeit, in der man weder Privatleute noch Amtspersonen fürchtete. Da jeder nach seiner Art lebte, fügte man sich täglich tausend Ungerechtigkeiten zu. So kam man dann notgedrungen entweder unter den Einfluß eines redlichen Mannes oder, um der Anarchie zu entgehen, wieder auf die Herrschaft eines Fürsten zurück und von dieser nach und nach in gleicher Weise und aus denselben Gründen wieder zur Anarchie. In diesem Kreislauf haben sich die Regierungen aller Staaten bewegt und tun es immer noch, doch kehren sie selten zu den gleichen Regierungsformen zurück; denn kaum ein Staat besitzt so viel Lebenskraft, daß er solche Umwälzungen mehrmals überstehen könnte, ohne zugrunde zu gehen. Wohl aber kommt es vor, daß ein Staat in seiner Bedrängnis, weil es ihm stets an gutem Rat und an Kraft fehlt, in die Gewalt eines Nachbarstaates kommt, in dem eine bessere Ordnung herrscht. Angenommen, dies wäre nicht so, so würde sich jeder Staat ständig im Kreislauf der genannten Staatsformen bewegen. <?page no="121"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 122 122 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli Nach meiner Meinung sind daher alle diese Staatsformen verderblich, und zwar die drei guten wegen ihrer Kurzlebigkeit und die drei anderen wegen ihrer Schlechtigkeit. In Erkenntnis dieser Mängel haben weise Gesetzgeber jede der drei guten Regierungsformen für sich allein vermieden und eine aus allen dreien zusammengesetzte gewählt. Diese hielten sie für fester und dauerhafter, da sich Fürst, Adel und Volk, in ein- und demselben Staat zur Regierung vereinigt, gegenseitig überwachen. (Aus: Discorsi, S. 11-15) I. Buch 4. Die Auseinandersetzungen zwischen Volk und Senat der Römer brachten der Republik Freiheit und Macht Ich möchte nicht verfehlen, über die politischen Kämpfe zu berichten, die Rom vom Tod der Tarquinier bis zur Einrichtung des Volkstribunats 5 zu bestehen hatte; dann möchte ich auch einiges gegen die allgemein verbreitete Meinung anführen, Rom wäre ein zu Aufruhr neigender Staat und so voller Unordnung gewesen, daß es jeder anderen Republik nachgestanden hätte, wenn nicht ein gütiges Geschick und militärische Tüchtigkeit diesen Mangel ausgeglichen hätten. Ich kann nicht in Abrede stellen, daß Glück und das römische Heerwesen die Ursachen des römischen Weltreichs waren; aber man scheint zu übersehen, daß da, wo man ein gutes Heer hat, auch eine gute staatliche Ordnung sein muß und daß es da auch selten an Glück fehlt. Aber kommen wir zu den anderen, besonders für Rom eigentümlichen Verhältnissen! Ich behaupte, daß diejenigen, die die Kämpfe zwischen Adel und Volk verdammen, auch die Ursachen verurteilen, die in erster Linie zur Erhaltung der Freiheit Roms führten. Wer mehr auf den Lärm und das Geschrei solcher Parteikämpfe sieht als auf deren gute Wirkungen, der bedenkt nicht, daß in jedem Gemeinwesen das Sinnen und Trachten des Volks und der Großen verschieden ist und daß alle zu Gunsten der Freiheit entstandenen Gesetze nur diesen Auseinandersetzungen zu danken sind. Dies ersieht man ohne weiteres an dem Beispiel Roms; denn von den Tarquiniern bis zu den Gracchen 6 , also in einem Zeitraum von mehr als 300 Jahren, hatten die Unruhen in Rom selten Verbannungen zur Folge und ganz selten Blutvergießen. Man kann also diese Unruhen weder für schädlich halten, noch den Staat für innerlich zerrissen, wenn in dieser ganzen Zeit durch die politischen Auseinandersetzungen kaum mehr 5 Das Geschlecht der Tarquinier herrschte zuletzt in Rom, bis dessen letzter Vertreter 510 v. Chr. auf Veranlassung von Brutus vertrieben wurde. 16 Jahre nach der Vertreibung des letzten Königs der Tarquinier wurde das Volkstribunat eingeführt. 6 Tiberius und Gaius Gracchus waren beide Volkstribunen. <?page no="122"?> 1. Primärtext 123 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 123 als acht bis zehn Bürger verbannt, ganz wenig hingerichtet und nicht viele zu Geldstrafen verurteilt wurden. Ebensowenig kann man mit einigem Grund den Staat als desorganisiert bezeichnen, wenn er so viele Beispiele hervorragender Tüchtigkeit aufzuweisen hat; denn gute Beispiele entstehen durch gute Erziehung, gute Erziehung durch gute Gesetze und gute Gesetze durch Parteikämpfe, die viele unüberlegt verurteilen. Wer deren Ausgang genau untersucht, wird finden, daß sie nie eine Verbannung oder eine Gewalttat zum Schaden des öffentlichen Wohls zur Folge hatten, wohl aber Gesetze und Einrichtungen zum Besten der allgemeinen Freiheit. Man könnte zwar einwenden: es waren ungewöhnliche, fast grausame Methoden, wie das ganze Volk gegen den Senat und der Senat gegen das Volk schrie, wie es lärmend durch die Straßen tobte, die Kaufläden geschlossen wurden und das ganze Volk aus Rom auszog, lauter Dinge, die einem beim Lesen in Schrecken setzen. Ich behaupte, daß jeder Staat die ihm eigenen Mittel und Wege haben muß, dem Ehrgeiz des Volks Luft zu machen, besonders aber die Staaten, die sich bei wichtigen Dingen des Volks bedienen wollen. So war es in Rom üblich, daß das Volk, wenn es ein Gesetz durchsetzen wollte, entweder die oben genannten Mittel anwandte oder den Kriegsdienst verweigerte, so daß man es zur Besänftigung wenigstens teilweise zufriedenstellen mußte. Auch sind die Forderungen der freien Völker selten für die Freiheit schädlich; denn diese sind entweder eine Folge der Unterdrückung oder eine Folge der Furcht vor Unterdrückung. Ist dieser Verdacht unbegründet, so gibt es in den Volksversammlungen ein Mittel dagegen, das darin besteht, daß ein ehrlicher Mann aufsteht und das Volk über seinen Irrtum aufklärt. Die Völker sind zwar unwissend, wie Cicero sagt, aber doch für die Wahrheit empfänglich, und leicht geben sie nach, wenn ihnen von einem glaubwürdigen Mann die Wahrheit gesagt wird. Man sollte also mit dem Tadel der römischen Regierungsgepflogenheiten sparsamer sein und bedenken, daß die vielen guten Wirkungen, die vom römischen Staat ausgingen, nur aus den besten Ursachen entstehen konnten. Wenn die Unruhen Anlaß zur Einsetzung von Volkstribunen waren, so verdienen sie höchstes Lob; denn das Volk erhielt dadurch nicht nur seinen Anteil an der Verwaltung, sondern die Tribunen wurden auch zu Hütern der römischen Freiheit eingesetzt, wie uns im nächsten Kapitel gezeigt werden soll. 5. Wo die Freiheit sicherer aufgehoben ist, beim Volk oder bei den Großen, und wer größeres Interesse an Aufständen hat, der, welcher etwas erwerben oder der, welcher Erworbenes behalten will Wer einem Staatswesen eine Verfassung zu geben hat, tut immer klug daran, Vorsorge für den Schutz der Freiheit zu treffen. Dies ist eine der notwendigsten Einrichtungen; von dieser hängt es ab, ob die bürgerliche Freiheit von längerer oder kürzerer Dauer <?page no="123"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 124 124 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli ist. Da es in jeder Republik mächtige Männer und ohnmächtiges Volk gibt, kann man zweifeln, in wessen Hände man am besten den Schutz der Freiheit legen soll. Bei den Lakedämoniern und in unserer Zeit bei den Venezianern wurde er in die Hände des Adels, bei den Römern jedoch in die Hände des Volks gelegt. Man muß also untersuchen, welche der beiden Republiken die bessere Wahl getroffen hat. Läßt man die Vernunft sprechen, so kann man beides rechtfertigen; sieht man aber auf den Erfolg, so wird man sich für den Adel entscheiden; denn die Freiheit von Sparta und Venedig war von längerer Dauer als die Roms. Ich beginne mit den Vernunftschlüssen: Wer die Partei der Römer ergreift, kann sagen, daß der Schutz einer Sache denen anvertraut werden müsse, die am wenigsten Lust haben, sie zu mißbrauchen. Untersucht man das Streben des Adels und des Volks, so zeigt sich ohne Zweifel beim Adel ein starkes Verlangen zu herrschen, beim Volk aber nur das Verlangen, nicht beherrscht zu werden, und folglich ein stärkerer Wille, in Freiheit zu leben, da es weniger hoffen kann, die Freiheit zu mißbrauchen, als der Adel. Werden daher Männer aus dem Volk zu Hütern der Freiheit bestellt, so werden diese vernünftigerweise stärker um deren Schutz besorgt sein und werden, da sie selber nicht die Freiheit mißbrauchen können, auch andere daran hindern. Andererseits sagen die Verteidiger der spartanischen und venezianischen Verfassung, man tue in zweierlei Hinsicht gut daran, den Schutz der Freiheit in die Hände der Mächtigen zu legen: zum ersten befriedige man dadurch deren Ehrgeiz, da sie wegen des größeren Einflusses auf die Regierung allen Grund hätten, sich zufrieden zu geben; zweitens entziehe man dadurch den unruhigen Köpfen im Volk ein gewisses Ansehen, das in einer Republik die Quelle endloser Streitigkeiten und Unruhen sowie geeignet wäre, den Adel zur Verzweiflung zu bringen, was mit der Zeit schlimme Folgen haben müsse. Als Beispiel führen sie gerade Rom an, wo die Volkstribunen die Gewalt in Händen hatten und sich trotzdem nicht mit einem plebejischen Konsul genügten, sondern zwei Plebejer haben wollten. Außerdem verlangten sie die Ämter des Zensors, des Prätors und alle anderen Ämter im römischen Reich. Auch das genügte ihnen noch nicht; getrieben von der gleichen Wut begannen sie, die Männer zu vergöttern, die ihnen zur Demütigung des Adels geeignet erschienen. Dies war die Ursache für die Macht des Marius und für den Untergang Roms. In der Tat, wer das Für und Wider beider Meinungen erwägt, kann in Zweifel kommen, wen man zum Hüter der Freiheit in einer Republik wählen soll, umso mehr, als man nicht weiß, welche Kategorie von Menschen in einem Staat schädlicher ist: die, welche zu erwerben strebt, was sie nicht hat, oder die, welche längst erworbene Vorrechte zu erhalten strebt. Bei genauer Untersuchung wird man schließlich zu folgendem Schluß kommen: es kommt darauf an, ob man einen Staat im Auge hat, der ein mächtiges Reich werden will wie Rom, oder einen Staat, dem es genügt, Bestehendes zu erhalten. Im ersten Fall muß man in allem wie Rom handeln, im zweiten kann man Venedig und Sparta nachahmen; weshalb und wie, soll im nächsten Kapitel gesagt werden. <?page no="124"?> 1. Primärtext 125 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 125 Doch kehren wir zu der Frage zurück, welche Menschen in einem Staatswesen schädlicher sind, die, welche etwas erwerben wollen, oder die, welche das Erworbene zu verlieren fürchten. Marcus Menenius wurde zum Diktator und Marcus Fulvius wurde zum magister equitum gewählt. Beide waren Plebejer. Sie sollten einige Verschwörungen erkunden, die in Capua gegen Rom im Gange waren. Bei dieser Gelegenheit erhielten sie vom Volk auch die Vollmacht, zu untersuchen, wer in Rom durch Bestechung und andere ungesetzliche Mittel nach dem Konsulat und anderen Ehrenämtern im Staat strebte. Der Adel glaubte, diese Vollmacht des Diktators wäre gegen ihn gerichtet, und sprengte in Rom aus, nicht die Adligen suchten die Ämter durch Bestechung und ungesetzliche Mittel zu erlangen, sondern die Plebejer suchten auf ungesetzlichen Wegen zu diesen Stellen zu kommen, da sie sich ja nicht auf Geburt und Verdienste stützen könnten. Im besonderen klagten sie noch den Diktator an. Diese Anklage war so gewichtig, daß Menenius eine Volksversammlung einberief, sich über die Verleumdungen des Adels beklagte, die Diktatur niederlegte und sich dem Urteil unterwarf, das das Volk über ihn fällte; in diesem Prozeß wurde er freigesprochen. Es wurde nun viel darüber gestritten, wer mehr zum Aufruhr neige, der welcher bewahren oder der, welcher erwerben will; denn sowohl das eine wie das andere kann leicht die größten Erschütterungen hervorrufen. Meistens werden Umwälzungen durch die Besitzenden hervorgerufen, denn die Furcht zu verlieren erweckt bei ihnen das gleiche Verlangen wie bei denen, die etwas zu erwerben trachten. Glauben die Menschen doch, ihren Besitz nur dann sicher zu haben, wenn sie von anderen etwas hinzuerwerben. Dazu kommt, daß die Besitzenden mit größerer Macht und stärkerer Durchschlagskraft Umwälzungen durchführen können. Auch kommt noch dazu, daß ihr verbrecherisches und herrschsüchtiges Verhalten bei den Besitzlosen das Verlangen nach Besitz weckt, um entweder an denen Rache zu nehmen, von denen sie ausgeplündert wurden, oder um auch ihrerseits Reichtümer und Ämter erwerben zu können, die sie von ihnen mißbraucht sehen. (Aus: Discorsi, S. 18-23) III. Buch 1. Sollen eine Religionsgemeinschaft oder ein Staat lange bestehen, so muß man sie häufig zu ihren Anfängen zurückführen Es ist unbedingt richtig, daß alle Dinge auf der Welt ihre Lebensgrenze haben. Doch nur diejenigen vollenden den ganzen, ihnen vom Himmel vorgezeichneten Weg, die ihren Körper nicht in Unordnung bringen, sondern ihn so in Ordnung halten, daß er sich nicht ändert, oder, wenn er sich ändert, nur zu seinem Wohl und nicht zum <?page no="125"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 126 126 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli Schaden. Da ich hier von Kollektivgemeinschaften spreche, wie es Staaten und Religionsgemeinschaften sind, so behaupte ich, daß ihnen nur diejenigen Veränderungen zum Heil gereichen, die sie zu ihren Anfängen zurückführen. Von allen Staaten und Religionsgemeinschaften sind daher diejenigen am besten geordnet und haben die längste Dauer, die sich dank ihrer Einrichtungen häufig erneuern können oder durch einen äußeren Zufall zu einer solchen Erneuerung kommen. Es ist klarer als der Tag, daß solche Gemeinschaften ohne Erneuerung nicht von Dauer sind. Das Mittel zur Erneuerung aber ist, wie gesagt, sie zu ihren Anfängen zurückzuführen; denn in ihren Anfängen müssen ja alle Religionen, Freistaaten und Königreiche notwendig etwas Gutes gehabt haben, dem sie ihr ursprüngliches Ansehen und ihre ursprüngliche Durchschlagskraft zu danken hatten. Da aber dieses Gute im Lauf der Zeit verdirbt, so muß der betroffene Körper notwendigerweise absterben, wenn nichts eintritt, das das ursprünglich Gute wieder herstellt. Die Ärzte sagen vom menschlichen Körper: »quod quotidie aggregatur aliquid, quod quan-doque indiget curatione« [Jeden Tag setzt sich etwas an, das irgendwann einmal der Heilung bedarf ]. Diese Besinnung auf den Ursprung erfolgt bei Staaten durch ein von außen kommendes Ereignis oder aus inneren Impulsen. Was das erstere betrifft, so sieht man, wie notwendig für Rom die Eroberung durch die Gallier war, notwendig für seine Wiedergeburt, für die Erneuerung seines Lebens und seiner Tüchtigkeit, für die Wiederbelebung der Religion und der Gerechtigkeit, die zu verfallen begannen. Dies wird sehr deutlich aus der Geschichte des Titus Livius, wo dieser zeigt, daß die Römer beim Ausmarsch des Heeres gegen die Gallier und bei der Wahl der Militärtribunen die religiösen Zeremonien nicht mehr beachteten. Ebensowenig bestraften sie die drei Fabier, die in Mißachtung des Völkerrechts gegen die Gallier gekämpft hatten, ja sie bestellten diese sogar zu Tribunen. Daraus läßt sich ohne weiteres vermuten, daß man auch auf die anderen trefflichen Einrichtungen, die von Romulus und den anderen klugen Herrschern getroffen worden waren, weniger Rücksicht zu nehmen begann, als es vernünftig und zur Erhaltung der Freiheit nötig gewesen wäre. Da kam jener Schlag von außen, und alle Einrichtungen Roms wurden wieder hergestellt und dem Volk gezeigt, daß es nicht nur nötig ist, Religion und Gerechtigkeit zu erhalten, sondern auch die guten Bürger zu achten und deren Tugenden höher anzuschlagen als die Vorteile, die man ohne deren Taten wohl nicht erzielt hätte. Alles dies kam genauso wie gesagt; denn sofort nach der Rückeroberung Roms wurden die alten religiösen Einrichtungen wieder zu neuem Leben erweckt. Man strafte die Fabier, die »contra ius gentium« [gegen das Völkerrecht] verstoßen hatten, und man bewertete die Tapferkeit und Tugend des Camillus so hoch, daß der Senat und alle anderen ihm ohne jeden Neid das ganze Gewicht der Regierung übertrugen. Es ist also, wie gesagt, nötig, daß die Menschen, die in irgendeiner Gesellschaftsordnung miteinander leben, häufig zur Selbsterneuerung gebracht werden-- gleichgültig, ob aus Anlaß derartiger äußerer oder innerer Ereignisse. Letzteres geschieht entweder durch ein Gesetz, das die Menschen, die zur gleichen Gemeinschaft gehören, immer wieder unter Kontrolle <?page no="126"?> 3. Entstehungskontext 127 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 127 hält, oder durch einen wirklich tüchtigen Mann, der aus ihrer Mitte hervorgegangen ist und durch sein Beispiel und sein treffliches Wirken die gleiche Wirkung hervorbringt wie das Gesetz. (Aus: Machiavelli, Niccolò: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Deutsche Gesamtausgabe, übersetzt, eingeleitet und erläutert von Dr. Rudolf Zorn, 2., verbesserte Auflage, Stuttgart 1977, S. 274-275) 2. Leitfragen a. Welche Bedingung trägt laut Machiavelli zum Glück eines Volkes bei und worin besteht dieses Glück? b. Machiavelli beschreibt einen »Kreislauf der Staatsformen«. Rekonstruieren Sie die Gründe, die zum Zusammenbruch der jeweiligen Staatsform führen. c. Welche Lösung führt Machiavelli an, um den »Kreislauf der Staatsformen« zu durchbrechen? d. Was sind für Machiavelli »gute Gesetze« und wodurch entstehen sie? e. In wessen Hände rät Machiavelli den Schutz der Freiheit zu legen: in die Hände des Adels oder des Volkes? f. Welche Bürger hält Machiavelli in einem Staatswesen für schädlicher: die, welche etwas erwerben wollen, oder die, welche das Erworbene zu verlieren fürchten? g. Was kann ein Staatswesen für seine Stabilität tun? 3. Entstehungskontext Biografisches Niccolò Machiavelli wurde als Sohn eines Notars und Rechtsgelehrten 1469 in Florenz geboren 7 , als dort Lorenzo und Giuliano de’ Medici die Macht übernahmen. Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt. Er wuchs in der Atmosphäre einer reichen, erblühenden und bedeutenden Weltstadt auf, deren geistiges Klima auf Überwindung des mittelalterlichen Denkens zielte. Florenz gilt als Motor der Zeitenwende, angetrieben durch Lorenzo de’ Medici. Die Briefe und Schriften Machiavellis beweisen, dass er profunder Kenner der Literatur und Geschichte war. Er hatte sich mit den römischen Dichtern, Philosophen und Geschichtsschreibern befasst und von den Griechen kannte er zumindest Aristoteles und Herodot. Auch Rechtslehre dürfte 7 Er war also nur sechs Jahre jünger als Pico della Mirandola, der auch zu den von Lorenzo de’ Medici geförderten Gelehrten gehörte. <?page no="127"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 128 128 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli er studiert haben. (Vgl. Zorn 1977, S. XXII) Machiavelli war weniger ein Philosoph, der nach dem Wesen des Menschen und den Gründen menschlichen Daseins und Zusammenlebens sucht, als vielmehr ein an der praktischen Politik interessierter Theoretiker, der ergründet, wie und nach welchen Gesetzmäßigkeiten Politik funktioniert. Die Machiavellis waren eine Bürgerfamilie von vormals adeliger Herkunft, deren Familienmitglieder in der Republik Florenz vielfach politische Posten innehatten. (Vgl. Zorn 1977, S. XXIII) Auch Niccolò Machiavelli strebte nach Ämtern, um politischen Einfluss zu haben. Mit dem Tod Lorenzo de’ Medicis brachen für die Politik Italiens turbulente und bedrohliche Zeiten an. Nach der Vertreibung der Medici 1494 wurde Machiavelli 1498 mit 29 Jahren zum Sekretär und Vorsteher der zweiten Staatskanzlei, der »Kanzlei der Zehn«, gewählt. Diese Behörde hatte für das Kriegswesen und auswärtigen Angelegenheiten die Verantwortung. (Vgl. Zorn 1977, S. XXV) Seine diplomatischen Missionen führten ihn durch ganz Italien und Europa und verschafften ihm einen Überblick über die Staats- und Militärstrukturen seiner Zeit. Eine seiner Hauptaufgaben war die Wiedereroberung Pisas. Seine Idee war, eine Milizarmee auf der Basis einer allgemeinen Wehrpflicht aufzubauen und das bis dahin erfolglose Söldnerheer abzuschaffen. Er setzte seine-- damals neue-- Idee der Milizarmee um, baute eine 5000 Mann starke Streitmacht auf und besiegte damit 1509 Pisa. (Vgl. Zorn 1977, S. XXVII) Eine Niederlage gegen Spanien brachte jedoch die republikanische Regierung zu Fall. 1512 wurden Kardinal Giovanni de’ Medici, dessen Bruder Giuliano und die jüngeren Söhne Lorenzos als Herren von Florenz eingesetzt. Machiavelli verlor alle seine politischen Ämter, verteidigte die Politik der abgesetzten republikanischen Regierung, bot aber gleichzeitig den neuen Herren seine Dienste an. Er wurde allerdings einer Verschwörung gegen die Medici bezichtigt und deshalb verhaftet und gefoltert. Seine Folterknechte konnten ihm allerdings keine Geständnisse abzwingen. An einen Freund schrieb er, dass seine Handgelenke von der Streckfolter noch lange geschwollen waren. Es gilt als unwahrscheinlich, dass er an der Verschwörung beteiligt war. Unter dem Eindruck dieser schlimmen Ereignisse zog er sich 1513-- seiner Stellung entledigt und in prekärer wirtschaftlicher Lage-- totunglücklich aus dem öffentlichen Leben auf sein Landgut zurück. (Vgl. Zorn 1977, S. XXXII) Dort gab er sich politischen Reflexionen hin, aus denen das Traktat »Der Fürst« (1513) und sein politisches Hauptwerk »Discorsi« (1513-1522) entstanden. Die Schriftstellerei erfüllte ihn aber nicht, sodass er sogar erwog, Volksschullehrer in einer kleinen Gemeinde oder Sekretär eines Adligen zu werden. Erst die Mitgliedschaft in einem politisch-literarischen Klub eröffnete ihm wieder Zugang zu kleineren politischen Missionen im Auftrag der Medici. Durch seinen Gönner Kardinal Giulio de’ Medici bekam er 1520 von der Universität Florenz den Auftrag, die Geschichte der Stadt zu verfassen, die er 1525 als achtbändiges Werk vorlegte. Aber seine Leidenschaft blieb die politische Praxis. Er analysierte 1520 die politische Lage Italiens und gab dem Papst und allen einflussreichen Persönlichkeiten, mit denen er zusammentraf, den Ratschlag, Widerstand zu leisten und gegen die kaiserlichen Truppen von <?page no="128"?> 3. Entstehungskontext 129 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 129 Frankreich und Deutschland aufzurüsten. Er konnte allerdings mit seinem Vorschlag nicht durchdringen. (Vgl. Zorn 1977, S. XXXVII) Dennoch hatte Machiavelli mit seinen Einschätzungen völlig Recht gehabt, Rom und Florenz waren aufs Ärgste bedroht. »So sehen wir ihn Ende 1526 als Sonderbeauftragten beim Heer der päpstlichen Liga, ohne eigentlichen Auftrag, nur um Klarheit über die Lage zu bekommen.« (Zorn 1977, S. XXXVIII) Die päpstliche Liga brach allerdings zusammen und die Florentiner nutzten die Schwäche des Papstes, die ihnen verhasste Medici-Herrschaft zu stürzen und 1527 wieder die Republik auszurufen. Machiavelli war begeistert und bewarb sich sofort um die Sekretärsstelle des wiedererrichteten Kriegsrates. Aber fast alle Ratsherren waren gegen ihn und hielten ihn für einen Feind der Freiheit und ein Werkzeug der Medici. (Vgl. Zorn 1977, S. XXXIX) Seine Bewerbung wurde mit 555: 12 Stimmen abgelehnt. Ein ihn hart treffender Schlag, von dem er sich nicht mehr erholte. Noch 1527 starb er »arm, hilflos und voll Verzweiflung über die Geringschätzung, die er erfahren hat.« (Zorn 1977, S. XL) Zeitliches Mit dem Jahr 1500 wird die auf das Mittelalter folgende Epoche der Frühen Neuzeit datiert, die im Zeichen des Humanismus 8 gesehen und deren Ende mit der Französischen Revolution 1789 verbunden wird. (Vgl. Ploetz, S. 652) Bestimmte Ereignisse hätten dazu beigetragen, sich vom mittelalterlichen Denken und von mittelalterlichen Gesellschaftsstrukturen zu emanzipieren, so etwa die osmanische Eroberung Konstantinopels 1453, die europäische »Entdeckung« Amerikas 1492 und der Beginn der Reformation Martin Luthers 1517. Als einschneidende konstitutive Merkmale der europäischen Neuzeit gelten die Zunahme der Schriftlichkeit (befördert durch den Druck mit beweglichen Lettern ab 1450), die wachsende wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung des Bürgertums sowie der Aufbau von Flächenstaaten. (Vgl. Ploetz, S. 651) Innerhalb des europäischen Staatensystems verstärkten sich territoriale und nationale Kräfte. Im mittleren Teil Europas versuchten Fürsten und städtische Partikulargewalten die zerfallene kaiserliche Macht auszufüllen, während im Westen nationale Monarchien erstarkten. In England regierten fast absolutistisch seit 1485 die Tudors, zunächst durch Heinrich VII. und nachfolgend von 1506-1547 durch seinen Sohn Heinrich VIII. In Spanien bauten Isabella I. und ihr Mann Ferdinand II. 1474-1516 ein machtvolles Königreich auf. Frankreich konnte die Engländer im Hundertjährigen Krieg (1339-1453) erfolgreich abwehren. Der französische König Franz I. führte mehrere Kriege gegen die Habsburger. Das habsburgische Weltreich erlangte unter Karl V. (1519-1555/ 56) seine größte Ausdehnung. (Vgl. Ploetz, S. 671) Italien stand zu Lebzeiten Machiavellis unter dem Druck dieser Mächte. Es 8 Auf die Ziele und Grundgedanken des Humanismus wurde im Pico-Kapitel kurz eingegangen. <?page no="129"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 130 130 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli war in fünf größere staatliche Gebilde zerteilt: im Süden das Königreich Neapel, in Mittelitalien der Kirchenstaat, im Nordosten die Republik Venedig, im Nordwesten das Herzogtum Mailand und umgeben von den anderen die Republik Florenz. (Vgl. Zorn 1977, S. XIX) Keiner dieser Staaten war stark genug, die anderen zur Eingliederung zu zwingen. Und gegen den Kirchenstaat, das Gebiet des Papstes, zu kämpfen, wäre gleichzeitig ein Kampf gegen die gesamte katholische Kirche gewesen. (Vgl. Zorn 1977, S. XX) Unter den Herrschern kam es zu häufigen Machtwechseln, einzelne Parteien kämpften mit riesigem Gezänk um die Macht, die rivalisierenden Adelsgeschlechter lieferten sich blutige Fehden. »Überall herrschte Lug und Trug, nichts war berechenbar, es gab keine Sicherheit für Leib und Leben.« (Zorn 1977, S. XX) Unter diesen Bedingungen träumte nicht nur Machiavelli von einem geeinten, starken Italien, das den Mächten aus Deutschland, Frankreich und Spanien widerstehen konnte. (Vgl. Zorn 1977, S. XLI) Gesellschaftspolitisches Machiavelli lebte als Zeitgenosse Picos unter denselben gesellschaftspolitischen Verhältnissen und Eindrücken. Die mittelalterliche Gesellschaftsordnung, in deren politischen Mittelpunkt die Kirche stand, löste sich auf. Es existierten Einzelstaaten mit absoluter Herrschergewalt und Eigengesetzlichkeit. Die Instabilität der Herrschaft und ihre Kleinräumigkeit sorgten für ständige Unruhen im Inneren und Bedrohungen von Außen. Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit basierte auf einer feudalen Grundstruktur. Das bedeutet, dass alle Herrschaftsfunktionen von der über Grundbesitz verfügenden aristokratischen Oberschicht ausgeübt wurden. Die Wirtschafts- und Gesellschaftsform beruhte auf dem Lehnswesen. Jedoch waren die Geldwirtschaft und das Bankwesen in den Händen des Bürgertums, das durch internationalen Handel zu beträchtlichem Wohlstand gelangte und damit auch politischen Einfluss geltend machte. Die Strömungen des Humanismus und der Renaissance stehen für einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess, in dem das Individuum durch die Wiederentdeckung der klassischen Antike, durch künstlerische und wissenschaftliche Naturerfahrung seinen Eigenwert als irdische und historische Persönlichkeit erkannte und ihm Ausdruck verlieh. (Vgl. Ploetz, S. 657) Diese Neubestimmung des Selbstwertgefühls des Menschen muss auch vor dem Hintergrund verstanden werden, dass sich allmählich eine neue Elite durchzusetzen begann. »So ist der Renaissancehumanismus Italiens im 15. Jh. zugleich Ausdruck und Programm der politischen Macht der italienischen Städte. Die politischen Machtzentren und die sie Regierenden finden darin ihren künstlerischen wie ideologischen Ausdruck. Denn Renaissance und Humanismus sind auch, vor allem für Italien, nationale Bewegungen und historisch-ideologische Legitimation.« (Ploetz, S. 659) <?page no="130"?> 4. Interpretation 131 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 131 Die italienischen Städte waren produzierende Städte im Gegensatz zu den antiken Stadtstaaten, die auf Konsum ausgerichtet und für ihre Existenz auf Importe angewiesen waren. Die Produktivkraft der Städte Italiens erzeugte ein Bürgertum, das sich eine eigene Ideologie, den Bürgerhumanismus, zur Abgrenzung von der etablierten Elite schaffen konnte. Die Reformationsbestrebungen, wie etwa Martin Luther in Deutschland (ab 1517) oder Ulrich Zwingli in der Schweiz (seit 1522), zeigen, dass Aufstand und Unruhe selbst innerhalb der Kirche um sich griffen. (Vgl. Ploetz, S. 659) 4. Interpretation Der oben abgedruckte Primärtext stammt aus den »Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio« (dt. »Erörterungen über die erste Dekade des Titus Livius«), kurz »Discorsi« genannt. Wie oben beschrieben, war die Staatenwelt zu Machiavellis Lebzeiten instabil. Ständige Machtwechsel und Parteikämpfe prägten die politische Lebenswelt. Diese Erfahrungen sind der Ausgangspunkt der »Discorsi«. Das Werk beginnt mit den Worten: »Neue Einrichtungen zu treffen oder neue Staatsordnungen zu schaffen, ist bei der neidischen Natur der Menschen immer ebenso gefährlich gewesen wie die Entdeckung unbekannter Meere und Länder; denn die Menschen neigen mehr dazu, die Handlungen anderer zu tadeln, als zu loben.« (Machiavelli, Dis, S. 4) 9 Die politische Wirklichkeit forderte Machiavelli heraus, sich intellektuell mit der Einrichtung politischer Ordnungen zu beschäftigen. Was ihn wundert, ist, dass »bei der Einführung freistaatlicher Verfassungen, bei der Erhaltung staatlicher Selbständigkeit, bei der Regierung von Königreichen, bei der Einrichtung des Heerwesens, bei der Kriegführung, bei der Rechtspflege und bei der Erweiterung der Herrschaft kein Herrscher, kein Freistaat, kein Feldherr und kein Bürger auf die Beispiele früherer Zeiten zurück[greift]« (Machiavelli, Dis, S. 5). Machiavelli möchte mit seiner Schrift die Politiker aufklären, indem er anhand historischer Erfahrungen zeigt, welche Maßnahmen zu stabilen politischen Verhältnissen geführt haben. Was verspricht er sich davon? Zum einen möchte sich Machiavelli den Medici als politischer Berater empfehlen und zum anderen dem Gemeinwohl dienen. »Da es aber meiner natürlichen Veranlagung entspricht, stets ohne Rücksicht alles zu tun, was nach meiner Ansicht für das Allgemeinwohl von Nutzen ist, habe ich mich entschlossen, einen Weg zu beschreiten, den noch niemand gegangen ist«. (Machiavelli, Dis, S. 4) Was macht Machiavelli anders als Pico della Mirandola? Immerhin hat dieser fast gleichzeitig gelebt, wird aber ideengeschichtlich dem Mittelalter zugeordnet, während Machiavelli bereits als Denker der Frühen Neuzeit gilt. 9 Zitate aus Machiavellis »Discorsi« sind im Folgenden mit »Dis« als Kürzel der Ausgabe von 1977 angegeben. <?page no="131"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 132 132 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli Pico knüpft noch eindeutig an die mittelalterliche Philosophie an. Er versteht sich als Philosoph und beschäftigt sich intensiv mit philosophischen Fragen, so suchte er die Lehren Platons und Aristoteles’ sowie viele weitere philosophische und theologische Ansätze miteinander zu vereinen. Machiavelli hingegen hat sich vollständig von der mittelalterlichen Scholastik 10 emanzipiert, bemüht sich in keiner Weise in seinem politiktheoretischen Denken daran anschlussfähig zu sein oder wenigstens zu erscheinen, sondern er geht- - wie Aristoteles- - von der Wirklichkeit aus und leitet seine Argumente aus der Erfahrung (Empirie) ab und stellt sein Denken in den Dienst der politischen Praxis. Mit den »Discorsi« wendet sich Machiavelli an die Mächtigen, die an einer dauerhaften Herrschaft interessiert sind. An der römischen Geschichte und auf der Grundlage seiner vierzehnjährigen politischen Praxiserfahrung im Amt des Sekretärs für Kriegswesen und auswärtige Angelegenheiten möchte er zeigen, welche politischen Entscheidungen der Geschichte im Sinne des dauerhaften Regierens nachahmenswert sind und welche nicht. Deshalb orientiert er sich in den »Discorsi« an den ersten zehn Büchern der römischen Geschichte des Historikers Livius (59 v. Chr.-17 n. Chr.). Die »Discorsi« selbst sind in drei Bücher gegliedert. Das erste Buch widmet sich der inneren Verfassung des römischen Staates. Das zweite befasst sich mit dessen Außenpolitik und das dritte Buch beschäftigt sich mit der Frage, wie es einzelnen Machthabern gelungen ist, das politische Gemeinwesen des römischen Staates zu stabilisieren. Der Primärtextauszug stammt aus dem ersten und dritten Buch. Gleich zu Beginn des ersten Buches macht Machiavelli deutlich, worum es ihm geht: um das Glück eines Volkes. Glücklich sei ein Volk, wenn es lange Zeit unter einer staatlichen Ordnung sicher leben könne, die von guten und von weisen Menschen gegebenen Gesetzen getragen würde. Es geht also um ein sicheres Leben aller über einen möglichst langen Zeitraum. Dieses Ziel einer stabilen Herrschaft werde durch gute Gesetze erreicht, die nur aus weisen Überlegungen resultieren könnten. Gesetze, die aus eigennützigen Überlegungen entstanden und ungerecht seien, etwa durch einen fremden Herrscher, der einen Staat erobert hat, würden nicht zur Stabilisierung seiner Herrschaft beitragen. Die Menschen bzw. das Volk sei nicht dazu da, den Willen Gottes zu erfüllen und auch nicht, um einer Aristokratie ein Leben in Macht und Reichtum zu ermöglichen. Machiavelli lässt offen, welchen Sinn das Leben der Menschen haben könnte. Ihm geht es darum, die Bedingungen zu erkennen, die ein friedliches Zusammenleben der Bürger ermöglichen. Die friedlichen Verhältnisse sind für ihn die Grundlage für ein glückliches Leben. Der Weg zu stabilen, friedlichen Verhältnissen führt seiner Ansicht nach nicht über die Festlegung einer bestimmten Staatsform. Er erteilt der Hoffnung eine Absage, dass es eine »richtige« Staatsform gäbe, unter der die Menschen für immer glücklich leben könnten. Dies versucht er am »Kreislauf der Staatsformen« zu zeigen. Ausgangspunkt ist die Staatsformenlehre der drei guten Verfassungstypen und ihrer Entartungen von Aristoteles. 10 Der Begriff »Scholastik« wurde im Marsilius-Kapitel erläutert. <?page no="132"?> 4. Interpretation 133 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 133 Den »Kreislauf der Staatsformen« beschreibt Machiavelli im Rahmen einer fiktiven Geschichte, ähnlich einer Schöpfungsgeschichte: »[A]m Anfang der Welt, als es noch wenig Menschen gab, lebten diese zerstreut, ähnlich den wilden Tieren.« (Primärtext) Er beginnt seine Theorie mit der Vorstellung, dass sich die Menschen zunächst der Stärke unterwarfen und sich dann vom Gesetz leiten ließen. Hierin markiert er den Unterschied zwischen Mensch und Tier. Im »Fürsten« unterscheidet Machiavelli grundsätzlich zwei Arten der Auseinandersetzung: die mit Hilfe des Rechts und die mit Gewalt. Die erste entspräche dem Menschen, die zweite den Tieren. (Vgl. Machiavelli, Fürst, 1978, S. 71) Der Ursprung der Bestimmung des Oberhauptes einer Gesellschaft sei die Wahl. Ab hier fährt die Geschichte fort zu erklären, wie es zu dem Kreislauf der Staatsformen kommt. Denn aus irgendwelchen Gründen wurde das Oberhaupt nicht mehr durch Wahl, sondern durch Erbfolge bestimmt. Warum soll diese Verfahrensänderung der Anstoß dafür sein, dass die Erben sofort zu entarten beginnen? Das erklärt er an dieser Stelle nicht, aber es liege in der Natur der Wahl, dass es den Wählern möglich sei, aus mehreren Kandidaten den ihrer Meinung nach Verständigsten und Gerechtesten auszusuchen. Es würden sich auch nur Kandidaten aufstellen lassen, die sich für verständig und gerecht, also der Wahl des Volkes für würdig erachteten. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 65) Bei der Erbfolgeregelung müsste man mit dem zufrieden sein, der da zufällig als Thronfolger auf die Welt käme, auch wenn er einfältig und unfähig wäre. Der Gesellschaft fehlte die Kontrolle über die Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Oberhauptes. Einem Herrschafts- Erben wäre auch nicht zwingend bewusst, worin er sich zu bewähren hätte. Die Herrschaft wäre ihm in die Wiege hineingelegt. Den Sinn seiner Herrschaft gäbe sich der Erbe selbst. So könnte er auch glauben, dass die Herrscher nichts weiter zu tun hätten, als die anderen an Prunk, Zügellosigkeit und jeder Art von Lüsten zu übertreffen. Mit einem solch ehrlosen Lebenswandel brächte er sich bei den mächtigen und angesehenen Persönlichkeiten im Volk in Misskredit. Um sich vor ihrem Hass zu schützen, müsste der Herrscher Gewalt anwenden. Damit würde er zum Tyrannen. Es wären die mächtigen Persönlichkeiten, die gemeinsam mit dem Volk den Tyrannen zu Fall brächten. Die mächtigen Persönlichkeiten übernähmen die Regierung nach Recht und Gesetz und ordneten ihren eigenen Vorteil dem Gemeinwohl unter. Es wäre die Herrschaft der Vornehmen. Und wieder wäre es die Erbfolge, die der aristokratischen Herrschaft ein Ende setzte und sie zur Oligarchie entarten ließe, die sich von der Tyrannis nur darin unterscheiden würde, dass die Gewalt gegen das Volk nicht von einem, sondern von einigen wenigen ausgeübt würde. Wiederum mit der Macht des Volkes unter der Führung eines Mannes würden die Oligarchen beseitigt. Aber unter dem Eindruck des ehemaligen Tyrannen und in Erinnerung an die unter ihm erlittenen Ungerechtigkeiten, würde eine Volksherrschaft errichtet. Da aber in einer Volksherrschaft, nach der Interpretation Machiavellis im Einklang mit den griechischen Philosophen, jeder nach seiner Art lebte- - statt nach guten allgemeinen Gesetzen-- und sich deshalb die Bürger täglich tausend Ungerechtigkeiten <?page no="133"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 134 134 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli zufügten, käme es mit der Zeit zur Anarchie. Dieser überdrüssig, kämen die Bürger entweder unter den Einfluss eines redlichen Mannes-- mit dessen Regierung Machiavelli vermutlich die Monarchie in Verbindung bringt- - oder gerieten unter die Herrschaft eines Fürsten, der sich zum Tyrannen entwickelte, womit sich der Kreis der Staatsformen schließt und wieder beginnt. Als historische Beschreibung würde dieses Kreislaufmodell der Staatsformen nicht dienen können. Aber das ist auch nicht Machiavellis Intention. Er möchte mit dieser Geschichte zeigen, dass die reinen Verfassungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie der Realität menschlichen Zusammenlebens nicht gerecht werden könnten, sonst würden sie nicht zur Tyrannis, Oligarchie und Anarchie entarten. Die Bürger kämen allerdings nicht drum herum, in einer staatlichen Ordnung zu leben. Den Zustand der Anarchie hält Machiavelli für untragbar, um ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen. Durch welche Verfassung könnte der »Kreislauf der Staatsformen« durchbrochen werden? Machiavelli schlägt eine Mischform der drei Staatsformen vor, in der Fürst, Adel und Volk zur Regierung vereinigt sind und sich gegenseitig in Schach halten. Für die Mischform charakteristisch ist die Beteiligung aller gesellschaftlichen Mächte an der Politik und die damit verbundene gegenseitige Machtkontrolle. Ein Staat müsse für alle gesellschaftlichen Kräfte-- insbesondere für das Volk-- Mittel und Wege haben, sich Luft machen zu können, vor allem, wenn der Staat sich in Form von Dienstleistungen (z. B. Wehrdienst) oder Steuern beim Volk bediene. Hinter der Idee dieser Mischform steckt die Annahme, dass eine Gesellschaft grundsätzlich durch diese Kräfte strukturiert sei und sich deshalb keine dieser Kräfte auf Dauer alleine durchsetzen könne. Und die klassischen Staatsformen repräsentieren eben immer nur entweder den Alleinherrscher, die Vornehmen oder das Volk, weshalb sie bereits den Keim ihrer Entartung in sich tragen, weil sich keine der Kräfte auf Dauer mit Ohnmacht abfinden würde. Was die politische Ordnung gewährleisten müsse, sei der Konfliktaustrag zwischen den gesellschaftlichen Mächten, aus dem Gesetze hervorgehen würden, denen sich alle zu beugen hätten. Für Machiavelli repräsentieren diese »guten Gesetze« das Gemeinwohl und geben den Bürgern Freiheit. Sie entstehen in der Auseinandersetzung zwischen dem Volk und »den Großen«. Wenn sich jede Partei an die guten Gesetze hielte, herrschte Gerechtigkeit. Diese steht für Machiavelli in Zusammenhang mit Recht und Gesetz. Es gibt für ihn keine absolute, inhaltlich definierbare Gerechtigkeit. Gerecht sei, was unter Berücksichtigung aller gesellschaftlichen Kräfte-- die zusammen das Allgemeine repräsentierten-- als Recht gesetzt würde und die Gesellschaft befriedete. Dass allen Bürgern durch die Verfassung Freiheit garantiert würde, ist für Machiavelli ein unverzichtbares Element einer Staatsform. Damit sagt er nicht, dass alle Bürger in einer Gesellschaft gleich frei und gleich vermögend sein müssten. Aber eine Staatsform, die einem Teil der Gesellschaft- - wohlmöglich der Mehrheit- - keinerlei Mitbestimmungsmöglichkeiten gewährte und in völliger Versklavung und Unterdrückung <?page no="134"?> 4. Interpretation 135 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 135 hielte, wäre niemals von Dauer. Doch in wessen Hände soll ein Verfassungsgeber den Schutz der Freiheit legen: in die Hände des Adels oder des Volkes? Bei der Diskussion dieser Frage, wird Machiavellis empirische-- also an der politischen Wirklichkeit orientierte-- Art zu argumentieren besonders deutlich. Er unterscheidet eine vernünftige Argumentation von einer aus der Perspektive des Erfolgs, den er selbstverständlich durch die Dauer einer Herrschaft definiert. Dabei bezieht er sich auf historische Beispiele, nämlich die Venedigs, Spartas und Roms. Rom hatte den Schutz der Freiheit in die Hände des Volkes, d. h. in die der Volkstribunen gelegt und Venedig und Sparta in die der Mächtigen. Nach dem Kriterium des Erfolgs müsse man den Schutz der Freiheit in die Hände des Adels legen, weil Venedig und Sparta länger bestanden hätten als Rom und damit erfolgreicher gewesen seien. Aus Sicht der Vernunft könne man für beide Lösungen argumentieren. Es komme darauf an, ob ein Staat nach Expansion oder nach Erhalt des Status quo strebe. »Im ersten Fall muß man in allem wie Rom handeln, im zweiten kann man Venedig und Sparta nachahmen.« (Primärtext) Machiavelli versucht die Sachlage politischer Gemeinwesen nüchtern und rein analytisch-- also ohne Bezug auf das Wünschbare-- zu betrachten. Aus der Erfahrung der Geschichte leitet er sein Menschenbild ab, das im Vergleich zu anderen Philosophen ziemlich negativ erscheint. Das Fazit seiner Betrachtungen über das Wesen des Menschen im »Fürst« lautet: »Denn von den Menschen kann man im allgemeinen sagen, daß sie undankbar, wankelmütig, verlogen, heuchlerisch, ängstlich und raffgierig sind.« (Machiavelli, Fürst, 1978, S. 69) In den »Discorsi« hält er in den ersten Kapiteln fest: »Alle, die über Politik schrieben, beweisen es, und die Geschichte belegt es durch viele Beispiele, daß der, welcher einem Staatswesen Verfassung und Gesetze gibt, davon ausgehen muß, daß alle Menschen schlecht sind und daß sie stets ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben.« (Machiavelli, Dis, S. 17) Nur von der Not gezwungen, täten die Menschen etwas Gutes. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 18) Das Ziel der Menschen sei Ruhm und Reichtum zu erwerben. Das sei der Grund all ihrer Anstrengungen und Herrschaftsbestrebungen. (Vgl. Machiavelli, Fürst, 1978, S. 104) Die Einrichtung eines Staatswesens müsse auf solche Menschen passen und die Schlechtigkeit ihrer Natur so ausgleichen, dass im Großen und Ganzen Frieden herrsche. Und da in einem Gemeinwesen nicht alle Menschen zu Ruhm und Reichtum gelangen könnten, werde es immer Besitzlose und Besitzende geben, zwischen denen eine große Spannung herrsche. In der Frage, welche Bürger in einem Staatswesen schädlicher seien, nämlich die, welche etwas erwerben wollen, oder die, welche das Erworbene zu verlieren fürchten, argumentiert Machiavelli wiederum mit Beispielen aus der politischen Wirklichkeit. Zunächst gilt es zu klären, worin die Schädlichkeit von Bürgern für ein Staatswesen überhaupt bestehen soll. Für Machiavelli erweisen sich Bürger dann für einen Staat als <?page no="135"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 136 136 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli schädlich, wenn sie mittels Aufstände und Unruhen seine Stabilität gefährden. Es scheint, dass er die Besitzenden für die schädlichere Kategorie Bürger in einem Gemeinwesen hält, weil sich empirisch zeigen ließe, dass die meisten Umwälzungen von dieser Gruppe verursacht würden. Der Antrieb für Unruhen sei das Verlangen nach Besitz. Und dieses sei sowohl bei den Besitzlosen als auch den Besitzenden vorhanden, denn die Furcht zu verlieren, erwecke bei ihnen das gleiche Verlangen wie bei denen, die etwas erwerben wollen. »Glauben die Menschen doch, ihren Besitz nur dann sicher zu haben, wenn sie von anderen etwas hinzuerwerben.« (Primärtext) Zudem verfügten die Besitzenden für Umwälzungen über mehr Macht und Durchschlagskraft und ihr »verbrecherisches und herrschsüchtiges Verhalten« (Primärtext) löse überhaupt erst bei den Besitzlosen das Verlangen nach Besitz aus, einerseits um Rache für die Plünderungen zu nehmen und andererseits um einen als gerecht empfundenen Ausgleich herzustellen, indem sie sich selbst an Besitz und Ämtern bereicherten, was die anderen missbräuchlich bereits getan hätten. Es erscheint nicht einfach, unter diesen Voraussetzungen für friedliche und stabile Verhältnisse unter den Bürgern zu sorgen. Damit ein Staat möglichst lange stabil bleiben könne, müsse er sich gemäß Machiavelli häufig erneuern können. Er sollte so eingerichtet sein, dass seine Institutionen in der Lage wären, die Konflikte zwischen den gesellschaftlichen Kräften in gute-- dem Allgemeinwohl dienende und Freiheit fördernde-- Gesetze münden zu lassen. »Es ist klarer als der Tag, daß solche Gemeinschaften ohne Erneuerung nicht von Dauer sind.« (Primärtext) Ein Mittel zur Erneuerung sei, die Gemeinschaft möglichst oft zu ihren Anfängen zurückzuführen. Denn es müsse mal ein guter Grund gewesen sein, weshalb sie sich in ihrer Art und Weise gegründet und durchgesetzt habe. Die Besinnung auf den Ursprung der Verfassung würde die Orientierung geben, um Fehlentwicklungen festzustellen und würde die kollektive Kraft und Legitimation (Rechtfertigung) verleihen, diesen entgegenzuwirken. Machiavellis Formel könnte lauten: die Stabilität der gesellschaftspolitischen Verhältnisse wird durch eine Verfassungsform erreicht, die Mechanismen zum Ausgleich innergesellschaftlicher Konflikte enthält und die auf äußere Einflüsse zügig und zweckmäßig reagieren kann, die also eine starke Integrationskraft nach innen und eine hohe Anpassungsfähigkeit nach außen ermöglicht. Die Kunst des Politischen besteht für Machiavelli darin, die gesellschaftspolitische Ordnung-- also nicht zwingend die Staatsform-- mit allen Mitteln stabil zu halten. Dies ist sein normativer Anspruch an Herrschaft. Es geht gerade nicht um die Erfüllung politischer oder religiöser Werte und Ideologien. Im Gegenteil, diese hält er als zwingende Vorgaben für das Regieren für schädlich, weil sie die Flexibilität des Regierens einschränkten. Analytisch betrachtet, sieht Machiavelli in der Politik zunächst nichts anderes als einen ethisch indifferenten Interessen- und Machtkampf. Die Schlechtigkeit der Natur des Menschen vereitelte im Grunde die Verwirklichung ethischer Forderungen. Weil prinzipiell nicht realisierbar, verwirft er jeglichen Illusionismus und Utopismus. Allerdings enthält seine <?page no="136"?> 4. Interpretation 137 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 137 politische Theorie auch ein utopisches Moment: dass Herrschende den Verstand und die Vernunft besäßen einzusehen, dass sie ihre Macht mit dem Volk teilen müssen, um ihre Herrschaft zu erhalten. Die Teilhabe des Volkes an der Macht widerspricht nämlich dem Wunsch »der Großen«, das Volk zu beherrschen. Machiavellis amoralische (also nicht unmoralische) Sichtweise des Politischen-- unter der Verkennung des utopischen Elements seiner politischen Theorie- - hat ihm viel Unverständnis und Verachtung eingebracht. Die Kirche setzte 1557 den »Fürsten« und die »Discorsi« auf den Index. (Vgl. Zorn 1978, S. XIII) Sie konnte nicht akzeptieren, dass Machiavelli der Politik zugestand, im Selbsterhaltungsinteresse des Staates die Forderungen der Kirche und der Moral außer Acht zu lassen. Zudem störte sie sich an seiner auf Erfahrung und Tatsachen beruhenden (empirischen) Denkweise. Mit der Indizierung des »Fürsten« setzte auch die Diffamierung des Namens Machiavelli ein. »Machiavelli« wurde zum Schimpfwort und noch heute steht das Wort »Machiavellismus« für eine durch keine moralischen Bedenken gehemmte Machtpolitik. Es entstanden auch Gegenschriften zum »Fürsten«; im 16., 17. und 18. Jahrhundert wurde der »Fürst« zum Musterbuch aller Schlechtigkeit und Machiavelli zum Gipfelpunkt aller Gewissenlosigkeit im politischen wie privaten Leben. (Vgl. Zorn 1978, S. XV) Der preußische Kronprinz Friedrich verfasste 1739 die Streitschrift »Anti-Machiavel«, aber später, als er Friedrich von Preußen war, schrieb er im Vorwort »Zur Geschichte seiner Zeit«: »Es tut mir leid, aber ich bin gezwungen zu gestehen, daß Machiavelli recht hat.« (Zit. nach Zorn 1978, S. XV) Absurderweise haben sich Diktatoren wie Hitler und Mussolini auf Machiavelli berufen, was sich nur damit erklären lässt, dass sie ihn missverstanden haben. Sein Verfassungsideal ist im Grunde die Republik, weil sie es zulässt, alle gesellschaftlichen Kräfte an der Macht zu beteiligen und für inneren Frieden zu sorgen. Allerdings ist für ihn nicht die Frage, ob eine Verfassungsform gut oder schlecht, sondern ob sie unter den gegebenen Verhältnissen zweckmäßig ist. Nur die Tyrannis lehnt er grundsätzlich als mögliche Verfassungsform ab. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 39 ff.) Machiavelli war kein Machiavellist. Machiavelli war daran interessiert, dass das Zusammenleben der Menschen funktioniert und ist damit eher als Technokrat zu verstehen. An einer Stelle spricht er von der »Inganghaltung der Staatsmaschine« (Machiavelli, Dis, S. 131). Es war ihm persönlich gleichgültig, wer zu seiner Zeit herrscht (Medici, Savonarola, Soderini), Hauptsache die Herrschaft trägt zum Allgemeinwohl bei und ist in der Lage, Frieden, also Stabilität im Staat zu garantieren. Seine persönliche Stärke war es, die politische Lage sachlich zu analysieren und dem Herrscher rationale Ratschläge zu erteilen, welche politischen Entscheidungen geboten wären, um dessen Herrschaft und das Wohl des Staates zu erhalten. Krieg zu führen, könnte dazu ein notwendiges Mittel sein. Und weil er sich für einen exzellenten politischen Berater hielt, »konnte [er] es nicht fassen, nur wegen der Änderung der Leitung der Republik amtsenthoben zu werden, nachdem er doch 14 Jahre lang mehr als seine Pflicht erfüllt hatte.« (Zorn 1978, S. XI) <?page no="137"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 138 138 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli In welchem Verhältnis stehen Staat, Religion, Volk und Individuum in der politischen Theorie Machiavellis? Das Verhältnis wird von seinem Menschenbild und seiner Sicht auf die Realität bestimmt. Die Ausgangsbasis menschlichen Zusammenlebens ist nach Machiavelli Instabilität und Unsicherheit, weil die Menschen nach Ruhm und Reichtum strebten, ehrgeizig und misstrauisch seien und sich im Glück nicht zu mäßigen wüssten (vgl. Machiavelli, Dis, S. 83), weil sie alles begehrten, aber nicht alles erreichen könnten (vgl. Machiavelli, Dis, S. 101) und sich gegenseitig zu übervorteilen suchten. Darin seien die einen erfolgreicher als sie anderen, weshalb es in jeder Gesellschaft »mächtige Männer und ohnmächtiges Volk« (Primärtext) gäbe. Der Adel trachte danach, das Volk zu beherrschen und das Volk habe das Verlangen nicht beherrscht zu werden. (Vgl. u. a. Machiavelli, Dis, S. 113) Nach Machiavelli ist es die Einrichtung einer Verfassung, die als übergeordnete Instanz dieses permanente Spannungsverhältnis zwischen den Mächtigen und dem Volk in friedliche Bahnen lenken soll. Das Gemeinwesen müsse so eingerichtet sein, dass es Mechanismen enthält, für alle gesellschaftlichen Kräfte Freiheit zu gewähren und dies beinhalte auch die Möglichkeit, dass jeder bei einer anerkannten Instanz Anklage erheben könne, wenn ihm Unrecht widerfahren sei. »Nichts macht daher einen Staat geschlossener und dauerhafter als eine Einrichtung, durch welche sich die Erregung, die aus solchen Mißhelligkeiten entsteht, auf gesetzlichem Wege entladen kann.« (Machiavelli, Dis, S. 29) Diese Anforderung soll die Mischverfassung erfüllen. Die Verfassung werde von dem Prinzip getragen, dass sich politisches Handeln nach Recht und Gesetz zu vollziehen hätten. Dies beinhaltet, dass sich auch die Mächtigen an die Gesetze halten sollten. »Denn ich glaube nicht, daß man in einem Staat ein schlechteres Beispiel geben kann, als ein Gesetz zu erlassen und es nicht zu beachten; das schlimmste aber ist, wenn der Gesetzgeber selber es nicht einhält.« (Machiavelli, Dis, S. 120) An anderer Stelle hält er fest, dass »ein Staatsoberhaupt, das tun kann, was es will, wahnsinnig [ist], und ein Volk, das tun kann, was es will, nicht weise [ist].« (Machiavelli, Dis, S. 152) Zu einem zügellosen, aufrührerischen Volk könne wenigstens noch ein Mann mit rechter Gesinnung sprechen, um es auf den rechten Weg zurückführen, aber gegen einen schlechten Alleinherrscher helfe nur noch der Dolch. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 153) Nur Gesetze, die aus den Auseinandersetzungen zwischen den Mächtigen und dem Volk hervorgehen, seien »gute Gesetze«. Nur ein flexibler Staat vermöge auf Dauer stabil zu sein. Dies würde den Verzicht des Adels auf das Erbfolgerecht zugunsten des Wahlrechts bedeuten. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 41) Die Führung der Staatsgeschäfte obliege nach Machiavelli dem Adel, da er die zwingende Neigung besitze, zu herrschen und sich auf Dauer nicht davon abhalten ließe. Durch Wahl, die alle Bürger 11 des Gemeinwesens besäßen, könnten unfähige Staatsführer friedlich 11 Auch Machiavelli versteht, wie seine Vorgänger, unter »alle« nicht alle Menschen in einem Gemeinwesen, sondern diejenigen, die den Bürgerstatus besitzen, also beispielsweise nicht die Frauen, Taglöhner und Knechte. <?page no="138"?> 4. Interpretation 139 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 139 abgesetzt werden. Die Herrschenden müssten der Einsicht folgen, dass eine Herrschaft nur in einem Staat, der Freiheit für »alle« Bürger gewährleistete und sich damit an der Allgemeinheit orientierte, von Dauer sein könne. Und dies sei das vorgeschriebene Ziel von Herrschaft: für dauerhaft friedliche Verhältnisse zu sorgen, was nur ein starker und stabiler Staat vermöge. Die Staatsräson müsse sowohl im Inneren wie nach außen verteidigt werden. Zur Stärkung des Staates von innen rät Machiavelli den Herrschenden, sich der Religion zu bedienen. Sie sei die unentbehrlichste Stütze der Zivilisation. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 43 ff.) 12 Religion ist für Machiavelli-- wie für Marsilius- - Privatsache, aber die Staatsautorität könne sich nach innen besser behaupten, wenn sie sich auf Tradition und Religion stützen und in friedlichen Zeiten den Anschein erwecken würde, nach ethischen und moralischen Grundsätzen der Zeit zu handeln. Dies bedeutet, dass die Religion das politische Handeln nicht grundsätzlich bestimmen darf, was wiederum der Flexibilität des Staates geschuldet ist. Denn in Krisen- und Notzeiten müsse ein Herrscher in der Lage sein-- frei von ethischen und moralischen Vorschriften-- jegliche Mittel, die angemessen erscheinen, zu ergreifen, um den Staat zu erhalten. Der Herrscher soll »vom Guten so lange nicht [abgehen], als es möglich ist, aber im Notfall auch verstehen, Böses zu tun.« (Machiavelli, Fürst, 1978, S. 73) Das Mittel der Gewalt wäre demnach kein ständiges Handlungsprinzip des Staates, sondern nur ein legitimes Mittel, wenn die friedliche Ordnung bedroht wäre oder hergestellt werden müsste. Neben der Religion dient für Machiavelli der Nationalismus 13 der inneren Stärkung des Staates. Sein politisches Ziel war die Einigung Italiens: »Wir sehen, wie es (das italienische Volk, M. K.) Gott bittet, er möge ihm einen Mann schicken, der es von den Grausamkeiten und Gewalttätigkeiten der Barbaren (Frankreich und Deutschland, M. K.) befreit. Wir sehen auch, daß es durchaus bereit und willens ist, einem Banner zu folgen, wenn nur ein Mann da ist, der es ergreift.« (Machiavelli, Fürst, 1978, S. 107) Der Nationalismus solle das Volk dazu antreiben, zum Wohle des Gemeinwesens in den Krieg zu ziehen. Machiavelli ist der Überzeugung, dass eine Milizarmee zur Sicherung der Staatsräson nach außen einem Söldnerheer weit überlegen sei. (Vgl. u. a. Machiavelli, Dis, S. 117) Der Schlüssel dazu ist für Machiavelli die Tugend des Mutes und der Tapferkeit (virtu), durch die er die Idee des Nationalismus auflädt. Während die Söldner nur kämpften, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, würden sich die Bürger für die Allgemeinheit und ihre Ehre im Krieg 12 Die Missachtung der religiösen Kulte sei das schlimmste Zeichen für den Verfall eines Landes. Die Herrschenden müssten alles, was für die Religion spricht, unterstützen und fördern, auch wenn sie es inhaltlich für falsch hielten. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 47) Der Glaube versetze die Menschen in die Lage, Zuversichtlich zu sein, Entbehrungen zu ertragen und über sich hinaus zu wachsen. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 53 f.) 13 Mit »Nationalismus« ist hier aber noch nicht die Art des Nationalismus im Zusammenhang des modernen Nationalstaates gemeint, weil es zu Machiavellis Zeiten noch keine Massengesellschaften gab. <?page no="139"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 140 140 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli einsetzen. »Daher gilt es, solche Truppen (Volkstruppen, M. K.) aufzustellen, um mit italischer Tüchtigkeit die fremden abwehren zu können.« (Machiavelli, Fürst, 1978, S. 109) Der Erfolg eines Gemeinwesens ist damit nicht mehr vom Glück (Fortuna) oder Gottes Gnade abhängig, sondern durch Mut kann eine Gemeinschaft ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Sein Traktat endet pathetisch mit den Worten: »Welcher Italiener würde ihm (dem Befreier Italiens, M. K.) die Huldigung versagen? Jeden ekelt die Herrschaft der Barbaren an. So übernehme denn euer erlauchtes Haus (die Medici, M. K.) diesen Auftrag mit dem Mut und mit der Hoffnung, die eine gerechte Sache beseelen, damit unter seinem Banner unser Vaterland wieder zu Ehren komme und unter seinem Schutz das Wort Petrarcas Wahrheit werde: ›Mannesmut wird gegen die Wut der Feinde zu den Waffen greifen; kurz wird der Kampf sein. Denn die alte Tapferkeit ist in den Herzen der Italer noch nicht erloschen.‹« (Machiavelli, Fürst, 1978, S. 110) Was ist im Vergleich zu den vorhin bearbeiteten Theoretikern das Besondere an Machiavellis Denkweise? Markiert er einen Denkumbruch? Marsilius von Padua »befreit« in seiner politischen Theorie den Staat aus den Fängen der Religion, verdrängt diese in die Privatsphäre, setzt die »Volkssouveränität« (im eingeschränkten Sinne) als neue Legitimationsgrundlage des Staates anstelle der Legitimation durch Gott und postuliert, dass Politik für »alle« nützlich sein soll, indem sie für ein gutes Leben der Bürger sorgt. Pico della Mirandola bestimmt die Natur des Menschen neu, indem er dem Menschen einen freien Willen zuspricht, der ihm zur Selbstverwirklichung dienen soll, wodurch das Individuum im Vergleich zum mittelalterlichen Menschenbild eine Aufwertung erfährt. Machiavellis auf Erfahrung und Tatsachen beruhende Denkweise steht in der aristotelischen Denktradition und die mittelalterlichen Fürstenspiegel als Lehrschriften für Könige und deren Söhne mögen Machiavelli zu der spezifischen Form seiner Schriften inspiriert haben, aber die analytische, amoralische Herangehensweise, die Verknüpfung von politischer Theorie mit der Geschichte der politischen Wirklichkeit und den eigenen Erfahrungen aus der politischen Praxis sowie die Staatsraison als Ziel von Herrschaft sind für seine Zeit einzigartig und in der Ideengeschichte ein Meilenstein. Worin besteht Machiavellis Beitrag zur Entwicklung der Idee der Demokratie? Machiavelli nennt die Verfassungsform, die allen gesellschaftlichen Kräften eine Beteiligung an der Politik einräumt, »Republik«. Dabei macht er keine konkreten Angaben, wie eine republikanische Staatsform im Detail eingerichtet sein müsste, damit die Beteiligung des Volkes und der Mächtigen garantiert wäre. Allerdings arbeitet er aus der Geschichte Grundbedingungen heraus, die seiner Ansicht nach für die Stabilität republikanischer Staatsformen förderlich gewesen sind. So hielten wohlgeordnete Republiken den Staat reich und ihre Bürger arm. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 101) Armut führe zur Zufriedenheit, fördere die Seelengröße und Recht- <?page no="140"?> 4. Interpretation 141 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 141 schaffenheit der Bürger. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 357) Und Rechtschaffenheit und Frömmigkeit im Volk förderten die Existenz freier Staaten. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 141) Machiavelli hält die damaligen Deutschen für ein solch rechtschaffenes Volk und begründet dies so: Erstens hätten sie geringen Handelsverkehr mit ihren Nachbarn unterhalten, sodass sie von den schlechten Sitten ihrer Nachbarvölker keine Kenntnis bekommen hätten. Zweitens duldeten sie keine Edelleute unter den Mitbürgern. »Ja mehr noch, sie achten streng auf absolute Gleichheit im Innern und sind die erbittertsten Feinde der Herren und Ritter ihres Landes. Wenn einer von diesen zufällig in ihre Hände fällt, so beseitigen sie ihn, da sie den Adel für die Wurzel der Verderbnis und für die Ursache jeder staatlichen Unordnung halten.« (Machiavelli, Dis, S. 142) Doch was versteht Machiavelli unter »Edelleuten«? Dies sind diejenigen, »die müßig vom Ertrag ihrer Besitzungen im Überfluß leben, ohne darauf bedacht zu sein, Landwirtschaft zu treiben oder sich mit irgendeiner anderen zum Leben notwendigen Arbeit zu befassen.« (Machiavelli, Dis, S. 143) Solche Leute seien für einen Freistaat verderblich. »Am verderblichsten sind aber die, die außer den genannten Gütern auch noch über Burgen verfügen und Untertanen haben, die ihnen gehorchen.« (Machiavelli, Dis, S. 143) Diese Menschengattung ist für ihn der ärgste Feind jedes freien menschlichen Zusammenlebens. Allerdings hält Machiavelli weder das Volk für prinzipiell gut noch die Mächtigen für prinzipiell schlecht, da es Beispiele verderbter Völker und Beispiele tadelloser Machthaber gäbe, die er im dritten Buch der »Discorsi« ausführlich würdigt. So äußert er sich an vielen Stellen kritisch zur praktischen Umsetzbarkeit einer Republik. Das Volk wolle die Freiheit, das sei unbestritten. Aber es sei nur ein kleiner Teil des Volkes, der frei sein wolle, um zu herrschen. »Die überwiegende Mehrzahl wünscht die Freiheit nur, um sicher leben zu können.« (Machiavelli, Dis, S. 60) Demnach würde das Volk kein Interesse an der Führung der Regierungsgeschäfte haben und dieses Feld wenigen überlassen, worin immer die Gefahr des Machtmissbrauchs bestehe. Ein Volk müsse eben ganz bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um einer freiheitlichen Verfassung gewachsen zu sein und sie erhalten zu können. Es dürfe nicht moralisch verdorben sein und der Sittenverfall in das Gemeinwesen Einzug erhalten haben. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 61 f.) Sittenverderbnis und Untauglichkeit zur Freiheit entstehe aus der Ungleichheit, die in einem Staate herrsche. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 63) Wie oben beschrieben, erfüllt für ihn damals das deutsche Volk die Voraussetzungen für einen freiheitlichen Staat, aber nicht das italienische. Um einen Staat, in dem Ungleichheit herrsche, in Ordnung zu bringen, sei es nötig, »neben den Gesetzen eine höhere Gewalt einzusetzen, eine mit königlichen Befugnissen, die mit unumschränkter und außerordentlicher Macht den übermäßigen Ehrgeiz und die Verderbtheit der Mächtigen bändigt« (Machiavelli, Dis, S. 143). Es müssten alle Edelleute beseitigt werden. (Vgl. Machiavelli, Dis, S. 144) Machiavelli denkt immer von der realen Situation einer Gesellschaft aus und rät entsprechend-- ohne Ansehen von Moral--, was zu tun sei, um das Gemeinwesen zu stabilisieren. So rät er: »Wo also <?page no="141"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 142 142 Kapitel VII: Niccolò Machiavelli starker Sinn für Gleichheit besteht oder geweckt ist, da errichte man einen Freistaat, wo dagegen große Ungleichheit herrscht, da führe man eine Alleinherrschaft ein; sonst baut man ein Werk ohne Frieden und ohne Dauer.« (Machiavelli, Dis, S. 145) Da es um die Zweckmäßigkeit einer Regierungsform geht und nicht um den Erhalt einer Staatsform um ihrer selbst Willen, schließt Machiavelli die Existenz eines Diktators in einer Republik nicht kategorisch aus. Als gelungenes Beispiel für eine solche Konstellation führt er wieder die Römische Republik an. Dort wurde der Diktator nur für eine bestimmte Zeit, also nicht auf Dauer und nur zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks gewählt. Die anderen staatlichen Einrichtungen, wie der Senat, die Tribunen und Konsuln, blieben in ihren Ämtern und überwachten die Taten des Diktators. »Hier brachten lange Zeit hindurch die Diktatoren dem Staat nur Nutzen.« (Machiavelli, Dis, S. 95) Die gegenseitige Machtkontrolle der Machthaber in einer Republik sei das entscheidende Mittel für eine stabile Republik. Machiavelli argumentiert nicht für die Republik, weil sie den anderen Staatsformen ethisch und moralisch überlegen ist, sondern weil sie sich, empirisch betrachtet, als die stabilste Staatsform erwiesen habe und in ihr das Wohl der Bürger am besten gedeihe, weil sie der Natur des Menschen am nahesten komme. »Dies ist auch der Grund, warum eine Republik eine längere Lebensdauer und länger Glück hat als eine Alleinherrschaft. Die Republik kann sich bei der verschiedenen Veranlagung ihrer Bürger besser den verschiedenen Zeitverhältnissen anpassen als ein Alleinherrscher.« (Machiavelli, Dis, S. 314) Die Vorstellung, dass es in der Politik um die Erhaltung und Stabilität des politischen Gemeinwesens und damit um das Allgemeinwohl geht und nicht um den Willen Gottes oder einer herrschenden Elite, trägt zur Entwicklung der Idee der Demokratie bei. 5. Literatur Der Große Ploetz: die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, begründet von Dr. Carl Ploetz, 34., neu bearbeitete Auflage, bearbeitet von 80 Fachwissenschaftlern, Freiburg i. Br. ohne Jahr. Machiavelli, Niccolò: Der Fürst. »Il Principe«, übersetzt und herausgegeben von Rudolf Zorn, Stuttgart 1978. Machiavelli, Niccolò: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Deutsche Gesamtausgabe, übersetzt, eingeleitet und erläutert von Dr. Rudolf Zorn, 2., verbesserte Auflage, Stuttgart 1977. Münkler, Herfried: Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, 2. Aufl., Frankfurt/ M. 2007. Zorn Rudolf: Einleitung, in: Machiavelli, Niccolò: Der Fürst. »Il Principe«. Übersetzt und herausgegeben von Rudolf Zorn, 6. Auflage, Stuttgart 1978, S. IX-XXII. Zorn, Rudolf: Einleitung, in: Machiavelli, Niccolò: Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Deutsche Gesamtausgabe, übersetzt, eingeleitet und erläutert von Dr. Rudolf Zorn, 2., verbesserte Auflage, Stuttgart 1977, S. XVII-LXVII. <?page no="142"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 143 143 Kapitel VIII: Thomas Hobbes 1. Primärtext Einleitung Die Natur (das ist die Kunst, mit der Gott die Welt gemacht hat und lenkt) wird durch die Kunst des Menschen wie in vielen anderen Dingen so auch darin nachgeahmt, daß sie ein künstliches Tier herstellen kann. Denn da das Leben nur eine Bewegung der Glieder ist, die innerhalb eines besonders wichtigen Teils beginnt-- warum sollten wir dann nicht sagen, alle Automaten (Maschinen, die sich selbst durch Federn und Räder bewegen, wie eine Uhr) hätten ein künstliches Leben? Denn was ist das Herz, wenn nicht eine Feder, was sind die Nerven, wenn nicht viele Stränge, und was die Gelenke, wenn nicht viele Räder, die den ganzen Körper so in Bewegung setzen, wie es vom Künstler beabsichtigt wurde? Die Kunst geht noch weiter, indem sie auch jenes vernünftige, hervorragendste Werk der Natur nachahmt, den Menschen. Denn durch Kunst wird jener große Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas, der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch, wenn auch von größerer Gestalt und Stärke als der natürliche, zu dessen Schutz und Verteidigung er ersonnen wurde. Die Souveränität stellt darin eine künstliche Seele dar, die dem ganzen Körper Leben und Bewegung gibt, die Beamten und anderen Bediensteten der Jurisdiktion und Exekutive künstliche Gelenke, Belohnung und Strafe, die mit dem Sitz der Souveränität verknüpft sind und durch die jedes Gelenk und Glied zur Verrichtung seines Dienstes veranlaßt wird, sind die Nerven, die in dem natürlichen Körper die gleiche Aufgabe erfüllen. Wohlstand und Reichtum aller einzelnen Glieder stellen die Stärke dar, salus populi (die Sicherheit des Volkes) seine Aufgabe; die Ratgeber, die ihm alle Dinge vortragen, die er unbedingt wissen muß, sind das Gedächtnis, Billigkeit und Gesetze künstliche Vernunft und künstlicher Wille; Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr Krankheit und Bürgerkrieg Tod. Endlich aber gleichen die Verträge und Übereinkommen, durch welche die Teile dieses politischen Körpers zuerst geschaffen, zusammengesetzt und vereint wurden, jenem ›Fiat‹ oder ›Laßt uns Menschen machen‹, das Gott bei der Schöpfung aussprach. Um die Natur dieses künstlichen Menschen zu beschreiben, möchte ich untersuchen: Erstens, Werkstoff und Konstrukteur; beides ist der Mensch. <?page no="143"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 144 144 Kapitel VIII: Thomas Hobbes Zweitens, wie und durch welche Verträge er entsteht, was die Rechte und die gerechte Macht oder Autorität eines Souveräns sind, und was ihn erhält und auflöst. 1 Drittens, was ein christlicher Staat, und letzlich (sic! ), was das Reich der Finsternis ist. Was den ersten Punkt betrifft, so gibt es ein neuerdings häufig mißbrauchtes Sprichwort, nämlich, Weisheit erwerbe man nicht durch Lesen von Büchern, sondern von Menschen. Demzufolge bereitet es solchen Leuten, die größtenteils keinen anderen Beweis ihrer Weisheit erbringen können, großes Vergnügen, zu zeigen, was sie vermeintlich in den Menschen gelesen haben- - indem sie hinter deren Rücken unbarmherzig übereinander herziehen. Aber es gibt noch ein anderes, nicht erst neuerdings aufgekommenes Sprichwort, aus dem sie wirklich lernen könnten, in einander zu lesen, wenn sie sich die Mühe machen wollten, nämlich ›nosce te ipsum, lies in dir selbst‹. Dies war nicht dazu bestimmt, wie es heute gebraucht wird, die barbarische Haltung der Machthaber gegen ihre Untergebenen zu unterstützen, oder die niederen Stände zu einem unverschämten Betragen gegen die über ihnen Stehenden zu ermutigen. Es sollte uns vielmehr lehren, daß jedermann, der in sich selbst blickt und darüber nachdenkt, aus seinem Denken, Meinen, Schließen, Hoffen, Fürchten, usw., und deren Gründen lesen und erkennen wird, welches die Gedanken und Leidenschaften aller anderen Menschen bei den gleichen Anlässen sind; dies wegen der Ähnlichkeit von Gedanken und Leidenschaften eines Menschen mit denen eines anderen. Ich sage, die Ähnlichkeit von Leidenschaften, welche in allen Menschen dieselben sind- - Verlangen, Furcht, Hoffnung, usw.- - nicht die Ähnlichkeit der Objekte der Leidenschaften, also die verlangten, gefürchteten, erhofften, usw., Dinge. Denn diese weichen durch die individuelle Veranlagung und verschiedene Erziehung soweit voneinander ab und können so leicht unserer Erkenntnis entzogen werden, daß die Inschriften des menschlichen Herzens, befleckt und durcheinander wie sie durch Heucheln, Lügen, Nachahmen und Irrlehren sind, nur von demjenigen gelesen werden können, der die Herzen erforscht. Und obwohl wir an den Handlungen der Menschen bisweilen ihre Absicht entdecken, so heißt das ohne Schlüssel entziffern, wenn wir ihre Absicht nicht mit unserer eigenen vergleichen und alle Umstände unterscheiden, durch die der Fall in einem anderen Licht erscheinen könnte, und wir meistens durch zu viel Vertrauen oder Mißtrauen in die Irre gehen, je nachdem der Leser selbst ein guter oder schlechter Mensch ist. Aber mag jemand in einem anderen auf Grund seiner Handlungen noch so perfekt lesen können, so nützt ihm das nur bei seinen Bekannten, und das sind nur wenige. Wer eine ganze Nation zu regieren hat, muß in sich selbst lesen-- nicht in diesen oder 1 Vom »Leviathan« hat Hobbes eine lateinische Fassung geschrieben. In den Anmerkungen werden die Abweichungen der lateinischen Fassung genannt. Der letzte Satzteil der lat. Fassung weicht hier ab: -… und wem die höchste Gewalt zukomme. (Anmerkung des Herausgebers) <?page no="144"?> 1. Primärtext 145 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 145 jenen einzelnen Menschen, sondern in der menschlichen Gattung. Obwohl das schwierig ist, schwieriger als das Erlernen jeder Sprache oder Wissenschaft, so wird doch die Mühe, die einem anderen bleibt, wenn ich meine eigenen Lesefrüchte geordnet und klar dargelegt habe, nur in der Überlegung bestehen, ob er in sich nicht auch das gleiche findet. Denn diese Art von Lehre läßt keine andere Beweisführung zu. (Aus: Leviathan, S. 5-7) 13. Kapitel Von der natürlichen Bedingung der Menschheit im Hinblick auf ihr Glück und Unglück Die Natur hat die Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten so gleich geschaffen, daß trotz der Tatsache, daß bisweilen der eine einen offensichtlich stärkeren Körper oder gewandteren Geist als der andere besitzt, der Unterschied zwischen den Menschen alles in allem doch nicht so beträchtlich ist, als daß der eine auf Grund dessen einen Vorteil beanspruchen könnte, den ein anderer nicht ebensogut für sich verlangen dürfte. Denn was die Körperstärke betrifft, so ist der Schwächste stark genug, den Stärksten zu töten-- entweder durch Hinterlist oder durch ein Bündnis mit anderen, die sich in derselben Gefahr wie er selbst befinden. Und was die geistigen Fähigkeiten betrifft, so finde ich, daß die Gleichheit unter den Menschen noch größer ist als bei der Körperstärke-- einmal abgesehen von den auf Wörtern beruhenden Künsten und besonders von der Fertigkeit, nach allgemeinen und unfehlbaren Regeln vorzugehen, was man Wissenschaft nennt. Diese beherrschen nur wenige und nur in wenigen Dingen, da sie weder eine mit uns geborene, angeborene Fähigkeit ist, noch durch Beschäftigung mit irgendeinem anderen Gegenstand erworben wird wie die Klugheit. Denn Klugheit ist nur Erfahrung, die alle Menschen, die sich gleich lang mit den gleichen Dingen beschäftigen, gleichermaßen erwerben. Was diese Gleichheit vielleicht unglaubwürdig erscheinen läßt, ist nur eine selbstgefällige Eingenommenheit von der eigenen Weisheit, von der fast alle Menschen annehmen, sie besäßen sie in höherem Maße als das gewöhnliche Volk, das heißt, als jedermann außer ihnen selbst und einigen anderen, die sie wegen ihres Rufes oder weil sie mit ihnen übereinstimmen, anerkennen. Denn die Natur der Menschen ist so beschaffen, daß sie, wie sehr sie auch den größeren Witz, die größere Beredsamkeit oder Gelehrsamkeit anderer anerkennen, doch kaum annehmen, es gebe viele, die so weise sind wie sie, denn sie sehen ihren eigenen Verstand unmittelbar vor Augen und den anderer Menschen über eine Entfernung. Aber das beweist eher, daß die Menschen in dieser Hinsicht gleich, als daß sie ungleich sind. Denn es gibt gewöhnlich kein besseres Zeichen der gleichmäßigen Verteilung eines Dings, als daß jedermann mit seinem Anteil zufrieden ist. <?page no="145"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 146 146 Kapitel VIII: Thomas Hobbes Aus dieser Gleichheit der Fähigkeiten entsteht eine Gleichheit der Hoffnung, unsere Absichten erreichen zu können. Und wenn daher zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuß ist, bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen. Daher kommt es auch, daß, wenn jemand ein geeignetes Stück Land anpflanzt, einsät, bebaut oder besitzt und ein Angreifer nur die Macht eines einzelnen zu fürchten hat, mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß andere mit vereinten Kräften anrücken, um ihn von seinem Besitz zu vertreiben und ihn nicht nur der Früchte seiner Arbeit, sondern auch seines Lebens und seiner Freiheit zu berauben. Und dem Angreifer wiederum droht die gleiche Gefahr von einem anderen. Und wegen dieses gegenseitigen Mißtrauens gibt es für niemand einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie Vorbeugung, das heißt, mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden. Und dies ist nicht mehr, als seine Selbsterhaltung erfordert und ist allgemein erlaubt. Auch weil es einige gibt, denen es Vergnügen bereitet, sich an ihrer Macht zu weiden, indem sie auf Eroberungen ausgehen, die sie über das zu ihrer Sicherheit erforderliche Maß hinaustreiben, könnten andere, die an sich gerne innerhalb bescheidener Grenzen ein behagliches Leben führen würden, sich durch bloße Verteidigung unmöglich lange halten, wenn sie nicht durch Angriff ihre Macht vermehrten. Und da folglich eine solche Vermehrung der Herrschaft über Menschen zur Selbsterhaltung eines Menschen notwendig ist, muß sie ihm erlaubt werden. Ferner empfinden die Menschen am Zusammenleben kein Vergnügen, sondern im Gegenteil großen Verdruß, wenn es keine Macht gibt, die dazu in der Lage ist, sie alle einzuschüchtern. Denn jedermann sieht darauf, daß ihn sein Nebenmann ebenso schätzt, wie er sich selbst einschätzt, und auf alle Zeichen von Verachtung oder Unterschätzung hin ist er von Natur aus bestrebt, soweit er es sich getraut (was bei weitem genügt, Menschen, über denen keine allgemeine, sie zum Stillhalten zwingende Macht steht, dazu zu bewegen, daß sie sich gegenseitig vernichten), seinen Verächtern durch Schädigung und den anderen Menschen durch das Exempel größere Wertschätzung abzunötigen. So liegen also in der menschlichen Natur drei hauptsächliche Konfliktursachen: Erstens Konkurrenz, zweitens Mißtrauen 2 , drittens Ruhmsucht. Die erste führt zu Übergriffen der Menschen des Gewinnes, die zweite der Sicherheit und die dritte des Ansehens wegen. Die ersten wenden Gewalt an, um sich zum Herrn über andere Männer und deren Frauen, Kinder und Vieh zu machen, die zweiten, um dies zu verteidigen und die dritten wegen Kleinigkeiten wie ein Wort, ein Lächeln, eine verschiedene Meinung oder jedes andere Zeichen von Geringschätzung, 2 In der lat. Fassung: defensio, Abwehr. (Anmerkung des Herausgebers) <?page no="146"?> 1. Primärtext 147 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 147 das entweder direkt gegen sie selbst gerichtet ist oder in einem Tadel ihrer Verwandtschaft, ihrer Freunde, ihres Volks, ihres Berufs oder ihres Namens besteht. Daraus ergibt sich klar, daß die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden. Denn Krieg besteht nicht nur in Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist. Und deshalb gehört zum Wesen des Krieges der Begriff Zeit, wie zum Wesen des Wetters. Denn wie das Wesen des schlechten Wetters nicht in ein oder zwei Regenschauern liegt, sondern in einer Neigung hierzu während mehrerer Tage, so besteht das Wesen des Kriegs nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann. Jede andere Zeit ist Frieden. Deshalb trifft alles, was Kriegszeiten mit sich bringen, in denen jeder eines jeden Feind ist, auch für die Zeit zu, während der die Menschen keine andere Sicherheit als diejenige haben, die ihnen ihre eigene Stärke und Erfindungskraft bieten. In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann; und folglich gibt es keinen Ackerbau, keine Schiffahrt, keine Waren, die auf dem Seeweg eingeführt werden können, keine bequemen Gebäude, keine Geräte, um Dinge, deren Fortbewegung viel Kraft erfordert, hin- und herzubewegen, keine Kenntnis von der Erdoberfläche, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes-- das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz. Manchem, der sich diese Dinge nicht gründlich überlegt hat, mag es seltsam vorkommen, daß die Natur die Menschen so sehr entzweien und zu gegenseitigem Angriff und gegenseitiger Vernichtung treiben sollte, und vielleicht wünscht er deshalb, da er dieser Schlußfolgerung aus den Leidenschaften nicht traut, dies durch die Erfahrung bestätigt zu haben. Er möge deshalb bedenken, daß er sich bei Antritt einer Reise bewaffnet und darauf bedacht ist, in guter Begleitung zu reisen, daß er beim Schlafengehen seine Türen und sogar in seinem Hause seine Kästen verschließt-- und dies in Kenntnis dessen, daß es Gesetze und bewaffnete Beamte gibt, um alles Unrecht zu verfolgen, das ihm angetan wird. Welche Meinung hat er also von seinen Mit- Untertanen, wenn er bewaffnet reist, welche von seinen Mitbürgern, wenn er seine Türen verschließt, und welche von seinen Kindern und Bediensteten, wenn er seine Kästen verschließt? Klagt er da die Menschen durch seine Handlungen nicht ebensosehr an wie ich durch meine Worte? Aber keiner von uns klagt damit die menschliche Natur an. Die Begierden und anderen menschlichen Leidenschaften sind an sich keine Sünde. Die aus diesen Leidenschaften entspringenden Handlungen sind es ebenfalls so lange nicht, bis die Menschen ein Gesetz kennen, das sie verbietet: solange keine Gesetze erlassen werden, können sie dieses Gesetz nicht kennen, und es kann <?page no="147"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 148 148 Kapitel VIII: Thomas Hobbes kein Gesetz erlassen werden, solange sie sich nicht auf die Person geeinigt haben, die es erlassen soll. 3 Vielleicht kann man die Ansicht vertreten, daß es eine solche Zeit und einen Kriegszustand wie den beschriebenen niemals gab, und ich glaube, daß er so niemals allgemein auf der ganzen Welt bestand. Aber es gibt viele Gebiete, wo man jetzt noch so lebt. 4 Denn die wilden Völker verschiedener Gebiete Amerikas besitzen überhaupt keine Regierung, ausgenommen die Regierung über kleine Familien, deren Eintracht von der natürlichen Lust abhängt und die bis zum heutigen Tag auf jene tierische Weise leben, die ich oben beschrieben habe. Wie dem auch sei- - man kann die Lebensweise, die dort, wo keine allgemeine Gewalt zu fürchten ist, herrschen würde, aus der Lebensweise ersehen, in die solche Menschen, die früher unter einer friedlichen Regierung gelebt hatten, in einem Bürgerkrieg abzusinken pflegen. Aber obwohl es niemals eine Zeit gegeben hat, in der sich einzelne Menschen im Zustand des gegenseitigen Krieges befanden, so befinden sich doch zu allen Zeiten Könige und souveräne Machthaber auf Grund ihrer Unabhängigkeit in ständigen Eifersüchteleien und verhalten sich wie Gladiatoren: sie richten ihre Waffen gegeneinander und lassen sich nicht aus den Augen- - das heißt, sie haben ihre Festungen, Garnisonen und Geschütze an den Grenzen ihrer Reiche und ihre ständigen Spione bei ihren Nachbarn. Das ist eine kriegerische Haltung. Weil sie aber dadurch den Fleiß ihrer Untertanen fördern, so folgt daraus nicht dieses Elend, das die Freiheit von Einzelmenschen begleitet. Eine weitere Folge dieses Krieges eines jeden gegen jeden ist, daß nichts ungerecht sein kann. Die Begriffe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben hier keinen Platz. Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit. Gewalt und Betrug sind im Krieg die beiden Kardinaltugenden. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gehören weder zu den körperlichen noch zu den geistigen Tugenden. Gehörten sie dazu, so müßten sie in einem Menschen, der sich allein auf der Welt befände, ebenso vorkommen wie seine Sinne und Leidenschaften. Sie sind Eigenschaften, die sich auf den in der Gesellschaft, nicht in der Einsamkeit befindlichen Menschen beziehen. Eine weitere Folge dieses Zustandes ist, daß es weder Eigentum noch Herrschaft, noch ein bestimmtes Mein und Dein gibt, sondern daß jedem nur das gehört, was er erlangen kann, und zwar so lange, wie er es zu behaupten vermag. Und soviel über den elenden Zustand, in den der Mensch 3 Hier schließt sich in der lat. Fassung ein weiterer Satz an: Doch wozu noch mehr Beweise für verständige Menschen in einer Sache, wovon auch die Hunde ein Gefühl zu haben scheinen; wer kommt, den bellen sie an, bei Tage jeden Unbekannten, des Nachts aber jedweden. (Anmerkung des Herausgebers) 4 Die lat. Fassung bringt ein biblisches Beispiel: Wie, hat nicht Kain seinen Bruder aus Neid ermordet? Würde er das wohl gewagt haben, wenn schon damals eine allgemein anerkannte Macht, die eine solche Gräueltat hätte rächen können, dagewesen wäre? (Anmerkung des Herausgebers) <?page no="148"?> 1. Primärtext 149 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 149 durch die reine Natur tatsächlich versetzt wird, wenn auch mit einer Möglichkeit, herauszukommen, die teils in den Leidenschaften, teils in seiner Vernunft liegt. Die Leidenschaften, die die Menschen friedfertig machen, sind Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können. Und die Vernunft legt die geeigneten Grundsätze des Friedens nahe, auf Grund derer die Menschen zur Übereinstimmung gebracht werden können. Diese Gebote sind das, was sonst auch Gesetze der Natur genannt wird. In den beiden folgenden Kapiteln werde ich näher auf Einzelheiten eingehen. 14. Kapitel Vom ersten und zweiten natürlichen Gesetz und von Verträgen Das natürliche Recht, in der Literatur gewöhnlich jus naturale genannt, ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht. Unter Freiheit versteht man nach der eigentlichen Bedeutung des Wortes die Abwesenheit äußerer Hindernisse. Diese Hindernisse können einem Menschen oftmals einen Teil seiner Macht wegnehmen, das zu tun, was er möchte, aber sie können ihn nicht daran hindern, die ihm verbliebene Macht so anzuwenden, wie es ihm sein Urteil und seine Vernunft gebieten. Ein Gesetz der Natur, lex naturalis, ist eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch es seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann. Denn obwohl diejenigen, welche über diesen Gegenstand sprechen, gewöhnlich jus und lex, Recht und Gesetz, durcheinanderbringen, so sollten diese Begriffe doch auseinandergehalten werden. Denn Recht besteht in der Freiheit, etwas zu tun oder zu unterlassen, während ein Gesetz dazu bestimmt und verpflichtet, etwas zu tun oder zu unterlassen. So unterscheiden sich Gesetz und Recht wie Verpflichtung und Freiheit, die sich in ein- und demselben Fall widersprechen. Und weil sich die Menschen, wie im vorhergehenden Kapitel dargelegt, im Zustand des Kriegs eines jeden gegen jeden befinden, was bedeutet, daß jedermann von seiner eigenen Vernunft angeleitet wird, und weil es nichts gibt, das er nicht möglicherweise zum Schutze seines Lebens gegen seine Feinde verwenden könnte, so folgt daraus, daß in einem solchen Zustand jedermann ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper eines anderen. Und deshalb kann niemand sicher sein, solange dieses Recht eines jeden auf alles besteht, die Zeit über zu leben, die die Natur dem Menschen gewöhnwww.claudia-wild.de: <?page no="149"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 150 150 Kapitel VIII: Thomas Hobbes lich einräumt, wie stark und klug er auch sein mag. Folglich ist dies eine Vorschrift oder allgemeine Regel der Vernunft: Jedermann hat sich um Frieden zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht. Kann er ihn nicht herstellen, so darf er sich alle Hilfsmittel und Vorteile des Kriegs verschaffen und sie benützen. Der erste Teil dieser Regel enthält das erste und grundlegende Gesetz der Natur, nämlich: Suche Frieden und halte ihn ein. Der zweite Teil enthält den obersten Grundsatz des natürlichen Rechts: Wir sind befugt, uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Aus diesem grundlegenden Gesetz der Natur, das den Menschen befiehlt, sich um Frieden zu bemühen, wird das zweite Gesetz der Natur abgeleitet: Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält, und er soll sich mit soviel Freiheit gegenüber anderen zufrieden geben, wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde. Denn solange jemand das Recht beibehält, alles zu tun, was er will, solange befinden sich alle Menschen im Kriegszustand. Verzichten aber andere nicht ebenso wie er auf ihr Recht, so besteht für niemanden Grund, sich seines Rechts zu begeben, denn dies hieße eher, sich selbst als Beute darbieten-- wozu niemand verpflichtet ist-- als seine Friedensbereitschaft zeigen. Dem entspricht dieses Gesetz der Heiligen Schrift: Was ihr wollt, daß (sic! ) euch andere tun sollen, das tut ihnen, sowie dieses für alle Menschen geltende Gesetz: Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris. Auf das Recht auf irgend etwas verzichten heißt sich der Freiheit begeben, einen anderen daran zu hindern, den Nutzen aus seinem Recht hierauf zu ziehen. Denn verzichtet jemand auf sein Recht oder überträgt er es, so gibt er damit niemandem ein Recht, das dieser nicht vorher schon besessen hätte, da es nichts gibt, worauf nicht jedermann von Natur aus ein Recht hätte. Er gibt vielmehr dem anderen nur den Weg frei, damit dieser sein eigenes ursprüngliches Recht ohne eine von ihm verursachte Behinderung ausüben kann, nicht aber ohne Behinderung durch einen anderen. So liegt die Wirkung, die der Wegfall des Rechts eines anderen auf jemanden hat, in einer entsprechenden Verringerung der Hindernisse in der Ausübung seines eigenen ursprünglichen Rechts. (Aus: Leviathan, S. 94-100) 17. Kapitel Von den Ursachen, der Erzeugung und der Definition eines Staates Die Menschen, die von Natur aus Freiheit und Herrschaft über andere lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie, wie wir wissen, in Staaten leben, letzlich (sic! ) allein mit dem Ziel und der Absicht ein, dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedeneres Leben zu führen- - das heißt, dem elenden Kriegszustand zu entkommen, der, wie im 13. Kapitel gezeigt wurde, aus den natürlichen Leidenschaf- <?page no="150"?> 1. Primärtext 151 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 151 ten der Menschen notwendig folgt, dann nämlich, wenn es keine sichtbare Gewalt gibt, die sie im Zaume zu halten und durch Furcht vor Strafe an die Erfüllung ihrer Verträge und an die Beachtung der natürlichen Gesetze zu binden vermag, die im vierzehnten und fünfzehnten Kapitel aufgestellt wurden. Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlaßt, unseren natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht und Ähnlichem verleiten. Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten. Falls keine Zwangsgewalt errichtet worden oder diese für unsere Sicherheit nicht stark genug ist, wird und darf deshalb jedermann sich rechtmäßig zur Sicherung gegen alle anderen Menschen auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit verlassen- - ungeachtet der natürlichen Gesetze (die jedermann dann eingehalten hat, wenn er willens ist, sie in den Fällen einzuhalten, wo er dies ungefährdet tun kann). Und überall dort, wo die Menschen in kleinen Familien zusammenlebten, war gegenseitiges Rauben und Plündern ein Gewerbe und weit davon entfernt, als naturrechtswidrig angesehen zu werden: je größer die Beute, die sie machten, desto größer die Ehre. Und die Menschen beachteten hierbei keine anderen Gesetze als die der Ehre, das heißt, Grausamkeiten waren dadurch zu vermeiden, daß man den Leuten das Leben und die Wirtschaftsgeräte ließ. Und wie damals kleine Familien, so vergrößern jetzt Städte und Königreiche, die nichts anderes als größere Familien sind, aus Gründen der eigenen Sicherheit ihren Herrschaftsbereich bei jeder angeblichen Gefahr und aus Furcht vor einem Angriff oder der Unterstützung, die den Angreifern zuteil werden könnte, und bemühen sich nach Kräften, ihre Nachbarn mit offener Gewalt und Hinterlist zu unterwerfen oder zu schwächen-- mit Recht, da es keine andere Sicherheitsgarantie gibt. Und in späteren Zeiten gedenkt man ihrer deswegen in Verehrung. Auch der Zusammenschluß einer kleinen Anzahl von Menschen gibt ihnen diese Sicherheit nicht, denn bei kleinen Zahlen verleihen kleine Zunahmen auf der einen oder der anderen Seite eine so große Übermacht, daß sie genügt, zum Sieg zu führen und deshalb zu einem Angriff ermutigt. Die Menge, die zu einer verläßlichen Sicherheit ausreicht, ergibt sich nicht aus einer bestimmten Zahl, sondern aus einem Vergleich mit dem gefürchteten Feind, und sie reicht dann aus, wenn die Überzahl des Feindes nicht so offensichtlich und ausschlaggebend ist, daß von vornherein der Ausgang des Krieges feststeht und ihn deshalb zu einem Versuch ermuntert. Und eine Menge mag noch so groß sein: Wenn die Handlungen der einzelnen von ihren besonderen Urteilen und Neigungen geleitet werden, so können sie von ihnen weder Verteidigung noch Schutz gegen einen gemeinsamen Feind, noch gegen Übergriffe, die sie sich gegenseitig zufügen, erwarten. Denn da ihre Meinungen über die beste Ausnützung und Anwendung ihrer Stärke auseinandergehen, helfen sie sich nicht, sondern hindern sich gegenseitig und reduzieren ihre Stärke, indem sie sich <?page no="151"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 152 152 Kapitel VIII: Thomas Hobbes gegenseitig bekämpfen, auf ein Nichts. Dadurch werden sie nicht nur leicht durch eine sehr kleine Zahl von Menschen, die sich einig sind, unterworfen, sondern sie führen auch ohne gemeinsamen Feind wegen ihrer Einzelinteressen gegeneinander Krieg. Denn könnten wir annehmen, eine große Menge von Menschen stimmte ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht miteinander in der Beachtung von Gerechtigkeit und allen anderen natürlichen Gesetzen überein, so könnten wir ebensogut annehmen, die ganze Menschheit verhielte sich so, und dann gäbe es überhaupt keine bürgerliche Regierung oder einen Staat, noch wären sie nötig, denn es herrschte Frieden ohne Unterwerfung. Die Sicherheit, von der die Menschen wünschen, sie möge ihr Leben lang andauern, ist auch nicht gewährleistet, wenn diese nach dem Ermessen eines einzelnen für eine begrenzte Zeit, z. B. in einer Schlacht oder in einem Krieg, regiert oder gelenkt werden. Denn selbst wenn sie durch ihre einmütige Anstrengung einen Sieg über einen auswärtigen Feind erringen, so müssen sie danach doch notwendig sich wegen ihrer unterschiedlichen Interessen entzweien und wieder in einen Krieg untereinander zurückfallen, wenn sie nämlich entweder keinen gemeinsamen Feind haben oder aber jemand von der einen Partei als Feind und von der anderen als Freund angesehen wird. Es ist richtig, daß gewisse Lebewesen wie Bienen und Ameisen gesellig zusammenleben, weshalb sie von Aristoteles zu den politischen Lebewesen gerechnet werden, und daß sie doch keine andere Führung haben als ihre eigenen Urteile und Neigungen, auch keine Sprache, wodurch der eine dem anderen zu erkennen geben könnte, was seiner Meinung nach dem Gemeinwohl zuträglich ist. Und deshalb möchten manche vielleicht wissen, weshalb sich die Menschheit nicht ebenso verhalten kann. Darauf gebe ich zur Antwort: Erstens. Die Menschen liegen in einem ständigen Wettkampf um Ehre und Würde, diese Lebewesen aber nicht; folglich entsteht zwischen den Menschen aus diesem Grund Neid und Haß und letztlich Krieg, zwischen diesen Lebewesen aber nicht. 5 Zweitens. Bei diesen Lebewesen unterscheidet sich das Gemeinwohl nicht vom Privatwohl, und da sie von Natur aus ihr privates Wohl anstreben, fördern sie dadurch das Gemeinwohl. Der Mensch dagegen, der es liebt, sich mit anderen Menschen zu vergleichen, kann nur an Außerordentlichem Geschmack finden. Drittens. Da diese Lebewesen nicht wie die Menschen über Vernunft verfügen, sehen sie keine Mängel in der Verwaltung ihrer allgemeinen Angelegenheiten und meinen auch nicht, solche zu sehen, während es bei den Menschen sehr viele gibt, die sich für klüger und zur Regierung der Öffentlichkeit fähiger halten als der Rest. Und diese Leute streben nach Reformen und Neuerungen, die einen auf diesem, die anderen auf jenem Weg und stürzen die Öffentlichkeit dadurch in Wirren und Bürgerkrieg. 5 In der lat. Fassung Satzende einschränkend formuliert: -… unter jenen aber höchst selten. (Anmerkung des Herausgebers) <?page no="152"?> 1. Primärtext 153 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 153 Viertens. Obwohl diese Tiere in gewissem Maße die Stimme benützen können, um sich gegenseitig ihre Wünsche und andere Gemütsbewegungen zu erkennen zu geben, so fehlt ihnen doch diese Wortkunst, durch die es einige Menschen verstehen, anderen gut als böse und böse als gut hinzustellen und die offensichtliche Größe eines Guts oder Übels zu vergrößern oder zu verringern. Dadurch machen sie die Menschen unzufrieden und stören ihren Frieden, wie es ihnen paßt. Fünftens. Unvernünftige Lebewesen können nicht zwischen Beleidigung und Verletzung unterscheiden. Deshalb sind sie mit ihren Artgenossen nicht verfeindet, solange sie ungestört sind, während der Mensch dann am unleidlichsten ist, wenn er am meisten Muße hat. Denn dann liebt er es, seine Weisheit zu zeigen und die Handlungen derer, die den Staat regieren, zu kritisieren. Letztlich. Die Übereinstimmung dieser Lebewesen ist natürlich, die der Menschen beruht nur auf Vertrag, der künstlich ist. Und deshalb ist es kein Wunder, daß außer dem Vertrag noch etwas erforderlich ist, um ihre Übereinstimmung beständig und dauerhaft zu machen, nämlich eine allgemeine Gewalt, die sie im Zaum halten und ihre Handlungen auf das Gemeinwohl hinlenken soll. Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, daß sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können. Das heißt soviel wie einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen bestimmen, die deren Person verkörpern sollen, und bedeutet, daß jedermann alles als eigen anerkennt, was derjenige, der auf diese Weise seine Person verkörpert, in Dingen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Sicherheit tun oder veranlassen wird, und sich selbst als Autor alles dessen bekennt und dabei den eigenen Willen und das eigene Urteil seinem Willen und Urteil unterwirft. Dies ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken. Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind, daß er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken. Hierin liegt das <?page no="153"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 154 154 Kapitel VIII: Thomas Hobbes Wesen des Staates, der, um eine Definition zu geben, eine Person ist, bei der sich jeder einzelne einer großen Menge durch gegenseitigen Vertrag eines jeden mit jedem zum Autor ihrer Handlungen gemacht hat, zu dem Zweck, daß sie die Stärke und Hilfsmittel aller so, wie sie es für zweckmäßig hält, für den Frieden und die gemeinsame Verteidigung einsetzt. Wer diese Person verkörpert, wird Souverän genannt und besitzt, wie man sagt, höchste Gewalt, und jeder andere daneben ist sein Untertan. (Aus: Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner, 7. Aufl., Frankfurt/ M. 1996, S. 131-135, entspricht: Thomas Hobbes, Leviathan. © 1991 Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH) 2. Leitfragen a. Welche Konfliktursachen liegen nach Hobbes in der menschlichen Natur und in welchem Verhältnis stehen die Menschen von Natur aus zueinander? b. Welche menschliche Tugend ist die Quelle für Entwicklung und Wohlstand und warum kommt sie im Naturzustand nicht zur Geltung? c. Worin begründet sich für Hobbes Gerechtigkeit? d. Worin besteht das erste und zweite natürliche Gesetz und wie verhalten sich diese zum natürlichen Recht? e. Welche Gründe führt Hobbes an, weshalb sich die Menschen nicht wie politische Lebewesen-- beispielsweise Bienen und Ameisen-- verhalten können? f. Worin besteht das Wesen des Staates, des Hobbes’schen »Leviathan«? 3. Entstehungskontext Biografisches Thomas Hobbes wurde am 5. April 1588 in Westport bei Malmesbury in der Grafschaft Wiltshire als Sohn eines Landpfarrers und einer Bauerntochter geboren. Sein Vater war offenbar ein Trinker, Spieler und Choleriker: »Er schlug einen Amtsbruder, der ihn offenbar provoziert hatte, vor der Kirchentür zusammen, mußte fliehen und starb bald darauf in seinem Versteck unweit Londons.« (Münkler 1993, S. 37) Die Sorge um die Familie und die Bildung des kleinen Thomas Hobbes übernahm sein wohlhabender Onkel. Mit drei Jahren beherrschte Thomas bereits das elementare Schulwissen und wurde von da an in den klassischen Sprachen Latein und Griechisch unterrichtet. Im Alter von 14 Jahren studierte er in Oxford Scholastik, woran er anscheinend wenig Freude empfand und beendete mit 17 Jahren seinen Universitätsab- <?page no="154"?> 3. Entstehungskontext 155 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 155 schluss. Ein Jahr später, 1608, trat er als Hauslehrer in den Dienst der Familie Cavendish. (Vgl. Willms 1987, S. 29 f.) Es gehörte seinerzeit zur Bildung junger englischer Aristokraten, auf dem Kontinent auf Reisen zu gehen. Hobbes begleitete 1610 den jungen Grafen von Cavendish auf seiner dreijährigen Bildungsreise durch Frankreich und Italien und lernte dort bedeutende Gelehrte kennen. Zwei weitere solcher Bildungsreisen folgten. 1629-1631 war Hobbes mit einem schottischen Aristokratensohn in Frankreich und der Schweiz unterwegs, wo er seine Faszination für die Euklidische Geometrie entdeckte und 1634-1637 reiste er wieder mit einem Sprössling der Cavendishs, wobei er in Pisa Galilei kennenlernte, der ihn sehr beeindruckte. (Vgl. Willms 1987, S. 29; vgl. Fetscher 1996, S. XII f.) Als er zurückkam, stand im politisch unruhigen England ein Bürgerkrieg bevor. Hobbes wurde von den Cavendishs und deren Freunden gebeten, seine politische Lehre niederzuschreiben und zu veröffentlichen, um den König Karl I. argumentativ gegen die Rebellen im Parlament zu unterstützen. »Die völlig leidenschaftslose und sachliche Form seiner Argumente-- so hoffte er-- würde dazu beitragen, den drohenden Bürgerkrieg zu verhindern und die absolute Souveränität des Königs auch denen einleuchtend erscheinen zu lassen, die (wie Hobbes selbst) von der Göttlichkeit der Institution der Könige 6 nicht überzeugt waren.« (Fetscher 1996, S. XIV) Unter dem Titel »Elements of Law, Natural and Politic« wurden 1640 seine philosophischen Grundgedanken in einem Büchlein anonym veröffentlicht. Die Gegner des Königs-- darunter Oliver Cromwell-- ließen sich davon aber nicht beeindrucken, sodass 1642 der Englische Bürgerkrieg ausbrach. Hobbes flüchtete vorsichtshalber nach Frankreich ins Exil, wo er elf Jahre verweilte. Ihm folgten unter anderem der Prinz von Wales, den er im Exil in Mathematik unterrichtete. (Vgl. Willms 1987, S. 43) Seine politische Theorie missfiel sowohl royalistischen Reaktionären als auch den Klerikern. Am französischen Hof wurde gegen Hobbes intrigiert, sodass er seine Rückkehr nach England organisierte. 1651 erschien in London sein Werk »Leviathan«. Inzwischen war der Englische Bürgerkrieg beendet, England stand unter der Militärdiktatur Cromwells, dem Hobbes eine förmliche Loyalitätserklärung aussprach, sodass er nach England zurückkehren konnte. Er wurde als Dauergast bei der Familie Cavendish aufgenommen, den Rest seines Lebens verbrachte er auf deren Landsitz. (Vgl. Willms 1987, S. 43 f.) England kam politisch nicht zur Ruhe. Nach dem Tod Oliver Cromwells 1658 wurde 1660 6 Hobbes argumentiert in seiner Staatstheorie zwar, dass der Herrscher unter den Geboten Gottes steht und als Statthalter Gottes auf Erden herrscht, aber er wollte damit nicht behaupten, dass die weltlichen Herrscher seiner Zeit von Gott gesandt seien und ihre Politik die Gebote Gottes erfüllten. Im Gegenteil, Hobbes stand der Herrschaftspraxis der Fürsten und der Kirche äußerst skeptisch gegenüber und wollte mit seinem Theorieentwurf diese falsche Praxis »korrigieren«. Das Gottesgnadentum, auf das sich die absolutistischen Herrscher beriefen, ist also nicht mit der Hobbes’schen Theorie vereinbar oder gar aus ihr ableitbar. <?page no="155"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 156 156 Kapitel VIII: Thomas Hobbes unter Karl II.- - der aus dem Exil zurückgekehrte Prinz von Wales- - die Monarchie wiederhergestellt. Regierungswechsel, die mit einer Veränderung der Regierungsform einhergingen, waren nicht nur für die politisch Aktiven eine existentielle Bedrohung, sondern auch für die Gelehrten und Intellektuellen. Karl erinnerte sich an seinen ehemaligen Lehrer Hobbes allerdings mit viel Sympathie und hielt große Stücke auf ihn, sodass er ihm an seinem Hof freien Zugang gewährte. Die Kleriker jedoch brandmarkten Hobbes unaufhörlich als Ungläubigen und unmoralischen Menschen und strengten juristische Verfahren gegen ihn an. Der König schützte ihn vor dem Scheiterhaufen, aber entzog ihm dauerhaft die Druckerlaubnis für seine Werke, um die geistlichen Kritiker zufrieden zu stellen. (Vgl. Willms 1987, S. 48) Das wichtigste Alterswerk von Hobbes ist der »Behemoth«, in welchem er die Geschichte des Englischen Bürgerkriegs verarbeitete. Es wurde posthum 1682 veröffentlicht. Hobbes starb 1679 in Hardwick im Alter von 91 Jahren. Zu diesem gesegneten Alter hat mit Sicherheit sein am Erhalt der körperlichen und geistigen Gesundheit ausgerichteter Lebenswandel beigetragen. 1683 verabschiedete die Universität Oxford einen Erlass »gegen gewisse verderbliche Bücher und verdammenswerte Lehren, die zerstörend auf die geheiligten Personen der Fürsten, ihre Regierungen und Staaten und auf alle menschliche Gesellschaft wirken müssen.« (Zit. nach Willms 1987, S. 53) Dem Erlass folgte eine Bücherverbrennung, bei der auch der »Leviathan« in Flammen aufging. Zeitliches England wurde seit 1559 von Elisabeth I. (1533-1603) regiert. Ihr Vater Heinrich VIII. (1491-1547) hatte per Gesetz 1534 die englische Kirche von der römisch-katholischen Kirche getrennt und damit die Anglikanische Kirche gegründet. Diese unterstand fortan nicht mehr dem Papsttum, sondern dem König von England. Die katholische Maria I. (1516-1558) setzte in ihrer kurzen Regentschaft das Gesetz Heinrichs 1553 aus; die protestantische Elisabeth erneuerte es 1559 und unterstellte die Kirche Englands wieder der Krone. (Vgl. Ploetz, S. 661 und 671) Die religiösen Spaltungen der christlichen Kirche, die durch die Reformationsbewegungen zu Beginn des 16. Jahrhunderts ausgelöst wurden, waren mit den machtpolitischen Kämpfen um hegemoniale Vormachtstellungen (Herrscher gegen Herrscher) und um souveräne Gewalt (Herrscher gegen Klerus) verwoben. Der Katholik König Philipp II. von Spanien brachte im Geburtsjahr von Thomas Hobbes 1588 seine Armada in den Gewässern Englands zum Angriff gegen die protestantische Königin in Stellung. Dieses Ereignis soll die Mutter von Hobbes derart in Schrecken versetzt haben, dass sie mit ihm frühzeitig niederkam. In seiner Autobiografie schreibt er später: »(She) did bring forth Twins at once, both Me, and Fear.« (Zit. nach Fetscher 1996, S. XI) Nach dem Tod der kinderlos gebliebenen Elisabeth I. im Jahr 1603 folgte der Sohn Maria Stuarts (1542-1587)-- ehemalige katholische Königin Schottlands, unter Elisabeth hingerich- <?page no="156"?> 3. Entstehungskontext 157 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 157 tet-- Jakob I. (1566-1625) auf den englischen Thron und wurde König von England, Schottland und Irland. Religionspolitisch galt er als liberal. Das Parlament versuchte gegenüber dem König mehr Rechte durchzusetzen, wie zum Beispiel in allen Themen, die Staat und Kirche betrafen, ihn bei seinen Entscheidungen beraten zu dürfen. Der König lehnte dies aber ab und versuchte das Parlament möglichst selten einzuberufen. Allerdings war die Hauptaufgabe der Parlamente neue Steuern zu bewilligen, schließlich erwirtschafteten nicht der König und der Adel das Geld, sondern das Bürgertum. Insbesondere die Kriegsführung verschlang Unsummen an Steuergeldern, das galt aber auch für eine prunkvolle Hofhaltung, wie sie Jakob I. pflegte. Der Krieg gegen Spanien, den Elisabeth I. geführt hat, hatte den Hof stark verschuldet. Jakob beendete diesen Krieg gleich zu Beginn seiner Regentschaft und konnte durch seine Religionspolitik England vorläufig aus Kriegswirren heraushalten. (Vgl. Ploetz, S. 680 f.) Dies wurde aber vom Adel und dem Bürgertum nicht goutiert. Denn eine liberale Haltung in der Religionsfrage bedeutete Zurückhaltung im »Kampf der zwei Schwerter«, der im 17. Jahrhundert an einem Wendepunkt ankam. Die Religionspolitik entschied nicht nur darüber, welche Glaubensinhalte in der Gesellschaft gelten sollten und welche Liturgie, Gesänge und Gebete im Gottesdienst vollzogen wurden, sondern vor allem wurde über den Einfluss des Papsttums entschieden. Die römisch-katholische Religion war verbunden mit dem Einfluss des Papstes in weltlichen Angelegenheiten, also einer Teilhabe an der Souveränität. Die protestantische Religion distanzierte sich vom weltlichen Einfluss der Kirche und konzentrierte sich auf die Förderung des Seelenheils des Einzelnen. Die Religion stand symbolisch für den Kampf des Papsttums um Souveränität. Es ging um die politische Macht des ersten Standes, um die Macht des geistlichen Schwertes. Jakob I. mangelte es an einer klaren Position, er interessierte sich offenbar mehr für die Förderung von Kunst und Wissenschaft. Aber auf Dauer konnte er sich nicht aus diesem Kampf heraushalten, was bedeutete, Krieg führen zu müssen. So willigte er 1622 ein, wieder in einen Krieg gegen Spanien einzutreten. 1625 verstarb er. Sein Sohn Karl I. (1600-1649) folgte ihm auf den englischen Thron und heiratete noch 1625 eine Katholikin: die Tochter des französischen Königs Heinrich IV. Auf dem Kontinent tobte der Dreißigjährige Krieg (1618-1648), in den Karl für die protestantische Seite eingriff. Er musste eine verheerende militärische Niederlage einstecken. Die enormen Kosten für diesen verlorenen Einsatz veranlassten ihn, das Parlament einzuberufen, das ihm aber die Steuern verweigerte, woraufhin Karl das Parlament auflöste. Die finanzielle Lage des Hofes zwang ihn aber, das Parlament zwei Jahre später wieder einzuberufen. Dieses nutzte die Notlage des Königs, um seine parlamentarischen Rechte auszubauen. Karl stimmte zwar zu, hielt sich aber nicht unbedingt an die Gesetze und regierte elf Jahre, ohne das Parlament einzuberufen. Dies konnte er sich nur leisten, weil er außenpolitisch auf Kriegsführung verzichtete und zum Unmut der Bevölkerung willkürlich Abgaben erhob, um die Steuern nicht anheben zu müssen. Eine innenpolitische Krise erforderte einen Kriegseinsatz gegen Schottland, zu dessen Finanzierung Karl 1640 nun doch die Zustimmung des Parlawww.claudia-wild.de: <?page no="157"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 158 158 Kapitel VIII: Thomas Hobbes ments benötigte. Dieses wollte nach der elfjährigen Zwangspause den König nicht unterstützen, weshalb er es nach einem Monat wieder auflöste. Deshalb nennt man es auch das »Kurze Parlament«. Nach dem Zusammenbruch der Staatsfinanzen trat das Parlament Ende 1640 wieder zusammen. Es bestand bis 1660 und wird das »Lange Parlament« genannt. Diese gesellschaftspolitische Situation in England war später Gegenstand von Hobbes’ Alterswerk »Behemoth oder Das Lange Parlament«. Das Parlament verlangte mehr Mitbestimmungsrechte, die der König aber nicht gewähren wollte. Der Machtkampf des Parlamentes mit dem König und seinen Anhängern löste den Englischen Bürgerkrieg aus. Oliver Cromwell (1599-1658) wurde Organisator und Feldherr des Langen Parlaments und gewann entscheidende Schlachten gegen die Königstruppen. Auf sein Betreiben hin wurde Karl I. 1649 enthauptet. Es folgte die Englische Republik, in der nur das Unterhaus regierte. 1653 ließ Cromwell das Parlament auflösen und richtete eine Militärregierung ein, an deren Spitze er als Lordprotektor stand. Nach seinem Tod 1658 versuchte sein Sohn, die Militärregierung zu übernehmen, konnte sich aber nicht behaupten, sodass das Lange Parlament 1659 wieder eingesetzt wurde und nun für die Wiederherstellung der Monarchie plädierte. Karl II. zog 1660 aus dem französischen Exil als König von England erneut in London ein, wo er 1685 verstarb. Er gilt als letzter absolutistischer König Englands. Mit der »Glorious Revolution« 1688-89 wurde die Souveränität vom König an das Parlament übertragen. Gesellschaftspolitisches Die gesamte Neuzeit (1500-1789) war vorwiegend von einer stabilen feudalen Grundstruktur und einer ständischen Ordnung der Gesellschaft geprägt. Die Entwicklung der Bevölkerung in Europa wurde von Seuchen, Pest, Krankheiten, Kriegen und Hungersnöten bestimmt. (Vgl. Ploetz, S. 652) Im Zentrum des politischen Handelns der Herrschenden standen aber nicht die Bemühungen, die Not der Bevölkerung zu lindern und für dessen Wohl zu sorgen. Sie versuchten vielmehr ihre persönlichen Machtstellungen zu stabilisieren und auszubauen, indem sie Kriege führten, Heiratsbündnisse schlossen und die religiösen Spaltungen innerhalb der christlichen Kirche ausnutzten, um dem Klerus die politische Macht zu entziehen und das kirchliche Schwert endlich unter ihre Gewalt zu bringen, wogegen sich der Klerus erbittert wehrte. Die Herrschaftsbereiche der Territorialstaaten dehnten sich auf andere Kontinente aus. Durch den Ausbau und die technische Weiterentwicklung der Seefahrt wurden die ersten Herrschaftskolonien gegründet und der Überseehandel vorangetrieben. (Vgl. Ploetz, S. 671) Das Bürgertum erlangte wirtschaftlich eine immer größere Bedeutung und verfügte zunehmend auch über eine entsprechende Bildung, sodass es sich neben König, Adel und Klerus zu einer gesellschaftlichen Macht entwickelte, die Anteil an der Souveränität einforderte. Im Parlament brachte es seine politischen Machtansprüche zur Geltung. Dort vertrat es zwar <?page no="158"?> 4. Interpretation 159 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 159 den dritten Stand, aber viele Angehörige des Bürgertums strebten nach einer Aufnahme in den feudalen Stand, bemühten sich also um eine Standeserhöhung (vgl. Ploetz, S. 655) und kämpften nicht für eine Egalisierung der Menschen in der Ständegesellschaft, wie es ein demokratisches Bewusstsein erfordert hätte. Im Gegenteil: Die Ständegesellschaft entwickelte sich zunächst hin zum Absolutismus, der dominierenden Staatsform der Frühen Neuzeit. Hier besaß der Monarch die absolute Souveränität, wodurch die Stände entmachtet wurden. In der Ständegesellschaft herrschten die weltliche und die geistliche Souveränität, die beide Recht setzten und durch Gewalt und Religion Einfluss auf die Lebensgestaltung der Menschen ausübten. Der dritte Stand umfasste die Wirtschafts- und Arbeitskraft: den Agrarsektor (Getreideproduktion, Viehzucht, Bodenkultur, Rohstoffe für die Textilwirtschaft), das Gewerbe (Handwerk, Manufakturen, sowie das Ingenieurswesen mit seinen technischen Erfindungen) und den Handel (Warenaustausch, auch mit Übersee, und Geldwirtschaft). Die Angehörigen des dritten Standes handelten in ihren Bereichen weitgehend selbständig. Im Absolutismus griff jedoch die Staatsmacht in alle Bereiche der Gesellschaft ein. Der König war von »Gottes Gnaden«, sodass sich die Souveränität des Klerus in der weltlichen Macht aufhob und der erste Stand hierin seine Bedeutung verlor und »lediglich« als Brücke zwischen Herrscher und Volk durch den Glauben diente, wodurch die Kirche weiterhin fester Bestandteil von Herrschaft blieb. Die militärische Gewalt oblag dem König, das Heerwesen wurde modernisiert. Durch den Aufbau einer Bürokratie konnte der König Einfluss in wirtschaftliche Belange nehmen und den dritten Stand einer Kontrollinstanz unterstellen. Er schuf sich damit eine Struktur, um Wirtschaftspolitik zu betreiben. Diese Konzentration von Macht auf eine Person, die in die Lage versetzt wurde, die Gesellschaft insgesamt zu steuern, für ihre Zwecke zu mobilisieren und ihre Ressourcen auszuschöpfen, ermöglichte nationalstaatliche bzw. territorialstaatliche Politik. Die absolutistische Staatsform war im Grunde die Bedingung für eine Politik der territorialen Integration und machtpolitischen Expansion. Zu Machiavellis Lebzeiten war die politische Herrschaft noch in Städten organisiert. Hobbes lebte mitten im Kampf der Entmachtung der Stände und der Etablierung des Absolutismus, mit dem der moderne Territorialstaat entstand, der ein neues Verständnis von Souveränität erforderte. Hegemonial- und Glaubenskriege, wechselnde Staatsbündnisse, innergesellschaftliche Aufstände und religiöse Spaltungen prägten den Alltag des 17. Jahrhunderts in Europa. 4. Interpretation Der oben abgedruckte Primärtext ist ein Auszug aus dem »Leviathan, Or The Matter, Forme, and Power Of A Common-Wealth Ecclesiasticall And Civill«, 1651 veröffentlicht, (dt. »Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates«), kurz »Leviathan« genannt. Das sehr umfangreiche Werk ist in vier Teile mit zahlreichen Unterkapiteln gegliedert. Der erste Teil handelt »Vom Menwww.claudia-wild.de: <?page no="159"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 160 160 Kapitel VIII: Thomas Hobbes schen«, der zweite »Vom Staat«, der dritte »Vom christlichen Staat« und der vierte Teil »Vom Reich der Finsternis«. Die abgedruckten Primärtextstellen entstammen dem ersten und zweiten Teil, die üblicherweise der Hobbes-Interpretation zugrunde liegen. Hier werden auch der dritte und vierte Teil des Werkes berücksichtigt. Ausgangspunkt der Begründung der Hobbes’schen Staatstheorie ist die Natur des Menschen. Seine Methode, die Natur des Menschen zu ergründen, ist »in sich selbst zu lesen« (Primärtext). Der Staat ist für Hobbes etwas Geschaffenes, ein Kunstwerk, das eine Idee beinhaltet, einer Logik folgt und zu einem Zweck erschaffen wurde. Er ist wie eine Maschine, die nur richtig funktioniert, wenn sie den physikalischen und mathematischen Gesetzen entsprechend gebaut wurde. Hobbes entwirft seine Staatstheorie aus theoretischen Annahmen, wie ein Konstrukteur, der eine Maschine entwirft. Da der Staat für ihn aus Menschen besteht-- sie seien sein »Werkstoff«-- muss der Konstrukteur, der auch ein Mensch sei, die Gesetze seiner Natur begreifen. Aber auch derjenige, der die »Maschine Staat« (Primärtext) bediene, müsse die Natur des Menschen verstehen: »Wer eine ganze Nation zu regieren hat, muß in sich selbst lesen-- nicht in diesen oder jenen einzelnen Menschen, sondern in der menschlichen Gattung.« (Primärtext) Hobbes, der Konstrukteur des Staates, hat in sich selbst gelesen und legt im Folgenden seine Erkenntnisse und was er daraus ableitet, dar. So handelt das oben zitierte Kapitel 13 von der natürlichen Bedingung der Menschheit im Hinblick auf ihr Glück und Unglück. Um die Natur des Menschen beschreiben zu können, geht Hobbes fiktiv von einem »Naturzustand« aus, 7 in welchem ständige Angst und die Gefahr eines gewaltsamen Todes herrschten und »das menschliche Leben einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz« (Primärtext) wäre. Die Menschen stünden von Natur aus miteinander im Krieg; »in einem Krieg eines jeden gegen jeden« (Primärtext). Warum? Hobbes sieht in der menschlichen Natur drei Konfliktursachen: Konkurrenz, Misstrauen (bzw. im lat. Text Verteidigung, Abwehr) und Ruhmsucht (worunter er im weiteren Verlauf des Textes Stolz, Ehre und den Wunsch nach Wertschätzung und Anerkennung fasst). Wie kann man diese Veranlagung des Menschen erklären? Hobbes beginnt das 13. Kapitel mit der Annahme, dass die Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten vom Prinzip her gleich geschaffen seien. Zumindest seien die Unterschiede nicht so groß, dass daraus eine klare Abstufung der Wertigkeit der Menschen begründet werden könnte, wie sie in den »Theorien« von Herrenmenschen und Sklavenmenschen grundgelegt würde (hierbei ist sein Bezugspunkt die von der Ungleichheit der Menschen ausgehende aristotelische Philosophie). Betrachtet man weniger die körperlichen und geistigen Unterschiede, sondern vielmehr die Absichten der Menschen, würde man fest- 7 In seiner angenommenen Allgemeinheit ist der Naturzustand bei Hobbes eine Fiktion, gleichwohl ist dieser Zustand auch Realität: »Vielleicht kann man die Ansicht vertreten, daß es eine solche Zeit und einen Kriegszustand wie den beschriebenen niemals gab, und ich glaube, daß er so niemals allgemein auf der ganzen Welt bestand. Aber es gibt viele Gebiete, wo man jetzt noch so lebt.« (Primärtext) <?page no="160"?> 4. Interpretation 161 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 161 stellen, dass sie darin völlig gleich seien: Sie strebten grundsätzlich nach Selbsterhaltung und zudem nach Genuss. Beides bzw. Wohlstand und Reichtum machten die Menschen zu Konkurrenten und zu Feinden und trieben sie dazu, sich gegenseitig zu vernichten und zu unterwerfen. Im Naturzustand wäre das menschliche Leben deshalb einsam, weil jeder jedem Feind wäre und misstraute. Das einzige, was man vom anderen erwarten könnte, wäre Unterwerfung, Raub des erwirtschafteten Hab und Gutes oder den Tod. Im Naturzustand, in dem sich die Menschen also in Einsamkeit befänden, herrschte keine Gerechtigkeit, weil sie ein Phänomen sei, das zwischen Menschen existiere, die miteinander verbunden seien und ein Gemeinwesen bildeten. Garantiert werden könne die Gerechtigkeit in einem Gemeinwesen für Hobbes allerdings nur, wenn es eine allgemeine Gewalt gäbe, die die Menschen dazu zwingen würde, sich an die vereinbarten Gesetze zu halten, also wenn sie gezwungen würden, gerecht zu sein. Das Leben im Naturzustand wäre armselig, weil die Tugend des Fleißes- - als Quelle des Wohlstands- - keine Geltung erlangen könnte. Denn die Menschen könnten sich im Naturzustand der Früchte ihres Fleißes nicht sicher sein, weil es kein Gesetz gäbe, das ihre erarbeitete Habe vor Raub durch die anderen schützen würde, weshalb es nur rational wäre, auf das Fleißigsein und die Erzeugung von Überfluss oder gar Luxus zu verzichten. Ein Leben im ständigen Krieg, charakterisiert durch Kampf und Unterwerfung oder Tod, wäre selbstredend ekelhaft und kurz. Tierisch wäre es deshalb, weil sich die Menschen im Naturzustand vom Verhalten der Tiere nicht unterschieden. »Und soviel über den elenden Zustand, in den der Mensch durch die reine Natur tatsächlich versetzt wird, wenn auch mit einer Möglichkeit, herauszukommen, die teils in den Leidenschaften, teils in seiner Vernunft liegt.« (Primärtext) Dass der Mensch nach Selbsterhaltung strebt, ist für Hobbes reine Natur, wie sie bei allen Lebewesen vorkomme und es sei sein natürliches Recht, sich mit allen Mitteln selbst zu erhalten. Dies ungehindert zu tun, bedeutet für Hobbes Freiheit. Das spezifisch Menschliche der Natur des Menschen, das ihn von allen anderen Lebewesen unterscheide und zur »reinen« Natur hinzukomme, sei aber die menschliche Vernunft. Die Vernunft stehe im Dienst der Selbsterhaltung, denn sie gebiete, alles zu unterlassen, was das Leben des Menschen vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben könnte und alles zu tun, wodurch er sein Leben am besten erhalten könne. Die Gebote der Vernunft seien Gesetze der Natur; der Natur des Menschen, die Gott geschaffen habe. 8 Das erste Gesetz der Natur- - man könnte es also auch »Gesetz der Vernunft« oder »Gesetz Gottes« nennen-- sei die Pflicht des Menschen, sich um Frieden zu bemühen und ihn zu erhalten. Aus diesem folge das zweite 8 Die »Naturgesetze« (»lex naturae«) waren zur damaligen Zeit Gegenstand einer philosophischen Diskussion. Unter »Naturgesetzen« wurden absolut gültige moralische und rechtliche Normen verstanden, die nicht identisch sind mit empirisch gegebenen Regeln und Gesetzen. Sie seien feststehende und ewige sittliche Normen, die sich durch die Vernunft offenbarten. Die Frage sei, wie sie erkannt werden könnten. (Vgl. Thiel 1990, S. 25 f.) <?page no="161"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 162 162 Kapitel VIII: Thomas Hobbes Gesetz der Natur, freiwillig auf sein natürliches Recht auf alles zu verzichten und sich selbst im Umgang mit den anderen nur so viel Freiheit herauszunehmen, wie man den anderen bereit wäre, gegenüber sich selbst zuzugestehen. Man würde sicherlich keinem anderen die Freiheit einräumen, dass er einen unterwerfen oder gar töten darf. Die körperliche Unversehrtheit sowie die Statusgleichheit aller Gesellschaftsmitglieder- - Hobbes nennt sie Untertanen- - seien im Grunde Gebote der Vernunft. 9 Die Natur des Menschen nach Hobbes ist demnach geprägt vom natürlichen Recht auf Freiheit und von den Gesetzen der Vernunft, die wie ein Zügel für die Freiheit sind, denn ein Recht ermögliche etwas zu machen oder nicht und ein Gesetz verpflichte, etwas bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. In diesem Spannungsverhältnis von freier Selbstbestimmung und freiwilliger Selbstbeschränkung steht für Hobbes die menschliche Natur. Der Schlüssel, um aus dem Elend des Naturzustandes herauszukommen, sei die menschliche Vernunft. Aber Hobbes traut der Kraft der Vernunft nicht. Er glaubt nicht, dass es ausreicht, nur an die Einsicht der Menschen zu appellieren, in ihrem eigenen Selbsterhaltungsinteresse untereinander Frieden zu wahren und um des Friedens willen sich in ihrer Freiheit freiwillig einzuschränken. Dazu bedürfte es Edelmut, der zu wenig unter den Menschen vorhanden sei. Deshalb bedient sich Hobbes in seiner Staatstheorie eines weiteren Schlüssels, der zusammen mit der Vernunft aus dem Elend des Naturzustandes heraushelfen soll: die Furcht. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 108) 10 In Kapitel 13 hat Hobbes bereits darauf hingewiesen, dass »die Menschen am Zusammenleben kein Vergnügen [empfinden], sondern im Gegenteil großen Verdruß, wenn es keine Macht gibt, die dazu in der Lage ist, sie alle einzuschüchtern« (Primärtext). Die Einschüchterung von außen ist für ihn eine notwendige Bedingung, damit sich die Menschen selbst beherrschen. Eine solche äußere Macht sei der Glaube an einen allmächtigen Gott, eine metaphysische Macht, vor der die Menschen Ehrfurcht hätten. Aber Hobbes reicht die Gottesfurcht nicht, obwohl er sie für die größte Macht über den Menschen hält. Es müsse eine sichtbare Gewalt geben, die die natürlichen Leidenschaften der Menschen-- wie Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht- - im Zaum zu halten vermöge und sie aus Frucht vor Strafen zur Erfüllung ihrer Verträge und zur Beachtung der natürlichen Gesetze-- wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit- - zwinge. Denn »Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten« (Primärtext). Es muss also eine physische Macht auf Erden geben, vor der sich die Menschen unmittelbar fürchten und sie zwingt, zum allgemeinen Wohl zu handeln. Es bedürfe der Staatsgewalt, eines großen Leviathan, eines sterblichen Gottes, »dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und 9 Die Gleichheit der Untertanen zu postulieren, ist in der damals herrschenden Ständegesellschaft (Adel, Klerus und Dritter Stand) eine starke Provokation. 10 Zitate aus Hobbes’ »Leviathan« sind im Folgenden mit »Lev« als Kürzel der Ausgabe von 1996 angegeben. <?page no="162"?> 4. Interpretation 163 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 163 Schutz verdanken« (Primärtext). Das klingt in der Tat furchtbar. Ist es wirklich nötig, der menschlichen Natur eine furchteinflößende Macht gegenüberzustellen, damit sie friedlich miteinander leben können? Für Hobbes können sich die Menschen nicht wie »politische« Lebewesen-- wie beispielsweise Bienen und Ameisen-- verhalten, weil sie in einem ständigen Wettkampf um Ehre und Würde lägen. Dies führe zu Neid, Hass und Krieg. Ihre Vernunft veranlasse sie dazu, sich für klüger zu halten als die Regierung und in müßiger Stunde ließen sie ihrer Weisheit freien Lauf, kritisierten die Regierung in Grund und Boden und schmiedeten Pläne für Aufstände und Revolutionen. Sie seien in der Lage, ihre Mitmenschen durch Worte zu täuschen und zu trügen, was zu Racheakten führe. Und zuletzt fiele bei den Menschen Gemeinwohl und Privatwohl nicht zusammen. Hobbes geht zwar von der Gleichheit der Menschen aus, was ihre Absichten, ihre Leidenschaften anbelangt, aber in ihrem Geschmack, welche Objekte sie in ihren Leidenschaften begehrten, seien sie allerdings sehr ungleich und darin liege ihre Individualität. Diese Ungleichheit erschwere, dass die Menschen natürlich und selbstverständlich-- wie Bienen oder Ameisen-- zusammenarbeiteten und zusammenhielten. Weil sie von Natur aus individuell seien und in ihren Vorlieben und Abneigungen nicht übereinstimmten, müssten sie künstlich durch Verträge zur Übereinstimmung gebracht werden. Sie müssten sich auf Gemeinsamkeiten verständigen, die dann als Übereinkunft in einem Vertrag festgehalten würden. »Die wechselseitige Übertragung von Recht nennt man Vertrag.« (Hobbes, Lev, S. 102) Das staatliche Gemeinwesen, der »Leviathan«, würde erzeugt durch einen fiktiven Vertrag eines jeden mit einer Person oder einer Versammlung von Menschen, die autorisiert würde, über alle zu regieren (Gesellschaftsvertrag). Dabei verzichteten die Menschen freiwillig auf ihr Willkürrecht, um in einem Gemeinwesen unter Gesetzen, die der Herrscher erlasse und durchsetze, friedlich zusammenzuleben, zur besseren Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse. Die Gegenleistung des Souveräns bestehe darin, Frieden nach innen und Sicherheit nach außen zu gewährleisten. Die Gewaltigkeit des Souveräns bestehe in seiner Allmacht, die er durch seine Untertanen verliehen bekommen habe, die umgekehrt dadurch machtlos und in ihrer Machtlosigkeit gegenüber einander zu Gleichen würden. Das Wesen des Staates gemäß Hobbes besteht in den Naturgesetzen: beruhend auf der Vernunft- - der fiktive Gesellschaftsvertrag zum Erhalt des Friedens- - und der Furcht-- das Gewaltmonopol zur Einschüchterung der Vernunft. Warum gründet das Wesen des Staates auf Vernunft und Furcht und nicht nur auf Vernunft? Zum einen bezweifelt Hobbes, wie oben bereits angeführt, die Wirksamkeit der Vernunft bei allen Menschen, sie vom Ausleben ihrer Leidenschaften und Affekte abzuhalten. »Gewöhnlich sind alle prahlerischen Leute zornig- - wenn sie nicht dazu ängstlich sind- -, da sie mehr als andere dazu neigen, die gewöhnlichen Freiheiten in einer Unterhaltung als Verachtung auszulegen, und es gibt wenige Verbrechen, die nicht aus Zorn begangen werden können. Welche Verbrechen aus Leidenschaften wie Haß, <?page no="163"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 164 164 Kapitel VIII: Thomas Hobbes Lust, Ehrgeiz und Habgier begangen werden können, weiß jeder auf Grund seiner Erfahrung und seines Verstandes genau, so daß darüber nichts gesagt werden braucht, außer, daß es sich dabei um Schwächen handelt, die mit der menschlichen Natur und der aller anderen Lebewesen so fest verbunden sind, daß ihre Auswirkungen nur durch außergewöhnliche Vernunftanstrengungen oder eine ständige, strenge Bestrafung verhindert werden können. Denn die Menschen sehen im Gegenstand ihres Hasses eine ständige und unvermeidliche Belästigung, bei der ein Mensch entweder ewig Geduld haben oder sich erleichtern muß, indem er die Macht dessen beseitigt, was ihn belästigt. Das erste ist schwierig und das letzte oftmals ohne Gesetzesverletzung unmöglich. Ehrgeiz und Habgier sind ebenfalls ständig vorhandene und drängende Leidenschaften, während die Vernunft nicht immer gegenwärtig ist, um ihnen widerstehen zu können, und deshalb wirken sie sich immer dann aus, wenn Hoffnung besteht, straflos zu bleiben. Und was der Lust an Dauer fehlt, das besitzt sie an Heftigkeit, die dazu ausreicht, die Furcht vor leichter und ungewisser Bestrafung aufzuwiegen. Die Leidenschaft, die die Menschen am wenigsten die Gesetze übertreten läßt, ist die Furcht. Ja, sie ist-- einige edelmütige Menschen ausgenommen-- die einzige Kraft, die die Menschen zu ihrer Einhaltung bringt, wenn ein Vorteil oder Vergnügen durch Gesetzesübertretung in Aussicht steht.« (Hobbes, Lev, S. 228) Die Furcht soll die Leidenschaften und Affekte der Menschen, aber auch eine bestimmte Wirkung der Vernunft eindämmen. Was ist damit gemeint? Das Kapitel 13 handelt »von der natürlichen Bedingung der Menschheit im Hinblick auf ihr Glück und Unglück« (Primärtext). Die natürliche Bedingung für das Glück und Unglück der Menschheit ist, der Logik des Textes folgend, die Vernunft, da sie zum einen die geeigneten Grundsätze des Friedens nahelegt, auf Grund derer die Menschen zur Übereinstimmung gebracht werden können, die sie aus dem elenden Naturzustand befreien kann und so zu ihrem Glück beiträgt. Zum anderen ist es aber auch die Vernunft, die manche Menschen in einem Staatswesen sich für klüger halten lässt als die Regierung und den Rest der Gesellschaft. »Und diese Leute streben nach Reformen und Neuerungen, die einen auf diesem, die anderen auf jenem Weg und stürzen die Öffentlichkeit dadurch in Wirren und Bürgerkrieg« (Primärtext) und damit in ihr Unglück. Die Vernunft kann hiernach zwei widersprüchliche Wirkungen entfalten: Sie ist der Schlüssel zur Verständigung, Einsicht und Einheit, aber auch die Ursache für Kritik, Spaltung und Streit, denn sie strebt nach Verbesserung der Lebensbedingungen und prangert ungerechte Lebensverhältnisse an. Diese zweite Wirkung der Vernunft will Hobbes minimieren. »Denn der Wohlstand eines Volkes (das ist das Glück eines Volkes, M. K.), das von einer aristokratischen oder demokratischen Versammlung regiert wird, kommt nicht von der Aristokratie oder Demokratie, sondern vom Gehorsam und der Ein- <?page no="164"?> 4. Interpretation 165 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 165 tracht der Untertanen, noch gedeiht das Volk in einer Monarchie, weil ein einzelner das Recht hat, es zu regieren, sondern weil es ihm gehorcht. Beseitige in jeder Staatsform den Gehorsam und folglich die Eintracht des Volkes-- und es wird nicht nur nicht gedeihen, sondern sich binnen kurzem auflösen.« (Hobbes, Lev, S. 258) Das ist Hobbesens These: eine künstlich erzeugte Eintracht unter den Menschen durch eine bestimmte Staatsform, die den Gehorsam aller gegenüber einem absoluten Souverän erzeugt, führt zum Glück eines Volkes. Hobbes wählt den Namen eines biblischen Ungeheuers für seine Staatskonstruktion, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass wirklich alle zum Gehorsam gebracht werden müssen, auch die Stolzen und Klugen-- die Kritiker der Regierung. »Bisher habe ich die Natur des Menschen, der von seinem Stolz und seinen anderen Leidenschaften dazu getrieben wurde, sich einer Regierung zu unterwerfen, im Zusammenhang mit der großen Gewalt seines Herrschers besprochen, den ich mit dem Leviathan verglichen habe. Dabei entnahm ich diesen Vergleich den beiden letzten Versen des einundvierzigsten Kapitels des Buches Hiob, worin Gott, nachdem er die große Gewalt des Leviathan beschrieben hatte, ihn den König der Stolzen nennt. ›Auf Erden‹, sagt er, ›ist seinesgleichen niemand; er ist gemacht, ohne Furcht zu sein. Er verachtet alles, was hoch ist, er ist ein König über alle Kinder des Stolzes.‹« (Hobbes, Lev, S. 244) Aber was wäre, wenn der Souverän nicht das Richtige tun und die Gesellschaft nach »falschen« Ansichten leiten würde? Für Hobbes gilt, solange der Souverän seiner Aufgabe des Schutzes nachkommt 11 , wäre man zum Gehorsam verpflichtet 12 . Sobald der Souverän seine Macht für seine eigenen Zwecke missbrauchen würde, fielen die Menschen zurück in den Naturzustand. Was »richtig« und was »falsch« ist, hält Hobbes für relativ und nicht für wert, deshalb Unruhen anzustiften. 11 »Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur so lange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn niemand anderes dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden.« (Hobbes, Lev, S. 171) 12 Wer nicht gehorche, breche sogar die natürlichen Gesetze, denen er absolut verpflichtet sei: »Die natürlichen Gesetze verpflichten in for interno, das heißt sie verpflichten zu dem Wunsch, daß sie gelten mögen, aber in foro externo, das heißt zu ihrer Anwendung, nicht immer. Denn jemand, der zu einer Zeit und an einem Ort bescheiden und umgänglich wäre und alle seine Versprechen erfüllte, wo sich sonst niemand so benimmt, würde sich nur den anderen als Beute darbieten und seinen sicheren Ruin herbeiführen, im Widerspruch zur Grundlage aller natürlichen Gesetze, die die Erhaltung der menschlichen Natur zum Ziel haben.« (Hobbes, Lev, S. 121) <?page no="165"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 166 166 Kapitel VIII: Thomas Hobbes »Gut und böse sind Namen, die unsere Neigungen und Abneigungen bezeichnen, die je nach den verschiedenen Temperamenten, Gewohnheiten und Lehren der Menschen verschieden sind. Und verschiedene Menschen weichen nicht nur im Urteil ihrer Sinne über das voneinander ab, was dem Geschmack, Geruch, Gehör, Gefühl und Sehen angenehm oder unangenehm ist, sondern auch über das, was bei den Handlungen des täglichen Lebens mit der Vernunft übereinstimmt oder nicht. Ja, ein und derselbe Mensch hat zu verschiedenen Zeiten verschiedene Ansichten und lobt- - das heißt, nennt gut- -, was er ein andermal tadelt und böse nennt. Daraus entstehen Zank, Streitigkeiten und zuletzt Krieg. Und deshalb befindet sich der Mensch so lange im reinen Naturzustand, der ein Kriegszustand ist, wie private Meinung Maßstab von Gut und Böse ist.« (Hobbes, Lev, S. 122) Da es in einer Gesellschaft immer nur eine Entscheidung in einer Sache geben kann, über die es aber viele Meinungen gibt, bedeutet das, dass am Ende immer welche nachgeben müssen bzw. überstimmt oder gewaltsam übergangen werden und deshalb unter Verhältnissen leben müssen, die nicht ihren Geschmäckern und Leidenschaften entsprechen. Für Hobbes ist klar, dass es in der Lebenswirklichkeit nichts geben kann, was die Menschen eint- - über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Aber die Gesetze der (menschlichen) Natur seien unveränderlich und ewig und würden die Menschen vereinen, »denn Ungerechtigkeit, Undankbarkeit, Anmaßung, Hochmut, Unbilligkeit, Begünstigung und anderes mehr können niemals rechtmäßig gemacht werden. Denn es kann nie der Fall eintreten, daß Krieg das Leben erhält und Frieden es vernichtet.« (Hobbes, Lev, S. 121) »Und folglich stimmen alle Menschen darin überein, daß der Frieden gut ist, und deshalb sind auch der Weg oder das Mittel zum Frieden, also wie ich oben gezeigt habe, Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Bescheidenheit, Billigkeit, Mitleid und all die anderen natürlichen Gesetze gut, das heißt, sittliche Tugenden, und ihr Gegenteil, die Laster, böse.« (Hobbes, Lev, S. 122) Das philosophische Problem, das Hobbes mit seiner Staatskonstruktion lösen möchte, ist die Frage, wie sich Individuen-- trotz ihrer Verschiedenheit-- zu einem friedlichen Gemeinwesen vergesellschaften können. Das Wesen von Meinungen ist, dass sie in Vielfalt nebeneinander existieren können, weil sie geistiger Natur sind. Das Wesen einer Handlung ist, dass sie eindeutig ist und nicht in der Vielfalt von Meinungen ausgeführt werden kann, weil sie in der materiellen Welt stattfindet. Das theoretische Grundproblem des Politischen ist, wie aus einer Vielfalt von Ideen, Wünschen und Interessen eine einheitliche Entscheidung werden soll, die dann in der Realität umgesetzt werden kann. Man kann dieses Problem sich selbst überlassen, also ohne eine Regelung einzuführen, aber dann leben die Menschen wie in einem Naturzustand und es entscheidet der Zufall oder physische Stärke, welcher Wille sich durchsetzt. Hobbes schlägt vor, dass die Menschen nach dem Vorbild der Natur, ein »künstliches Tier« (Primärtext) herstellen sollen. »Denn durch Kunst wird jener große Leviathan <?page no="166"?> 4. Interpretation 167 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 167 geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas, der nichts anderes ist, als ein künstlicher Mensch, wenn auch von größerer Gestalt und Stärke als der natürliche, zu dessen Schutz und Verteidigung er ersonnen wurde.« (Primärtext) Die Lösung für das Problem, wie aus der Vielfalt eine Einheit wird, ist für Hobbes ein Staat, der so konstruiert ist, dass er wie eine Person agieren kann. Dies erfordere den absoluten Gehorsam der Einzelnen gegenüber dem Willen des Souveräns, des Staats(ober)hauptes. 13 Jeder dürfe seine private Meinung und seinen persönlichen Glauben haben, aber auf der Ebene des Gemeinwesens müsse jeder der Entscheidung des Souveräns folgen und gehorchen, auch wenn sie seiner persönlichen Meinung widerspreche. Alles, was ein Untertan »aus Gründen des Gehorsams gegen seinen Souverän zu tun gezwungen wird und dies nicht aus eigenem Willen, sondern im Hinblick auf die Gesetze seines Landes tut, [ist] nicht seine Handlung, sondern die seines Souveräns.« (Hobbes, Lev, S. 381) Die Verantwortung für die Handlung muss man demnach nicht mit seinem eigenen Gewissen vereinbaren können, sondern mit dem »Gewissen« des Souveräns. Allerdings meint er damit nicht das persönliche Gewissen des Souveräns-- der ja auch aus mehreren Personen bestehen kann--, sondern der Staat selbst habe ein allgemeines Gewissen, das aus den Gesetzen bestehe. Die Souveränität sei die »künstliche Seele« des Staates. Worin jedoch besteht diese Souveränität, die eine absolute sein soll? Welche Rechte obliegen dem absoluten Souverän? Hobbes gesteht zu, dass der Staat bestimmte Rechte übertragen könne, wie das Recht des Münzschlagens, die Verfügungsgewalt über Vermögen und Person minderjähriger Erben oder das Marktrecht. Aber es gäbe Rechte, die nur vom Staat wahrgenommen werden dürften, die nicht übertragbar seien und das Wesen der Souveränität untrennbar ausmachten: der Erlass von Regeln, die das Verhalten und das Eigentum der Menschen bestimmten, das Recht der Rechtsprechung, der Oberbefehl über das Militär und das Recht Krieg zu erklären, das Recht Räte, Minister und Beamte zu wählen, das Recht Ehrentitel zu verleihen, die Gewalt der Steuererhebung und die Beeinflussung der Lehrmeinungen. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 141 f.) Letzterem misst Hobbes eine besonders große Bedeutung zu. Da für ihn die Meinungsvielfalt Ursache für Konflikte und Krieg ist, sei »mit der Souveränität verbunden, darüber Richter zu sein, welche Meinungen und Lehren dem Frieden abträglich sind« (Hobbes, Lev, S. 139). »Denn die Handlungen der Menschen entspringen ihren Meinungen, und eine gute Lenkung der menschlichen Handlungen, die Frieden und Eintracht unter ihnen bewirken soll, besteht in einer guten Lenkung ihrer Meinungen.« (Hobbes, Lev, S. 140) Um die positive Wirkung der Vernunft zu stärken, rät er jedem Souverän zu veranlassen, dem Volk Gerechtigkeit zu lehren, indem es dazu gebracht werde, gründlich nachzudenken. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 260) Doch warum ist es bislang noch 13 Wie einen Konstruktionsplan für eine Maschine hat Hobbes einen Kupferstich anfertigen lassen, der den »Leviathan« als einen übergroßen Menschen abbildet, dessen Gewand aus vielen kleinen Menschenköpfen besteht. <?page no="167"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 168 168 Kapitel VIII: Thomas Hobbes nicht gelungen, die Menschen zur Gerechtigkeit zu erziehen? Das erklärt Hobbes so: »Menschen, die durch Notwendigkeit oder Habsucht an ihr Gewerbe und ihre Arbeit gefesselt werden, und auf der anderen Seite Menschen, die ihren sinnlichen Vergnügungen nachgehen, weil sie reich oder träge sind (diese beiden Arten von Menschen machen den größten Teil der Menschheit aus), werden vom gründlichen Nachdenken- - eine notwendige Voraussetzung für das Erlernen der Wahrheit nicht nur in Dingen der natürlichen Gerechtigkeit, sondern auch in allen anderen Wissenschaften-- abgelenkt.« (Hobbes, Lev, S. 261) Der Souverän selbst habe Gerechtigkeit walten zu lassen, indem er Arme wie Reiche und Mächtige vor dem Gesetz gleich behandle. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 262) Die Gesetze, die er in seiner Eigenschaft als Souverän erlasse, müssten gute Gesetze sein. »Ein gutes Gesetz muß zum Wohl des Volkes nötig und zudem eindeutig sein.« (Hobbes, Lev, S. 264) Denn das Wohl des Volkes und des Souveräns könnten nicht voneinander getrennt werden und zur Eindeutigkeit eines Gesetzes gehöre, dass die Gründe klargelegt würden, weshalb das Gesetz erlassen worden sei und es so kurz und mit treffenden Ausdrücken abzufassen, wie nur möglich. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 265) Der Fürst herrscht also durch Gesetze und besitzt dabei die absolute Souveränität, weil er Urheber der Gesetze ist, über das Gewaltmonopol verfügt, diese durchzusetzen und gegen ihn keine Anklage erhoben werden kann. Um die absolute Souveränität des Herrschers zu begründen, muss Hobbes die Rolle der Religion und Kirche neu bestimmen. In welchem Verhältnis stehen in der Hobbes’schen Theorie Kirche, Staat, Religion und Gott? Im dritten und vierten Teil des »Leviathan« versucht Hobbes, mit Hilfe der Heiligen Schrift die Rolle der (katholischen) Kirche in Staat und Gesellschaft neu zu bestimmen, indem er der Kirche das Recht auf Herrschaftsausübung in weltlichen Angelegenheiten radikal abspricht. Sein argumentatives Ziel ist es, das kirchliche Schwert dem Klerus zu entreißen und dem weltlichen Schwert zur Seite zu stellen, den weltlichen Herrscher gar zum Oberhaupt der Kirche in seinem Herrschaftsgebiet zu machen. 14 (Vgl. Hobbes, Lev, S. 419) Hobbes definiert die Kirche als »eine Gesellschaft von Menschen, die sich zur christlichen Religion bekennen und in der Person eines Souveräns vereint sind, auf dessen Befehl sie sich versammeln müssen und ohne dessen Autorität sie sich nicht versammeln dürfen.« (Hobbes, Lev, S. 357) Es gäbe auf der Welt keine allgemeine Kirche, der alle Christen zum Gehorsam verpflichtet seien, »da es auf Erden keine Gewalt gibt, der alle anderen Staaten unterstehen. Es gibt Christen im Herrschaftsgebiet verschiedener Fürsten und Staaten, aber jeder von ihnen ist dem Staat untertan, dessen Glied er ist, und folglich kann er den Befehlen einer anderen Person nicht unterstehen. Und deshalb ist eine solche Kirche, die in 14 Das ist das Konzept des Anglikanismus. <?page no="168"?> 4. Interpretation 169 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 169 der Lage ist zu befehlen, zu richten, freizusprechen, zu verurteilen und jede andere Handlung vorzunehmen, dasselbe, wie ein aus Christen bestehender Staat- - ein bürgerlicher Staat deswegen, weil seine Untertanen Menschen sind, und eine Kirche, weil seine Untertanen Christen sind. Zeitliches und geistliches Regiment sind nur zwei Worte, die aufgebracht wurden, damit die Leute doppelt sehen und sich über ihren gesetzlichen Souverän täuschen sollen.« (Hobbes, Lev, S. 357) Der Souverän in einem christlichen Staat sei der einzige Bote Gottes und Interpret seiner Befehle. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 362) Er sei der oberste Priester und es obliege ihm allein, alle anderen Priester einzusetzen. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 413) »Jedoch der König und jeder andere Souverän übt das Amt eines obersten Priesters auf Grund unmittelbarer göttlicher Autorität aus, das heißt kraft göttlichen Rechts oder iure divino. […] Die Bischöfe müssten an den Anfang ihrer Erlasse setzen: Durch die Gnade Ihrer Majestät des Königs Bischof dieser Diözese, oder als bürgerlicher Diener: Im Namen Ihrer Majestät.« (Hobbes, Lev, S. 414) Die Krassheit dieser Provokation gegenüber der römischen Kirche ist unschwer zu erahnen. Für Hobbes hat die Kirche und die Geistlichkeit die christliche Religion für ihre Herrschaftsinteressen missbraucht und statt das »Licht des Evangeliums« zu verbreiten, die Lehre Christi verdunkelt. 15 Er präsentiert in seinem Werk »Leviathan« eine Argumentation, die nun umgekehrt überzeugen soll, dass die Kirche von je her von falschen Propheten geleitet wurde, deckt deren Blendwerk und unchristliche Praxis auf, um die Wahrheit der christlichen Lehre, der Heiligen Schrift, im Glanz der Vernunft erscheinen zu lassen. Sein argumentatives Ziel ist, die Übereinstimmung der christliche Religion mit dem bürgerlichen Staat aufzuzeigen, weil er zum einen davon überzeugt ist, dass der Mensch Geschöpf Gottes sei und sich trüge, wenn er ohne göttliche Weisung auf der Erde leben wollte (vgl. Hobbes, Lev, S. 271) und zum anderen sollte die Einheit des Willens als notwendige Bedingung eines stabilen Staates nicht durch die Existenz mehrerer souveräner Gewalten gefährdet werden. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 248, 341) Denn die Menschen könnten seiner Ansicht nach nicht zwei oder drei Souveränen gleichzeitig gehorchen. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 418, 439) Und wenn sie es täten, stiftete dies Unfrieden und Krieg. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 446) Welche Rolle darf der Klerus nach Hobbes im Staat einnehmen? Die Geistlichen seien Lehrer, Diener Christi, die durch Lehre überzeugen sollten und nicht durch Herrschaft und Zwang. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 380, 400, 404, 407) Mit welcher Argumentationslogik möchte es Hobbes gelingen, sein Konzept des bürgerlichen Staates mit dem christlichen Glauben in Einklang zu bringen? Die Logik besteht in einer angenommenen Identität von Gott, Natur, Vernunft und Herrschaft. 15 So argumentiert er im vierten Teil des »Leviathan« gegen das Selbstverständnis der Kirche dieser Zeit und die scholastische Philosophie. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 463 ff.) <?page no="169"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 170 170 Kapitel VIII: Thomas Hobbes »Die Gesetze Gottes sind deshalb keine anderen als die Gesetze der Natur, deren hauptsächlichstes ist, daß wir unsere Treuepflicht nicht verletzen sollen, das heißt ein Gebot, unseren bürgerlichen Souveränen zu gehorchen, die wir über uns durch gegenseitigen Vertrag, den einer mit den anderen abgeschlossen hat, eingesetzt haben. Und dieses Gesetz Gottes, das Gehorsam gegen das bürgerliche Gesetz befiehlt, befiehlt folglich Gehorsam gegen alle Vorschriften der Bibel«. (Hobbes, Lev, S. 448) Der Gesellschaftsvertrag zwischen den Bürgern und dem Herrscher sei nicht nur eine vernünftige Vereinbarung, sondern auch eine »Nachahmung« des Heiligen Bundes, den Abraham als Stellvertreter des Volkes Israel mit Gott geschlossen habe, der durch Mose am Fuße des Berges Sinai und durch Jesus erneuert worden sei im Neuen Bund. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 312 f.) Aber was soll ein Christ tun, wenn der Souverän kein Christ ist? (Vgl. Hobbes, Lev, S. 457) Dann hat er trotzdem- - um des Friedens willen- - dem Souverän zu gehorchen. Hobbes argumentiert hier ähnlich wie Augustinus. Ein Christ soll dem weltlichen Herrn gehorchen bis der Heiland zurück auf die Erde kommt, um sein ewiges Reich Gottes zu errichten. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 372) Hobbes gibt diesem Postulat allerdings eine neue Begründung: Das Volk gehorcht dem Souverän qua Gesellschaftsvertrag, der auf Vernunft und nicht auf Glauben gründet-- solange der Souverän Schutz, Sicherheit und Wohlstand als Gegenleistung garantiert. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 340) Umgekehrt widerspreche der Glaube an Gott nicht der Vernunft und auch nicht der Wissenschaft. (Vgl. bspw. Hobbes, Lev, S. 285, 329) Im Gegenteil, wenn wir logisch und vernünftig denken würden, schafften wir nicht Gott ab, sondern die Irrlehren der falschen Propheten, die Gott als Mysterium darstellten und einen Wunderglauben erzeugen wollten, um zu demonstrieren, selbst im Besitz einer besonderen Offenbarung zu sein, damit sie über die auf diese Weise verunsicherten und verängstigten Menschen herrschen könnten. Sie seien Herrscher eines Reiches der Finsternis. (Vgl. Hobbes, 4. Teil des Lev, S. 526, 528) Dieses sei nichts anderes als eine »Verschwörung von Betrügern, die zur Erlangung der Herrschaft über die Menschen in dieser gegenwärtigen Welt versuchen, durch dunkle und irrige Lehren das Licht der Natur und des Evangeliums auszulöschen, um die Menschen von der Vorbereitung auf das künftige Reich Gottes abzubringen.« (Hobbes, Lev, S. 463) Hobbes polemisiert aufs Heftigste gegen die zeremoniellen Praktiken des Klerus, die das Volk wohl verwirren sollten und die keinerlei Erwähnung in der Bibel fänden. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 469 f.) Hobbes versucht nicht nur zeremonielle Praktiken, sondern auch bestimmte »finstere« Lehren, wie die des Fegefeuers, als Fehldeutungen der Bibel zu beweisen. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 480 f.) Jeder Staat gründet für Hobbes auf einem geistigen Fundament. Das Denken, die Bildung, ist für ihn die Grundlage eines erfolgreichen Staates. »Muße ist die Mutter der Philosophie und der Staat die Mutter von Frieden und Muße. Wo es zuerst große <?page no="170"?> 4. Interpretation 171 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 171 und blühende Städte gab, da gab es zuerst das Studium der Philosophie.« (Hobbes, Lev, S. 508) Er äußert sich sehr kritisch über die Lehre an den damaligen Universitäten und diskutiert die Vorzüge der Platonischen gegenüber der Aristotelischen Philosophie, die er geradezu verachtet und an vielen Stellen als »geistige Verirrung« vorführt. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 510 ff.) »Aber wozu, mag mancher sagen, stehen solche Spitzfindigkeiten in einem Werk dieser Art, in dem ich nichts anderes im Auge habe als das, was für die Lehre von der Regierung und vom Gehorsam notwendig ist? « (Hobbes, Lev, S. 514) Weil er eine falsche herrschende Denkweise beseitigen müsse, auf der ein vernünftiger Staat sich nicht gründen und nicht bestehen könne. Worin besteht diese falsche Denkweise? »Aristoteles und andere heidnische Philosophen definierten Gut und Böse durch die Triebe der Menschen, und zurecht, solange wir davon ausgehen, daß jeder von seinem eigenen Gesetz beherrscht wird. Denn befinden sich die Menschen in dem Zustand, in dem sie kein anderes Gesetz kennen als ihre eigenen Triebe, so kann es keine allgemeine Regel für gute und böse Handlungen geben. In einem Staat ist dieser Maßstab aber falsch: nicht der Trieb von Privatleuten, sondern das Gesetz, das Willen und Trieb des Staates darstellt, ist der Maßstab. Und doch wird nach dieser Lehre immer noch verfahren, und die Menschen beurteilen die Güte oder Schlechtigkeit ihrer eigenen Handlungen, die Handlungen anderer und die Handlungen des Staates selbst nach ihren eigenen Leidenschaften, und jeder nennt nur das gut oder böse, was in seinen eigenen Augen so ist, ohne die öffentlichen Gesetze überhaupt zu beachten- - die Kloster- und Predigermönche allein ausgenommen, die durch ein Gelübde zu diesem einfachen Gehorsam gegen ihre Oberen verpflichtet sind, wozu sich jeder Untertan kraft natürlichen Gesetzes dem bürgerlichen Souverän gegenüber verpflichtet fühlen sollte. Und dieser private Maßstab von Gut und Böse ist eine Lehre, die nicht nur sinnlos, sondern auch verhängnisvoll für das öffentliche Staatswesen ist.« (Hobbes, Lev, S. 518 f.) Das ist der Grund, weshalb Hobbes gegen eine demokratische Staatsform ist, in der alle an der Souveränität teilhaben. In einer Demokratie vertritt nach Hobbes’ Auffassung jeder seine Privatmeinung. Und aus vielen Privatmeinungen könne kein einheitlicher Wille entstehen. Und selbst wenn, wer würde dann über die physische Gewalt verfügen, den Gesetzen Kraft und Gültigkeit zu verleihen? (Vgl. Hobbes, Lev, S. 521) Hobbes will keinen Staat, in dem Meinungen herrschen. Er will keinen Staat, der die menschlichen Unzulänglichkeiten abbildet und verwaltet. Er will einen Staat, in dem die Vernunft herrscht, die durch einen Souverän verkörpert wird. Der Staat als »Leviathan« wäre für ihn ein solcher Vernunftstaat. In diesem Sinne argumentiert er für eine absolutistische Monarchie, in welcher der Souverän auch eine demokratische Versammlung sein kann, gleichwohl steht dem allmächtigen Souverän eine völlig machtlose Untertanenschaft gegenüber, die zum Gehorsam verpflichtet ist. Hobbes <?page no="171"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 172 172 Kapitel VIII: Thomas Hobbes sieht zum absoluten Souverän keine Alternative, auch wenn die Gefahr des Machtmissbrauchs tatsächlich bestehe. Er schätzt den Schaden, den ein Monarch oder eine andere souveräne Regierung anrichten kann, für wesentlich geringer ein als das Elend eines Bürgerkriegs. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 162) So schreibt er: »Man mag hier aber einwenden, die Untertanen befänden sich in einer sehr elenden Lage, da sie den Begierden und anderen zügellosen Leidenschaften dessen oder derer ausgesetzt seien, die eine so unbegrenzte Macht in Händen halten. Und gewöhnlich meinen diejenigen, die unter einem Monarchen leben, dies sei ein Mangel der Monarchie, und die unter einer demokratischen Regierung oder einer anderen souveränen Versammlung leben, schreiben alle Unannehmlichkeiten dieser Staatsform zu, während die Gewalt, wenn sie vollkommen genug ist, sie zu schützen, in allen Formen dieselbe ist. Sie bedenken nicht, daß der Zustand der Menschen nie ohne die eine oder die andere Unannehmlichkeit sein kann, und daß die größte, die in jeder Regierungsform dem Volk gewöhnlich zustoßen mag, kaum fühlbar ist, wenn man sie mit dem Elend und den schrecklichen Nöten vergleicht, die ein Bürgerkrieg oder die Zügellosigkeit herrenloser Menschen ohne Unterwerfung unter Gesetze und unter eine Zwangsgewalt, die ihre Hände von Raub und Rache abhält, mit sich bringen. Sie bedenken ebenfalls nicht, daß auch der größte Druck durch souveräne Regenten nicht von irgendeiner Freude oder einem Nutzen herrührt, die sie aus dem Schaden oder Schwächung ihrer Untertanen erwarten können, in deren Kraft ihre eigene Stärke und ihr eigener Ruhm bestehen, sondern von der Widerspenstigkeit der Untertanen selbst, die nur ungern zu ihrer eigenen Verteidigung beitragen und somit bewirken, daß es für ihren Regenten zur Notwendigkeit wird, im Frieden aus ihnen herauszuholen, was sie können, damit sie bei jedem unvorhergesehenen Ereignis oder jeder plötzlichen Notlage die Mittel zur Verfügung haben, ihren Feinden zu widerstehen oder zu übertreffen. Denn alle Menschen sind von Natur aus mit bemerkenswerten Vergrößerungsgläsern ausgestattet, nämlich ihren Leidenschaften und ihrer Eigenliebe, durch die jede kleine Abgabe als große Belastung erscheint, aber es fehlen ihnen die Ferngläser, nämlich Wissenschaft von der Moral und dem Staate, um von ferne die elenden Zustände zu sehen, die über ihnen hängen und ohne diese Abgabe nicht abgewendet werden können.« (Hobbes, Lev, S. 143) Allerdings erscheint es nicht ganz einleuchtend, weshalb ausgerechnet die souveränen Personen nicht wie die Untertanen mit den bemerkenswerten Vergrößerungsgläsern ausgestattet sein sollen und von Leidenschaften und Eigenliebe geleitet werden, warum sie nicht irgendeine Freude und einen Nutzen haben sollten, wenn sie ihren Untertanen schaden und sie schwächen und warum sie die vernünftige Einsicht haben sollten, dass ihre Stärke und ihr Ruhm allein auf der Kraft ihrer Untertanen beruhen? Der Hobbes’sche »Leviathan« gründet auf der utopischen Vorstellung, es <?page no="172"?> 4. Interpretation 173 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 173 könnte einen edelmütigen Herrscher geben, den es mit Stolz erfüllt, sein Wort-- den Gesellschaftsvertrag-- nicht zu brechen, als könnte es einen »sterblichen Gott« geben. Welchen Beitrag leistet Hobbes im Vergleich zu den zuvor behandelten Theoretikern zur Entwicklung der Demokratietheorie? Hobbes argumentiert auf der Grundlage des »gesunden Menschenverstands«, das heißt der Vernunft und im Interesse des Individuums, sich selbst zu erhalten. Im Gegensatz zum Augustinischen Verständnis ist das Individuum bei Hobbes wertvoll und seinem Nutzen-- Selbsterhalt und Genuss-- verpflichtet. Hierin lässt sich die Hobbes’sche Theorie an Marsilius von Padua- - Nützlichkeit der Politik-- und Pico della Mirandola-- Würde des Menschen-- anknüpfen. Während Augustinus die Religion vor dem Staat retten möchte, indem er zwei Reiche definiert und Marsilius den Staat vor der Kirche, indem er die Religion aus dem Staat in die Privatsphäre verbannt und dem Staat religiöse Neutralität verordnet und ihm als Legitimationsquelle die »Volkssouveränität« (im eingeschränkten Sinne) gibt, legitimiert sich bei Hobbes der Staat durch einen vernünftigen Herrscher, der im Sinne seiner Untertanen (fiktiver Gesellschaftsvertrag) mit absoluter Souveränität auf der Grundlage »guter Gesetze« und mit Hilfe des Gewaltmonopols für Frieden sorgt. Um die absolute Souveränität des Fürsten zu erreichen, sieht Hobbes angesichts der realpolitischen Lage die Notwendigkeit, die Religion bzw. die Kirche unter die Herrschaft des »Leviathan« zu stellen. Jeder könne zwar persönlich glauben, was er wolle-- insofern wäre Religion Privatsache- -, aber es gäbe eine Staatsreligion, deren Oberhaupt der Fürst wäre, dessen Gesetzen jeder Gehorsam zu leisten hätte. Denn gesellschaftliche Ruhe und Ordnung stehen bei Hobbes im Grunde über den Gesetzen eines persönlichen Glaubens. Vergleicht man Machiavelli mit Hobbes so sind die beiden Theorien geradezu antagonistisch aufgebaut. Hobbes entwirft seine Staatstheorie deduktiv aus theoretischen Annahmen, wie der Konstrukteur einer Maschine. Der »Leviathan« ist keine Beschreibung der Wirklichkeit eines Staates, sondern ein theoretischer Entwurf, wie ein Staat eingerichtet sein sollte, um Frieden und Gehorsam zu erreichen. Es handelt sich hiermit um eine normative politische Theorie. Hierin unterscheidet er sich grundlegend von Machiavelli, der niemals einen Staat auf dem Reißbrett entworfen hätte. Machiavelli denkt aristotelisch, das heißt, von der Wirklichkeit ausgehend und entwickelt seine Theorie induktiv auf der Grundlage der Erfahrung. Diese Art der Theoriebildung ist für Hobbes keine Wissenschaft, er lehnt sie strikt ab: »Denn sie wird nicht durch Schließen erlangt, sondern man findet sie bei wilden Tieren so gut wie beim Menschen, und sie ist nur eine Erinnerung an das Aufeinanderfolgen von Ereignissen in der Vergangenheit, bei denen die Auslassung jedes kleinsten Umstands die Erwartung des Klügsten zunichte macht, da sie die Wirkung ändert, während durch richtiges Schließen nichts als allgemeine, ewige und unwandelbare Wahrheit erzeugt wird.« (Hobbes, Lev, S. 507) <?page no="173"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 174 174 Kapitel VIII: Thomas Hobbes Machiavelli überließ die Entwicklung der Staatsformen dem Lauf der Geschichte. Was ihn interessierte, war die Regierungskunst, von der er sich versprach, wenn sie reflektiert und nach theoretischen Erkenntnissen erfolgte, die aus der Erfahrung gewonnen wurden, ein Herrscher in einem Gemeinwesen für Frieden und Stabilität sorgen könnte. Die Staatsform wird hier sekundär und die Beherrschung der gesellschaftlichen Kräfte primär. Sie sollen aber nicht durch das Mittel der Furcht, sondern durch die Anwendung bewährter Regierungsmittel, etwa Religion und Nationalismus, gelenkt werden. Der Herrscher selbst sollte keinesfalls religiös sein, sich jedoch den Anschein der Religiosität geben, wenn es zur Stabilität des Gemeinwesens beiträgt. 16 Aber er sollte sich im Herzen von keiner Moral anleiten lassen, um in Krisen- und Notzeiten mit allen Mitteln- - auch unethischen- - vorgehen zu können. Für Machiavelli sind Glaube und Religion zwar eine Tatsache, aber beliebig. Seine politische Theorie fußt auf Realismus und dem Prinzip des Zufalls. Für Hobbes gründet die Welt auf der Weisheit und Vernunft Gottes. Ausgangspunkt seines politiktheoretischen Denkens ist die Natur des Menschen und das Postulat der Vernunft als Gesetz Gottes. Der Mensch sollte die gesellschaftspolitische Entwicklung nicht dem Lauf der Geschichte und des Zufalls überlassen, sondern die Schöpfung Gottes durch die Schöpfung menschlicher Kultur und Technik und damit auch die Schöpfung einer Staatsordnung nachahmen. Auch wenn Machiavelli der Regierungskunst die entscheidende Rolle bei der Stabilisierung des Gemeinwesens zuspricht, weil sie dynamisch auf die Gesellschaftsverhältnisse und Entwicklungen reagieren kann, ist für ihn die Einrichtung des Staates-- als statische Grundlage für das Regieren- - ganz und gar nicht bedeutungslos. Machiavelli setzt auf eine Mischverfassung, die allen gesellschaftlichen Kräften ein Mindestmaß an Freiheit garantieren muss, indem alle Stände am politischen Prozess beteiligt werden und jeder die Möglichkeit hat, bei einer anerkannten Instanz Anklage zu erheben, wenn ihm Unrecht widerfahren ist und auch die Mächtigen müssen sich an das Gesetz halten und auf das Erbfolgerecht verzichten, um Willkür und unfähige Könige auszuschließen, damit keine Unruhen und Aufstände entstehen. Hobbes hingegen setzt auf eine stark asymmetrische Machtverteilung, die absolute Souveränität des Herrschers, die Geltung des Erbfolgerechts und die Standesgleichheit der Untertanen, um innergesellschaftlichen Frieden zu erreichen. Einzig in ihrem Menschenbild stimmen die beiden Denker nahezu überein. Für Machiavelli ist das menschliche Zusammenleben grundsätzlich von Konflikt und Streit geprägt, weil die Menschen nach Ruhm und Reichtum strebten, ehrgeizig und misstrauisch seien und sich im Glück nicht zu mäßigen wüssten, weil sie alles begehrten, aber nicht alles erreichen könnten und sich gegenseitig zu übervorteilen versuchten. Bei Hobbes kommt zum 16 Wobei sich die Frage stellt, zu welcher Religion sich der Herrscher bekennen sollte, wenn das Volk religiös extrem gespalten ist, wie es zu Zeiten von Hobbes der Fall war. <?page no="174"?> 5. Literatur 175 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 175 Streben nach Ruhm und Reichtum der Selbsterhaltungstrieb hinzu, den er mit allen anderen Lebewesen gemeinsam habe und die Vernunft, die spezifisch zur Natur des Menschen gehöre. Die Vernunft gebiete ihm, seine Selbsterhaltung rational zu bewerkstelligen und nicht allein auf seine individuelle physische Stärke zu setzen. Was die Sicherheit des Überlebens und ein Leben im Wohlstand anbelangt, so sieht Hobbes die Selbsterhaltung durch Vernunft der Selbsterhaltung durch Stärke als weit überlegen an. Obwohl das Menschenbild beider Denker fast identisch ist, gelangen sie zu geradezu antagonistisch entwickelten politischen Theorien. Dies liegt sowohl an ihren unterschiedlichen Annahmen über die Grundprinzipien der Welt als auch an ihrem verschiedenen Zugang zur Theoriebildung. Hobbes markiert mit dem »Leviathan« einen Denkumbruch in der Ideengeschichte, weil er der erste Theoretiker ist, der eine ausgefeilte, in sich geschlossene und argumentativ logische Staatstheorie begründet. Sie übt wegen ihres autoritären Charakters bis heute eine große Faszination aus und gibt zu vielfältigen Interpretationen Anstoß. Insbesondere der Titel »Leviathan« und der Kupferstich des übergroßen Menschen, das Frontispiz, ziehen die Interpreten nach wie vor in Bann. Der »Leviathan« kann als Antwort auf die Souveränitätsfrage in einer historischen Situation verstanden werden, in der expandierende Territorialstaaten entstehen, die wegen der christlichen Religionsspaltungen unter Instabilität leiden. Insofern beinhaltet der »Leviathan« auch einen realpolitischen Zug. Aus der Hobbes’schen Staatstheorie hat die Konstruktion des Gesellschaftsvertrages, der auf dem Prinzip der Vernunft gründet, nämlich dem persönlichen Nutzen des Individuums, Sicherheit und Wohlstand genießen zu können, als theoretisches Element in die Demokratietheorie Eingang gefunden, ebenso die Idee des Gewaltmonopols des Staates, um die »guten« Gesetze des Gemeinwesens durchzusetzen. Die Frage, wie aus einer Vielfalt von Willen und Meinungen eine allgemeingültige politische Handlung werden kann, die auf allgemeine Akzeptanz stößt und den gesellschaftlichen Frieden bewahrt, wird durch die Entwicklung von Territorialstaaten zum politiktheoretischen Problem. Die Hobbes’sche Lösung der absoluten Souveränität ist dabei nicht der Weisheit letzter Schluss, wie wir bei den folgenden Denkern erfahren werden. 5. Literatur Der Große Ploetz: die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, begründet von Dr. Carl Ploetz, 34., neu bearbeitete Auflage, bearbeitet von 80 Fachwissenschaftlern, Freiburg i. Br. ohne Jahr. Fetscher, Iring: Einleitung, in: Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner, 7. Aufl., Frankfurt/ M. 1996. <?page no="175"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 176 176 Kapitel VIII: Thomas Hobbes Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner, 7. Aufl., Frankfurt/ M. 1996. Münkler, Herfried: Thomas Hobbes, Frankfurt/ M.; New York 1993. Thiel, Udo: John Locke, Reinbeck 1990. Willms, Bernard: Thomas Hobbes. Das Reich des Leviathan, München; Zürich 1987. <?page no="176"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 177 177 Kapitel IX: John Locke 1. Primärtext 2. Kapitel Der Naturzustand § 4. Um politische Gewalt richtig zu verstehen und sie von ihrem Ursprung abzuleiten, müssen wir erwägen, in welchem Zustand sich die Menschen von Natur aus befinden. Es ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein. Es ist darüber hinaus ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtsprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer: Nichts ist einleuchtender, als daß Geschöpfe von gleicher Gattung und von gleichem Rang, die ohne Unterschied zum Genuß derselben Vorteile der Natur und zum Gebrauch derselben Fähigkeiten geboren sind, ohne Unterordnung und Unterwerfung einander gleichgestellt leben sollen, es sei denn, ihr Herr und Meister würde durch eine deutliche Willensäußerung den einen über den anderen stellen und ihm durch eine überzeugende, klare Ernennung ein unzweifelhaftes Recht auf Herrschaft und Souveränität verleihen. (Aus: Zwei Abhandlungen, S. 201-202) 4. Kapitel Die Sklaverei § 22. Die natürliche Freiheit des Menschen liegt darin, von jeder höheren Gewalt auf Erden frei zu sein, nicht dem Willen oder der gesetzgebenden Gewalt eines Menschen unterworfen zu sein, sondern lediglich das Gesetz der Natur zu seinem Rechtsgrundsatz zu erheben. Die Freiheit des Menschen in der Gesellschaft besteht darin, unter keiner anderen gesetzgebenden Gewalt zu stehen als der, die durch Übereinkunft in dem Gemeinwesen eingesetzt worden ist, noch unter der Herrschaft eines Willens oder der Beschränkung eines Gesetzes zu stehen als lediglich derjenigen, die von der Legislative auf Grund des in sie gesetzten Vertrauens beschlossen werden. Freiheit bedeutet also nicht, was Sir Robert Filmer uns lehrt, O. A. 55 (224): eine Freiheit für jeden, zu tun, <?page no="177"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 178 178 Kapitel IX: John Locke was ihm beliebt, zu leben, wie es ihm gefällt, und durch keine Gesetze gebunden zu sein, sondern: die Freiheit der Menschen unter einer Regierung bedeutet, unter einem feststehenden Gesetz zu leben, das für jeden dieser Gesellschaft Gültigkeit besitzt und von der legislativen Gewalt, die in ihr errichtet wurde, verabschiedet worden ist. Es ist eine Freiheit, mich in allen Angelegenheiten nach meinem eigenen Willen zu richten, wo jene Regel nichts vorschreibt, und nicht dem unbeständigen, ungewissen, unbekannten und willkürlichen Verlangen eines anderen unterworfen zu sein. Und somit bedeutet natürliche Freiheit auch, keiner anderen Einschränkung als der des natürlichen Gesetzes unterworfen zu sein. (Aus: Zwei Abhandlungen, S. 213-214) 7. Kapitel Die politische oder bürgerliche Gesellschaft […] § 87. Der Mensch wird, wie nachgewiesen worden ist, mit einem Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit und uneingeschränkten Genuss aller Rechte und Privilegien des natürlichen Gesetzes in Gleichheit mit jedem anderen Menschen oder jeder Anzahl von Menschen auf dieser Welt geboren. Daher hat er von Natur aus nicht nur die Macht, sein Eigentum, d. h. sein Leben, seine Freiheit und seinen Besitz gegen die Schädigungen und Angriffe anderer Menschen zu schützen, sondern auch jede Verletzung dieses Gesetzes seitens anderer zu verurteilen und sie so zu bestrafen, wie es nach seiner Überzeugung das Vergehen verdient, sogar mit dem Tode, wenn es sich um Verbrechen handelt, deren Abscheulichkeit nach seiner Meinung die Todesstrafe erfordert. Da aber keine politische Gesellschaft bestehen kann, ohne daß es in ihr eine Gewalt gibt, das Eigentum zu schützen und zu diesem Zweck die Übertretungen aller, die dieser Gesellschaft angehören, zu bestrafen, so gibt es nur dort eine politische Gesellschaft, wo jedes einzelne ihrer Mitglieder seine natürliche Gewalt aufgegeben und zugunsten der Gemeinschaft in all denjenigen Fällen auf sie verzichtet hat, die ihn nicht davon ausschließen, das von ihr geschaffene Gesetz zu seinem Schutz anzurufen. Auf diese Weise wird das persönliche Strafgericht der einzelnen Mitglieder beseitigt, und die Gemeinschaft wird nach festen, stehenden Regeln zum unparteiischen und einzigen Schiedsrichter für alle. Durch Männer, denen von der Gemeinschaft die Autorität verliehen wurde, jene Regeln zu vollziehen, entscheidet sie alle Rechtsfragen, die unter den Mitgliedern dieser Gesellschaft auftreten können, und bestraft jene Vergehen, die von irgendeinem Mitglied gegen die Gesellschaft begangen werden, mit den vom Gesetz vorgesehenen Strafen. Daran kann man leicht beurteilen, welche Menschen in einer politischen Gesellschaft zusammenleben und welche nicht. Diejenigen, die zu einem einzigen Körper vereinigt sind, eine allgemeine fest- <?page no="178"?> 1. Primärtext 179 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 179 stehende Gesetzgebung und ein Gerichtswesen haben, das sie anrufen können und das genügend Autorität besitzt, die Streitigkeiten unter ihnen zu entscheiden und Verbrecher zu bestrafen, bilden zusammen eine bürgerliche Gesellschaft. Diejenigen aber, die keine solche gemeinsame Berufungsinstanz besitzen, zumindest nicht auf Erden, befinden sich noch im Naturzustand. Da es keinen anderen Richter gibt, ist jeder zugleich sein eigener Richter und Vollstrecker. Und genau das ist, wie ich schon oben gezeigt habe, der vollkommene Naturzustand. § 88. So gelangt das Staatswesen zu einer Gewalt, für die einzelnen Überschreitungen, die unter den Mitgliedern der Gesellschaft begangen werden und die es der Bestrafung für wert erachtet, das Strafmaß festzusetzen, das man für angemessen hält (also zu der Macht, Gesetze zu erlassen), und zugleich zu jener Gewalt, jegliches Unrecht zu bestrafen, das einem der Mitglieder von jemandem zugefügt wird, der nicht zu dieser Gesellschaft gehört (also zu der Macht über Krieg und Frieden), und das alles zur Erhaltung des Eigentums aller Mitglieder dieser Gesellschaft, soweit es möglich ist. Obwohl aber jeder, der in die bürgerliche Gesellschaft eingetreten und Mitglied eines Staates geworden ist, dadurch seine Gewalt aufgegeben hat, Verbrechen gegen das Gesetz der Natur nach seinem eigenen, persönlichen Urteil zu bestrafen, so hat er doch dem Staat gleichzeitig mit dem Urteilsspruch über Vergehen, den er der legislativen Gewalt für alle die Fälle übertragen hat, in denen er die Obrigkeit zum Schutz anrufen kann, auch ein Recht verliehen, zur Vollstreckung der Urteile des Staates seine Kräfte in Anspruch zu nehmen, so oft er dazu berufen wird. Denn es sind ja in Wahrheit seine eigenen Urteile, da sie von ihm selbst oder von seinen Vertretern gefällt werden. Und hier liegt der Ursprung der legislativen und exekutiven Gewalt der bürgerlichen Gesellschaft: sie hat nach stehenden Gesetzen zu urteilen, wie weit Verbrechen, die innerhalb des Gemeinwesens begangen wurden, zu bestrafen sind. Ebenso muß sie durch ein gelegentliches Urteil, das durch die jeweiligen Umstände des Falles begründet wird, entscheiden, wie weit Schädigungen von außen bestraft werden sollen. In beiden Fällen aber darf sie auf die gesamte Kraft ihrer Mitglieder zurückgreifen, wenn dies notwendig sein sollte. (Aus: Zwei Abhandlungen, S. 253-254) 8. Kapitel Die Entstehung von politischen Gesellschaften § 95. Da die Menschen, wie schon gesagt wurde, von Natur aus alle frei, gleich und unabhängig sind, kann niemand ohne seine Einwilligung aus diesem Zustand verstoßen und der politischen Gewalt eines anderen unterworfen werden. Die einzige Möglichkeit mit der jemand diese natürliche Freiheit aufgibt und die Fesseln bürgerlicher <?page no="179"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 180 180 Kapitel IX: John Locke Gesellschaft anlegt, liegt in der Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel eines behaglichen, sicheren und friedlichen Miteinanderlebens, in dem sicheren Genuß ihres Eigentums und in größerer Sicherheit gegenüber allen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören. Dies kann jede beliebige Anzahl von Menschen tun, weil es die Freiheit der übrigen nicht beeinträchtigt; diese verbleiben wie vorher in der Freiheit des Naturzustandes. Wenn eine Anzahl von Menschen darin eingewilligt hat, eine einzige Gemeinschaft oder eine Regierung zu bilden, so haben sie sich ihr damit gleichzeitig einverleibt, und sie bilden einen einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen mitzuverpflichten. § 96. Denn wenn eine Anzahl von Menschen mit der Zustimmung jedes Individuums eine Gemeinschaft gebildet hat, dann haben sie dadurch diese Gemeinschaft zu einem einzigen Körper gemacht, mit der Macht, wie ein einziger Körper zu handeln, was nur durch den Willen und den Beschluß der Mehrheit geschehen kann. Denn da eine Gemeinschaft allein durch die Zustimmung ihrer einzelnen Individuen zu handeln vermag und sich ein einziger Körper auch nur in einer einzigen Richtung bewegen kann, so muß sich notwendigerweise der Körper dahin bewegen, wohin die stärkere Kraft ihn treibt. Und das eben ist die Übereinstimmung der Mehrheit. Anderenfalls wäre es unmöglich, daß die Gemeinschaft als ein Körper, als eine einzige Gemeinschaft handeln und fortbestehen kann, wie es doch durch die Zustimmung aller Individuen, die sich in ihr vereinigt haben, beschlossen worden war. Und somit ist jeder einzelne durch diese Zustimmung verpflichtet, sich der Mehrheit zu unterwerfen. So sehen wir, daß in Versammlungen, die durch positive Gesetze zum Handeln ermächtigt sind und wo das positive Gesetz, das sie ermächtigte, keine bestimmte Zahl vorschreibt, der Beschluß der Mehrheit als der Beschluß aller gilt und folglich entscheidet, als ob sie nach dem Gesetz der Natur und der Vernunft die Gewalt der Gesamtheit vertreten würde. § 97. Jeder Mensch also, der mit anderen übereinkommt, einen einzigen politischen Körper unter einer Regierung zu bilden, verpflichtet sich gegenüber jedem einzelnen dieser Gesellschaft, sich dem Beschluß der Mehrheit zu unterwerfen und sich ihm zu fügen. Denn sonst würde dieser ursprüngliche Vertrag, durch den er sich mit anderen zu einer Gesellschaft vereinigt, keinerlei Bedeutung haben und kein Vertrag sein, wenn der einzelne weiter frei bliebe und unter keiner anderen Verpflichtung stände als vorher im Naturzustand. Denn welcher Anschein eines Vertrages würde dann noch übrigbleiben? Welche neue Verpflichtung würde er eingehen, wenn er durch die Beschlüsse dieser Gesellschaft nicht weiter gebunden wäre, wie er es selbst für gut hielte und er ihnen wirklich seine Zustimmung gäbe? Dies würde eine noch ebenso große Freiheit bedeuten, wie er sie vor seinem Vertrag hatte oder wie sie sonst jemand im Naturzustand hat, der sich den Beschlüssen der Gemeinschaft unterwerfen und ihren Handlungen zustimmen mag, wenn es ihm nützlich scheint. <?page no="180"?> 1. Primärtext 181 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 181 § 98. Denn wenn man nicht vernünftigerweise die Übereinkunft der Mehrheit für den Beschluß der Gesamtheit hält, der jedes Individuum verpflichten soll, so kann nur die Zustimmung jedes einzelnen etwas zum Beschluß aller machen. Eine solche Zustimmung jemals zu erlangen ist aber so gut wie unmöglich, wenn wir die Krankheiten und die beruflichen Verpflichtungen berücksichtigen, die in einer Anzahl von Menschen, auch wenn sie viel kleiner ist als die eines Staatswesens, notwendigerweise viele von den öffentlichen Versammlungen fernhalten werden. Wenn wir dem noch die unterschiedlichen Meinungen und die gegensätzlichen Interessen hinzufügen, die unvermeidlich in allen menschlichen Versammlungen vorkommen, so würde unter solchen Umständen das Eintreten in die Gesellschaft wie der Eintritt Catos in das Theater sein, d. h. nur um wieder hinauszugehen. Eine solche Verfassung würde dem mächtigen Leviathan eine kürzere Lebensdauer geben als den schwächsten Kreaturen und ihn nicht einmal den Tag seiner Geburt überleben lassen. Das kann man aber nicht annehmen, solange man nicht glaubt, daß vernunftbegabte Wesen nur deshalb Gesellschaften wünschten und begründeten, damit sie wieder aufgelöst würden. Denn wo die Majorität nicht auch die übrigen verpflichten kann, kann die Gesellschaft nicht als ein einziger Körper handeln und wird folglich sofort wieder aufgelöst werden. § 99. Deshalb muß von allen Menschen, die sich aus dem Naturzustand zu einer Gesellschaft vereinigen, auch vorausgesetzt werden, daß sie alle Gewalt, die für das Ziel, um deretwillen sie sich zu einer Gesellschaft vereinigen, notwendig ist, an die Mehrheit der Gesellschaft abtreten, falls man sich nicht ausdrücklich auf eine größere Zahl als die Mehrheit geeinigt hätte. Und das geschieht durch die bloße Übereinkunft, sich zu einer politischen Gesellschaft zu vereinigen, was schon den ganzen Vertrag enthält, der zwischen den Individuen, die in das Staatswesen eintreten oder es begründen, geschlossen wird und notwendig ist. So ist der Anfang und die tatsächliche Konstituierung einer politischen Gesellschaft nichts anderes als die Übereinkunft einer für die Bildung der Mehrheit fähigen Anzahl freier Menschen, sich zu vereinigen und sich einer solchen Gesellschaft einzugliedern. Und allein nur das ist es, was jeder rechtmäßigen Regierung auf der Welt den Anfang gegeben hat oder geben konnte. (Aus: Zwei Abhandlungen, S. 260-262) 11. Kapitel Die Reichweite der legislativen Gewalt § 134. Das große Ziel, das Menschen, die in eine Gesellschaft eintreten, vor Augen haben, liegt im friedlichen und sicheren Genuß ihres Eigentums, und das große Werkzeug und Mittel dazu sind die Gesetze, die in dieser Gesellschaft erlassen worden sind. So ist das erste und grundlegende positive Gesetz aller Staaten die Begründung der <?page no="181"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 182 182 Kapitel IX: John Locke legislativen Gewalt, so wie das erste und grundlegende natürliche Gesetz, das sogar über der legislativen Gewalt gelten muß, die Erhaltung der Gesellschaft und (soweit es mit dem öffentlichen Wohl vereinbar ist) jeder einzelnen Person in ihr ist. Diese Legislative ist nicht nur die höchste Gewalt des Staates, sondern sie liegt auch geheiligt und unabänderlich in den Händen, in welche die Gemeinschaft sie einmal gelegt hat. Keine Vorschrift irgendeines anderen Menschen, in welcher Form sie auch verfaßt, von welcher Macht sie auch gestützt sein mag, kann die verpflichtende Kraft eines Gesetzes haben, wenn sie nicht ihre Sanktion von derjenigen Legislative erhält, die das Volk gewählt und ernannt hat. Denn ohne sie könnte das Gesetz nicht haben, was absolut notwendig ist, um es zu einem Gesetz zu machen, nämlich die Zustimmung der Gesellschaft. Niemand kann eine Gewalt haben, der Gesellschaft Gesetze zu geben, es sei denn aufgrund ihrer eigenen Zustimmung und der Autorität, die ihr von ihren Gliedern verliehen wurde. Und deshalb endet aller Gehorsam, den zu erweisen jemand durch die heiligsten Bande verpflichtet sein kann, zuletzt in dieser höchsten Gewalt und ist jenen Gesetzen unterstellt, die diese Gewalt beschließt. Kein Eid, der einer fremden Gewalt geleistet wurde, und auch keinerlei heimische untergeordnete Gewalt können irgendein Glied der Gesellschaft von seinem Gehorsam gegen die Legislative entbinden, wenn sie dem Vertrauensamt gemäß handelt, oder ihn zu einem Gehorsam verpflichten, der den so gegebenen Gesetzen widerspricht oder weiter reicht, als sie es zulassen. Denn es ist lächerlich anzunehmen, jemand könnte verpflichtet sein, letztlich irgendeiner Gewalt in der Gesellschaft zu gehorchen, die nicht die höchste ist. (Aus: Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Übersetzt von Hans Jörn Hoffmann. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Euchner, 6. Aufl., Frankfurt/ M. 1995, S. 283 f., entspricht 1. Aufl. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1977.) 2. Leitfragen a. Wodurch ist bei Locke der Naturzustand charakterisiert? b. Wodurch wird die natürliche Freiheit des Menschen in der Gesellschaft beschränkt? c. Was kennzeichnet für Locke eine politische bzw. bürgerliche Gesellschaft? d. Unter welcher Bedingung und aus welchen Motiven wird sich ein frei geborenes Individuum »die Fesseln einer bürgerlichen Gesellschaft« anlegen? e. Wodurch werden die Mitglieder in einer bürgerlichen Gesellschaft zur Einheit? f. Welche Bedeutung kommt der legislativen Gewalt im Locke’schen Staatswesen zu? <?page no="182"?> 3. Entstehungskontext 183 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 183 3. Entstehungskontext Biografisches John Locke wurde am 29. August 1632 in Wrington in der englischen Grafschaft Somerset als Sohn eines Rechtsanwaltes geboren. Lockes Großvater war ein sehr erfolgreicher puritanisch gesinnter Unternehmer. Er hatte es durch Tuchhandel zu einigem Wohlstand gebracht, von dem sein Sohn und Enkelsohn noch profitierten. Die gesamte Umgebung, in der Locke aufwuchs war puritanisch geprägt. (Vgl. Euchner 1995, S. 11 f.; vgl. Thiel 1990, S. 7 f.) »Die Puritaner wollten die anglikanische Staatskirche von katholisierenden Elementen befreien, plädierten für die Abschaffung der Bischöfe und letztlich für die Unabhängigkeit der Kirche von der Krone. Sie hielten sich für eine auserwählte Minderheit und meinten durch strenge Bibellektüre, Erforschung des Gewissens, Disziplin und harte Arbeit das Königreich Gottes herstellen zu können.« (Thiel 1990, S. 10) Locke sei zwar sein ganzes Leben gläubiger Christ gewesen, aber er entwickelte sich weder zum dogmatischen Vertreter des Anglikanismus noch zum Puritaner. Jegliche Art von Fanatismus sei ihm ein Gräuel gewesen. (Vgl. Thiel 1990, S. 11) Mit 15 Jahren trat Locke in die seinerzeit als beste Schule Englands angesehene »Westminster School« ein, und lernte dort Griechisch, Latein, Hebräisch, Arabisch, Poetik, Rhetorik, Logik, Arithmetik und Geographie. 1652 nahm er dank eines erworbenen Stipendiums an dem hochangesehenen Christ Church College in Oxford sein Studium auf-- wo noch die mittelalterliche Scholastik das Feld beherrschte-- und wurde wiederum in Logik, Metaphysik und den klassischen Sprachen gedrillt. (Vgl. Euchner 1995, S. 11 f.; vgl. Thiel 1990, S. 12, 15) Er studierte zudem Naturwissenschaften und Medizin. (Vgl. Euchner 1995, S. 13.) Ein solches Studium in der damaligen Zeit war in seiner Art allerdings ähnlich wie ein Theologiestudium: Der Medizinstudent ging, wie der zukünftige Theologe, in die Universitätsbibliothek, las die Schriften der Alten und beantwortete die medizinischen Fragen in Bezug auf diese Textstellen. Das Studium der Medizin und Naturwissenschaft erfolgte nicht anhand von praktischer Anschauung und Erfahrung (Empirie), sondern durch Büchergelehrsamkeit. Die »empirische Methode«, nach der nicht metaphysische Spekulation und Vertrauen auf Autoritäten, sondern Erfahrung und Experiment Grundlage der Naturwissenschaften sein soll, begann sich zu dieser Zeit massiv durchzusetzen. Locke war Mitglied der berühmten 1662 gegründeten »Royal Society«, welche die empirische Methode verfocht. (Vgl. Thiel 1990, S. 31) Lockes medizinische Kenntnisse waren so groß, dass er 1667 sogar Leibarzt von einem Lord Ashley wurde, den er mit einer außergewöhnlichen Methode erfolgreich an der Leber operierte. (Vgl. Euchner 1995, S. 16 f.) Lord <?page no="183"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 184 184 Kapitel IX: John Locke Ashley war seinerzeit einer der politisch einflussreichsten Männer Englands und gehörte dem Teil des englischen Landadels-- der Gentry-- an, der gegen den Einfluss des Königs auf wirtschaftliche Belange kämpfte und sich mit dem aufstrebenden kapitalistischen Bürgertum verbündete. Ab 1672 Graf von Shaftesbury, stand er auf der Seite des protestantischen Bürgertums, das überwiegend zur kapitalistischen Entwicklung Englands beitrug. (Vgl. Euchner 1995, S. 17) »Da Shaftesburys oberster Gesichtspunkt in der Politik die Wirtschaftskraft seines Landes war, hielt er die Toleranz für ein Gebot der politischen Vernunft. Nur die Toleranz des Staates in Glaubensdingen konnte seiner Ansicht nach verhindern, daß die Mitglieder der protestantischen Sekten, des ökonomisch aktiven Teils der englischen Gesellschaft, aus dem Lande getrieben wurden.« (Euchner 1995, S. 18) Deshalb wollte er verhindern, dass der englische Thron an einen Katholiken fiel. Lockes Begegnung und Verbindung mit Shaftesbury war für seinen weiteren Lebensweg prägend. Er wurde durch Shaftesbury in die politische Praxis hineingezogen und begann philosophische Überlegungen mit wirtschaftlicher und politischer Praxis zu verbinden. (Vgl. Euchner 1995, S. 18 f.; vgl. Thiel 1990, S. 37 ff.) Waren für Locke bislang Ruhe und Ordnung das Wichtigste in der Politik, stellte er ab 1667 die vom Staat zu schützenden individuellen Rechte in den Mittelpunkt. (Vgl. Thiel 1990, S. 38) 1668 arbeitete er- - vermutlich auf Wunsch Shaftesburys- - eine Abhandlung zum Problem der staatlichen Regulierung des Zinssatzes aus, wobei er sich für möglichst wenig staatliche Intervention einsetzte. (Vgl. Thiel 1990, S. 40) Durch Shaftesbury machte Locke politisch Karriere. Er wurde Sekretär der Vereinigten Farmer von Carolina und beteiligte sich an Geldgeschäften. (Vgl. Euchner 1995, S. 19) Der Konflikt der Siedler mit den Indianern in Nordamerika war ihm bekannt und er unterstützte die Ideologie der Siedler. Nachdem Shaftesbury zu Ohren gekommen war, dass König Karl II. mit dem katholischen und absolutistischen französischen König Ludwig XIV. einen Geheimvertrag geschlossen hatte, in dem er gegen finanzielle und militärische Unterstützung zusagte, England zu rekatholisieren und Frankreich zu unterwerfen, entwickelte sich der Graf zu einem verbitterten Gegner Frankreichs und des Katholizismus. (Vgl. Thiel 1990, S. 43) Es kam zum Zerwürfnis mit König Karl, Shaftesbury landete im Tower von London, sodass Locke zur Sicherheit, aber auch weil er stark an Asthma litt 1675 eine Reise nach Frankreich antrat. Dort verweilte er vier Jahre und lernte berühmte Ärzte, Naturwissenschaftler und Philosophen kennen, mit denen er einen regen geistigen Austausch pflegte. 1679 kehrte er nach England zurück, wo Shaftesbury im Aufwind seines Kampfes gegen die Thronfolge eines Katholiken Lockes Hilfe benötigte. Denn die »Tories« im Parlament-- Anhänger der konservativen Hofpartei- - beriefen sich bei ihrer Begründung für eine Thronnachfolge nach göttlicher Vorschrift auf die Schriften von Sir Robert Filmer. (Vgl. Euchner 1995, S. 20 f.) Die »Whigs« im Parlament, denen Shaftesbury angehörte, vertraten <?page no="184"?> 3. Entstehungskontext 185 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 185 die Auffassung, dass politische Macht auf Verträgen beruhe und bei Machtmissbrauch durch die Obrigkeit ein Widerstandsrecht bestehe. (Vgl. Thiel 1990, S. 49) Das praktische Problem bestand in Folgendem: Die Ehe des derzeit regierenden Karl II. war bislang kinderlos geblieben. Die »göttliche Vorschrift« sähe vor, dass nach dem Tod Karls sein jüngerer Bruder Jakob, der zum katholischen Glauben übergetreten war, die Thronfolge antreten sollte. Das wollten Shaftesbury und seine Anhänger verhindern. Karl II. hatte viele illegitime Kinder. Wenn sich Karl II. von seiner katholischen, kinderlosen Frau Katharina durch das Parlament scheiden ließe und seinen illegitimen Erstgeborenen James Scott als legitim anerkennen würde, könnte mit James ein Protestant Thronfolger werden. Die Begründungsgrundlage der Tories-- nämlich die Schriften von Sir Robert Filmer-- mussten philosophisch widerlegt werden, um das vorgeschlagene Prozedere der Whigs zu rechtfertigen. Im Zusammenhang dieser politischen Wirrungen verfasste Locke seine »Zwei Abhandlungen über die Regierung«. (Vgl. Euchner 1995, S. 21) Shaftesbury landete 1681 wieder im Tower, versuchte nach seiner Entlassung einen Staatsstreich, der zu missglücken drohte, und floh nach Holland, wo er 1683 verstarb. (Vgl. Euchner 1995, S. 18) Locke floh zur Sicherheit nach dem Sturz Shaftesburys 1683 ebenfalls nach Holland und versuchte von dort aus die Aufständischen gegen den König zu unterstützen. Er geriet auf die Fahndungsliste der englischen Regierung, sodass er längere Zeit unter falschem Namen leben musste. (Vgl. Euchner 1995, S. 21 f.) Nach dem Tod Karls II. 1685 folgte sein katholischer Bruder Jakob II. auf den englischen Thron, der religionspolitisch offensiv gegen die Protestanten vorging. Im holländischen Exil hatte Locke mehr denn je die Gelegenheit, seine philosophischen Gedanken zu verfassen. Mit dem Sturz Jakobs II. 1688/ 89 kehrte Locke auf demselben Schiff aus dem holländischen Exil nach England zurück, auf dem auch die protestantische Tochter Jakobs II. Maria-- die künftige Königin-- nach England reiste. Nach seiner Rückkehr nach England widmete er sich überwiegend bis zu seinem Tode der Philosophie und veröffentlichte seine einschlägigsten Werke 1 . Am 28. Oktober 1704 starb Locke im Alter von 72 Jahren in Oates. (Vgl. Euchner 1995, S. 23 f.) Zeitliches Als John Locke 1632 geboren wurde, herrschte in England Karl I. (1600-1649). Da sich die Lebenszeiten von Locke und Hobbes zwischen 1632 und 1679 überschnitten, lebten die beiden Denker in diesen 47 Jahren in England unter denselben gesellschaftspolitischen Verhältnissen, wie sie bereits im Hobbes-Kapitel beschrieben sind. Hobbes erlebte noch die Regentschaft von Karl II. (1630-1685), der als letzter abso- 1 Dazu zählen neben den »zwei Abhandlungen«, der »Toleranzbrief«, der Essay »Über den menschlichen Verstand« und die »Gedanken über Erziehung«. <?page no="185"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 186 186 Kapitel IX: John Locke lutistischer König Englands gilt. Religionspolitisch verfolgte Karl II. eine tolerante Haltung. Allerdings war er dem katholischen Glauben zugeneigt und schloss, wie oben bereits erwähnt, mit dem französischen König einen Geheimvertrag. Als Oberhaupt der Anglikanischen Kirche blieb er offiziell Protestant, trat aber auf dem Totenbett zum Katholizismus über. Nach Karls Tod folgte sein jüngerer Bruder Jakob II. (1633-1701) auf den englischen Thron. Jakob II. und seine Frau waren beide Katholiken. Jakob II. bemühte sich, die Rechte der katholischen Minderheit in England zu stärken und ging dabei sehr offensiv vor. (Vgl. Thiel 1990, S. 55) Als nach langer Kinderlosigkeit seine Frau 1688 den Thronfolger gebar, fürchteten vor allem die Anglikanische Kirche wie auch die Mehrheit der einflussreichen gesellschaftlichen Kräfte und der englischen Bevölkerung die Etablierung einer römisch-katholischen Herrschaftslinie. Der niederländische protestantische Schwiegersohn des Königs Wilhelm III. (1650-1702), Ehemann der protestantischen Tochter Jakobs II., Maria II. (1662- 1694), potenzielle Thronfolgerin, wenn ihr Vater kinderlos geblieben wäre, wurde vom englischen Parlament aufgefordert, militärisch gegen die Truppen des Königs vorzugehen und die protestantische Mehrheit in England zu unterstützen. Jakob II. floh ins Exil nach Frankreich zu König Ludwig XIV. Daraufhin wurde der Thron von England für vakant erklärt und 1689 Wilhelm von Oranien zum König und seine Frau Maria zur Königin von England, Schottland und Irland gekrönt. Diese Phase der Absetzung Jakobs II. und der Inthronisierung von Wilhelm und Maria wird als »Glorious Revolution« (1688-89) bezeichnet. (Vgl. Thiel 1990, S. 61) Das Parlament war erfolgreich darin, im Zuge dieser »Revolution«, etwa durch die »Bill of Rights«, Souveränitätsrechte zu erlangen. John Locke veröffentlichte seine »Abhandlungen« in dieser Zeit. König Wilhelm III. führte einige Kriege, für die das Parlament große Summen an Steuergeldern bewilligen musste und im Gegenzug dem König Zugeständnisse abrang. Infolge der Regentschaft Wilhelms von Oranien konnte das Parlament seine Souveränitätsrechte immer mehr ausbauen, sodass sich eine- - bis heute bestehende- - konstitutionelle Monarchie etablierte. Da seine Kinder mit Maria II. das Erwachsenenalter nicht erreicht hatten, folgte nach seinem Tod 1702 die jüngere Schwester von Maria II., die protestantische Anne Stuart (1665-1714) auf den englischen Thron. 1707 schlossen sich England und Schottland zu einem Vereinigten Königreich Großbritannien zusammen. Da keines der Kinder von Königin Anne überlebt hatte, bestimmte sie unter größtem Druck des Parlamentes den Protestanten Georg I. (1660-1727) für die Thronnachfolge, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, womit die Herrschaft der Stuarts endgültig beendet war. <?page no="186"?> 4. Interpretation 187 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 187 Gesellschaftspolitisches Locke lebte als Zeitgenosse von Hobbes unter denselben gesellschaftspolitischen Bedingungen: Entmachtung der Stände, Etablierung des Absolutismus, Hegemonial- und Glaubenskriege in Europa, religiöse Spaltungen, der Kampf der katholischen Kirche um ihren Einfluss auf die weltliche Herrschaft und das wirtschaftlich und politisch aufstrebende Bürgertum. Die frühkapitalistische Entwicklung in England mag für die Theoriebildung bei Locke eine größere Rolle gespielt haben als für Hobbes. Da ist seine familiäre Herkunft: Lockes Großvater war ein puritanisch gesinnter Tuchfabrikant. Und da ist seine Verbindung mit dem Grafen Shaftesbury, der an der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung seines Landes interessiert war und Locke für seine politischen Ideen begeistern konnte. England bzw. Großbritannien war Vorreiterin der Industriellen Revolution in Europa. Ein Grund dafür wird in den für Kapitalbildung günstigen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen gesehen, die ihren Ausgangspunkt Mitte des 17. Jahrhunderts hatten. Mit der Tuchherstellung war England zum Produzenten von Fertigwaren geworden, wodurch sich der englische Handel ausweitete. Die Landwirtschaft konnte ihre Produktivität derart steigern, dass zum einen die wachsende Bevölkerung genug zu essen hatte und zum anderen Arbeitskräfte für die Industrie freigesetzt wurden, die zur Kapitalbildung beitrugen. Zudem wanderten zahlreiche hochqualifizierte Handwerker, Berg- und Hüttenleute in England ein, die in ihrer Heimat wirtschaftliche und religiöse Schwierigkeiten hatten. Als Ludwig XIV. 1685 gegenüber den Hugenotten das Toleranzedikt aufhob, flohen Tausende von ihnen nach England. Sie brachten hochwillkommene Kenntnisse in fortschrittlichen gewerblichen Techniken der französischen Luxusgüterindustrie mit. Das Parlament bestand zu einem Gutteil aus aristokratischen, kapitalistisch denkenden Grundbesitzern, wie Graf Shaftesbury, und bürgerlichen Kaufleuten. (Vgl. Niemann 2009, S. 69-71) 4. Interpretation Die oben abgedruckten Primärtextstellen sind Auszüge aus »Two Treatises of Government« (dt. »Zwei Abhandlungen über die Regierung«), kurz »Abhandlungen« genannt. Locke verfasste sie zwischen 1680 und 1682, im Jahr 1689 wurden sie von ihm anonym veröffentlicht. In der ersten Abhandlung möchte Locke die »falschen Prinzipien« von Sir Robert Filmer widerlegen. 2 In der Einleitung beschreibt er die Grundposition Filmers: »Sein 2 Es handelt sich bei den »Abhandlungen« also nicht um einen theoretischen Gegenentwurf zum Hobbes’schen »Leviathan«, gleichwohl Locke die Schrift gekannt haben muss. Hobbes wird nur punktuell zum intellektuellen Gegner, aber nicht in seinem Gesamtkonzept. Dabei wäre aus ideengewww.claudia-wild.de: <?page no="187"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 188 188 Kapitel IX: John Locke System ist sehr begrenzt und sagt im Grunde genommen nur folgendes: daß jede Regierung absolute Monarchie ist. Und die Gedanken, auf denen er aufbaut, lauten, daß kein Mensch frei geboren wird.« (Locke, I, § 2, S. 67) 3 Filmer begründet seine Position durch die Deutung von Bibelstellen. Demnach würden die Menschen ihren Eltern gegenüber in Knechtschaft geboren und könnten deshalb nicht frei sein. (Vgl. Locke, I, § 6, S. 69) Zudem versuche er Adams Königtum zu beweisen und ziehe den Schluss: »Gott gab die Erde den Menschenkindern, ergo war Adam Monarch der Welt«. (Locke, I, § 31, S. 90) Dagegen Locke: »Schrift oder Vernunft sagen das nirgends.« (Locke, I, § 4, S. 67 f.) Und so beginnt er, Filmers Behauptungen auf der Grundlage der Heiligen Schrift, der Vernunft und des gesunden Menschenverstandes (vgl. Locke, I, § 38, S. 95) zu widerlegen. Locke vertritt die gegenteilige Auffassung Filmers, nämlich, dass die Menschen frei und gleich geboren würden und hält dies auch mit der Bibel vollkommen vereinbar. (Vgl. Locke, I, § 15, S. 76; § 67, S. 120) Für Locke ist der Glaube an das Wort Gottes, die Vernunft und den wissenschaftlichen Fortschritt auf der Basis von Logik und Experiment kein Widerspruch. Er sieht den Ursprung allen Lebens, aller Bewegung und allen Seins in Gott. (Vgl. Locke, I, § 52, S. 107) Ohne die Anwendung der Vernunft würde es der Mensch zu einer Wildheit und Rohheit bringen, die weit unter dem Niveau des Tieres stehe. Die Vernunft, die ihn fast den Engeln gleich mache, sei sein einziger Stern und Kompass. (Vgl. Locke, I, § 58, S. 111) Die Vernunft sei die Stimme Gottes im Menschen. (Vgl. Locke, I, § 86, S. 136) Das Gesetz der Natur sei ein Gesetz der Vernunft. (Vgl. Locke, I, § 101, S. 147) Für Locke ist Gott, Natur und Vernunft identisch. (Vgl. Locke, II, § 135, S. 285) Aber wodurch ist die Herrschaft legitimiert (das heißt, aus welchen Gründen kann sie sich rechtfertigen)? Aus dem starken Selbsterhaltungstrieb, den Gott dem Menschen eingepflanzt habe, leitet Locke ein natürliches Recht auf Eigentum 4 ab (vgl. Locke, I, § 86, S. 136) sowie dass die Kinder den Besitz der Eltern erben dürften. (Vgl. Locke, I, § 88, S. 138) Der Besitz könne von einem Vater auf seine Kinder vererbt werden, aber nicht, sofern er darüber verfüge, seine Herrschaft. »Es (das Kind, M. K.) kann leben und von ihm einen Anteil an nützlichen Dingen, selbstverständlich auch die Vorteile einer guten Erziehung, die ihm ja von Natur aus zusteht, empfangen, nur keine Herrschaft und kein Herrschaftsgebiet. Die waren dem Vater (wenn er sie überhaupt besaß) nur zum Wohl und Vorteil anderer überschichtlicher Sicht nicht Sir Robert Filmer, sondern Hobbes die intellektuelle Herausforderung für Locke gewesen. Im Folgenden werden dennoch die Ausführungen Lockes mit den Ideen von Hobbes konfrontiert. 3 Zitate aus Lockes »Zwei Abhandlungen über die Regierung« sind im Folgenden mit »I« oder »II« als Kürzel für die I. oder II. Abhandlung der Ausgabe von 1995 angegeben. 4 Eigentum ist bei Locke Leben, Freiheit und Besitz. (Vgl. Locke, II, § 87, S. 253; § 123, S. 278) <?page no="188"?> 4. Interpretation 189 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 189 tragen worden. Deshalb hat der Sohn weder einen Anspruch noch ein Erbrecht darauf, das sich völlig auf seinen persönlichen Nutzen und Vorteil gründet.« (Locke, I, § 93, S. 142) Für Locke gibt es demnach keine Legitimation (Rechtfertigung) für Herrschaft qua Erbfolge. Für ihn regieren Herrschende nicht zu ihrem eigenen Nutzen, sondern zum Wohl der Gesellschaftsmitglieder. »Eine Regierung jedoch bezweckt die Erhaltung von Recht und Eigentum eines jeden. Sie schützt ihn vor der Gewalttätigkeit und dem Unrecht anderer und dient deshalb zum Wohl der Regierten. Denn das Schwert der Obrigkeit soll ein Schrecken für die Übeltäter sein. Diese Abschreckung soll die Menschen zwingen, die den Gesetzen der Natur nachgebildeten positiven Gesetze der Gesellschaft um des öffentlichen Wohles willen zu befolgen, d. h. für das Wohl jedes einzelnen Mitgliedes, soweit das durch allgemeine Vorschriften bewirkt werden kann. Das Schwert ist der Obrigkeit nicht allein zu ihrem eigenen Nutzen gegeben worden.« (Locke, I, § 92, S. 141) Wenn Herrschaft einen Anspruch auf Legitimität (Rechtmäßigkeit) erheben wolle, dann müsse sie für die Unterworfenen handeln und für sie einsichtig begründet werden. (Vgl. Locke, I, § 81, S. 133 f.) Sir Robert Filmer gäbe in seiner Schrift keine plausible Antwort auf die Frage der Legitimität von Herrschaft, worüber sich Locke stark echauffiert. »Die große Frage, die die Menschheit zu allen Zeiten beunruhigt und den größten Teil jener Verhängnisse über sie gebracht hat, durch die der Frieden der Welt gestört wurde, die Städte verwüstet und die Länder entvölkert worden sind, war nicht etwa die, ob es eine Gewalt auf der Welt geben soll, auch nicht, woher diese Gewalt nun gekommen ist, sondern es war die Frage, wem diese Gewalt zufallen sollte. Da von dieser Frage nicht nur die Sicherheit der Fürsten, der Friede und die Wohlfahrt ihrer Länder und Reiche abhängen, sollte man meinen, daß ein Reformer auf dem Gebiet der Politik gerade diesen Punkt absichern und sich der größten Klarheit befleißigen werde. Denn wenn dieser Punkt anfechtbar bleibt, haben alle anderen Bemühungen wenig Sinn. Die Geschicklichkeit, die immer wieder angewandt wird, die Gewalt mit all dem Glanz und der Versuchung zu umgeben, die ihr der Absolutheitscharakter zusätzlich verleiht, ohne dabei zu zeigen, wer eigentlich ein Recht auf sie hat, kann doch letzten Endes nur dahin führen, den natürlichen Ehrgeiz des Menschen, der sich allzu gern über gegebene Grenzen hinwegsetzt, anzustacheln und zu verschärfen. Was bewirkt das schließlich anderes, als die Menschen zu einer noch egoistischeren Raffgier anzustacheln? Somit wird eine sichere und dauerhafte Grundlage für endlose Kämpfe und ewige Unzuwww.claudia-wild.de: <?page no="189"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 190 190 Kapitel IX: John Locke friedenheit gelegt, anstatt für Frieden und Ruhe zu sorgen, was die Aufgabe jeder Regierung und der Endzweck der menschlichen Gesellschaft sein sollen.« (Locke, I, § 106, S. 151) Der Endzweck einer jeden Herrschaft ist also, Frieden und Ruhe zu gewährleisten. Wie sich eine Herrschaft begründen lässt, die diesem Zweck gerecht wird, möchte Locke in der zweiten Abhandlung zeigen. Die zweite Abhandlung handelt über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck staatlicher Regierung. In seiner Argumentation bezieht sich Locke immer wieder auf die Positionen Sir Robert Filmers. Die Einleitung gibt zunächst seinen eigenen theoretischen Standpunkt wieder: »Wer sich aus einem berechtigten Anlaß gegen die Überzeugung wehrt, daß alle Regierung auf der Welt nur das Produkt von Stärke und Gewalt ist und das Zusammenleben der Menschen keinen anderen Regeln unterworfen ist als das (sic! ) der Tiere, bei denen der Stärkste die Führung gewinnt, was die Grundlage für dauernde Unordnung und Unheil, Aufruhr, Empörung und Rebellion schafft (wogegen gerade die Anhänger jener Hypothese so lautstark protestieren), muß deshalb einen anderen Ursprung der Regierung, einen anderen Ursprung politischer Macht und eine andere Möglichkeit ausfindig machen, ihre Träger zu bestimmen und zu erkennen, als es uns Sir Robert Filmer gelehrt hat.« (Locke, II, § 1, S. 200 f.) Locke grenzt sich gegen die Position der Realisten ab, für die politische Verhältnisse immer ein Ergebnis von Macht und Gewalt seien. Er möchte im Folgenden begründen, wem nach Maßgabe bestimmter normativ wünschenswerter Prämissen das Recht zukommt, politische Gewalt auszuüben. »Unter politischer Gewalt verstehe ich dann ein Recht, für die Regelung und Erhaltung des Eigentums Gesetze mit Todesstrafe und folglich auch allen geringeren Strafen zu schaffen (das ist eine gesetzgebende Gewalt, M. K.), wie auch das Recht, die Gewalt der Gemeinschaft [das ist das-- wie bei Hobbes begründete- - Gewaltmonopol des Staates, M. K.] zu gebrauchen, um diese Gesetze zu vollstrecken und den Staat gegen fremdes Unrecht zu schützen, jedoch nur zugunsten des Gemeinwohls.« (Locke, II, § 3, S. 201) Locke will mittels seiner politiktheoretischen Überlegungen also nicht zeigen, wie Herrschaft in der Realität funktioniert und ausgeübt wird, sondern er sucht nach einer legitimen Begründung für Herrschaft, also wie Herrschaft funktionieren sollte, um ein bestimmtes ethisches Gut zu erreichen (Erhaltung von Recht und Eigentum, Frieden und Ruhe). Allerdings verfolgt er nicht nur dieses rein intellektuelle Interesse einer gerechten Herrschaftsform, sondern durchaus auch die Absicht, in der Realpolitik eine Wirkung zu erzielen, indem die absolutistische Herrschaft des englischen Königs zugunsten einer parlamentarischen Regierung gebrochen wird, um die Gefahr einer katholischen <?page no="190"?> 4. Interpretation 191 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 191 Thronfolge zu verhindern. Locke will mit seiner Theorie also zunächst ein realpolitisches Problem lösen. Er verfasst eine antiabsolutistische Schrift, die aber auf allgemeinen Prinzipien beruht und damit auch einen politiktheoretischen Anspruch hat. Um unabhängig von der Wirklichkeit eine Form menschlichen Zusammenlebens zu begründen, greift Locke wie Hobbes auf die Idee eines fiktiven Naturzustandes zurück. 5 Bei Locke ist der Naturzustand ein Zustand vollkommener Freiheit und Gleichheit in den Grenzen des Naturgesetzes, in dem jeder handelt, wie es ihm für seinen Selbsterhalt am besten erscheint. Während für Hobbes aus dem Naturrecht-- sich mit allen Mitteln selbst zu erhalten-- im Naturzustand ein Krieg eines jeden gegen jeden folgt, in dem jeder danach trachtet, den anderen zu vernichten und zu unterwerfen, weshalb sich die Menschen aus diesem Elend befreien möchten, kreiert Locke eher einen positiven Naturzustand und grenzt sich damit explizit von der Hobbes’schen Vorstellung ab. »Aber obgleich dies ein Zustand der Freiheit ist, so ist es doch kein Zustand der Zügellosigkeit. Der Mensch hat in diesem Zustand eine unkontrollierbare Freiheit, über seine Person und seinen Besitz zu verfügen; er hat dagegen nicht die Freiheit, sich selbst oder irgendein in seinem Besitz befindliches Lebewesen zu vernichten, wenn es nicht ein edlerer Zweck als seine bloße Erhaltung erfordert. Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, daß niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll. Denn alle Menschen sind das Werk eines einzigen allmächtigen und unendlich weisen Schöpfers, die Diener eines einzigen souveränen Herrn, auf dessen Befehl und in dessen Auftrag sie in die Welt gesandt wurden. Sie sind sein Eigentum, da sie sein Werk sind, und er hat sie geschaffen, so lange zu bestehen, wie es ihm, nicht aber wie es ihnen untereinander gefällt. […] Wie ein jeder verpflichtet ist, sich selbst zu erhalten und seinen Platz nicht vorsätzlich zu verlassen, so sollte er aus dem gleichen Grunde, und wenn seine eigene Selbsterhaltung nicht dabei auf dem Spiel steht, nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten.« (Locke, II, § 6, S. 203) Für Locke wäre ein Zustand, in dem die Menschen vernünftig ohne ein Oberhaupt zusammenleben der eigentliche Naturzustand und Gewaltverhältnisse, in denen kein gemeinsamer Oberherr um Hilfe angerufen werden könnte, nennt er Kriegszustand. 5 Locke benutzt den »Naturzustand« als Bezeichnung für alle Lebensformen, in denen die Menschen nicht ihre Zustimmung gegeben haben, ein Mitglied der politischen Gesellschaft zu sein. Insofern kann er den Begriff »Naturzustand« auch auf real existierende Gesellschaften anwenden. (Vgl. Locke, II, § 15, S. 208, 209) <?page no="191"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 192 192 Kapitel IX: John Locke (Vgl. Locke, II, § 19, S. 211) Wie ist es zu erklären, dass der Naturzustand bei Hobbes »einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz« und der Naturzustand bei Locke eher friedlich und behaglich ist, sodass gar keine große Not herrscht, aus ihm herauszukommen, außer um die Behaglichkeit durch Bündelung der Kräfte zu vergrößern (vgl. Locke, II, § 15, S. 209) oder um einen Kriegszustand zu vermeiden (vgl. Locke, II, § 21, S. 212 f.)? Der Unterschied kommt dadurch zustande, dass im Hobbes’schen Naturzustand die reine Natur des Menschen wirkt, die ohne Vernunft gedacht ist und bei Locke im Naturzustand die Vernunft das Verhalten der Menschen leitet. (Vgl. Locke, II, § 57-61, S. 234-237) Die Vernunft ist bei Hobbes eine Berufungsinstanz, um sich aus dem Naturzustand zu befreien und auf der Basis eines Gesellschaftsvertrages einen absolutistischen Staat zu gründen, in dem wiederum nicht die Vernunft das Verhalten der Menschen beeinflussen würde, sondern das Gefühl von Furcht vor dem Herrscher. Hobbes traut den Menschen nicht zu, dass sie bei ihrer Lebensführung ihre Vernunft befragten. Insofern setzt er in seiner Theoriekonstruktion nicht auf ihre Wirksamkeit, aber er beruft sich auf sie in der Begründung seiner Staatstheorie. Locke scheint hierin optimistischer zu sein und geht grundsätzlich von der Wirksamkeit der Vernunft aus, die den Menschen verpflichte, sich an das Gesetz der Natur (also sich für Frieden und den Erhalt der ganzen Menschheit einzusetzen, vgl. Locke, II, § 16, S. 209) zu halten (vgl. u. a. Locke, II, § 135, S. 285). Der Naturzustand bei Locke ist vornehmlich dadurch charakterisiert, dass die Vollstreckung des natürlichen Gesetzes in jedermanns Hände liegt, also Selbstjustiz herrscht. (Vgl. Locke, II, § 7, S. 203) Er gesteht zu, dass die Nachteile im Naturzustand erheblich sein müssten, wenn die Menschen Richter in eigener Sache seien, denn es sei nicht ganz auszuschließen, dass ihre Eigenliebe sie sich selbst und ihren Freunden gegenüber parteiisch machte und sie sich von Bosheit, Leidenschaft und Rache zu weit hinreißen lassen könnten. Aber mit diesem Argument hat er den Einwand nicht entkräftet, dass die Menschen eben nicht nur-- oder auch gar nicht-- von der Vernunft geleitet werden, sondern zudem von Trieben und Leidenschaften. Hobbes zieht aus der im Naturzustand voll ausgelebten Triebhaftigkeit und Leidenschaftlichkeit der Menschen die Konsequenz, dass eine Staatsform auf sie eingestellt sein und ihre negativen Folgen ausgleichen müsse, und setzt dabei auf die Vernünftigkeit eines absoluten Herrschers. Locke hingegen geht grundsätzlich von der Vernünftigkeit der Menschen aus, die auch im Naturzustand zum Tragen komme und auf die im gesellschaftlichen Zustand gebaut werden könne. Für Locke ist es demnach begründungsbedürftig, warum die Menschen ein Leben im Naturzustand für ein Leben in einem gesellschaftlichen Zustand aufgeben sollten. Ist doch die natürliche Freiheit des Menschen im Naturzustand durch nichts als durch das Gesetz der Natur beschränkt. Locke leuchtet eine Beschränkung der vollkommenen (natürlichen) Freiheit nur dann ein, wenn es eine dazu berechtigte Instanz gäbe, die allerdings von denjenigen eingesetzt werden müsste, deren natürliche Freiheit sie beschränkte. Die Freiheit des Menschen in der Gesellschaft würde nur durch die gesetz- <?page no="192"?> 4. Interpretation 193 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 193 gebende Gewalt beschränkt, die als Legislative durch Übereinkunft in dem Gemeinwesen eingesetzt worden wäre. Und wo die Legislative keine Regel vorschreibe, könne sich jeder nach seinem eigenen Willen richten. Bei Locke wird also die natürliche Freiheit im gesellschaftlichen Zustand nicht vollkommen aufgegeben, wie etwa bei Hobbes, sondern sie bleibt grundsätzlich bestehen und wird nur dort aufgehoben, wo die Legislative ein allgemeines Gesetz erlässt, an das sich dann aber alle ausnahmslos zu halten hätten. Locke richtet sich damit strikt gegen die Legitimation der gesetzgebenden Gewalt durch Gottes Gnaden, gegen Machtfülle und gegen Willkürherrschaft. Die Allmacht des Herrschers ist allerdings ein konstitutives Element der Hobbes’schen Staatstheorie. Locke richtet sich jedoch in seiner Argumentation nicht explizit gegen diese Theoriekonstruktion, sondern geht von den schlechten Erfahrungen aus, die er in real existierenden absolutistischen Herrschaften gemacht hat, in denen sich die Herrschenden auf »Gottes Gnaden« beriefen und Willkür hätten walten lassen: »Wer nämlich glaubt, absolute Gewalt reinige das Blut der Menschen und verbessere die Gemeinheit der menschlichen Natur, der braucht nur die Geschichte des jetzigen oder irgendeines anderen Zeitalters zu lesen, um vom Gegenteil überzeugt zu werden. Wer in den Wäldern Amerikas unverschämt und ungerecht gewesen wäre, würde wahrscheinlich auch auf einem Thron nicht viel besser sein, wo sich Gelehrsamkeit und Religion vielleicht dazu bereit finden, alles zu rechtfertigen, was er seinen Untertanen zufügt, und wo das Schwert alle sofort zum Schweigen bringt, die es in Frage zu stellen wagen.« (Locke, II, § 92, S. 257) Wenn Locke also Gottesgnadentum und Willkürherrschaft aus schlechter Erfahrung ablehnt, dann widerlegt er damit nicht die theoretische Argumentation von Hobbes, der in seiner Theorie dem Herrscher ausdrücklich vorschreibt, nach Gesetzen und nicht zum eigenen Nutzen zu herrschen. Der absolute Souverän besitzt die Machtfülle nur, um die guten Gesetze der Gesellschaft im Sinne des Gesellschaftsvertrags durchzusetzen und zu schützen. Jedoch muss sich Hobbes die Frage gefallen lassen, warum real existierende absolutistische Herrscher nicht im Sinne seiner Staatstheorie handeln, sondern Gottesgnadentum, Machtfülle und Willkürherrschaft zu ihrem eigenen Nutzen und zum Schaden der Gesellschaft missbrauchen. Hobbes setzt durchaus auf die Klugheit der herrschenden Elite und geht davon aus, dass sie an innergesellschaftlichem Frieden und einer dauerhaften Herrschaft interessiert seien. Aber was ist, wenn die herrschende Elite doch egoistisch und dumm ist? Seine Theoriekonstruktion sieht bei Missbrauch der Herrschaft vor, dass die Menschen von ihrem Naturrecht auf Selbsterhalt Gebrauch machen dürften und der Herrschaft den Gehorsam zu verweigern. Dann aber herrschte Krieg und die Menschen fielen in den Naturzustand zurück. Hobbes’ Theoriegebäude steht und fällt mit der Vernünftigkeit und Klugheit der herrschenden Elite. Locke möchte darauf nicht setzen. Denn selbst wenn am <?page no="193"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 194 194 Kapitel IX: John Locke Anfang einer Monarchie ein guter und vortrefflicher Mann eingesetzt wurde (vgl. Locke, II, § 94, S. 258), könnten seine Nachkommen anders geartet sein, sodass das Eigentum des Volkes nicht mehr sicher sei (vgl. Locke, II, § 94, S. 259). Die Staatsform der absoluten Monarchie kann also für Locke keine dauerhaft erfolgreiche sein, weil sie von der zufälligen Erscheinung eines guten Herrschers abhänge, weshalb er rät, die Gesetzgebung auf eine kollektive Körperschaft, wie einen Senat oder ein Parlament, zu übertragen (vgl. Locke, II, § 94, S. 259). Wie konstruiert Locke eine politische bzw. bürgerliche Gesellschaft? In einer politischen Gesellschaft seien die Individuen zu einem einzigen Körper vereinigt, indem jedes Mitglied seine »natürliche« Gewalt zugunsten der Gemeinschaft aufgegeben habe. Die Aufgabe der »natürlichen« Gewalt beziehe sich allerdings nur auf das »natürliche« Recht im Naturzustand, Angreifer nach eigenem Ermessen zu bestrafen und zu richten (vgl. auch Locke, II, § 7, S. 203). Das Wesen einer politischen Gesellschaft bestehe in einer allgemeinen feststehenden Gesetzgebung und einem Gerichtswesen als gemeinsame Berufungsinstanz. Die legislative und exekutive Gewalt in einer bürgerlichen bzw. politischen Gesellschaft müssten nach stehenden Gesetzen urteilen; sie dürften also auf keinen Fall willkürlich, das heißt nach persönlichem Ermessen, handeln. Für Locke gäbe es nur eine akzeptable Bedingung, unter der ein frei, gleich und unabhängig geborener Mensch den Naturzustand verlassen und sich »die Fesseln einer bürgerlichen Gesellschaft« anlegen würde: die Übereinkunft mit anderen, sich zusammenzuschließen und in einer Gemeinschaft zu vereinigen. Von der Gemeinschaft erwarte der Mensch ein behagliches, sicheres und friedliches Zusammenleben und dass er sein Eigentum sicher genießen könne. Auch Locke muss sich dem theoretischen Grundproblem des Politischen stellen, wie aus einer Vielfalt von Ideen, Wünschen, Interessen und Meinungen eine einheitliche Entscheidung werden kann; also wie die Gesellschaftsmitglieder zu einer Einheit gebracht werden können. Wie Hobbes bedient er sich zur Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft der Metapher des Körpers, der nach einem Willen handle. Er spricht sogar an einer Stelle vom »mächtigen Leviathan« (Locke, II, § 98, S. 261), der nicht überlebensfähig wäre, wenn zur Beschlussfassung die Meinungen aller Gesellschaftsmitglieder berücksichtigt werden müssten. Die Vielfalt der Meinungen müssten in den Versammlungen zu einem Mehrheitswillen zur Übereinstimmung gebracht werden. Da alle Individuen ursprünglich zugestimmt hätten, sich zu einem einzigen Körper zu vereinigen, der aber nur handlungsfähig wäre, wenn er nach einem Willen- - nämlich dem der Mehrheit- - handelte, habe sich jeder einzelne durch diese Zustimmung verpflichtet, sich der Mehrheit zu unterwerfen. Folglich würde ein Beschluss der Mehrheit als Beschluss aller gelten. Für Locke bedeutet die ursprüngliche Übereinkunft 6 -- als das Individuum beschlossen habe, aus dem Naturzustand in 6 Diese ursprüngliche Übereinkunft ist ein Gesellschaftsvertrag. <?page no="194"?> 4. Interpretation 195 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 195 die bürgerliche Gesellschaft einzutreten- -, die Mehrheitsregel anzuerkennen. Die Lösung für das philosophische Grundproblem des Politischen sieht Locke demnach in der Anerkennung und Unterwerfung des Einzelnen unter die Mehrheitsregel, während Hobbes das Problem durch die Anerkennung und Unterwerfung des Einzelnen unter den Willen des absoluten Souveräns löst. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Lösungen besteht darin, wie der einheitliche Wille zustande kommt. Die Anwendung der Mehrheitsregel setzt in irgendeiner Form eine Artikulation der Meinungen voraus, um alternative Positionen zu formulieren, über die dann abgestimmt wird, um zu einer Mehrheitsentscheidung zu gelangen. Nach welcher Maßgabe die alternativen Positionen formuliert werden, liegt dabei nicht fest. Die Positionen können Interessen einzelner Gruppen abbilden, sie können auch nach Glaubensüberzeugungen gebildet werden oder nach gesellschaftlichen Entwicklungszielen. Die normativen Grundlagen von Entscheidungspositionen lassen sich aber praktisch kaum nachvollziehen und als reine Interessen, Glaubensüberzeugungen oder Entwicklungsziele auseinanderhalten. Dennoch sind sie es, die maßgeblich das Wohl und Wehe einer Gesellschaft bestimmen. Hobbes verzichtet in seiner Staatskonstruktion bewusst auf die Artikulation von Meinungen und die Bildung eines Mehrheitswillens, weil er davon ausgeht, dass die normativen Grundlagen der einzelnen Meinungen nicht vernünftig seien, sondern die Leidenschaften der Menschen darin durchbrechen würden, und sich am Ende nur eine ungerechte Meinung durchsetzen würde. Für Hobbes gibt es nur eine Grundlage für politische Entscheidungen, die zum Wohl der Gesellschaft und des Einzelnen führt: der Gehorsam gegenüber dem absoluten Souverän. Es genüge, wenn einer für alle entscheiden würde. Locke sieht die Problematik der Grundlage politischer Entscheidungen nicht wie Hobbes, weil er ein anderes Menschenbild hat. Er setzt auf die Vernünftigkeit-- vielleicht auch Christlichkeit bzw. Gottgläubigkeit-- der Einzelnen und geht davon aus, dass im Mehrheitswillen die vernünftige Entscheidung zum Ausdruck kommen würde und in den Minderheitenmeinungen die Leidenschaften und Egoismen. Deshalb wäre es geradezu gefährlich, die Entscheidungsmacht in die Willkür eines Einzelnen zu legen! Locke wendet sich gegen die absolutistische Monarchie als Staatsform. (Vgl. Locke, II, § 90-94, S. 255-259 und § 137, S. 287) Das Zentrum seiner Staatskonstruktion ist die legislative Gewalt. Die Legislative garantiere demnach, die Erwartungen der Gesellschaftsmitglieder zu erfüllen, die auf der ursprünglichen Übereinkunft beruhten: friedlicher und sicherer Genuss des Eigentums, das bei Locke in Leben, Freiheit und Besitz besteht (s. o.). Im Naturzustand würde durch den Gesellschaftsvertrag die bürgerliche Gesellschaft konstituiert. Die legislative Gewalt stehe unter dem Gesetz der Natur. Dieses schreibe dem Individuum vor, sich selbst zu erhalten. So würde die Fortschreibung des natürlichen Gesetzes in der legislativen Gewalt den Erhalt der Gesellschaft und damit auch des Individuums bedeuten. Deshalb hätten alle positiven Gesetze der Staaten auf dem Gesetz der Natur zu beruhen, sofern sie gerecht sein sollen. (Vgl. Locke, II, § 12, S. 207) Die Legislative erhält somit ihre Legitimität aus der <?page no="195"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 196 196 Kapitel IX: John Locke ursprünglichen Übereinkunft, also dem Gesetz der Natur und dem Willen der Mehrheit. Die Mehrheit bildete dann die politische Gemeinschaft. Die Kraft der Gesetze, die sie erlässt, stammte letztlich aus der Zustimmung der Gesellschaft. 7 Die Zustimmung beruhe aber nicht darauf, dass jedes einzelne Gesetz von jedem Gesellschaftsmitglied mit verabschiedet wurde, sondern auf der Verpflichtung der Legislative gegenüber der ursprünglichen Übereinkunft und der Verpflichtung jedes Einzelnen, sich den Mehrheitsbeschlüssen der gesetzgebenden Gewalt zu unterwerfen. Die Legislative ist also die höchste Gewalt im Staat. Im Gegensatz zu Hobbes gibt es bei Locke ein Recht auf Widerstand gegen die Regierung, indem das Parlament ihr das Vertrauen entziehen kann. Die zweite Abhandlung hat das Ziel, den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck einer staatlichen Regierung zu begründen. Noch einmal zur Staatstheorie Lockes’: Die Menschen sind demnach von Natur aus frei und gleich geboren. Unter Gleichheit versteht er »jenes gleiche Recht, das jeder Mensch auf seine natürliche Freiheit hat, ohne dem Willen oder der Autorität irgendeines anderen Menschen unterworfen zu sein«. (Locke, II, § 54, S. 233) Unter der natürlichen Freiheit versteht Locke eine vollkommene Freiheit im Rahmen des Gesetzes der Natur. Das Gesetz der Natur verlange, dass der Mensch sowohl sich selbst als auch die Menschheit erhalten solle. Es sei nicht nur eine Macht, »sein Eigentum, d. h. sein Leben, seine Freiheit und seinen Besitz gegen die Schädigung und Angriffe anderer Menschen zu schützen, sondern auch jede Verletzung dieses Gesetzes seitens anderer zu verurteilen und sie so zu bestrafen, wie es nach seiner Überzeugung das Vergehen verdient, sogar mit dem Tode, wenn es sich um Verbrechen handelt, deren Abscheulichkeit nach seiner Meinung die Todesstrafe erfordert.« (Locke, II, § 87, S. 253) Das natürliche Gesetz sei ein Gesetz der Vernunft, ein Gesetz Gottes und wenn die Vernunft in den Menschen wirke, wenn sie auf das Wort Gottes in sich hörten, dann sei der Naturzustand ein friedlicher und guter Zustand. (Was ist jedoch, wenn die Vernunft in den Menschen nicht wirkt, sie nicht auf das Wort Gottes in sich hören, sondern auf ihre Leidenschaften, die sich genauso bemerkbar machen? ) Es gibt keine zwingende Notwendigkeit den Naturzustand zu verlassen und sich zu vergesellschaften. Aber: »Gott hat den Menschen so geschaffen, daß es nach seinem eigenen Urteil nicht gut für ihn war, allein zu sein. Er stellte ihn unter den starken Zwang von Bedürfnis, Zweckmäßigkeit und Neigung, um ihn in die Gesellschaft zu lenken, und stattete ihn zugleich mit Verstand und Sprache aus, um in ihr zu verbleiben und sie zu genießen.« (Locke, II, § 77, S. 248) Durch dieses natürliche Bedürfnis ist der gesellschaftliche Zustand für die Menschen zwar unausweichlich, aber er gerät durch die Annahme eines guten Natur- 7 Dies bekräftigt Locke an späterer Stelle erneut in Kapitel 11 der zweiten Abhandlung. (Vgl. Locke, II, § 134, S. 283) <?page no="196"?> 4. Interpretation 197 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 197 zustandes indirekt unter Druck, nicht schlechter als dieser sein zu dürfen. 8 Die Rechte und Privilegien, die im Naturzustand herrschen, dürfen im gesellschaftlichen Zustand nicht verloren gehen. So stehe die Gesellschaft, genauso wie der Naturzustand, unter dem Gesetz der Natur. Die positiven Gesetze der Staaten seien nur insoweit gerecht, als sie auf dem Gesetz der Natur beruhten. Der wahre Ursprung einer staatlichen Regierung ist bei Locke im Grunde der Naturzustand. Und weil darin das natürliche Gesetz Gottes wirke, ist der wahre Ursprung einer staatlichen Regierung gleichzeitig die Vernunft (und damit das Wort Gottes). Zweck der staatlichen Regierung ist demnach die Erhaltung und der Schutz des Eigentums der Individuen (im obigen Sinne) und die Erhaltung der Menschheit, was bedeutet, Frieden und Ruhe zu gewährleisten. Der Naturzustand wird im gesellschaftlichen Zustand nur an der Stelle aufgehoben, indem eine legislative und exekutive Gewalt errichtet wird, die nach stehenden Gesetzen urteilen soll, »wie weit Verbrechen, die innerhalb des Gemeinwesens begangen wurden, zu bestrafen sind« (Locke, II, § 88, S. 254) und indem ein Richter, mit hinreichend Autorität versehen, eingesetzt wird, alle Streitigkeiten zu entscheiden und das Unrecht zu sühnen, das einem Mitglied des Gemeinwesens zugefügt wurde (vgl. Locke, II, § 89, S. 255). Es wird demnach nur das Recht »Richter in eigener Sache zu sein« aufgehoben. Die Reichweite der staatlichen Regierung, den Gesellschaftsmitgliedern Verhaltensvorschriften zu machen, geht nur so weit, wie von der dafür autorisierten Legislative allgemeine Gesetze verabschiedet wurden. Und da bei Locke nur Gesetze einen Eingriff in die natürliche Freiheit des Menschen rechtfertigten, ist die gesetzgebende Gewalt im Staat, die Legislative, die höchste und wichtigste und bedarf in ihrer Einsetzung der Zustimmung der Mitglieder. Auf das vollkommene Recht auf Selbstbestimmung im Naturzustand werden die Menschen nur auf der Grundlage einer freiwilligen Übereinkunft verzichten, der Übereinkunft, sich mit anderen zusammenzuschließen »und in eine Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel eines behaglichen, sicheren und friedlichen Miteinanderlebens, in dem sicheren Genuß ihres Eigentums und in größerer Sicherheit gegenüber allen, die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören«. (Locke, II, § 95, S. 260) In die Gemeinschaft einzutreten, bedeutet für das Individuum durchaus Unterwerfung. Es legt sich »die Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft« an. »Wenn eine Anzahl von Menschen darin eingewilligt hat, eine einzige Gemeinschaft oder eine Regierung zu bilden, so haben sie sich ihr damit gleichzeitig einverleibt, und sie bilden einen einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen mit zu verpflichten.« (Locke, II, 8 Leider ist Locke in seinem Verständnis des Naturzustandes und die Gründe, warum die Menschen ihn verlassen, nicht eindeutig. So beruft er sich zu Beginn der zweiten Abhandlung auf Hooker, der davon ausgehe, dass der Naturzustand ein Leben in Würde, wie es die Natur des Menschen verlange, nicht zuließe, weshalb es die Menschen dazu dränge, die Gemeinschaft und Gesellschaft mit anderen zu suchen. (Vgl. Locke, II, § 15., S. 209). An anderer Stelle beschreibt er den Naturzustand als defizitären Zustand, der gegenüber einem gesellschaftlichen Zustand große Nachteile habe und deshalb die Menschen schnell zur Vergesellschaftung gezwungen würden. (Vgl. Locke, II, § 124-127, S. 278 f.) <?page no="197"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 198 198 Kapitel IX: John Locke § 95, S. 260) Dennoch bleibt immer ein Rest Selbstbestimmung außerhalb der positiven Gesetze des Staates, weshalb die Gemeinschaft nicht totalitär ist und das Individuum grundsätzlich Schutz vor staatlicher Willkür genießt. 9 Die Legitimität der Regierung- - qua Gesetz über das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder zu bestimmen- - liegt in dieser ursprünglichen freiwilligen Übereinkunft. »So ist der Anfang und die tatsächliche Konstituierung einer politischen Gesellschft (sic! ) nichts anderes als die Übereinkunft einer für die Bildung der Mehrheit fähigen Anzahl freier Menschen, sich zu vereinigen und sich einer solchen Gesellschaft einzugliedern. Und allein nur das ist es, was jeder rechtmäßigen Regierung auf der Welt den Anfang gegeben hat oder geben konnte.« (Locke, II, § 99, S. 262 und vgl. § 171, S. 309) Hierin ist sich Locke mit Hobbes einig, dass die Legitimität der Staatsform aus einem Gesellschaftsvertrag resultiert. 10 Die Legitimität des politischen Handelns beruht bei Hobbes auf dem Willen des absoluten Souveräns und bei Locke auf dem Mehrheitswillen, der als vernünftig angenommen wird. Politisches Handeln darf nach ihm keinen anderen Zweck als den des Gemeinwohls verfolgen. (Vgl. Locke, II, § 131, S. 281) Die Staatsform bei Locke ist eine parlamentarische mit einer monarchischen Exekutive. Er unterscheidet die legislative (gesetzgebende, temporär tagende) Gewalt von der exekutiven (vollziehenden, ständigen) Gewalt, die zudem die föderative (für Krieg und Frieden, Bündnisse und Abmachungen außerhalb des Staates zuständige) Gewalt beinhalte (vgl. Locke, II, 12. Kapitel, S. 291 ff.). Die föderative und exekutive Gewalt stünden im Dienst der Legislativen und seien dieser untergeordnet (vgl. Locke, II, § 153, S. 296). Allerdings baut Locke in die Staatsordnung ein bemerkenswertes Instrument ein, das der Legislativen und ihrer Gesetzesherrschaft eine Willkürmacht entgegenstellt: die »Prärogative«, die in den Händen der Exekutive liegt. Eine starre Staatsordnung wäre für Locke nicht in der Lage, dem beständigen Fluss der Dinge in der Welt gerecht zu werden (vgl. Locke, II, § 157, S. 299 ff.). Hierin ist er sich mit Machiavelli einig. Aber was versteht Locke unter der »Prärogativen«? »Prärogative ist nichts anderes als eine 9 Das Verhältnis von einem Leben im Naturzustand zum Leben in der Gesellschaft bringt Locke im 9. Kapitel der zweiten Abhandlung deutlich auf den Punkt. (Vgl. Locke, II, § 123-131, S. 278-281) Die Grenzen der legislativen Gewalt werden explizit nochmals im 11. Kapitel der zweiten Abhandlung angeführt. (Vgl. Locke, II, § 135, S. 284) 10 Das übliche Mittel der Eroberung tauge nicht zur Begründung einer Regierung bzw. eines Staates: »Obwohl Regierungen ursprünglich nicht anders entstehen, wie es oben gezeigt wurde, und Staaten allein auf die Zustimmung des Volkes gegründet werden können, so sind doch die Verwirrungen, die der Ehrgeiz in die Welt gebracht hat, derartig gewesen, daß im Lärm des Krieges, der einen so großen Teil der Menschheitsgeschichte ausmacht, auf diese Zustimmung nur wenig geachtet worden ist. Und deshalb haben viele Menschen die Waffengewalt fälschlicherweise für die Zustimmung des Volkes und Eroberung für einen der möglichen Ursprünge von Regierungen angesehen. Eroberung aber bedeutet ebensowenig die Begründung einer Regierung, wie das Niederreißen eines Hauses den Bau eines neuen an derselben Stelle bedeutet. Zwar wird oft die Möglichkeit einer neuen Staatsgründung dadurch geschaffen, wenn man den alten zerstört; doch dies kann niemals ohne die Zustimmung des Volkes einen neuen Staat errichten.« (Locke, II, § 175, S. 311) <?page no="198"?> 4. Interpretation 199 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 199 Gewalt in den Händen des Fürsten, für das öffentliche Wohl zu sorgen, und zwar in solchen Fällen, die von unvorhergesehenen und ungewissen Ereignissen abhängen und deshalb nicht nach bestimmten und unabänderlichen Gesetzen sicher geregelt werden können.« (Locke, II, § 158, S. 300) Sie sei eine »Macht, ohne Vorschrift des Gesetzes, zuweilen sogar gegen das Gesetz, nach eigener Entscheidung für das öffentliche Wohl zu handeln« (Locke, II, § 160, S. 302). Weshalb sieht Locke ein solches Herrschaftsinstrument vor? »Da in einigen Regierungen die gesetzgebende Gewalt nicht ständig in ihrer Funktion ist und in der Regel auch zu zahlreich und deshalb für die nötige Schnelligkeit des Vollzugs zu langsam ist, und da es ferner unmöglich ist, alle Ereignisse und Bedürfnisse, die das Volk berühren könnten, vorauszusehen und durch Gesetze dafür Vorsorge zu treffen, oder solche Gesetze zu geben, die keinen Schaden anrichten, wenn sie mit unbeugsamer Strenge bei allen Anlässen und gegen alle Personen, die mit ihnen in Berührung kommen sollten, vollzogen werden-- deshalb wird der exekutiven Gewalt ein Spielraum gelassen, viele Dinge nach Gutdünken zu regeln, wofür das Gesetz keine Vorschrift gibt.« (Locke, II, § 160, S. 302) Die »Prärogative« kann als ein Instrument für Notfälle verstanden werden, die ein zügiges Handeln der Regierung erfordern würden. Was ist aber, wenn der Fürst diese Willkürmacht für seinen persönlichen Nutzen missbraucht? Gerade Locke, der dem Hobbes’schen »Leviathan« so stark misstraut, müsste sich doch von einer solchen Konstruktion strikt fernhalten. Locke stellt den Fürsten theoretisch unter das Gebot »Salus populi suprema lex« (»Das Wohl des Volkes ist das höchste Gesetz«), denn dies sei eine so gerechte und grundlegende Regel, dass jemand, »der sie gewissenhaft befolgt, nicht gefährlichen Irrtümern verfallen kann.« (Locke, II, § 158, S. 300) Die Prärogative sei nichts anderes als »die Erlaubnis, die das Volk seinem Herrscher erteilt, verschiedene Dinge nach seiner eigenen freien Entscheidung zu regeln, wo das Gesetz schweigt, und zuweilen auch gegen den ausdrücklichen Buchstaben des Gesetzes zu handeln, wenn es dem öffentlichen Wohl dient, und zum anderen die Zustimmung des Volkes für eine solche Handlungsweise. Ein guter Fürst, eingedenk des in seine Hände gelegten Vertrauens und stets um das Wohl seines Volkes besorgt, kann niemals zu viel Prärogative haben, d. h. Macht, Gutes zu tun.« (Locke, II, § 164, S. 304) Diese Worte lassen wiederum Zweifel aufkommen, ob es sich bei der Prärogativen tatsächlich nur um ein »Notstandsinstrument« handelt und nicht doch um ein grundsätzliches Handlungsinstrument der Regierung. Durch die Prärogative stellt Locke eine direkte Verknüpfung zwischen dem Volk und dem Fürsten- - notfalls gegen das Parlament-- her, dessen grundsätzliche Vormachtstellung damit infrage gestellt wird. <?page no="199"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 200 200 Kapitel IX: John Locke Gewiss basiert die Locke’sche Staatskonstruktion auf Gewaltenteilung und die Legislative ist die »Seele des Staates« (Locke, II, § 212, S. 333), aber die Exekutive als ständige Gewalt, die mit föderativer und prärogativer Macht ausgestattet ist, scheint im politischen Alltagsbetrieb ein großes Potential zu haben, über die Legislative hinweg- oder gar gegen sie regieren zu können. Der gesetzfreie Raum, den das Individuum zur freien Selbstbestimmung nutzen kann, wäre damit gleichzeitig ein Willkürspielraum für den Fürsten, allgemeinverbindliche Entscheidungen zu treffen. Dieses Theorieelement widerspricht einer liberalen Staatsauffassung. Die oben zitierte Passage zeigt zudem, dass Locke nicht nur an die Vernünftigkeit des Volkes und der Legislative glaubt, sondern nun offenbar auch an die des Fürsten als Exekutive. »Wer etwas anderes sagt, redet, als habe der Fürst ein gesondertes und vom Wohl der Gemeinschaft getrenntes Interesse und sei nicht für die Gemeinschaft eingesetzt worden; und das ist die Wurzel und Quelle, der fast alle Übel und Unruhen entspringen, die in königlichen Regierungen vorkommen. Würde sich das tatsächlich so verhalten, so wäre das Volk unter seiner Regierung nicht eine Gesellschaft vernunftbegabter Wesen, die zu ihrem gegenseitigen Wohl in eine Gemeinschaft eingetreten sind und Herrscher über sich eingesetzt haben, um dieses Wohl zu schützen und zu fördern, sondern man müßte in ihnen eine Herde niederer Geschöpfe sehen, unter der Herrschaft eines Herrn, der sie hält und sie zu seinem eigenen Vergnügen und Gewinn ausnutzt. Wenn die Menschen so tierisch und ohne jede Vernunft wären, um unter solchen Bedingungen in eine Gesellschaft einzutreten, dann könnte die Prärogative tatsächlich, wie mancher es gern möchte, eine willkürliche Gewalt sein, dem Volk Schaden zuzufügen.« (Locke, II, § 163, S. 304) An dieser Stelle offenbart sich wieder die Achillesverse der Locke’schen Staatstheorie: Was ist, wenn die Vernunft in den Menschen nicht wirkt? Vor allem, wenn ihre Wirkung beim Fürsten versagt? Argumentativ scheint Locke hier denselben Fehler zu begehen, wie Hobbes: Es wird ein »gottähnlicher Fürst« (Locke, II, § 166, S. 305) angenommen. Allerdings gibt es bei Locke das Parlament als Kontrollinstanz, weshalb die Prärogative keine Willkürmacht beinhaltet. Wie sieht Locke das Verhältnis von Staat, Religion, Volk und Individuum? Er räumt dem Individuum in der Konstruktion seiner Staatstheorie einen hohen Stellenwert ein, aber vom Individualismus nach heutigem Verständnis ist er dennoch weit entfernt. Als Nachkomme eines erfolgreichen Unternehmers kennt er die große Bedeutung des Eigentums (bzw. von Besitz und Vermögen) für das englische Bürgertum und dass für dessen ökonomische Entwicklung und politische Emanzipation dieses vor dem Zugriff des Adels geschützt werden muss. So sieht Locke ein Recht auf Eigentum in der biblischen Schöpfungsgeschichte begründet (vgl. Locke, II, § 35, S. 221), widmet der Begründung von Eigentum ein eigenes Kapitel (vgl. Locke, II, <?page no="200"?> 4. Interpretation 201 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 201 5. Kapitel, S. 215 ff.) und betont mehrmals, dass der Zweck des Staatswesens auch der Schutz des Eigentums sei (vgl. Locke, II, S. 254, 259, 281, 283, 289, 338), das eben nicht nur in Leben und Freiheit, sondern auch in Besitz bzw. Vermögen bestehe. 11 Allerdings nimmt er das Eigentum nicht aus der gesellschaftlichen Sphäre heraus und erklärt es zur Privatsache und überlässt es rein zur privaten Verfügung. »Denn es wäre ein direkter Widerspruch, wenn jemand zur Sicherung und Regulierung des Eigentums in die Gesellschaft anderer eintritt und dennoch annimmt, daß sein Grund und Boden, dessen Eigentum nach den Gesetzen der Gesellschaft geregelt werden soll, von der Rechtsprechung ausgenommen sein sollte, deren Untertan er, der Besitzer des Landes, selber ist.« (Locke, II, § 120, S. 276) Das Individuum sei als Gesellschaftsmitglied nicht frei, tun und lassen zu können, was es wolle, sondern es sei in der Gesellschaft »Untertan«. »Wer dagegen einmal durch tatsächliche Einwilligung und ausdrückliche Erklärung seine Zustimmung gegeben hat, einem Staatswesen anzugehören, hat sich auf ewig und unwiderruflich verpflichtet, sein Untertan zu sein und unabänderlich zu bleiben.« (Locke, II, § 121, S. 277) Locke benutzt, wie Hobbes, die Körpermetapher als Ausdruck der Einheit des Staatswesens, in das sich die Individuen »einverleiben«. Die Individuen werden durch die ursprüngliche Übereinkunft zu einem Volk verbunden, das ein Staatswesen bildet und von einer legislativen und exekutiven Gewalt nach Gesetzen regiert wird. Das Individuum genießt damit Schutz vor staatlicher Willkür und ein Selbstbestimmungsrecht in allen Angelegenheiten, die nicht durch staatliche Gesetze geregelt sind. Durch die Prärogative erhält die Exekutive zwar eine Willkürmacht, die sie theoretisch aber ausschließlich zum öffentlichen Wohl anwenden darf. Sollte die Staatsgewalt ihre Macht missbrauchen, hat das Volk jedoch ein Widerstandsrecht. »In allen Lagen und unter allen Umständen ist es das beste Heilmittel gegen ungesetzliche Gewalt, ihr Gewalt entgegenzustellen. Der unrechtmäßige Gebrauch von Gewalt versetzt denjenigen, der sie anwendet, als den Angreifenden stets in den Kriegszustand und setzt ihn damit auch einer entsprechenden Behandlung aus.« (Locke, II, § 155, S. 298) Und an späterer Stelle bekräftigt er: »Überall, wo das Gesetz endet, beginnt die Tyrannei, wenn das Gesetz zum Schaden eines anderen überschritten wird. Und jeder, der in seiner Autorität über die ihm gesetzlich eingeräumte Macht hinausgeht und von der Gewalt, über die er verfügt, Gebrauch macht, den Untertanen etwas aufzuzwingen, was das Gesetz nicht erlaubt, hört damit auf, Obrigkeit zu sein. Er handelt ohne Autorität, und man darf ihm Widerstand leisten wie jedem anderen Menschen, der gewaltsam in das Recht eines anderen eingreift.« (Locke, II, § 202, S. 327) Doch wer soll darüber urteilen, ob die Prärogative nicht tyrannisch ausgeübt wird? 11 Die meisten Locke-Interpreten gehen ausführlich auf seinen Eigentums-Begriff ein, der sich aus der menschlichen Arbeit ableitet. Da dieser Aspekt aus demokratietheoretischer Sicht eine unwesentliche Rolle spielt, wird er in dieser Interpretation ausgespart. <?page no="201"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 202 202 Kapitel IX: John Locke »Zwischen einer ständigen exekutiven Gewalt mit einer solchen Prärogative und einer Legislative, deren Zusammentreten von dem Willen der Exekutive abhängig ist, kann es auf Erden keinen Richter geben, wie es auch zwischen der Legislative und dem Volk keinen solchen Richter geben kann, falls die Exekutive oder die Legislative, sobald sie die Macht in ihre Hände bekommen haben, beabsichtigen oder sich anschicken sollten, das Volk zu knechten oder zu vernichten. In diesen wie in allen anderen Fällen, wo das Volk keinen Richter auf Erden hat, bleibt ihm kein anderes Heilmittel, als den Himmel anzurufen.« (Locke, II, § 168, S. 306) Locke bringt »den Himmel« immer wieder ins Spiel, sodass sich die Frage stellt, welche Rolle Gott überhaupt in seiner Staatstheorie spielt. Durch die von Locke angenommene Identität von Gott, Natur bzw. Naturgesetz und Vernunft ist Gott in abstrakter Weise Bestandteil seiner Staatstheorie. Die politische Gewalt beruhe auf Gott, die er von der despotischen abgrenzt, die sich dadurch charakterisiert, dass sie sich von Gott abgekehrt habe (vgl. Locke, II, § 171 und 172, S. 308 ff.). Die Fürsten stehen für Locke unter den Gesetzen Gottes. »Ich will jetzt nicht darüber streiten, ob die Fürsten von den Gesetzen ihres Landes ausgenommen sind oder nicht; aber dessen bin ich sicher: den Gesetzen Gottes und der Natur schulden sie Unterwerfung. Niemand und keine Gewalt kann sie von den Verpflichtungen dieses ewigen Gesetzes befreien.« (Locke, II, § 195, S. 322 f.) Diese Grundannahmen finden wir auch bei Hobbes. Die Staatstheorie dürfe nicht der Heiligen Schrift widersprechen. Um den Aspekt der Religion bei Locke zu verstehen, müssen Gott, Religion und Kirche voneinander unterschieden werden. Locke glaubt offenbar an Gott und hat ein Problem mit Atheisten. So schreibt er 1667 in einem Essay über Fragen der Toleranz, dass wer nicht an Gott glaube, zu einer der gefährlichsten Tierarten gerechnet werden müsse und sich deshalb nicht in die Gesellschaft einfügen könne. (Vgl. Euchner 1996, S. 118) Dennoch besteht Locke auf strikte Trennung von Staat und Kirche. Denn die Vermischung von Staat und Kirche habe zu den blutigen Auseinandersetzungen im religiös motivierten englischen Bürgerkrieg geführt. (Vgl. Euchner 1996, S. 110, 117) Jeder habe das Recht, seinen Glauben frei zu wählen (vgl. Euchner 1996, S. 111, 113) und falls in einem Staat eine Staatsreligion herrscht, dann fordert Locke die Obrigkeit auf, Kirchen und Sekten, die von der Staatsreligion abwichen, zu tolerieren. (Vgl. Euchner 1996, S. 115) Die Religion ist also kein konstitutives Element in seiner Staatstheorie. Der Kirche wird kein formaler Platz in der Regierungsform eingeräumt. Es gibt in der zweiten Abhandlung auch kein einziges Kapitel, in dem er das Verhältnis von Regierung, Kirche und Religion ausdrücklich diskutiert. Aber: Alles Sein komme von Gott. Wie trägt John Locke mit seiner Theorie zur Entwicklung der Idee der Demokratie bei? Locke ist kein Demokrat, sondern ein bürgerlicher Theoretiker, dessen politiktheoretisches Denken Elemente enthält, die die Idee der Demokratie weiterbrachten. <?page no="202"?> 4. Interpretation 203 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 203 Er geht von der natürlichen Freiheit und Gleichheit »aller« aus und dass ein Staatswesen seine Legitimität aus dem Erhalt dieser natürlichen Freiheit und Gleichheit beziehe. Denn ein rechtmäßiges Staatswesen gründet sich für ihn auf eine freiwillige Übereinkunft von Individuen, auf ihre natürlichen Rechte auf vollkommene freie Selbstbestimmung und Selbstjustiz zu verzichten und an das Gemeinwesen zu übertragen, woraus für die Staatsorgane die Verpflichtung folgt, zum Wohl der Gemeinschaft und der Gesellschaftsmitglieder zu handeln. Diese Verpflichtung findet ihren institutionellen Ausdruck im Wahlrecht der Bürger, um über die personelle Zusammensetzung der gesetzgebenden Gewalt zu bestimmen. Die Möglichkeit, durch das Wahlrecht die Gewählten der Legislative abzusetzen, soll diese zwingen, Gesetze im Sinne ihrer Wähler zu erlassen. Die Idee des Wahlrechts ist also, dass die Bürger nach ihren eigenen Gesetzen regiert werden. »Denn das Volk ist mit dem Ziel in die Gesellschaft eingetreten, um als eine einheitliche, freie, unabhängige Gesellschaft erhalten zu bleiben und nach ihren eigenen Gesetzen regiert zu werden.« (Locke, II, § 217, S. 335) Das ist im Grunde die Idee der Volkssouveränität. Hier stellt sich, wie bei allen Theoretikern der Vormoderne, die Frage, was Locke unter »Volk« versteht und ob wirklich alle Menschen der Gesellschaft das aktive Wahlrecht besitzen. Die Locke- Interpreten gehen davon aus, dass in seiner Theorie nur die Steuerzahler das Wahlrecht besäßen, was seinerzeit wenige Menschen gewesen wären. Dies entspräche zum einen der damaligen gesellschaftlichen Realität und zum anderen sei in seiner Theorie der Schutz des Eigentums der Grund für die Vergesellschaftung der Individuen, über das nur wenige in der Gesellschaft verfügten. (Vgl. Euchner 2007, S. 313; vgl. Speth 2006, S. 105) Da aber das Eigentum in Leben, Freiheit und Besitz besteht, können sich zumindest auch die Armen und Besitzlosen angesprochen fühlen. Ziel der Vergesellschaftung ist nicht nur das Interesse der Besitzenden, ihr Eigentum besser schützen zu können, sondern Locke betont mehrfach den allgemeineren Sinn eines Staates: »Der Zweck der Regierung ist das Wohl der Menschheit.« (Locke, II, § 229, S. 343) Zudem spricht er vom »Volk« stellenweise in einer Art, dass man meinen könnte, er verstehe darunter nicht nur seinesgleichen, also das Bürgertum, etwa an der Stelle, als er gegen den Vorbehalt argumentiert, dass ein Wahlrecht des Volkes zur häufigen Rebellion oder gar zur Revolution führen könnte (vgl. Locke, II, § 223, S. 340). Er entgegnet: »Diese Lehre von einer Gewalt im Volke, durch eine neue Legislative wieder von neuem für seine Sicherheit zu sorgen, wenn seine Gesetzgeber durch Übergriffe auf sein Eigentum dem in sie gesetzten Vertrauen zuwider gehandelt haben, ist der beste Schutz gegen Rebellion und das geeignetste Mittel, sie zu verhindern.« (Locke, II, § 226, S. 341) Es kann als sicher gelten, dass Locke das Wahlrecht und damit die Volkssouveränität nicht allen Menschen einer Gesellschaft zuspricht. Seine Theorie beinhaltet einen Ansatz von Gewaltenteilung, um Machtmissbrauch durch die Staatsgewalt zu verhindern. Denn die Legislative ist bei Locke zwar die höchste Gewalt im Staat, darf aber die von ihr erlassenen Gesetze nicht ausführen. Hierfür ist die Exekutive zuständig, die für Locke bei den Fürsten liegt. Die Idee der Gewaltenteilung ist <?page no="203"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 204 204 Kapitel IX: John Locke ein konstitutiver Bestandteil der Demokratietheorie. Die Trennung von Staat und Kirche, persönliche Glaubensfreiheit und religiöse Toleranz des Staates, wie sie Locke postuliert, sind weitere Elemente demokratischen Denkens. Locke erscheint mit seiner Staatstheorie weniger als Auslöser eines Denkumbruchs als vielmehr als ein intellektueller Vollstrecker eines solchen. Er bedient sich und konkretisiert in seiner Staatstheorie Elemente, die in der Ideengeschichte bereits hervorgebracht wurden und in seiner Denkweise lässt er sich einwandfrei in die »Tradition« der Frühen Neuzeit einordnen. Er trägt zur Festigung von rationalem und tatsachenorientiertem Denken bei, ohne das sich die Philosophie und die Gesellschaftsordnung niemals vom mittelalterlichen Denken und dem Feudalismus hätte emanzipieren können. Um das Mittelalter zu überwinden, bedurfte es mehrerer einschlägiger Philosophen, die sich gemeinsam an der Entwicklung des Denkumbruchs zur Moderne beteiligten und darin ihre spezifischen Verdienste haben. Die Besonderheit der staatstheoretischen Überlegungen von Locke liegt eher darin, dass er die Gesellschaft nicht mehr als Feudalgesellschaft, sondern im Prinzip als »bürgerliche Gesellschaft« denkt. Dies kommt in seiner Trennung von Staat bzw. Regierung und Gesellschaft zum Ausdruck, die für seine Zeit untypisch war. Die Trennung von Staat und Gesellschaft ist bei ihm eine Konsequenz aus dem Wahlrecht, weil es dadurch zur Auflösung der Regierung kommen kann. »Wer mit einiger Klarheit von der Auflösung der Regierung sprechen will, müßte in erster Linie einen Unterschied machen zwischen der Auflösung der Gesellschaft und der Auflösung der Regierung.« (Locke, II, § 211, S. 332) So könnten sich Regierungen auflösen, ohne dass sich die Gesellschaft auflöse, aber es könne keine Regierung bestehen, wenn sich die Gesellschaft auflöse. Die Gesellschaft würde durch die ursprüngliche Übereinkunft gebildet und das einzige, was sie zur Auflösung bringen könnte, sei der Einfall einer fremden Macht, die sie unterwerfe. Die Gesellschaft zu zerstören, bedeutete den Rückfall in den Naturzustand. (Vgl. Locke, II, § 211, S. 332 f.) Im Gegensatz zu Hobbes hat Locke kein in sich geschlossenes und stimmiges Theoriekonstrukt entwickelt, was bereits an der inhaltlich relativ unsystematischen Darstellung der zwei Abhandlungen erkennbar wird, gleichgültig, ob ein paar Paragrafen verloren gegangen sein mögen. Locke möchte seine theoretischen Postulate einerseits auf allgemeinen Prinzipien gründen, weshalb er die Grundlagen seiner Theorie deduktiv-normativ gesetzt hat, andererseits soll seine Theorie helfen, ein realpolitisches Problem zu lösen, nämlich eine katholische Thronfolge in England zu verhindern. Dieser realpolitische Grund seiner theoretischen Überlegungen führt letztlich zu Inkonsistenzen in seinem politiktheoretischen Denken. So gelte die Toleranz des Staates in Glaubenssachen für alle Religionen und Sekten, außer für Katholiken und Atheisten. (Vgl. Euchner 1996, S. 117) Um einen philosophischen Denkumbruch zu vollziehen, muss man sich von parteipolitischen Zielen emanzipieren. <?page no="204"?> 5. Literatur 205 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 205 5. Literatur Euchner, Walter: I. Biographisches zu John Locke, in: Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Übersetzt von Jörn Hoffmann. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Euchner, 6. Aufl., Frankfurt/ M. 1995, S. 9-24. Euchner, Walter: John Locke zur Einführung, Hamburg 1996. Euchner, Walter: Two Treatises of Government, in: Stammen, Theo; Riescher, Gisela; Hofmann, Wilhelm (Hrsg.): Hauptwerke der politischen Theorie, 2., aktual. u. erw. Aufl., Stuttgart 2007, S. 309-315. Locke, John: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Übersetzt von Hans Jörn Hoffmann. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Euchner, 6. Aufl., Frankfurt/ M. 1995. Niemann, Hans-Werner: Europäische Wirtschaftsgeschichte. Vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2009. Speth, Rudolf: John Locke, in: Massing, Peter; Breit, Gotthard (Hrsg.): Demokratie-Theorien. Von der Antike bis zur Gegenwart. Texte und Interpretationen, Bonn 2006, S. 99-105. Thiel, Udo: John Locke. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Udo Thiel, Reinbeck 1990. <?page no="205"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 206 <?page no="206"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 207 207 Kapitel X: Charles de Montesquieu 1. Primärtext Hinweis des Verfassers Für die rechte Auffassung der ersten vier Bücher dieses Werkes ist zu beachten, daß ich mit der Bezeichnung Tugend innerhalb der Republik die Vaterlandsliebe meine, das heißt: die Liebe zur Gleichheit. Sie ist weder eine moralische noch eine christliche Tugend, vielmehr eine politische. Diese Triebkraft setzt die republikanische Regierung in Bewegung, genauso wie die Triebkraft Ehre die Monarchie in Bewegung setzt. Demgemäß habe ich die Liebe zum Vaterland und zur Gleichheit politische Tugend genannt. (…) (Aus: Vom Geist der Gesetze, S. 94) 3. Buch Über die Prinzipien der drei Regierungsarten 1. Kapitel Unterschied zwischen der Natur der Regierung und ihrem Prinzip Nach Untersuchung der auf die Natur jeder Regierung bezüglichen Gesetze müssen jene aufgewiesen werden, die sich auf ihr Prinzip beziehen. Zwischen der Natur der Regierung und ihrem Prinzip besteht folgender Unterschied 1 : Ihre Natur macht sie zu dem, was sie ist, ihr Prinzip bringt sie zum Handeln. Das eine ist ihre besondere Struktur, das andere sind die menschlichen Leidenschaften, die sie in Bewegung setzen. Indes müssen bei jeder Regierung die Gesetze genausogut ihrem jeweiligen Prinzip wie ihrer jeweiligen Natur entsprechen. Deshalb muß man suchen, was dieses Prinzip ist. Dies eben will ich in diesem Buch hier tun. 1 Diese Trennung ist sehr wichtig. Ich werde gar viele Konsequenzen daraus ziehen. Sie ist der Schlüssel zu unendlich vielen Gesetzen. (Anmerkung von Montesquieu) <?page no="207"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 208 208 Kapitel X: Charles de Montesquieu 2. Kapitel Über das Prinzip der verschiedenen Regierungen Es macht, wie gesagt, die Natur der republikanischen Regierung aus, daß das Volk in Gesamtheit oder gewisse Familien die souveräne Macht innehaben. Nach der Natur der monarchischen Regierung hat dort der Herrscher die souveräne Macht, übt sie aber gemäß den eingeführten Gesetzen aus. Nach der Natur der despotischen Regierung regiert dort ein einzelner gemäß seinen Entschlüssen und Launen. Mehr ist nicht nötig, um die zugehörigen Prinzipien zu finden. Sie sind ganz von selbst daraus abzuleiten. Ich beginne mit der republikanischen Regierung und spreche zunächst von der demokratischen. 3. Kapitel Über das Prinzip der Demokratie Zum Fortbestand oder zur Stützung einer monarchischen oder einer despotischen Regierung ist keine sonderliche Tüchtigkeit vonnöten. Unter der einen regelt die Kraft des Gesetzes alles oder hält alles zusammen, unter der anderen der immer schlagkräftige Arm des Herrschers. In einem Volksstaat ist aber eine zusätzliche Triebkraft nötig: die Tugend. Was ich sage, wird von dem ganzen Geschichtszusammenhang bestätigt und stimmt durchaus mit der Natur der Dinge überein. Denn augenscheinlich bedarf es in einer Monarchie, wo sich der Mann, der die Gesetze ausführen läßt, über den Gesetzen stehend dünkt, der Tugend weniger als bei einer Volksregierung, wo der Mann, der die Gesetze ausführen läßt, fühlt, daß er selbst ihnen unterworfen ist und sie in ihrer Schwere zu ertragen hat. Ebenso augenscheinlich kann der Monarch, der infolge schlechter Beratung oder aus eigener Saumseligkeit die Anwendung der Gesetze auf sich beruhen läßt, den Mißstand leicht abstellen. Er braucht lediglich die Ratgeber zu wechseln oder seine Saumseligkeit aufzugeben. Wenn bei einer Volksregierung die Gesetze aber einmal zu herrschen aufhören, ist der Staat bereits verloren. Denn das kann nur von der Verderbtheit der Republik herrühren. Im vergangenen Jahrhundert gab es ein schönes Spektakel, als die Engländer mit unzulänglichen Anstrengungen eine Demokratie zu errichten versuchten. Die Regierung wechselte unaufhörlich, denn all die, welche mit den Staatsangelegenheiten zu tun hatten, besaßen keine Tugend. Ihr Ehrgeiz wurde durch den Erfolg des Wagemutigsten angestachelt, und der Parteigeist einer Faktion war nur durch den einer andern zu bändigen. Das verwunderte Volk suchte die Demokratie und fand sie nirgends. Zu guter Letzt mußte man sich nach vielem Hin und Her, vielen Überraschungen und Erschütterungen bei eben jener Regierung beruhigen, die man vertrieben hatte. <?page no="208"?> 1. Primärtext 209 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 209 Als Sulla die Freiheit nach Rom zurückbringen wollte, war Rom ihr nicht mehr gewachsen. Nur noch ein schwacher Rest von Tugend war vorhanden. Immer mehr schwand sie dahin, und so raffte es sich nach Cäsar, Tiberius, Cajus, Claudius, Nero, Domitian nicht mehr auf; statt dessen wurde es allmählich zum Sklaven. Alle Staatsstreiche richteten sich gegen die Tyrannen, keiner gegen die Tyrannei. Die in Volksregierungen lebenden griechischen Politiker konnten sich auf keine andere Kraft stützen als die Tugend. Die heutigen Politiker sprechen nur von Manufakturen, Handel, Finanzen, Reichtum, ja sogar vom Luxus. Sobald diese Tugend schwindet, ergreift der Ehrgeiz die dafür empfänglichen Herzen, und der Geiz die Herzen aller anderen. Die Begierden wenden sich anderen Gegenständen zu. Man liebt nicht mehr, was man vordem liebte. Man war mit den Gesetzen frei, nun will man gegen die Gesetze frei sein. Was Maxime war, nennt man Strenge, was Regelung hieß, nennt man Zwang, was man Vorsicht hieß, nennt man Furcht. Die Genügsamkeit gilt als Geiz, nicht die Besitzgier. Einst stellte das Gut der Privatleute den öffentlichen Schatz dar, nun aber wird der öffentliche Schatz zur Einnahmequelle der Privatleute. Die Republik ist nun ein Beutestück. Ihre Kraft ist nur noch die Macht einiger Bürger und die Haltlosigkeit aller. (…) 4. Kapitel Über das Prinzip der Aristokratie Wie Tugend der Volksregierung not tut, tut sie auch der Aristokratie not. Allerdings ist sie nicht so unbedingt erforderlich. Das Volk ist im Bezug zu den Adligen, was die Untertanen im Bezug zum Monarchen sind, und wird durch die Gesetze des Adels zusammengehalten. Daher hat es weniger Tugend nötig als das Volk in der Demokratie. Wie werden die Adligen zusammengehalten? Wer die Gesetze gegen seine Standesgenossen anwenden soll, spürt von vornherein, daß er gegen sich selbst vorgeht. Die Natur des Staatsaufbaus erfordert mithin innerhalb dieser Körperschaft Tugend. Die aristokratische Regierung besitzt aus sich selbst eine gewisse Stärke, die der Demokratie abgeht. Die Adligen bilden innerhalb ihrer eine Körperschaft, die das Volk vermöge ihrer Vorrechte und in ihrem Eigeninteresse niederhält. Die Existenz von Gesetzen genügt-- und schon werden sie in dieser Richtung angewendet. So leicht es indes dieser Körperschaft fällt, die anderen niederzuhalten, so schwer fällt es ihr, sich selber im Zaum zu halten. 2 Es scheint in der Natur dieses Staatsauf- 2 Die öffentlichen Verbrechen können hier bestraft werden, weil es die Sache aller ist. Die privaten Verbrechen werden hier nicht bestraft, weil es die Sache aller ist, sie nicht zu bestrafen. (Anmerkung von Montesquieu) <?page no="209"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 210 210 Kapitel X: Charles de Montesquieu baus zu liegen, daß die gleichen Leute der Gewalt der Gesetze unterstellt und ihr entzogen werden. Indes kann sich eine derartige Körperschaft nur auf zweierlei Weise selbst zügeln: entweder vermöge großer Tugend, auf Grund deren sich die Adligen in mancher Hinsicht dem Volk gleichgestellt finden-- was eine große Republik schaffen kann--, oder durch geringere Tugend, welche die Adligen zumindest untereinander gleichstellt, nämlich durch eine gewisse Selbstzucht im Interesse ihrer Erhaltung. Die Selbstzucht ist somit die Seele dieser Regierungen. Darunter verstehe ich eine auf Tugend gegründete Selbstzucht, die nicht aus Feigheit oder Trägheit des Gemüts stammt. (…) (Aus: Vom Geist der Gesetze, S. 119-124) 6. Kapitel Wie man in der monarchischen Regierung die Tugend ersetzt Ich eile mit großen Schritten weiter; sonst glaubt man noch, ich wolle eine Satire auf die monarchische Regierung verfassen. Keineswegs. Für die Triebkraft, die ihr fehlt, hat sie eine andere: die Ehre. Das heißt: das Standesbewußtsein jeder Person und jedes Standes nimmt die Stelle der politischen Tugend ein, von der ich gesprochen habe, und vertritt sie allenthalben. Die Ehre vermag hier zu den prächtigsten Taten zu begeistern: sie vermag im Verein mit der Kraft der Gesetze genausogut zum Ziel der Regierung hinzuleiten wie die Tugend selbst. Auf diese Weise wird in den wohlgeordneten Monarchien nahezu jedermann ein guter Bürger sein, doch wird man selten einen guten Menschen finden, denn zum guten Menschen 3 gehört der Vorsatz, es zu werden: man muß den Staat weniger um des lieben Ich willen lieben als um des Staates willen. 7. Kapitel Über das Prinzip der Monarchie Die monarchische Regierung setzt, wie gesagt, Auszeichnungen, Rangunterschiede, voraus, ja sogar einen eingesessenen Adel. Es liegt in der Natur der Ehre, daß sie ein Bevorzugen und Besserstellen verlangt. Sie ist mithin, nach Lage der Sache, in dieser Regierung zu Hause. 3 Das Wort guter Mensch ist hier lediglich in einem politischen Sinn zu verstehen. (Anmerkung von Montesquieu) <?page no="210"?> 1. Primärtext 211 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 211 Ehrgeiz ist in einer Republik Gift. In der Monarchie wirkt er Gutes. Er haucht dieser Regierung Leben ein. Der Vorteil dabei ist, daß er nicht gefährlich wird, weil er immer wieder niedergehalten werden kann. Sie werden sagen, hier gehe es wie im Weltsystem zu, wo eine Kraft alle Körper unaufhörlich vom Zentrum entfernt und eine Schwerkraft sie dahin zurückzwingt. Die Ehre setzt alle Teile des Staatskörpers in Bewegung und bindet sie durch ebendieses Streben aneinander. So findet sich, daß jeder das allgemeine Wohl betreibt, indem er seine privaten Interessen zu betreiben glaubt. Philosophisch betrachtet, werden unleugbar all diese Glieder des Staates von einem falschen Ehrbegriff gelenkt. Aber diese falsche Ehre ist der Öffentlichkeit genauso nützlich wie die wahre Ehre den ihrer würdigen einzelnen (sic! ) Und ist es nicht schon viel, daß man die Menschen dazu bringt, alle schweren, Anstrengung verlangenden Taten zu vollbringen, die keinen anderen Lohn gewähren als das Aufsehn, das sie erregen? 8. Kapitel Daß Ehre nicht das Prinzip despotischer Staaten ist Prinzip der despotischen Staaten ist keineswegs die Ehre. Hier kann man sich nicht vor den andern auszeichnen, da hier alle Menschen gleich sind. Hier kann man sich überhaupt nicht auszeichnen, da hier alle Sklaven sind. Da die Ehre überdies ihre Regeln hat und sich nicht biegen läßt, und da sie von ihren Eigenheiten abhängt, nicht von denen eines Menschen, kann sie nur in Staaten mit gefestigtem Staatsaufbau und gültigen Gesetzen gefunden werden. Wie könnte der Despot sie dulden? Ihr gilt es als ruhmvoll, das Leben zu verachten, aber der Despot ist nur mächtig, weil er es rauben kann. Wie könnte sie den Despoten dulden? Sie hält sich an Regeln und verteidigt ihre Eigenheiten. Der Despot kennt keinerlei Regel, und seine Eigenheiten vernichten alle andern Eigenheiten. Die Ehre ist den despotischen Staaten- - wo man oft nicht einmal eine Wortbezeichnung dafür hat-- unbekannt. Sie herrscht in den Monarchien. Dort beseelt sie den ganzen Staatskörper, die Gesetze und sogar die Tugenden. 9. Kapitel Über das Prinzip der despotischen Regierung Wie Tugend in einer Republik, Ehre in einer Monarchie vonnöten ist, so ist unter einer despotischen Regierung Terror nötig. Tugend ist hier nicht notwendig, und Ehre wäre hier gefährlich. <?page no="211"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 212 212 Kapitel X: Charles de Montesquieu Die ungeheure Macht des Herrschers geht hier vollkommen auf jene über, denen er sie anvertraut. Leute mit starkem Selbstgefühl und -wert wären hier imstande, Revolutionen zu entfachen. Deshalb muß hier Terror den Mut aller niederhalten und die geringste Regung des Ehrgeizes ersticken. Eine maßvolle Regierung kann ihre Zügel lockern, sooft sie will und ohne Gefahr. Sie erhält sich durch ihre Gesetze und ihre Eigenkraft. Wenn aber bei einer despotischen Regierung der drohende Arm des Herrschers einen Augenblick lang nicht zu sehen ist, wenn er die Inhaber der höchsten Stellungen 4 nicht auf der Stelle vernichten kann, ist alles verloren: denn die Triebkraft der Regierung, der Terror nämlich, ist nicht mehr vorhanden, und das Volk hat keinen Schirmherrn mehr. (…) (Aus: Vom Geist der Gesetze, S. 126-128) 11. Kapitel Betrachtung über das Ganze So ist es um die Prinzipien der drei Regierungen bestellt. Das bedeutet nicht etwa, daß man in einer bestimmten Republik tugendhaft ist, vielmehr daß man es sein sollte. Noch weniger beweist dies, daß man in einer bestimmten Monarchie Ehre besitzt und in einem einzelnen despotischen Staat Terror waltet, vielmehr daß dies nötig sei. Sonst ist die Regierungsform nicht ganz realisiert. (…) (Aus: Vom Geist der Gesetze, S. 131) 5. Buch Daß die vom Gesetzgeber gegebenen Gesetze mit dem Prinzip der Regierung übereinstimmen müssen (…) 3. Kapitel Was die Liebe zur Republik in der Demokratie bedeutet Liebe zur Republik ist in einer Demokratie Liebe zur Demokratie. Liebe zur Demokratie bedeutet Liebe zur Gleichheit. Liebe zur Demokratie bedeutet auch Liebe zur Genügsamkeit. Da in ihr jedermann das gleiche Wohlergehen und die gleichen Vorteile finden soll, soll er auch die 4 Wie es oft in militärischen Aristokratien vorkommt. (Anmerkung von Montesquieu) <?page no="212"?> 1. Primärtext 213 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 213 gleichen Annehmlichkeiten genießen und die gleichen Erwartungen hegen. So etwas kann man nur von allgemeiner Genügsamkeit erwarten. In einer Demokratie schränkt die Liebe zur Gleichheit den Ehrgeiz ein auf den einzigen Wunsch und das einzige Glück, dem Vaterland größere Dienste als die andern Bürger zu leisten. Nicht alle können ihm gleich große Dienste erweisen, aber alle sind ihm gleicherweise welche schuldig. Mit seiner Geburt übernimmt jedermann eine riesige Schuld, die er niemals abzuzahlen vermag. Demgemäß erwachsen hier die Auszeichnungen aus dem Gleichheitsprinzip, selbst dann, wenn segensreiche Dienste und überlegene Talente es zu durchbrechen scheinen. Die Liebe zur Genügsamkeit beschränkt die Erwerbsgier innerhalb der Familie auf die Sorge für das Lebensnotwendige, ja sie beschränkt sogar dem Vaterland den Überfluß. Reichtum gibt eine Macht, die ein Bürger nicht für sich ausnutzen kann, da er sonst nicht mehr Gleicher unter Gleichen wäre. Er verschafft ihm Wonnen, die er erst recht nicht genießen darf, da sie gleichfalls gegen die Gleichheit verstoßen würden. Daher haben die guten Demokratien mit der Einführung häuslicher Genügsamkeit die Tür für öffentliche Ausgaben geöffnet, wie es in Athen und Rom der Fall war. Prachtliebe und Verschwendung entstanden zu dieser Zeit aus den zuvor von der Genügsamkeit gehorteten Schätzen. Die Religion verlangt, daß man reine Hände habe, wenn man den Göttern opfert: und so fordern die Gesetze, daß man genügsame Sitten habe, um dem Vaterland geben zu können. Gesunder Sinn und das Glück der Einzelpersonen bestehen großenteils in der Mittellage ihrer Talente und ihrer Vermögen. Eine aus besonnenen Leuten zusammengesetzte Republik, in der die Gesetze einen großen Mittelstand schaffen, wird sich besonnen regieren. Ist sie aus glücklichen Leuten zusammengesetzt, so wird sie sehr glücklich sein. 4. Kapitel Wie man für die Liebe der Gleichheit und Genügsamkeit begeistert Liebe der Gleichheit und Genügsamkeit wird bis zum äußersten erregt durch Gleichheit und Genügsamkeit selber, wenn man in einer Gesellschaft lebt, in der die eine wie die andere von den Gesetzen eingeführt wurden. In Monarchien und despotischen Staaten strebt niemand nach Gleichheit. Das kommt keinem in den Sinn; jeder strebt nach Vorrang. Die Angehörigen der niedrigsten Stände sehnen sich nur heraus, um die Herren der andern zu werden. Mit der Genügsamkeit ist es dasselbe. Man liebt sie nur, wenn man sie hat. Die durch die Vergnügungen Verdorbenen werden nicht gerade ein genügsames Leben lieben. Wenn ein solches Leben natürlich oder allgemein üblich gewesen wäre, würde <?page no="213"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 214 214 Kapitel X: Charles de Montesquieu Alkibiades nicht die Bewunderung der ganzen Welt gefunden haben. Die Neider und Bewunderer des Luxus anderer Leute lieben die Genügsamkeit noch weniger. Menschen, die nur reiche Leute vor Augen haben oder elende Leute wie sie selbst, verfluchen ihr Elend, ohne es zu lieben oder etwas zu kennen, das dem Elend ein Ende setzt. Also ist der Grundsatz nur zu wahr, daß in einer Republik die Liebe zur Gleichheit und Genügsamkeit zur Voraussetzung hat, daß die Gesetze sie festgelegt haben. (…) (Aus: Vom Geist der Gesetze, S. 142-144) 11. Buch Über die Gesetze, welche die politische Freiheit formen, und ihren Bezug zur Verfassung (…) 3. Kapitel Worin die Freiheit besteht Es stimmt, daß in den Demokratien das Volk scheinbar machen kann, was es will. Jedoch bedeutet politische Freiheit nicht, daß man machen kann, was man will. In einem Staat, das heißt einer mit Gesetzen ausgestatteten Gesellschaft, kann Freiheit lediglich bedeuten, daß man zu tun vermag, was man wollen soll, und man nicht zu tun gezwungen wird, was man nicht wollen soll. Man muß sich vor Augen halten, was Unabhängigkeit ist und was Freiheit ist. Freiheit ist das Recht, all das zu machen, was die Gesetze gestatten. Wenn ein Staatsbürger machen dürfte, was sie untersagen, so gäbe es keine Freiheit mehr, denn die anderen hätten diese Möglichkeit dann ja ebensogut. 4. Kapitel Weiteres zum gleichen Thema Demokratie und Aristokratie sind nicht freie Staaten auf Grund ihrer Natur. Die politische Freiheit ist nur unter maßvollen Regierungen anzutreffen. Indes besteht sie selbst in maßvollen Staaten nicht immer, sondern nur dann, wenn man die Macht nicht mißbraucht. Eine ewige Erfahrung lehrt jedoch, daß jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt. Wer hätte das gedacht: Sogar die Tugend hat Grenzen nötig. <?page no="214"?> 1. Primärtext 215 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 215 Damit die Macht nicht mißbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, daß die Macht die Macht bremse. Ein Staat kann so aufgebaut werden, daß niemand gezwungen ist, etwas zu tun, wozu er nach dem Gesetz nicht verpflichtet ist, und niemand gezwungen ist, etwas zu unterlassen, was das Gesetz gestattet. 5. Kapitel Über das Ziel der verschiedenen Staaten Obgleich alle Staaten grundsätzlich das gleiche Ziel haben, und zwar ihre Selbsterhaltung, hat dennoch jeder Staat ein ihm besonderes Ziel. Vergrößerung war das Ziel Roms, Krieg das der Lakedämonier, Religion das der jüdischen Gesetze, Handel das von Marseille, staatliche Friedfertigkeit das der Gesetze Chinas, Schiffahrt das der Gesetze von Rhodos, natürliche Freiheit war Ziel der inneren Ordnung der Wilden, die Wollüste des Herrschers sind im allgemeinen das der despotischen Staaten, Ruhm des Herrschers und des Staats das der Monarchien; Unabhängigkeit jedes einzelnen ist Ziel der Gesetze Polens und, die Folge davon, die Unterdrückung aller. In der Welt gibt es auch eine Nation, die sich die politische Freiheit als direktes Ziel ihrer Verfassung gesteckt hat. Wir wollen die Prinzipien untersuchen, auf die sie diese gründet. Wenn sie gut sind, werden sie ein Spiegel der Freiheit sein. Um die politische Freiheit in der Verfassung zu entdecken, ist nicht viel Mühe nötig. Warum nach ihr suchen, wenn man sie sehen kann, wo sie ist, und wenn man sie gefunden hat? 6. Kapitel Über die Verfassung Englands Es gibt in jedem Staat drei Arten von Vollmacht: die legislative Befugnis, die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Völkerrecht abhängen, und die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Zivilrecht abhängen. Auf Grund der ersteren schafft der Herrscher oder Magistrat Gesetze auf Zeit oder für die Dauer, ändert geltende Gesetze oder schafft sie ab. Auf Grund der zweiten stiftet er Frieden oder Krieg, sendet oder empfängt Botschaften, stellt die Sicherheit her, sorgt gegen Einfälle vor. Auf Grund der dritten bestraft er Verbrechen oder sitzt zu Gericht über die Streitfälle der Einzelpersonen. Diese letztere soll richterliche Befugnis heißen, und die andere schlechtweg exekutive Befugnis des Staates. Politische Freiheit für jeden Bürger ist jene geistige Beruhigung, die aus der Überzeugung hervorgeht, die jedermann von seiner Sicherheit hat. Damit man diese Freiwww.claudia-wild.de: <?page no="215"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 216 216 Kapitel X: Charles de Montesquieu heit genieße, muß die Regierung so beschaffen sein, daß kein Bürger einen andern zu fürchten braucht. Sobald in ein und derselben Person oder derselben Beamtenschaft die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden ist, gibt es keine Freiheit. Es wäre nämlich zu befürchten, daß derselbe Monarch oder derselbe Senat tyrannische Gesetze erließe und dann tyrannisch durchführte. Freiheit gibt es auch nicht, wenn die richterliche Befugnis nicht von der legislativen und von der exekutiven Befugnis geschieden wird. Die Macht über Leben und Freiheit der Bürger würde unumschränkt sein, wenn jene mit der legislativen Befugnis gekoppelt wäre, denn der Richter wäre Gesetzgeber. Der Richter hätte die Zwangsgewalt eines Unterdrückers, wenn jene mit der exekutiven Gewalt gekoppelt wäre. Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigsten oder der Adligen oder des Volkes folgende drei Machtvollkommenheiten ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private Streitfälle aburteilen. (…) Daher haben alle Herrscher, die sich zu Despoten machen wollten, stets mit einer Vereinigung aller Ämter in ihrer Hand den Anfang gemacht; desgleichen mehrere europäische Könige mit der Vereinigung aller höchsten Stellen ihres Staats. (…) Richterliche Befugnis darf nicht einem unabsetzbaren Senat verliehen werden, vielmehr muß sie von Personen ausgeübt werden, die nach einer vom Gesetz vorgeschriebenen Weise zu gewissen Zeiten im Jahr aus dem Volkskörper ausgesucht werden. Sie sollen ein Tribunal bilden, das nur so lange besteht, wie die Notwendigkeit es verlangt. (…) Die zwei anderen Vollmachten können viel eher Beamten oder unabsetzbaren Körperschaften anvertraut werden, denn sie werden nicht gegen Einzelpersonen angewendet. Die eine ist lediglich der Gemeinwille des Staates, die andere lediglich der Vollzug des Gemeinwillens. Indessen, die Gerichte sollen nicht unveränderlich sein, die Urteile müssen es aber so weitgehend sein, daß sie nie mehr als ein genauer Gesetzestext sind. Wenn sie nur die Privatmeinung des Richters darstellten, würde man in einem Gesellschaftszustand leben, ohne genau die Verpflichtungen zu kennen, die man damit vertraglich eingeht. (…) In einem freien Staat soll jeder Mensch, dem man eine freie Seele zugesteht, durch sich selbst regiert werden: daher müßte das Volk als Gesamtkörper die legislative Befugnis innehaben. Da dies in den großen Staaten unmöglich ist und in den kleinen Staaten vielen Nachteilen unterliegt, ist das Volk genötigt, all das, was es nicht selbst machen kann, durch seine Repräsentanten machen zu lassen. (…) <?page no="216"?> 1. Primärtext 217 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 217 Die Repräsentanten sind in der Lage, die Angelegenheiten zu erörtern. Das ist ihr großer Vorteil. Das Volk ist dazu durchaus nicht geeignet. Das ist eines der großen Gebrechen der Demokratie. (…) In den verschiedenen Distrikten müssen alle Bürger bei der Wahl der Repräsentanten das Recht zur Stimmabgabe besitzen, diejenigen ausgenommen, die in solch einem Elend leben, daß man ihnen keinen eigenen Willen zutraut. Die Mehrzahl der antiken Republiken litt an einem schweren Gebrechen: dort besaß das Volk das Recht, Beschlüsse, die zugleich Vollzug verlangen, eigenmächtig zu fassen-- wozu das Volk vollkommen außerstande ist. Es darf nur durch die Wahl der Repräsentanten an der Regierung mitwirken. So weit reicht sein Horizont. Zwar können nur wenige Menschen die Leistungskraft von Menschen genau ermessen, aber jeder ist imstande, im großen ganzen zu erkennen, ob der Mann seiner Wahl besser beraten ist als die meisten anderen. Die repräsentierende Körperschaft darf auch nicht für irgendeine eigenmächtige Beschlußfassung gewählt werden- - was sie nicht gut zu leisten vermöchte- -, sondern zur Schaffung von Gesetzen beziehungsweise zur Kontrolle, ob die geschaffenen Gesetze richtig angewendet wurden. Das vermag sie sehr gut, und niemand besser als sie. Stets gibt es im Staat Leute, die durch Geburt, Reichtum oder Auszeichnungen hervorragen. Wenn sie aber mit dem Volk vermengt würden und wie die andern bloß eine Stimme besäßen, so würde die gemeinsame Freiheit für sie Sklaverei bedeuten. Sie hätten keinerlei Interesse an der Verteidigung der Freiheit, denn die meisten Beschlüsse würden zu ihren Ungunsten gefaßt. Ihre Teilnahme an der Gesetzgebung muß daher ihrer anderweitigen Vorrangstellung innerhalb des Staates angemessen sein. Das trifft zu, wenn sie eine Körperschaft bilden, die das Recht hat, Unternehmungen des Volkes auszusetzen, genauso wie das Volk das Recht hat, die ihrigen auszusetzen. Auf diese Weise wird die legislative Befugnis sowohl der Adelskörperschaft als auch der gewählten Körperschaft der Volksvertreter anvertraut. Jede hat ihre Versammlungen und Abstimmungen für sich, sowie getrennte Gesichtspunkte und Interessen. Unter den drei von uns besprochenen Befugnissen ist die richterliche gewissermaßen gar keine. Nur zwei bleiben übrig. Da sie zu ihrer Mäßigung eine regulierende Gewalt nötig haben, ist für diesen Zweck der aus Adligen zusammengesetzte Zweig der legislativen Körperschaft sehr geeignet. Die Mitgliedschaft in der Adelskörperschaft soll erblich sein. Erstens ist sie es gemäß ihrer Natur. Überdies muß sie auf die Bewahrung ihrer Sonderrechte sehr bedacht sein. Diese sind als solche verhaßt und daher in einem freien Staat stets in Gefahr. Indes könnte eine erbliche Gewalt versucht sein, ihren Sonderinteressen zu folgen und darüber die Interessen des Volkes zu vergessen. Daher muß dafür gesorgt werden, <?page no="217"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 218 218 Kapitel X: Charles de Montesquieu daß sie in Dingen, bei denen sie an der Korruption höchstlich interessiert ist, wie etwa bei Gesetzen zur Steuererhebung, lediglich durch ihr Verhinderungsrecht, nicht aber durch ihr Entscheidungsrecht an der Gesetzgebung teilhat. Entscheidungsrecht nenne ich das Recht, von sich aus anzuordnen oder das von andern Angeordnete abzuändern. Verhinderungsrecht nenne ich das Recht, einen von anderen gefaßten Beschluß zu annullieren. Diese Gewalt besaßen die Tribunen Roms. Obwohl der Inhaber des Verhinderungsrechts auch das Recht zur Zustimmung haben kann, besteht diese Zustimmung in nichts weiter als der Erklärung, daß man von seinem Verhinderungsrecht keinen Gebrauch mache. Aus diesem Recht leitet es sich her. Die exekutive Befugnis muß in den Händen eines Monarchen liegen, weil in diesem Zweig der Regierung fast durchweg unverzügliches Handeln vonnöten ist, das besser von einem als von mehreren besorgt wird. Was hingegen von der legislativen Befugnis abhängt, wird oft besser von mehreren angeordnet als von einem. Es gäbe keine Freiheit mehr, wenn es keinen Monarchen gäbe und die exekutive Befugnis einer bestimmten, aus der legislativen Körperschaft ausgesuchten Personenzahl anvertraut wäre, denn die beiden Befugnisse wären somit vereint. Dieselben Personen hätten an der einen und der anderen manchmal teil-- und somit könnten sie immer daran teilhaben. (…) Wenn die exekutive Befugnis nicht das Recht besäße, die Unternehmungen der legislativen Körperschaft aufzuhalten, wäre diese letztere despotisch. Sie vermöchte sich alle erdenklichen Vollmachten selber zu verleihen und so alle anderen Befugnisse zunichte zu machen. Indessen darf die legislative Befugnis nicht umgekehrt die Möglichkeit bekommen, die exekutive Befugnis aufzuhalten. Die Durchführung hat nämlich schon ihrer Natur nach ihre Grenzen, und ihre Begrenzung ist daher unnötig. Außerdem befaßt sich die exekutive Befugnis immer nur mit Angelegenheiten des Augenblicks. Die Macht der Tribunen in Rom war insofern ein Fehler, als sie nicht allein die Gesetzgebung aufhielt, sondern sogar die Durchführung. Das verursachte große Mißstände. (…) Die exekutive Befugnis muß, wie gesagt, durch ihr Verhinderungsrecht an der Gesetzgebung beteiligt sein. Sonst sähe sie sich bald ihrer Sonderrechte beraubt. Wenn sich jedoch die legislative Befugnis an der Durchführung beteiligt, ist die exekutive Befugnis ebenfalls verloren. Es gäbe keine Freiheit mehr, wenn der Monarch vermöge eines Entscheidungsrechts an der Gesetzgebung teilnähme. Dennoch ist seine Teilnahme an der Gesetzgebung für den Fall, daß er sich rechtfertigen muß, erforderlich. Darum muß er durch sein Verhinderungsrecht daran teilnehmen. (…) Das also ist die Grundverfassung der Regierung, von der wir reden. Die legislative Körperschaft setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Durch ihr wechselseitiges <?page no="218"?> 2. Leitfragen 219 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 219 Verhinderungsrecht wird der eine den andern an die Kette legen. Beide zusammen werden durch die exekutive Befugnis gefesselt, die ihrerseits von der Legislative gefesselt wird. Eigentlich müßten diese drei Befugnisse einen Stillstand oder eine Bewegungslosigkeit herbeiführen. Doch durch den notwendigen Fortgang der Dinge müssen sie notgedrungen fortschreiten und sind daher gezwungen, in gleichem Schritt zu marschieren. Da die exekutive Befugnis an der Legislative nur durch ihr Verhinderungsrecht teilhat, darf sie in die Debatte der laufenden Geschäfte nicht eingreifen. Sie braucht nicht einmal Anträge einzubringen. Da sie jederzeit die Beschlüsse verwerfen kann, so kann sie Beschlußfassungen über Vorschläge zurückweisen, die gegen ihren Willen eingebracht wurden. (…) Wollte man sich bequemen, das bewundernswerte Werk des Tacitus über die Sitten der Germanen zu lesen, so würde man daraus ersehen, daß die Engländer die Idee ihrer Staatsregierung von diesen Germanen bezogen haben. Dies herrliche System wurde in den Wäldern erfunden. Da alle Menschendinge ein Ende nehmen, wird auch der Staat, von dem die Rede ist, seine Freiheit verlieren und wird vergehen. Rom, Lakedämon und Karthago sind leider vergangen. Er wird vergehen, sobald die legislative Befugnis verderbter als die exekutive ist. Mir steht die Prüfung nicht zu, ob die Engländer gegenwärtig diese Freiheit genießen oder nicht. Ich begnüge mich mit der Feststellung, daß sie durch ihre Gesetze in Kraft gesetzt wurde, und forsche nicht weiter. Mit all dem vermesse ich mich nicht, die anderen Regierungen herabzusetzen. Auch sage ich nicht, diese äußerste politische Freiheit müsse alle beschämen, die eine nur mäßige besitzen. Wie könnte ausgerechnet ich so etwas sagen, der ich nicht einmal das Übermaß an Vernunft für erstrebenswert halte und der Meinung bin, die Menschen kämen fast durchweg mit den mittleren Zuständen besser zurecht als mit den extremen? (Aus: Montesquieu, Charles-Louis de: Vom Geist der Gesetze. Auswahl, Übersetzung und Einleitung von Kurt Weigand, Stuttgart 2001, S. 214-229) 2. Leitfragen a. Was versteht Montesquieu unter politischer Tugend? b. Was ist der Unterschied zwischen der Natur der Regierung und ihrem Prinzip? c. Nennen Sie jeweils das Prinzip der republikanischen, aristokratischen, monarchischen und despotischen Regierung. d. Was bedeutet die Liebe zur Gleichheit für die Demokratie? <?page no="219"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 220 220 Kapitel X: Charles de Montesquieu e. Worin besteht für Montesquieu politische Freiheit? f. Was ist der Grund für Montesquieus Vorschlag, die Macht in einem Staat zu teilen und wie teilt er die Macht auf? g. Welches hält Montesquieu für eines der großen Gebrechen der Demokratie und welche Lösung schlägt er dafür vor? 3. Entstehungskontext Biografisches Charles Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu wurde 1689 im Schloss de la Brède bei Bordeaux als Sohn eines französischen Adligen geboren. Als kurz nach der Geburt des kleinen Charles ein Bettler am Schloss vorsprach, ernannten die Eltern ihn zum Paten des Kindes, um es sein Leben lang daran zu erinnern, dass die Armen seine Brüder seien- - eine Geste, die davon zeugt, dass im Hause Secondat nicht der übliche Geist der damaligen Aristokratie herrschte. Einige Jahre nach dem Tod seiner Mutter wurde der elfjährige Charles zur Erziehung in ein Kloster gegeben, in dem er elf Jahre verblieb. Elemente der klösterlichen Erziehung waren die stoische Philosophie 5 und die Lehre des Christentums sowie das Studium der Antike, insbesondere der römischen. Seine Schriften ließen darauf schließen, dass er der Lehre des Christentums nicht nahe stand. Sein Onkel, Baron de Montesquieu, trat 1716 vom Amt des Parlamentspräsidenten von Bordeaux zurück und vermachte Amt, Vermögen und Titel seinem Neffen Charles Louis de Secondat, der fortan »Baron de la Brède et de Montesquieu« hieß. 6 Er verrichtete dieses Amt zwar gewissenhaft, aber ohne Leidenschaft. Diese entdeckte er erst in der Reflexion der politischen Verhältnisse. Er verfasste und veröffentlichte 1721 anonym die »Lettres Persanes«, ein erfundener Briefwechsel zwischen zwei Persern, die die politischen und sittlichen Zustände des damaligen Frankreichs schilderten. Diese Schilderungen strotzten vor Sarkasmus und Ironie, kamen sprachlich elegant und in einer seinerzeit ansprechenden literarischen Form daher. Der Verfasser der bald zu einem Modebuch der Aristokratie anvancierten »Lettres« blieb allerdings nicht lange unbekannt. Trotz des Ruhms, der Montesquieu damit zuteil wurde, habe diese Veröffentlichung seiner Akzeptanz in den adeligen Kreisen geschadet. Nach weiteren anonymen Veröffentlichungen bewarb 5 Die stoische Ethik (Anfänge etwa 300 v. Chr., Blütezeit etwa erstes Jh. n. Chr.) beruht auf dem Gedanken, dass der Mensch ein Vernunftwesen sei und die einzige Tugend und Glückseligkeit darin bestehe, ein vernunftgemäßes Leben zu führen. Die Stoiker preisen die Freundschaft, fordern Gerechtigkeit und Menschenliebe. Prominenteste Vertreter: Lucius Annaeus Seneca (ca. 4 v. Chr.-65 n. Chr.), Kaiser Marcus Aurelius (121-180) und der als Sklave geborene Epiktet (ca. 50-130). (Vgl. Störig 1999, S. 214 ff.) 6 Ämter zu vererben oder zu verkaufen war im damaligen Frankreich übliche Praxis. <?page no="220"?> 3. Entstehungskontext 221 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 221 sich Montesquieu um einen Sitz in der »Französischen Akademie« (Académie française), der ihm nach einer erstmaligen Ablehnung 1728 gewährt wurde. Doch nach Anfeindungen seitens des Präsidenten kehrte er der Akademie bald den Rücken. Er reiste durch Europa und verweilte zwei Jahre in England, wo er mit den Schriften Lockes vertraut wurde. Dort entschloss er sich, eine umfassende Darstellung der Verfassungsverhältnisse zu erarbeiten, die ihn die nächsten Jahrzehnte beschäftigen sollte. Zwischenzeitlich suchte ihn ein Augenleiden heim, sodass er sich bemühte, mit Hilfe von Diktaten und eines Vorlesers die Vollendung des Werkes zu beschleunigen. 1748 veröffentliche er in Genf mit durchschlagendem Erfolg den »Esprit des Lois«. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er erblindet in Paris, wo er 1755 im Alter von 66 Jahren verstarb. (Vgl. Forsthoff 1992, S. IX-XV) Zeitliches Im Geburtsjahr Montesquieus herrschte seit 46 Jahren der »Sonnenkönig« Ludwig XIV. (1638-1715) als christlich-katholischer Herrscher, oberster Lehnsherr und absoluter Monarch in Frankreich. Peter Hartmann weist darauf hin, dass die »Absolutheit« der Königsherrschaft stark von der Persönlichkeit des Monarchen, seiner Willensstärke, Fähigkeiten und Durchsetzungskraft, seiner Intelligenz und seinem Fleiß abhing. 7 Ludwig XIV. besaß offenbar diese Eigenschaften. Seine Politik beinhaltete eine merkantilistische Wirtschaftspolitik 8 , eine imperialistische Außenpolitik und innenpolitisch setzte er auf eine einzige Staatsreligion, die christlich-katholische. Wie bereits im Locke-Kapitel erwähnt, profitierte England von dem seitens Ludwig XIV. 1685 erlassenen Edikt, durch das die Protestanten rechtlos, ihre Geistlichen ausgewiesen und ihr Gottesdienst versagt wurde. Trotz Auswanderungsverbot flohen 200 000 bis 500 000 protestantisch gesinnte Hugenotten (darunter Fabrikanten, Facharbeiter und Geschäftsleute) in die Schweiz, nach Holland, Deutschland und England. Am Ende der Regentschaft des »Sonnenkönigs« 1715 war Frankreich finanziell ruiniert, militärisch ausgeblutet und wirtschaftlich geschwächt. Mit dieser Hypothek wurde der Urenkel des »Sonnenkönigs«, Ludwig XV. (1710-1774), König von Frankreich. Da dieser nach dessen Tod erst fünf Jahre alt war, führte bis 1722 sein Onkel Philipp Herzog von Orléans vorläufig die Regierung. Es folgte die Regierungszeit des Kardi- 7 Das Gelingen einer absoluten Herrschaft sei hoch voraussetzungsvoll gewesen. Der Monarch sei durch die Vorrechte der Provinzen, Städte, Korporationen und Stände eingeschränkt gewesen und es galten Grundgesetze des Königreiches. Auch dürfe nicht unterschätzt werden, welche Schwierigkeiten es bereitete, einen großen Raum zu beherrschen, wenn die Wege schlecht und die Verwaltungsapparate ungenügend seien. Zudem habe gegenüber den königlichen Befehlen viel Passivität und Ungehorsam der Bevölkerung geherrscht. (Vgl. Hartmann 1999, S. 23.) 8 Gekennzeichnet durch ein Streben nach hohen Exporten und niedrigen Importen durch Zölle, gilt sie als staatsinterventionistische und dirigistische Wirtschaftspolitik. <?page no="221"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 222 222 Kapitel X: Charles de Montesquieu nals Fleury (1653-1743), dem es gelang, bis 1741 außenpolitisch Frieden zu halten, innenpolitisch durch Währungsstabilität einen Wirtschaftsaufschwung und damit Wohlstand zu erzeugen und vorläufig religiösen Frieden zu bewirken. 1741 trat Frankreich für sieben Jahre in den österreichischen Erbfolgekrieg ein, der dem Land wenig militärische Erfolge, aber dafür hohe Schulden brachte. Nach dem Tod Fleurys begann die »Herrschaft« der Mätressen- - Marquise de Pompadour, Marquise du Barry-- am Hof. Ludwig der XV. wird als ein gutaussehender und intelligenter, aber auch schüchterner, egoistischer, ausschweifender und wenig willensstarker Monarch beschrieben. Die innenpolitischen Kräfte agierten gegen die Autorität des Monarchen. Die in der Regentschaft des Herzogs Philipp von Orléans gestärkten Parlamentsräte als Interessenvertreter der Privilegierten revoltierten und hetzten die Massen auf, die öffentliche Meinung übte zersetzende Kritik am Monarchen, an dem Hof und der Kirche. Ludwig XV. versäumte es, Strukturreformen einzuleiten (wie z. B. die Abschaffung der Käuflichkeit der Richterämter, eine gerechtere Besteuerung oder eine Einschränkung der Privilegien). Stattdessen stiegen die Schulden des französischen Staatshaushalts durch die Beteiligung am »Siebenjährigen Krieg« 1756-1763. 1774 starb der König an Pocken, sein Enkel Ludwig XVI. (1754-1793) trat die Thronfolge an. (Vgl. Hartmann 1999, S. 33-36) Gesellschaftspolitisches Die französische Gesellschaft und Wirtschaft im 17. und 18. Jahrhundert war in erster Linie durch die Landwirtschaft bestimmt, in der auch die meisten Menschen arbeiteten. Durch sie wurden die Staatseinnahmen erwirtschaftet. Handwerk, Manufakturen, Handel und Industrie spielten noch eine untergeordnete Rolle. Das Bankwesen und der Fernhandel waren weit weniger entwickelt als etwa in England. Insgesamt herrschte im aus agrarischen Provinzen bestehenden Frankreich eine archaische Wirtschaftsstruktur. Zwischen 1650 und 1730 erlebte Frankreich eine wirtschaftliche Depression, gekennzeichnet durch Geldmanipulationen eines in Geldnöten steckenden Staates, Bankrotte, Arbeitslosigkeit, eine hohe Kindersterblichkeit und negative Kriegseinwirkungen. Von dem einsetzenden Wirtschaftsaufschwung ab den 1730er Jahren profitierten allerdings vorwiegend die oberen Schichten der französischen Gesellschaft, die etwa zwei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. (Vgl. Hartmann 1999, S. 25 f.) Das Geistesleben in Frankreich veränderte sich im 18. Jahrhundert zu Ungunsten der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Die Missstände und Missbräuche in Kirche, Königtum und den führenden Schichten boten genügend Anlass für vernichtende Kritik und den Kampf gegen traditionelle Autoritäten. In den geistigen Eliten etablierte sich zunehmend ein antichristliches, antimonarchisches und kosmopolitisches Denken. (Vgl. Hartmann 1999, S. 28) Woher rührt dieses kritische Bewusstsein gegenüber den traditionellen Autoritäten? Die Angehörigen der <?page no="222"?> 4. Interpretation 223 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 223 Oberschichten gingen auf Reisen. Mitte des 18. Jahrhunderts war die Entdeckung der Welt nahezu abgeschlossen. »Aber die Priester und Missionare, die Kaufleute und Eroberer, die Bildungsreisenden und Neugierigen aus den Oberschichten der europäischen Gesellschaften tragen nicht nur ihre Waffen, ihren Glauben, ihre Waren, ihr Wissen und ihr Geld in die bislang wenig bekannten Kontinente und Länder; sie schreiben Berichte, Reisetagebücher, Erzählungen, Schilderungen fremder Länder und Sitten.« (Hereth 1995, S. 15) Montesquieu verarbeitete solche Dokumente als empirische Belege seiner theoretischen Überlegungen. Die Kenntnisse der anderen Kulturen ermöglichten einen kritischen Blick auf die eigene Kultur. Diesen kritischen Blick warf Montesquieu in seinem Briefroman »Lettres Persanes« auf die französische Gesellschaft. Das geistige Klima dieser Zeit war von Erneuerung und einer Emanzipation von der Scholastik geprägt. Autoren wie Hobbes und Locke befeuerten diesen geistigen Umbruch und Montesquieu trug nicht minder dazu bei. Allerdings hielt Letzterer der französischen Gesellschaft nicht den Spiegel vor, um die Monarchie zu Fall zu bringen. Im Gegenteil: Er wollte zu ihrer Stabilisierung beitragen. 4. Interpretation Die oben abgedruckten Primärtextstellen sind Auszüge aus »De l’Esprit des Loix Ou du rapport que les Loix doivent avoir avec la Constitution des chaques Gouvernement, les Mœurs, le Climat, la Religion, le Commerce, etc.« (dt. »Vom Geist der Gesetze oder über den Bezug, den die Gesetze zum Aufbau jeder Regierung, zu den Sitten, dem Klima, der Religion, dem Handel, etc. haben müssen«), erschienen 1748, kurz »Esprit des Lois« bzw. »Vom Geist der Gesetze« genannt. Nach Montesquieus eigenen Angaben im Vorwort hat er 20 Jahre an dem Werk gearbeitet. Nach seiner Veröffentlichung fand es reißenden Absatz (22 Auflagen in zwei Jahren) und obwohl es anonym erschien, kannte man den Verfasser. Von kirchlicher Seite wurde »Vom Geist der Gesetze« stark angegriffen, woraufhin Montesquieu 1750 eine »Défense de l’Esprit des Lois« (dt. »Verteidigung von De l’Esprit des Lois«) veröffentlichte. Das Werk wurde dennoch von der katholischen Kirche auf den Index gesetzt. (Vgl. Forsthoff 1992, S. XV) Die Arbeit umfasst insgesamt 31 Bücher mit zahlreichen Unterkapiteln (die deutsche Gesamtausgabe von Forsthoff umfasst zwei Bände). Im ersten Buch beschreibt Montesquieu seinen theoretischen Ausgangspunkt, der verdeutlicht, was er überhaupt unter einem »Gesetz« versteht und der angibt, mit welcher Perspektive er die Gesetze in der historischen Wirklichkeit untersuchen möchte. Im zweiten bis achten Buch skizziert er nach dieser theoretischen Grundlegung im Lichte der Erfahrung die allgemein möglichen Verfassungsformen. Dabei weicht er erheblich vom aristotelischen Zuschnitt der Verfassungstypen ab. Das dritte Buch über die Prinzipien der drei Regierungsarten ist oben als Primärtext abgedruckt. Im neunten bis 26. Buch werden die für das Verfassungsleben bestimmenden Faktoren beschriewww.claudia-wild.de: <?page no="223"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 224 224 Kapitel X: Charles de Montesquieu ben. Das 27. bis 31. Buch lässt keine unmittelbar nachvollziehbare Logik erkennen. Im 29. Buch fasst er seine politiktheoretischen Ansichten nochmals zusammen. Das Werk hat kein ausgearbeitetes Ende und scheint mittendrin abzubrechen. Berühmt geworden ist das sechste Kapitel im elften Buch »Über die Verfassung Englands«, in dem die Theorie der Gewaltenteilung ausgearbeitet wird. Dieses Kapitel ist auszugsweise als Primärtext abgedruckt. Hauptthema und Untersuchungsgegenstand seines Werkes sind die Gesetze und Regeln, nach denen die Menschen in Gesellschaften zusammenleben. Beim Studium der Gesetze, Verfassungen, Sitten und Gebräuche der Völker ging er davon aus, »daß sie sich bei der Einführung der endlosen Vielfalt von Gesetzen und Sitten nicht einzig und allein von ihren Launen«, (Montesquieu, EL, S. 91) 9 sondern auch von geistigen Prinzipien leiten ließen. Diese geistigen Prinzipien macht er zum Ausgangspunkt für die Beschreibung der gesellschaftlichen Ordnungen. Sein zentraler Gedanke ist, dass jeder politischen Verfassung eine geistige Triebkraft innewohnt, die das Handeln innerhalb der politischen Ordnung bestimmt. So unterscheidet Montesquieu zwischen der Natur der Regierung und ihrem Prinzip. Worin besteht dieser Unterschied? Die Natur der Regierung ist ihre Struktur (institutionelle Einrichtung) und das Prinzip sind die menschlichen Leidenschaften (Antrieb), die sie in Bewegung setzen. Demnach entdeckt Montesquieu in der politischen Wirklichkeit grundsätzlich drei Regierungsformen: die republikanische, die monarchische und die despotische. Im zweiten Buch beschreibt er die Natur-- also die Struktur-- dieser drei Regierungsformen. Ihre Definition hängt davon ab, wem die Souveränität im Staatsaufbau zugeschrieben wird. »Republikanisch ist diejenige Regierung, bei der das Volk als Körperschaft beziehungsweise bloß ein Teil des Volkes die souveräne Macht besitzt. Monarchie ist diejenige Regierung, bei der ein einzelner Mann regiert, jedoch nach festliegenden und verkündeten Gesetzen, wohingegen bei der despotischen Regierung ein einzelner Mann ohne Regel und Gesetz alles nach seinem Willen und Eigensinn abrichtet.« (Montesquieu, EL, S. 106) Dabei fasst er Demokratie und Aristokratie unter die republikanische Regierungsform. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 106) Die Demokratie sei eine Volksregierung, weil das Volk die Macht besitze, über die geltenden Regeln der Gesellschaft zu entscheiden. Jedoch hält Montesquieu das Volk nicht für fähig, ständig die Regierungsgeschäfte zu führen, weil es seiner Natur nach seinen Leidenschaften folge. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 111) Deshalb plädiert er strikt für eine repräsentative Demokratie. 9 Zitate aus Montesquieus »Vom Geist der Gesetze« sind im Folgenden mit »EL« als Kürzel für »Esprit des Lois« der Ausgabe von 2001 angegeben. <?page no="224"?> 4. Interpretation 225 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 225 »Die Mehrzahl der Bürger ist durchaus geeignet auszuwählen, nicht aber, gewählt zu werden. Ebenso hat das Volk Fähigkeit genug, sich über die Amtsführung der anderen Rechenschaft zu geben, taugt aber nicht zu eigener Amtsführung.« (Montesquieu, EL, S. 108) Es sei nötig, dass die kleinen Leute durch die Großen aufgeklärt würden und an dem Verantwortungsbewusstsein bestimmter Personen Halt fänden. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 110) Es sei eines der großen Gebrechen der Demokratie, dass das Volk nicht geeignet sei, die Staatsangelegenheiten zu erörtern. Die Repräsentanten seien aber dazu in der Lage. Wie nun genau das Verhältnis zwischen Volk und Repräsentanten geregelt sein und wie die Ausübung von Volkssouveränität durch Repräsentanten erfolgen soll, klärt Montesquieu zumindest an dieser Stelle nicht. Die Aristokratie sei umso vollkommener, je mehr sie sich der Demokratie nähere. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 114) In der Monarchie sei der Adel als dem Monarchen nachgeordnete vermittelnde Macht unerlässlich, denn: »(K)ein Monarch, kein Adel; kein Adel, kein Monarch. Sonst hat man einen Despoten.« (Montesquieu, EL, S. 115) In der Despotie ließe der über alle Macht verfügende Einzelherrscher diese durch einen einzelnen Menschen (z. B. Wesir) ausführen, der alsbald die gleiche Macht, wie der Herrscher selbst habe. Denn: »Ein Mensch, dem seine fünf Sinne unaufhörlich einreden, er sei alles und die anderen nichts, ist natürlich träge, unwissend und wollüstig. Er vernachlässigt also die Geschäfte.« (Montesquieu, EL, S. 117) Im dritten Buch entwickelt Montesquieu die Prinzipien der drei Regierungsarten, die als Antrieb die Regierung in Bewegung setzten und in Gang hielten. Das Prinzip der republikanischen Regierung sei die Tugend. Darunter versteht er in der Republik die Vaterlandsliebe, das heißt: die Liebe zur Gleichheit. Um den Tugendbegriff von einem moralischen oder christlichen Verständnis zu unterscheiden, spricht er speziell von politischer Tugend. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 94) In der Aristokratie bilde der Adel eine Körperschaft, die das Volk niederhalte. Dies hält Montesquieu für einen Vorteil gegenüber der Demokratie- - er geht davon aus, der Adel sorge als Körperschaft dafür, dass die Gesetze vom Volk eingehalten würden. Das Problem für die aristokratische Regierung bestehe darin, dass sich der Adel selbst in Zaum halten müsse. Dies sei durch Tugend oder Selbstzucht im Interesse der Selbsterhaltung zu erreichen. Das Prinzip der aristokratischen Regierung ist also auf Tugend gegründete Selbstzucht. Das Prinzip der monarchischen Regierung sei die Ehre. Sie setze Rangunterschiede, damit der Ehrgeiz sich entfalten könne. Das Prinzip der despotischen Regierung sei Terror. Damit der despotische Herrscher nach seinen Launen regieren könne, müsse er die Menschen in Angst versetzen und den Mut aller niederhalten. Wenn der drohende Arm des Herrschers einen Moment nicht zu sehen sei, wenn er die Inhaber der höchsten Stellen nicht augenblicklich vernichten könne, sei für den Despoten alles verloren. Die geistigen Prinzipien würden durch die Art der Erziehung bestimmt, weshalb ihr in einem Staat eine tragende Rolle zukäme. »Die Gesetze der Erziehung wirken als erste auf uns ein. Sie bereiten uns auf unser Leben als Bürger vor. Daher muß jede <?page no="225"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 226 226 Kapitel X: Charles de Montesquieu einzelne Familie nach dem Leitbild der großen Familie, die alle in sich begreift, regiert werden.« (Montesquieu, EL, S. 132) Jede Regierungsform habe die für sie passenden Erziehungsideale, die den Prinzipen der Regierungsformen entsprächen: In der Monarchie ist es demnach die Ehre, in der Despotie der Terror und in der Republik die Tugend. Die Ideale, die in der Erziehung in einer Monarchie nahegebracht würden, bedeuteten weniger eine Verpflichtung gegenüber anderen als vielmehr eine Verpflichtung uns selbst gegenüber. Wir stünden nicht in einer Reihe mit unseren Mitbürgern, sondern zeichneten uns vor ihnen aus. Handlungen würden nicht als gut, sondern als schön, nicht als gerecht, sondern als vornehm, nicht als vernünftig, sondern als ungewöhnlich gewertet. Die Erziehung in einer Monarchie gestattete Galanterie, Ränke und List. Von den Manieren würde eine gewisse Höflichkeit verlangt, allerdings eine Höflichkeit aus Hochmut, denn damit könne ein über die Maßen großer Mann alle anderen als klein erscheinen lassen. Auch eine herablassende Bescheidenheit und eine Erlesenheit des Geschmacks gehörten zur Erziehung eines »honnête homme«. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 133-134) »In der Monarchie arbeitet die Erziehung an der Erhebung der Herzen. In den despotischen Staaten arbeitet sie umgekehrt nur an ihrer Erniedrigung.« (Montesquieu, EL, S. 136) Eigentlich sei die Erziehung in Despotien gewissermaßen gar keine. »Man schafft zunächst einmal einen Taugenichts, damit dann ein guter Sklave daraus wird.« (Montesquieu, EL, S. 137) Die republikanische Regierung habe hingegen die Macht der Erziehung in vollem Umfang nötig. Während in der despotischen Regierung Terror durch Drohung und Züchtigung ganz von selbst entstünde und in der Monarchie die Ehre durch die Leidenschaften angestachelt würde, würde in der Demokratie politische Tugend durch die Überwindung des eigenen Ich erreicht, was eine mühevolle Aufgabe darstelle. »Man kann diese Tugend als Liebe zu den Gesetzen und zum Vaterland definieren. Diese Liebe fordert eine unablässige Entscheidung für das öffentliche Wohl unter Hintansetzung des Eigenwohls und schenkt uns dadurch alle Einzeltugenden. Diese beruhen auf dieser Entscheidung. Diese Liebe begeistert sich ausschließlich für die Demokratien. Bei diesen allein wird die Regierung jedem Bürger ans Herz gelegt. Zudem geht es mit der Regierung wie mit allen Dingen der Welt: man muß sie lieben, wenn man sie bewahren will. (…) Mithin kommt in der Demokratie auf die Festigung dieser Liebe alles an. Die Erziehung muß darauf bedacht sein, sie zu wecken. Indessen gibt es ein verläßliches Mittel, sie den Kindern einzupflanzen: die Väter müssen selbst davon beseelt sein. (…) Nicht die heranwachsende Generation entartet: sie gerät nur auf Abwege, sobald die Erwachsenen bereits verderbt sind.« (Montesquieu, EL, S. 138 f.) Die Liebe zur Republik ist ein Gefühl und keine Folgerung aus Erkenntnissen. Deshalb könne der geringste Mann im Staat genauso davon beseelt sein wie der <?page no="226"?> 4. Interpretation 227 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 227 höchste. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 141) Die Demokratie kann also nicht allein durch die Vermittlung von Tugendhaftigkeit aufrechterhalten werden- - das heißt durch Vernunfterziehung--, sondern es ist zudem nötig, eine Leidenschaft bei den Menschen zu entfachen. Die Liebe zur Gleichheit steht gewissermaßen im Gegensatz zum Ehrgeiz, der als Leidenschaft der monarchischen Regierung zugrunde liegt. Die Liebe zur Gleichheit in der Demokratie bedeutete auch Liebe zur Genügsamkeit. Diese beschränkte die Erwerbsgier, die zur Ungleichheit führte, wenn sie ausgelebt würde. Sobald Ungleichheit aus Ehrgeiz in die Gesellschaft einziehe, sei die Republik verloren. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 144) Sowohl die Liebe zur Gleichheit und die Liebe zur Genügsamkeit beförderten Besonnenheit der Menschen und mittleres Vermögen. Dies erzeuge einen großen, für die Demokratie gedeihlichen Mittelstand in der Gesellschaft. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 142 f.) Nun scheint Montesquieu selbst Zweifel daran zu hegen, dass die Liebe zur Gleichheit und zur Genügsamkeit als natürliche Leidenschaften im Menschen vorhanden sind und sich somit von selbst ergeben. Für die Liebe zur Gleichheit und Genügsamkeit könne man sich nur begeistern, wenn man in einer Gesellschaft lebte, in der bereits Gleichheit und Genügsamkeit herrschten und man die guten Erfahrungen damit schätzen gelernt habe. Da sich diese in einer Gesellschaft nicht von selbst einstellten, müssten sie durch ein Gesetz eingeführt werden. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 143, 144) Ohne politische Tugend kann für Montesquieu keine Demokratie bestehen: »Sobald diese Tugend schwindet, ergreift der Ehrgeiz die dafür empfänglichen Herzen, und der Geiz die Herzen aller anderen. Die Begierden wenden sich anderen Gegenständen zu. Man liebt nicht mehr, was man vordem liebte. Man war mit den Gesetzen frei, nun will man gegen die Gesetze frei sein. Was Maxime war, nennt man Strenge, was Regelung hieß, nennt man Zwang, was man Vorsicht hieß, nennt man Furcht. Die Genügsamkeit gilt als Geiz, nicht die Besitzgier. Einst stellte das Gut der Privatleute den öffentlichen Schatz dar, nun aber wird der öffentliche Schatz zur Einnahmequelle der Privatleute. Die Republik ist nun ein Beutestück. Ihre Kraft ist nur noch die Macht einiger Bürger und die Haltlosigkeit aller.« (Montesquieu, EL, S. 121) Montesquieu hat sich zwar zum Ziel gesetzt, die Regierungsformen und ihre Prinzipien ethisch neutral zu behandeln, dennoch argumentiert er quasi parallel zur nüchternen Beschreibung der Staatsformen und ihrer Prinzipien leidenschaftlich gegen die Despotie. Das normative Kriterium, nach dem er die Verfassungsformen beurteilt, ist die politische Freiheit, die in einer Gesellschaft herrscht. Politische Freiheit besteht für Montesquieu darin zu tun, was man tun soll und nicht gezwungen zu werden, was man nicht wollen soll. Der Mensch soll frei sein und sich selbst bestimmen. Man soll nicht über andere herrschen wollen und sie damit <?page no="227"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 228 228 Kapitel X: Charles de Montesquieu ihrer Freiheit berauben. Daher rührt seine entschiedene Ablehnung der Despotie und seine spezielle Einteilung der Regierungen in maßvolle und despotische, nämlich Regierungen, die politische Freiheit ermöglichen und Regierungen, in denen die Menschen nur Sklaven sein können. Erinnern wir uns an die aristotelische Einteilung in drei gute Regierungsformen: Königtum, Aristokratie und Politie und ihre Entartungen: Tyrannis, Oligarchie und Demokratie. Bei Aristoteles handelt eine gute Regierung zum gemeinsamen Nutzen und umgekehrt herrscht eine schlechte Regierung nur zum eigenen Vorteil. Nach Ansicht der griechischen Philosophen ist die Demokratie eine schlechte Regierungsform. Sie ist die Herrschaft der Armen, die nur zu ihrem eigenen Vorteil herrschten. Sowohl Platon (Philosophenstaat) als auch Aristoteles (Politie als Mischverfassung aus Oligarchie und Demokratie) gehen davon aus, dass eine gebildete Elite zum Regieren besser geeignet sei als der Pöbel. Hinzu kommt, dass das griechische Menschenbild auf der Annahme von Ungleichheit beruht, womit die Sklaverei gerechtfertigt wurde. Montesquieu hat die »trüben Erfahrungen« des »unehrenhaften« höfischen Lebens vor Augen, dem ein »ehrbares Bürgertum« gegenübersteht, das sich nicht dauerhaft vom Hof »zum Narren« halten lassen werde. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 125) Zudem geht er von der prinzipiellen Gleichheit der Menschen aus, weshalb alle Anspruch auf politische Freiheit hätten. »Da indessen alle Menschen als Gleiche geboren werden, muß eingeräumt werden, daß Sklaverei widernatürlich ist, obgleich sie in gewissen Ländern einen natürlichen Grund hat.« (Montesquieu, EL, S. 275) Montesquieu lebte im voll ausgeprägten französischen Absolutismus mit seiner Monarchen-Willkürmacht. Diese Anschauung von Machtkonzentration und Machtmissbrauch, der praktisch zur Tyrannei bzw. Despotie und politischer Unfreiheit der Menschen eines Staates führt, veranlasste Montesquieu im elften Buch seines Werkes darüber nachzudenken, wie Staatsformen gestaltet werden müssten, um den Menschen politische Freiheit zu ermöglichen. »Eine ewige Erfahrung lehrt doch, daß jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen.« (Primärtext) Ziel seiner Überlegungen ist demnach die Garantie politischer Freiheit, das Problem ist das despotische Regieren, dessen Ursache in der Machtkonzentration liegt, die zu Machtmissbrauch verführt. Seine Lösung besteht in der Verteilung von Machtbefugnissen an voneinander unabhängige Institutionen. Dabei unterscheidet er innerhalb der staatlichen Machtausübung drei Vorgänge: die Entscheidung darüber, was inhaltlich in einem Staat gelten soll, diese Entscheidungen in die Tat umzusetzen und diejenigen zu sanktionieren, die gegen die Entscheidung und die geltende Ordnung verstoßen haben. Diese drei Vorgänge staatlicher Machtausübung setzt er mit drei Befugnissen gleich: Gesetze zu erlassen, öffentliche Beschlüsse zu vollziehen und Verbrechen und private Streitfälle abzuurteilen, die unabhängig voneinander ausgeübt werden sollen. Diese Befugnisse werden innerhalb der politischen Theorie als »Gewalten« bezeichnet und in der Gewaltenteilungslehre kurz als legislative, exeku- <?page no="228"?> 4. Interpretation 229 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 229 tive und richterliche Gewalt gefasst. 10 Sobald mindestens zwei dieser Ämter miteinander verschränkt würden, drohe Machtmissbrauch und damit Tyrannei. Diese theoretische Lösung der Machtteilung, um Machtkonzentration zu verhindern, sieht Montesquieu am ehesten in der englischen Verfassung seiner Zeit verwirklicht, die er im sechsten Kapitel des elften Buches in der Logik seiner Theorie beschreibt, was nicht unbedingt bedeutet, dass in der Verfassungswirklichkeit Englands politische Freiheit für alle geherrscht hat und die Ausübung der Befugnisse genau im Sinne seiner Theorie erfolgte. Das weiß Montesquieu, wenn er scheibt: »Mir steht die Prüfung nicht zu, ob die Engländer gegenwärtig diese Freiheit genießen oder nicht. Ich begnüge mich mit der Feststellung, daß sie durch ihre Gesetze in Kraft gesetzt wurde, und forsche nicht weiter.« (Primärtext) Um zu begreifen, worauf es Montesquieu in seiner politischen Theorie ankommt, gilt es, seine Argumentationsweise nachzuvollziehen. Dies ist ausgesprochen schwierig, zumal er selbst keinen Wert auf Systematik gelegt hat. In den Hinweisen des Verfassers schreibt er: »Ich hatte neue Ideen. Daher war es angebracht, neue Worte dafür zu finden oder den alten neue Auslegungen zu geben. Wer dies nicht verstanden hat, hat aus meinem Text Absurditäten herausgelesen, über die man sich in jedem Land der Welt entrüsten würde, denn in jedem Land der Welt ist man auf seiten (sic! ) der Moral.« (Montesquieu, EL, S. 94) Um Montesquieu zu verstehen, ist es nötig, seine »neuen Ideen« nachzuvollziehen und die einzelnen Motive und Argumentationsstränge auseinanderzuhalten. In seinem Werk stecken drei Motive: ein philosophisches, ein moralisches und ein politisches, die er miteinander vermengt. Hinter seinem philosophischen Motiv steht die Frage, was die menschlichen Gesellschaften zusammenhält. Wonach funktionieren sie? Wodurch werden sie tagtäglich in Gang gehalten? Den Rahmen menschlichen Zusammenlebens bildeten die Gesetze, Regeln und Verfassungen sowie die Sitten und Gebräuche der Völker, die das Verhalten der Menschen regulierten. Aber wodurch wird der Rahmen zusammengehalten und mit Leben erfüllt? Durch den »Geist« der Gesetze, durch die Prinzipien, die Montesquieu durch seine Analyse der Gesetze gefunden hat. 11 Wie kommt er auf die Idee, dass es geistige Prinzipien sind, die die Gesellschaften zusammenhalten? Er stellt fest, dass die physikalische bzw. physische Welt nach unwandelbaren Gesetzmäßigkeiten funktioniert und nimmt dies auch für die Welt generell an. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 96) Der Urgrund aller Gesetze ist für Montesquieu die Vernunft. Aus der Vernünftigkeit der Welt ergebe sich die Regelhaftigkeit, die allem innewohne. Alle Dinge 10 Montesquieu selbst spricht nicht von »Gewaltenteilung«, sondern nur von »Machtteilung«. Denn Gewalt-- im Sinne von physischer Gewaltsamkeit, wie sie sich im Gewaltmonopol des Staates manifestiert und vom Militär und der Polizei ausgeübt wird-- kann man nicht teilen, aber Machtbefugnisse können aufgeteilt werden. 11 Der Erkenntnis der Prinzipien gingen ausführliche Untersuchungen und Vergleiche der römischen, französischen und der Feudalgesetze voraus. Montesquieu forschte also zunächst dem Vorbild Aristoteles’ folgend von den Fällen ausgehend (induktiv) empirisch-vergleichend. <?page no="229"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 230 230 Kapitel X: Charles de Montesquieu stünden in Bezug zu unwandelbaren Regeln. Die Gesetze stellten die Bezüge der Dinge zu den umwandelbaren Regeln und die Bezüge zwischen den Dingen her. »Mithin steht eine Vernunft am Anfang. Die Gesetze sind die Bezüge, die sich zwischen ihr und den unterschiedlichen Wesen finden, sowie die Bezüge dieser verschiedenen Wesen zueinander.« (Montesquieu, EL, S. 97) 12 Montesquieu geht also davon aus, dass sowohl die physische als auch die geistige Welt nach Naturgesetzen funktioniere. Allerdings werde die geistige Welt bei Weitem noch nicht so gut regiert wie die physische. »Obgleich jene nämlich gleichfalls ihrer Natur nach unwandelbare Gesetze besitzt, befolgt sie sie doch nicht so ausnahmslos wie die physische Welt die ihren.« (Montesquieu, EL, S. 99) Dies liege an der Natur der Menschen. »Als physisches Wesen wird der Mensch genauso wie die anderen Körper von unwandelbaren Gesetzen regiert. Als vernünftiges Wesen tut er unaufhörlich den von Gott gegebenen Gesetzen Gewalt an und ändert die von ihm selbst aufgestellten Gesetze. Er muß sich selbst lenken und ist doch nur ein beschränktes Wesen. Wie alle beschränkten Geister ist er der Unwissenheit und dem Irrtum ausgesetzt. Die geringen Kenntnisse, die er hat, büßt er noch ein: als Sinnenwesen wird er die Beute von tausenderlei Leidenschaften. Ein solches Wesen konnte jederzeit seinen Schöpfer vergessen; durch die Gebote der Religion hat Gott es an sich gemahnt. Ein solches Wesen konnte jederzeit sich selbst vergessen; durch die Gesetze der Moral haben es die Philosophen davor bewahrt. Zwar ist es zum Leben in der Gesellschaft geschaffen, aber es konnte dabei die anderen vergessen; durch die Staats- und Zivil-Gesetze haben die Gesetzgeber es zu seinen Pflichten zurückgebracht.« (Montesquieu, EL, S. 100) 12 Montesquieus Ausführungen über die Gesetze im Allgemeinen erinnern stark an die Ideenwelt Platons: »Die einzelnen Arten von Vernunftwesen können Gesetze haben, die von ihnen geschaffen wurden; aber sie haben auch welche, die sie nicht geschaffen haben. Bevor es Vernunftwesen gab, waren sie als Möglichkeit da. Mithin standen sie in möglichen Bezügen und hatten infolgedessen mögliche Gesetze. Bevor Gesetze verfertigt wurden, waren die Bezüge der Gerechtigkeit als mögliche da. Die Behauptung, es gäbe nichts Gerechtes und Ungerechtes als das, was die positiven Gesetze gebieten oder verbieten, besagt soviel wie: bevor der erste Kreis gezogen wurde, wären nicht alle seine Radien gleich gewesen. Man muß daher Bezüge naturgegebener Rechtlichkeit einräumen, die dem positiven Gesetz voraufliegen, durch das sie verwirklicht werden.« (Montesquieu, EL, S. 98) Die Idee, das Gesetz existiere bereits als naturgegeben, suggeriert eine immaterielle Welt, aus der sich die gegenständliche Welt erschafft und die materiellen Dinge ein Abbild der Welt der Möglichkeiten darstellen. Für Platon war die Welt der Möglichkeiten, die Ideenwelt, die ewig sei, wirklicher als die gegenständliche Welt, der die Vergänglichkeit anhaftet. Montesquieus Theoriebildung erfolgt demnach sowohl induktiv (von den konkreten Gesetzen her) als auch deduktiv (von den Prinzipien her auf Verfassungswirklichkeit angewandt). Die Begriffe »deduktiv« und »induktiv« wurden ausführlicher im Aristoteles-Kapitel behandelt. <?page no="230"?> 4. Interpretation 231 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 231 Die Natur des Menschen besteht also unter anderem darin, dass er sich als beschränktes Wesen selbst lenken müsse. Dabei verkenne er die Naturgesetze und Montesquieu möchte durch seine Analyse diese Naturgesetze der geistigen Welt aufzeigen. Um beschreiben zu können, worin die Naturgesetze, die den positiven Gesetzen vorausgehen, für den Menschen bestehen, geht Montesquieu auf einen fiktiven Naturzustand zurück, in dem sich der Mensch vor der Einführung des Gesellschaftszustands befinde. Die Naturgesetze seien dann jene Gesetze, die er in einem solchen Zustand erhalten würde. (Vgl. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 2001, S. 100) Von einem fiktiven Naturzustand auszugehen, um eine der menschlichen Natur gemäße politische Ordnung zu begründen, kennen wir seit Hobbes und Locke. Montesquieu argumentiert in seiner Beschreibung des Naturzustandes ausdrücklich gegen Hobbes. Während Hobbes unter Naturzustand den Krieg eines jeden gegen jeden versteht, ist der Naturzustand bei Montesquieu (wie bei Locke) friedlich, weil die allein auf sich gestellten Menschen ihre Schwäche spürten und deshalb furchtsam seien. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 101) »Sobald die Menschen vergesellschaftet sind, verlieren sie das Gefühl ihrer Schwäche. Die Gleichheit zwischen ihnen hört auf, und der Kriegszustand hebt an.« (Montesquieu, EL, S. 102) Die Vergesellschaftung verursache zwei Kriegsarten: den Krieg zwischen den Nationen und innerhalb der Gesellschaft den Krieg untereinander, weil die einzelnen versuchten, die Hauptvorteile dieser Vergesellschaftung zu ihren Gunsten zu nutzen. Um die beiden Kriegsarten im Sinne der Selbsterhaltung möglichst zu vermeiden, hätten die Menschen die Gesetze-- Völkerrecht, Staatsrecht, bürgerliches Recht- - eingeführt. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 102) Es bedürfe der Regierung, die Gesetze auszuführen. Der Zusammenschluss aller Einzelkräfte bilde den staatlichen Zustand. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 103) Aber: »Die Einzelkräfte vermögen sich nicht zusammenzuschließen, ohne daß alle eines Willens sind. Die Zusammenfassung des Willens aller (…) ist das, was man Gesellschaftszustand nennt.« (Montesquieu, EL, S. 103) 13 Es ist also nicht die Vergesellschaftung, die die Menschen davon abhält, Krieg gegeneinander zu führen, sondern sie ist die Ursache für Krieg. Für Montesquieus politiktheoretische Überlegungen spielt allerdings der Naturzustand gar keine Rolle. Auch das Konstrukt eines Gesellschaftsvertrags erwähnt er nicht. Sein theoretischer Ansatz sind die unwandelbaren Naturgesetze des Geistes, die er in seinen Prinzipien entdeckt zu haben meint. Montesquieu ist von dem Glauben beseelt, dass die Gesellschaften am besten gedeihen würden, wenn sie ihre Gesetze und Sitten nach den unwandelbaren Prinzipien ihrer Verfassung ausrichteten, was letztlich bedeuten würde, dass sie mit der 13 An dieser Stelle klingt das philosophische Grundproblem des Politischen an, nämlich wie aus einer Vielfalt von Willen und Meinungen eine allgemeingültige politische Haltung werden kann. Während Hobbes dieses Problem durch ein monokratisches Staatsgebilde löst und Locke durch den Mehrheitswillen, kommt es Montesquieu darauf an, dass in einer Gesellschaft das zur Regierungsform passende geistige Prinzip herrscht. Hieraus würden dann einmütige Entscheidungen folgen. <?page no="231"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 232 232 Kapitel X: Charles de Montesquieu Vernunft der Welt im Einklang wären, die der Menschenverstand repräsentiere. »Das Gesetz gilt, allgemeinhin, als der Menschenverstand, insoweit er alle Völker der Erde regiert. Die staatlichen und bürgerlichen Gesetze jeder Nation dürfen nichts anderes sein als die speziellen Fälle, auf die dieser Menschenverstand angewendet wird.« (Montesquieu, EL, S. 104) »Vom Geist der Gesetze« kann auch als Ratgeber gedeutet werden, wie die Gesetze in Bezug auf die Erziehung, die Verteidigungs- und Angriffsstärke, die Art der Steuererhebung, den Handel, den Grad der politischen Freiheit, den Gemeingeist, die Sitten und den Lebensstil, die Religion und ihre Einrichtungen sowie die Zahl der Einwohner jeweils in einer Monarchie, Republik oder Despotie gestaltet sein sollten. Aber nicht nur die Orientierung der Gesetzgebung an den unwandelbaren Prinzipien der Verfassungen führten zum Gedeihen der Gesellschaften, sondern auch die Berücksichtigung der klimatischen Verhältnisse und die Bodenbeschaffenheit der Länder. So müssten die bürgerlichen Gesetze einer Nation dem Volk, für das sie gelten sollen, eigentümlich sein. Sie müssten auf die Natur und das Prinzip der Regierung, die eingesetzt ist oder werden soll, bezogen sein. Sie müssten mit der physischen Beschaffenheit des Landes übereinstimmen (Klima, Boden, Lage und Größe des Landes, mit den Lebensverhältnissen der Völker als Ackerbauer, Jäger oder Hirten). (Vgl. Montesquieu, EL, S. 104) Nach der Logik der Prinzipien, den politischen Einrichtungen und geophysikalischen Bedingungen der Gesellschaften ist das Buch aufgebaut. Um die Richtigkeit seiner Annahmen argumentativ zu bekräftigen, führt er zahlreiche Beispiele aus der Geschichte und der Gegenwart an. Die empirischen Belege fließen mitten in die normativen Ausführungen ein. Obwohl Montesquieu in seinem Vorwort beteuert, nicht zu schreiben, »um die Einrichtungen gleichviel welchen Landes zu kritisieren« (Montesquieu, EL, S. 92) und dass hier jede Nation die Rechtfertigung für ihre Maximen finde, kommt seine Verachtung für die despotische Regierungsform-- die häufigste Regierungsform seiner Zeit-- vielfach zum Ausdruck. Woher rührt diese Verachtung? Die Despotie sei die einzige Regierungsform, die der Natur des Menschen widerspreche. Von Natur aus seien die Menschen frei und gleich geboren. Das seien die Prinzipien, nach denen Gott sie geschaffen habe und danach sollten sie sich richten, um ihr Gedeihen zu fördern. Die despotische Regierung mache die Menschen zu Sklaven, also zu Unfreien, weshalb sie der Weltvernunft widerspreche. Die Ermöglichung der politischen Freiheit ist das moralische Motiv, das dem Werk Montesquieus’ zugrunde liegt. So müssten die Gesetze auch »auf das Ausmaß der Freiheit bezogen sein, das sich mit dem Staatsaufbau vereinbaren läßt« (Montesquieu, EL, S. 104). Die despotische Regierung lasse kein Ausmaß an politischer Freiheit zu und weil dies der Natur des Menschen widerspreche, sei sie keine erstrebenswerte Regierungsform. Welches wäre für Montesquieu eine erstrebenswerte Regierungsform? Die englische Verfassung? Montesquieu geht es nicht darum, zu zeigen oder anzuregen, dass irgendein Land seine Verfassung ändern sollte, geschweige denn, die theoretisch beste Verfassung für alle Zeiten zu finden. Er möchte vielmehr herausfinden, wodurch sich Staaten mit <?page no="232"?> 4. Interpretation 233 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 233 gemäßigter Verfassung erhalten können und eben nicht zu Despotien entarten. Es geht ihm also um die Stabilität der gemäßigten politischen Ordnungen, zu denen die Monarchien genauso zählen wie die Republiken. Sein politisches Motiv ist die Erhaltung der französischen Monarchie, in der er lebt, die unter der Regierung Ludwigs des XV. zu einer Despotie zu entarten droht. Dies wird in seinem Vorwort deutlich, in dem er die Motive für seine Untersuchung und seine Haltung gegenüber der französischen Monarchie darlegt. »Wenn in der unendlichen Sachfülle dieses Buches irgendetwas unterlaufen sollte, das wider Erwarten etwa verletzend wirkte, so ist es zumindest nicht in schlechter Absicht hineingesetzt worden. Ich bin von Natur aus kein Querkopf. Platon dankte dem Himmel dafür, daß er zur Zeit des Sokrates geboren wurde. Und ich weiß ihm Dank dafür, daß ich unter der Regierung zur Welt kam, unter der ich lebe. Nach seinem Willen gehorche ich denen, die er mich lieben lehrte.« (Montesquieu, EL, S. 91) Montesquieu versteht sich weder als Revolutionär noch als Wegbereiter einer Revolution. Im Gegenteil. »Ich würde mich für den glücklichsten Sterblichen halten, wenn ich Menschen von ihren Vorurteilen zu befreien vermöchte. (…) Ich würde mich für den glücklichsten Sterblichen halten, wenn ich allen Leuten neue Gründe zu liefern vermöchte, ihre Pflichten, ihren Fürsten, ihr Vaterland und ihre Gesetze zu lieben, damit jeder in jedem Land, unter jeder Regierung und auf jedem Posten, auf dem er steht, sein Glück besser fühlen würde. Ich würde mich für den glücklichsten Sterblichen halten, wenn ich zu erreichen vermöchte, daß die Befehlenden ihre Kenntnisse über das, was sie vorschreiben müssen, erweiterten und die Gehorchenden neue Lust am Gehorchen fänden.« (Montesquieu, EL, S. 92 f.) Seine historischen Analysen haben ihm gezeigt, dass »(e)in Großteil der Ereignisse auf Wegen (geschieht), die so einzigartig sind oder die von derart unwahrnehmbaren und entfernten Ursachen abhängen, daß man sie überhaupt nicht vorhersehen kann« (zit. nach Hereth 1995, S. 18). Und er betont, »wie wenig das Handeln von Politikern und Regierungen den Lauf der Dinge zu verändern vermag.« (Vgl. Hereth 1995, S. 18) Deshalb käme von ihm auch nie die Anregung, die Verhältnisse gewaltsam umzustoßen, um eine theoretisch ideale Verfassung einzuführen. Dies widerspräche seinem Verständnis von Geschichte, deren Verlauf nicht durch geplante politische Aktionen bestimmt werde. In den »Pensée« notiert Montesquieu: »Ich glaube keineswegs, daß eine Regierungsform zur Ablehnung anderer drängen sollte. Die beste von allen ist gewöhnlich die, unter der man lebt (und ein vernünfwww.claudia-wild.de: <?page no="233"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 234 234 Kapitel X: Charles de Montesquieu tiger Mensch sollte sie lieben); denn, da es unmöglich ist, sie zu ändern, ohne Sitten und Gebräuche zu ändern, vermag ich in Anbetracht der Kürze des menschlichen Lebens nicht zu erkennen, welchen Nutzen es den Menschen brächte, die angestammten Gewohnheiten in allen Beziehungen aufzugeben.« (Zit. nach Hereth 1995, S. 19) Mit Montesquieu war keine Revolution zu machen. In welchem Verhältnis stehen bei Montesquieu Staat, Religion, Volk und Individuum? Im 24. Buch widmet er sich ausdrücklich der Religion und ihrem Beitrag zum Wohle der Gemeinschaft. Ihm kommt es demnach nicht darauf an, die Religionen von ihrem Wahrheitsanspruch her zu betrachten und zu beurteilen, sondern zu untersuchen, inwiefern ihre inhaltlichen Glaubenssätze zum Glück der Menschen in ihrem irdischen Leben in der Gesellschaft beitragen. Zunächst jedoch diskutiert er, ob der Staat überhaupt etwas mit Religion zu tun haben sollte und ob es-- angesichts der Gräueltaten, die im Namen von Religionen bisher verübt worden seien-- für ein politisches Gemeinwesen nicht besser wäre, wenn sich die Menschen zum Atheismus bekennen würden. Diese Position lehnt Montesquieu strikt ab. »Es geht nicht um die Frage, ob es für einen bestimmten Menschen oder ein bestimmtes Volk nicht besser wäre, ohne Religion auszukommen, als die eingeführte zu mißbrauchen. Es geht vielmehr darum, was das kleinere Übel ist: der Mißbrauch, der manchmal mit der Religion getrieben wird, oder ihr völliges Verschwinden unter den Menschen.« (Montesquieu, EL, S. 366) Für Montesquieu ist der Missbrauch das kleinere Übel. Denn sie erfülle die Funktion, die Einzelnen durch einen gemeinsamen Glauben, also einen gemeinsamen Geist miteinander zu einer Gemeinschaft zu verbinden, was der Bildung einer politischen Gemeinschaft zuträglich sei. Um den Menschen an sich zu binden, müsse eine Religion allerdings eine reine Moral besitzen. Die Einzelnen wollten moralisch gut sein. »Einzeln genommen sind die Menschen zwar Spitzbuben, als Menge aber recht ehrbare Leute. Sie lieben die Moral.« (Montesquieu, EL, S. 386) Nun untersucht er, welche Religion zu welcher Staatsform passt und kommt zu dem Ergebnis, dass zu den maßvollen Regierungen besser die christliche Religion passe und zu den despotischen Regierungen besser die mohammedanische. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 367) Warum? Weil die christliche Religion Sanftmut und Nächstenliebe predige, wodurch die Sitten der Völker sanft würden. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 364 f., 367, 368) Die mohammedanische Religion hingegen spreche nur vom Schwert und präge den Menschen eine Zerstörungswut ein. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 368 f.) Generell habe im Despotismus die Religion mehr Einfluss als in den anderen Staatsformen. Durch sie werde eine Furcht zur Furcht vor dem Herrscher hinzugefügt. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 163) Hinsichtlich des gespaltenen Christentums harmoniere die katholische Religion besser mit der Monarchie und die protestantische besser mit der Republik. Die Völker des Nordens hätten mehr Sinn <?page no="234"?> 4. Interpretation 235 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 235 für Unabhängigkeit und Freiheit, was den Völkern des Südens abgehe, weshalb sich im Norden der Protestantismus und im Süden der Katholizismus durchgesetzt hätte. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 369) Aber wie stellt sich Montesquieu das Verhältnis von Religion und Staat vor? Hobbes hatte ausdrücklich bezweifelt, dass die Menschen zwei Herren gleichzeitig dienen könnten. Deshalb war in seiner Staatskonstruktion der weltliche Herrscher gleichzeitig Oberhaupt der Kirche und Staat und Kirche somit vereint. Montesquieu löst das Problem der »zwei Herren« nicht durch eine Konstruktion außerhalb des Menschen in einem bestimmten Staatsgebilde, sondern durch eine »Konstruktion« im inneren des Menschen, was die Wirkung religiöser und bürgerlicher Gesetze anbelangt. Es müsse demnach zwischen einer Wirkung auf den menschlichen Geist (vernünftiger Verstand) und einer Wirkung auf das Herz (emotionaler Verstand) unterschieden werden. »Die menschlichen Gesetze sollen zum menschlichen Geist sprechen und müssen Vorschriften, aber keine Empfehlungen geben. Die Religion soll zum Herzen sprechen und muß viele Empfehlungen, aber wenig Vorschriften geben.« (Montesquieu, EL, S. 371) Montesquieu erläutert daraufhin anschaulich, was er damit zum Ausdruck bringen möchte: »Wenn sie (die Religion, M. K.) beispielsweise Normen festlegt, und zwar nicht für das Treffliche, sondern für das Beste, nicht für das Gute, sondern für das Vollkommene, so geschieht dies angemessen in Form von Empfehlungen, nicht in Form von Gesetzen. Denn Vollkommenheit kann sich nicht auf die Gesamtheit der Menschheit und Dinge beziehen. Geschieht es überdies in Form von Gesetzen, so werden in einem fort neue nötig, um die ersteren durchzusetzen. Das Zölibat war eine Empfehlung des Christentums. Als man es für eine bestimmte Menschenklasse zum Gesetz erhob, wurden täglich neue nötig, um die Menschen zur Einhaltung dieses Gesetzes zu bewegen. Der Gesetzgeber plagte sich und plagte die Gesellschaft, um es auf dem Verordnungswege durchzuführen. Als eine Empfehlung hätten die nach Vollkommenheit Strebenden es eingehalten.« (Montesquieu, EL, S. 371) Einer »falschen« Religion anzuhängen, ist für Montesquieu immer noch besser als gar keine zu haben, denn die Religion sei der bestmögliche Garant der Menschen für die Rechtschaffenheit ihrer Mitmenschen. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 371) Rechtschaffene Menschen seien die Bedingung für eine gelingende Republik bzw. Demokratie. Die Rechtschaffenheit werde durch die Religion und die bürgerlichen Gesetze erzeugt, die vordringlich bestrebt sein müssten, »aus den Menschen gute Staatsbürger zu machen« (Montesquieu, EL, S. 373). Unvorteilhaft für die Wirkung der bürgerlichen Gesetze sei eine Religion, die eine Belohnung in einem jenseitigen Leben nach dem Tod verheiße. »Mit welchen Mitteln soll man einen Menschen durch Gesetze binden, der unbeirrbar glaubt, daß auch die größte Strafe, die Beamte über ihn verhängen können, ihr Ende nimmt und daß der Augenblick dieses Endes der Anfang seines <?page no="235"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 236 236 Kapitel X: Charles de Montesquieu Glücks ist? « (Montesquieu, EL, S. 375) Religion und bürgerliche Gesetze könnten von zwei Seiten her die staatliche Gemeinschaft stützen. Ein vorzügliches bürgerliches Gesetz könne die Sitten trotz der Religion beschirmen und umgekehrt könne die Religion den politischen Zustand aufrechterhalten, falls die Gesetze ohnmächtig seien. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 376) Wenn eine Regierung erreichen wollte, dass sich Menschen von einer bestimmten Religion abwenden, dann sollte sie dies nicht durch Strafgesetze zu erreichen suchen. »Viel sicherer geht man gegen eine Religion vor mit Gunstbeweisen, Annehmlichkeiten des Lebens, Aussichten auf Geld und Gut; nicht damit, daß man auf sie hinlenkt, sondern daß man sie vergessen läßt; nicht mit dem, was empört, sondern mit dem, was in Lauheit versinken läßt, wenn andere Leidenschaften unsere Seele bewegen und die von der Religion eingegebenen Leidenschaften in Schweigen verharren. Die allgemeine Regel lautet: in Sachen des Religionswechsels erreicht man mit Entgegenkommen mehr als mit Strafen.« (Montesquieu, EL, S. 389) Montesquieu möchte nicht förmlich festlegen, ob in einer Gesellschaft eine Staatsreligion herrschen sollte oder nicht. Dies liegt nicht in der Logik seines Denkens, da er nicht nach einer idealen Staatsform an sich sucht, in der solche Fragen geklärt werden müssten, sondern ihm geht es, ähnlich wie Machiavelli, um die Stabilität bestehender Staatsgebilde. In dieser Hinsicht rät er, eine der Natur und den Prinzipien der Regierung gemäße in der Gesellschaft vorhandene Religion zu fördern, aber auf keinen Fall anzustreben, den Atheismus in der Gesellschaft voranzutreiben. Die Frage der Bedeutung der Religion in einem Staat ist eine andere wie die Frage der Rolle Gottes für die theoretische Begründung eines politischen Gemeinwesens. Welche Rolle nimmt Gott in der Theoriekonstruktion ein? Gleich zu Beginn des Werkes weist Montesquieu Gott einen Platz innerhalb seiner Theorie zu. Dabei ordnet er Gott der Gesetzmäßigkeit der Welt, die Vernunft ist, unter. Montesquieu »befreit« die Vernunft von Gott, indem er sie über Gott stellt und Gott als Wesenheit unter anderen in der Welt einordnet. Bei der Überordnung der Vernunft bzw. der Gesetzmäßigkeit oder Regelhaftigkeit der Welt über Gott bezieht er sich in einer Anmerkung auf Plutarch, der sagt: »Das Gesetz ist König über alle, Sterbliche und Unsterbliche.« (Montesquieu, EL, S. 97, Anmerkung 1) Gott sei zwar der Schöpfer des Gesetzes und Erhalter der Welt, aber er könne nicht außerhalb der von ihm selbst geschaffenen Regeln handeln und sei ihnen selbst untergeordnet. »Gott steht zum Weltall in Bezug als Schöpfer und als Erhalter. Er erhält es auch nach den Gesetzen, nach denen er es geschaffen hat. Er handelt nach diesen Regeln, weil er sie kennt. Er kennt sie, weil er sie geschaffen hat. Er hat sie geschaffen, weil sie in Bezug zu seiner Weisheit und Macht stehen.« (Montesquieu, EL, S. 97) <?page no="236"?> 4. Interpretation 237 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 237 Mit dieser Rollenzuschreibung gerät Gott als zu fürchtende Macht in der politischen Wirklichkeit in den Hintergrund. Er wird zur Ursache dafür, wie die Welt funktioniert, aber verliert seinen Einfluss auf Gestaltung und Fortgang der Welt. Dass die Welt quasi mechanisch nach Regeln funktioniert, gehört zur ihrer Entmystifizierung und Entzauberung, die zum »modernen« Denken führt. Das hat einen technizistischen Charakter und kehrt sich von einer metaphysischen Bestimmung des menschlichen Lebens ab. Das Individuum muss die Verantwortung für ein gelingendes Leben auf Erden nun selbst übernehmen. Montesquieu möchte zeigen, wie das zu erreichen wäre, woran sich der Mensch orientieren und wie er sich selbst begreifen müsste. Er schreibt dem Individuum eine Doppelrolle zu. Nach dem natürlichen Gesetz sei das Individuum Mensch. Das Gesetz der Natur dränge jeden dazu, sich selbst zu erhalten. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 205) Die Gesellschaft sei aber die Vereinigung von Menschen, was nicht dasselbe sei, wie Menschen als solche. In der Gesellschaft sei das Individuum Bürger. »Als Bürger kann man zugrunde gehen und als Mensch weiterleben.« (Montesquieu, EL, S. 207) Diese Doppelrolle erzeuge insbesondere für die Demokratie einen Verhaltenskonflikt im Individuum. Die Demokratie erfordere die Liebe zur Gesellschaft, Tugendhaftigkeit und Genügsamkeit. Diese Erfordernisse stünden in einer Spannung zu einer bedingungslosen Selbsterhaltung. Die Republik könne deshalb nur in kleinen Territorien funktionieren. »Der Natur der Republik entspricht ein kleines Territorium; andernfalls kann sie schwerlich Bestand haben. In einer großen Republik gibt es großen Reichtum, und folglich ist der Sinn für Selbstzucht gering. Zu große Werte müssen den Händen eines Bürgers anvertraut werden. Die Interessen verselbständigen sich. Zunächst geht einem Mann auf, daß er ohne sein Vaterland glücklich, groß und ruhmreich sein kann; und bald danach, daß er einzig und allein auf den Ruinen seines Vaterlandes groß sein kann. In einer großen Republik wird das allgemeine Beste das Opfer von tausenderlei Erwägungen. Es wird Ausnahmen zuliebe hintangestellt und von Umständen abhängig gemacht. In einer kleinen Republik ist das Staatswohl spürbarer, besser erkennbar und jedem Bürger näher. Mißstände nehmen nicht so sehr überhand und werden deshalb nicht so sehr gedeckt.« (Montesquieu, EL, S. 197) Die Doppelrolle des Individuums als Mensch und Bürger drückt sich auch in der Unterscheidung zwischen Gesetzen und Sitten aus: Gesetze regelten das Verhalten des Bürgers und die Sitten das Verhalten des Menschen. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 304) Worin besteht der Beitrag Montesquieus zur Demokratietheorie? Da es sich beim »Esprit des Lois« um keinen in sich geschlossenen Theorieentwurf handelt, ist sein Beitrag zur Demokratietheorie schwer zu fassen. Einerseits steht das Werk ganz im Geiste wertneutraler Forschung. Indem Montesquieu sein Vorwort mit »Prolem sine <?page no="237"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 238 238 Kapitel X: Charles de Montesquieu matre creatam« (»Ein von keiner Mutter geborener Sprössling«, Montesquieu, EL, S. 91) überschrieben hat, macht er deutlich, dass er sich in seinem Denken keiner Schule, keiner bestimmten Politik, keiner gesellschaftlichen Gruppe, keinem Herrschenden verpflichtet fühlt. Er bemüht sich, vorurteilsfrei zu forschen. Andererseits verabscheut er die Despotie, lobt die englische Verfassung, möchte die französische Monarchie retten, weil er sie liebt (vgl. Montesquieu, EL, S. 91) und argumentiert theoretisch für eine Mischverfassung mit Machtteilungselementen, weil er sich durch sie den höchsten Grad an politischer Freiheit und die größte Stabilität der politischen Ordnung verspricht. Montesquieus politische Theorie ist wegen der Machtteilungstheorie bekannt und war Vorbild für die amerikanische Verfassung. Aus der Sicht Montesquieus ist dies aber nur eine Seite der Medaille einer Verfassung, nämlich die Struktur der Staatsform. Die andere Seite ist der geistig-emotionale Antrieb, aus dem heraus in der Gesellschaft gehandelt wird. In der Demokratie sei das die Liebe zum Vaterland und zur Gleichheit, die die Tugend der Genügsamkeit verlange. Die Verwendung des Liebesbegriffs im Zusammenhang mit Staatsverfassungen ist durchaus bemerkenswert. Montesquieu meint es ernst, wenn er die Liebe-- und zwar der Liebe einer Mutter gegenüber ihren Kindern gleich (vgl. Montesquieu, EL, S. 193)- - als Bedingung für die Stabilität einer Verfassung benennt. Während Locke für die Stabilisierung eines Gemeinwesens allein auf die Vernunft baut, setzt Hobbes auf die Furcht und Montesquieu folgt der Hobbes’schen Logik, dass nur ein starkes Gefühl die Menschen dazu bringen könnte, sich an die gesetzten Regeln zu halten: die Liebe. Dies gilt allerdings nur für die gemäßigten Verfassungen. In der Despotie als extreme Verfassung herrsche durch das Prinzip des Terrors das Gefühl der Furcht. In der Monarchie sei es die Selbstliebe und in Demokratie die Liebe zur Gesellschaft, die sich nur erwecken ließe, wenn in ihr Gleichheit und Genügsamkeit herrschten. Montesquieu verfolgt aber nicht die Absicht, in der Demokratie das Gleichheitspostulat stark zu machen, sondern für ihn ist das Postulat der politischen Freiheit maßgebend, weshalb für ihn alle Regierungsformen akzeptabel sind, die diese zu einem gewissen Grad ermöglichen. Sein Verständnis von politischer Freiheit ist dabei besonders. Er unterscheidet sie von der philosophischen Freiheit, die in der Überzeugung der Bürger bestehe, dass man seinen eigenen Willen betätige. Politische Freiheit hingegen sei die Überzeugung der Bürger, dass sie in Sicherheit lebten. »Deshalb hängt die Freiheit des Bürgers hauptsächlich von der Trefflichkeit der Strafgesetze ab.« (Montesquieu, EL, S. 255) Die Sicherheit ist für ihn das Politische an der menschlichen Freiheit und nicht die Willensäußerung. In einem modernen Verständnis von Demokratie ist allerdings der freie Wille der Bürger zentral, der durch Partizipation am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess institutionell in Wahlen und Abstimmungen eingebracht werden soll. Montesquieu zeigt zudem, dass die Voraussetzungen für die Demokratie im Hinblick auf die von ihm angenommene Natur des Menschen sehr anspruchsvoll wären. Die Demokratie sei ohne den Geist der Tugend-- die Überwindung des eigenen Ich-- verloren und insbesondere durch den Geist des Ehrgeizes <?page no="238"?> 4. Interpretation 239 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 239 gefährdet. Er macht deutlich, dass Ungleichheit, als Wesensmerkmal der Monarchie und Folge des Ehrgeizes, mit einer demokratischen Verfassung unvereinbar wäre. »Die Ungleichheit wird durch die Pforte, welche die Gesetze nicht verriegelt haben, eintreten, und die Republik wird verloren sein.« (Montesquieu, EL, S. 144) Aber die Republik entarte nicht nur, wenn der Geist der Gleichheit abhanden komme, sondern auch, wenn sich der Geist übertriebener Gleichheit breit mache. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 184) Dies würde bedeuten, dass keiner mehr beherrscht werden, sondern jeder lieber alles selber machen wolle. Es herrschte kein Respekt mehr vor dem Senat, den Beamten und den Richtern. »Man findet die Last des Befehlens genauso mühselig wie die Last des Gehorchens.« (Montesquieu, EL, S. 184) Aber der Geist der Gleichheit sei vom Geist der übertriebenen Gleichheit so weit entfernt wie der Himmel von der Erde. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 187) Der Geist der Gleichheit bestehe darin, dass man Gleichgestellten gehorche und befehle. »Er strebt nicht danach, ohne Herrn zu leben, sondern niemand außer seinesgleichen zum Herrn zu haben.« (Montesquieu, EL, S. 187) Zwar kämen die Menschen im Naturzustand in Gleichheit zur Welt, aber durch die Gesellschaft verlören sie diese. Erst durch die Gesetze würden sie wieder gleich. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 187) Wann immer eine Republik entartet sei, könne man den Schäden nur abhelfen, indem die Verderbnis beseitigt werde und man sich auf die Prinzipien zurückbesinne. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 195) Der Freiheits- und Gleichheitsgedanke sind konstitutive Elemente der Idee der Demokratie. Im Vergleich zu den bisher behandelten Theoretikern verbindet Montesquieu mit der Demokratie Tugendhaftigkeit, also den Anspruch, die eigenen Interessen gegenüber dem Gemeinwohl zurückzustellen. Gibt es bei Montesquieu eine Besonderheit seiner politischen Theorie, hat diese gar einen Denkumbruch eingeleitet? Montesquieus Grundfrage, was die Gesellschaften im Innersten zusammenhält, bringt ihn auf die Idee der Prinzipien; dass es Bezüge gibt, die zwischen den geistigen Regeln und den konkreten institutionellen Einrichtungen und zwischen den Menschen bestehen und dass es diese Bezüge sind, welche die gesellschaftliche Wirklichkeit konstituieren. In diesen abstrakten Bezügen die Realität einer Gesellschaft zu erkennen, zeugt von einem Abstraktionsgrad gesellschaftspolitischen Denkens und Reflektierens, das in der Ideengeschichte seinesgleichen sucht. Hannah Arendt (1906-1975) scheint auf diese Denkweise Montesquieus zurückzugreifen, indem sie im »Zwischen«, das die einzelnen Menschen in einer Gesellschaft miteinander verbindet und im gemeinsamen Handeln die Möglichkeit für die Selbstverwirklichung des Einzelnen sieht. Die Selbstverwirklichung findet für Arendt im Zusammenhang der Pluralität des Menschen und nicht durch Individualität und Eigensinn statt. Die Besonderheit der politischen Theorie Montesquieus besteht darin, dass er eine Weltvernunft annimmt, die mit der menschlichen Vernunft in Bezug steht. Das Gelingen menschlichen Zusammenlebens hängt bei ihm davon ab, dass der menschliche Geist im Einklang mit der Vernünftigkeit der Welt steht. <?page no="239"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 240 240 Kapitel X: Charles de Montesquieu Dabei gibt es für ihn keine absolut vernünftige Lebensordnung und Lebensweise für den Menschen, aber alle Möglichkeiten hätten ihre natürliche Vernünftigkeit, die es gelte zu erkennen und anzustreben. Allerdings würde die Natur des Menschen durchaus eine Lebensordnung nahelegen, die der Möglichkeit einer despotischen Ordnung widerspricht. Montesquieu versucht sich zu erklären, warum die Mehrzahl der Völker unter der Despotie schmachtete, obwohl sie der Natur des Menschen widerspreche, die durch Freiheitsliebe und Hass auf die Gewalt gekennzeichnet sei. »Bei Bildung einer maßvollen Regierung müssen die Einzelbefugnisse zum Zusammenwirken gebracht, reguliert, gedämpft und zum Handeln veranlaßt werden. Die eine muß sozusagen Ballast aufnehmen, damit sie einer andern das Gegengewicht zu halten vermag. Ein solches Meisterwerk der Gesetzgebung bringt der Zufall selten zustande, und die kluge Umsicht läßt man es selten herstellen. Im Gegensatz dazu fällt eine despotische Regierung, sozusagen, gleich ins Auge, so gleichförmig ist sie überall. Dafür sind alle Leute gut genug, denn zu ihrem Aufbau sind nichts als Leidenschaft nötig.« (Montesquieu, EL, S. 166) Die Verquickung von Verfassungsordnung und geistiger Haltung als untrennbare Beziehung, die zusammen die soziale Wirklichkeit konstituieren, ist die Grundidee seiner politischen Theorie, die als Denkumbruch angesehen werden kann. Allerdings ist diese Idee nicht neu. Neu ist, dass die politische Theorie auf der Idee der Prinzipien aufgebaut wird. Selbst die besten Gesetze hätten es demnach nötig, dass der Menschengeist darauf eingestellt sei, wenn sie Geltung erlangen sollen. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 292) »Sobald die Prinzipien der Regierung einmal entartet sind, werden die besten Gesetze schlecht und kehren sich gegen den Staat. Sobald die Prinzipien gesund sind, haben schlechte Gesetze die Wirkung guter Gesetze. Die Stärke des Prinzips setzt sich durch.« (Montesquieu, EL, S. 193) So sei es der »Gemeingeist«, der »Esprit général«, der eine Nation präge und ihre Entwicklung bestimme. »Mehrere Dinge regieren den Menschen: Klima, Religion, Gesetze, Staatsmaximen, Beispiele aus der Geschichte, Sitten, Lebensstil. Aus all dem bildet sich als Ergebnis ein Gemeingeist.« (Montesquieu, EL, S. 295) Man könne nicht auf Dauer gegen den Gemeingeist eines Volkes regieren, es sei auch nicht angebracht. »Sache des Gesetzgebers ist es, dem Geist der Nation entgegenzukommen, falls dieser nicht im Gegensatz zu den Regierungsprinzipien steht. Denn was wir freiwillig und unserer natürlichen Veranlagung gemäß tun, machen wir besser als alles andere.« (Montesquieu, EL, S. 296) Insbesondere die Regeln, nach denen die Menschen leben, werden zum Dreh- und Angelpunkt seiner historisch-empirischen Analysen. Die Menschen würden laut Montesquieu nach verschiedenen Gesetzesarten regiert: nach dem Naturrecht (das sei das Recht auf Selbsterhaltung), nach dem göttlichen Recht (das seien die Gesetze der Religion), nach dem kirchlichen Recht (das sei das kanonische Recht), nach dem Völkerrecht (das sei das bürgerliche Recht der Welt), nach dem allgemeinen Staatsrecht (das sei die menschli- <?page no="240"?> 4. Interpretation 241 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 241 che Weisheit, die alle Gesellschaften gegründet habe), nach dem speziellen Staatsrecht (das sei das Recht, das in den verschiedenen Gesellschaften gelte), nach dem Recht der Eroberung (das sei das Recht, das ein Volk für sich in Anspruch nehme, wenn es gewaltsam über ein anderes gesiegt habe), nach dem bürgerlichen Recht (das sei das Recht eines jeden Bürgers in einer Gesellschaft sein Leben und seine Habe gegen einen anderen Bürger zu verteidigen) und nach dem häuslichen Recht (das sei das Recht, das speziell in jeder Familie zu ihrer eigenen Lenkung gelte). Es bestünden also unterschiedliche Gesetzes- und Regelbereiche. »Die erhabenste Leistung der menschlichen Vernunft liegt in dem rechten Wissen darüber, zu welchem dieser Bereiche die zu entscheidenden Sachen hauptsächlich in Bezug stehen, auf daß unter den Prinzipien, nach denen die Menschen regiert werden müssen, keine Verwirrung gestiftet werde.« (Montesquieu, EL, S. 390) Damit Gesetze eine verbindliche Wirkung entfalten können, müssten sie nach Maßgabe eines bestimmten Geistes ausgearbeitet werden. »Ich behaupte, und wie mir scheint, habe ich dies Werk nur zum Beweis dafür geschaffen: Der Geist des Gesetzgebers muß der Geist der Mäßigung sein. Der politische Wert liegt, wie der moralische Wert, immer zwischen zwei Extremen.« (Montesquieu, EL, S. 399) Hierin finden wir die Idee des aristotelischen Mittelweges wieder. Extremismus jeglicher Art ist Montesquieu verhasst. So steht er der Idee der Vereinheitlichung sehr kritisch gegenüber. Sicherlich könnten Vereinheitlichungen von großem Vorteil sein: gleiche Gewichte bei der Marktordnung, gleiche Maße beim Handel, gleiche Gesetze im Staat, gleiche Religion in allen Landesteilen. Montesquieu fragt sich jedoch: »Ist dies aber durchweg und ausnahmslos angebracht? Ist die Mühsal des Umänderns stets geringer als die Mühsal der Duldsamkeit? Zeigt sich die Größe des Genies nicht eher in dem Wissen, in welchem Fall Einheitlichkeit und in welchem Fall Unterschiedlichkeit not tut? (…) Wenn die Bürger die Gesetze befolgen-- ist es dann so wichtig, daß sie alle das gleiche befolgen? « (Montesquieu, EL, S. 417) Die Kunst des Regierens besteht für Montesquieu im Durchmanövrieren der Gesellschaft zwischen den Extremen, wofür er sinnbildlich Ovid zitiert. Als Helios die Zügel seines Sonnenwagens dem Phaeton übergibt, sagt dieser zu ihm: »Wenn du zu hoch steigst, verbrennst du die himmlische Burg. Wenn du zu tief hinabkommst, legst du die Erde in Asche. Geh nicht zu weit nach rechts, sonst stürzt du ins Sternbild der Schlange. Geh nicht zu weit nach links, sonst kommst du ins Sternbild des Altars: halte dich zwischen den beiden.« (Montesquieu, EL, S. 422). <?page no="241"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 242 242 Kapitel X: Charles de Montesquieu 5. Literatur Forsthoff, Ernst: Zur Einführung, in: Montesquieu, Charles-Louis de: Vom Geist der Gesetze. Übersetzt und herausgegeben von Ernst Forsthoff, 1. Band, 2. Auflage, Tübingen 1992, S. VI-LVI. Hartmann, Peter C.: Geschichte Frankreichs, München 1999. Hereth, Michael: Montesquieu zur Einführung, Hamburg 1995. Montesquieu, Charles-Louis de: Vom Geist der Gesetze. Auswahl, Übersetzung und Einleitung von Kurt Weigand, Stuttgart 2001. Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 17., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1999. <?page no="242"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 243 243 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau 1. Primärtext Erstes Buch Ich will untersuchen, ob es in der bürgerlichen Ordnung irgendeine rechtmäßige und sichere Regel für das Regieren geben kann; dabei werden die Menschen genommen, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können. Ich werde mich bemühen, in dieser Untersuchung das, was das Recht zuläßt, stets mit dem zu verbinden, was der Vorteil vorschreibt, damit Gerechtigkeit und Nutzen nicht getrennt gefunden werden. Ich trete in die Sache ein, ohne die Bedeutung meines Gegenstandes zu beweisen. Man wird mich fragen, ob ich Fürst oder Gesetzgeber sei, daß ich über Politik schreibe. Nein, antworte ich, und ebendeshalb schreibe ich über Politik. Wenn ich Fürst oder Gesetzgeber wäre, würde ich meine Zeit nicht darauf verschwenden, zu sagen, was zu tun nötig ist; ich würde es tun oder schweigen. Ich bin als Bürger eines freien Staates geboren und Glied des Souveräns, und so schwach auch der Einfluß meiner Stimme auf die öffentlichen Angelegenheiten sein mag- - mein Stimmrecht genügt, mir die Pflicht aufzuerlegen, mich darin zu unterrichten. Sooft ich über Regierungen nachdenke-- welches Glück, daß ich bei diesen Untersuchungen immer neue Gründe finde, die Regierung meines Vaterlandes zu lieben! 1. Kapitel Gegenstand dieses ersten Buches Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten. Einer hält sich für den Herrn der anderen und bleibt doch mehr Sklave als sie. Wie ist dieser Wandel zustande gekommen? Ich weiß es nicht. Was kann ihm Rechtmäßigkeit verleihen? Diese Frage glaube ich beantworten zu können. Wenn ich nur die Stärke betrachtete und die Wirkung, die sie hervorbringt, würde ich sagen: Solange ein Volk zu gehorchen gezwungen ist und gehorcht, tut es gut daran; sobald es das Joch abschütteln kann und es abschüttelt, tut es noch besser; denn da es seine Freiheit durch dasselbe Recht wiedererlangt, das sie ihm geraubt hat, ist es entweder berechtigt, sie sich zurückzuholen, oder man hatte keinerlei Recht, sie ihm wegzunehmen. Aber die gesellschaftliche Ordnung ist ein geheiligtes Recht, das allen anderen zur Grundlage dient. Trotzdem stammt dieses Recht nicht von der Natur; es beruht also auf Vereinbarungen. Es handelt sich darum, die Art dieser Verwww.claudia-wild.de: <?page no="243"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 244 244 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau einbarungen zu kennen. Bevor ich dazu komme, muß ich das eben Behauptete begründen. (Aus: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 5-6) 6. Kapitel Vom Gesellschaftsvertrag Ich unterstelle, daß die Menschen jenen Punkt erreicht haben, an dem die Hindernisse, die ihrem Fortbestehen im Naturzustand schaden, in ihrem Widerstand den Sieg davontragen über die Kräfte, die jedes Individuum einsetzen kann, um sich in diesem Zustand zu halten. Dann kann dieser ursprüngliche Zustand nicht weiterbestehen, und das Menschengeschlecht würde zugrunde gehen, wenn es die Art seines Daseins nicht änderte. Da die Menschen nun keine neuen Kräfte hervorbringen, sondern nur die vorhandenen vereinen und lenken können, haben sie kein anderes Mittel, sich zu erhalten, als durch Zusammenschluß eine Summe von Kräften zu bilden, stärker als jener Widerstand, und diese aus einem einzigen Antrieb einzusetzen und gemeinsam wirken zu lassen. Diese Summe von Kräften kann nur durch das Zusammenwirken mehrerer entstehen: da aber Kraft und Freiheit jedes Menschen die ersten Werkzeuge für seine Erhaltung sind-- wie kann er sie verpfänden, ohne sich zu schaden und ohne die Pflichten gegen sich selbst zu vernachlässigen? Diese Schwierigkeit läßt sich, auf meinen Gegenstand angewandt, so ausdrücken: »Finde eine Form des Zusammenschlusses, die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.« Das ist das grundlegende Problem, dessen Lösung der Gesellschaftsvertrag darstellt. Die Bestimmungen dieses Vertrages sind durch die Natur des Aktes so vorgegeben, daß die geringste Abänderung sie null und nichtig machen würde; so daß sie, wiewohl sie vielleicht niemals förmlich ausgesprochen wurden, allenthalben die gleichen sind, allenthalben stillschweigend in Kraft und anerkannt; bis dann, wenn der Gesellschaftsvertrag verletzt wird, jeder wieder in seine ursprünglichen Rechte eintritt, seine natürliche Freiheit wiedererlangt und dadurch die auf Vertrag beruhende Freiheit verliert, für die er die seine aufgegeben hatte. Diese Bestimmungen lassen sich bei richtigem Verständnis sämtlich auf eine einzige zurückführen, nämlich die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes. Denn erstens ist die Ausgangslage, da jeder sich voll und ganz gibt, für alle die gleiche, und da sie für alle gleich ist, hat keiner ein Interesse daran, sie für die anderen beschwerlich zu machen. Darüber hinaus ist die Vereinigung, da die Entäußerung ohne Vorbehalt geschah, so vollkommen, wie sie <?page no="244"?> 1. Primärtext 245 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 245 nur sein kann, und kein Mitglied hat mehr etwas zu fordern: denn wenn den Einzelnen einige Rechte blieben, würde jeder- - da es keine allen übergeordnete Instanz gäbe, die zwischen ihm und der Öffentlichkeit entscheiden könnte- - bald den Anspruch erheben, weil er in manchen Punkten sein eigener Richter ist, es auch in allen zu sein; der Naturzustand würde fortdauern, und der Zusammenschluß wäre dann notwendig tyrannisch oder inhaltslos. Schließlich gibt sich jeder, da er sich allen gibt, niemandem, und da kein Mitglied existiert, über das man nicht das gleiche Recht erwirbt, das man ihm über sich einräumt, gewinnt man den Gegenwert für alles, was man aufgibt, und mehr Kraft, um zu bewahren, was man hat. Wenn man also beim Gesellschaftsvertrag von allem absieht, was nicht zu seinem Wesen gehört, wird man finden, daß er sich auf folgendes beschränkt: Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf. Dieser Akt des Zusammenschlusses schafft augenblicklich anstelle der Einzelperson jedes Vertragspartners eine sittliche Gesamtkörperschaft, die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat, und die durch ebendiesen Akt ihre Einheit, ihr gemeinschaftliches Ich, ihr Leben und ihren Willen erhält. Diese öffentliche Person, die so aus dem Zusammenschluß aller zustande kommt, trug früher den Namen Polis 1 , heute trägt sie den der Republik oder der staatlichen Körperschaft, die von ihren Gliedern Staat genannt wird, wenn sie passiv, Souverän, wenn sie aktiv ist, und Macht im Vergleich mit ihresgleichen. Was die Mitglieder betrifft, so tragen sie als Gesamtheit den Namen Volk, als Einzelne nennen sie sich Bürger, sofern sie Teilhaber an der Souveränität, und Untertanen, sofern sie den Gesetzen des Staates unterworfen sind. Aber diese Begriffe werden oft vermengt und einer für den anderen genommen; es genügt, sie auseinanderhalten zu können, wenn sie im strengen Sinn gebraucht werden. 1 Der wahre Sinn dieses Wortes ist bei den Neueren fast völlig verschwunden; die meisten verwechseln Stadt [ville] und Polis [cité], Städter [bourgeois] und Bürger [citoyen]. Sie wissen nicht, daß die Häuser die Stadt, die Bürger aber die Polis machen. Der nämliche Irrtum ist damals den Karthagern teuer zu stehen gekommen. Ich habe noch nie gelesen, daß der Titel eines cives jemals dem Untertanen irgendeines Fürsten gegeben worden wäre, nicht einmal in der Antike den Makedonen noch heutzutage den Engländern, obwohl diese der Freiheit viel näher sind als alle anderen. Nur die Franzosen bedienen sich ganz zwanglos des Begriffes Bürger, weil sie davon auch nicht die leiseste wirkliche Vorstellung haben, wie man aus ihren Wörterbüchern sehen kann, sonst würden sie sich nämlich bei seiner anmaßenden Verwendung des Verbrechens der Majestätsbeleidigung schuldig machen: dieses Wort drückt bei ihnen eine Tugend aus und nicht ein Recht. Als Bodin von unseren Bürgern und Städtern sprechen wollte, machte er einen groben Schnitzer, da er die einen mit den andern verwechselte. D’Alembert hat sich nicht getäuscht und in seinem Artikel Genf genau die vier (fünf sogar, wenn man die einfachen Fremden dazuzählt) Klassen von Menschen in unserer Stadt unterschieden, von denen nur zwei die Republik bilden. Kein anderer französischer Autor hat meines Wissens den wirklichen Sinn des Wortes Bürger verstanden. (Anmerkung von Rousseau) <?page no="245"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 246 246 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau 7. Kapitel Vom Souverän Man sieht aus dieser Formel, daß der Akt des Zusammenschlusses eine gegenseitige Verpflichtung von Öffentlichkeit und Einzelnen enthält und daß jeder Einzelne, indem er sozusagen mit sich selbst einen Vertrag schließt, sich in doppelter Hinsicht verpflichtet findet, nämlich als Glied des Souveräns gegenüber den Einzelnen und als Glied des Staates gegenüber dem Souverän. Hier kann man jedoch nicht die Vorschrift des Bürgerlichen Rechtes anwenden, wonach niemand an Verträge mit sich selbst gebunden ist; denn es ist ein großer Unterschied, sich gegenüber sich selbst zu verpflichten oder gegenüber einem Ganzen, dessen Teil man ist. (…) Da nun der Souverän nur aus den Einzelnen besteht, aus denen er sich zusammensetzt, hat er kein und kann auch kein dem ihren widersprechendes Interesse haben; folglich braucht sich die souveräne Macht gegenüber den Untertanen nicht zu verbürgen, weil es unmöglich ist, daß die Körperschaft allen ihren Gliedern schaden will, und wir werden im folgenden sehen, daß sie auch niemandem im besonderen schaden kann. Der Souverän ist, allein weil er ist, immer alles, was er sein soll. Nicht so verhält es sich aber mit den Untertanen gegenüber dem Souverän, dem nichts, trotz des gemeinsamen Interesses, für deren Verpflichtung einstünde, wenn er nicht Mittel fände, sich ihrer Treue zu versichern. In der Tat kann jedes Individuum als Mensch einen Sonderwillen haben, der dem Gemeinwillen, den er als Bürger hat, zuwiderläuft oder sich von diesem unterscheidet. Sein Sonderinteresse kann ihm ganz anderes sagen als das Gemeininteresse; sein selbständiges und natürlicherweise unabhängiges Dasein kann ihn das, was er der gemeinsamen Sache schuldig ist, als eine unnütze Abgabe betrachten lassen, deren Einbuße den anderen weniger schadet, als ihn ihre Leistung belastet, und er könnte gar seine Rechte als Staatsbürger in Anspruch nehmen, ohne die Pflichten eines Untertanen erfüllen zu wollen, da er die moralische Person, die der Staat darstellt, als Gedankending betrachtet, weil sie kein Mensch ist; eine Ungerechtigkeit, deren Umsichgreifen den Untergang der politischen Körperschaft verursachen würde. Damit nun aber der Gesellschaftsvertrag keine Leerformel sei, schließt er stillschweigend jene Übereinkunft ein, die allein die anderen ermächtigt, daß, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als daß man ihn zwingt, frei zu sein; denn dies ist die Bedingung, die den einzelnen Bürger vor jeder persönlichen Abhängigkeit schützt, indem sie ihn dem Vaterland übergibt; eine Bedingung, in der das kunstvolle Spiel des politischen Mechanismus liegt und die allein den Verpflichtungen der Bürger Rechtmäßigkeit verleiht, welche sonst sinnlos, tyrannisch und größtem Mißbrauch unterworfen wären. <?page no="246"?> 1. Primärtext 247 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 247 8. Kapitel Vom bürgerlichen Stand Dieser Übergang vom Naturzustand zum bürgerlichen Stand erzeugt im Menschen eine sehr bemerkenswerte Veränderung, weil dadurch in seinem Verhalten die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinkts tritt und seinen Handlungen die Sittlichkeit verliehen wird, die ihnen zuvor mangelte. Erst jetzt, wo die Stimme der Pflicht an die Stelle des körperlichen Triebs und das Recht an die des Begehrens tritt, sieht sich der Mensch gezwungen, der bislang nur sich selbst im Auge hatte, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft zu befragen, bevor er seinen Neigungen Gehör schenkt. Obgleich er sich in diesem Stand mehrerer Vorteile beraubt, die er von Natur aus hat, gewinnt er dadurch so große andere, seine Fähigkeiten üben und entwickeln sich, seine Vorstellungen erweitern, seine Gefühle veredeln sich, seine ganze Seele erhebt sich zu solcher Höhe, daß er-- würde ihn nicht der Mißbrauch dieses neuen Zustands oft unter jenen Punkt hinabdrücken, von dem er ausgegangen ist-- ununterbrochen den glücklichen Augenblick segnen müßte, der ihn für immer da herausgerissen hat und der aus einem stumpfsinnigen und beschränkten Lebewesen (wörtlich frz. »animal«, also »Tier«, M. K.) ein intelligentes Wesen und einen Menschen gemacht hat. Führen wir diese ganze Gegenüberstellung auf leichter vergleichbare Begriffe zurück! Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt. Damit man sich bei diesem Ausgleich nicht täuscht, ist es notwendig, die natürliche Freiheit, die ihre Schranken nur in der Stärke des Individuums findet, deutlich von der bürgerlichen Freiheit zu unterscheiden, die durch den Gemeinwillen begrenzt ist, und den Besitz, der nur eine Folge der Stärke oder des Rechts des ersten Besitznehmers ist, vom Eigentum, das nur auf einen ausdrücklichen Titel gegründet werden kann. Man könnte nach dem Vorhergehenden zum Erwerb des bürgerlichen Standes noch die sittliche Freiheit hinzufügen, die allein den Menschen zum wirklichen Herrn seiner selbst macht; denn der Antrieb des reinen Begehrens ist Sklaverei, und der Gehorsam gegen das selbstgegebene Gesetz ist Freiheit. Aber ich habe über diesen Punkt schon mehr als genug gesagt, und der philosophische Inhalt des Wortes Freiheit ist hier nicht mein Gegenstand. (Aus: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 16-23) <?page no="247"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 248 248 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau Zweites Buch 1. Kapitel Daß die Souveränität unveräußerlich ist Die erste und wichtigste Folge der oben aufgestellten Prinzipien ist, daß allein der Gemeinwille die Kräfte des Staates gemäß dem Zweck seiner Errichtung, nämlich dem Gemeinwohl, leiten kann: denn wenn der Widerstreit der Einzelinteressen die Gründung von Gesellschaften nötig gemacht hat, so hat der Einklang derselben Interessen sie möglich gemacht. Das Gemeinsame nämlich in diesen unterschiedlichen Interessen bildet das gesellschaftliche Band, und wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, in dem alle Interessen übereinstimmen, könnte es keine Gesellschaft geben. Nun darf aber die Gesellschaft nur gemäß diesem Gemeininteresse regiert werden. Ich behaupte deshalb, daß die Souveränität, da sie nichts anderes ist als die Ausübung des Gemeinwillens, niemals veräußert werden kann und daß der Souverän, der nichts anderes ist als ein Gesamtwesen, nur durch sich selbst vertreten werden kann; die Macht kann wohl übertragen werden, nicht aber der Wille. In der Tat, wenn es zwar nicht unmöglich ist, daß ein Einzelwille in irgendeinem Punkt mit dem Gemeinwillen übereinkommt, so ist es doch unmöglich, daß diese Übereinstimmung dauerhaft und von Bestand ist; denn der Einzelwille neigt seiner Natur nach zur Bevorzugung und der Gemeinwille zur Gleichheit. Noch unmöglicher ist es, daß sich einer für diese Übereinstimmung verbürgt, selbst wenn sie immer bestehen sollte; dies wäre kein Ergebnis der Kunst, sondern des Zufalls. Der Souverän kann sehr wohl sagen: In diesem Augenblick will ich, was ein bestimmter Mensch will oder wenigstens angibt zu wollen; aber er kann nicht sagen: Was dieser Mensch morgen will, das werde auch ich wollen; es ist nämlich unsinnig, daß sich der Wille Ketten anlegt für die Zukunft, und es hängt auch keineswegs vom Willen ab, mit etwas einverstanden zu sein, das dem Wohl des wollenden Wesens widerspricht. Wenn daher das Volk einfach verspricht, zu gehorchen, löst es sich durch diesen Akt auf und verliert seine Eigenschaft als Volk; in dem Augenblick, in dem es einen Herrn gibt, gibt es keinen Souverän mehr, und von da an ist der politische Körper zerstört. Das heißt nicht, daß die Befehle der Oberhäupter nicht so lange für Gemeinwillen gelten können, als der Souverän, der die Freiheit hat, sich zu widersetzen, dies nicht tut. In einem solchen Fall muß man aus dem Schweigen aller auf die Zustimmung des Volkes schließen. Dies wird noch ausführlicher erklärt. (Aus: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 27-28) <?page no="248"?> 1. Primärtext 249 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 249 3. Kapitel Ob der Gemeinwille irren kann Aus dem Vorhergehenden folgt, daß der Gemeinwille immer auf dem rechten Weg ist und auf das öffentliche Wohl abzielt: woraus allerdings nicht folgt, daß die Beschlüsse des Volkes immer gleiche Richtigkeit haben. Zwar will man immer sein Bestes, aber man sieht es nicht immer. Verdorben wird das Volk niemals, aber oft wird es irregeführt, und nur dann scheint es das Schlechte zu wollen. Es gibt oft einen beträchtlichen Unterschied zwischen dem Gesamtwillen und dem Gemeinwillen; dieser sieht nur auf das Gemeininteresse, jener auf das Privatinteresse und ist nichts anderes als eine Summe von Sonderwillen: aber nimm von ebendiesen das Mehr und das Weniger weg, das sich gegenseitig aufhebt 2 , so bleibt als Summe der Unterschiede der Gemeinwille. Wenn die Bürger keinerlei Verbindung untereinander hätten, würde, wenn das Volk wohlunterrichtet entscheidet, aus der großen Zahl der kleinen Unterschiede immer der Gemeinwille hervorgehen, und die Entscheidung wäre immer gut. Aber wenn Parteiungen entstehen, Teilvereinigungen auf Kosten der großen, wird der Wille jeder dieser Vereinigungen ein allgemeiner hinsichtlich seiner Glieder und ein besonderer hinsichtlich des Staates; man kann dann sagen, daß es nicht mehr so viele Stimmen gibt wie Menschen, sondern nur noch so viele wie Vereinigungen. Die Unterschiede werden weniger zahlreich und bringen ein weniger allgemeines Ergebnis. Wenn schließlich eine dieser Vereinigungen so groß ist, daß sie stärker ist als alle anderen, erhält man als Ergebnis nicht mehr die Summe der kleinen Unterschiede, sondern einen einzigen Unterschied; jetzt gibt es keinen Gemeinwillen mehr, und die Ansicht, die siegt, ist nur eine Sonderanschauung. Um wirklich die Aussage des Gemeinwillens zu bekommen, ist es deshalb wichtig, daß es im Staat keine Teilgesellschaften gibt und daß jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt 3 . Dergestalt 2 »Jedes Interesse«, sagt der Marquis d’Argenson, »hat einen anderen Ausgangspunkt. Die Übereinstimmung zweier Einzelinteressen kommt durch die Gegnerschaft gegen ein drittes zustande.« Er hätte hinzufügen können, daß die Übereinstimmung aller Interessen durch die Gegnerschaft gegen das Interesse eines jeden zustande kommt. Wenn es keine unterschiedlichen Interessen gäbe, spürte man den Gemeinwillen, der nie auf ein Hindernis träfe, kaum: alles andere ginge von selbst, und die Politik hörte auf, eine Kunst zu sein. (Anmerkung von Rousseau) 3 »Vera cosa è« sagt Machiavelli, »che alcune divisioni nuocono alle Republiche, e alcune giovano: quelle nuocono che sono dalle sette e da partigiani accompagnate: quelle giovano che senza sette, senza partigiani si mantengono. Non potendo adunque provedere un fondatore d’una Republica che non siano nimcizie in quella" hà da proveder al’ meno che non vi siano sette.« (Geschichte von Florenz, 7. Buch.) [»Es ist wahr, daß manche Unterteilungen für Staaten schädlich, andere vorteilhaft sind: schädlich sind die, welche Parteien und Parteigänger im Gefolge haben, vorteilhaft jene, welche sich auch ohne Parteien und Parteigänger erhalten. Da nun der Gründer eines Staates nicht Vorsorge dafür treffen kann, daß sich im Staat keine Zwistigkeiten ergeben, muß er wenigstens dafür sorgen, daß sich keine Parteien bilden.«] (Anmerkung von Rousseau) <?page no="249"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 250 250 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau war die einzigartige und erhabene Einrichtung des Lykurg. Wenn es aber Teilgesellschaften gibt, ist es wichtig, ihre Zahl zu vervielfachen und ihrer Ungleichheit vorzubeugen, wie dies Solon, Numa und Servius taten. Diese Vorsichtsmaßregeln sind die einzig richtigen, damit der Gemeinwille immer aufgeklärt sei und das Volk sich nicht täusche. (Aus: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 30-32) 11. Kapitel Von den verschiedenen Arten der Gesetzgebung Wenn man untersucht, worin das höchste Wohl aller genau besteht, das den Endzweck jeder Art von Gesetzgebung bilden soll, so wird man finden, daß es sich auf jene zwei Hauptgegenstände Freiheit und Gleichheit zurückführen läßt. Auf die Freiheit, weil jede Sonderabhängigkeit dem Staatskörper in gleichem Maße Kraft entzieht, und auf die Gleichheit, weil die Freiheit ohne sie nicht bestehen kann. Ich habe schon gesagt, was die bürgerliche Freiheit ist; was die Gleichheit anbelangt, so darf unter diesem Wort nicht verstanden werden, daß das Ausmaß an Macht und Reichtum ganz genau gleich sei, sondern daß, was die Macht anbelangt, diese unterhalb jeglicher Gewalt bleibe und nur aufgrund von Stellung und Gesetz ausgeübt werde, und was den Reichtum angeht, daß kein Bürger derart vermögend sei, sich einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, daß er gezwungen wäre, sich zu verkaufen. Das setzt auf seiten der Großen Mäßigung bezüglich Vermögen und wirtschaftlicher Macht voraus, auf seiten der Kleinen Mäßigung in Neid und Begehrlichkeit 4 . Diese Gleichheit, so wird behauptet, ist ein Hirngespinst der Spekulation, das in der Praxis nicht bestehen könne. Wenn aber der Mißbrauch unvermeidlich ist, heißt das, daß man ihm nicht wenigstens steuern muß? Genau deshalb, weil die Kraft der Dinge stets dazu neigt, die Gleichheit zu zerstören, muß die Kraft der Gesetzgebung stets versuchen, sie aufrechtzuerhalten. (Aus: Vom Gesellschaftsvertrag, S. 56-57) 4 Du willst also dem Staat Dauerhaftigkeit verleihen? -- bringe die Extreme soweit wie möglich einander näher: dulde weder Überreiche noch Bettler. Diese beiden Stände, natürlicherweise gekoppelt, sind dem Gemeinwohl gleicherweise verderblich; aus dem einen kommen die Helfershelfer der Tyrannei, aus dem anderen die Tyrannen; der Handel mit der Öffentlichen Freiheit findet immer zwischen diesen statt; der eine kauft und der andere verkauft sie. (Anmerkung von Rousseau) <?page no="250"?> 1. Primärtext 251 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 251 Drittes Buch (…) 4. Kapitel Von der Demokratie Wer das Gesetz macht, weiß besser als jeder andere, wie es ausgeführt und ausgelegt werden soll. Es scheint deshalb, daß es keine bessere Verfassung geben kann als die, in der die Exekutive mit der Legislative gekoppelt ist. Genau das aber macht diese Regierung in gewisser Hinsicht ungenügend, weil Dinge nicht auseinandergehalten werden, die auseinandergehalten werden müssen, und weil sie sozusagen eine Regierung ohne Regierung bildet, da Fürst und Souverän dieselbe Person sind. Es ist weder gut, daß derjenige, der die Gesetze macht, sie ausführt, noch daß die Körperschaft des Volkes ihre Aufmerksamkeit von allgemeinen Gesichtspunkten ablenkt, um sie Einzelgegenständen zuzuwenden. Nichts ist gefährlicher als der Einfluß von Privatinteressen auf die öffentlichen Angelegenheiten, und der Mißbrauch von Gesetzen durch die Regierung ist ein geringeres Übel als die Verderbtheit des Gesetzgebers, unfehlbare Folge von Sondermeinungen. Da dann der Staat in seiner Substanz verändert ist, wird jede Reform unmöglich. Ein Volk, das niemals die Regierungsgewalt mißbrauchte, würde auch die Unabhängigkeit nicht mißbrauchen; ein Volk, das stets gut regierte, brauchte gar nicht regiert zu werden. Nimmt man den Begriff in der ganzen Schärfe seiner Bedeutung, dann hat es niemals eine echte Demokratie gegeben, und es wird sie niemals geben. Es geht gegen die natürliche Ordnung, daß die Mehrzahl regiert und die Minderzahl regiert wird. Man kann sich nicht vorstellen, daß das Volk unaufhörlich versammelt bleibt, um die öffentlichen Angelegenheiten zu besorgen, und man sieht leicht, daß es dafür keine Ausschüsse einsetzen kann, ohne dadurch die Form der Verwaltung zu ändern. Ich glaube in der Tat den Grundsatz aufstellen zu können, daß, wenn die Funktionen der Regierung unter verschiedene Regierungsstellen aufgeteilt werden, die zahlenmäßig schwächsten früher oder später das größte Ansehen erwerben, und sei es nur auf Grund der leichteren Besorgung ihrer Angelegenheiten, welche ihnen natürlicherweise dazu verhilft. Wie viele schwer zu vereinigende Dinge setzt diese Regierung im übrigen nicht voraus? -- Erstens einen sehr kleinen Staat, in dem das Volk einfach zu versammeln ist und jeder Bürger alle andern leicht kennen kann; zweitens eine große Einfachheit in den Sitten, die der Vielfalt der Angelegenheiten und heiklen Diskussionen steuert; dann weitgehende Gleichheit der gesellschaftlichen Stellung und der Vermögen, ohne welche die Gleichheit von Recht und Einfluß nicht lange bestehen kann; schließlich wenig oder gar keinen Luxus; denn Luxus ist entweder die Folge von Reichtümern oder macht sie nötig; er verdirbt Reich und Arm, den einen durch Besitz, den anderen durch Begehrlichkeit; er liefert das Vaterland aus an Verweichlichung und Eitelkeit; er entzieht dem Staat alle seine Bürger, um die einen zu Knechten der anderen und alle zu Knechten der herrschenden Meinung zu machen. Deshalb hat ein berühmter <?page no="251"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 252 252 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau Autor der Republik (Montesquieu, M. K.) die Tugend zum Prinzip gegeben, weil alle diese Bedingungen ohne Tugend nicht bestehen können; aber mangels der nötigen Unterscheidungen fehlte diesem glänzenden Genie oft die Genauigkeit und manchmal die Klarheit; er hat nicht gesehen, daß der gleiche Grundsatz deshalb, weil die souveräne Macht überall die gleiche ist, in jedem gut verfaßten Staat wirksam werden muß, zugegebenermaßen mehr oder weniger je nach Regierungsform. Fügen wir hinzu, daß es keine Regierung gibt, die so sehr Bürgerkriegen und inneren Unruhen ausgesetzt ist wie die demokratische oder Volksregierung, weil sie wie keine andere so stark und ausdauernd dazu neigt, ihre Form zu ändern, und wie keine andere Wachsamkeit und Mut verlangt, um in der ihren erhalten zu werden. In dieser Verfassung muß sich der Bürger vor allem mit Kraft und Ausdauer wappnen und jeden Tag im Grunde seines Herzens wiederholen, was ein tugendhafter Woiwode 5 im polnischen Landtag gesagt hat: Malo periculosam libertatem quam quietum servitium. [Ich ziehe eine gefährdete Freiheit einer ruhigen Knechtschaft vor.] Wenn es ein Volk von Göttern gäbe, würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht. (Aus: Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker. Neu übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, Stuttgart 1996, S. 72-74) 2. Leitfragen a. Welches faktische Problem ist Anlass für Rousseaus philosophische Überlegungen? b. Welcher theoretische Anspruch soll durch den Gesellschaftsvertrag gelöst werden und wie? c. Warum hält es Rousseau für legitim, dass die Körperschaft jemanden zwingen kann, dem Gemeinwillen zu folgen? d. Worin besteht der Unterschied zwischen »natürlicher Freiheit« und »bürgerlicher Freiheit«? e. Was ist der Unterschied zwischen »Gesamtwillen« und »Gemeinwillen« und was schließt Rousseau daraus für die Existenz von Parteien? f. Worin besteht der Zweck jeder Art von Gesetzgebung und welchem »Naturgesetz« (»Kraft der Dinge«) soll sie entgegenwirken? g. Warum passt eine »demokratische Regierung« nicht zum Menschen? 5 Der Woiwode von Posen, Lesczinski, Vater des polnischen Königs und Herzog von Lothringen. (Anmerkung von Rousseau) <?page no="252"?> 3. Entstehungskontext 253 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 253 3. Entstehungskontext Biografisches Jean-Jacques Rousseau wurde 1712 in Genf als zweiter Sohn eines Uhrmachermeisters geboren. Seine Mutter starb wenige Tage nach seiner Geburt, vermutlich am Kindbettfieber. Uhrmacher gehörten in dem calvinistischen Stadtstaat Genf zu den angesehensten Bourgeois-- einer Klasse, die das Privileg der Gewerbefreiheit genoß. Im Grunde stammte Rousseau aus dem »Handwerkeradel«. Für Kinder dieses Standes war eine gute Schulbildung vorgesehen, in der neben handwerklichen Fähigkeiten auch Latein und Geschichte vermittelt wurde. (Vgl. Brockard 1996, S. 178) Roussau hatte allerdings nie eine Schule besucht, sondern war Autodidakt. (Vgl. Taureck 2009, S. 9) Sein Vater führte ihn sehr früh an das Lesen heran, eine Leidenschaft, die sie beide teilten und bereits im Kindesalter durchwachte er angeblich mit seinem Vater ganze Nächte mit Lektüre. 1722 floh sein Vater aus Genf, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, weil er jemanden im Streit mit dem Degen verletzt hatte. Den zehnjährigen Jean-Jacques ließ er bei seinem Schwager zurück, der ihn und den eigenen Sohn in einer Pension bei einem Pfarrer unweit von Genf unterbrachte, damit sie dort ordnungsgemäßen Unterricht erhielten. Als Dreizehnjährigen gab ihn sein Onkel als Lehrling in das Büro eines Gerichtsschreibers. Dort musste Rousseau zu seinem Missfallen vorwiegend Prozessakten kopieren. Er konnte sich nicht bewähren und wurde bald entlassen. Sein Onkel vermittelte ihn daraufhin als Lehrling in einen Handwerkerbetrieb, wo er drei Jahre verbrachte. Die Tätigkeit behagte ihm zwar, aber niemand hatte Verständnis für seine übertriebene Leselust, seine Träumereien und schon gar nicht für seine verspätete Rückkehr von seinen Sonntagsausflügen nach Schließung der Stadttore. Als ihm das nach drei Jahren zum dritten Mal passierte, beschloß er, nicht nach Genf zurückzukehren, um einer Prügelstrafe zu entgehen. Nach einer Begegnung mit einem katholischen Pfarrer konvertierte Rousseau zum Katholizismus. Zudem entdeckte er seine Leidenschaft für die Musik, nahm Unterricht, unterrichtete zeitweise selbst als Musiklehrer und wurde seinerzeit sogar berühmt für Aufführungen eigener Musikwerke. Rousseau führte ein relativ unstetes Leben. Er hatte zeitweise ein Verhältnis mit der dreizehn Jahre älteren Madame de Warens, vagabundierte phasenweise umher, wobei er die bedrückenden Verhältnisse der Bauern kennenlernte, selbst oft hungern und betteln musste, fand dann wieder Unterstützung durch Mäzene und konnte sich dem Müßiggang hingeben und dabei schreiben und komponieren, floh wieder aus diesen Abhängigkeitsverhältnissen und musste selbst seinen Lebensunterhalt verdienen. Kaum eine Beschäftigung übte er über mehrere Jahre am Stück aus. 1743 eröffnete sich zufällig über seine Bekanntschaften in Paris die Gelegenheit, als Sekretär des französischen Botschafters nach Venedig zu gehen, wo er mit der Praxis der Diplomatie und der Staatsverwaltung vertraut wurde. Doch bereits nach einem knappen Jahr kehrte er zurück nach Paris, <?page no="253"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 254 254 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau wo er schon vor seinem Venedigaufenthalt das Zimmermädchen Thérèse Levasseur kennengelernt hatte, die bis zu seinem Tod seine Lebensgefährtin blieb. Er zeugte fünf Kinder mit ihr, gab sie aber alle ins Findelhaus. 6 In seinen Pariser Jahren (1744- 1750) lernte er durch den Salon von Madame Dupin, in deren Diensten er als Sekretär stand, namhafte Wissenschaftler kennen, wie etwa Diderot Condillac und d’Alembert. (Vgl. Brockard 1996, S. 178-186) Als 1748 Montesquieus »Esprit des Lois« erschien, wollte Madame Dupin eine Widerlegung veröffentlichen, wofür sie von ihren Mitarbeitern, also auch von Rousseau, Materialien zusammentragen ließ. Weigand geht davon aus, dass Rousseau durch die Auseinandersetzung mit Montesquieus Text an historisch-politische Fragestellungen herangeführt wurde und zu seinen eigenen Ideen fand. (Vgl. Weigand 1995, S. LXXXIII) 1750 gewann Rousseau überraschend den Wissenschaftspreis der Akademie von Dijon. Sein »Discours« zu der Frage »Ob der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat« argumentierte verneinend. Mit einem Schlag wurde er berühmt und markiert dieses Ereignis als eine Wende in seinem Leben: »Von diesem Zeitpunkt datiert mein Entschluß, meine Handlungen diesen Grundsätzen (d.i.: Freiheit und Tugend) gemäß einzurichten und kühnen Schritts den herrschenden Vorurteilen meines Jahrhunderts entgegenzutreten.« (Rousseau zit. nach Brockard 1996, S. 187) Statt seinen Erfolg zu nutzen und sich in den hohen Kreisen niederzulassen, versuchte er sich aus allen mäzenatischen Abhängigkeiten zu lösen, seinen Lebensunterhalt durch seiner Hände Arbeit zu verdienen und ein möglichst einfaches Leben zu führen. Mit seiner Oper »Der Dorfwahrsager« hatte er großen Erfolg (König Ludwig XV. bot ihm sogar eine Pension an). Rousseau reagierte auf Erfolg eher deprimiert und nervös. Er arbeitete nicht zum Gefallen des Publikums und verabscheute jegliche Form von Unterwerfung abgrundtief (vgl. Taureck 2009, S. 13), wodurch sich sein unsteter Lebenswandel erklären mag und die »Radikalität« seiner Staatstheorie. 1753 versuchte er erneut auf die Preisfrage der Akademie von Dijon »Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und ist sie durch das Naturgesetz gerechtfertigt« mit einem Discours »Über die Ungleichheit« zu antworten, diesmal erfolgte keine Auszeichnung. Stattdessen erntete er von Intellektuellen-- insbesondere Voltaire-- spöttische Kritik. 1754 besuchte er mit seiner Lebensgefährtin seine geliebte Heimatstadt Genf und trat wieder zum Calvinismus über, um die Genfer Bürgerrechte wiederzuerlangen. Der Plan, in die Stadt zurückzukehren, scheiterte. Zunächst zog er 1756 auf einen Landsitz der Madame d’Epinay, verliebte sich in deren jüngere Schwägerin, die seine Liebe nicht erwiderte. Aus dieser Leidenschaft entstand das 1761 veröffentlichte Werk »Nouvelle Héloïse«, das ein aufsehenerregender literarischer Erfolg wurde. Brockard merkt dazu an: 6 Diese Tatsache sorgt in der Rousseau-Rezeption regelmäßig für Empörung. Taureck weist darauf hin, dass zu Rousseaus Zeiten dieses Verhalten keine Ausnahme war. »Im Jahr 1772 wurden in Paris 41 Prozent der Neugeborenen abgegeben.« (Taureck 2009, S. 117) <?page no="254"?> 3. Entstehungskontext 255 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 255 »Die Neue Héloïse leitet, mit all ihren Schwächen, eine neue Epoche ein: sie macht das leidenschaftliche Gefühl wie das sentimentale literaturfähig und entdeckt die lyrische Seite der Natur, insbesondere die Schweizer Seen- und Bergwelt, kurz, sie ergreift Partei für die Wahrhaftigkeit und Stärke des Gefühls gegen Konventionen, tritt dabei für eine klare Moral gegen alle gesellschaftliche Verlogenheit ein und kündigt so auf ihre Weise das Ende eines Zeitalters an.« (Brockard 1996, S. 194) Die Eigensinnigkeit seiner Lebensweise und seines Denkens provozierte in seinem gesellschaftlichen und intellektuellen Umfeld einerseits Zuneigung, Bewunderung und Unterstützung, aber auch Ablehnung bis hin zu abgrundtiefem Hass. Zu seinem größten Widersacher wurde Voltaire, der einen regelrechten verbalen Vernichtungsfeldzug gegen Rousseau führte und ihn öffentlich als »Ungeheuer« und »bösartigsten Verrückten, der jemals existiert hat« beschimpfte. (Vgl. Taureck 2009, S. 63) Rousseau überwarf sich mit vielen seiner eigentlichen Freunde und witterte ein Komplott gegen sich, was es aber wohl nie gegeben hat. Man schreibt ihm vielfach Persönlichkeitszerfall und Verfolgungswahn zu. (Vgl. Brockard 1996, S. 188 f.) Stellt man aber Voltaires verbale Attacken und die Verurteilung seiner Spätschriften durch die Kirche und seine Heimatstadt Genf in Rechnung, erscheinen Rousseaus Reaktionen jedoch verständlich. Auch Taureck relativiert die Unterstellung eines Verfolgungswahns, indem er Rousseaus Verhalten nicht als Ursache seiner psychischen Verfassung, sondern im Kontext der damals herrschenden Rechtsbedingungen zu verstehen sucht. Damals gab es kein allgemeines Strafrecht und die von der Justiz verhängten Strafen waren drakonisch. »Voltaire und Rousseau schwebten ständig in Lebensgefahr, die von einer heute nicht mehr vorstellbaren Willkürjustiz ausging; deren grausige Verdienste teilten sich der Klerus und der Absolutismus Ludwigs XV.« (Taureck 2009, S. 78) Ab 1759 schrieb Rousseau den Erziehungsroman »Émile« und die staatstheoretische Schrift »Vom Gesellschaftsvertrag«, die beide fast gleichzeitig 1762 veröffentlicht wurden. Weil er im »Émile« ein dogmenfreies Christentum fordert, zog er sich den Unmut der katholischen Kirche zu. Diese erreichte, dass man beide von Rousseau jüngst erschienenen Werke öffentlich verbot und verbrannte und der Autor verklagt und gegen ihn ein Haftbefehl erlassen wurde. (Vgl. Brockard 1996, S. 195) Wenige Wochen nach der Veröffentlichung seiner Werke musste Rousseau fliehen. 7 Das Geheiß des Preußenkönigs Friedrich des Großen (1712-1786) bewirkte seine Aufnahme in einer preußischen Enklave in einem Schweizer Bergdorf, er konnte aber ab 1765 aufgrund seines kritischen Verhältnisses zur katholischen Kirche und von Voltaire erhobener derber öffentlicher Anschuldigungen nicht dort bleiben. Innerhalb der nächsten fünf Jahre floh er durch ganz Frankreich nach England, wo er Locke persönlich kennenlernte, und wieder zurück nach Frankreich. Zwischendrin legali- 7 Weigand schreibt, dass Rousseau zur Flucht überredet werden musste, weil er sich ursprünglich dem Prozess »als neuer Sokrates« stellen wollte. (Vgl. Weigand 1995, S. LXXXV) <?page no="255"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 256 256 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau sierte er mittels Heirat sein Verhältnis zu Thérèse. 1770 richtete er sich in Paris ein, lebte dort acht Jahre, bis er sich 1778 auf den Landsitz eines Gönners unweit von Paris zurückzog. Einer seiner weniger Besucher war der junge Student Robespierre, später führendes Mitglied der Jakobiner in der Französischen Revolution. Nur sechs Wochen nach seinem Umzug brach Rousseau am 2. Juli 1778 nach einem Schlaganfall tot zusammen. (Vgl. Brockard 1996, S. 196-201) Für die aufkommende revolutionäre Bewegung in Frankreich blieb er allerdings intellektuell lebendig, denn »der Name Rousseau wird, unterirdisch zunächst und dann offen, zum Schlachtruf der Revolution, sein Gesellschaftsvertrag zu deren Bibel. In einem Kartenspiel aus der Revolutionszeit figuriert Rousseau, den Gesellschaftsvertrag in der Hand, als As. Am 11. Oktober 1784 holt die Revolution seine sterblichen Überreste nach Paris.« (Brockard 1996, S. 201) Dort wurde er neben Voltaire beigesetzt. Zeitliches Rousseau wurde als gebürtiger »Bürger von Genf« maßgeblich im Kontext der Genfer und schweizerischen Verhältnisse und Geschichte sozialisiert und geprägt. Die Stadt Genf hatte sich ab 1564 als unabhängige Republik konstituiert, vom Bischofstum und dem Katholizismus losgesagt und sich zum reformierten Glauben bekannt. 1536 hatte sich der französische Emigrant Jean Calvin in Genf niedergelassen und die Stadt zum Zentrum des reformierten Weltprotestantismus erkoren. (Vgl. Im Hof 2007, S. 63) Die Schweiz zerfiel in einen katholischen und einen reformierten Teil. Die katholische Schweiz machte etwa zwei Fünftel der Gesamtbevölkerung aus, sie umschloss aber geografisch weitgehend die reformierte Schweiz. Insbesondere die Stadt Genf sah sich lange durch das katholisch orientierte Herzogtum Savoyen bedroht. Offiziell war die Eidgenossenschaft allerdings konfessionell neutral. Es bestand durchaus ein gemeineidgenössisches Nationalbewusstsein und man fühlte sich als »Schweizer«, jedoch musste man auch überzeugter Katholik oder Protestant sein. (Vgl. Im Hof 2007, S. 69 ff.) Die Neutralität der Schweiz hatte zum Ende des Spanischen Erbfolgekrieges 1713-1714 durch die Aufnahme in die Friedensverträge endgültig Form und Anerkennung gefunden. (Vgl. Im Hof 2007, S. 76) Zum schweizerischen Nationalbewusstsein gehörte der Gleichheitsgedanke der Schweizer Bürger und damit auch die Idee der Freiheit und des Mitbestimmungsrechts. Diese demokratischen Grundgedanken reiften aus besonderen Erfahrungen des gemeinsamen Widerstands der Schweizer gegen das Haus Habsburg, der in den Bundesbeschlüssen von 1291 und 1315 mündete. Die Geschichte der Gründung der Eidgenossenschaft geriet zum nationalen Mythos und verlieh den Eidgenossen die identitäre Kraft zur unerbittlichen Verteidigung des Bundes gegen äußere Mächte. Der Autor Im Hof schreibt, dass sich zwischen den Burgunder- und Mailänderkriegen im 15. Jahrhundert ein nationales Hochgefühl und eine eigentliche Schweizer Hybris entwickelte. <?page no="256"?> 3. Entstehungskontext 257 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 257 (Vgl. Im Hof 2007, S. 54) Die Schweizer Bauernschaft genoss hohes Ansehen und galt als Vorbild in den bäuerlichen Schichten im ganzen mittleren Europa. Trotz des republikanischen Bewusstseins der Eidgenossen war die Schweizer Gesellschaft noch lange nicht egalitär organisiert. Immer wieder versuchten in den Kantonen und Städten einzelne Gruppierungen herrschaftliche Oberhand zu gewinnen. Die Stadt Genf war bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zu einem blühenden Industrie- und Handelszentrum geworden. Die Bürgerschaft zerfiel in die Klassen der »Citoyen« (Altbürger, die ein Magistratspatriziat bildeten) und der »Bourgeois« (Unternehmer). Die Arbeiterschaft bestand überwiegend aus Nichtbürgern und hatte keine politischen Mitbestimmungsrechte. Von 1704 bis 1782 gab es periodisch Auseinandersetzungen zwischen diesen Gruppierungen über die Verbreitung der Regierungsbasis, über mehr Kompetenzen für die Volksversammlung der Bürgerschaft sowie um das Recht der Repräsentation. (Vgl. Im Hof 2007, S. 84) Für Im Hof »(hatten) die Genfer Verfassungskämpfe internationale Bedeutung, nicht nur, weil in deren zweiter Phase Jean-Jacques Rousseau, der ›Citoyen de Genève‹ an sich, eine wichtige Rolle spielte, sondern weil sich hier die Kräfte der Reform (und Revolution) mit denjenigen des Beharrens, zeitlich vor den entsprechenden Auseinandersetzungen in Nordamerika und in Frankreich, sowohl theoretisch durch Flugschriften wie konkret-politisch miteinander messen konnten.« (Im Hof 2007, S. 85) Während sich in der Schweiz schon längst republikanisches Gedankengut etabliert hatte und sich im 18. Jahrhundert zunehmend auch in der gesellschaftspolitischen Realität bahnzubrechen suchte, herrschte im benachbarten Frankreich zu dieser Zeit immer noch der Absolutismus unter Ludwig XV. (1710-1774), der allerdings bis zum Ende seiner Amtszeit in eine schwere Legitimationskrise geriet. Die Herrschaftsverhältnisse im damaligen Frankreich wurden im Montesquieu-Kapitel behandelt, dessen Lebenszeit sich mit der Rousseaus für die Zeitspanne von 1712 bis 1755 überschneidet. Für Rousseaus Biografie ist entscheidend, dass er als Bürger von Genf und in republikanischem und calvinistischem Geist erzogen die absolutistischen Herrschafts- und Lebensverhältnisse Frankreichs erlebte und reflektierte. Gesellschaftspolitisches Zwischen 1720 und 1783 hatte sich die Mächtekonstellation in Europa zu Ungunsten Frankreichs entwickelt. Zu den europäischen Großmächten gehörten außer Frankreich auch Großbritannien, Österreich und Russland sowie Preußen als neue Großmacht. Zwischen Großbritannien und Frankreich spielte sich ein Kampf um die Führungsrolle auf den Weltmeeren und um den Besitz der Kolonialreiche ab. (Vgl. <?page no="257"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 258 258 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau Ploetz, S. 687) Dem Zeitalter der »Aufklärung« (18. Jahrhundert) gingen jahrhundertelange Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozesse voraus, die sich im allgemeinen Denken, in der fortschreitenden Industrialisierung und in der Französischen Revolution bahnbrachen. Die Erkenntnisse der Wissenschaften und Medizin (heliozentrisches Weltbild, Gravitationstheorie, Entdeckung der Natur des Lichts, der Elektrizität und des Blutkreislaufs etc.) wurden allgemein gelehrt, obwohl sie den Ansichten der Kirche widersprachen. Ihre Autorität reichte in der Zeit der Aufklärung nicht mehr aus, den »Fortschritt«- - das Schlüsselwort der Aufklärung- - zu unterbinden. 8 »Diese neuen Erkenntnisse finden ihren Niederschlag in einem neuen mechanistischen Weltbild und der rationalen Selbstbegründung der menschlichen Existenz.« (Ploetz, S. 664) Die Entdeckung der Naturgesetze bedeutete, dass die Natur für den Menschen erforschbar ist, er sich über sie erheben und sie sich zunutze machen kann. Die religiöse Deutung der Welt und des Menschen, seine Stellung in ihr und zu Gott wurde damit zunichte gemacht. Das Bürgertum hatte einen Bildungsstand und eine ökonomische Bedeutung erreicht, die seine niedrige Position im Gesellschaftsgefüge nicht mehr rechtfertigen ließ. Ökonomisch efolgreiche Bürger drängten massiv durch Ämterkauf in den Adelsstand, um an dessen Privilegien teilzuhaben (»noblesse de robe« bzw. »nouvelle noblesse«). Dies führte wiederum zu Abgrenzungsreaktionen innerhalb des »alten« Adels, nämlich des Hofadels (»haute noblesse«) und des im Vergleich zum Hofadel »armen« Provinzadels (»noblesse pauvre«). Mager vertritt die These, dass »sich die Spannungen, die zwischen diesen drei Hauptgruppen des französischen Adels bestanden, seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem Interessenkonflikt verschärften, der in die Krise der absoluten Monarchie und schließlich in die Revolution einmündeten.« (Mager 1996, S. 12) Der Hofadel lebte in Saus und Braus und der neue Adel (durch Ämterkauf in den Adelsstand erhobene Bürger aus dem Dritten Stand) bereicherte sich parasitär, wodurch sich der Provinzadel provoziert fühlte, die Existenz des Adels auf eine neue Legitimationsbasis zu stellen, um sich von der als schmarotzerhaft empfundenen Privilegienwirtschaft zu distanzieren (Umgestaltung der »Noblesse« zur »Notabilité«). Der Provinzadel pochte auf seine über Generationen geleisteten Dienste für König und Vaterland, reklamierte dabei für sich einen Führungsanspruch, der sich auf gesellschaftlicher Hochschätzung der altüberkommenen Adelsgeschlechter gründen sollte, indem er künftig auf Privilegien jeglicher Art verzichten und dem Dienst für das Allgemeinwohl gerecht werden wollte. Zudem versuchte er das Leistungsprinzip bei Offiziersstellen durchzusetzen (die Käuflichkeit der Offiziersstellen könnte zu den Niederlagen Frankreichs im Sie- 8 Zu den wichtigsten technischen Erfindungen und naturwissenschaftlichen Entdeckungen des 18. Jahrhunderts gehören: Eisengewinnung durch Koks (1709), Benutzung einer Dampfmaschine beim Bergbau (1712), fliegendes Weberschiffchen (1733), Gussstahl (1735), Spinnmaschine (1768), Dampfmaschine mit erheblich weniger Kohleverbrauch (1769), mechanischer Webstuhl (1785), Baumwollentkernungsmaschine (1793) und Dampfwagen für Straßenverkehr (1802). (Vgl. Ploetz, S. 692) <?page no="258"?> 4. Interpretation 259 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 259 benjährigen Krieg beigetragen haben, weil es den Offizieren an Kompetenz und Disziplin mangelte). (Vgl. Mager 1996, S. 24 f.) Das Schmarotzertum von Hofadel und neuem Adel stand im Zusammenhang eines desolaten Staatshaushaltes, der seit 1750 nach Ende des Österreichischen Erbfolgekrieges offenkundig war. (Vgl. Mager 1996, S. 30) Zur Verbesserung der Staatsfinanzen wurden Steuererhebungen eingeführt, die nach offiziellen Angaben alle Untertanen (auch den Hofadel) gleichermaßen betreffen sollten, die in der Praxis aber vor allem den Provinzadel und die bürgerlichen Grundeigentümer schröpften. Es war für diese beiden Gruppen unmöglich, über institutionelle und rechtliche Wege im absolutistischen Regime eine Steuergerechtigkeit zu erreichen. Aus der Finanzkrise erwuchs eine Verfassungskrise, in deren Zuge die Umwandlung der absoluten in eine konstitutionelle Monarchie gefordert wurde. Das konstitutionelle Verfassungsprogramm wurde 1775 zum ersten Mal in der Öffentlichkeit vertreten und bestimmte seitdem die Debatte. (Vgl. Mager 1996, S. 33 f.) Mager interpretiert die Französische Revolution »nicht primär als eine Revolution der Bourgeoisie, sondern des Adels auf seinem Weg von der Noblesse zur Notabilité.« (Mager 1996, S. 40) In der Rousseau-Rezeption taucht immer wieder der Vorwurf auf, dass dieser mit seiner staatstheoretischen Schrift »Vom Gesellschaftsvertrag« den Terror und das Blutvergießen der Jakobiner in der Französischen Revolution und später sogar den der Nationalsozialisten in Deutschland zu verantworten habe. (Vgl. Taureck 2009, S. 137 f.) Wäre es in Anbetracht der obigen Ausführungen nicht plausibler anzunehmen, dass die gesellschaftspolitischen Zustände, die als ungerecht empfunden wurden, zu den gewalttätigen und revolutionären Umwälzungen geführt haben? Demnach wäre nicht die Philosophie Rousseaus die Ursache für die sozialen Unruhen und Umwälzungen, sondern die institutionellen Bedingungen des damaligen französischen Gemeinwesens, die es den Mächtigen erlaubten, trotz hoher, von ihnen verursachter Staatsverschuldung ihre Geltungssucht und Geldgier weiterhin ungehemmt auszuleben und zu befriedigen, wodurch die Unterpriveligierten in emotionale Raserei gerieten. Ein Modell einer gerechten politischen Ordnung, wie der »Gesellschaftsvertrag«, zeigte zumindest theoretisch, dass eine »bessere« Welt möglich wäre und mag dann als intellektuelle Rechtfertigung für den Aufstand gedient haben. 4. Interpretation Die oben abgedruckten Primärtextstellen sind Auszüge aus »Du Contrat Social ou Principe du Droit Politique« (dt. »Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts«), erschienen 1762, kurz »Gesellschaftsvertrag« genannt. Der »Gesellschaftsvertrag« ist ein Auszug aus einem zehn Jahre zuvor begonnenen und verloren gegangenen Werk mit dem Titel »Institutions polititiques«. Darauf weist Rousseau in der Vorbemerkung ausdrücklich und entschuldigend hin. Denn dies erklärt den fragmenthaften Aufbau der Schrift und mögliche argumentative Ungereimtheiten, die <?page no="259"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 260 260 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau eine systematische Interpretation erschweren. Das Werk ist in vier Büchern abgefasst, die relativ kurze Unterkapitel haben. Das erste Buch thematisiert die philosophischen Grundvoraussetzungen zur Begründung des Gesellschaftsvertrages und worin er besteht. Das zweite Buch handelt von der Gesetzgebung und wem sie zukommt. Im dritten Buch erörtert Rousseau, wer die Gesetze ausführt, also die Regierungsformen und im vierten Buch diskutiert er institutionelle Einrichtungen des Römischen Reiches in Bezug auf seinen Gesellschaftsvertrag und geht auf die Bedeutung der Religion für den Staat ein. Unmittelbar zu Beginn des ersten Kapitels nennt Rousseau den Gegenstand, den er als faktisches Problem identifiziert, das er durch seine Theorie lösen will: »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.« (Primärtext) Das Problematische in dieser Aussage steckt in der Annahme, dass es der Natur des Menschen entspräche, frei zu sein, aber er sein Dasein überwiegend in Sklaverei und Unterdrückung fristete. Die gesellschaftliche Wirklichkeit bestehe aus Herr-Knecht-Verhältnissen. Aber unter der Voraussetzung, dass »alle gleich und frei geboren sind« (Rousseau, GV, S. 7) 9 , sei es ungerecht, wenn sich einer für den Herrn des anderen hielte und aus einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis (denn was wäre der Herr ohne den Knecht? ) der eine nur die Vorteile genießen würde und der andere das Nachsehen habe. Rousseau sieht zwei Möglichkeiten, wie die Menschen aus diesem ungerechten Zustand auf Dauer herauskommen könnten. Erstens durch eine bestimmte Erziehung, die Gegenstand seiner pädagogischen Schrift »Émile« ist. Zweitens durch eine bestimmte institutionelle Einrichtung des Gemeinwesens, welche im »Gesellschaftsvertrag« beschrieben und begründet wird. Darin möchte er untersuchen, »ob es in der bürgerlichen Ordnung irgendeine rechtmäßige und sichere Regel für das Regieren geben kann; dabei werden die Menschen genommen, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können. Ich werde mich bemühen, in dieser Untersuchung das, was das Recht zuläßt, stets mit dem zu verbinden, was der Vorteil vorschreibt, damit Gerechtigkeit und Nutzen nicht getrennt gefunden werden.« (Primärtext) Zwei Ziele sollen demnach durch die Theorie erreicht werden: erstens eine gerechte Gesellschaftsordnung, in der zweitens alle einen persönlichen Nutzen haben. Was meint Rousseau damit? Es scheint offensichtlich, dass in Gesellschaften, in denen es Herren und Sklaven gibt, zumindest die Herren einen starken persönlichen Nutzen aus dem Unterdrückungsverhältnis ziehen. Um diese Gesellschaftsordnung zu rechtfertigen, wurden verschiedene Argumente gebildet, wie die natürliche Ungleichheit der Menschen bei den griechischen Philosophen oder das natürliche Recht des Stärkeren. Diese Argumente nimmt Rousseau in den ersten Kapiteln des ersten Buches auseinander. Anhänger einer hierarchischen Gesellschaftsordnung können sich nicht vorstellen, dass persönlicher Nutzen möglich ist, wenn 9 Zitate aus Rousseaus »Vom Gesellschaftsvertrag« sind im Folgenden mit »GV« als Kürzel der Ausgabe von 1996 angegeben. <?page no="260"?> 4. Interpretation 261 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 261 alle Gesellschaftsmitglieder gleichberechtigt sind und keiner den anderen übervorteilen darf. Rousseau muss für die Vorstellung argumentieren, dass in einer gerechten Gesellschaft der persönliche Nutzen nicht verschwindet. Nur wenn er beweisen kann, dass Gerechtigkeit und Nutzen sich nicht ausschließen, hat er eine Chance, mit seiner Theorie Gehör zu finden. Wie argumentiert Rousseau, um die herrschenden Gesellschaftsverhältnisse als »ungerecht« zu entlarven? Die tragende Säule seiner Staats- und Gesellschaftstheorie ist die Annahme der natürlichen Freiheit des Menschen. 10 »Die allen gemeinsame Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen. Dessen oberstes Gesetz ist es, über seine Selbsterhaltung zu wachen, seine erste Sorge ist diejenige, die er sich selber schuldet, und sobald der Mensch erwachsen ist, wird er so sein eigener Herr, da er der einzige Richter über die geeigneten Mittel zu seiner Erhaltung ist.« (Rousseau, GV, S. 6) Rousseau greift hier das Hobbes’sche Verständnis auf, wonach der Mensch von Natur aus nach Selbsterhaltung und Genuss strebe. (Vgl. Hobbes, Lev, S. 94, S. 131) Für Hobbes ist es ein natürliches Recht des Menschen, sich mit allen Mitteln und ungehindert selbst zu erhalten. Dies sei Freiheit. Was den Menschen von anderen Lebewesen unterscheide, sei seine Vernunft, die im Dienst seiner Selbsterhaltung stehe. Im Interesse seiner Selbsterhaltung sei es, sich um Frieden mit seinen Mitmenschen zu bemühen und alles dafür zu tun, Frieden zu erhalten. Die Friedenspflicht beschränke seine ungehinderte natürliche Freiheit, jedes Mittel zu seinem Selbsterhalt zu ergreifen und gebiete ihm, auf sein natürliches Recht auf alles zu verzichten. Zudem setze die Friedenspflicht der Menschen voraus, sich als Gleiche anzuerkennen und kein natürliches Recht auf Unterwerfung zu postulieren. Diese Spannung von natürlichem Egoismus und vernünftiger Rücksichtnahme auf die anderen im eigenen Interesse, die Hobbes so klar auf den Punkt gebracht hat, sowie die Voraussetzung- - trotz natürlicher Verschiedenheit-- von Gleichwertigkeit ausgehen zu müssen 11 , werden von Rousseau aufgenommen und weitergedacht. Während Montesquieu die Idee eines fiktiven Gesellschaftsvertrages zur Legitimation von Herrschaft (siehe Hobbes und Locke) überhaupt nicht aufgreift, steht der Gesellschaftsvertrag bei Rousseau im Zentrum seiner staatstheoretischen Überlegungen. Er ist für ihn die einzige legitime Grundlage für eine friedliche Gesellschaftsordnung. »Da kein Mensch von Natur aus Herrschaft über seinesgleichen ausübt und da Stärke keinerlei Recht erzeugt, bleiben also die Vereinbarungen als Grundlage jeder rechtmäßigen Herrschaft unter Menschen.« (Rousseau, GV, S. 10) Bei Hobbes unter- 10 Im »Diskurs über die Ungleichheit« hat Rousseau ausführlich die natürliche Freiheit des Menschen und den Naturzustand abgehandelt, sodass er im »Gesellschaftsvertrag« weniger erklärend darauf eingeht, sondern die Kenntnis des »Diskurs« voraussetzt. 11 Gerade die natürliche Verschiedenheit der Menschen in Stärke und Begabung führten zu kriegerischen und ungerechten Verhältnissen. Erst wenn durch Vertrag und Recht alle gleich würden, sei die Grundlage für gesellschaftlichen Frieden und Freiheit aller geschaffen. Ohne Rechtsgleichheit keine Freiheit. (Vgl. Rousseau, GV, S. 26) <?page no="261"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 262 262 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau werfen sich alle Menschen durch den Gesellschaftsvertrag dem Leviathan. Bei Locke unterwerfen sich die Gesellschaftsmitglieder durch eine ursprüngliche Übereinkunft (Gesellschaftsvertrag) der Mehrheitsregel. Mit welchem Ziel schließen bei Rousseau die Gesellschaftsmitglieder einen Gesellschaftsvertrag? Einen Vertrag zu schließen, scheint Rousseau nur dann sinnvoll, wenn die Vertragspartner einen gegenseitigen Nutzen davon haben. »Zu behaupten, daß ein Mensch sich umsonst hergäbe, ist etwas Ungereimtes und Unverständliches; ein solcher Akt ist null und nichtig, schon allein deshalb, weil derjenige, der ihn vollzieht, nicht voll bei Verstand ist. Das von einem ganzen Volk behaupten heißt ein Volk von Wahnsinnigen voraussetzen; Wahnsinn schafft kein Recht.« (Rousseau, GV, S. 11) Während bei Hobbes die Menschen durch den Gesellschaftsvertrag ihre natürliche Freiheit vollkommen abgeben und dem absoluten Souverän übertragen, bei Locke die Gesellschaftsmitglieder auf einen Teil ihrer Freiheit insoweit verzichten, indem sie ihr natürliches Recht auf Selbstjustiz an eine legislative Gewalt übertragen, aber in allen Angelegenheiten, für die kein allgemeines Gesetz erlassen wurde, ihre freie Selbstbestimmung behalten, muss nach Rousseau die Freiheit den Gesellschaftsmitgliedern durch den Gesellschaftsvertrag vollkommen erhalten bleiben. »Auf seine Freiheit verzichten, heißt auf seine Eigenschaft als Mensch, auf seine Menschenrechte, sogar auf seine Pflichten verzichten.-… Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen; seinem Willen jegliche Freiheit nehmen heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen.« (Rousseau, GV, S. 11) Die Natur des Menschen ist seine Freiheit, d. h. seine freie Selbstbestimmung. Nur wenn er aus Freiheit und selbstbestimmt handelte, könne er überhaupt für sein Handeln sittlich verantwortlich gemacht werden. Freie Selbstbestimmung sei die Voraussetzung für moralisch gutes Handeln. Einen Menschen zu versklaven und ihm damit seiner Freiheit zu berauben, ist für Rousseau durch kein Argument zu rechtfertigen. Genau darin liegt für ihn die Ungerechtigkeit der herrschenden Verhältnisse. Es mag verständlich sein, dass ein Mensch ein Interesse daran habe, einen anderen für seinen persönlichen Nutzen auszubeuten und zu unterdrücken, aber er habe kein Recht dazu. »Deshalb ist, von welcher Seite man die Dinge auch betrachtet, das Recht auf Sklaverei nichtig, nicht nur weil es widerrechtlich, sondern auch weil es sinnlos ist und nichts bedeutet. Die Wörter Sklaverei und Recht stehen im Widerspruch zueinander, sie schließen sich gegenseitig aus. Die folgenden Worte, unabhängig davon, ob sie das Verhältnis eines Menschen zu einem anderen oder zu einem Volk betreffen, werden immer gleich sinnlos sein. Ich schließe mit dir einen Vertrag ausschließlich zu deinen Lasten und zu meinen Gunsten, den ich halten werde, solange es mir gefällt, und den du halten wirst, solange es mir gefällt.« (Rousseau, GV, S. 15) Ziel eines Vertrages-- und damit auch des Gesellschaftsvertrages-- sei es, eine rechtmäßige und einvernehmliche Beziehung zwischen den Vertragsleuten herzustellen. Diese <?page no="262"?> 4. Interpretation 263 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 263 beruhe immer auf Übereinkunft und niemals auf Zwang. Erst eine rechtmäßige Beziehung zwischen »Herrscher« und »Beherrschten« erzeuge ein »Volk« mit seinem »Oberhaupt«. »Es wird immer ein großer Unterschied sein, ob man eine Masse unterwirft oder eine Gesellschaft regiert. Wenn zerstreut lebende Menschen nach und nach in die Knechtschaft eines Einzelnen geraten, sehe ich dabei, gleichgültig wie groß ihre Zahl sein mag, nur Sklaven und einen Herrn und nicht ein Volk und sein Oberhaupt; es handelt sich, wenn man will, um eine Anhäufung, nicht um einen Zusammenschluß; es gibt weder ein Gemeinwohl noch einen Staatskörper. Dieser Mensch, mag er auch die halbe Welt unterjocht haben, bleibt immer ein Einzelner; sein Interesse, geschieden von dem der anderen, bleibt immer ein Privatinteresse. Wenn ebendieser Mensch einmal stirbt, hinterläßt er sein Reich zerstreut und zusammenhanglos, wie eine Eiche, von einem Feuer verzehrt, sich auflöst und zu einem Haufen Asche zusammensinkt.« (Rousseau, GV, S. 15) Wodurch wird eine Anhäufung von Menschen zu einem Volk? Für Rousseau ist dies keine Frage von Addition von Einzelnen, die zusammen eine Summe Volk bilden oder eine Frage der Festlegung von Staatsgrenzen, innerhalb derer die Individuen dann Staatsvölker bilden. Sondern es bedürfe einer Verbindung zwischen den Einzelnen, durch die sie zu einem Volk, zu einer Einheit, zu einem Gesellschaftskörper würden. Diese Verbindung sei eine Übereinkunft: der »Gesellschaftsvertrag«. Diese Übereinkunft, durch die sich die Einzelnen zu einer Gesellschaft verbänden (d. h. sich vergesellschaften), müsse gegenüber dem Individuum das Versprechen einlösen, dass es seine natürliche Freiheit, also seine Selbstbestimmung in der Gesellschaft nicht verlieren würde. Rousseau will eine Form des Zusammenschlusses finden, »die mit ihrer ganzen gemeinsamen Kraft die Person und das Vermögen jedes einzelnen Mitglieds verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor.« (Primärtext) Wie löst er dieses theoretische Problem? Indem sich alle völlig (ihre Person und ihre Güter) an das Gemeinwesen entäußerten und sich dem Gemeinwillen unterwürfen. »Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.« (Primärtext) Bis hierher unterscheidet sich der Rousseau’sche Gesellschaftsvertrag kaum vom Hobbes’schen. Der wesentliche Unterschied liegt allerdings darin, dass bei Hobbes der Gemeinwille von einer Einzelperson-- dem Souverän-- bestimmt wird, wodurch sich alle einem Herrscher unterwerfen, und bei Rousseau durch den Gesellschaftsvertrag eine sittliche Gesamtkörperschaft erwächst, »die aus ebenso vielen Gliedern besteht, wie die Versammlung Stimmen hat« (Primärtext). Der Gemeinwille würde also in einer Versammlung ermittelt, an der alle Gesellschaftsmitglieder teilhaben sollten, wodurch jeder innerhalb der Versammwww.claudia-wild.de: <?page no="263"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 264 264 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau lung zum Souverän und außerhalb der Versammlung zum Untertan würde. Eine Gesellschaft, in der das Volk der Souverän und jeder Einzelne kraft seiner Souveränität ein Bürger sei, nennt Rousseau Republik. In einer Republik gebe es kein Gegeneinander. Sie sei ein Gesellschaftsgebilde, in dem sich der Einzelne gegenüber der Öffentlichkeit und die Öffentlichkeit gegenüber dem Einzelnen, von der er ein Teil sei, verpflichtete. Der Staat sei Sachwalter der Öffentlichkeit und stehe damit im Dienst aller. In einer Republik dürfe sich weder der Staat noch die Öffentlichkeit gegen die Einzelnen richten, noch die Einzelnen gegen den Staat bzw. die Öffentlichkeit. Weil die Freiheit aller nur gewahrt werden könne, wenn sich jeder dem Gemeinwillen beuge, dürfe keiner sein Sonderinteresse gegenüber der Allgemeinheit durchsetzen und keiner dürfe seine Rechte als Staatsbürger in Anspruch nehmen, ohne seine Pflichten zu erfüllen. Dies wäre »eine Ungerechtigkeit, deren Umsichgreifen den Untergang der politischen Körperschaft verursachen würde.« (Primärtext) Deshalb dürfe die Körperschaft jeden zwingen, dem Gemeinwillen zu folgen, denn täte sie es nicht, wäre die Grundlage des Gesellschaftsvertrages- - die Bewahrung der Freiheit aller-- zerstört. 12 Der Bestand des Gesellschaftsvertrages hängt also davon ab, dass alle das Gemeinwohl im Auge haben und ihr Sonderinteresse dem Gemeinwillen unterordnen. Warum sollte das funktionieren? Hobbes operiert mit der Furcht. Die Menschen ordneten sich nur dem Gemeinwillen unter, wenn sie Furcht vor der Gewalt des Herrschers hätten. Locke setzt auf die Vernunft, die im Willen der Mehrheit zum Ausdruck komme. Rousseau geht zunächst von einer Verwandlung (wörtlich frz. »change«) des menschlichen Verhaltens aus, wenn dieser vom Naturzustand in den Gesellschaftszustand übertritt. Worin besteht diese Verwandlung? Der Mensch sehe sich gezwungen, im Gesellschaftszustand nach anderen Grundsätzen zu handeln als im Naturzustand, d. h. seine Vernunft zu befragen, bevor er seinen Neigungen Gehör schenke. Aber was ihn dazu zwingt, beantwortet Rousseau nicht direkt. Gemäß seinem Text ist es die vernünftige Einsicht, die den Menschen dazu brächte, vernünftig zu sein. Allerdings sei der Mensch im Naturzustand nicht vernünftig, sondern egoistisch und verwandle sich erst im bürgerlichen Zustand zum vernünftigen Wesen. Rousseau setzt voraus, was erst später entstehen soll. Dieses Argumentationsproblem bemerkt er selbst, wenn er an folgender Stelle feststellt: »Damit ein werdendes Volk die gesunden Grundsätze 12 Diese Rigorosität der Argumentation findet sich in noch krasserer Form im fünften Kapitel des zweiten Buches »Vom Recht über Leben und Tod«, in dem er die Todesstrafe als gerechtfertigt ansieht, um den Staat vor Feinden-- das sind die Bürger, die gegen den Gesellschaftsvertrag verstoßen haben-- zu schützen. (Vgl. Rousseau, GV, S. 37) Rousseau ist dabei allerdings nicht wohl. (Vgl. Rousseau, GV, S. 39) Solche Rigorositäten finden sich auch bei Machiavelli oder Hobbes. Sie haben ihre Ursache allerdings nicht in einem »bösen Willen« der Autoren, sondern sind logische Schlüsse aus ihren Argumentationen. Hierin zeigt sich die Grenze logischen Schließens, das aus ethischer Sicht eben auch in Fehlschlüssen münden kann. Deswegen ist es ratsam, logische Schlussfolgerungen immer nach ethischen Maßstäben kritisch zu überprüfen und keiner Theorie uneingeschränkte Gültigkeit beizumessen. <?page no="264"?> 4. Interpretation 265 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 265 der Politik schätzen und den grundlegenden Ordnungen der Staatsraison folgen kann, wäre es nötig, daß die Wirkung zur Ursache werde, daß der Gemeinsinn, der das Werk der Errichtung sein soll, der Errichtung selbst vorausgehe und daß die Menschen schon vor den Gesetzen wären, was sie durch sie werden sollen.« (Rousseau, GV, S. 46) Genau wie Locke setzt Rousseau zumindest an dieser Stelle auf die natürliche Vernünftigkeit des Menschen, ohne dafür einen einleuchtenderen Grund anzugeben. Rousseau hat an einigen Stellen Widersprüche produziert, die ein klares Verständnis seines Werkes erschweren. So auch beim zentralen theoretischen Anspruch seines Gesellschaftsvertrages, die natürliche Freiheit des Einzelnen zu erhalten. Ziel des Gesellschaftsvertrages sei es, indem sich jeder mit allen vereinigte, er nur sich selbst gehorche und genauso frei bliebe wie zuvor. Im achten Kapitel des ersten Buches macht Rousseau aber deutlich, dass durch die Vereinigung zur Republik die Menschen eben nicht frei blieben wie zuvor. »Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt.« (Primärtext) Das ist genau das, was einen egoistischen Menschen von einer gerechten Gesellschaft abschreckt. Wie versucht Rousseau davon zu überzeugen, dass die bürgerliche Freiheit attraktiver ist als die natürliche? Die natürliche Freiheit sei das unbegrenzte Recht auf alles, das auf persönlichem Begehren und individueller Stärke beruhe. Die bürgerliche Freiheit sei der Gehorsam gegenüber selbstgegebenen Gesetzen, die auf Vernunft und dem Gemeinwillen beruhten. Nun erklärt Rousseau die natürliche Freiheit für Sklaverei, weil sie dem Antrieb des reinen Begehrens folge und die bürgerliche Freiheit sei überhaupt erst Freiheit im menschlichen Sinne, weil er durch sie zu seinen Leidenschaften Distanz erhielte und für sein Verhalten eine Wahl habe (deshalb auch »sittliche« Freiheit) und nicht Getriebener sei, der wie ein Tier seinen Instinkten und Leidenschaften ausgeliefert wäre. Im Naturzustand, in dem die natürliche »Freiheit« herrschte, wäre der Mensch also noch ein Tier. Erst durch den bürgerlichen Stand würde der Mensch zum Menschen. Obgleich der Mensch im bürgerlichen Stand sich »mehrerer Vorteile beraubt, die er von Natur aus hat, gewinnt er dadurch so große andere, seine Fähigkeiten üben und entwickeln sich, seine Vorstellungen erweitern, seine Gefühle veredeln sich, seine ganze Seele erhebt sich zu solcher Höhe, daß er-- würde ihn nicht der Mißbrauch dieses neuen Zustands oft unter jenen Punkt hinabdrücken, von dem er ausgegangen ist-- ununterbrochen den glücklichen Augenblick segnen müßte, der ihn für immer da herausgerissen hat und der aus einem stumpfsinnigen und beschränktem Lebewesen (wörtlich frz. »animal«) ein intelligentes Wesen und einen Menschen gemacht hat.« (Rousseau, GV, S. 22) Der Mechanismus des Arguments für die Attraktivität der bürgerlichen Freiheit ist demzufolge eine Herabwürdigung des Menschen im Naturzustand und der natürliwww.claudia-wild.de: <?page no="265"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 266 266 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau chen Freiheit zum Tierischen. Der egoistische Mensch sei ein stumpfsinniges und beschränktes Tier. Es wäre eine Frage der Ehre, sich als menschliches Wesen nicht auf die Stufe eines Tieres zu stellen bzw. stellen zu lassen. Rousseau wollte ursprünglich mit dem Nutzen argumentieren und greift hier auf das Argument der Ehre zurück. Das Nutzenargument greift er allerdings im zweiten Buch im Zusammenhang der Geltung des Gemeinwillens und den Grenzen der souveränen Gewalt wieder auf, wo eine weitere argumentative Ungereimtheit zu entdecken ist. Demnach sei die wichtigste Sorge des Einzelnen seine Selbsterhaltung. Die politische Körperschaft verfüge über eine unumschränkte Gewalt, den Gesellschaftsvertrag durchzusetzen. Das ist die Idee des Gewaltmonopols des Staates, die Rousseau von Hobbes übernimmt. Allerdings entäußere sich der Einzelne nicht total an die Gesellschaft, sondern nur den Teil, dessen Gebrauch für die Gemeinschaft von Bedeutung sei, worüber aber allein der Souverän entscheide (vgl. Rousseau, GV, S. 33), was im Widerspruch zum sechsten Kapitel des ersten Buches steht, in dem er eine »völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes« (Primärtext) fordert. Um das Totalitäre aus dieser ursprünglichen Forderung zu nehmen, sei das Individuum sowohl »öffentliche Person« als auch »Privatperson«. Als Privatperson behielte er das natürliche Recht, dessen er sich im Naturzustand erfreue. »Alle Dienste, die ein Bürger dem Staat leisten kann, muß er ihm leisten, sobald der Souverän es verlangt; der Souverän kann aber von sich aus die Untertanen nicht mit einer für die Gemeinschaft unnötigen Kette belasten; er kann es nicht einmal wollen: denn unter dem Gesetz der Vernunft geschieht nichts ohne Grund, ebensowenig unter dem der Natur.« 13 (Rousseau, GV, S. 33) Die Verpflichtungen, die das Indivdiuum gegenüber der Gemeinschaft als Bürger und Untertan eingehe, beruhten strikt auf Gegenseitigkeit, wodurch jeder profitiere. »Warum hat der Gemeinwille immer recht, und warum wollen alle das Glück eines jeden, wenn nicht deshalb, weil es keinen gibt, der sich dieses Wort Jeder nicht zu eigen macht und der nicht an sich denkt, wenn er für alle stimmt? Das beweist: Gleichheit und der von ihr erzeugte Begriff von Gerechtigkeit rühren von dem Vorzug her, den jeder sich selbst gibt, und folglich von der Natur des Menschen«. (Rousseau, GV, S. 33) Mit der Unterscheidung von »Gemeinwille« und »Gesamtwille« wird das theoretische Grundproblem des Politischen thematisiert, wie aus einer Vielfalt von Ideen, Wünschen, Interessen und Meinungen eine einheitliche Entscheidung werden kann. Wie für Hobbes und Locke ist auch für Rousseau die Gesellschaft ein »Körper«, der aus den Einzelnen besteht und der nach einem Willen handelt. Während für Locke der Wille der Gesellschaft als Ganzes durch die Anerkennung und Unterwerfung des Einzelnen unter die Mehrheitsregel hergestellt wird und für Hobbes durch die Anerkennung und Unterwerfung des Einzelnen unter den Willen des absoluten Souveräns, 13 Hier übernimmt er die liberale Position von Locke, dass in allen Angelegenheiten, in denen die legislative Gewalt kein Gesetz verabschiedet hat, jeder sein Recht auf »Selbstjustiz« behalte. <?page no="266"?> 4. Interpretation 267 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 267 wird bei Rousseau der Gemeinwille durch die Mitbestimmung aller in einer Versammlung erzeugt. Dies ergibt sich zwingend aus der Forderung des Gesellschaftsvertrages, dass jedes Gesellschaftsmitglied über seine freie Selbstbestimmung, die es im Naturzustand habe, auch in der Gesellschaft weiterhin verfügen soll. Deshalb sei die Souveränität unveräußerlich (2. Buch, 1. Kap.), unteilbar (2. Buch, 2. Kap.) und könne niemals irren (2. Buch, 3. Kap.). Dass die Souveränität bei Rousseau unveräußerlich ist, bedeutet, dass sie nicht an einen Einzelnen (wie den Herrscher bei Hobbes) oder eine Gruppe (wie die Legislative bei Locke) übertragen werden kann, ohne ihren Sinn zu verlieren. Niemand könne seine Souveränität »übertragen«. Entweder sei man souverän oder man sei es nicht. Rousseau hält es für unmöglich, dass einer oder wenige stellvertretend für alle den Gemeinwillen bilden, geschweige denn das Gemeinwohl erkennen können. Der Horizont der Repräsentanten würde nicht ausreichen, zu wissen, was für alle und jeden Einzelnen in der Gesellschaft gut wäre. Aber wissen die Einzelnen, was dem Gemeinwohl dient? Rousseau geht davon aus, dass alle Einzelinteressen etwas Gemeinsames hätten. »Das Gemeinsame nämlich in diesen unterschiedlichen Interessen bildet das gesellschaftliche Band, und wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, in dem alle Interessen übereinstimmen, könnte es keine Gesellschaft geben.« (Rousseau, GV, S. 27; vgl. auch 4. Buch, 1. Kap., S. 112-114) Dass die Souveränität unteilbar ist, bedeutet, dass er nur allgemein sein kann, wenn er durch alle bestimmt wurde. »Denn der Wille ist entweder allgemein 14 , oder er ist es nicht; er ist derjenige des Volkskörpers oder nur der eines Teils. Im ersten Fall ist dieser erklärte Wille ein Akt der Souveränität und hat Gesetzeskraft. Im zweiten Fall ist er nur ein Sonderwille oder ein Verwaltungsakt; es handelt sich bestenfalls um eine Verordnung.« (Rousseau, GV, S. 28) Dass der Gemeinwille niemals irren kann, liegt an seiner Art des Zustandekommens und seiner Allgemeinheit. Der Gemeinwille sei nicht unbedingt ein vernünftiger Wille, sondern ein Wille, der sich aus einem Verfahren rechtfertige (legitimiert), von dem keiner ausgeschlossen sei. Deshalb folgt aus der Allgemeinheit eines in dieser Weise ermittelten Gemeinwillens nicht, »daß die Beschlüsse des Volkes immer gleiche Richtigkeit haben. Zwar will man immer sein Bestes, aber man sieht es nicht immer. Verdorben wird das Volk niemals, aber oft wird es irregeführt, und nur dann scheint es das Schlechte zu wollen.« (Rousseau, GV, S. 30) Um die Besonderheit des Gemeinwillens herauszustellen, unterscheidet Rousseau diesen vom Gesamtwillen. Der Gesamtwille (»volonté de tous«) ist demnach eine Summe von Sonderwillen und beruht auf Privatinteressen. Der Gemeinwille (»volonté générale«) zielt auf das Gemeinwohl ab und resultiert aus dem Gemeinsamen der Einzelmeinungen. Dass der Gemeinwille aus den Einzelwillen aller ermittelt werden soll, zeigt folgendes Zitat: »(A)ber nimm von ebendiesen (Sonderwillen, M. K.) das Mehr und das Weniger weg, 14 Damit ein Wille allgemein sei, ist es nicht immer nötig, daß er einstimmig sei, aber es ist nötig, daß alle Stimmen gezählt werden; jeder förmliche Ausschluß zerstört die Allgemeinheit. (Anmerkung von Rousseau) <?page no="267"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 268 268 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau das sich gegenseitig aufhebt, so bleibt als Summe der Unterschiede der Gemeinwille.« (Rousseau, GV, S. 31) Rousseau ist überzeugt, dass die Einzelnen für sich eine Meinung haben, die gemeinwohltauglich ist. »Wenn die Bürger keinerlei Verbindung untereinander hätten, würde, wenn das Volk wohlunterrichtet entscheidet, aus der großen Zahl der kleinen Unterscheide immer der Gemeinwille hervorgehen, und die Entscheidung wäre immer gut.« (Rousseau, GV, S. 31) Sobald die Bürger anfingen, sich in ihren Privatinteressen zu organisieren und Interessengruppen oder Parteien zu bilden, richteten sie sich als Interessengruppe bzw. Partei gegen das Allgemeininteresse und damit gegen das Gemeinwohl. »Um wirklich die Aussage des Gemeinwillens zu bekommen, ist es deshalb wichtig, daß es im Staat keine Teilgesellschaften gibt und daß jeder Bürger nur seine eigene Meinung vertritt.« (Rousseau, GV, S. 31) In der Rousseau’schen Republik dürfte es keine Parteien und Interessengruppen geben, weil sie darauf abzielen, sich Sondervorteile auf Kosten der Allgemeinheit zu verschaffen und nicht das Gemeinwohl im Auge haben. Die Überlegungen Rousseaus zum Einzelwillen und zum Sonderwillen im Verhältnis zum Gemeinwillen sind logisch schwer nachvollziehbar. Einerseits macht er einen qualitativen Unterschied zwischen Gemeinwillen (Gemeininteresse) und Gesamtwillen (Summe der Privatinteressen). Andererseits beruht der Gemeinwille aber auf nichts anderem als dem Einzelwillen- - zwar den Einzelwillen aller, aber sind diese nichts anderes als die Summe von Privatinteressen bzw. Sonderwillen? In einer Anmerkung spezifiziert Rousseau, dass das Gemeininteresse durch die unterschiedlichen Interessen überhaupt erst spürbar würde. (Vgl. Rousseau, GV, S. 31) Wagen wir ein Denkexperiment: Es gibt eine Republik, die aus 500 Personen besteht. Man braucht eine Entscheidung zur Müllentsorgung. Jeder ist aufgefordert, sich eine Meinung zu dieser Problematik zu bilden, ohne vorher mit anderen darüber zu diskutieren und sich in seinem Interesse in der Sache zu organisieren. Er formuliert seine Meinung auf einem Papier und bringt dieses mit in die Versammlung. Dort werden alle Einzelmeinungen zum Thema Müllentsorgung vorgetragen. Wie sollte daraus ein »Gemeininteresse« ermittelt werden? Man würde ähnliche Meinungen gruppieren und so möglichweise die Extreme von der breiten Mitte scheiden. In diesem Verfahren würde es um die Suche des Gemeinsamen in den Einzelmeinungen gehen. Ohne die Annahme, dass sich in den persönlichen Willensäußerungen etwas Gemeinsames finden lässt, wäre Rousseaus Theoriegebäude hinfällig. Er unterscheidet Gemeinwillen und Gesamtwillen deshalb, weil aus der Summe der Einzelinteressen ein mehrheitliches Gemeininteresse herausgefiltert werden muss. Der Gemeinwille ist dann kleiner als die Summe der Einzelwillen und er ist einheitlich. 15 »Man kann daraus ersehen, daß weniger die Zahl 15 Der Gemeinwille sei eine Stimme der Mehrzahl, wie er im vierten Buch, 2. Kapitel (vgl. Rousseau, GV, S. 116) nochmals betont. Dieser Mehrheitswille unterscheidet sich allerdings vom Mehrheitswillen bei Locke, weil er bei Rousseau aus der Ermittlung des Gemeinsamen aus allen Willen resultiert und bei Locke handelt es sich um einen Mehrheitswillen, der aus einer Abstimmung innerhalb eines <?page no="268"?> 4. Interpretation 269 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 269 der Stimmen als das sie einigende Gemeininteresse den Willen allgemein macht: denn bei dieser Einrichtung unterwirft sich jeder notwendigerweise den Bedingungen, die er den anderen auferlegt; bewundernswerter Einklang von Vorteil und Gerechtigkeit.« (Rousseau, GV, S. 34) Gerecht wäre demnach die Meinung, die alle (außer die Extreme) in einer Sache teilen. Und dieses Gemeinsame soll ein Vorteil sein, den zuvor jeder für sich formuliert hat und der bei allen Einzelwillen als ein Interesse unter mehreren vorkommt. Was könnte das in unserem Beispiel sein? »Mein Interesse ist es, dass mein Müll entsorgt wird.« Dieses Interesse könnte bei nahezu allen Einzelwillen auftauchen. Aber die entscheidende Frage ist doch, wie der Müll entsorgt werden soll. Unentgeltlich? Umweltfreundlich? Durch ein privates oder öffentliches Unternehmen? Wo stehen die Entsorgungsanlagen? Da beim kompletten Vorgang der Müllentsorgung nicht alle gleichermaßen betroffen sind (Arbeits- und Entgeltbedingungen für die Müllabfahrer; Standort der Müllverbrennungsanlagen und Belastung der Anwohnergebiete durch Schadstoffemissionen etc.), geht es in dieser Angelegenheit nicht ausschließlich um das Gemeininteresse und das Gemeinwohl, sondern auch um Privatinteressen und persönliches Wohl, das gegen das Gemeininteresse geschützt werden müsste. Denn nach Rousseau »(hat) der Souverän niemals das Recht, einen Untertan stärker zu belasten als einen anderen, weil er nicht mehr zuständig ist, sobald eine Angelegenheit eine besondere wird.« (Rousseau, GV, S. 35) Dass der Müll entsorgt, die Bildung der Kinder und die Gesundheitsversorgung gewährleistet werden muss, mögen zwar im Interesse aller und damit allgemeine Entscheidungen sein, sie sind aber auch unstrittig. Die Frage von Gerechtigkeit stellt sich erst im Zusammenhang der Umsetzung einer politischen Entscheidung, wenn die Individuen in ungleicher Weise von Maßnahmen betroffen sind. Wer wäre zuständig, wenn eine Angelegenheit eine besondere wird? Die Verwaltung. Obwohl Rousseau eine normative Theorie menschlichen Zusammenlebens entwirft 16 , stellt er durchaus Überlegungen an, sie auch praktisch umzusetzen und dabei an die Ideen von Machiavelli, Locke und Montesquieu anzuknüpfen. Dieser Spagat zwischen der Beschreibung der normativen Zielsetzung der politischen Körperschaft, ihrer institutionellen Ausgestaltung, territorialen Reichweite und der praktischen Regierungs- und Gesetzgebungstätigkeit-- also der Versuch, gesellschaftliche Werte, politische Institutionen, die Bildung einer nationalen Einheit und das konkrete Regierungs- und Verwaltungshandeln in Zusammenhang zu bringen-- ist durchaus verwirrend. gewählten Gremiums hervorgeht, in dem sich auch ein Sonderinteresse durchsetzen kann, das in Bezug auf die Gesamtbevölkerung ein Minderheiteninteresse darstellt. 16 Es handelt sich also um keine »deskriptive« (beschreibende) Theorie, die versucht, die Realität zu erfassen, wie sie ist und diese zu erklären. »Normative« Theorien sind keine Beschreibungen der Wirklichkeit und können auch nicht als »falsch« widerlegt werden, wenn sie in der Wirklichkeit nicht vorkommen. Normative Theorien dienen dazu, eine wünschbare Vorstellung für die Wirklichkeit zu entwickeln und ein Handlungsideal zu sein, das in seiner reinsten Form ohnehin nie erreichbar ist. <?page no="269"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 270 270 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau Um Rousseaus Staats- und Gesellschaftstheorie zu begreifen, muss man nachvollziehen, was er unter der Gesetzgebung, den Gesetzen, dem Gesetzgeber, der Regierung und der Verwaltung versteht und wie dies alles untereinander und letztlich mit dem Gesellschaftsvertrag zusammenhängt. Der Gesellschaftsvertrag ist der Sinn der politischen Körperschaft. Sie wurde gegründet, um jedem seine Selbsterhaltung zu erleichtern, indem jeder von der Kraft der Gemeinschaft profitieren darf. Umgekehrt ist damit verbunden, dass jeder Verpflichtungen gegenüber der politischen Körperschaft zu erfüllen hat. Die normativen Bedingungen zur Erfüllung des Gesellschaftsvertrages sind Freiheit und Gleichheit, die Endzweck jeder Art von Gesetzgebung seien. (Vgl. Rousseau, GV, S. 56) Die natürliche Kraft der Dinge strebe nach Ungleichheit und die Kraft der Gesetze soll dieser entgegenwirken und Gleichheit herstellen. Der Gesellschaftsvertrag gebe der politischen Körperschaft Dasein und Leben und die Gesetze gäben ihr Antrieb und Willen. 17 (Vgl. Rousseau, GV, S. 39) Dass eine politische Gemeinschaft ihr Zusammenleben durch Gesetze regelt, ist eine Grundidee der modernen Staatstheorie, die als Gegenentwurf zur Praxis personaler Herrschaft des Feudalsystems gesehen werden kann. In der Feudalgesellschaft bestimmten Personen mehr oder weniger willkürlich die Regeln des Zusammenlebens. Weil die Gesetze zentraler Bestandteil der Verfassung der Rousseau’schen Staatstheorie sind, müssen wir uns genauer damit befassen. Rousseau unterscheidet verschiedene Arten von Gesetzen: (1) Staatsgesetze (gleichbedeutend mit Grundgesetzen), (2) bürgerliche Gesetze, (3) Strafgesetze, (4) Sitten, Gebräuche und Meinungen. Für seinen Untersuchungsgegenstand sind nur die Staatsgesetze von Bedeutung. Die anderen Gesetzesarten thematisiert er zwar an verschiedenen Stellen und weist ihnen eine Bedeutung innerhalb des Staatsgefüges zu, aber begründen möchte er die Staatsgesetze. Diese regelten das Verhältnis der politischen Gesamtkörperschaft zu sich selbst, das sei die Beziehung des Souveräns zum Staat. (Vgl. Rousseau, GV, S. 59) Diese Grundregelungen zu finden, um damit den Staatskörper zu errichten, traut Rousseau dem Volk nicht zu. »Um die für die Nationen besten Gesellschaftsregeln ausfindig zu machen, bedürfte es einer höheren Vernunft, die alle Leidenschaften der Menschen sieht und selbst keine hat, die keinerlei Ähnlichkeit mit unserer Natur hat und sie dabei von Grund auf kennt, deren Glück von uns unabhängig ist und die gleichwohl bereit ist, sich um unseres zu kümmern; schließlich einer Vernunft, die sich erst im Lauf der Zeit Ruhm erwirbt, in einem Jahrhundert arbeitet und in einem anderen genießen kann. Es bedürfte der Götter, um den Menschen Gesetze zu geben.« (Rousseau, GV, S. 43) 17 Bei Montesquieu bilden die Gesetze die Struktur und die Prinzipien seien Antrieb und Wille der Struktur. <?page no="270"?> 4. Interpretation 271 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 271 Die Götter tun es aber nicht, insofern braucht es einen menschlichen Gesetzgeber. Angesichts der Ungerechtigkeit der Welt sucht Rousseau nach einer theoretischen Lösung für eine gerechte Gesellschaft, die auf den Prämissen Freiheit und Gleichheit aufbaut und verwirklichbar sein soll. Deshalb versucht er, von realistischen Bedingungen auszugehen. Das Ziel einer gerechten Gesellschaft ist das vernünftige menschliche Zusammenleben. Die Vernunft ist allerdings auch die Voraussetzung dafür, eine gerechte Gesellschaft zu errichten. Realistischerweise muss Rousseau aber davon ausgehen, dass die Menschen nicht oder zumindest noch nicht vernünftig sind, sonst würden sie nicht in Herr-Knecht-Verhältnissen leben, aus denen er sie theoretisch befreien muss. Da zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein vernünftiges Volk existiert, aber durchaus einzelne vernünftige weise Menschen, bedarf es dieser, um eine gerechte Gesellschaften zu errichten. Der »Gesetzgeber« ist ein Ausweg aus der Aporie 18 , dass das Volk bereits sein müsste, was es durch den Gesellschaftsvertrag werden sollte: vernünftig. »Der Gesetzgeber ist ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Mann im Staat. Wenn er es schon von seinen Gaben her sein muß, so ist er es nicht weniger durch sein Amt. Dies ist weder Verwaltung noch Souveränität. Dieses Amt, durch das die Republik errichtet wird, findet keinen Eingang in ihre Verfassung. Es ist ein besonderes und höheres Amt, das nichts mit menschlicher Herrschaft gemein hat; wie der, der über Menschen befiehlt, nicht über Gesetze befehlen darf, so darf, wer über Gesetze befiehlt, nicht auch über Menschen befehlen; andererseits würden seine Gesetze als Diener seiner Leidenschaften oft nur seine Ungerechtigkeiten verewigen, er könnte nie vermeiden, daß Sondergesichtspunkte die Heiligkeit seines Werkes entstellten.« (Rousseau, GV, S. 44) Der Gesetzgeber wäre demnach kein künftiger Herrscher, sondern eher eine Art Prophet, der die Grundgesetze der Gesellschaft aus einer quasi göttlichen Eingebung formuliert und nach der Verabschiedung des Gesellschaftsvertrages wieder verschwindet. Inspiriert von Machiavellis Realismus, der übrigens auch darauf hinweist, dass das Glück eines Volkes von einem weisen Gesetzgeber (er nennt dabei Lykurg) abhänge, sieht Rousseau vor, dass ein Gesetzgeber darauf achten müsse, einem Volk angemessene Grundgesetze zu geben, unter denen es in seinem Zustand in der Lage sei, seine Souveränität auszuüben. Es gibt also für Rousseau keine »richtigen Grundgesetze« an sich, die ungeachtet der realen Voraussetzungen überall auf der Welt verwirklicht werden können und sollen. »Wie ein Baumeister vor Errichtung eines großen Gebäudes den Boden betrachtet und prüft, ob er das Gewicht zu tragen in der Lage ist, beginnt der weise Gründer auch nicht damit, gute Gesetze an sich zu verfas- 18 Aporie (griech.) bedeutet die logische Unlösbarkeit eines Problems, das einen Widerspruch in sich enthält. Wörtliche Übersetzungen: Ausweglosigkeit, Ratlosigkeit, Verlegenheit. <?page no="271"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 272 272 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau sen, sondern er prüft zuvor, ob das Volk, dem er sie bestimmt, fähig ist, sie zu tragen.« (Rousseau, GV, S. 47) Rousseau möchte mit seiner Theorie zeigen, dass und wie eine gerechte Gesellschaftsordnung möglich ist. Theoretisch gibt es für ihn eine »richtige Verfassung«. Aber er weiß auch, dass diese nicht überall bedingungslos verwirklichbar wäre. Insofern könnte es praktisch nur Annäherungen geben. »Welches Volk ist also für die Gesetzgebung (im Sinne des Gesellschaftsvertrages, M. K.) geeignet? Dasjenige, das, schon durch einen gemeinsamen Ursprung, durch Interesse oder Übereinkunft verbunden, noch nie das wahre Joch der Gesetze getragen hat; das weder tiefeingewurzelte Gebräuche noch Aberglauben kennt; das nicht fürchtet, durch eine plötzliche Eroberung übermannt zu werden, das, ohne sich an den Streitigkeiten seiner Nachbarn zu beteiligen, jedem von ihnen allein widerstehen kann, und in dem man nicht gezwungen ist, einem Menschen eine größere Bürde aufzuladen, als er tragen kann; das ohne andere Völker auskommen kann und dessen kein anderes Volk bedarf; das weder reich noch arm ist und sich selbst erhalten kann; schließlich dasjenige, das die Festigkeit eines alten mit der Gelehrigkeit eines jungen Volkes vereint. Was das Werk der Gesetzgebung mühselig macht, ist weniger das, was man aufbauen, als das, was man zerstören muß; und was ihren Erfolg so selten macht, ist die Unmöglichkeit, die Einfachheit der Natur und die Bedürfnisse der Gesellschaft vereint zu finden. Alle diese Bedingungen, es ist wahr, finden sich schwerlich beisammen. Man sieht deshalb auch nur wenig gut verfaßte Staaten.« (Rousseau, GV, S. 55) Die Insel Korsika hält Rousseau damals für das einzige für die Gesetzgebung im Sinne des Gesellschaftsvertrages fähige Land in Europa. Rousseau knüpft an die Konstruktion der Machtteilung von Locke und Montesquieu an. Montesquieu unterscheidet drei Vorgänge staatlicher Machtausübung: die Entscheidung, was inhaltlich in einem Staat gelten soll, diese Entscheidung in die Tat umzusetzen und als Drittes diejenigen zu sanktionieren, die gegen die Entscheidung und die geltende Ordnung verstoßen haben. Während bei Rousseau der Gesetzgeber, der die Grundregeln der politischen Körperschaft gibt, außerhalb der Verfassung steht und nach der Errichtung keine Rolle mehr spielen soll, sind Souveränität und Verwaltung Tätigkeiten, die dauerhaft innerhalb der Verfassung ausgeübt werden müssen. Die Souveränität ist das Recht, Gesetze zu erlassen und damit inhaltlich zu bestimmen, welche Ziele und Regeln für alle gelten sollen. Die Souveränität bringe den Willen der Gesamtkörperschaft zum Ausdruck. Ein Gesetz müsse allgemein sein, weil es sich auf alle beziehe und für alle gelte. »Unter der Behauptung, daß der Gegenstand der Gesetze immer allgemein ist, verstehe ich, daß das Gesetz die Untertanen als Gesamtheit und die Handlungen als abstrakte betrachtet, nie jedoch einen Menschen als Individuum oder eine Ein- <?page no="272"?> 4. Interpretation 273 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 273 zelhandlung. So kann das Gesetz wohl bestimmen, daß es Vorrechte geben wird, aber es kann niemandem namentlich welche einräumen; das Gesetz kann verschiedene Klassen von Bürgern schaffen und selbst die Eigenschaften festlegen, die das Recht auf diese Klassen geben, aber es kann nicht diesen oder jenen zur Aufnahme benennen; (…) mit einem Wort, jede Amtshandlung, die sich auf einen individuellen Gegenstand bezieht, gehört nicht zur gesetzgebenden Gewalt.« (Rousseau, GV, S. 40) Sie ist dann kein Gesetz, sondern eine Verordnung. Sie ist kein Akt der Souveränität, sondern der Verwaltung. Kennzeichnend für die Republik ist das Rechtsstaatsprinzip, also dass der Staat durch Gesetze regiert wird, »gleichgültig, unter welcher Regierungsform dies geschieht: weil nur hier das öffentliche Interesse herrscht und die öffentliche Angelegenheit etwas gilt. Jede gesetzmäßige Regierung ist republikanisch«. (Rousseau, GV, S. 41) An dieser Stelle sind wir bei der Bedeutung von Regierung und Verwaltung angelangt. 19 »Jede freie Handlung hat zwei Ursachen, durch deren Zusammenwirken sie zustande kommt, eine moralische, nämlich den Willen, der den Akt vorherbestimmt, und eine physische, nämlich die Macht, die sie ausführt.« (Rousseau, GV, S. 61) Auch in der politischen Körperschaft unterscheidet Rousseau zwischen Kraft und Willen. Der Wille werde in der Legislativen, die Kraft in der Exekutiven ausgeübt. Wozu diese Trennung? Wille und Kraft sind unterschiedliche Seinsformen. 20 Der Wille ist allgemein und abstrakt, er ist Geist. Seine Umsetzung erfolgt in der Wirklichkeit, in der physikalische Bedingungen wirken, die möglicherweise dem Willen entgegenstehen und erfordern, ihn in der Praxis zu interpretieren. Der abstrakte Wille ist nie identisch mit seiner Umsetzung in der Wirklichkeit, außer man will nur, was man erfahrungsgemäß kann, was dann aber nichts mit Gestaltungswillen zu tun hat. Eine »freie Handlung« ist ein realisierter Wille. Weil eine freie Handlung-- und eine politische Handlung ist eine freie Handlung- - aus zwei Ursachen entsteht, die völlig verschiedener 19 Obwohl Rousseau zunächst nur von der legislativen und exekutiven Gewalt spricht, führt er im vierten Buch, 5. Kapitel das »Tribunat« als Instanz ein, das, ähnlich wie das deutsche Bundesverfassungsgericht, die Verfassung nach allen Seiten hin zu schützen habe. »Diese Körperschaft, die ich Tribunat nennen werde, ist die Bewahrerin der Gesetze und der Legislative. Sie dient manchmal dazu, den Souverän vor der Regierung zu schützen, wie dies in Rom die Volkstribunen taten, manchmal dazu, die Regierung gegen das Volk zu schützen, wie es jetzt der Rat der Zehn in Venedig tut, und manchmal dazu, zwischen beiden Seiten das Gleichgewicht zu halten, wie es die Ephoren in Sparta taten.« (Rousseau, GV, S. 133) Zudem diskutiert Rousseau im vierten Buch, 7. Kapitel das »Censoramt«, das über die öffentliche Meinung und das öffentliche Urteil wacht, das eine eigene Gesetzesart darstellt und großen Einfluss auf den »Gemeinwillen«, wie er in jedem Einzelnen steckt, ausübt. Das Censoramt könne für die Bewahrung der Sitten nützlich sein, wenngleich auch nicht die Hebung der Sitten bewirken. (Vgl. Rousseau, GV, S. 139) 20 In der Philosophie würde man von zwei »Entitäten« (Wesenheiten) sprechen. <?page no="273"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 274 274 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau Natur sind, erscheint es Rousseau naheliegend, die politische Körperschaft, die er analog zum organischen Körper versteht, dementsprechend zu organisieren. Die Urheber der Gesetze, Träger der Souveränität seien die Bürger. Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, liegt also in den Händen des Volkes, dessen Souveränität nicht repräsentiert werden kann, denn diese sei unveräußerlich, unteilbar und unfehlbar. Gesetze haben nach Rousseau einen allgemeinen Charakter. Handlungen in der Wirklichkeit sind immer einzelne Akte, die zwar aus dem Allgemeinen motiviert, aber auf reale, physikalische Gegenstände bezogen sind und auf sie einwirken. Wille und Kraft müssen zusammenwirken, weil sonst gar keine Politik gemacht wird. Aber eine exekutive Gewalt ohne unabhängige Legislative wäre Willkürherrschaft, in der Wille und Kraft in einer Instanz zusammenfallen. Eine legislative Gewalt ohne Ausführungsorgan wäre wirklungslos. »Die öffentliche Gewalt braucht deshalb einen eigenen Geschäftsführer, der sie zusammenfaßt und gemäß den Anweisungen des Gemeinwillens ins Werk setzt, der als Verbindung zwischen Staat und Souverän dient, der für die öffentliche Person in gewisser Weise das bewirkt, was beim Menschen die Vereinigung von Seele und Körper hervorbringt. Das ist im Staat der Sinn der Regierung, die fälschlicherweise mit dem Souverän verwechselt wird, dessen Diener sie nur ist. Was ist also eine Regierung? Eine vermittelnde Körperschaft, eingesetzt zwischen Untertan und Souverän zum Zweck des wechselseitigen Verkehrs, beauftragt mit der Durchführung der Gesetze und der Erhaltung der bürgerlichen wie der politischen Freiheit.« (Rousseau, GV, S. 62) Die Regierung ist bei Rousseau die oberste Verwaltung. Regierung und Verwaltung bilden also eine Handlungseinheit. Die bisherigen Überlegungen zur Regierung waren allgemeiner Natur. Nun stellt sich die Frage, welche Formen eine Regierung annehmen kann? Bei der Einteilung der Regierungsformen greift Rousseau auf die aristotelische Staatsformenlehre zurück und unterscheidet zwischen einer demokratischen, aristokratischen und monarchischen Form. Die Regierungsformen spielen in der politischen Theorie Rousseaus allerdings eine untergeordnete Rolle, weil die Regierung keine Souveränität hat. Entscheidend ist, dass die gesetzgebende Gewalt bei der Gesamtheit des Volkes liegt und die Regierungsgewalt auf den Gesetzen beruht, die von der Gesamtkörperschaft erlassen wurden. Begrifflich gesehen ist die Demokratie bei Rousseau eine Regierungsform und die Verfassung des Staates, bei der die Souveränität beim Volk liegt, nennt er Republik. »Der Souverän kann die Regierung zunächst dem ganzen Volk oder dem größten Teil des Volkes anvertrauen dergestalt, daß es mehr mit einem öffentlichen Amt betraute Bürger gibt als solche, die nur Privatleute sind. Diese Form der Regierung nennt man Demokratie.« (Rousseau, GV, S. 70) Entsprechend handelte es sich um eine aristokratische Regierungsform, wenn die <?page no="274"?> 4. Interpretation 275 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 275 Regierung in die Hände einer kleinen Zahl von Bürgern gelegt und um eine monarchische, wenn nur eine einzige Person mit dem öffentlichen Amt der Regierung betraut würde. (Vgl. Rousseau, GV, S. 70 f.) Über die Demokratie als Regierungsform sagt Rousseau, dass wenn es ein Volk von Göttern gäbe, es sich demokratisch regieren würde. »Eine so vollkommene Regierung paßt für Menschen nicht.« (Rousseau, GV, S. 74) Warum nicht? Ist es nicht einleuchtend, dass derjenige, der die Gesetze macht, sie auch am besten selbst ausführt und auslegt? Dagegen sprechen für Rousseau zwei Gründe. Erstens wäre dann in Bezug auf sein Republikverständnis Volk und Regierung, d. h. Souverän und Fürst bzw. Legislative und Exekutive identisch, was er grundsätzlich ablehnt, da eine politische Handlung aus Willen und Kraft entsteht und somit Wille und Macht auch im politischen Gemeinwesen institutionell zu trennen wären. Zweitens wenn eine Person befugt wäre, ihren Willen allgemein umzusetzen, dann bestünde die Gefahr, dass ihre Privatinteressen zum allgemeinen Gesetz würden. Deshalb müssten Souveränität (Gesetzgebung) und Regierung (Gesetzesimplementation) strikt getrennt werden, damit sich die Legislative auf die Allgemeinheit ihrer Gesetze konzentrieren könne und die Exekutive auf die Verwirklichung der Gesetze. Dies sind völlig verschiedene Denk- und Begründungsvorgänge einer politischen Handlung. Der Gesetzgeber muss sich überlegen, was allgemein gelten soll, sodass die Freiheit aller gewahrt bleibt und Gerechtigkeit waltet. Der Stoff der Begründung von allgemeinen Gesetzen sind Zielvorgaben (was eine Gemeinschaft inhaltlich errreichen möchte), Werte und Normen (unter welchen Bedingungen sie ihre inhaltlichen Ziele anstrebt). Die Regierung bzw. Verwaltung muss sich überlegen, wie sie die Gesetze konkret umsetzt und in der Wirklichkeit realisiert, sodass ihr normativer Sinn (wie Frieden, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit), den der Gesetzgeber vorgesehen hat, nicht entstellt wird. Der Stoff der Begründung für Regierungshandeln sind die Bedingungen der Wirklichkeit (Widerstand von Interessengruppen; Missbrauch von Maßnahmen; Reaktionen von politischen internationalen Bündnispartnern etc.). Wenn es die Spannungsverhältnisse von Allgemeinheit und Privatinteressen, von Idealen und Maßnahmen, von Anspruch und Wirklichkeit nicht gäbe, wäre überhaupt keine Politik nötig. Hierin liegt die Unvollkommenheit menschlichen Daseins und die Notwendigkeit seiner Gestaltungs- und Regulierungsbedürftigkeit. Wenn die demokratische Regierungsform für das Rousseau’sche Republikmodell nicht infrage kommt, welche Regierungsform sieht er dann dafür als geeignet an? In dieser Frage versucht Rousseau zunächst empirisch (d. h. an der historischen Erfahrung orientiert) zu argumentieren. In Wirklichkeit gäbe es überwiegend Mischformen: »Ein Einzelner bedarf der untergeordneten Beamten, eine Volksherrschaft braucht ein Oberhaupt.« (Rousseau, GV, S. 83) Die reinen Regierungsformen, in denen die Mehrheit der Bürger oder nur ein Einzelner regiere, seien unrealistisch, sie habe es nie gegeben. Er hält auch nichts von der Debatte über die beste Regierungsform: »Man hat zu allen Zeiten viel über die beste Regierungsform gestritten, ohne zu bedenken, daß deren jede in bestimmten Fällen die beste und in anderen Fällen die <?page no="275"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 276 276 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau schlechteste ist.« (Rousseau, GV, S. 71) So wäre die Größe eines Staates eine Bedingung, die für oder gegen eine bestimmte Regierungsform spräche. Demnach eignete sich die Demokratie als Regierungsform eher für kleine, die Aristokratie für mittelgroße und die Monarchie für große Staaten. Vom Gesichtspunkt der Effektivität wäre der monarchischen Regierungsform der Vorzug zu geben. (Vgl. Rousseau, GV, S. 73) Allerdings zeige die Erfahrung überwiegend Missbrauch der königlichen Macht gegenüber dem Gemeinwohl. (Vgl. Rousseau, GV, S. 77 ff.) Rousseau ist zudem, wie Montesquieu, davon überzeugt, dass die Regierungsform mit den klimatischen und natürlichen Bedingungen eines Landes zusammenhänge. (Vgl. Rousseau, GV, S. 86) Rousseau will die Frage der besten Regierungsform nicht beantworten. 21 »Wenn man danach fragt, was absolut gesehen die beste Regierungsform ist, stellt man eine so unlösbare wie unbestimmte Frage; oder sie hat, wenn man so will, ebenso viele richtige Lösungen, wie es mögliche Kombinationen gibt in den absoluten und relativen Zuständen der Völker.« (Rousseau, GV, S. 91) Die Inspiration durch Machiavelli und Montesquieu ist hier unverkennbar. Beide Denker suchten nicht nach der theoretisch »besten Verfassung«, sondern nach den Faktoren, die einen Staat stabilisieren. Rousseau wandelt die Frage der »besten Regierungsform« ab in die Frage der »guten Regierung«. »Wenn aber jemand fragen würde, woran man erkennen kann, daß ein gegebenes Volk gut oder schlecht regiert wird, wäre das etwas anderes, und die Frage ließe sich tatsächlich beantworten.« (Rousseau, GV, S. 91) Ihm geht es also darum, was eine Regierung- - egal in welcher Form- - für das Gemeinwohl erreicht habe. 22 Und was soll der Indikator sein, um die Güte (d. h. Qualität) des Zustands zu messen, den eine Regierung durch ihr Handeln verursacht hat? »Ich meinerseits staune immer, daß man ein derart einfaches Kennzeichen verkennt oder es in böser Absicht nicht kennen will. Was ist der Zweck der politischen Vereinigung? Die Erhaltung und das Gedeihen ihrer Glieder. Und welches ist das sicherste Kennzeichen, daß sie erhalten werden und gedeihen? Ihre Zahl und ihre Bevölkerung. Sucht also jenes so umstrittene Kennzeichen nicht anderswo. Ist alles übrige gleich, dann ist diejenige Regierung unfehlbar die bessere, unter der sich die Bürger 21 Im vierten Buch, 6. Kapitel behandelt Rousseau sogar die Möglichkeit einer zeitlich befristeten Diktatur. Sollten Ereignisse eintreten, in denen die Gesetze ein Hindernis darstellten und dem Staat der Untergang drohe, »dann ernennt man einen obersten Machthaber, damit dieser alle Gesetze zum Schweigen bringt und für einen Augenblick die souveräne Gewalt außer Kraft setzt; in einem solchen Augenblick ist der Gemeinwille nicht zweifelhaft, und es ist augenscheinlich die erste Absicht des Volkes, daß der Staat nicht untergehen soll. Bei diesem Vorgehen hebt das Aussetzen der Legislative diese nicht auf; der Beamte, der sie zum Schweigen bringt, kann sie nicht reden machen, er beherrscht sie, ohne sie vertreten zu können; er kann alles machen mit Ausnahme von Gesetzen.« (Rousseau, GV, S. 135) Der Auftrag des Diktators solle von sehr kurzer Dauer und ohne Verlängerungsmöglichkeit sein. (Vgl. Rousseau, GV, S. 138) 22 In der Politikwissenschaft spricht man in diesem Zusammenhang von »Outputlegitimation« einer Regierung oder eines Regierungssystems. <?page no="276"?> 4. Interpretation 277 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 277 ohne fremde Mittel, ohne Einbürgerungen und Kolonien besser ausbreiten und vermehren: diejenige, unter der ein Volk weniger wird und abnimmt, ist die schlechtere. Statistiker, jetzt seid ihr daran: zählt, meßt und vergleicht.« (Rousseau, GV, S. 91) Da es sich beim »Gesellschaftsvertrag« um eine normative Theorie mit hypothetischem Charakter handelt, die aus vernünftigen Erwägungen und nicht aus realer Notwendigkeit geboren wurde, kann man nicht erwarten, dass sie sich ohne weiteres realisieren ließe und dauerhaft halten könnte. Ohnehin gebe es keine politische Ordnung, die von ewiger Dauer sei. »Wenn wir eine dauerhafte Einrichtung schaffen wollen, sollten wir nicht davon träumen, sie ewig zu machen! (…) Die politische Körperschaft beginnt so gut wie der menschliche Körper von Geburt an zu sterben und trägt die Keime ihrer Zerstörung in sich. (…) Die Verfassung des Menschen ist ein Werk der Natur, die des Staates ein Werk der Kunst. (…) Auch der am besten verfaßte (Staat, M. K.) wird enden, aber später als andere, wenn nicht ein unvorhergesehenes Unglück seinen Untergang vor der Zeit herbeiführt.« (Rousseau, GV, S. 96) So, wie man sich bemühen könne, den eigenen Körper bei Gesundheit zu erhalten und ein möglichst langes Leben zu führen, könnten die Bürger dazu beitragen, die politische Körperschaft möglichst lange am Leben zu erhalten. Dazu sei es nötig zu wissen, wodurch die politische Körperschaft gefährdet sei (Ursachen von Krankheiten) und welches ihr lebenswichtigstes Organ sei, auf dessen Gesundheit die Bürger besonders achten müssten. »Die Grundlage des politischen Lebens liegt in der souveränen Gewalt. Die Legislative ist das Herz des Staates, die Exekutive sein Gehirn, das allen seinen Gliedern Bewegung verleiht. Das Gehirn kann gelähmt sein und das Individuum doch weiterleben. Ein Mensch bleibt geistig unterentwickelt und lebt: aber sobald das Herz aufhört zu schlagen, ist das Lebewesen tot. Der Staat wird nicht durch die Gesetze erhalten, sondern durch die gesetzgebende Gewalt.« (Rousseau, GV, S. 97) Die legislative Gewalt und die mit ihr verbundene Souveränität müsse geschützt werden. Wodurch würde die Souveränität gefährdet? Wovor müsste die Legislative geschützt werden? »Wie der Sonderwille unaufhörlich gegen den Gemeinwillen handelt, so lehnt sich die Regierung ununterbrochen auf gegen die Souveränität.« (Rousseau, GV, S. 93) Es sei der Egoismus der Individuen, der eine Gefahr für die politische Körperschaft darstelle: der Bürger wolle als Souverän seine Privatinteresse allgemein durchsetzen und der Fürst (der oberste Beamte) als Regierung wolle die Souveränität an sich reißen, um dann dasselbe zu tun. Die natürliche Entwicklung neige zum Egoismus und zur Ungleichheit, so wie der menschliche Körper zur Faulheit, Sucht und Völlerei. Sowohl zum Erhalt der persönlichen Gesundheit als auch zum Erhalt der politischen Körperschaft seien Anstrengungen und Überwindungen erforderlich. Deshalb sei die Tugend das grundlegende Prinzip der Republik, bei der <?page no="277"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 278 278 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau sich Rousseau ausdrücklich auf Montesquieu beruft. (Vgl. Rousseau, GV, S. 73) Wichtigstes Schutzschild der Legislative gegen eine Regierung, die ständig nach der Souveränität trachte, sei das versammelte Volk. »Es genügt nicht, daß das versammelte Volk der Verfassung des Staates einmal dadurch festgelegt hat, daß es ein Gesetzeswerk in Kraft setzte; es genügt nicht, daß es eine immerwährende Regierung eingesetzt oder ein für allemal Vorsorge für die Wahl der Beamten getroffen hat. Neben außerordentlichen Volksversammlungen, die durch unvorhersehbare Fälle nötig werden können, bedarf es fester und regelmäßig wiederkehrender Versammlungen, die durch nichts aufgehoben oder verschoben werden können, dergestalt, daß das Volk am festgesetzten Tag durch das Gesetz rechtmäßig einberufen wird, ohne daß es hierfür einer anderen formellen Einberufung bedürfte. (…) Man kann nur allgemein sagen, daß der Souverän sich um so häufiger zeigen muß, je stärker die Regierung ist.« (Rousseau, GV, S. 99) Durch diese Volksversammlungen werde die Exekutive ausgesetzt und sie müsse einen über sich anerkennen. Nichts fürchteten die Mächtigen so sehr, wie das versammelte Volk, den rechtmäßigen Souverän, dessen Geschäfte sie führten, vor dem sie Rechenschaft über ihr Handeln abzulegen hätten. (Vgl. Rousseau, GV, S. 101) »Aber zwischen die souveräne Gewalt und eine willkürliche Regierung schiebt sich manchmal eine mittlere Macht, über die gesprochen werden muß.« (Rousseau, GV, S. 101) Rousseau meint die Abgeordneten bzw. Volksvertreter. Volksvertreter sind für Rousseau ein Ausdruck von Faulheit der Bürger, die sich mit ihrem Geld von ihren Pflichten gegenüber der Gemeinschaft »freikaufen«, um sich besser ihrem Privatleben widmen zu können. Er interpretiert das Bedürfnis nach Volksvertretern als Erkalten der Vaterlandsliebe und dass die privaten Angelegenheiten die öffentlichen überwögen. Dies sei keine gesunde Einstellung gegenüber der politischen Gemeinschaft. »Sobald einer bei den Staatsangelegenheiten sagt: Was geht’s mich an? , muß man damit rechnen, daß der Staat verloren ist.« (Rousseau, GV, S. 103) Ein weiterer Grund, weshalb Rousseau strikt gegen Abgeordnete und das Repräsentationsprinzip ist, folgt aus der Logik der Theoriekonstruktion (siehe weiter oben), nämlich dass die Souveränität unveräußerlich sei und deshalb nicht vertreten werden könne. Als Abschluss des dritten Buches behandelt Rousseau die Frage der Einsetzung der Regierung. Wie kommt die Regierung in ihr Amt? Durch einen Wahlakt in der Volksversammlung. 23 Diese erließe ein Gesetz über die Regierungsform und bestimmte die Personen, die mit der Aufgabe der obersten Verwaltung und Ausführung der Gesetze 23 Im vierten Buch, 3. Kapitel geht er auf die Einsetzung der Regierung nochmals ein und diskutiert als alternatives Verfahren zur Wahl das Losverfahren. Dieses sei möglicherweise gerechter, weil das Regierungsamt eher als eine Bürde als ein Vorteil verstanden werden könne. So könnte diese Bürde jeden treffen und sie müsste niemandem eher als den anderen auferlegt werden. (Vgl. Rousseau, GV, S. 118 f.) <?page no="278"?> 4. Interpretation 279 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 279 betraut werden sollen. Die Volksversammlung könne die Regierung einsetzen und absetzen, wann und wie es ihr gefalle. (Vgl. Rousseau, GV, S. 109) Diese Abhängigkeit der Regierung von der Volksversammlung diszipliniere diese, die Gesetze im Sinne des Gemeinwillens umzusetzen. Jede Sitzung der Volksversammlung solle mit folgenden zwei Anträgen eröffnet werden: »Erstens: Gefällt es dem Souverän, die gegenwärtige Regierungsform beizubehalten? Zweitens: Gefällt es dem Volk, die Verwaltung denen zu belassen, die gegenwärtig damit beauftragt sind? « (Rousseau, GV, S. 110) Die Wahl und Abwahl der Regierung durch die Volksversammlung, das heißt die Abhängigkeit der Regierung von Volkes Gnaden, ist eine elementare demokratische Institution, ebenso die Zuschreibung der Souveränität zum Volk. Die besondere Radikalität des Rousseau’schen Verständnisses von Volkssouveränität liegt darin, dass sie nicht vertreten und repräsentiert werden kann, wodurch jeder letztlich den Gesetzen gehorcht, die er zuvor selbst verabschiedet hat. Um diese Doppelrolle des Bürgers als Souverän und Untertan sowie die Übereinstimmung des Willens der Bürger mit dem Willen der Regierung auf einen Begriff zu bringen, hat sich in der Rousseau-Interpretation die Formel der »Identität von Regierenden und Regierten« eingebürgert. Diese Formel könnte aber hinsichtlich Rousseaus Verständnis von Souveränität und Gewaltentrennung missverständlich sein. Die Regierung hat in seiner Theorie keine souveräne Gewalt und soll gerade nicht mit der Legislative identisch sein. Weder regieren die Bürger noch erlässt die Regierung Gesetze. Der Bürger ist souverän und damit an der Gesetzbegung beteiligt und er muss sich dieser Gesetzgebung im Alltagsleben unterwerfen. Und weil er beides ist, Gesetzgeber und Erleidender der Gesetze, besteht eine Identität zwischen Souverän und Untertan. Die Ausführung der Gesetze obliegt weder dem Souverän noch dem Untertan, sondern einer eigenen Instanz: der Exekutive bzw. dem Fürsten. Da die Exekutive nur die von der Bürgerversammlung beschlossenen Gesetze umsetzen darf, herrscht eine Identität zwischen dem Gemeinwillen der Volksversammlung und dem Willen der Verwaltung, also eine »Identität des Regierungswillens mit dem Willen der Regierten«. Die einfache Formel der »Identität der Regierenden und Regierten« ist also eher irreführend und bringt zusammen, was Rousseau strikt zu trennen gedachte: Souveränität und Regierung. Im vierten und letzten Buch des Gesellschaftsvertrages stellt Rousseau einzelne politische Einrichtungen des Römischen Reiches, wie die römischen Comitien, das Tribunat, die Diktatur auf Zeit und das Censoramt vor, um ihre Nützlichkeit für sein Republikmodell des Gesellschaftsvertrages zu diskutieren. Das Werk endet mit einem Kapitel über die »bürgerliche Religion«. Dies führt zur Frage, welche Bedeutung Gott, die Kirche und die Religion in der politischen Theorie Rousseaus haben und in welchem Verhältnis diese zum Volk und Individuum stehen. Der Gesellschaftsvertrag von Rousseau baut weder auf Gott noch Kirche, noch einer bestimmten Religion auf. Fundament seiner Gesellschafts- und Staatstheorie ist das Individuum bzw. die zu einem Gesellschaftskörper vereinigten Bürger. Die Motivation für den Einzelnen, sich freiwillig mit anderen zu einer Gemeinschaft zusamwww.claudia-wild.de: <?page no="279"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 280 280 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau menzuschließen, besteht in der Erwartung, sich dadurch besser selbst erhalten zu können (»persönlicher Nutzen«). Damit diese Motivation nach der Vergesellschaftung nicht enttäuscht wird, sollen alle Individuen in der Gesellschaft Freiheit zur Selbstbestimmung genießen (»so frei bleiben, wie zuvor«). Dies setzt voraus, dass alle den gleichen Wert haben und keiner den anderen versklaven darf (Gleichheitspostulat). In einer Gesellschaft, in der Freiheit und Gleichheit Grundpfeiler politischen Handelns sind, herrscht für ihn Gerechtigkeit. Durch den Zusammenschluss zu einer Gemeinschaft erhält jedes Gesellschaftsmitglied Rechte: auf körperliche Uversehrtheit und Schutz, politische Mitbestimmung, Privatsphäre und auf Eigentum. Umgekehrt erwachsen aus den persönlichen Rechten Pflichten gegenüber der Gemeinschaft: wenn nötig, in den Krieg zu ziehen und sein Leben zu geben, sich dem Gemeinwillen zu unterwerfen und für die gemeinsamen Belange zu arbeiten. Die Einsicht, nicht nur die Rechte zu genießen, sondern auch seinen Pflichten nachzukommen, erfordert Vernunft. Der Gesellschaftsvertrag gründet auf der Annahme eines selbstbestimmten vernünftigen Menschen. Kommt die gerechte Gesellschaft nach Rousseau tatsächlich ohne Gott, Kirche und Religion aus? Er streitet nicht ab, dass es einen Gott gibt. »Alle Gerechtigkeit kommt von Gott, er allein ist ihre Quelle; aber wenn wir sie von so hoch oben zu empfangen wüßten, hätten wir weder Regierung noch Gesetz nötig.« (Rousseau, GV, S. 39) Aber er verknüpft Gott bzw. das Göttliche nicht zwingend mit einer bestimmten Religion. Im Gegenteil unterscheidet er das Göttliche und die göttlichen Regeln als Naturreligion und Naturrecht von dogmatischen religiösen Festlegungen göttlichen Glaubens, die durch Priester bestimmt und gepredigt werden (Priesterreligionen). »Wie die Gesellschaft, die eine allgemeine oder eine besondere ist, kann man die auf sie bezogene Religion gleichfalls in zwei Arten einteilen, nämlich in die Religion des Menschen und die des Bürgers. Erstere, ohne Tempel, Altäre und Riten, beschränkt auf den rein inneren Kult des obersten Gottes und die ewigen Pflichten der Moral, ist die reine und einfache Religion des Evangeliums, der wahre Gottesglaube und das, was man das göttliche Naturrecht nennen kann.« (Rousseau, GV, S. 145) Der von Hobbes postulierten Identität von Natur, Gott und Vernunft würde Rousseau nicht widersprechen. »Die andere (Art Religion, M. K.), in nur einem Land zugelassen, gibt ihm (dem Bürger, M. K.) seine Götter, seine eigenen Schutzherren: sie hat ihre Dogmen, Riten, ihren äußeren, gesetztlich vorgeschriebenen Kult« (Rousseau, GV, S. 146) und schaffe damit Feindschaft gegenüber den anderen Religionskulten. Das römische Christentum sei »eine dritte, ziemlich bizarre Art von Religion, die die Menschen dadurch, daß sie ihnen zwei Gesetzgebungen, zwei Häupter und zwei Vaterländer gibt, widersprüchlichen Pflichten unterwirft und sie daran hindert, gleichzeitig fromm und Staatsbürger sein zu können.« (Rousseau, GV, S. 146) Er hält das Christentum und seine Kirche für denkbar schlecht, um es in einen vernünftigen <?page no="280"?> 4. Interpretation 281 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 281 Staat zu integrieren. »Alles, was die soziale Einheit zerstört, taugt nichts. Alle Einrichtungen, die den Menschen mit sich in Widerspruch bringen, taugen nichts.« (Rousseau, GV, S. 146) Rousseau lobt Thomas Hobbes für seine Erkenntnis im »Leviathan«, dass die Menschen nicht zwei Souveränen gleichzeitig gehorchen könnten und seine Idee der Vereinigung der zwei Köpfe des Adlers, um alles auf eine politische Einheit zurückzuführen. Gleichwohl sieht er in der Hobbes’schen Konstruktion das Problem, dass der Fürst letztlich Oberhaupt der Kirche werde und das Dogmatische aus der Sphäre des Staates nicht verschwinde. Rousseau ist nicht der Auffassung, dass ein Staat auf Religion verzichten könnte, denn sie erinnere die Menschen daran, ihre Pflicht zu tun, aber der Staat müsse auf die christliche Religion verzichten. (Vgl. Rousseau, GV, S. 145) »Das Christentum ist eine ganz und gar geistige Religion, einzig mit den himmlischen Dingen beschäftigt: das Vaterland des Christen ist nicht von dieser Welt. Gewiß, er tut seine Pflicht, aber er tut sie mit einer tiefen Gleichgültigkeit gegenüber Erfolg oder Mißerfolg seiner Bemühungen.« (Rousseau, GV, S. 148) Denn das Leben des Christen sei am »ewigen Leben« orientiert, das Leben im Paradies, im Jenseits. Deshalb sei es bedeutungslos, »ob man in diesem Jammertal Freier ist oder Sklave« (Rousseau, GV, S. 149). Rousseau hält die christliche Religion für vollkommen unvereinbar mit seinem Modell der Republik. »Aber ich irre, wenn ich von einer christlichen Republik spreche; diese beiden Begriffe schließen sich gegenseitig aus. Das Christentum predigt nichts als Knechtschaft und Abhängigkeit. Sein Geist leistet der Tyrannei zu sehr Vorschub, als daß diese daraus nicht immer Nutzen zöge. Die wahren Christen sind dazu geschaffen, Sklaven zu sein; sie wissen es und beunruhigen sich eigentlich nicht darüber; dieses kurze Leben ist in ihren Augen zu wenig wert.« (Rousseau, GV, S. 149) Auch Montesquieu war der Auffassung, dass Religionen für die Stabilität von politischen Ordnungen zuträglich sind, weil sie die Einzelnen durch einen gemeinsamen Glauben miteinander verbinden. Dabei lehnte er keine Religion ab, auch nicht das Christentum. Die christliche Religion hielt Montesquieu sogar für besonders geeignet für gemäßigte Verfassungen, da sie Sanftmut predige. (Vgl. Montesquieu, EL, S. 367) Welchen Raum lässt Rousseaus Republikmodell dem religiösen Glauben? Die politische Körperschaft dürfe über die Bürger nur im Rahmen des öffentlichen Nutzens verfügen und hätte darüber hinaus keinerlei Bestimmungsrecht. »Nun ist es für den Staat sehr wohl wichtig, daß jeder Bürger eine Religion hat, die ihn seine Pflichten lieben heißt; aber die Dogmen dieser Religion interessieren den Staat und seine Glieder nur insoweit, als sie sich auf die Moral beziehen und auf die Pflichten, die derjenige, der sie (die Religion) bekennt, gegenüber den anderen zu erfüllen gehalten ist. Darüber hinaus mag jeder Anschauungen hegen, wie es ihm gefällt, ohne daß dem Souverän eine Kenntnis davon zustünde. Denn in der andewww.claudia-wild.de: <?page no="281"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 282 282 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau ren Welt besitzt er keinerlei Befugnis, und es ist auch nicht seine Sache, welches das Los der Untertanen in einem künftigen Leben sei, vorausgesetzt, daß sie in diesem hier gute Bürger sind.« (Rousseau, GV, S. 150) Der Religion ist damit jeglicher Einfluss auf die Gesetzgebung im Staat untersagt. Sie darf das Verhalten der Bürger nur in Bereichen regeln, die nicht von öffentlichem Belang sind und das ist im Endeffekt wenig. Ihre Funktion beschränkt sich bei Rousseau auf die Beantwortung von Fragen der Transzendenz: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist Gott? Wo sind die Toten? Gibt es ein Leben nach dem Tod und wenn ja, wie sieht dies aus? Was darf ich nach dem Leben erhoffen? Jedoch die Frage nach dem Sinn des Lebens, dem irdischen Glück und was wir tun sollen, sind Fragen des Diesseits und von öffentlichem Belang. Ihre Beantwortung durch Religionen und ihre Dogmen stehen potentiell in Konflikt mit den Antworten, die sich eine politische Körperschaft in ihren Versammlungen gibt. Religiöse Dogmen, die sich auf das Leben im Diesseits beziehen, widersprechen der freien Selbstbestimmung des Menschen, sich offen und der bestehenden Situation gemäß den drängenden Fragen menschlichen Daseins zu stellen, darin seine Meinung ändern zu können und sich jederzeit neu zu positionieren, wie es die Lage erfordert. Woran sollen sich die Bürger nach Rousseau orientieren? Wie sollen die Fragen nach dem irdischen Glück und dem Sinn des Lebens beantwortet werden? Darauf gibt es für ihn keine absolute, richtige und für alle Zeiten gültige Antwort. Hierin ist Rousseau Machiavellist. Die Frage des Glücks einer Gesellschaft hänge maßgeblich von den äußeren, realen Bedingungen ab, in der sie sich befindet und müsse immer wieder neu im Angesicht der Wirklichkeit erörtert und entschieden werden. Nur unter der Bedingung, dass sich die Gemeinschaft unter glücklichen Umständen befinde, könne der Bürger sein persönliches Glück finden. 24 Die geistigen Leitplanken, an denen entlang die politische Gemeinschaft versuche, ihr Gemeinwohl zu finden, setze die »bürgerliche Religion« (wörtlich frz. »religion civile«). »Es gibt daher ein bürgerliches Glaubensbekenntnis, dessen Artikel festzusetzen dem Souverän zukommt, nicht regelrecht als Dogmen einer Religion, sondern als Gesinnung des Miteinander, ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger und ein treuer Untertan zu sein.« (Rousseau, GV, S. 151) Worin sollten die »Dogmen der Zivilreligion« bestehen? »Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl und klar ausgedrückt sein, ohne Erklärungen und Erläuterungen. Die Existenz der allmäch- 24 Rousseau geht davon aus, dass die Natur den Menschen dazu bestimmt habe, gut, weise und glücklich zu sein. Allerdings nimmt er die Menschen im bestehenden Gesellschaftszustand als unglücklich wahr-- erklärbar aus den Bedingungen der Gesellschaft. »Er ahnte früh einen Zusammenhang zwischen den Glücksmöglichkeiten der Menschen und der Gesellschaft als Glücksverhinderung«. (Taureck 2009, S. 43) <?page no="282"?> 4. Interpretation 283 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 283 tigen, allwissenden, wohltätigen, vorhersehenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und der Gesetze-- das sind die positiven Dogmen. Was die negativen Dogmen anbelangt, so beschränke ich sie auf ein einziges: die Intoleranz; sie gehört jenen Kulten an, die wir ausgeschlossen haben.« (Rousseau, GV, S. 151) Es ist bemerkenswert, dass Rousseau die Legitimität der politischen Gemeinschaft nicht rein innerweltlich begründet, sondern die Göttlichkeit, das, was wir nicht wissen und bestimmen können, sondern glauben müssen und als höhere Legitimationsquelle anerkennen, mit einbezieht. Obwohl Rousseau das Christentum und die Kirche aus seiner Gesellschafts- und Staatstheorie verbannt, hält er an der christlichen Vorstellung des »Glücks der Gerechten und Bestrafung der Bösen« fest. Was verspricht er sich davon? Rousseaus Theoriekonstruktion steht vor dem Problem, die Menschen davon zu überzeugen, nicht aus Eigennutz den Gesellschaftsvertrag zu zerstören. Denn was sollte einen Menschen davon abhalten, »gar seine Rechte als Staatsbürger in Anspruch zu nehmen, ohne die Pflichten eines Untertans erfüllen zu wollen, (…) eine Ungerechtigkeit, deren Umsichgreifen den Untergang der politischen Körperschaft verursachen würde«? (Rousseau, GV, S. 21) Da mag eben die Vorstellung hilfreich sein, dass solche Menschen nicht nur auf Erden, sondern auch im »ewigen Leben« bestraft würden-- ein doppelter Grund, sich an die Regeln des Gesellschaftsvertrages zu halten und seine egoistischen Neigungen zu überwinden. Das Toleranzgebot unterstützt die Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmungskraft der souveränen Versammlung. Die Zurückdrängung der Religionen aus der weltlichen Gesetzgebung in den Bereich der Transzendenz ist aus Rousseaus Perspektive vollkommen nachvollziehbar und konsequent. Es ist aber aus der Sicht des Klerus auch verständlich, dass er das Verbot und die Verbannung des »Gesellschaftsvertrags« und einen Haftbefehl gegen den Autor erwirkte. Wurde durch ihn doch der weltliche Herrschaftsanspruch der Geistlichen kategorisch abgelehnt und ihre Autorität in weltlichen Dingen verneint. Manifestiert sich in Rousseaus politiktheoretischem Denken ein Umbruch, der eine neue Denkbewegung einleitet und die gesellschaftspolitische Wirklichkeit aus einer noch nie dagewesenen Perspektive betrachtet? Ein Denkumbruch im wahrsten Sinne des Wortes ist nicht erkennbar, aber radikale Zuspitzungen und ein neues Arrangement der Ideen der Vordenker lässt den Gesellschaftsvertrag als theoretischen Gipfel der Aufklärungsphilosophie erscheinen. Es gibt meines Erachtens kein Werk, das die Ideen der Aufklärung so selbstverständlich zugrundelegt und in ihrer Widersprüchlichkeit so offenkundig macht, wie der Gesellschaftsvertrag von Rousseau. Seine Person und sein Werk ist der Referenzpunkt, auf den sich sowohl die Kritiker als auch Verteidiger der Aufklärung berufen. Er gilt einerseits als Vater der radikalen bzw. direkten oder unmittelbaren Demokratie, weil er das Repräsentationsprinzip <?page no="283"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 284 284 Kapitel XI: Jean-Jacques Rousseau und Parteien strikt ablehnt und die Gesetzgebung ausschließlich einer Versammlung aller Bürger anvertraut. Andererseits wird er als Vertreter einer totalitären Denkweise verstanden, weil er eine »völlige Entäußerung« jedes Einzelnen an das Gemeinwesen und eine unbedingte Unterwerfung unter den Gemeinwillen fordert und bei einem Verstoß gegen den Gesellschaftsvertrag sogar die Todesstrafe billigt. Im Kern erweist sich Rousseaus Theorie aber als urliberal. Als Antwort auf die Frage, was die Menschen einer Gesellschaft dazu bringt, sich an die gesetzten Regeln zu halten, setzt Hobbes auf die Furcht vor dem Herrscher, Locke auf die Vernunft der Mehrheit und Montesquieu auf die Liebe der Bürger zur Verfassung. Rousseau setzt auf den Eigennutzen und den Willen zur Selbstbestimmung, gepaart mit der vernünftigen Einsicht, dass der Eigennutzen am besten in einer Gemeinschaft befriedigt werden kann, der man dann allerdings verpflichtet ist. Heraus kommt der Anspruch, persönlicher Nutzen mit Gerechtigkeit in Einklang zu bringen. Wie ist es Rousseau gelungen, diesen Anspruch einzulösen? Der »bewundernswerte Einklang von Vorteil und Gerechtigkeit« (Rousseau, GV, S. 34) kommt letztlich durch das besondere Gesetzgebungsverfahren zustande, durch das aus den Einzelinteressen (bei denen jeder nur an seinen eigenen Vorteil denkt) ein Gemeininteresse ermittelt wird, dem sich dann jeder gerne unterwirft, weil es seinem eigenen Interesse entspricht. Wenn sich Eigeninteresse und die allgemeinen Gesetze der politischen Körperschaft entsprechen, herrscht Gerechtigkeit. Dass der Mensch ein Eigeninteresse hat, das ihn antreibt, sein Leben selbst zu bestimmen, wofür er die Bedingung der Freiheit braucht, ist der urliberale Grundgedanke der Rousseau’schen Gesellschafts- und Staatstheorie. Der Gesellschaftsvertrag ist ein Vertrag zur Freiheitsgarantie und der gegenseitigen Akzeptanz als Gleiche. Die Postulate von Freiheit und Gleichheit erzielen in einer Ständegesellschaft, die von Herr-Knecht-Verhältnissen und der Annahme von minderwertigeren Menschenleben geprägt ist, eine andere Wirkung als in heutigen modernen Gesellschaften, in denen politische Mitbestimmungsrechte und Rechtsgleichheit als formale Staatsbürgerrechte selbstverständlich gelten. Welchen Beitrag leistet der Rousseau’sche Gesellschaftsvertrag zur Entwicklung der Idee der Demokratie? Es ist die strikte Anbindung der Souveränität an die Bürger, also sein besonderes (oder auch radikales) Verständnis von Volkssouveränität. Seit Rousseaus Gesellschaftsvertrag ist der Disput zwischen direkter und indirekter Demokratie im Zusammenhang der modernen Massengesellschaften entbrannt. So »radikal«, wie sich die Demokratie inzwischen verwirklicht hat, ist sie vermutlich nie in Rousseaus Sinn gewesen. Er formulierte seine Ideen immer noch im Kontext einer Feudalgesellschaft, in der sich die Idee »Volk« nicht auf alle bezog. Der Volksbegriff lehnt sich gegen den Adel und den Klerus auf und schließt bei Rousseau sicherlich Bürger und Bauern aus dem dritten Stand mit ein und löst damit die Stände auf. Aber an Frauen, Knechte, Tagelöhner, »Ausländer« hat er wahrscheinlich nicht gedacht, weshalb er die Gesellschaft nicht als Ganzes befreit. Dass »alle« irgendwann mal tatsächlich »alle« in einer Gesellschaft meinen könnte-- und selbst heute genießen nicht <?page no="284"?> 5. Literatur 285 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 285 wirklich alle Menschen in Demokratien dieselben Rechte--, stellt die Demokratietheorie vor neue Herausforderungen, die Rousseau noch gar nicht im Blick haben konnte. Demokratie für alle. Diese Theorie lässt noch auf sich warten. 5. Literatur Brockard, Hans: Rousseaus Leben, in: Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, Stuttgart 1996, S. 177-202. Der Große Ploetz: die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, begründet von Dr. Carl Ploetz, 34., neu bearbeitete Auflage, bearbeitet von 80 Fachwissenschaftlern, Freiburg i. Br. ohne Jahr. Im Hof, Ulrich: Geschichte der Schweiz. Mit einem Nachwort von Kaspar von Greyerz, 8. Auflage, Stuttgart 2007. Mager, Wolfgang: Das Aufkommen des französischen Notabeln-Bürgertums im 18. Jahrhundert und die Krise der absoluten Monarchie, in: Reinalter, Helmut; Gerlach, Karlheinz (Hrsg.): Staat und Bürgertum im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Studien zu Frankreich, Deutschland und Österreich. Ingrid Mittenzwei zum 65. Geburtstag, Frankfurt/ M. 1996, S. 11-61. Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. In Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker. Neu übersetzt und herausgegeben von Hans Brockard, Stuttgart 1996. Taureck, Berhard H. F.: Jean-Jacques Rousseau, Hamburg 2009. Weigand, Kurt: Rousseaus Leben, in: Rousseau, Jean-Jacques: Schriften zur Kulturkritik: Über Kunst und Wissenschaft (1750). Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755). Eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand, 5. Auflage, Hamburg 1995, S. LXXX-LXXXVII. <?page no="285"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 286 <?page no="286"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 287 287 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville 1. Primärtext Band 1 9 Die Allmacht der Mehrheit und ihre Wirkungen Die unumschränkte Herrschaft der Mehrheit liegt im Wesen der Demokratie; denn in der Demokratie kann sich außerhalb der Mehrheit nichts behaupten. Die meisten amerikanischen Verfassungen suchten diese natürliche Macht der Mehrheit noch künstlich zu verstärken. 1 Von allen politischen Gewalten gehorcht die gesetzgebende Gewalt am willigsten der Mehrheit. Die Amerikaner wollten, daß die Mitglieder der Gesetzgebung direkt vom Volk und nur für eine sehr kurze Zeit ernannt würden, um sie so zu zwingen, sich nicht nur nach den allgemeinen Absichten, sondern auch nach den täglichen Wünschen der Wähler zu richten. Die Mitglieder beider Kammern entstammen den gleichen Klassen und werden auf die gleiche Weise gewählt; daher vollziehen sich die Bewegungen der gesetzgebenden Körperschaft ebenso schnell und nicht weniger unwiderstehlich, als bestünde sie aus einer einzigen Versammlung. Die so eingesetzte Gewalt vereinigt auf sich fast die gesamte Regierung. Das Gesetz verstärkte aber nicht nur die Macht der von Natur starken Gewalten, sondern es schwächte gleichzeitig mehr und mehr die von Natur schwachen. Es gestand den Vertretern der ausführenden Gewalt weder eine längere Amtsdauer noch Unabhängigkeit zu; es unterwarf sie vielmehr vollkommen den Launen der Gesetzgebung und nahm ihnen dadurch den wenigen Einfluß, dessen Geltendmachung ihnen das Wesen der Demokratie gestattet haben würde. In mehreren Staaten lieferte das Gesetz die richterliche Gewalt der Wahl durch die Mehrheit aus, in allen Staaten machte es ihre Existenz irgendwie dadurch von der gesetzgebenden Gewalt abhängig, daß es die Repräsentanten damit beauftragte, jährlich das Gehalt der Richter festzusetzen. 1 Wir haben bei der Betrachtung der Bundesverfassung gesehen, daß die Gesetzgeber der Union den entgegengesetzten Weg einschlugen. Sie erreichten damit, daß die Bundesregierung in ihrem Bereich unabhängiger ist als die Regierungen der Staaten. Aber die Bundesregierung befaßt sich fast ausschließlich mit der Außenpolitik. [Das hat sich natürlich seit 1835 wesentlich geändert. Anm. d. Hrsg.] Das staatliche Leben bestimmen in Amerika in Wirklichkeit die Staatenregierungen. (Anmerkung von Tocqueville) <?page no="287"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 288 288 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville Die Praxis ging noch weiter als die Gesetze. In den Vereinigten Staaten bildet sich allmählich eine Gewohnheit aus, die eines Tages die Garantien der repräsentativen Regierung hinfällig machen wird: es kommt sehr häufig vor, daß die Wähler, wenn sie einen Abgeordneten wählen, ihm ein bestimmtes Verhalten vorschreiben und ihm ganz bestimmte Verpflichtungen auferlegen, denen er sich nicht entziehen kann. Es fehlt nur der Tumult, sonst wäre es, wie wenn die Mehrheit selbst auf dem Markt beriete. Noch einige andere besondere Umstände machen in Amerika die Macht der Mehrheit nicht nur vorherrschend, sondern unwiderstehlich. Die moralische Herrschaft der Mehrheit gründet sich zum Teil auf die Vorstellung, daß bei einer Vereinigung vieler Menschen mehr Bildung und Weisheit zu finden sei als bei einem einzelnen, bei vielen Gesetzgebern mehr als bei einer kleinen Auswahl. Das ist die Theorie der Gleichheit in ihrer Anwendung auf den Verstand. Diese Lehre greift den Stolz des Menschen in seiner letzten Zuflucht an: daher stimmt ihr die Minderheit nur widerstrebend zu; sie gewöhnt sich erst mit der Zeit daran. Wie jede Herrschaft, und vielleicht mehr als jede andere, bedarf die Herrschaft der Mehrheit der Dauer, ehe sie als legitim empfunden wird. Anfangs verschafft sie sich durch Zwang Gehorsam; erst wenn man lange unter ihren Gesetzen gelebt hat, beginnt man, sie zu achten. Schon die ersten Einwohner der Vereinigten Staaten brachten die Vorstellung dorthin mit, die Mehrheit habe vermöge ihrer Einsicht das Recht, im Staate zu herrschen. Diese Vorstellung, die allein genügt, um ein freies Volk zu schaffen, ist heute in die Sitten eingegangen, und man kann sie bis in die kleinsten Lebensgewohnheiten hinein verfolgen. Die Franzosen hielten es unter der alten Monarchie für eine feststehende Tatsache, daß der König niemals irren könne; und wenn er einmal etwas Falsches tat, gaben sie seinen Ratgebern die Schuld. Das erleichterte den Gehorsam ganz vortrefflich. Man konnte gegen das Gesetz murren, ohne deshalb aufzuhören, den Gesetzgeber zu lieben und zu achten. Das ist auch die Vorstellung der Amerikaner von der Mehrheit. Die moralische Herrschaft der Mehrheit fußt ferner auf dem Grundsatz, die Interessen der größeren Zahl hätten denen der kleineren vorzugehen. Aber man begreift leicht, daß die Achtung, die man dem Recht der größeren Zahl bezeugt, natürlich je nach der Stellung der Parteien zu- oder abnimmt. Wenn eine Nation durch mehrere große und unvereinbare Interessen gespalten ist, wird das Vorrecht der Mehrheit oft nicht anerkannt, weil es zu hart ist, sich ihm zu unterwerfen. Gäbe es in den Vereinigten Staaten eine Gruppe von Bürgern, die der Gesetzgeber gewisser ausschließlicher und ihnen seit Jahrhunderten zustehender Vorrechte zu berauben trachtete, so würde die Minderheit sich diesen Gesetzen wahrscheinlich nicht leicht fügen. Aber da in den Vereinigten Staaten Menschen leben, die untereinander gleich sind, gibt es dort keinen naturgegebenen und anhaltenden Konflikt zwischen den Interessen der verschiedenen Bewohner. <?page no="288"?> 1. Primärtext 289 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 289 Es gibt aber Gesellschaftsordnungen, in denen die Anhänger der Minderheit nicht hoffen können, die Mehrheit auf ihre Seite zu bringen, es sei denn, sie würden den Gegenstand fallenlassen, um den sie mit der Mehrheit streiten. Eine Aristokratie zum Beispiel würde, wenn sie ihre ausschließlichen Vorrechte behaupten will, niemals zur Mehrheit werden können, und sie könnte ihre Vorrechte nicht fallenlassen, ohne aufzuhören, eine Aristokratie zu sein. In den Vereinigten Staaten können sich die politischen Probleme nicht in so allgemeiner und unbedingter Form stellen, und alle Parteien erkennen willig die Rechte der Mehrheit an, da sie alle hoffen, eines Tages zu ihrem eigenen Vorteil diese Rechte ausüben zu können. In den Vereinigten Staaten hat daher die Mehrheit eine enorme tatsächliche und eine fast ebenso große Macht der Überzeugung; und sobald über eine Frage die Mehrheit erst einmal zustandegekommen ist, gibt es sozusagen nichts, was ihren Gang hemmen, geschweige denn zum Stillstand bringen könnte, nichts, was ihr Zeit ließe, die Klagen derer anzuhören, die sie auf ihrem Wege zermalmt. Die Folgen dieses Sachverhaltes für die Zukunft sind unheilvoll und gefährlich. (Aus: Demokratie in Amerika, Band 1, S. 138-142) Tyrannei der Mehrheit Ich halte den Grundsatz, daß im Bereich der Regierung die Mehrheit eines Volkes das Recht habe, schlechthin alles zu tun, für gottlos und abscheulich, und dennoch leite ich alle Gewalt im Staat aus dem Willen der Mehrheit ab. Widerspreche ich mir damit selbst? Es gibt ein allgemeines Gesetz, das nicht bloß von der Mehrheit irgendeines Volkes, sondern von der Mehrheit aller Menschen, wenn nicht aufgestellt, so doch angenommen worden ist. Dieses Gesetz ist die Gerechtigkeit. Das Recht eines jeden Volkes findet seine Grenze an der Gerechtigkeit. Eine Nation ist gleichsam ein Geschworenenkollegium, das die gesamte Menschheit zu vertreten und die Gerechtigkeit, die ihr Gesetz ist, zu verwirklichen hat. Soll das Geschworenenkollegium, das die Gesellschaft vertritt, mehr Macht haben als die Gesellschaft selbst, deren Gesetze es anwendet? Wenn ich daher einem ungerechten Gesetz den Gehorsam verweigere, spreche ich keineswegs der Mehrheit das Recht ab, zu befehlen; ich appelliere lediglich von der Souveränität des Volkes an die Souveränität der Menschheit. Es gibt Leute, die sich nicht scheuen zu erklären, ein Volk könne in Dingen, die nur es selbst angehen, die Grenzen der Gerechtigkeit und der Vernunft gar nicht gänzlich überschreiten, und man brauche sich daher nicht zu bedenken, der Mehrheit, die es repräsentiert, jede Gewalt einzuräumen. Aber das ist die Sprache eines Sklaven. <?page no="289"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 290 290 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville Was ist denn die Mehrheit im ganzen genommen anderes als ein Individuum mit Ansichten und Interessen, die meistens denen eines anderen Individuums, genannt Minderheit, zuwiderlaufen? Wenn man nun aber einräumt, ein Mensch, dem man unumschränkte Machtvollkommenheit zugesteht, könne diese gegen seine Gegner mißbrauchen, warum gibt man das dann nicht auch für eine Mehrheit zu? Haben die Menschen, indem sie sich zusammenschlossen, ihr Wesen geändert? Sind sie Hindernissen gegenüber geduldiger, seit sie stärker geworden sind? 2 Ich persönlich glaube das nicht; und niemals werde ich die Befugnis, schlechthin alles zu tun, die ich einem Einzelnen unter meinesgleichen versage, einer Mehrheit zugestehen. Ich glaube nicht etwa, man könne, um die Freiheit zu sichern, mehrere Prinzipien in einem Regierungssystem miteinander derart verbinden, daß man das eine dem anderen mit Erfolg als Gegengewicht gegenüberstellt. Die sogenannte gemischte Regierung habe ich immer für ein Hirngespinst gehalten. In Wirklichkeit gibt es keine gemischte Regierungsform (in dem gängigen Sinne), weil man in jedem Staate schließlich ein Prinzip findet, das allen anderen übergeordnet ist. Das England des vergangenen Jahrhunderts, das man besonders gern als Beispiel für eine gemischte Regierungsform angeführt hat, war in seinem Wesen ein aristokratischer Staat, der allerdings bedeutende demokratische Elemente enthielt; denn nach den dortigen Gesetzen und Sitten mußte die Aristokratie immer vorherrschen und die öffentlichen Angelegenheiten nach ihrem Willen leiten. Dieser Irrtum rührte daher: weil man unaufhörlich die Interessen der Großen mit denen des Volkes im Konflikt sah, dachte man nur an den Kampf selbst, statt auf seinen Ausgang zu achten, auf den es doch allein ankam. Wenn ein Staat wirklich einmal eine gemischte, das heißt gleichmäßig aus entgegengesetzten Prinzipien zusammengesetzte Regierung hat, so kommt entweder eine Revolution oder die Regierung löst sich auf. Ich bin der Meinung, daß man an irgendeiner Stelle immer eine staatliche Gewalt einsetzen muß, die allen anderen übergeordnet ist, aber ich sehe darin eine Gefahr für die Freiheit, wenn diese Gewalt auf kein Hindernis stößt, das ihren Gang aufhalten und ihr Zeit geben kann, sich selbst zu mäßigen. Ich halte die Allmacht für in sich schlecht und gefährlich. Ihre Ausübung scheint mir die Kräfte jedes Menschen zu übersteigen; und nur Gott kann, soweit ich sehe, gefahrlos allmächtig sein, da seine Weisheit und seine Gerechtigkeit jederzeit ebenso groß sind wie seine Macht. Es gibt auf Erden keine an sich selbst so ehrwürdige, keine 2 Niemand würde behaupten wollen, daß ein Volk nicht seine Macht gegenüber einem anderen Volk mißbrauchen kann. Nun bilden aber die Parteien etwas wie kleine Nationen in einer großen; untereinander stehen sie in auswärtigen Beziehungen. Wenn man zugibt, daß eine Nation sich gegen eine andere als Tyrann zeigen kann, warum das dann für die Parteien leugnen? (Anmerkung von Tocqueville) <?page no="290"?> 1. Primärtext 291 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 291 mit so geheiligtem Recht ausgestattete Macht, daß ich sie unkontrolliert handeln und ungehindert herrschen lassen wollte. Sobald ich daher sehe, daß man das Recht und die Möglichkeit, schlechthin alles zu tun, irgendeiner Macht zugesteht, man mag sie nun Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie nennen, man mag sie in einer Monarchie oder in einer Republik ausüben, sobald ich das sehe, sage ich: Das ist der Keim zur Tyrannei, und ich werde versuchen, unter anderen Gesetzen zu leben. Was ich der demokratischen Regierung, wie man sie in den Vereinigten Staaten organisiert hat, am meisten zum Vorwurf mache, ist nicht ihre Schwäche, wie viele Leute in Europa behaupten, sondern im Gegenteil ihre unwiderstehliche Kraft. Und was mich in Amerika am meisten abstößt, ist nicht die dort herrschende äußerste Freiheit, sondern der geringe Schutz gegen die Tyrannei. Erfährt in den Vereinigten Staaten ein Mensch oder eine Partei eine Ungerechtigkeit, an wen sollen sie sich wenden? An die öffentliche Meinung? Gerade sie bildet die Mehrheit. An die gesetzgebende Gewalt? Sie repräsentiert die Mehrheit und gehorcht ihr blind. An die ausführende Gewalt? Sie wird von der Mehrheit ernannt und ist deren gehorsames Werkzeug. An das Militär? Das Militär ist lediglich die bewaffnete Mehrheit. An die Geschworenen? Das Geschworenenkollegium ist die Mehrheit mit dem Recht, Urteile zu fällen: in manchen Staaten werden die Richter sogar von der Mehrheit gewählt. Wie ungerecht und unvernünftig die Maßnahme auch ist, die uns trifft, wir müssen uns ihr also fügen. 3 3 In Baltimore sah man während des Krieges von 1812 ein auffallendes Beispiel für die Ausschreitungen, zu denen der Despotismus der Mehrheit führen kann. Ein erklärtes Oppositionsblatt erregte durch diese Haltung den Unwillen der Einwohner. Das Volk versammelte sich, zerschlug die Pressen und ging auf das Haus der Journalisten los. Man wollte die Miliz zusammenziehen, aber sie folgte dem Ruf nicht. Um die unglücklichen, von der Volkswut Bedrohten zu retten, ergriff man den Ausweg, sie wie Verbrecher ins Gefängnis zu sperren. Diese Vorkehrung fruchtete nichts: während der Nacht versammelte sich das Volk von neuem; die Justizbeamten versuchten vergeblich, die Miliz zusammenzurufen; das Gefängnis wurde erstürmt, einer der Journalisten auf der Stelle getötet, die anderen ließ man für tot zurück: die vor Gericht angeklagten Schuldigen wurden freigesprochen. Einen Bürger von Pennsylvanien habe ich einmal gefragt: »Bitte, erklären Sie mir doch, warum in einem Staat, der von den Quäkern gegründet und der bekannt ist für seine Toleranz, die freien Neger nicht zur Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte zugelassen sind. Sie zahlen Steuern, ist es da nicht billig, daß sie auch wählen? « »Bitte, beleidigen Sie uns nicht durch die Annahme«, antwortete mein Mann, »unsere Gesetzgeber würden einen so groben Akt der Ungerechtigkeit und Intoleranz begangen haben.« »So haben also bei Ihnen die Schwarzen das Wahlrecht? « »Ohne jeden Zweifel.« »Aber woher kommt es dann, daß ich heute morgen unter der Wählerschaft nicht einen einzigen Neger gesehen habe? « »Das ist nicht die Schuld der Gesetze«, sagte mir der Amerikaner, »die Neger haben schon das Recht, sich an der Wahl zu beteiligen, aber sie sehen freiwillig davon ab, dort zu erscheinen.« »Das ist aber eigentlich ziemlich bescheiden von ihnen.« »Oh, nicht daß sie sich etwa weigerten, dorthin zu gehen, aber sie haben Angst, daß man sie mißhandelt. Es kommt nämlich bei uns manchmal vor, daß ein Gesetz sich nicht auswirken kann, weil die Mehrheit es nicht unterstützt. Nun hat aber die Mehrheit die größten Vorurteile gegen die Neger, und die Justiz ist nicht imstande, ihnen die Rechte zu gewährleisten, die ihnen der Gesetzgeber zugestanden hat.« »Wie? Die Mehrheit, die das Vorrecht hat, das Gesetz zu erlassen, will auch noch das Vorrecht haben, ihm nicht zu gehorchen? « (Anmerkung von Tocqueville) <?page no="291"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 292 292 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville Stellen wir uns dagegen eine gesetzgebende Gewalt vor, die die Mehrheit repräsentiert, ohne notwendig der Sklave von deren Leidenschaften zu sein; eine ausführende Gewalt, die eine angemessene Macht besitzt, und eine richterliche Gewalt, die von den anderen beiden Gewalten unabhängig ist; auch dann haben wir eine Demokratie, aber für die Tyrannei wird es kaum noch Chancen geben. Ich sage nicht, daß man in Amerika zur Stunde von der Tyrannei häufig Gebrauch macht, ich sage lediglich, daß wir dort keine Sicherheit gegen die Tyrannei finden und daß wir den Grund für die Mäßigung der Regierung mehr in den Umständen und den Sitten als in den Gesetzen zu suchen haben. (Aus: Demokratie in Amerika, Band 1, S. 145-149) Der Einfluß der Mehrheit auf das Denken Untersucht man einmal genauer, welchen Gebrauch die Amerikaner von ihrem Denkvermögen machen, so wird man besonders eindringlich gewahr, bis zu welchem Grade die Macht der Mehrheit alle Einflüsse übersteigt, die wir in Europa kennen. Das Denken ist eine unsichtbare und fast ungreifbare Macht, die jeder Tyrannei spottet. Die unumschränktesten Herrscher in Europa können heutzutage nicht verhindern, daß gewisse Gedanken, die ihrer Autorität abträglich sind, in ihren Staaten heimlich umlaufen und bis nahe an den Thron dringen. In Amerika ist das anders: solange die Mehrheit noch zweifelt, wird diskutiert, aber sobald sie sich unwiderruflich erklärt hat, verstummt alles, und Freunde wie Feinde scheinen sich dann gemeinschaftlich vor den Wagen der Mehrheit zu spannen. Aus einem einfachen Grunde: Kein Monarch ist so unumschränkt, daß er alle Kräfte der Gesellschaft in seiner Hand vereinigen und allen Widerstand so überwinden könnte, wie es eine Mehrheit mit dem Recht der Gesetzgebung und Gesetzesvollziehung kann. Im übrigen hat ein König immer nur eine äußere Macht, die auf das Handeln einwirkt, die aber den Willen nicht zu erreichen vermag; die Mehrheit dagegen ist mit einer äußeren und zugleich inneren Macht ausgestattet, die auf den Willen wie auf das Handeln einwirkt und die zugleich die Tat und das Wollen der Tat vereitelt. Ich kenne kein Land, in dem im allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und wirkliche Diskussionsfreiheit herrscht als in Amerika. Es gibt keine religiöse oder politische Theorie, die man in den konstitutionellen Staaten Europas nicht frei verkünden könnte und die nicht auch die anderen Staaten erreichte; denn kein Land Europas ist derart einer einzigen Gewalt unterworfen, daß, wer die Wahrheit sagen will, nicht eine Hilfe findet, die ihn gegen die Folgen seiner Unabhängigkeit zu schützen imstande ist. Hat er das Unglück, unter einer absoluten Regierung zu leben, so ist oft das Volk auf seiner Seite; lebt er in einem freien Land, so kann er notfalls bei der königlichen Autorität eine Zuflucht finden. In den demo- <?page no="292"?> 1. Primärtext 293 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 293 kratischen Ländern schützen ihn die Aristokraten, in den anderen die Demokraten. Aber in einer Demokratie, die wie die amerikanische aufgebaut ist, stößt man auf eine einzige Gewalt, ein einziges Element der Macht und des Erfolges, außerhalb dessen sich nichts behauptet. In Amerika zieht die Mehrheit einen drohenden Kreis um das Denken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Schriftsteller frei; aber wehe, wenn er sie zu überschreiten wagt! Er hat zwar kein Autodafé 4 zu fürchten, aber er ist allen erdenklichen Unannehmlichkeiten und täglichen Nachstellungen ausgesetzt. Die politische Laufbahn ist ihm verschlossen; er hat die einzige Gewalt, die sie ihm eröffnen könnte, beleidigt. Man versagt ihm alles, selbst den Ruhm. Ehe er seine Ansichten veröffentlichte, glaubte er, Anhänger zu haben; nun er sich allen entdeckt hat, besitzt er, so scheint es ihm, keinen mehr; denn wer ihn ablehnt, bringt das öffentlich zum Ausdruck, und wer denkt wie er, ohne so mutig zu sein, schweigt und entfernt sich. Er gibt nach, erliegt schließlich dem täglichen Ansturm und zieht sich ins Schweigen zurück, als hätte er ein schlechtes Gewissen, die Wahrheit gesagt zu haben. Ketten und Henker sind die groben Werkzeuge, mit denen die Tyrannei vorzeiten arbeitete; heutzutage aber hat die Zivilisation sogar den Despotismus noch vervollkommnet, von dem es doch schien, als hätte er nichts mehr dazuzulernen. Die Fürsten hatten die Gewalt sozusagen veräußerlicht; die demokratischen Republiken unserer Tage haben sie auf die geistige Stufe des menschlichen Willens gehoben, den sie zuschanden machen wollen. Unter der absoluten Herrschaft eines Einzelnen schlug der Despotismus, um den Geist zu treffen, den Körper-- eine grobe Methode; denn der Geist erhob sich unter den Schlägen und triumphierte über den Despotismus; in den demokratischen Republiken geht die Tyrannei ganz anders zu Werk; sie kümmert sich nicht um den Körper und geht unmittelbar auf den Geist los. Der Machthaber sagt hier nicht mehr: »Du denkst wie ich, oder du stirbst«; er sagt: »Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten; aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird dir nicht mehr nützen; denn wenn du von deinen Mitbürgern gewählt werden willst, werden sie dir ihre Stimme verweigern, ja, wenn du nur ihre Achtung begehrst, werden sie so tun, als versagten sie sie dir. Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren. Wenn du dich einem unter deinesgleichen nähern wirst, so wird er dich fliehen wie einen Aussätzigen; und selbst wer an deine Unschuld glaubt, wird dich verlassen, sonst meidet man auch ihn. Gehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, aber es ist schlimmer als der Tod.« Die absoluten Monarchien hatten den Despotismus entehrt; sehen wir zu, daß die demokratischen Republiken ihn nicht rehabilitieren und ihm, während er für den Einzelnen drückender wird, in den Augen der größeren Zahl sein verhaßtes Aussehen und sein erniedrigendes Wesen nehmen. 4 Inquisitionsgericht. <?page no="293"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 294 294 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville Bei den stolzesten Nationen der Alten Welt hat man Werke erscheinen lassen, die die Laster und Lächerlichkeiten der Zeitgenossen getreulich darstellen sollten; als La Bruyère sein Kapitel über die Großen 5 verfaßte, wohnte er im Palast Ludwigs XIV., und Moliere geißelte den Hof in Stücken, die er vor den Höflingen aufführen ließ. Die Macht aber, die in den Vereinigten Staaten herrscht, duldet das nicht. Der leichteste Vorwurf berührt sie unangenehm, die geringste verletzende Wahrheit bringt sie auf; man muß alles loben, von ihrer Ausdrucksweise bis hin zu ihren echten Tugenden. Kein noch so berühmter Schriftsteller kann sich dieser Verpflichtung, seine Mitbürger zu beweihräuchern, entziehen. Die Mehrheit lebt daher in andauernder Selbstbewunderung; nur durch Ausländer oder durch eigene Erfahrung kommen den Amerikanern gewisse Wahrheiten zu Ohren. Wenn Amerika noch keine großen Schriftsteller hervorgebracht hat, so dürfen wir die Ursache nirgendwo sonst suchen; es gibt kein literarisches Genie ohne geistige Freiheit, und geistige Freiheit ist in Amerika unbekannt. Die Inquisition hat niemals verhindern können, daß in Spanien Bücher umliefen, die der Religion der Mehrzahl widersprachen. Die Herrschaft der Mehrheit in Amerika kann es besser: sie hat sogar den Gedanken getilgt, sie zu veröffentlichen. Man trifft in Amerika Ungläubige, aber der Unglaube findet dort sozusagen keinen Mund. Manche Regierungen bemühen sich, die Sitten zu bewahren, indem sie die Autoren leichtfertiger Bücher verurteilen. In den Vereinigten Staaten verurteilt man niemand wegen solcher Schriften; aber es ist auch gar niemand versucht, sie zu schreiben. Deswegen haben zwar nicht alle Bürger reinere Sitten, aber die Mehrheit ist darin gewissenhaft. Hier wird die Gewalt zweifellos zu gutem Zweck gebraucht: daher spreche ich lediglich von der Gewalt an sich. Diese unwiderstehliche Gewalt aber ist eine dauernde Gegebenheit, ihr guter Gebrauch nur ein Zufall. (Aus: Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. Band 1. Ausgewählt und herausgegeben von J. P. Mayer, Stuttgart 2006, S. 150-153) Band 2 16 Die wichtigste Quelle der Überzeugungen bei demokratischen Völkern Die dogmatischen Überzeugungen sind mehr oder weniger zahlreich, je nach den Zeiten. Sie haben verschiedene Entstehungsgründe und können Form und Inhalt wechseln; man könnte jedoch dogmatische Überzeugungen nicht fortdenken, d. h. 5 Vgl. das Kapitel »Des Grands« in La Bruyères Les Caractères. [Anm. d. Hrsg.] <?page no="294"?> 1. Primärtext 295 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 295 Anschauungen, die die Menschen vertrauensvoll diskussionslos empfangen. Wenn jeder alle seine Anschauungen selbst bilden und die Wahrheit auf allein von ihm gebahnten Wegen suchen wollte, wäre es nicht wahrscheinlich, daß eine große Anzahl Menschen sich jemals in irgendeinem gemeinsamen Glauben vereinigen würde. Es ist nun leicht zu erkennen, daß es keine Gesellschaft gibt, die ohne gleiche Überzeugungen gedeihen kann, oder, besser gesagt, es gibt keine, die ohne sie fortdauert; denn ohne gemeinsame Ideen gibt es kein gemeinsames Handeln, und ohne gemeinsames Handeln existieren zwar Menschen, aber nie ein Gesellschaftskörper. Damit ein Staat sich bilde, und erst recht, damit er gedeihe, müssen die Bürger immer durch einige Grundideen vereinigt und zusammengehalten werden; dies ist nur dann möglich, wenn jeder von ihnen seine Anschauungen aus derselben Quelle schöpft und eine gewisse Anzahl fertiger Überzeugungen anzunehmen bereit ist. Betrachte ich nun den Menschen für sich, so komme ich zu dem Ergebnis, daß die dogmatischen Überzeugungen für sein Alleinsein nicht weniger unentbehrlich sind als für ein gemeinsames Handeln mit seinen Mitmenschen. Wäre der Mensch gezwungen, sich selbst Beweise für die alltäglich gebrauchten Wahrheiten zu liefern, so würde er nie ein Ende finden; er würde sich durch elementare Beweisführungen ausgeben, ohne weiterzukommen; da er wegen seiner kurzen Lebenszeit und der Begrenztheit seines Geistes weder die Zeit noch die Fähigkeit hat es durchzuführen, ist er darauf angewiesen, eine Menge von Tatsachen und Meinungen für begründet zu halten, die selbst zu untersuchen und zu prüfen er weder Muße noch Kraft hatte; sie waren entweder von Geschickteren entdeckt oder von der Menge aufgenommen worden. Auf dieser ersten Grundlage errichtet er selbst das Gebäude seiner eigenen Anschauungen. Diese Art des Vorgehens liegt nicht in seinem Willen; das unbeugsame Gesetz seiner eigenen Daseinsbedingung zwingt ihn dazu. Es gibt keinen noch so großen Philosophen auf der Welt, der nicht zahllose Anschauungen von anderen übernimmt und der nicht viel mehr Wahrheiten voraussetzt, als er selbst aufstellt. Das ist nicht nur notwendig, sondern wünschenswert. Wer alles selbst untersuchen wollte, könnte jeden einzelnen Gegenstand nur kurz betrachten. Diese Arbeit würde seinen Geist ständig beunruhigen, so daß er nie tief irgendeine Wahrheit erfassen und nie sich für eine Gewißheit entscheiden könnte. Sein Geist wäre zugleich unabhängig und schwach. Er muß also unter den verschiedenen menschlichen Anschauungen wählen und viele Überzeugungen diskussionslos aufnehmen, um eine kleine Anzahl von ihnen, deren Erforschung er sich vorbehalten hatte, besser untersuchen zu können. Es ist zwar richtig, daß jeder Mensch, der eine Anschauung aus der Hand eines anderen empfängt, seinen Geist unterjocht; es handelt sich hier jedoch um eine heilsame Hingabe, die es erlaubt, von der Freiheit einen guten Gebrauch zu machen. Immer muß also, was auch immer geschehen mag, die Autorität in der intellektuellen und sittlichen Welt Platz haben. Die Stelle, die sie dort einnimmt, ist veränderlich, aber notwendig. Die individuelle Unabhängigkeit kann mehr oder weniger groß, <?page no="295"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 296 296 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville nie aber könnte sie grenzenlos sein. Die Frage lautet also nicht, ob eine geistige Autorität in demokratischen Jahrhunderten existiert, sondern wo sie gelagert ist und welches ihr Maß sein wird. Ich zeigte im vorhergehenden Kapitel, wie die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen eine gewisse Ungläubigkeit gegenüber dem Übernatürlichen und eine sehr hohe, oft übertriebene Wertschätzung der menschlichen Vernunft in den Menschen entstehen ließ. Die in diesen Zeiten der Gleichheit lebenden Menschen lassen sich also schwer dazu bestimmen, die geistige Autorität, der sie sich unterwerfen, außerhalb oder jenseits der Menschheit zu stellen. In sich oder in ihresgleichen suchen sie für gewöhnlich die Quellen der Wahrheit. Das müßte genügen, um zu beweisen, daß eine neue Religion in diesen Zeiten nicht entstehen könnte und daß alle Versuche, sie hervorzubringen, nicht nur gottlos, sondern lächerlich und unvernünftig sind. Es ist vorauszusehen, daß die demokratischen Völker nicht leicht an göttliche Missionen glauben werden; daß sie ohne weiteres neue Propheten auslachen und innerhalb der Grenzen der Menschheit, nicht jenseits von ihnen den obersten Herren ihres Glaubens suchen werden. Wenn die gesellschaftlichen Bedingungen ungleich und die Menschen voneinander verschieden sind, gibt es immer einige sehr gebildete, sehr weise, geistig sehr einflußreiche Einzelmenschen und eine sehr unwissende und sehr bornierte Masse. Die in aristokratischen Epochen lebenden Menschen neigen also von Natur dazu, die überlegene Vernunft eines Menschen oder einer Klasse zur Richtschnur ihrer Ansichten zu wählen, während sie wenig geneigt sind, die Unfehlbarkeit der Masse anzuerkennen. Das Gegenteil ergibt sich in Zeiten der Gleichheit. Je gleicher und ähnlicher die Bürger einander werden, desto geringer wird die Neigung eines jeden, blind einem bestimmten Menschen oder einer bestimmten Klasse zu glauben. Die Neigung, der Masse zu glauben, wächst, und am Ende ist es die öffentliche Meinung, die die Menschen führt. Die öffentliche Meinung ist nicht nur die einzige Führerin, die der individuellen Vernunft bei demokratischen Völkern bleibt, ihre Macht ist überhaupt bei diesen Völkern unendlich viel größer als bei irgendeinem anderen Volk. In Zeiten der Gleichheit schenken sich die Menschen wegen ihrer Gleichheit gegenseitig kein Vertrauen, aber dieselbe Gleichheit flößt ihnen ein fast unbegrenztes Vertrauen in das Urteil der Öffentlichkeit ein. Es erscheint ihnen nämlich nicht wahrscheinlich, daß die Wahrheit sich nicht auf Seiten der größten Zahl befinde, da sie alle gleich aufgeklärt sind. Wenn der in demokratischen Ländern lebende Mensch sich persönlich mit all seinen Nächsten vergleicht, erkennt er stolz, daß er einem jeden von ihnen gleich ist; betrachtet er jedoch die Gesamtheit seiner Mitbürger und stellt er sich selbst neben diesen großen Verband, so wird er sofort durch seine eigene Bedeutungslosigkeit und Schwäche niedergedrückt. <?page no="296"?> 1. Primärtext 297 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 297 Dieselbe Gleichheit, die ihn von einem jeden einzelnen Mitbürger unabhängig macht, liefert ihn isoliert und wehrlos dem Einwirken der größeren Zahl aus. Die Öffentlichkeit besitzt infolgedessen bei demokratischen Völkern eine eigentümliche Macht, von der die aristokratischen Nationen sich nicht einmal eine Vorstellung machen konnten. Sie versucht nicht durch ihre Anschauung zu überzeugen, sie drängt sie auf und treibt sie-- mit einem ungeheuren Druck der Massenseele auf den Einzelgeist-- in die Gemüter ein. In den Vereinigten Staaten nimmt es die Mehrheit auf sich, den Individuen eine Menge Meinungen zu liefern, und enthebt sie so der Verpflichtung, sich eigene zu bilden. Eine Fülle von philosophischen, moralischen oder politischen Theorien macht sich jeder so im Vertrauen auf die Öffentlichkeit ungeprüft zu eigen. Sieht man näher hin, so wird man sogar feststellen, daß die Religion viel weniger als geoffenbarte Glaubenslehre herrscht denn als öffentliche Meinung. Ich weiß, daß die politischen Gesetze bei den Amerikanern so sind, daß die Mehrheit dort souverän über die Gesellschaft herrscht, was die Macht, die sie auf natürliche Weise auf die Geister ausübt, sehr steigert. Nichts ist nämlich dem Menschen geläufiger, als dem, der ihn unterdrückt, eine größere Weisheit zuzuerkennen. Diese politische Allmacht der Mehrheit in den Vereinigten Staaten steigert in der Tat den Einfluß, den die öffentliche Meinung schon ohne sie auf jeden einzelnen Bürger gewinnen würde, aber sie stellt nicht ihren Grund dar. In der Gleichheit selbst muß man die Quellen dieses Einflusses suchen und nicht in den mehr oder weniger volkstümlichen Institutionen, die gleiche Menschen sich geben können. Es ist anzunehmen, daß die geistige Herrschaft der größeren Zahl bei einem demokratischen Volke, das einem Könige unterworfen ist, weniger absolut wäre als inmitten einer reinen Demokratie. Immerhin wird sie stets sehr absolut sein, und welches auch immer die politischen Gesetze sein mögen, die die Menschen in demokratischen Jahrhunderten beherrschen, man kann voraussehen, daß der Glaube an die öffentliche Meinung eine Art Religion, deren Prophet aber die Majorität sein wird. So wird zwar die geistige Autorität eine andere, aber nicht geringer sein; und weit davon entfernt, zu glauben, daß sie verschwinden muß, mutmaße ich, daß sie leicht zu groß werden und schließlich leicht die Betätigung der individuellen Vernunft in engere Grenzen sperren könnte, als es sich mit der Größe und dem Glück des Menschengeschlechts verträgt. Zwei Tendenzen erkenne ich deutlich in der Gleichheit: die eine führt den Geist eines jeden zu neuen Gedanken, die andere möchte ihn am liebsten zur Gedankenlosigkeit führen. Und ich erkenne, daß die Demokratie unter der Macht gewisser Gesetze die geistige Freiheit ersticken würde, die die demokratische Gesellschaftsordnung begünstigt, so daß der menschliche Geist sich eng dem allgemeinen Willen der größten Zahl anpassen würde, nachdem er alle Fesseln brach, die ihm einst Klassen oder Menschen auferlegten. Wenn die demokratischen Völker an die Stelle aller verschiedenen Mächte, die den Aufschwung der individuellen Vernunft außerordentlich hinderten oder verzögerten, <?page no="297"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 298 298 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville die absolute Macht einer Mehrheit stellen würden, so hätte das Übel nur ein anderes Aussehen bekommen; die Menschen hätten nicht das Mittel für ein unabhängiges Leben gefunden; sie hätten nur-- was nicht leicht ist-- eine neue Abart der Knechtschaft entdeckt. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: hier ist ein tiefes Problem für die, welche die Geistesfreiheit für etwas Heiliges halten und nicht nur den Despoten hassen, sondern auch den Despotismus. Wenn ich die Hand der Macht auf meinem Haupte lasten fühle, kümmert es mich persönlich wenig, zu wissen, wer mich unterdrückt; und ich beuge mich nicht deswegen lieber unter das Joch, weil eine Million Arme es mir darbieten. (Aus: Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika. Band 2. Ausgewählt und herausgegeben von J. P. Mayer, Stuttgart 2006, S. 219-224) 2. Leitfragen a. Wodurch soll in einer Demokratie erreicht werden, dass sich die Politiker nach den Wünschen der Wähler richten? b. Mit welchem Argument kann die Herrschaft der Mehrheit moralisch gerechtfertigt werden? c. Welches Gesetz menschlichen Zusammenlebens gilt als universal bzw. wird von der Mehrheit aller Menschen angenommen und in welchem Verhältnis sieht Tocqueville die Mehrheitsentscheidungen einer Nation? d. Worin besteht für Tocqueville die »Tyrannei der Mehrheit« und wie kann sie eingeschränkt werden? e. Inwiefern hat für Tocqueville die Demokratie in Amerika den Despotismus vervollkommnet? f. Wie würde Tocqueville über einen Menschen urteilen, der Anschauungen einer Gesellschaft übernimmt, ohne sie selbst zu überprüfen? g. Gibt es in einer Gesellschaft, die auf der Gleichheit aller beruht, eine geistige Führung? h. Welche doppelte Wirkung hat die Bedingung der Gleichheit auf das Selbstverständnis der Menschen? i. Welche zwei tendenziellen Wirkungen auf den menschlichen Geist erkennt Tocqueville in der Gleichheit? <?page no="298"?> 3. Entstehungskontext 299 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 299 3. Entstehungskontext Biografisches Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville wurde 1805 in Paris als Sohn einer Adelsfamilie geboren. Seine Geburt wäre durch die Ereignisse der Französischen Revolution (1789-1799) beinahe verhindert worden, denn seine Eltern befanden sich 1794 in einer lebensbedrohlichen Lage. Sie zählten während der Revolutionszeit zu den 300 Familien der hohen Robe der Judikatur, die ab Dezember 1793 verhaftet und zum größten Teil unter dem Regime von Robespierre verurteilt und exekutiert wurden. Sein Vater Hervé de Tocqueville trat noch nach dem Sturz des Königs 1792 und der Auflösung der Nationalgarde als Soldat der »Garde constitutionelle« Ludwigs XVI. (1754-1793) bei und schmiedete für den König Fluchtpläne. (Vgl. Pisa 1986, S. 11-12) Zwei Monate nach der Hinrichtung des Königs (21. Januar 1793) heiratete Tocquevilles Vater Louise de Rosanbo, Enkelin von Chrétien-Guillaume Lamoignon de Malesherbes (1721-1794). (Vgl. Pisa 1986, S. 14) Als Feinde der Revolution wurden sie verhaftet und verbrachten zehn Monate in Todesangst. Allein ab März 1793 bis zur Hinrichtung Robespierres im Juli 1794 wurden in Paris 17 000 Menschen hingerichtet, die Zahl der in ganz Frankreich Verhafteten betrug eine halbe Million. (Vgl. Pisa 1986, S. 23) Im Oktober 1794 wurden die Tocquevilles freigelassen, doch sie waren von der Revolution körperlich und seelisch gezeichnet. (Vgl. Pisa 1986, S. 26) Elf Jahre später wurde Alexis als dritter Sohn der Tocquevilles geboren. Es war die Zeit, in der Napoleon Bonaparte zum Herrscher Frankreichs aufstieg. »Rein äußerlich ist Alexis ein vom Schicksal begünstigtes Kind. Er wächst in einem Schloß auf, wo der Alltag in einer Mischung von provinzieller Abgeschiedenheit und grandseigneuralem Stil nicht viel anders verläuft als in all den Jahren der inneren Emigration des alten Adels.« (Pisa 1986, S. 29) Seine Familie blieb dem Königtum verbunden, beweinte das Schicksal des letzten Königs Ludwig XVI., konnte weder das Vergangene vergessen, noch im napoleonischen Zeitalter ihre Zukunft sehen. Die Revolution lastete auf dem Familienleben und prägte das Aufwachsen Tocquevilles. Die politischen Wechsel der nachrevolutionären Zeit bestimmten Tocquevilles beruflichen und intellektuellen Werdegang. In der Schule lernte er Griechisch, Latein, Französisch, Mathematik und Geschichte. (Vgl. Pisa 1986, S. 38) Zuhause las er philosophische Werke aus der Familienbibliothek. Insbesondere das Werk Descartes’ scheint auf den jungen Tocqueville großen Eindruck gemacht zu haben. Zwei Jahre vor seinem Tod schrieb er über seine Leseerfahrung als Sechzehnjähriger: »Damals trat der Zweifel ein, oder richtiger, er brach mit unerhörter Gewalt ein, nicht nur der Zweifel an diesem oder jenem, sondern der universelle Zweifel. (…) Ich wurde von der schwärzesten Melancholie ergriffen, faßte den äußersten Widerwillen gegen das Leben, ohne es zu kennen, und war wie zerschmettert von Angst und Schrecken beim Anblick des Weges, den ich noch auf der Welt zu <?page no="299"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 300 300 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville gehen hatte.« (Pisa 1986, S. 39) Tocqueville war sich über seinen beruflichen Weg unschlüssig. Trotz starker Abneigung entschied er sich für die Juristerei, möglicherweise, um dem Willen seines Vaters zu genügen, und studierte 1823 bis 1826 Jura an der Sorbonne. (Vgl. Pisa 1986, S. 43) Nach seinem Staatsexamen wurde Tocqueville unter König Karl X. im April 1827 zum Hilfsrichter am Landgericht von Versailles ernannt, wo er sich mäßig engagierte. (Vgl. Pisa 1986, S. 48, S. 50) 1828 verlobte er sich mit der neun Jahre älteren Engländerin Mary Mottley (die er nach anfänglichem Widerstand seiner Familie acht Jahre später doch noch geheiratet hat) und von 1829 bis 1830 besuchte er zwecks Weiterbildung wieder Vorlesungen an der Sorbonne. (Vgl. Pisa 1986, S. 52 f.) Im Juli 1830 kam es aufgrund der reaktionären Politik Karls X. zu revolutionären Aufständen, die dessen Abdankung zur Folge hatten (Julirevolution). Nachfolger Karls wurde Louis-Philippe, Herzog von Orléans, der als »Bürgerkönig« und Begründer der »Julimonarchie« in die Geschichte Frankreichs einging. Für Tocqueville stellte sich mit diesem Regierungswechsel die Frage, ob er auf seinen Richterberuf verzichten oder den Eid auf den Bürgerkönig schwören soll. Er entschied sich für den Eid, fühlte sich dabei aber unbehaglich, wie er seiner Verlobten in einem Brief gestand: »Ich bin mit mir selbst im Krieg. Das ist ein neuer Zustand, der für mich schädlich ist. Der erste Schritt ist getan. Wo wird er mich hinführen? Wie hat sich meine Stimme geändert, als ich diese drei Worte aussprach! Ich fühlte, wie mein Herz schlug, gleichsam als wollte es mir die Brust sprengen.« (Tocqueville, zit. nach Pisa 1986, S. 61) Zusammen mit seinem Freund Beaumont, der sich in einer ähnlichen Lage befand, reichte er sechs Tage nach seinem zweiten Eid, den die neue Regierung ihm abverlangte, einen Antrag auf Beurlaubung ein, um eine Studienreise nach Amerika zu unternehmen. (Vgl. Pisa 1986, S. 62) Am 2. April 1831 begann die 37-tägige Schiffsreise nach Amerika. Als offiziellen Anlass gaben die beiden an, die dortigen Gefängnisstrukturen zu untersuchen, um daraus mögliche Empfehlungen für die französischen Gefängnisse abzuleiten. Aber eigentlich interessierte sich Tocqueville für die politischen Strukturen, die Demokratie Amerikas. Er wollte lernen, wie die politischen Verhältnisse in Frankreich im Sinne der demokratischen Entwicklung vorteilhaft gesteuert werden könnten. »Von Anfang an versucht Tocqueville hinter das Geheimnis einer Gesellschaft zu kommen, in der sich im Vergleich zu Frankreich eine stärkere Gleichheit mit einer größeren Freiheit zu vertragen scheint.« (Pisa 1986, S. 74) Sein erster Eindruck war, dass es bei diesem Geheimnis um »das Interesse«, die »Leidenschaft des Geldmachens« handelte. (Vgl. Pisa 1986, S. 71) Für seine Amerika-Studie interviewte er über 70 Gesprächspartner aus akademischen, politischen und bürokratischen Institutionen. (Vgl. Pisa 1986, S. 82) Die Informationen, die Tocqueville erhielt, waren demnach bereits reflektierte- - vielleicht auch idealisierte- - Aussagen über die amerikanische Gesellschaft und keine Primärdaten aus unmittelbarer Erfahrung und einem Leben mitten unter der amerikanischen (Durchschnitts-) Bevölkerung. Nach gut zehn Monaten traten Tocqueville und Beaumont am 20. Februar 1832 die Rückreise nach Frankreich an. Die <?page no="300"?> 3. Entstehungskontext 301 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 301 politische Lage ihres Landes hatte sich aus ihrer Sicht nicht verbessert und nachdem Beaumont im Mai 1832 aus seinem Richteramt entlassen wurde, legte auch Tocqueville aus Solidarität sein Richteramt nieder. (Vgl. Pisa 1986, S. 91) Nun war er frei für sein Buchprojekt. Bevor Tocqueville sein gesammeltes Material und seine in 14 Büchern zusammengetragenen Notizen zu einem Werk über die Demokratie in Amerika verarbeitete, reiste er im August 1833 nach England, dem Mutterland der ehemaligen englischen Kolonie. Aber nirgends könne er das Amerika finden, das er kennengelernt hatte. (Vgl. Pisa 1986, S. 94) Der Aufenthalt in England entpuppte sich als eine Reise in die Vergangenheit des feudalen Zeitalters. (Vgl. Pisa 1986, S. 96) Im Oktober 1833 kehrte er zurück nach Paris und begann die Arbeit an seinem Buch. Anfang 1835 wurde »Über die Demokratie in Amerika« veröffentlicht. Der Bucherfolg öffnete ihm in intellektuellen Kreisen alle Türen. Besonders stolz war er auf die im August 1836 verliehene Auszeichnung der »Académie des sciences morales et politiques«. (Vgl. Pisa 1986, S. 111) Tocqueville entwickelte politische Ambitionen, scheiterte aber bei seiner ersten Kandidatur 1837 zum Abgeordneten in seinem Heimatwahlkreis knapp am von der Regierung unterstützen Kandidaten. (Vgl. Pisa 1986, S. 119) Tocqueville nahm die Arbeit am zweiten Band »Über die Demokratie in Amerika« auf. Im Jahr 1839 wurden Neuwahlen ausgeschrieben. Er versuchte erneut ein Mandat zu erringen, diesmal mit Erfolg. (Vgl. Pisa 1986, S. 126) Tocqueville hatte vor der Rednerbühne große Angst und war wohl rhetorisch eher glanzlos. Er verfolgte moralische Grundsätze, und wusste nicht, welcher Partei er sich anschließen sollte. (Vgl. Pisa 1986, S. 131) So gestand er: »Ich sehe nicht einen einzigen Menschen, den ich genügend achte, um hinter ihm zu marschieren«. (Tocqueville, zit. nach Pisa 1986, S. 132) 1840 erschien der zweite Band »Über die Demokratie in Amerika« und 1841 wurde Tocqueville zum Mitglied der »Académie Française« gewählt, wodurch sich sein großer Traum erfüllte. (Vgl. Pisa 1986, S. 134) Die Politik enttäuschte ihn zunehmend. Er hielt den politischen Betrieb für unfähig, die drängenden Probleme der Zeit zu bearbeiten. Die Frage, was die Regierung seit vier Jahren mache, beantwortete Tocqueville 1845 so: »Sie ersetzt Prinzipien durch Interessen. Sie gewinnt die Menschen jeden einzeln. Wie? Indem sie ihre Meinung berücksichtigt? Nein: indem sie ihnen Vergünstigungen, Beamtenstellungen und Anstellungen bietet.« (Tocqueville, zit. nach Pisa 1986, S. 138) Tocqueville beobachtete die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Frankreich sehr genau und er ahnte die Revolution von 1848 voraus. Vier Wochen vor deren Ausbruch hielt er eine warnende Rede vor dem Parlament, die allerdings von den Abgeordneten nicht ernst genommen wurde. (Vgl. Pisa 1986, S. 143 f.) Für ihn gab es nur eine einzige Ursache für den Sturz von Regierungen: »Der wahre Grund, die eigentliche Ursache, welche Männer der Macht verlustig gehen läßt, ist der: sie verlieren sie, wenn sie unwürdig geworden sind, sie zu tragen.« (Tocqueville, zit. nach Pisa 1986, S. 145) Tocqueville wurde nach der Februarrevolution 1848 im April in seinem Wahlkreis mit über 80 Prozent der Stimmen zum Abgeordneten wiedergewählt. (Vgl. Pisa <?page no="301"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 302 302 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville 1986, S. 158) Ein paar Monate später wählte das Volk, zum großen Missfallen Tocquevilles, Louis Napoléon zum Präsidenten der französischen Republik. Trotz seiner kritischen Haltung gegenüber Louis Napoléon nahm Tocqueville das Angebot, das Außenministerium zu übernehmen, im Juni 1849 an. (Vgl. Pisa 1986, S. 180) Nach bereits fünf Monaten entließ Louis Napoléon jedoch das gesamte Kabinett und Tocqueville wurde wieder einfacher Abgeordneter. Im März 1850 musste er sich aufgrund einer Lungenkrankheit lange beurlauben lassen. (Vgl. Pisa 1986, S. 193) Im Dezember 1851 beging Louis Napoléon einen Staatsstreich. Er ließ sich vom Volk für zehn Jahre zum Präsidenten wählen (Vgl. Pisa 1986, S. 201) und am 21./ 22. November 1852 als Kaiser Napoleon III. durch ein Plebiszit bestätigen. Tocqueville verfiel in tiefe Resignation. (Vgl. Pisa 1986, S. 203) Er beschloss ein neues Buch zu schreiben, in welchem die Zeit Frankreichs im 18. Jh. vor der großen Revolution aufgearbeitet werden sollte. (Vgl. Pisa 1986, S. 206) »Der alte Staat und die Revolution« erschien im Juni 1856 und wurde ein großer Erfolg. Dies verschaffte ihm zwar Genugtuung, aber er verspürte eine dauernde Entfremdung gegenüber den bestehenden gesellschaftspolitischen Verhältnissen, die ihn sich sehr einsam fühlen ließ. (Vgl. Pisa 1986, S. 221) In einem Brief 1857 schilderte er ein Leiden an einer »chronischen Krankheit«, die ihm den »ruhigen Genuß der Freude des Augenblicks« versage. »Ich glaube, daß Gott mir eine natürliche Neigung für große Handlungen und große Tugenden verliehen hat und daß der Verzweiflung, diesen großen Gegenstand, der mir vor Augen schwebt, niemals fassen zu können, die Traurigkeit, in einer Welt und in einer Zeit zu leben, die so wenig der idealen Schöpfung, inmitten derer meine Seele so gern lebt, entspricht; ich glaube, sage ich, daß diese Gefühle, welche das Alter in keiner Weise abschwächt, eine der entscheidenden Ursachen dieses inneren Übels sind, von dem ich mich niemals befreien konnte.« (Tocqueville, zit. nach Pisa 1986, S. 222) Er begann damit, einen zweiten Teil seines Werkes »Der alte Staat und die Revolution« zu schreiben. Dieser Teil blieb aber ein Fragment, Tocqueville verstarb am 16. April 1859. Zeitliches Am 2. Dezember 1804, ungefähr ein halbes Jahr vor Tocquevilles Geburt, hatte sich Napoleon I. (1769-1821) selbst zum Kaiser von Frankreich gekrönt. Revolution, Reform und Restauration prägten den Umbruch vom 18. zum 19. Jahrhundert in Europa. Diese Epochenwende hat das Denken von Tocqueville maßgeblich geprägt. Der letzte Vertreter des absolutistischen Königtums in Frankreich war Ludwig XVI. Unter seiner Herrschaft wurde ein gigantisches Staatsdefizit angehäuft. Das Steuersystem galt als extrem ungerecht und ließ das Staatsdefizit nicht wesentlich schrumpfen. 1788 war der französische Staat bankrott. Am 8. August 1788 sah sich <?page no="302"?> 3. Entstehungskontext 303 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 303 Ludwig gezwungen, zur Behebung der Staatskrise die Generalstände 6 einzuberufen, die seit 1614 nicht mehr getagt hatten. Der Dritte Stand forderte eine Verdopplung seiner Abgesandten und eine gemeinsame Tagung der Stände. 7 Ludwig wurde aus allen Ständen so unter Druck gesetzt, dass er den Forderungen nachgeben musste. Teile des Adels und des Klerus schlossen sich dem Dritten Stand an und erklärten sich am 17. Juni zur Nationalversammlung, die sich als Vertretung des Volkes verstand und eine neue Verfassung verabschieden wollte. Im Zuge einer Hungerrevolte kam es am 14. Juli zum Sturm auf die Bastille. Schon am 4. und 5. August verkündete man die Abschaffung des Feudalsystems und die Befreiung der Bauern aus ihrer Leibeigenschaft sowie am 26. August die Menschen- und Bürgerrechte. Am 3. September 1791-- also rund zwei Jahre nach der Ausrufung der Nationalversammlung-- trat die neue Verfassung in Kraft. (Vgl. Grüner u. a. 2003, S. 5) Sie gründete auf zwei neuen Prinzipien: der Souveränität der Nation und der Gewaltenteilung. Dem König oblag die Funktion der vollziehenden Gewalt. Die Verfassung hatte den Charakter einer konstitutionellen Monarchie, die in der geistigen Tradition von Locke und Montesquieu stand. Das Wahlrecht beschränkte sich auf die Steuerbürger und war faktisch ein Zensuswahlrecht. Nicht alle revolutionäre Kräfte-- insbesondere nicht die Jakobiner 8 - - unterstützten die Verfassung. Der latente Konflikt eskalierte 1792 in einen offenen Verfassungskonflikt, als Ludwig XVI. gegen die Nationalversammlung handelte und anschließend zu fliehen versuchte. Der König wurde gefasst und verhaftet. Der neu gewählte Nationalkonvent schaffte am 21. September 1792 das Königtum ab. Am 17. Januar 1773 erging das Todesurteil gegen Ludwig XVI., vier Tage später wurde er geköpft. (Vgl. Grüner u. a. 2003, S. 48 f.) Unter der Leitung von Maximilien Robespierre begann ein diktatorisches Terrorregime, unter dem auch die Eltern von Tocqueville lebensbedrohlich zu leiden hatten. 9 Die Revolutionäre um Robespierre waren extreme Fanatiker, sie ließen massenweise Personen exekutieren und drängten den Menschen einen neuen Glauben auf. Im Mai 1794 wurde offiziell das 6 Die Generalstände umfassten Vertreter aller drei Stände (Adel, Klerus und Dritter Stand) und wurden Anfang des 14. Jahrhunderts von König Philipp IV. zum ersten Mal einberufen, um über eine finanzielle Krise zu beraten. Jeder Stand entsandte ca. 300 Standesangehörige. Die Könige des 14. und 15. Jahrhunderts beriefen die Generalstände in Krisenzeiten regelmäßig ein. Erst im Absolutismus wurde von dieser Institution kein Gebrauch mehr gemacht. 7 Am 5. Mai 1789 traten die 1165 Deputierten zusammen, davon 291 Vertreter des Klerus, 270 aus dem Adelsstand und 578 aus dem Dritten Stand, wo Advokaten, Notare, Schriftsteller und Rentiers (Inhaber erwerbslosen Einkommens) überwogen. Arbeiter, Handwerker oder Bauern zählten nicht zu den Deputierten. (Vgl. Hartmann 1999, S. 38) 8 Die Jakobiner waren antireligiös eingestellt und rekrutierten sich überwiegend aus dem gehobenen Bürgertum. Einer ihrer Anführer war der Advokat Robespierre. (Vgl. Hartmann 1999, S. 41) 9 Die Jakobiner töteten nicht nur Angehörige des Adels und des Klerus, sondern ermordeten auch zwischen 120 000 und 250 000 Bauern aus der Vendée, die sich gegen ihre Politik zur Wehr gesetzt hatten. (Vgl. Hartmann 1999, S. 49) Auch in Paris endeten zwischen 35 000 und 40 000 Arbeiter unter der Guillotine. (Vgl. ebd., S. 50) <?page no="303"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 304 304 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville Christentum abgeschafft. 10 Doch Robespierre konnte sich damit nicht durchsetzen. Sein Sturz erfolgte am 27./ 28. Juli 1794, zusammen mit 21 seiner Anhänger wurde er hingerichtet. Die Jakobiner verabschiedeten zwar offiziell keine Verfassung, aber es existierte ein Verfassungsentwurf von 1793, der die nachfolgende Verfassung von 1795 als »negatives« Beispiel beeinflusste. Der Entwurf beinhaltete soziale Grundrechte, wie das Recht auf Arbeit und Bildung, weitete das Wahlrecht für Männer aus-- es galt nun allgemein, gleich und ab 21 Jahren-- und hob das Prinzip der Gewaltenteilung auf. (Vgl. Grüner u. a. 2003, S. 50) Nach dem Sturz der Jakobinerherrschaft wurde nach einer längeren Zeit verfassungspolitischer Orientierungslosigkeit im August 1795 die Direktorialverfassung verabschiedet, die einen rückwärtsgewandten Charakter besaß. Es kam zur Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts, Gleichheit verstand man ausschließlich als Gleichheit vor dem Gesetz, soziale Rechte wurden aus der Verfassung getilgt. (Vgl. Grüner u. a. 2003, S. 50 f.) Zudem sah sie die strikte Trennung von Staat und Kirche vor. Die dirigistische Wirtschaftspolitik der Jakobiner wurde aufgegeben und der freie Handel eingeführt. Die Lebensbedingungen der Armen verschlechterten sich wieder extrem. Es kam zu Volksaufständen mit Parolen, wie »Brot oder Tod«. Gegen die Regierung wurden mehrere Staatsstreiche verübt. Der letzte Staatsstreich unter der Beteiligung des populären Revolutionsgenerals Napoleon Bonaparte, der die Unterstützung der Armee besaß, war im November 1799 erfolgreich. Napoleon verkündete am 15. Dezember 1799 sowohl das Ende der Revolution als auch eine Konsulatsverfassung, die eine Art republikanische Monarchie begründete. 1802 ließ sich Napoleon durch ein Plebiszit zum Konsul auf Lebenszeit wählen und 1804 krönte er sich eigenhändig zum »Kaiser der Franzosen«. (Grüner u. a. 2003, S. 53) 11 Von 1805 bis 1813 führte er zahlreiche Schlachten gegen die verschiedenen Mächte in Europa. In der Völkerschlacht bei Leipzig wurde er von einer Koalition aus Preußen, Russland und Österreich besiegt und das französische Imperium brach zusammen. (Vgl. Grüner u. a. 2003, S. 6) Im November 1814 begann der Wiener Kongress, der eine Neuordnung des europäischen Staatensystems bewirkte und nach dem Scheitern der napoleonischen Hegemonialpolitik ein multipolares Gleichgewicht wiederherstellte. (Vgl. Ploetz, S. 703) »Betrachtet man die Friedensregelung von 1815 zusammenfassend, so sind als wesentliche Merkmale der neuen Ordnung festzuhalten: 1. das Prinzip des Mächtegleichgewichts auf dem europäischen Kontinent, 2. die Bestätigung Großbritanniens als führender See- und Welt- 10 Es wurde sogar der Revolutionskalender eingeführt, statt der christlichen Siebentagedie Zehntagewoche und die christlichen Feiertage wurden ersetzt durch republikanische Festtage, wie Fest der Arbeit, Fest der Tugend, Fest der Revolution u. a. (Vgl. Hartmann 1999, S. 46) 11 Das diktatorische Militärregime unter Napoleon wird als absoluter als das monarchische Regime des Sonnenkönigs Ludwig XIV. angesehen. (Vgl. Hartmann 1999, S. 55) »Gesichert wurde das Regime durch eine ›allmächtige‹ Polizei, ein ausgefeiltes Spionage- und Überwachungssystem, intensive Staatspropaganda, Unterdrückung jeglicher Opposition und Meinungsfreiheit sowie durch Pressezensur.« (Hartmann 1999, S. 58) <?page no="304"?> 3. Entstehungskontext 305 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 305 handelsmacht; 3. der Gedanke der Legitimität und das Gefühl der Solidarität der alten Mächte des vorrevolutionären Europa in der Abwehr nationaler und liberaler Bewegungen.« (Ploetz, S. 704) Der napoleonischen Herrschaft folgte ab 1814 eine Phase der Restauration unter Ludwig XVIII. (1755-1824). Dieser lehnte den Verfassungsentwurf des napoleonischen Senats ab und oktroyierte am 4. Juni 1814 die »Charte constitutionelle«, worin er sich als König von Gottes Gnaden definierte und seine Befugnisse gegenüber der Gewaltenteilung ausweitete. Erhalten blieb eine aus zwei Kammern bestehende Legislative. Sie war allerdings von einer Volksvertretung weit entfernt, da Ludwig selbst einen großen Teil der Mitglieder bestimmte. Nach Ludwigs Tod bestieg sein Bruder Karl X. (1757-1836) den Thron, der die Macht der beiden Kammern zurückdrängen wollte und so eine Verfassungskrise provozierte. Zudem trugen die schlechte Wirtschaftslage, die hohe Arbeitslosigkeit, die Missernten und die damit verbundene Preissteigerung zur allgemeinen Unzufriedenheit bei, woraus die Pariser Julirevolution von 1830 erwuchs. Karl musste abdanken und ins Exil gehen. »Obwohl die Revolution von den unteren und mittleren Schichten der von Not und Entbehrung geplagten Hauptstadt durchgeführt wurde, kam letztlich eine kleine großbürgerliche Gruppe von Bankiers und liberalen Adligen an die Macht«. (Hartmann 1999, S. 61) Die Kammern trugen dem Cousin Karls X. die Krone an. Louis-Philippe I. (1773-1850) leistete am 9. August 1830 den Eid auf die revidierte Verfassung und begründete damit die Julimonarchie. Er nahm die oktroyierte »Charte« zurück und wurde durch einen Vertrag zwischen der souveränen Nation und dem Monarchen zum »Bürgerkönig«. Die Verfassung enthielt allerdings keine dauerhafte Regelung der Beziehung zwischen königlicher Exekutive und parlamentarischer Legislative. Der sich daraus ergebende Verfassungskonflikt führte zur Revolution von 1848. Louis-Philippe lehnte die parlamentarischen Reformforderungen kategorisch ab, woraufhin ein großer Teil der Pariser Bevölkerung und ein Teil der parlamentarischen Elite gegen ihn mobil machten. Am 24. Februar 1848 musste Louis-Philippe abdanken und folgte Karl X. ins englische Exil. Nach Ausrufung der Zweiten Französischen Republik fanden am 23./ 24. April 1848 allgemeine und gleiche Wahlen zur Verfassungsgebenden Nationalversammlung (Konstituante) statt. Es wurden überwiegend gemäßigte republikanische Abgeordnete gewählt, von denen man keine Orientierung an sozialistischen Ideen erwarten konnte. Ein Aufstand im Juni der darüber enttäuschten verarmten Pariser Handwerker, Gesellen und Arbeiter gegen die republikanische Regierung wurde blutig niedergeschlagen und forderte Tausende Todesopfer. Die Konstituante arbeitete eine Verfassung aus, die eine einzige, aus allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen hervorgehende Kammer zur Ausübung der legislativen Gewalt vorsah. Gemäß dem Prinzip der Machtteilung wurde der legislativen Kammer ein Exekutivamt in Form eines auf vier Jahre direkt vom Volk gewählten Präsidenten gegenübergestellt. Es war Napoleon Bonapartes Neffe Louis-Napoléon Bonaparte (1808-1873), der es vermochte, das Volk für sich zu gewinnen und am 10. Dezember 1848 zum Präsidenten der Zweiten Republik Frankwww.claudia-wild.de: <?page no="305"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 306 306 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville reichs gewählt wurde. Louis-Napoléon baute seine Popularität in der Bevölkerung aus, indem er sich als Ordnungsmacht und Sozialreformer gerierte. Er stellte in der Nationalversammlung den Antrag, den Verfassungsartikel, der die Wiederwahl des Präsidenten untersagte, zu revidieren, erhielt dafür aber nicht die erforderliche Dreiviertel-Mehrheit. Louis-Napoléon baute auf seine Popularität und die Loyalität, initiierte einen Staatsstreich, löste mit Gewalt die Nationalversammlung auf und legte der Bevölkerung eine neue Verfassung vor. Am 15. Januar 1852 wurde die Verfassung des Zweiten Kaiserreiches durch ein Plebiszit verabschiedet. Ein Jahr nach seinem Staatsstreich ließ sich Louis-Napoléon am 21./ 22. November 1852 wiederum per Plebiszit als Napoleon III. zum »Kaiser der Franzosen« erheben. Im Gegensatz zu seinem Onkel ließ sich Napoleon III. während seiner Regierungszeit durchaus auf Reformen ein. So entwickelte sich ein parlamentarisches System und die Presse erhielt mehr Freiheiten. Die Regentschaft Napoleons III. reichte bis zum Deutsch-Französischen Krieg 1870. (Vgl. Grüner u. a. 2003, S. 53-57) Die Geschichte Nordamerikas war für Tocquevilles Sozialisation nicht einschlägig. Er hat sich die Entwicklungsgeschichte des Landes durch Lektüre angeeignet und während seines zehnmonatigen Aufenthalts einen Eindruck von den dortigen gesellschaftspolitischen Verhältnissen bekommen. Sein Bezugspunkt blieb aber immer die französische Gesellschaft und ihre Entwicklung. Gesellschaftspolitisches In der Zeit von der Französischen Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs vollzog sich-- wenn auch phasenverschoben-- in allen europäischen Staaten die Ablösung vom Ancien Régime und ein tiefgreifender Wandel der Agrar- und Adelsgesellschaft. Die wirtschaftliche Entwicklung wird in der Geschichtswissenschaft als »industrielle Revolution« beschrieben, die Umbrüche in den Produktionsverfahren, der Technik, den Energiequellen, dem Transportwesen, den Märkten, der Bevölkerungszahl und den Gesellschaftsstrukturen verursachte. Voraussetzungen für die industrielle Wirtschaft waren die Entwicklung von Technik und Mechanisierung, die Verfügbarkeit von ausreichend Rohstoffen und von Kapital sowie aufnahmebereite Märkte. Die globale Ausrichtung der Industrialisierung erforderte damals eine liberale Wirtschaftspolitik, die Handelsbeschränkungen aufhob, »sodass sich der Warenstrom in wirtschaftlichen Großräumen national und international in einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft frei entfalten kann (Deutscher Zollverein 1834, Abschaffung der Kornzölle und Durchsetzung des Freihandelsprinzips in Großbritannien 1846, britisch-französischer und preußisch-französischer Handelsvertrag 1860 bzw. 1862). Nach 1850 wird der freie Weltmarkt eine Realität. Nur Österreich-Ungarn und Russland bleiben abseits.« (Ploetz, S. 691) Das industrielle Wachstum und die Phase des Freihandels <?page no="306"?> 3. Entstehungskontext 307 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 307 hielten bis in die 1870er Jahre an, danach begann die »Große Depression«. Die wirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft wurde zwar durch die industrielle Entwicklung zurückgedrängt, aber die Ernährung der Bevölkerung ließ sich noch lange nicht mithilfe eines globalen Agrarmarkts bewerkstelligen, sondern weiterhin über die lokalen Märkte. Durch verbesserte Anbaumethoden steigerten sich die Erträge, sodass die explosionsartige Zunahme der Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine krasse Verelendung zur Folge hatte. Allerdings bedeuteten die Missernten von 1816/ 17 und 1846/ 47 für Millionen Menschen in Europa Hunger, Krankheit und Tod-- ein Faktor, der die revolutionäre Stimmung in der Bevölkerung verstärkte, die schließlich in die Umbruchsituation von 1848 mündete. Der Bevölkerungszuwachs fand durch die Industrialisierung ein Ventil: Die Landbevölkerung konnte in die Städte abwandern und dort Arbeit finden, Verstädterung und die Bildung von Ballungszentren waren die Folge. Dies veränderte die Bevölkerungsstruktur und die Bedeutung einzelner Bevölkerungsgruppen. Bürgertum und Arbeiterschaft entwickelten sich zu den prägenden Schichten des Industriezeitalters. Die bürgerliche Oberschicht aus dem Industrie-, Handels- und Finanzsektor drängte auf politische Mitbestimmungsrechte. »Während bürgerliche Schichten in der Frühphase der Industrialisierung oft mit den sozialen Unterschichten politisch zusammengehen und soziale Forderungen gegenüber dem Machtmonopol des Adels erheben, grenzen sie sich spätestens 1848 von den Zielen des ›vierten Standes‹, der Arbeiterschaft, ab. Die Lage der Lohnarbeiterschaft wird für die gesamte Epoche zur sozialen Frage.« (Ploetz, S. 695) Ihre Situation war geprägt von Massenarmut (Pauperismus), schlechten Wohnverhältnissen, niedrigen Löhnen, langer Arbeitszeit, sozialer Unsicherheit, Frauen- und Kinderarbeit waren selbstverständlich. Es herrschten unterschiedliche Geisteshaltungen, die jeweils verschiedene politische Forderungen postulierten. Der Konservatismus orientierte sich an historisch und »organisch« gewachsenen Strukturen und hielt an einer »gottgewollten« Ordnung fest. Er forderte die Erhaltung der monarchischen Staatsform, setzte auf Autorität, eine gestufte Gesellschaft, Familie, Besitz und lehnte jeglichen Rationalismus ab. Gegenströmungen waren der Nationalismus und der Liberalismus. Ersterer setzte auf Volkssouveränität und Gruppenidentität und war an demokratischen Strukturen orientiert. Der Liberalismus hob auf den Schutz des Individuums vor staatlicher Bevormundung ab, um dem Einzelnen die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und die Erwirtschaftung persönlichen Wohlstands zu ermöglichen. Träger des Liberalismus war das Besitz- und Bildungsbürgertum, das weniger nach demokratischen politischen Strukturen strebte, als vielmehr seine gruppenspezifische politische Beteiligung institutionell sicherstellen und mit dem Adel auf einer Stufe stehen wollte. Als Gegenbewegung zum bourgeoisen Liberalismus entwickelte sich die geistige und politische Strömung des Sozialismus, mit der Arbeiterschaft als Träger. Eine zentrale politische Forderung war die Verwirklichung einer gerechten Eigentums- und Gesellschaftsordnung unter Einbeziehung der Arbeiterschaft, um ganz allgemein soziale Missstände <?page no="307"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 308 308 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville zu beseitigen. Dabei wurde auf eine stark regulierende Rolle des Staates gesetzt. Im Februar 1848 erschien in London das »Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts organisierte sich die Arbeiterschaft in Gewerkschaften und politischen Parteien. (Vgl. Ploetz, S. 690-696) Im Bereich der Staatsorganisation setzte sich in Europa seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend das Rechtsstaatsprinzip durch, das die Freiheit des Individuums und sein Eigentum schützt. Die politischen Revolutionen mündeten in bürokratisierten Massenstaaten, wie sie heute noch existieren. Die gesellschaftspolitische und ökonomische Wende des 18. und 19. Jahrhunderts ist Ausgangspunkt für die Grundstrukturen der modernen westlichen Gesellschaften. Jedoch ist insgesamt »das Europa des ausgehenden 19. Jh.s, von Frankreich abgesehen, immer noch eine monarchisch geprägte Welt mit nach wie vor bedeutsamer Rolle der Krone, insbesondere in der Außenpolitik, aber auch in der Innenpolitik. Unübersehbar aber ist die Durchdringung von Staat und Gesellschaft. Politik ist nicht mehr Angelegenheit weniger Privilegierter, sondern wird mehr und mehr zum Objekt der sich ausbildenden Massengesellschaft.« (Ploetz, S. 700) 4. Interpretation Der oben abgedruckte Primärtext stammt aus dem Werk »De la Démocratie en Amérique« (dt. »Über die Demokratie in Amerika«), dessen erster Band 1835 erschien und dem ein zweiter Band 1840 folgte. In Deutschland werden die beiden Bände kurz »Amerikabuch« genannt. Der erste Band umfasst zwei Teile, die jeweils in Unterkapitel mit unterschiedlichem Umfang gegliedert sind. Der zweite Band hat vier Teile mit jeweils zahlreichen kurzen Unterkapiteln. 12 Als Zeitgenosse der revolutionären Umwälzungen in Frankreich beschäftigte sich Tocqueville mit der Frage, ob es in der allgemeinen Wirrnis ein Prinzip gibt, zu dem alle Ereignisse hinstrebten und wenn ja, wie die Entwicklung dahin politisch gesteuert werden könnte, sodass sich die positiven Wirkungen fördern und die negativen abschwächen und kontrollieren ließen. So schreibt er in der Einleitung seines ersten Bandes des »Amerikabuches«: »Von all dem Neuen, das während meines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten meine Aufmerksamkeit auf sich zog, hat mich nichts so lebhaft beeindruckt wie die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen.« (Tocqueville, DiA, S. 15) 13 Er meint festzustellen, dass sich dieses Prinzip der Gleichheit der 12 Wir arbeiten mit der Reclam-Ausgabe, in der aus beiden Bänden eine Kapitelauswahl zusammengestellt wurde. Manche Zitate entstammen den vollständigen Ausgaben und sind entsprechend ausgewiesen. 13 Zitate aus Tocquevilles »Demokratie in Amerika« sind im Folgenden mit »DiA« als Kürzel der Ausgabe von 2006 angegeben. <?page no="308"?> 4. Interpretation 309 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 309 gesellschaftlichen Bedingungen auch in Europa auszubreiten beginnt. Unübersehbar ist ihm auch Folgendes: »Ich vergegenwärtige mir zunächst kurz, was Frankreich vor siebenhundert Jahren war: ich sehe es unter einige wenige Familien aufgeteilt, die den Grund und Boden besitzen und die Einwohner regieren; die Befehlsgewalt vererbt sich dann von einer Generation auf die andere; die Menschen kennen nur ein Mittel, aufeinander zu wirken, die Gewalt; und man entdeckt nur einen Ursprung der Macht, das Grundeigentum.« (Tocqueville, DiA, S. 16) Und nun, in der Zeit Tocquevilles, stünden Gewalt und Grundeigentum als die regulierenden Grundprinzipien der Gesellschaft vor dem Ende. Wie lässt sich dieser Vorgang erklären? Woraus speist sich die Triebkraft der demokratischen Revolution? Für Tocqueville kommt sie nicht aus den Menschen, sondern von Gott. Alle an der demokratischen Entwicklung Beteiligten sind für ihn »blinde Werkzeuge in den Händen Gottes«. »Die stufenweise Entwicklung der Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen ist also ein von der Vorsehung gewolltes Ereignis, denn sie hat dessen wesentliche Merkmale: sie ist allgemein, sie ist beständig, und sie entzieht sich immer neu der menschlichen Einwirkung; alle Begebenheiten und alle Menschen dienen der Entwicklung der Gleichheit.« (Tocqueville, DiA, S. 19) Die Demokratie aufzuhalten, gleiche einem Kampf gegen Gott selbst. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 20) Als Adliger, der im Begriff ist, seine privilegierte Stellung in der neuen gesellschaftlichen Ordnung zu verlieren, beugt sich Tocqueville der Vorsehung und versucht darzulegen, welche Gestaltungsmöglichkeiten die gottgewollte Entwicklung lässt. 14 Wie geht er dabei methodisch vor? Durch eine empirische Analyse der amerikanischen Gesellschaftsordnung möchte Tocqueville die Vorzüge, aber auch die Gefahren herausarbeiten, die mit einer Demokratie verbunden sind, um daraus für die Entwicklung der Demokratie in Frankreich zu lernen. »Ich habe Amerika nicht nur betrachtet, um eine-- übrigens durchaus legitime-- Neugierde zu befriedigen; ich wollte dort Belehrung schöpfen, die wir nutzen können.« (Tocqueville, DiA, S. 30) Bei seiner Analyse bemüht er sich darauf zu achten, die Ideen an den Tatsachen zu bilden und nicht die Tatsachen den Ideen anzupassen. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 32) Was bedeutet diese Vorgehensweise für seine Theoriebildung? Einerseits handelt es sich bei Tocquevilles Analyse der Demokratie in Amerika um eine deskriptive (beschreibende) und induktive (von Fällen ausgehende) Theorie, weil er durch die Beschreibung der politischen Institutionen auf ihre Funk- 14 Tocqueville schreibt: »Soll ich annehmen, der Schöpfer habe den Menschen gemacht, damit er sich ohne Ende in den geistigen Nöten, die uns umringen, abmühe? Ich kann es nicht glauben: Gott hält für die europäischen Staaten eine beständigere und ruhigere Zukunft bereit; ich kenne seine Pläne nicht, aber an sie zu glauben werde ich nicht deshalb aufhören, weil ich sie nicht erforschen kann, und ich will lieber an meinem Verstand zweifeln als an seiner Gerechtigkeit.« (Tocqueville, DiA, S. 29) Im zweiten Band schreibt er: »So geht es nicht darum, eine aristokratische Gesellschaft wiederherzustellen, sondern die Freiheit aus dem Schoße der demokratischen Gesellschaft, in der Gott uns leben läßt, hervorgehen zu lassen.« (Tocqueville, DiA, S. 349) <?page no="309"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 310 310 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville tionsweise schließt. Andererseits bewertet er die so gewonnenen Erkenntnisse im Hinblick auf den Erhalt der Freiheit, wodurch er diesen Wert zum politisch-moralischen Maßstab erhebt. Wenn Tocqueville von den Vorzügen oder Nachteilen der Demokratie spricht, dann tut er dies in Bezug auf normative Wertvorstellungen (wie z. B. Zugeständnis politischer Beteiligungsrechte oder Umgang zwischen Armen und Reichen) und nicht etwa in Bezug auf einen bestimmten politischen Output (wie z. B. die Höhe der Geburtenrate in der Bevölkerung oder Wirtschaftsleistung der Volkswirtschaft). Tocqueville ist ein Denker, der mit seinem Erkenntnisaufbau möglichst »von vorne« anfängt und versucht, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu begreifen. Er beginnt den ersten Band mit der Darstellung der Ausgangslage der Angloamerikaner in Nordamerika, denn »(i)n den Völkern tritt immer schon das Gepräge ihres Ursprungs zutage. Die Umstände, die ihr Entstehen begleiteten und ihre Entwicklung förderten, beeinflussen ihre ganze weitere Laufbahn« (Tocqueville, DiA, Bd. 1, vollst. Ausg., 1987, S. 46). So müsse die Gesellschaftsordnung der Angloamerikaner von ihren Anfangsbedingungen her verstanden werden, wodurch auch Ungereimtheiten in ihrer Gesetzgebung erklärlich würden. Das auffälligste Merkmal der angloamerikanischen Gesellschaftsordnung sei die Gleichheit der Bedingungen. Allerdings bedeute diese nicht, dass sich die Menschen unter gleichen Lebensumständen befänden und es keine Ungleichheit gäbe. »Nicht, daß es in den Vereinigten Staaten nicht so gut wie anderswo Reiche gibt; ja, ich kenne kein Land, in dem die Liebe zum Geld einen so großen Platz im Herzen der Menschen einnimmt, in dem man eine solche Verachtung für die Theorie von der dauernden Vermögensgleichheit bekundet.« (Tocqueville, DiA, S. 41) Dennoch bewirke das Prinzip der Gleichheit gleiche Vermögens- und gleiche Bildungschancen. Es herrsche also Chancengleichheit. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 43) Weiterhin fällt Tocqueville die Volkssouveränität in der amerikanischen Gesellschaft als zentrales Merkmal auf. »Das Volk beherrscht die politische Welt Amerikas wie Gott das Universum. Das Volk ist Anfang und Ende aller Dinge; alles geht vom Volke aus, alles in ihm auf.« (Tocqueville, DiA, S. 49) Die Regierungsform harmoniere ausgezeichnet mit der Volkssouveränität. Die besonderen Angelegenheiten in den Gemeinden würden unabhängig von der Unionsregierung selbständig durch die Bürger geregelt; »man sieht zwei völlig getrennte und fast unabhängige Regierungen« (Tocqueville, DiA, S. 49). Angesichts des Regierungs- und Verwaltungszentralismus in Europa stellt für Tocqueville die amerikanische dezentrale Verwaltungsform ein faszinierendes alternatives Modell dar, das der demokratischen Idee besser Rechnung trage. Die demokratische Idee beinhalte die Gleichheit bzw. Gleichwertigkeit der Menschen. Für eine feudal strukturierte Gesellschaft würde dies die Auflösung der Stände und Schranken zwischen den Menschen, die Aufteilung des Grundbesitzes und der Macht sowie die Ausbreitung der Bildung und des geistigen Vermögens bedeuten. Das Prinzip der Gleichwertigkeit der Menschen nivelliere den Hochmut und die Erniedrigung unter den Menschen. (Vgl. Tocqueville, DiA, <?page no="310"?> 4. Interpretation 311 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 311 S. 23-24) Sie habe zudem zur Folge, dass jeder ein gleiches Glied der Herrschaft sei und in gleicher Weise an der Staatsregierung teilnehme. Warum sollte sich ein freier und zu den anderen gleicher Mensch der Gesellschaft unterordnen? »Er gehorcht der Gesellschaft nicht, weil er geringer ist als ihre Leiter oder weniger als ein anderer fähig, sich selbst zu regieren; er gehorcht der Gesellschaft, weil ihm der Zusammenschluß mit seinen Mitmenschen nützlich erscheint und weil er weiß, daß eine solche Vereinigung ohne regelnde Gewalt nicht bestehen kann.« (Tocqueville, DiA, S. 56) So tritt an die Stelle der persönlichen Gewalt als regulierendes Grundprinzip der Gesellschaft das Prinzip des persönlichen Nutzens und das staatliche Gewaltmonopol, um die politische Ordnung und die Einzelnen voreinander zu schützen. Zu den besonderen politischen Institutionen der amerikanischen Demokratie geselle sich ein bestimmter »Gemeindegeist, der sie trägt und belebt«. Es seien Unabhängigkeit und Macht, die diesen Geist prägten; Unabhängigkeit von der Zentralregierung in Bezug auf das Gebiet der Gemeinde, das die Gemeindemitglieder selbst verwalteten und damit Macht über ihre eigenen örtlichen Angelegenheiten und Lebensumstände ausübten. »Wo aber der Gemeinde die Stärke und Unabhängigkeit entzogen wird, kann es immer nur Verwaltete, nie aber Bürger geben.« (Tocqueville, DiA, S. 59) Ein Bürger in der Demokratie engagiert sich demnach für seine Angelegenheiten, kennt seine Gemeindepflichten und seine persönlichen Rechte. Die dezentrale Gemeindeverwaltung ist für Tocqueville die geeignetste Organisationsform für eine demokratische Nation. Er unterscheidet die Zentralisierung der Regierung und die Zentralisierung der Verwaltung. Zentralisierung der Regierung bedeute die Konzentration der Macht zur Lenkung aller Angelegenheiten, die die Nation als Ganzes betreffen, wie die Gestaltung der allgemeinen Gesetze und die Beziehung des Volkes bzw. der Nation zum Ausland. Zentralisierung der Verwaltung würde bedeuten, alle Sonderanliegen der bestimmten Teile der Nation, wie die Gemeindeangelegenheiten, von einer Führung zentral bestimmen zu lassen. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 63) Tocqueville favorisiert die Kombination einer zentralisierten Regierung mit einer dezentralen Verwaltungsorganisation. Denn »alles Elend der Feudalgesellschaft rührt daher, daß nicht bloß die Macht der Verwaltung, sondern die des Regierens in unzähligen Händen lag und auf tausenderlei Arten zersplittert war; das Fehlen jeglicher Zentralregierung hinderte damals die Nationen Europas, entschlossen irgendein Ziel zu verfolgen.« (Tocqueville, DiA, S. 65) Eine Zentralregierung hat also den Vorteil, dass sie sich für die Gesellschaft Ziele geben kann, für deren Realisierung sie die nötige Durchsetzungskraft hat. Das Problem an einer Zentralverwaltung sieht Tocqueville in der Entmündigung der Bürger und der Förderung ihrer Bequemlichkeit. »Was liegt schließlich daran, daß eine Autorität stets einsatzbereit da ist, um über die Ungestörtheit meiner Vergnügungen zu wachen, die mir alle Gefahren vorweg beiseiteräumt, ohne daß ich daran zu denken brauche-- wenn diese Autorität, die mir die winzigsten Dornen vom Wege entfernt, gleichzeitig meine Freiheit und <?page no="311"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 312 312 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville mein Leben absolut beherrscht, wenn sie jede Regung und das Dasein derart ausschließlich bestimmt, daß alles in Untätigkeit verharren muß, wenn sie selbst untätig ist, daß alles schläft, wenn sie schläft, alles zugrunde geht, wenn sie stirbt? « (Tocqueville, DiA, S. 71) Die Zentralverwaltung kranke an einer Handlungsschwäche. Denn ohne die Mitwirkung der Bürger sei die Verwaltung kraftlos. Deshalb neige sie dazu, die Menschen in einen Verwaltungsschlummer zu versetzen und deren Aktivitäten zu verhindern. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 69) In einer Demokratie gehorchten die Menschen nicht Menschen, sondern der Gerechtigkeit oder dem Gesetz. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 74) Deshalb müssten Verstöße gegen das Gesetz geahndet werden, welches Aufgabe der richterlichen Gewalt sei. Merkmale der richterlichen Gewalt seien die Schlichtung von Streit (vgl. Tocqueville, DiA, S. 79), das Befinden über konkrete Fälle und nicht über allgemeine Grundsätze sowie das Tätigwerden auf Anruf und nicht aus eigenen Beweggründen (vgl. Tocqueville, DiA, S. 80). Die Gesetzmäßigkeit bzw. Rechtsstaatlichkeit eines politischen Gemeinwesens äußere sich in der Verpflichtung aller politischer Organe sowie aller Bürger gegenüber der Verfassung. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 84) Weil die richterliche Gewalt ausschließlich auf der Grundlage von Gesetzen handeln dürfe, sei die Gefahr, die von dieser starken Macht ausgehe, weitgehend gebannt. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 85) Innerhalb der politischen Institutionen der amerikanischen Gesellschaft stelle die richterliche Gewalt selbst wiederum ein mächtiges Bollwerk gegenüber der Tyrannei einer gesetzgebenden Körperschaft dar, weil sie die Befugnis habe, über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen zu urteilen. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 87) Abgesehen von bestimmten verfassungsrechtlich verbürgten politischen Institutionen zeichne die Demokratie in Amerika besonders das Verhalten der Bürger aus, sich zur Bewältigung von Lebensschwierigkeiten zusammenzuschließen und sich nicht auf die Obrigkeiten zu verlassen. »Amerika ist das Land, in dem man die Möglichkeit der Menschen, sich zusammenzuschließen, am meisten ausgenutzt und dieses mächtige Mittel auf den verschiedensten Gebieten angewendet hat. (…) Der Bürger der Vereinigten Staaten lernt von klein auf, daß er sich im Kampf gegen die mancherlei Schwierigkeiten des Lebens auf sich selbst verlassen muß; er hat für die Obrigkeit nur einen mißtrauischen und unruhigen Blick und ruft ihre Macht nur zur Hilfe, wenn er es gar nicht vermeiden kann.« (Tocqueville, DiA, S. 100) Die Vereinigungsfreiheit stellt für Tocqueville einen notwendigen Schutz gegen die Übermacht der Mehrheit dar, denn »wenn eine Partei erst einmal an die Herrschaft gelangt ist, (geht) die gesamte öffentliche Gewalt in ihre Hände über; ihre Freunde besetzen alle Stellen und verfügen über die gesamte organisierte Macht« (Tocqueville, <?page no="312"?> 4. Interpretation 313 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 313 DiA, S. 105). Nur als organisierte Gegenmacht würden die Bürger die Mehrheitsmacht zu beeinflussen und zu überzeugen vermögen, nicht als Einzelne. Tocqueville sieht in der Vereinigungsfreiheit nicht nur eine notwendige Gegenmacht zur Mehrheit, sondern ein grundsätzliches Recht des Menschen. »Nach der Handlungsfreiheit ist es das natürlichste Recht des Menschen, daß er seine Bemühungen mit den Bemühungen von seinesgleichen verbinden und gemeinschaftlich handeln kann. Daher halte ich die Vereinigungsfreiheit ihrem Wesen nach für beinahe ebenso unveräußerlich wie die Freiheit des Einzelnen.« (Tocqueville, DiA, S. 106) Die Vereinigungsfreiheit soll einen Schutz gegen die Übermacht der Mehrheit darstellen. Der »Allmacht der Mehrheit« widmet Tocqueville ein eigenes ausführliches Kapitel, das in der Rezeption der politischen Theorie Tocquevilles als zentral gilt, weshalb es oben als Primärtextstelle abgedruckt ist. Demnach liegt die unumschränkte Herrschaft der Mehrheit im Wesen der Demokratie, »denn in der Demokratie kann sich außerhalb der Mehrheit nichts behaupten« (Tocqueville, DiA, S. 139). Woran liegt das? Und wo führt das hin? Die Allmacht der Mehrheit sei in erster Linie auf das Wahlrecht und die Volkssouveränität in einer Demokratie zurückzuführen. Volkssouveränität als Selbstbestimmung des Volkes bedeute, dass die »breite Masse« einer Gesellschaft das Recht habe, an den allgemein verbindlichen Entscheidungen mitzuwirken. Diese Mitwirkung würde in der Regel durch das Wahlrecht ausgeübt, indem die Wahlberechtigten Vertreter wählten, die stellvertretend für sie Gesetze verabschiedeten und ausführten. Die Souveränität liegt in der Tocqueville’schen Theoriekonstruktion also formal beim Volk und wird durch Repräsentanten stellvertretend ausgeübt. Wodurch soll erreicht werden, dass sich die Volksvertreter nach den Wünschen der Wähler richten und ihre Macht nicht für Eigeninteressen missbrauchen? Da die Repräsentanten direkt vom Volk gewählt würden und ihre Amtszeit begrenzt sei, seien sie ihrer Wählerschaft verpflichtet und müssten deren Wünsche berücksichtigen, sofern sie wiedergewählt werden wollten. Damit dies geschieht, benötigten sie die Mehrheit der Stimmen. Um die Wählerstimmen zu erlangen, müssten sie sich nach den Vorstellungen, Meinungen, Emotionen und dem Urteil der Mehrheit der Wähler richten. Insofern bestimme die Mehrheit die Geschicke der Gesellschaft und die Souveränität liege bei der Mehrheit und nicht beim ganzen Volk. Erinnern wir uns an Platon, der die Auffassung vertrat, dass die Besten einer Gesellschaft das politische Gemeinwesen regieren sollten. Diese Rolle hat er den Philosophen zugesprochen. Weshalb sollte diese Rolle nun der Mehrheit der Gesellschaft zugeschrieben werden? Hinter der moralischen Rechtfertigung der Herrschaft der Mehrheit stecke die Vorstellung, dass bei einer Vereinigung vieler Menschen mehr Bildung und Weisheit vorhanden sein müsse als bei einem Einzelnen; genauso bei vielen Gesetzgebern im Vergleich zu wenigen. Für Tocqueville ist entscheidend, dass in einer Demokratie faktisch die Mehrheit herrscht, ob sie nun intelligenter als ein König oder eine aristokratische Regierung sein mag oder nicht. Ihn interessiert, welche Folgen die Herrschaft der Mehrheit hat und wie mit negativen Folgen umgegangen werden kann. <?page no="313"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 314 314 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville Tocqueville lehnt es grundsätzlich ab, dass irgendjemand alles tun dürfe, was er wolle. »Ich halte die Allmacht für in sich schlecht und gefährlich. Ihre Ausübung scheint mir die Kräfte jedes Menschen zu übersteigen (…). Sobald ich daher sehe, daß man das Recht und die Möglichkeit, schlechthin alles zu tun, irgendeiner Macht zugesteht, man mag sie nun Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie nennen, man mag sie in einer Monarchie oder in einer Republik ausüben, sobald ich das sehe, sage ich: Das ist der Keim zur Tyrannei, und ich werde versuchen, unter anderen Gesetzen zu leben.« (Tocqueville, DiA, S. 147) Dennoch hält er es für richtig, dass alle Staatsgewalt vom Willen der Mehrheit abgeleitet wird. Tocqueville steht vor dem theoretischen Problem, die Tyrannei des Mehrheitswillens zu verhindern. Die Lösung dieses Problems sieht er auf zwei Ebenen. Zum einen in der Annahme und Anerkennung einer Macht bzw. Autorität, die über dem Willen der Mehrheit und des Einzelnen steht. Üblicherweise ist diese höhere Autorität göttlicher Natur. Auf Gott als eine außerweltliche, religiöse, transzendente 15 Autorität möchte Tocqueville aber nicht zurückgreifen. Er setzt auf die Idee der Menschheit als zwar abstrakte, aber innerweltliche Autorität und überlegt, welches Gesetz zwischenmenschlichen Zusammenlebens von der Mehrheit aller Menschen angenommen werde, das somit universalen Charakter hätte. Es sei das Gesetz der Gerechtigkeit. Fast jeder Mensch auf der Welt wünsche für sich, gerecht behandelt und nicht benachteiligt zu werden. Wenn sich eine Nation als eine Art »Geschworenenkollegium« begreifen würde, das die gesamte Menschheit zu vertreten habe, um das Gesetz der Gerechtigkeit zu verwirklichen, würde sie in ihren nationalen Entscheidungen und ihrem Handeln zum Weltfrieden beitragen. Die Souveränität des Volkes bzw. der Nation würde im Zusammenhang der »Souveränität der Menschheit« gedacht, weshalb die Mehrheitsentscheidungen einer Nation im Verhältnis zur Menschheit stünden. Diese Möglichkeit der Begrenzung der Tyrannei der Mehrheit wäre also normativer Art. Die Anerkennung der fiktiven Ebene der Menschheit, für die ewige und unverbrüchliche normative Gesetze gelten wie das Postulat der Gerechtigkeit oder der Menschenrechte, soll auf die Willensbildung der Mehrheit vernünftig wirken. Dabei handelt es sich um keine konkurrierende Autorität im Sinne der Idee der Gewaltenteilung, sondern um eine außerhalb des politischen Systems anerkannte Werteebene, der sich jede Volksgemeinschaft verpflichtet fühlen sollte. Tocqueville sieht allerdings in der Gewaltenteilung eine weitere Möglichkeit, die Tyrannei der Mehrheit in institutioneller Hinsicht und damit innerhalb des politischen Systems einzudämmen. Die Tyrannei der Mehrheit besteht für Tocqueville in der Annahme, dass die Mehrheit nichts anderes sei, als ein Individuum mit Ansichten und Interessen, die einer Minderheit zuwiderlaufen. Damit die Min- 15 Transzendent ist, was das sinnliche Wahrnehmungsvermögen des Menschen überschreitet. Eine transzendente Autorität wäre für den Menschen nicht fassbar und kontrollierbar. An sie müsste geglaubt werden. <?page no="314"?> 4. Interpretation 315 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 315 derheiten nicht zur Verzweiflung gebracht und gezwungen würden, ihre Zuflucht zur äußeren Gewalt zu nehmen, was die Republik zerstören würde (vgl. Tocqueville, DiA, S. 158), dürfe die Mehrheit nicht über eine unumschränkte Macht verfügen. Durch Gewaltenteilung, in der die richterliche Gewalt unabhängig von der Legislativen und Exekutiven wäre, ließe sich dieses Problem eindämmen. Denn dann könnten von der Mehrheit unterdrückte Minderheiten die unabhängigen Gerichte anrufen, wenn ihnen Ungerechtigkeit widerfahren sein soll. Das ist für Tocqueville der Konstruktionsfehler: Der Mehrheit seien keine Grenzen gesetzt und sie sei quasi allmächtig. In der Allmacht der Mehrheit erkennt Tocqueville einen vollkommenen Despotismus. Ihm ist aufgefallen, dass in Amerika so lange diskutiert würde, wie die Mehrheit noch zweifle, »aber sobald sie sich unwiderruflich erklärt hat, verstummt alles, und Freunde wie Feinde scheinen sich dann gemeinschaftlich vor den Wagen der Mehrheit zu spannen«. (Tocqueville, DiA, S. 150) Kein Monarch würde so unumschränkt herrschen, »daß er alle Kräfte der Gesellschaft in seiner Hand vereinigen und allen Widerstand so überwinden könnte, wie es eine Mehrheit mit dem Recht der Gesetzgebung und Gesetzesvollziehung kann«. (Tocqueville, DiA, S. 150) Ein Monarch sei auch immer eine äußere Macht, die zwar auf das Handeln, aber nicht auf den Willen einwirke. Die Mehrheit hingegen sei mit einer inneren und äußeren Macht ausgestattet, die den Willen und das Handeln bestimme. »Ich kenne kein Land, in dem im allgemeinen weniger geistige Unabhängigkeit und wirkliche Diskussionsfreiheit herrscht als in Amerika.« (Tocqueville, DiA, S. 151) Die Vervollkommnung des Despotismus in der amerikanischen Demokratie besteht also darin, dass der Mehrheitswille das komplette Leben in der Gesellschaft bestimmt und jeder sich genötigt fühlt, sich dem Mehrheitswillen zu unterwerfen, wenn er aus der Gesellschaft nicht ausgeschlossen werden will. Er besteht in der Macht der Mehrheit über das Denken der einzelnen. Folgte man dem Mehrheitswillen nicht, hätte man die Mehrheit seiner Mitmenschen gegen sich. Folgte man dem Willen des Königs nicht, müsste man möglicherweise mit Folter rechnen, aber man könnte für die Mehrheit, die keine Macht besäße, ein Held sein. Die Tyrannei der Vorzeit habe mit den »groben Werkzeugen« der Ketten und Henker gearbeitet und versuchte durch Folter den Geist zu treffen. In demokratischen Republiken kümmere sich die Tyrannei nicht um den Körper, sondern gehe unmittelbar auf den Geist los. »Der Machthaber sagt hier nicht mehr: ›Du denkst wie ich, oder du stirbst‹, er sagt: ›Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten; aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird dir nicht mehr nützen; denn wenn du von deinen Mitbürgern gewählt werden willst, werden sie dir ihre Stimme verweigern, ja, wenn du nur ihre Achtung begehrst, werden sie so tun, als versagten sie sie dir. Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren. Wenn du dich einem unter deinesgleichen nähern willst, so <?page no="315"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 316 316 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville wird er dich fliehen wie einen Aussätzigen; und selbst wer an deine Unschuld glaubt, wird dich verlassen, sonst meidet man auch ihn. Gehe hin in Frieden, ich lasse dir das Leben, aber es ist schlimmer als der Tod‹.« (Tocqueville, DiA, S. 152) Die Inquisition habe nie verhindern können, dass Bücher geschrieben und in Umlauf gebracht worden seien, die gegen die Religion der Mehrzahl gerichtet gewesen seien. »Die Herrschaft der Mehrheit in Amerika kann es besser: sie hat sogar den Gedanken getilgt, sie zu veröffentlichen. Man trifft in Amerika Ungläubige, aber der Unglaube findet dort sozusagen keinen Mund.« (Tocqueville, DiA, S. 153) Um die Allmacht der Mehrheit zu beschränken, sieht Tocqueville zwei Möglichkeiten: die normative Beschränkung (die Souveränität der Nation im Dienste der Souveränität der Menschheit) und die institutionelle Beschränkung (Gewaltenteilung, v. a. die Unabhängigkeit der Gerichte). Im Folgenden diskutiert er am Fall der amerikanischen Demokratie, welch weitere institutionelle Einrichtungen die Tyrannei der Mehrheit mäßigen können-- beispielsweise die amerikanische dezentrale Verwaltungsorganisation. »Wenn die sie repräsentierende Zentralregierung souverän angeordnet hat, muß sie die Vollziehung ihres Befehls Beamten übertragen, die oft von ihr ganz unabhängig sind und die sie nicht in jedem Augenblick lenken kann. Die verwaltenden Körperschaften der Gemeinden und Grafschaften bilden daher entsprechend viele versteckte Klippen, die die Brandung des Volkswillens aufhalten oder spalten. Würde das Gesetz Unterdrückung üben, so könnte doch die Freiheit in der Art, wie man es vollzieht, noch eine Zuflucht finden; die Mehrheit kann nicht in die Einzelheiten und die, wenn ich den Ausdruck wagen darf, Kindereien der Verwaltungstyrannei hinabsteigen.« (Tocqueville, DiA, S. 161) Weiterhin könne die Klasse der Juristen den Mehrheitswillen in Schach halten, weil sie in der Demokratie eine Sonderstellung einnehme. Das Volk habe zu den Juristen Vertrauen, weil sie-- im Gegensatz zum Fürsten und dem Adel-- aus seinen Reihen stammten und sie seinen Interessen dienten. Aber durch ihre Gewohnheiten und Neigungen stünden die Juristen der Aristokratie nahe, weil sie sich gegenüber den anderen als überlegen empfänden, denn sie beherrschten eine unentbehrliche Wissenschaft, von der kaum einer Kenntnis besitze. Die Klasse der Juristen stelle eine natürliche Verbindung zwischen aristokratischer Geisteshaltung und Demokratie her. Denn sie selbst sähen sich als etwas Besonderes, fühlten sich aber dem Volk verpflichtet. Durch die politische Gerichtsbarkeit-- das Recht, Gesetze für verfassungswidrig zu erklären-- könnten sie die Mehrheit zwingen, von den bestehenden Gesetzen nicht abzuweichen. Sie seien die einzige Gruppe, der das Volk nicht misstraue und die die Mehrzahl der öffentlichen Ämter bekleide, wodurch sie einen großen Einfluss auf die Gesetzgebung und Gesetzesvollziehung hätten. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 164-171) <?page no="316"?> 4. Interpretation 317 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 317 »Die Juristen stellen in den Vereinigten Staaten eine Macht dar, die man wenig fürchtet, kaum bemerkt, die kein eigenes Banner schwingt, sich geschmeidig den Erfordernissen der Zeit anpaßt und sich widerstandslos in alle Bewegungen des Staatskörpers schickt; aber sie umfaßt die gesamte Gesellschaft, sie dringt in alle Klassen ein, aus denen die Gesellschaft besteht, sie arbeitet da insgeheim, wirkt dauernd auf die Gesellschaft, ohne daß die es merkt, und wandelt sie schließlich nach Wunsch um.« (Tocqueville, DiA, S. 172) Die Tyrannei der Mehrheit würde außerdem dadurch vermindert, dass die Bürger in Staatsangelegenheiten Verantwortung übernehmen müssten, wie dies in der amerikanischen Demokratie mittels der Institution der Geschworenenbank der Fall sei. Denn wer an Staatsangelegenheiten beteiligt sei, erkenne seine Pflichten, müsse seinen Egoismus zurückstellen und bilde seine Urteilsfähigkeit aus. Die Geschworenenbank verbinde die Bürger mit der oberen Klasse. Sie übe einen volkserziehenden Effekt aus, wodurch die Mehrheitsmeinung weniger tyrannisch würde. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 178 f.) Gegen Ende des ersten Bandes geht Tocqueville darauf ein, welche Elemente in Amerika dazu beitragen würden, die demokratische Republik zu erhalten. Dies wäre die bundesstaatliche Form, weil die Union die Macht einer großen Republik verleihe und die Staaten als kleine Republiken die Ausübung der Volkssouveränität ermöglichten. Als zweites nennt er die Gemeindeeinrichtungen, weil sie den Bürgern den Sinn für Freiheit lehrten. Das dritte Element ist die richterliche Gewalt, weil sie den aristokratischen Geist durch die Juristenklasse mit der Bürgerfreiheit durch die Geschworenenbank verbinde. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 182) Diese institutionellen Elemente, welche die Demokratie der Form nach bilden, würden aber durch die Verhältnisse, Gesetze und Sitten aufrechterhalten. Den Begriff der Sitten wendet Tocqueville »auf die verschiedenen Vorstellungen, die die Menschen besitzen, die verschiedenen Meinungen, die unter ihnen gelten, und auf die Gesamtheit der Ideen, aus denen die geistigen Gewohnheiten sich bilden« (Tocqueville, DiA, S. 183) an. Die Verhältnisse seien in Amerika insofern günstig für die Ausbildung demokratischer Sitten, weil von Beginn an die Gleichheit der Bedingungen herrschte und keine Adelsklasse existierte. Es gab demnach keine Stände. Im sittlichen Denken wurde der Ehrgeiz durch die Liebe zum Reichtum ersetzt und der Wohlstand, ermöglicht durch das Ausnutzen der unbegrenzten Tätigkeitsfelder innerhalb der Union, mäßige die Parteien. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 184) Die besonderen Sitten brächten Gesetze hervor, die demokratisches Verhalten erzwingen würden, wodurch sich wiederum ein positiver Effekt auf den Erhalt der demokratischen Sitten ergäbe. Tocqueville bewertet die Sitten als Hauptursache für das Gedeihen der amerikanischen Demokratie. »Ich bin überzeugt, daß die glücklichste Lage und die besten Gesetze eine Verfassung nicht ohne Hilfe der Sitten aufrechterhalten können, während diese selbst aus <?page no="317"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 318 318 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville der ungünstigsten Lage und den schlechtesten Gesetzen noch Nutzen ziehen. Die Wichtigkeit der Sitten ist eine allgemein geltende, von Forschung und Erfahrung immer wieder bestätigte Wahrheit. Mir scheint, sie bildet in meinem Geiste den Mittelpunkt; ich sehe sie als Abschluß aller meiner Ideen. Nur ein Wort noch habe ich zu diesem Gegenstand zu sagen. Sollte es mir nicht gelungen sein, im Laufe dieses Werkes die Bedeutung fühlen zu lassen, die ich der praktischen Erfahrung der Amerikaner, ihren Gewohnheiten, ihren Meinungen, mit einem Wort ihren Sitten für die Erhaltung ihrer Gesetze zuschreibe, so habe ich das Hauptziel verfehlt, das ich mir bei seiner Abfassung vornahm.« (Tocqueville, DiA, S. 188) Tocqueville hält die Demokratie auch in Europa für möglich. Dazu sei es nicht nötig, die amerikanischen Sitten und Gesetze anzunehmen (vgl. Tocqueville, DiA, S. 197), sondern es gehe darum, den Willen zu entwickeln, die Demokratie mit Hilfe von Gesetzen und Sitten zu regeln (vgl. Tocqueville, DiA, S. 192). Woher jedoch sollte die Motivation kommen, diesen Willen zu entwickeln? Tocqueville sieht die europäischen Gesellschaften in einer epochalen Umbruchssituation, in der es, um wieder zur Ruhe zu kommen, unerlässlich erscheint, sich auf eine neue regulative Idee, wie die der Demokratie, einzulassen. »Da die Religion ihre Herrschaft über die Seelen verloren hat, ist die sichtbarste Schranke, die Gut und Böse schied, gefallen; in der sittlichen Welt erscheint alles zweifelhaft und ungewiß; die Könige und die Völker tappen im Unsicheren, und keiner wüßte zu sagen, wo die natürlichen Grenzen des Despotismus und die Schranken der Willkür sind.« (Tocqueville, DiA, S. 194) Tocqueville sieht für die europäischen Gesellschaften nur noch zwei logische Entwicklungsmöglichkeiten, von denen eine der Weg in Sklaverei und Despotismus und die andere der Weg in die demokratische Freiheit sei. »Diejenigen, welche an eine Rückkehr zur Monarchie Heinrichs IV. oder Ludwigs XIV. glauben, kommen mir blind vor. Wenn ich den Zustand betrachte, den mehrere europäische Nationen bereits erreicht haben und dem alle anderen zustreben, so bin ich persönlich geneigt zu glauben, daß es unter ihnen nur noch Raum geben wird für die demokratische Freiheit oder für die Tyrannei der Cäsaren.« (Tocqueville, DiA, S. 196) Tocqueville ist kein glühender Anhänger der Demokratie, er schätzt mehr die aristokratischen Strukturen, aber angesichts der gegenwärtigen Situation hält er es für vernünftiger, der Demokratie auf die Beine zu helfen. »Müßte man dann nicht die allmähliche Entwicklung der demokratischen Institutionen und Sitten als das einzige, wenn auch nicht das beste Mittel ansehen, das uns verbleibt, um frei zu sein; und möchte man nicht bereitwillig die demokratische Regierung, ohne sie zu lieben, als das brauchbarste und ehrenhafteste Heilmittel ergreifen, mit dem man den heutigen Übeln der Gesellschaft begegnen könnte? « (Tocqueville, DiA, S. 197) <?page no="318"?> 4. Interpretation 319 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 319 Interpretation zu Band 2 Die zentrale Erkenntnis des ersten Bandes über die Demokratie in Amerika ist, »daß die Gesetze und vor allem die Sitten einem demokratischen Volk erlauben können, frei zu bleiben.« (Tocqueville, DiA, S. 197) So sind die Sitten, also die Empfindungen, Anschauungen, Überzeugungen, Gegenstand des zweiten Bandes. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 217) 16 Denn kein Staat, keine Gesellschaft kann nach Tocqueville auf Dauer bestehen und gedeihen, wenn die darin lebenden Menschen nicht durch einige Grundideen vereinigt und zusammengehalten werden. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 219) Durch den Vergleich der Sitten der aristokratischen Gesellschaft mit den Sitten der demokratischen Gesellschaft möchte Tocqueville zum einen die geistigen Erfordernisse aufzeigen, die zur Entwicklung einer Demokratie in Europa nötig wären und zum anderen die negativen Wirkungen, die damit verbunden sein könnten, herausstellen. Jede Gesellschaft benötige gemeinsame Grundideen, damit die Menschen eine normative Grundlage hätten, an der sich die Einzelnen orientieren könnten, um sich in die Gesellschaft zu integrieren, um das Handeln mit den anderen Gesellschaftsmitgliedern zu koordinieren und gemeinsam handeln zu können, »denn ohne gemeinsame Idee, gibt es kein gemeinsames Handeln, und ohne gemeinsames Handeln existieren zwar Menschen, aber nie ein Gesellschaftskörper« (Tocqueville, DiA, S. 219). Hier taucht wieder das philosophische Grundproblem des Politischen auf: Wie wird aus einer Vielfalt von Meinungen ein politischer Wille? Tocquevilles Ansatz ist kein institutioneller, wie etwa bei Rousseau, der durch eine besondere Form der Volksversammlung den Gemeinwillen ermittelt. Tocqueville setzt beim gemeinsamen Glauben an bestimmte Werte der Gesellschaftsmitglieder an, an denen sich der politische Wille ausrichte, woraus folglich ähnliche Meinungen resultierten, die dann einen Mehrheitswillen bildeten. Gesellschaftliche Grundüberzeugungen zu übernehmen, bedeute für den Einzelnen, seinen Geist zu unterwerfen. Aber ist es nicht gefährlich, Anschauungen diskussionslos zu übernehmen? Wäre es nicht besser, wie die Philosophen gesellschaftliche Dogmen zu hinterfragen und in ihren Wirkungen zu überprüfen, bevor man sie annimmt? Tocqueville hält es weder für möglich noch für sinnvoll, alle Einstellungen, die in einer Gesellschaft für wahr gehalten werden, zu überdenken und kritisch zu prüfen, bevor man sie zur Grundlage seines eigenen Handelns macht. Dies sei bislang auch noch keinem Philosophen gelungen. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 220) Es sei geradezu eine »heilsame Hingabe«, diskussionslos geltende Anschauun- 16 Montesquieu untersuchte die Gesetze und Regeln, unter denen die Menschen in Gesellschaften zusammen leben, und kam darauf, dass es die geistigen Prinzipien seien, die diese letztlich verursachten. Rousseau erkannte die Sitten, Gebräuche und Meinungen als eine Art von Gesetzen an, interessierte sich in seiner Theorie jedoch nur für die Staatsgesetze. Tocqueville setzt also an der Erkenntnis Montesquieus an, dass die Prinzipien die menschliche Wirklichkeit bestimmten. <?page no="319"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 320 320 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville gen und Überzeugungen fraglos zu übernehmen, um von der Freiheit einen guten Gebrauch machen zu können. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 221). Gemeinsame Grundideen entstammten einer geistigen Quelle, aus der sie sich begründeten. Im Mittelalter sei diese geistige Quelle die christliche Religion gewesen. Der demokratische Geist entstamme der menschlichen Vernunft und widerspräche dem Glauben an Übernatürlichkeit. Deshalb sei es geradezu unmöglich, demokratische Völker durch einen göttlichen Glauben zu führen bzw. dass sie sich selbst auf der Grundlage einer göttlichen Mission regierten. Es würde auch einzelnen gebildeten, weisen Menschen kaum gelingen, sich mit ihren wohl durchdachten Überzeugungen in der Bevölkerung Gehör zu verschaffen (vgl. Tocqueville, DiA, S. 221), da das Volk aufgrund des Gleichheitsprinzips dazu neige, herausragenden Personen mit Neid und Argwohn zu begegnen. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 113) Gibt es in einer Gesellschaft, die auf der Gleichheit aller beruht, keine geistige Führung? Es sei die öffentliche Meinung, die die demokratischen Menschen führe und nicht die Religion oder gar Intellektuelle. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 222) Warum hat in der Demokratie die Öffentlichkeit die geistige Führung inne? Weil die Menschen wegen ihrer Gleichheit voneinander unabhängig und gleich aufgeklärt seien, schenkten sie sich gegenseitig kein Vertrauen. Umso mehr glaubten sie der Meinung der größten Zahl, von der sie ja ein-- wenn auch winziger und unbedeutender-- Teil seien. Denn so stark und ebenbürtig sich der Einzelne gegenüber dem anderen fühle, so schwach und bedeutungslos empfinde er sich im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft, wodurch ein ungeheurer Druck der Massenseele auf den Einzelgeist ausgeübt würde. Dieses Selbstverständnis der Menschen in einer Demokratie sei eine Folge der Gleichheit, die den Einzelnen in seiner Bedeutung aufwerte und den andern gleichstelle, aber ihn gleichzeitig in das Verhältnis zu allen setze, wo er in der Masse der Gleichen unterzugehen drohe und sich umgekehrt ohnmächtig und bedeutungslos vorkomme. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 295) Im Vergleich zur Aristokratie, in der die Menschen sich auf sich selbst zurückzögen, wenn sie mit der Mehrzahl ihrer Mitmenschen im Widerspruch stünden und in sich selbst Halt und Trost fänden, erscheine in Demokratien die öffentliche Gunst ebenso nötig wie die Luft zum Atmen und »mit der Masse nicht im Einklang zu sein, heißt sozusagen nicht leben« (Tocqueville, DiA, S. 295). So erkennt Tocqueville in der Gleichheit zwei Tendenzen, die auf den menschlichen Geist einwirken. Zum einen führe sie den Geist eines jeden zu neuen Gedanken, weil er persönlich frei, durch seine politische Stimme bedeutend und für die Geschicke der Gesellschaft mit verantwortlich sei. Zum anderen verführe sie den Einzelnen zur Gedankenlosigkeit, weil die Macht der Mehrheitsmeinung so überwältigend sei und drohe, ihn zu isolieren, sollte er sich ihr nicht unterwerfen. Außerdem sei allen demokratischen Menschen gemeinsam, dass sie dazu neigten, sich auf die Mehrung ihres persönlichen Wohlstands zu konzentrieren, was sie davon abhielte, sich mit den Interessen und Rechten der Menschheit zu befassen und sich um die öffentlichen Angelegenheiten zu kümmern. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 287) Dadurch werde die Gedankenlosigkeit weiterhin ver- <?page no="320"?> 4. Interpretation 321 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 321 stärkt. Sollte aber jemand zu einer von der Mehrheitsmeinung abweichenden Überzeugung gekommen sein, würde er diese Überzeugung für sich behalten, sodass Schweigen der Andersdenkenden eine weitere Wirkung der Mehrheitsmeinung auf den menschlichen Geist sei. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 297) Weil die Öffentlichkeit für die Meinungsbildung der Mehrheit, die wiederum alles in der Gesellschaft bestimmt, die wichtigste Quelle sei, müsse in einer demokratischen Gesellschaft Pressefreiheit herrschen. »Je mehr ich die Freiheit der Presse in ihren Hauptwirkungen betrachte, um so klarer wird es mir, daß in der Gegenwart die Pressefreiheit der wesentlichste Baustein, sozusagen der erste Grund der Freiheit ist. Ein Volk, das frei bleiben will, hat daher das Recht, zu fordern, daß man die Pressefreiheit unter allen Umständen achtet.« (Tocqueville, DiA, S. 103) Der Glaube an die öffentliche Meinung sei in demokratischen Gesellschaften eine Art Religion, deren Prophet die Majorität sei. Tocqueville erörtert am Beispiel Amerikas, welche Rolle die Religion in demokratischen Gesellschaften einnimmt, sodass wir an dieser Stelle die Frage klären, in welchem Verhältnis Religion, Gott, Staat, Volk und Individuum in der politischen Theorie Tocquevilles stehen. Zunächst geht Tocqueville davon aus, dass sich die Menschen dogmatische Überzeugungen zurechtlegen müssten, ansonsten drohe ihnen Unordnung und Ohnmacht. Sie müssten sich Vorstellungen von Gott und vom Wesen des Menschen machen, um ihr Dasein zu ertragen und ihren Alltagsbetrieb zu bewältigen. Die menschliche Psyche bedürfe einer religiösen oder politischen Autorität, weil sie eine unbegrenzte Unabhängigkeit nicht vertrage und eine ständige Unrast aller Dinge sie beunruhige und ermüde. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 225 ff.) »Was mich betrifft, so bezweifle ich, daß der Mensch jemals eine völlige religiöse Unabhängigkeit und eine vollkommene politische Freiheit ertragen kann; und ich bin geneigt zu denken, daß er, ist er nicht gläubig, hörig werden, und ist er frei, gläubig sein muß.« (Tocqueville, DiA, S. 227) Aber welche Rolle können Religionen in einer demokratischen Gesellschaft einnehmen, wenn die Menschen nicht an Übernatürlichkeit glauben? Die Gleichheit, welche die Bedingung demokratischer Gesellschaften ist, errege sehr gefährliche Triebe im Menschen, wie den Hang zur Vereinzelung, das Bestreben, sich nur um sich selbst zu kümmern und die unmäßige Liebe zu materiellen Genüssen. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 228) »Der größte Vorzug der Religionen besteht darin, daß sie ganz entgegengesetzte Triebe wecken. Es gibt keine Religion, die das Wünschen der Menschen nicht auf Ziele jenseits der irdischen Güter richtete und die nicht natürlicherweise seine Seele in Bereiche hoch über den der Sinne emporhöbe. Auch gibt es keine, die nicht einem jeden irgendwelche Pflichten gegenüber dem Menschengeschlecht oder im Verein mit ihm auferlegte und die ihn auf diese Weise nicht aus der Betrachtung seiner selbst herausrisse. Das findet sich bei den irrigsten und gefährlichsten Religionen.« (Tocqueville, DiA, S. 228) <?page no="321"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 322 322 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville Religionen wirken also für die Gemeinschaftsbildung und gegen Egoismus sowie für die Orientierung an immateriellen Gütern und gegen materielle Bestrebungen. Darin wären sie für die Demokratie wertvoll und nicht dafür, dass sie die Menschen durch Wunder- und Höllenglauben versuchen zu beherrschen. Insbesondere die christliche Religion eigne sich für demokratische Gesellschaften, da sie für das Leben im irdischen Staat keine Vorschriften mache, sondern die Devise vertrete »gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist« und somit den irdischen Gesetzen keine Konkurrenz mache. (Tocqueville, DiA, S. 229) 17 In der Liebe zum Wohlstand sieht Tocqueville das hervorstechende und unaustilgbare Merkmal des demokratischen Zeitalters. »Die Hauptaufgabe der Religion ist es, die allzu heftige und ausschließliche Neigung zum Wohlergehen, die die Menschen in Zeiten der Gleichheit empfinden, zu läutern, zu regeln und einzuschränken; ich glaube jedoch, es wäre unrichtig, wenn sie versuchten, diese Neigung völlig zu unterdrücken und auszutilgen. Es wird ihnen nicht gelingen, die Menschen von der Liebe zum Reichtum abzubringen; sie können sie aber doch dazu bewegen, sich nur auf eine ehrenhafte Weise zu bereichern.« (Tocqueville, DiA, S. 233) Außerdem glaube man im Zeitalter der Gleichheit immer der Mehrheit. Damit müssten sich die Religionen zwecks Selbsterhaltung arrangieren können. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 235) Die Rolle der Religion in demokratischen Staaten besteht also nicht darin, einen Glauben an Übernatürlichkeit zu erzeugen, sondern den Dogmatismus zu bewahren, damit die Menschen beim Gebrauch ihrer Freiheit nicht ihren Halt verlieren und drohen in der Beliebigkeit der Lebensmöglichkeiten unterzugehen und politisch im Anarchismus enden, aus dem kurz über lang die Tyrannei und die Knechtschaft folgt. Die Rolle Gottes in der politischen Theorie Tocqueville besteht darin, dass Gott der Schöpfer und Erhalter der Menschen sei und er ihr Schicksal bestimme. Die Vorsehung Gottes gehe allerdings nicht so weit, dass die Menschen keine Gestaltungsspielräume hätten. Die Menschen seien frei, die Vorsehung Gottes nach ihrem Willen und ihrer Klugheit zu entwickeln, aber sie könnten sich ihrer Wirkung nicht entziehen. Gott ist also für Tocqueville die Grundlage allen Seins und er wirke in der Welt, aber die Menschen seien frei, im Rahmen der Vorsehung ihr Leben zu gestalten. Die Religionen gäben den Menschen dogmatische Grundüberzeugungen, die ihnen helfen würden, sich in der Welt zu orientieren und ihre Freiheit zu gebrauchen. Die Individuen seien gleichwertig und strebten nach gerechten Verhältnissen, die sie am ehesten in demokratischen Staatsformen erreichen könnten. 17 Dass der Staat nicht auf die Religion verzichten könne, weil sie die Menschen an ihre Pflichten erinnere, sieht Rousseau genauso. Aber für eine Republik hält er die christliche Religion für ungeeignet, weil sie Knechtschaft predige. Montesquieu sieht das Christentum für Republiken wiederum als geeignet, weil es Sanftmut predige. <?page no="322"?> 4. Interpretation 323 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 323 Entscheidend sei, dass die Individuen durch ihre persönliche Freiheit nicht zu Einzelkämpfern würden und vergäßen, dass sie Gerechtigkeit und Freiheit nur erfahren könnten, wenn sie gemeinsam handelten. Selbstisolierung führte auf Dauer in Knechtschaft und Despotismus. Das ist das große Thema Tocquevilles, das ihm Sorge bereitet und das ist der Grund für die Entstehung seines Buches: die Bewahrung der Freiheit und die Verhinderung von Despotismus. »Ich bin der Ansicht, die Art der Unterdrückung, die den demokratischen Völkern droht, wird mit nichts, was ihr in der Welt voraufging, zu vergleichen sein; unsere Zeitgenossen würden ihr Bild in ihren Erinnerungen vergeblich suchen. Ich selbst suche vergeblich nach einem Ausdruck, der die Vorstellung genau wiedergibt, die ich mir von ihr mache, und der sie umfaßt; die alten Begriffe Despotismus und Tyrannei passen nicht. Die Sache ist neu, und da ich sie nicht benennen kann, muß ich versuchen, sie zu beschreiben.« (Tocqueville, DiA, S. 343) Zweck des Buches ist demnach, »die Gefahren, mit denen die Gleichheit die menschliche Unabhängigkeit bedroht«, aufzuzeigen, »weil ich der festen Überzeugung bin, daß diese Gefahren die schrecklichsten und zugleich unvorhergesehensten von allen sind, welche die Zukunft birgt. Aber ich halte sie nicht für unüberwindlich.« (Tocqueville, DiA, S. 359) Der Despotismus führe auf Dauer eine Gesellschaft in den Abgrund, denn er könne aus sich heraus »nichts Dauerhaftes schaffen« (Tocqueville, DiA, S. 73). Es geht also um die Herstellung stabiler politischer Verhältnisse, in denen Freiheit herrscht. Wodurch wird diese Stabilität erreicht? »Man erkennt bei genauem Zusehen, daß es die Religion und nicht die Furcht ist, der die absoluten Regierungen ihre lange Blüte verdanken. Was immer man tun möge, wirkliche Macht unter den Menschen wird man nur im freien Wettstreit der Kräfte antreffen. Nun vermag aber in der Welt einzig die Vaterlandsliebe oder die Religion die Gesamtheit der Bürger im Streben nach einem gleichen Ziel für längere Zeit zu einigen.« (Tocqueville, DiA, S. 73) Vaterlandsliebe und Religionen haben für Tocqueville die Funktion, die Menschen miteinander zu verbinden, damit ein Gesellschaftskörper entsteht; sie bildeten ein gesellschaftliches Band, ohne das eine politische Gemeinschaft auf Dauer nicht existieren könnte. Aber gerade in demokratischen Gesellschaften drohten doch die Gefahr der Vereinzelung und der Zerfall der gesellschaftlichen Bindungen. In Amerika hält Tocqueville diese Gefahr durch eine ausgeprägte Vaterlandsliebe für gebannt. »Was ich in Amerika am meisten bewundere, sind nicht die aus der Verwaltung entstehenden Wirkungen der Dezentralisation, es sind vielmehr ihre politischen Wirkungen. In den Vereinigten Staaten spürt man allerorten das Vaterland. Es ist vom Dorf bis zur ganzen Union ein Gegenstand liebevoller Sorge. Dem Einwohner gilt jedes Anliegen des Landes so viel wie sein eigenes. Der Ruhm der Nation <?page no="323"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 324 324 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville ist der seine; in ihren Erfolgen glaubt er sein eigenes Werk zu erkennen, und er ist stolz darauf; und er freut sich über das allgemeine Wohlergehen, das ihm zugute kommt. Er hegt für sein Vaterland ein gleiches Gefühl wie für seine Familie und auch um den Staat kümmert er sich aus einer Art von Eigenliebe.« (Tocqueville, DiA, S. 74) Es ist demnach das gesellschaftliche Band, das die politischen Verhältnisse stabilisiert. Der Individualismus wirke gegen die gesellschaftlichen Bande und habe seinen Ursprung in der Demokratie, weshalb Tocqueville diesem Thema ein eigenes Kapitel widmet. Er unterscheidet darin den »Egoismus« vom »Individualismus«. »Der Egoismus ist ein Laster, das ebenso alt ist wie die Welt. Er ist an keine besondere Staatsform gebunden. Der Individualismus ist demokratischen Ursprungs und seine Entwicklung droht mit der fortschreitenden Gleichheit zu wachsen.« (Tocqueville, DiA, S. 239) Der Egoismus sei eine leidenschaftliche und übertriebene Eigenliebe, durch die der Mensch alles nur auf sich beziehe und sich selbst allem vorziehe. Der Individualismus sei eine überlegte und friedliche Anschauung, die jeden Staatsbürger geneigt mache, sich von der Masse zu isolieren und mit seiner Familie und seinen Freunden abseits zu halten. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 238) Der Egoismus entstamme einem lasterhaften Gefühl, der Individualismus habe seinen Grund in einem Irrtum des Geistes. Im Gegensatz zur Demokratie hätten aristokratische Institutionen die Wirkung, jeden Menschen mit einigen seiner Mitbürger eng zu verknüpfen, weil die Stellung jedes Einzelnen fest und unerschütterlich definiert sei. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 239) »Die Aristokratie hatte aus allen Staatsbürgern eine große Kette geschmiedet, deren Glieder vom Bauern bis zum König reichten; die Demokratie zerreißt die Kette und isoliert jedes Glied.« (Tocqueville, DiA, S. 240) Da sich in der Demokratie die Klassen annäherten und vermischten, zerfielen die Bindungen unter ihren Mitgliedern und keiner fühle sich mehr dem anderen verpflichtet. Warum hat die Demokratie diese isolierende Wirkung? »Je stärker die gesellschaftlichen Bedingungen sich einander angleichen, desto größer wird die Zahl der Individuen, die zwar nicht mehr reich und mächtig genug sind, um einen großen Einfluß auf das Schicksal ihrer Mitbürger ausüben zu können, die aber hinreichend Bildung und Güter erworben oder behalten haben, um sich selbst zu genügen. Sie sind niemandem etwas schuldig und erwarten sozusagen von niemandem etwas; sie gewöhnen sich daran, sich immer nur in ihrer Isolierung zu betrachten, und stellen sich gern vor, daß ihr Schicksal nur von ihnen selbst abhinge. So sorgt die Demokratie nicht nur dafür, daß ein jeder seine Ahnen vergißt, sondern sie verbirgt ihm auch die Nachfolger und entfremdet ihn auch seinen Zeitgenossen; ständig wirft sie ihn auf sich selbst zurück und droht, ihn gänzlich in die Einsamkeit seines eigenen Herzens einzusperren.« (Tocqueville, DiA, S. 240) <?page no="324"?> 4. Interpretation 325 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 325 Der Preis der Demokratie (als Folge der Gleichheit der Bedingungen) ist also die Unverbundenheit der Einzelnen in der Gesellschaft, ihr Zurückgeworfensein auf sich selbst und ihr Eingeschlossensein in der Einsamkeit ihres eigenen Herzens. Der Gewinn der Demokratie liegt in der Gerechtigkeit unter den Gesellschaftsmitgliedern, der Aufwertung des Individuums gegenüber dem Kollektiv durch die Entfaltungsmöglichkeiten seiner Persönlichkeit, verankert im Recht auf freie Selbstbestimmung, sowie durch die Mitgestaltungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Verhältnisse, institutionalisiert in politischen Mitbestimmungsrechten, wie etwa dem Wahlrecht. Die Aufwertung jedes Einzelnen, indem er gleich viel Wert ist wie jeder andere und gleiche Rechte erhält, bedeutet gleichzeitig sein Untergehen in der Masse und die Wahrnehmung seiner persönlichen Schwäche, weil er ein Individuum unter vielen ist. In einem späteren Kapitel thematisiert Tocqueville das Thema Individualismus aus einer anderen Perspektive. Hat er zuvor den Individualismusbegriff im Sinne der »Vereinzelung« des Menschen verwendet, spricht er später vom Individualismus als Prinzip, durch das einzelne Persönlichkeiten aus der Masse herausragen, wie es in Aristokratien gilt. Er erkennt in Demokratien nicht nur die Gefahr, dass die Einzelnen drohen in der Masse unterzugehen, sondern er stellt darin eine Tendenz zur Assimilation (Angleichung an die Masse) fest, die den Individualismus im letzteren Sinne nahezu austilgt. (Vgl. Tocqueville, DiA, Fußnote 2, S. 300) Weil der demokratische Mensch drohe in der Masse unterzugehen, wünsche er darin aufzugehen, weil die Masse in seinen Augen allein das Recht und die Macht repräsentiere. Denn würde der Einzelne nicht Teil der Masse, sei er schwach und nichts. Der Massenmensch, der seine Persönlichkeit unterordne, sei allerdings manipulierbar und wiederum als Massenmensch schwach. Wenn die Individuen in einer Demokratie isoliert und unverbunden mit den anderen nebeneinander und vor sich her leben, dann herrschten gute Bedingungen für den Despotismus, der in der Isolierung der Menschen das sicherste Unterpfand für seine Dauer sehe und sich stets bemühe, Schranken zwischen ihnen zu errichten. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 242) Die Demokratie und der Despotismus ergänzten und unterstützten sich auf verhängnisvolle Weise. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 243) Die Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen mache die Menschen geneigt, sich mehr um ihr Privatleben und persönliches Fortkommen zu kümmern als um die öffentlichen Angelegenheiten, weshalb sie kaum an der politischen Macht teilnähmen. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 303) Laut Tocqueville haben die Amerikaner eine Lösung gefunden, den Individualismus und die Isolation des Einzelnen zu vermeiden und damit die Gefahr des Despotismus zu bannen. Es müsse gelingen, die Demokratie vor einer allgemeinen Gleichgültigkeit zu bewahren, indem man versuche, die Bürger für das Allgemeinwohl zu interessieren. Dies funktioniere am besten, indem man den Bürgern die Verwaltung kleiner Geschäfte anvertraute, um ihnen zu zeigen, dass sie aufeinander angewiesen seien. Dies sei wertvoller als sie an den großen Staatsgeschäften zu beteiligen. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 245) »Lokale Freiheiten also, die das ständige Bestreben der Bürwww.claudia-wild.de: <?page no="325"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 326 326 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville ger wecken, die Liebe ihrer Nachbarn und Nächsten zu erwerben, führen die Menschen zur Gemeinschaft und zwingen sie ständig, trotz der Neigungen, die sie trennen, sich gegenseitig zu helfen.« (Tocqueville, DiA, S. 245) Die politische Freiheit ist für Tocqueville das wirksamste Mittel, die Übel der Gleichheit (Isolation und Schwäche des Einzelnen) wirksam zu bekämpfen (vgl. Tocqueville, DiA, S. 247), indem Zusammenschlüsse und Vereinigungen gebildet werden (vgl. Tocqueville, DiA, S. 250). »Damit die Menschen gesittet bleiben oder es werden, muß sich unter ihnen die Kunst des Zusammenschlusses in dem Grade entwickeln und vervollkommnen, wie die Gleichheit der Bedingungen wächst.« (Tocqueville, DiA, S. 253) Nun entspreche es nicht den »natürlichen« Neigungen des demokratischen Menschen, sich zusammenzuschließen. Man müsse sich stattdessen darauf gefasst machen, »daß das Privatinteresse mehr als je zuvor zur hauptsächlichen, ja zur einzigen Triebkraft menschlicher Handlungen wird« (Tocqueville, DiA, S. 257). Deshalb müsse ein vernünftiger Gedanke gelehrt werden, der die Einzelnen überzeuge und dazu motiviere, sich zu vereinigen und gegenseitig zu unterstützen. Dies sei die »Lehre vom wohlverstandenen Interesse« bzw. »wohlverstandenen Eigeninteresse«, die darin bestehe, dass es das Interesse eines jeden Einzelnen sei, anständig zu sein, sich gegenseitige Hilfeleistungen zu geben und dem Staat gern einen Teil seiner Zeit und seines Reichtums zu opfern (vgl. Tocqueville, DiA, S. 255 f.). Dieses Selbstverständnis jedes Einzelnen beruhe auf einer »aufgeklärten Eigenliebe«, die besagt, dass wir für das Allgemeinwohl Opfer bringen müssten, damit es uns selbst auf Dauer wohl ergehe. »Das wohlverstandene Interesse ist keine hohe, aber eine klare und zuverlässige Lehre. Große Dinge erstrebt sie nicht; mühelos erreicht sie aber das Erstrebte. Da sie von jedem verstanden werden kann, versteht und behält man sie leicht. Wunderbar schmiegt sie sich den Schwächen des Menschen an und übt dadurch schnell eine große Macht aus. Es fällt nicht schwer, sie zu behalten, weil sie das persönliche Interesse gegen sich selbst richtet und sich, um die Leidenschaften zu lenken, desselben Stachels bedient, der diese auch antreibt.« (Tocqueville, DiA, S. 256) Tocqueville hält die »Lehre vom wohlverstandenen Interesse« für die wirksamste Sicherung der Menschen vor sich selbst. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 257) Allerdings leuchte sie den Menschen eben nicht von selbst ein. Es bedürfe der Aufklärung, damit sie diese Wahrheit erkennen würden, »denn die Zeit blinder Selbstaufgabe und instinktiver Tugend liegt schon weit hinter uns, und ich sehe die Zeit kommen, da selbst die Freiheit, der Friede des Staates und die soziale Ordnung die Bildung nicht mehr werden entbehren können« (Tocqueville, DiA, S. 258). Die Gleichheit bewirke nicht nur, dass sich die Menschen isoliert und schwach fühlten, sondern sie verstärke auch ihre Liebe zum Wohlstand. Die Bedingung politischer Freiheit und Gleichwertigkeit sowie die Vorstellung, sein Schicksal selbst in der Hand zu haben, regten den Wunsch an, sein persönliches Los zu verbessern. Die <?page no="326"?> 4. Interpretation 327 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 327 Landwirtschaft führe nicht unbedingt und wenn, dann nur über Generationen zu Reichtum, hingegen würde von Industrie und Handel schneller Reichtum erhofft. (Vgl. Tocqueville, DiA, Bd 2, vollst. Ausg., 1962, S. 171) »Man hat mehrmals beobachtet, daß die Industriellen und die Kaufleute von einem unmäßigen Hang zu materiellen Genüssen besessen sind, und man hat den Handel und die Industrie dafür verantwortlich gemacht; ich glaube, man hat hier die Wirkung für die Ursache gehalten. Nicht der Handel und die Industrie sind es, die in den Menschen die Vorliebe für materielle Genüsse wecken, sondern es ist vielmehr die Vorliebe, die die Menschen in die industriellen und kaufmännischen Berufe treibt, wo sie eine vollständige und raschere Befriedigung zu finden hoffen. (…) Die Gleichheit ist eine dieser Ursachen. Sie begünstigt den Handel nicht unmittelbar, indem sie den Handelsgeist in den Menschen weckt, sondern mittelbar dadurch, daß sie in ihnen die Liebe zum Wohlstand stärkt und verallgemeinert.« (Tocqueville, DiA, Bd 2, vollst. Ausg., 1962, Fußnote, S. 171 f.) Die Demokratie und die in ihr herrschende Gleichheit fördert also die Liebe zum Wohlstand, die wiederum die Entwicklung der Industrie begünstigt. Die Entwicklung der Gesellschaft zu einer Industriegesellschaft führe die Menschen kurz über lang wieder zur Aristokratie. Tocqueville sieht die Ursache dafür im Prinzip der Arbeitsteilung. Diese brächte es mit sich, dass der Arbeiter immer schwächer, beschränkter und abhängiger würde und der Unternehmer immer gebildeter, weil er durch das Wachstum seines Unternehmens zunehmend ein größeres Ganzes überblicken müsse. Arbeiter und Unternehmer wiesen nichts Gemeinsames mehr auf, sondern füllten unterschiedliche Rollen aus, die sie in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis brächten, in dem der eine zum Gehorchen und der andere zum Befehlen geboren zu sein scheine. »Was ist das, wenn nicht die Aristokratie? « (Tocqueville, DiA, S. 260) Allerdings gleiche die Aristokratie, die aus dem Schoße der Demokratie geboren werde, nicht der früheren, denn sie bilde keine Klasse, teile keine gemeinsame Gedankenwelt, keine gemeinsamen Ziele, keine Tradition und keine Hoffnungen. »Es gibt da wohl Mitglieder, aber keinen Gesamtkörper. Die Reichen sind nicht nur nicht fest miteinander verbunden, man kann noch weiter gehen und sagen, daß es keinerlei wirkliche Bande zwischen reich und arm gibt.« (Tocqueville, DiA, S. 261) Der Unternehmer fordere nur die Arbeit, der Arbeiter nur den Lohn. »Die Landaristokratie vergangener Zeiten war durch das Gesetz gezwungen oder fühlte sich durch den Brauch verpflichtet, ihren Untertanen zu helfen und ihre Not zu lindern. Die heutige industrielle Aristokratie hingegen verelendet und verdummt die Menschen, die sie braucht, und liefert sie dann in Krisenzeiten der öffentlichen Wohlfahrt aus, damit sie von dieser ernährt wird.« (Tocqueville, DiA, S. 262) <?page no="327"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 328 328 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville Tocqueville führt die strukturellen Entwicklungen der Gesellschaft, wie Demokratie oder Kapitalismus, auf Prinzipien und Leidenschaften zurück. Darin folgt er Montesquieu. Die Strukturen, die mit den Begriffen Demokratie und Kapitalismus benannt werden, haben für Tocqueville ihren Ursprung im Prinzip der Gleichheit. Die Demokratie entwickle sich aus der Liebe zur Gleichheit und der Kapitalismus aus der Liebe zum Wohlstand, wobei weder Demokratie noch Kapitalismus für gesellschaftspolitische Verhältnisse »verantwortlich« seien. Die Strukturen verfestigen zwar die Verhältnisse und erzwingen ein bestimmtes Verhalten bei den Individuen, aber sie sind nicht die Ursache der Verhältnisse. Insofern müssten ungerechte Verhältnisse im Zusammenhang der ihnen zugrundeliegenden Prinzipien reflektiert und der Kampf gegen Ungerechtigkeit müsste nicht primär gegen die Strukturen, sondern gegen die Leidenschaften geführt werden, die sie letztlich verursachen. Tocqueville entdeckt in der Demokratie ein Spannungsfeld zwischen gesellschaftlicher Dynamik und geistiger Konformität. Während in der Aristokratie jeder einigermaßen fest innerhalb seines Bereiches verharre und die Menschen sich im Denken, in ihren Leidenschaften und Gewohnheiten ausgesprochen unähnlich seien, glichen sich die Menschen in Demokratien sehr an und täten ungefähr alle dasselbe. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 263) »Die amerikanische Gesellschaft erscheint stark bewegt, weil die Menschen und die Dinge ständig wechseln; sie erscheint einförmig, weil es stets die gleichen Veränderungen sind.« (Tocqueville, DiA, S. 263) In Demokratien schwinde die Vielfalt der menschlichen Sitten. Da sich die Menschen in Demokratien nicht einem Lehnsherrn bzw. Herrscher, sondern der Menschheit verpflichtet fühlten, strebten sie einem universellen Denken, Streben und Tun zu. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 265) »Die Menschheit büßt im Kern ihre Vielfältigkeit ein; in allen Winkeln der Welt findet man die gleiche Art des Tuns, des Denkens und des Fühlens.« (Tocqueville, DiA, S. 265) Zu diesem Phänomen trete die Unbeweglichkeit des menschlichen Geistes. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 290) »Was mir in den Vereinigten Staaten auffiel, ist die Mühe, die es kostet, um eine Mehrheit von einer einmal gefaßten Vorstellung abzubringen und sie von einem Menschen, der sie vertritt, zu lösen. Weder Schriften noch Reden bringen es fertig; einzig der Erfahrung gelingt es; und manchmal muß sie sich noch wiederholen.« (Tocqueville, DiA, S. 291) Das Problem liege darin, dass die Menschen in Demokratien durch kein Band miteinander verknüpft seien, sodass man jeden einzeln überzeugen müsse. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 293) Dieser Umstand sorge auch dafür, dass die Wirkung »großer Männer« ausbliebe. »Es ist sehr schwierig, sich bei den Menschen, die in Demokratien leben, Gehör zu verschaffen, sobald man mit ihnen nicht über sie selbst spricht. Sie hören nicht auf das, was man ihnen sagt, weil sie immer sehr mit dem beschäftigt sind, was sie tun. In der Tat trifft man bei den demokratischen Nationen wenig Müßiggänger an. Das Dasein spielt sich in Unruhe und Betrieb ab, und die Menschen sind da so sehr vom Tun in Anspruch genommen, daß ihnen wenig Zeit zum Denken bleibt. Sie <?page no="328"?> 4. Interpretation 329 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 329 sind nicht nur beschäftigt, sondern, und das will ich vor allem betonen, sie widmen sich ihren Beschäftigungen mit Leidenschaft. Sie sind unaufhörlich tätig, und jede ihrer Handlungen erfüllt ihre Seele; das Feuer, mit dem sie die Geschäfte betreiben, hindert sie, sich für die Ideen zu entflammen. Es ist, denke ich, sehr schwierig, ein demokratisches Volk für irgendeine Theorie zu begeistern, die nicht in sichtbarer, geradliniger und unmittelbarer Beziehung zu seiner täglichen Arbeit steht.« (Tocqueville, DiA, S. 294) Die generelle Möglichkeit in einer Demokratie, plötzlich Gesetze aufheben, neue Glaubenslehren und Sitten annehmen zu können, sorgt nach Tocqueville nicht für eine Unbeständigkeit der Glaubenslehren, sondern im Gegenteil für deren Beständigkeit. »Da die Menschen der Demokratien stets erregt, unsicher, außer Atmen scheinen, bereit, Wollen und Stellung zu wechseln, stellt man sich vor, sie werden plötzlich ihre Gesetze aufheben, neue Glaubenslehren und neue Sitten annehmen. Man bedenkt nicht, daß die Gleichheit in den Menschen, indem sie diese zu Veränderungen geneigt macht, Wünsche und Neigungen weckt, deren Befriedigung gefestigter Verhältnisse bedarf; sie treibt sie vorwärts und hält sie zugleich zurück, sie spornt sie an und bindet sie am Boden fest; sie entfacht ihr Begehren und beschränkt ihre Kräfte.« (Tocqueville, DiA, S. 297) So neigten die Menschen in Demokratien zum Konservatismus. Tocqueville befürchtet sogar, dass Demokratien zum Stillstand des Fortschritts der Menschheit führen würden. »Werde ich es inmitten der mich umgebenden Trümmer auszusprechen wagen? Was ich für die kommenden Generationen am meisten fürchte, sind nicht die Revolutionen. Wenn die Bürger fortfahren, sich immer enger in den Umkreis ihrer kleinen häuslichen Interessen einzuschließen und darin ruhelos tätig zu sein, so ist zu befürchten, daß sie zuletzt unzugänglich werden für jene großen und mächtigen öffentlichen Erregungen, die die Völker verwirren, sie aber vorwärtstreiben und erneuern. (…) Ich bekenne, daß ich davor zittere, sie könnten schließlich so sehr in den Bann einer feigen Liebe zu Gegenwartsgenüssen geraten, daß sie sich weder um ihre eigene Zukunft noch die ihrer Nachkommen kümmern und daß sie lieber weichlich dem Lauf ihres Schicksals folgen, als daß sie nötigenfalls eine rasche und entschlossene Anstrengung zu seiner Besserung unternehmen.« (Tocqueville, DiA, S. 298) Tocqueville leitet seine Prognosen über die Entwicklung der Demokratien aus seiner Menschenkenntnis und der Wirkung von Prinzipien und Strukturen ab. Deshalb <?page no="329"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 330 330 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville stellt er in seiner politischen Theorie immer wieder den Zusammenhang zwischen menschlichem Verhalten und geltenden Prinzipien auf. Ein in aristokratischen Gesellschaften bedeutsames Instrument das Verhalten der Menschen zu steuern, sei die Ehre. Schon Montesquieu hatte die Ehre als Prinzip der Monarchie erkannt. Die Monarchie setze Rangunterschiede, damit sich der Ehrgeiz entfalten könne. Ihr zentrales Merkmal sei die Ungleichheit der Menschen. Tocqueville meint festzustellen, dass, wenn sich Menschen zu einem besonderen Verband zusammenschließen, Ehre entstehe, »d. h. ein ihnen eigentümlicher Inbegriff von Anschauungen über Lobens- und Tadelnswertes; diese besonderen Normen entspringen immer den besonderen Gewohnheiten und den besonderen Interessen des Verbandes.« (Tocqueville, DiA, S. 272) Demokratische Gesellschaften bildeten einen fast ausschließlich industriellen und kaufmännischen Verband, in dem die Liebe zu Geld und zum Reichtum eine wesentliche Rolle spiele. Da es die Arbeit sei, die für die meisten Leute zu Geld und zum Wohlstand führe, richte sich der Ehrbegriff in Demokratien gegen Müßiggang, der in Aristokratien ausgesprochen ehrenvoll gewesen sei. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 275) Allerdings würde der Ehrbegriff in einer Gesellschaft, in der Gleichheit herrsche, nahezu bedeutungslos. Denn die Ehre beruhe auf der Ungleichheit der Menschen. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 280) Tocquevilles Anliegen, die Wirkungen des Gleichheitsprinzips aufzuzeigen und falsche Anschauungen seiner Zeitgenossen darüber zu widerlegen, führt ihn zu dem Schluss, dass die Demokratien einen Beitrag zum Weltfrieden leisteten und gerade nicht zur Revolution neigten, wie manche seiner Zeitgenossen annahmen. Wie argumentiert er? »Fast alle Revolutionen, die das Gesicht der Völker gewandelt haben, fanden statt, um die Ungleichheit zu bekräftigen oder sie zu beseitigen. Man schalte die untergeordneten Ursachen aus, die die großen Unruhen der Menschen hervorriefen, und man wird fast immer auf die Ungleichheit stoßen. Es sind die Armen, die den Reichen den Besitz rauben wollten, oder die Reichen, die die Armen in Fesseln zu legen versuchten. Vermag man also eine Gesellschaftsordnung zu schaffen, in der jeder etwas zu bewahren und wenig zu nehmen hat, so hat man für den Frieden in der Welt viel getan.« (Tocqueville, DiA, S. 283) Was demokratische Gesellschaften kennzeichne, sei ein breiter Mittelstand, »eine unübersehbare Menge fast gleicher Menschen, die, ohne geradezu reich oder arm zu sein, genug besitzen, um Ordnung zu ersehnen, und nicht genug, um Neid zu erregen. Diese sind natürlich Feinde von gewaltsamen Bewegungen; ihre Unbewegtheit hält alles, was über und unter ihnen ist, in Ruhe und sichert die Festigkeit des Gesellschaftskörpers.« (Tocqueville, DiA, S. 284) Weil die Mittelklasse von Überfluss ebenso weit entfernt sei wie vom Elend, legten sie auf ihren Besitz gewaltigen Wert. Da Revolutionen immer den erworbenen Besitz bedrohten, würde die Mittelklasse <?page no="330"?> 4. Interpretation 331 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 331 stets alles dafür tun, diese zu vermeiden. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 285) Weiterhin seien die Handelssitten gegen revolutionäre Bestrebungen gerichtet. »Der Handel ist von Natur ein Feind aller gewalttätigen Leidenschaften. Er liebt die Mäßigung, gefällt sich in Zugeständnissen, flieht sorgfältig den Zorn. Er ist geduldig, geschmeidig, einschmeichelnd, und er greift zu äußersten Mitteln nur, wenn die unbedingteste Notwendigkeit ihn dazu zwingt. Der Handel macht die Menschen voneinander unabhängig; er gibt ihnen eine hohe Meinung von ihrem Wert; er treibt sie dazu, ihre eigenen Geschäfte selber besorgen zu wollen, und er lehrt sie, darin Erfolg zu haben; er macht sie freiheitliebend (sic! ), aber entfernt sie von der Revolution.« (Tocqueville, DiA, S. 286) Der Handel mache die Menschen aber nicht nur unabhängig voneinander, sondern sie würden sich auf internationaler Ebene in Abhängigkeitsverhältnisse begeben. Wenn mehrere Nachbarstaaten Demokratien wären und Handel miteinander betrieben, würden sich die Interessen und Neigungen der Bevölkerungen immer ähnlicher, sodass sie den Krieg fürchteten und den Frieden lieben würden. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 299) Tocqueville hat bereits verschiedene Wirkungen der Gleichheit thematisiert: ihre Wirkung auf den Geist, auf das Selbstverständnis der Bürger oder auf den Handel. Die Gleichheit erzeuge in den Menschen eine Liebe zur politischen Freiheit und die politische Freiheit führe sie zu freiheitlichen Institutionen. »Diese vollkommene Unabhängigkeit, die sie gegenüber ihresgleichen im täglichen Leben ständig genießen, läßt die Menschen jede Autorität mißvergnügt betrachten und vermittelt ihnen bald den Begriff und die Liebe politischer Freiheit. Die Menschen dieser Zeiten schreiten daher auf einer natürlichen Bahn voran, die sie zu freiheitlichen Institutionen führt.« (Tocqueville, DiA, S. 306) Die Freiheitsliebe lasse fürchten, dass die Demokratie in Anarchie verfallen könnte, sobald die staatliche Gewalt, die alle an ihrem Platz hielte, zerfiele und dann alle Bürger ihre Wege gingen. Tocqueville sieht, dass die Gleichheit zwei Tendenzen auslöse: die eine sei der Weg in die Freiheit, der in die Anarchie abdriften könne und die andere sei der längere, verschwiegenere, aber sichere Weg in die Knechtschaft. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 307) Den Weg der Demokratie in die Knechtschaft hält Tocqueville für viel wahrscheinlicher als den Weg in die Anarchie. Weil die Bürger gleichwertig seien und unabhängig voneinander, dadurch aber auch vereinzelt und für sich schwach, bedürfe es einer starken staatlichen Gewalt, die sie insgesamt als Gesellschaft stark mache. Zudem erfordere die Gleichheit die Einheitlichkeit der Gesetze und damit eine Zentralgewalt, die sie repräsentiere und allgemein durchsetze. (Tocqueville, DiA, S. 308) »Je mehr sich die gesellschaftlichen Bedingungen in einem Volke einander angleichen, um so kleiner erscheinen die Individuen und um so größer erscheint der Staat, oder vielmehr: jeder Bürger verliert sich- - allen anderen gleich geworden-- in der Menge, und man erblickt nur noch das gewaltige <?page no="331"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 332 332 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville und großartige Bild des Volkes im ganzen.« (Tocqueville, DiA, S. 309) Dies führe dazu, die Rechte eines Einzelnen zu missachten und die des Staates zu überhöhen. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 310) »Die Einheit, Allgegenwart und Allmacht der staatlichen Gewalt und die Einheitlichkeit ihrer Gesetze sind das charakteristische Merkmal aller heutigen politischen Systeme.« (Tocqueville, DiA, S. 311) Diese Vorstellung leuchte den Fürsten besonders ein und sie begännen, sich neue Anschauungen über ihre Befugnisse und Pflichten zu machen. Dass die Zentralgewalt alle Menschen verwalten könne, ja sogar sollte, sei eine »Auffassung, auf die, wie ich zu behaupten wage, kein König Europas in früheren Tagen gekommen ist«. (Tocqueville, DiA, S. 311 und vgl. S. 340) Tocqueville erkennt allerdings beim demokratischen Menschen einen Widerspruch, nämlich einerseits die Idee der Zentralgewalt zu wollen und anzuerkennen, aber andererseits zu erwarten, dass der Staat sich möglichst aus seinen Privatangelegenheiten heraushält und ihn in Ruhe lässt. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 312) Denn die persönliche Schwäche der Bürger und ihre Einstellung, niemandem etwas schuldig sein zu wollen und von niemandem etwas erwarten zu dürfen, führe dazu, dass sie Unterstützung vom Staat erhofften, der sich aber nicht in ihre Privatangelegenheiten einmischen solle. Die Einstellung der Bürger zum Staat sei also zwiespältig: sie wollten seine Unterstützung und sie wollten seinen Einfluss klein halten. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 312 ff.) Da aber der Wunsch und das Bemühen der Bürger um staatliche Unterstützung so groß seien und den Wunsch staatlicher Zurückhaltung überbieten würden, dehne sich der Staat samt Befugnissen und Regierungsmacht stetig aus. Die Demokratie fördere somit die Macht der Verwaltung. Weil der Staat viele Angelegenheiten der Bürger erledige, würde die Verwaltung zum Experten und der Bürger zum »Idioten«. »Bei einem Volke, das so unwissend wie demokratisch ist, kann es daher nicht ausbleiben, daß ein merkwürdiger Unterschied zwischen den geistigen Fähigkeiten des Souveräns und denen der Bürger bald zutage tritt. Das konzentriert vollends alle Gewalt in dessen Händen. Die Macht der Verwaltung des Staates dehnt sich aus, weil einzig der Staat zur Verwaltung fähig ist.« (Tocqueville, DiA, S. 320) Die Ausdehnung der Macht der Verwaltung führe schleichend in einen Verwaltungsdespotismus, der aus dem Prinzip der Liebe zur Gleichheit entspringe. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 324) Diese Prognose der demokratischen Entwicklung leitet Tocqueville aus seiner Anschauung der damaligen gegenwärtigen Verhältnisse ab. Der Staat mache sich zunehmend unentbehrlich und mische sich in alle Angelegenheiten des Lebens ein. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 326) Ein weiterer Faktor, der in der Demokratie die Stärkung der Zentralgewalt begünstige, sei die Industrie. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 321) Es seien nicht die Industriellen, die eine Einmischung des Souveräns forderten. Sie wollten lieber möglichst freie Hand, um ihre Geschäfte in ihrem Interesse abzuwickeln. Dabei sieht Tocqueville das Problem, dass die Gesundheit der Arbeiter, ja sogar deren Leben aufs Spiel gesetzt würde. Die Industrie setze die Menschen einem plötzlichen Wechsel von Überfluss und Not aus und bedrohe damit die öffentliche Ruhe. »Die industrielle Klasse bedarf daher in größerem Maße als alle anderen der <?page no="332"?> 4. Interpretation 333 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 333 Reglementierung, der Überwachung und des Zwangs, und es versteht sich, daß die Befugnisse der Regierung mit dieser Klasse verwachsen. Diese Wahrheit gilt ganz allgemein.« (Tocqueville, DiA, S. 332) Zu früheren Zeiten bildeten die Gewerbetreibenden eine Ausnahmeklasse inmitten der aristokratischen Welt. Die Gesetzbücher des Mittelalters wiesen nach, dass die Industrie von den Königen ständig und bis in die geringfügigsten Einzelheiten reglementiert worden sei. Nun drohten die Gewerbetreibenden zur wesentlichen und einzigen Klasse zu werden. Die industrielle Klasse aber trage den Despotismus in ihrem Schoße, den Tocqueville verhindern will. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 332 ff.) Am Ende seines Werkes stellt Tocqueville konkrete Überlegungen an, wie der Gefahr des Despotismus unter der Gleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen wirksam zu begegnen wäre. Grundbedingung einer demokratischen Gesellschaft sei zunächst, dass der Staat von Natur tätiger und mächtiger sei und der Einzelne untergeordneter und schwächer. Die Zentralgewalt in einer Demokratie müsse tätig und stark sein, weil die Gesellschaft ansonsten in Anarchie verfiele. »Es handelt sich also nicht darum, sie schwach oder träge zu machen, sondern nur darum, sie daran zu hindern, ihre Rührigkeit und Macht zu mißbrauchen.« (Tocqueville, DiA, S. 350) Wie soll das gehen? Zunächst sollten die Verwaltungsbefugnisse nicht alle auf eine einzige Körperschaft konzentriert, sondern ein Teil davon auf Körperschaften zweiter Ordnung übertragen werden, die aus einfachen Bürgern gebildet würden. Die Verwaltung sollte also dezentralisiert (vgl. Tocqueville, DiA, S. 350 und S. 325) und zur Gründung von Vereinigungen angeregt werden: »Eine politische, industrielle, kaufmännische oder sogar wissenschaftliche und literarische Vereinigung ist ein gebildeter und mächtiger Bürger, den man sich nicht gefügig machen, den man nicht im verborgenen unterdrücken kann und der in der Verteidigung seiner individuellen Rechte gegen den Zugriff des Staates die allgemeinen Freiheiten sichert.« (Tocqueville, DiA, S. 351) Die Individuen sollten sich also mit ihren Interessen zu Verbänden organisieren. Der Schwäche des Individuums müssten weitere wirksame Mittel zur Seite gestellt werden, damit es sich gegen die mächtige Zentralgewalt behaupten könne. Hier nennt Tocqueville zum einen die Presse, an die sich der Einzelne wenden solle, wenn er sich unterdrückt fühlte. »Die Gleichheit isoliert und schwächt die Menschen; die Presse aber stellt jedem von ihnen eine sehr wirksame Sache zur Seite, deren sich auch der Schwächste und Isolierteste bedienen kann.« (Tocqueville, DiA, S. 352) Somit sei die Pressefreiheit für demokratische Länder unentbehrlich. Zum anderen sei die richterliche Gewalt ein Mittel zum Schutz des Individuums, sofern sie unabhängig sei. »Die Macht der Gerichte ist zu allen Zeiten der sicherste Schutz gewesen, der sich der individuellen Unabhängigkeit bieten konnte; für die demokratischen Zeiten gilt das aber ganz besonders; die persönlichen Rechte sind da immer in Gefahr, wenn nicht die richterliche Gewalt in dem Maße wächst und sich erweitert, in dem die gesellschaftlichen Bedingungen sich einander angleichen.« (Tocqueville, DiA, S. 353) Es müsse also die Unabhängigkeit der Gerichte von der Zentralgewalt gegeben sein. <?page no="333"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 334 334 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville Tocqueville geht davon aus, dass nicht nur institutionelle Einrichtungen der Stärke der Zentralgewalt etwas entgegenzusetzen haben, sondern auch die geistigen Einstellungen der Bürger. Der demokratische Mensch hege häufig eine Verachtung gegenüber Formen, weil deren Einhaltung ihn daran hindere, zu leichtem und sofortigem Genuss zu gelangen. Unter »Formen« können wir uns Vorschriften, Normen, Regeln, Gesetze, Aktenmäßigkeit von Verwaltungshandeln etc. vorstellen. »Genau dies aber, was den Menschen der Demokratien für den Nachteil der Formen halten, macht sie so nützlich für die Freiheit, denn ihr Hauptverdienst ist, daß sie als Schranke zwischen den Starken und den Schwachen, zwischen die Regierenden und Regierten treten, um die einen aufzuhalten und den anderen Zeit zur Selbstbesinnung zu geben.« (Tocqueville, DiA, S. 353) Die Bürger sollten also den formalen Umgang mit ihren Belangen schätzen lernen, statt ihn zu missbilligen. Zudem neigten die demokratischen Völker dazu, die individuellen Rechte zu missachten und auf sie wenig Wert zu legen, weil es die öffentliche Hand sei, die sich um sie sorge und die mächtiger als jedes Individuum sei. »Gerade in den demokratischen Zeiten, in denen wir leben, müssen sich die wahren Freunde der Freiheit und der menschlichen Größe immer standhaft und bereit zeigen, zu verhindern, daß die staatliche Gewalt der allgemeinen Durchführung ihrer Pläne die persönlichen Rechte einiger Individuen leichtfertig zum Opfer bringt.« (Tocqueville, DiA, S. 355) Es gilt also neben einem starken Staat die Individualrechte der Bürger zu achten. Diese Faktoren zum Schutz vor Despotismus hat Tocqueville bereits im ersten Band angeführt, wo er sie aus seinen Betrachtungen der Demokratie in Amerika abgeleitet hat. Am Ende bringt Tocqueville nochmals auf den Punkt, wie er die gesellschaftspolitische Lage seiner Zeit sieht und wie sie gerecht beurteilt werden kann, um die neuen Vorteile zu erkennen, die die Gleichheit dem Menschen zu bieten vermag. Die auffälligste Entwicklung der demokratischen Gesellschaft als Folge der Gleichheit ist für Tocqueville, dass sich fast alle Extreme abschleifen würden, fast alles Hervorragende schwinde, um einer Mittelmäßigkeit Platz zu machen, die minder hoch und minder tief, minder glanzvoll und minder armselig sei, als was die aristokratische Gesellschaft bisher hervorgebracht habe. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 361) »Das Schauspiel dieser universellen Einförmigkeit stimmt mich traurig und kalt, und ich fühle mich versucht, die Gesellschaft zu bedauern, die nicht mehr ist.« (Tocqueville, DiA, S. 362) Diese Stimmung dürften viele seiner adeligen und gebildeten Zeitgenossen geteilt haben. Aber Tocqueville versucht sich selbst argumentativ zu überzeugen, dass er mit dieser Einstellung falsch liegt, indem er seinen persönlichen Horizont verlässt und die Perspektive »Gottes« einnimmt, um die demokratische und aristokratische Gesellschaft im Angesicht des großen Ganzen zu betrachten und zu beurteilen. »Es ist natürlich, zu glauben, daß die Blicke jenes Schöpfers und Erhalters der Menschen am ehesten nicht der außerordentliche Reichtum Einzelner zufriedenstellt, sondern der größte Wohlstand aller; was mich Verfall dünkt, ist daher in <?page no="334"?> 4. Interpretation 335 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 335 seinen Augen Fortschritt; was mich verletzt, ist ihm angenehm. Die Gleichheit ist vielleicht weniger erhaben; aber sie ist gerechter, und ihre Gerechtigkeit macht ihre Größe aus und ihre Schönheit. Ich bemühe mich, mir diese Blickrichtung Gottes anzueignen, und versuche von daher, die menschliche Entwicklung zu betrachten und zu beurteilen.« (Tocqueville, DiA, S. 362) Der Grund also, weshalb alle Menschen die Demokratie wollen sollten, ist, dass durch sie gerechtere Verhältnisse geschaffen werden können als durch jede andere Staatsform. Um gerecht urteilen zu können, müsse man sich entscheiden, welches Prinzip man dem Urteil zugrunde legen will: das Prinzip der Erhabenheit oder das Prinzip der Gerechtigkeit. Denn die aristokratische und demokratische Gesellschaft seien so verschieden voneinander und unvergleichbar. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 363) Für Tocqueville besteht die Idee der Demokratie im Prinzip der Gleichheit der Bedingungen, weil die Menschen gleichwertig sind. Die Gleichheit der Bedingungen ermöglicht allen Menschen frei zu sein. Die politische Freiheit ist der Wert, der aus der Sicht Tocquevilles für die Menschheit erstrebenswert ist. Was durch die Demokratie erzeugt wird, sind gerechte gesellschaftspolitische Verhältnisse. Indem Tocqueville für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit argumentiert, teilt er die normativen Prämissen Rousseaus und steht in der Denktradition der Aufklärung. Bei seinen institutionellen Überlegungen fällt allerdings auf, dass er innerhalb der Exekutive deutlich zwischen Regierung und Verwaltung unterscheidet. Dabei plädiert Tocqueville auf der einen Seite für eine Zentralregierung, um gesamtgesellschaftliche Ziele formulieren, verfolgen und durchsetzen zu können. Auf der anderen Seite favorisiert er eine dezentrale Verwaltungsstruktur, damit lokale Angelegenheiten eigenverantwortlich und entsprechend den Gegebenheiten in der Gemeinde angegangen werden können. Die Diskussion über die Regierungsformen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie etc.) erwähnt er nicht, weil sein Ausgangspunkt nicht die Strukturen, sondern die Prinzipien sind und es darum geht, die gegenwärtigen Strukturen in der Logik des Gleichheitsprinzips zu entwickeln, wofür er in der amerikanischen Demokratie vorbildliche institutionelle Anhaltspunkte zu finden meint. Während die Denker vor Tocqueville noch keine Anschauung einer verwirklichten Massendemokratie hatten und ihre Idee von Demokratie auf der Grundlage normativer und fiktiver Vorstellungen aufbauten, verfügt Tocqueville durch die Verhältnisse in Amerika über das Beispiel einer realen Massendemokratie. Im Gegensatz zu Hobbes, Locke, Montesquieu und Rousseau konnte Tocqueville auf das Konstrukt eines fiktiven Naturzustands zur Begründung seiner politischen Theorie verzichten und stattdessen auf Erfahrungen zurückgreifen. Die Forderung der Volkssouveränität ist zu Tocquevilles Zeiten keine abstruse und ketzerische Idee mehr, sondern bahnt sich scheinbar unaufhaltsam ihren Weg in die politische Wirklichkeit hinein, weshalb er sie nicht mehr, wie Hobbes, Locke und Rousseau, durch das Konstrukt eines Gesellschaftsvertrages philosophisch begründen muss. Auf die Frage, warum die Menschen in der Demokratie sich deren Gesetzen und Regeln <?page no="335"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 336 336 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville beugen, gibt Tocqueville dieselbe Antwort wie Rousseau: Der Eigennutz treibt sie an, sich mit ihren Mitmenschen zusammenzuschließen und die Gleichheit der Bedingungen anzuerkennen. Die Herrschaft in einer Demokratie ist unpersönlich, denn die Menschen gehorchen dem Postulat der Gerechtigkeit und dem Gesetz. Tocqueville hebt deutlich hervor, dass sich die Demokratie mit dem Prinzip der Gleichheit an der Vernunft und an der Idee der Menschheit orientiert. So stellt er fest, dass es keine Stärke demokratischer Gesellschaften sei, langfristige Ziele zu verfolgen, weil das Volk eher zum Fühlen statt zum Denken neige. So sei es immer wieder eine große Herausforderung, in einer Demokratie die Leidenschaften zu besiegen und die Bedürfnisse des Augenblicks zugunsten der Zukunft zum Schweigen zu bringen. (Vgl. Tocqueville, DiA, S. 129 f.) Allerdings sollte sich das Volk in einer Entscheidung mal geirrt haben, hätte es größere Chancen zur Wahrheit zurück zu gelangen als ein König oder eine Adelsversammlung, »denn in der Demokratie gibt es in der Regel keine gegen die Vernunft ankämpfenden Interessen, keine Interessen, die denen der Mehrheit zuwiderlaufen« (Tocqueville, DiA, S. 131), weil sich die Menschen in Demokratien nicht einem Einzelnen oder Einzelinteressen, sondern der »Idee der Menschheit« und »Gerechtigkeit« verpflichtet fühlten. Tocqueville hat die Logik der Wirkung des demokratischen Prinzips einleuchtend und klar auf den Punkt gebracht. Die Gleichheit ist das (von der göttlichen Vorsehung gewollte) Wirkungsprinzip und die politische Freiheit das normative Postulat, das es zu erreichen und zu schützen gilt und nach dem die politischen Entwicklungen und Verhältnisse beurteilt werden sollten. Vollzieht Tocqueville einen Umbruch im politiktheoretischen Denken? Ein Denkumbruch aus ideengeschichtlicher Sicht lässt sich bei ihm nicht finden. Aber er lebt in einer historischen Umbruchsphase, die aus seiner Sicht eine Epoche einleitet, die auf noch nie dagewesenen Prinzipien beruht, die er zu erfassen sucht. »Wenn auch die Revolution, die sich in der Gesellschaftsordnung, den Gesetzen, Vorstellungen und Gefühlen der Menschen vollzieht, noch längst nicht abgeschlossen ist, so gibt es doch schon heute in all dem, was sich früher in der Welt zugetragen hat, nichts, was mit ihren Ergebnissen vergleichbar wäre. Ich gehe von Jahrhundert zu Jahrhundert bis auf das früheste Altertum zurück; ich finde nichts, was dem gleicht, das sich vor meinen Augen abspielt. Da die Vergangenheit die Zukunft nicht mehr erhellt, tastet der Verstand im Dunkeln.« (Tocqueville, DiA, S. 360) Das Besondere und Faszinierende am Denken Tocquevilles besteht darin, dass es mitten im Epochenwechsel vom aristokratischen zum demokratischen Zeitalter stattfindet 18 18 Selbstverständlich hat sich dieser Wechsel bis heute nicht vollständig vollzogen. Allerdings hat in der Menschheitsgeschichte noch nie ein Zeitalter das andere vollkommen abgelöst. Gleichwohl gibt es immer ein dominantes Prinzip, das die Wirklichkeit mehr bestimmt und wonach wir dann das Zeitalter benennen können. Die anderen Prinzipien entfalten weiterhin ihre Wirkung im Verborgenen. <?page no="336"?> 4. Interpretation 337 www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 337 und dass er eine bestimmte theoretische Perspektive einnimmt, um diesen Epochenwechsel zu begreifen und fassbar zu machen. Wie Montesquieu versteht Tocqueville die Wirklichkeit von den Prinzipien ausgehend. Seine Ausgangsfrage ist, ob die revolutionären Entwicklungen einem Prinzip zustreben, dessen positive Wirkungen gefördert und die negativen abgeschwächt und kontrolliert werden können. Das heißt, die menschliche Wirklichkeit ist Ausdruck und Ergebnis von Handlungsprinzipien bzw. die gesellschaftspolitischen Verhältnisse lassen sich auf geistige Prinzipien zurückführen, durch die sie bewirkt werden. Institutionalistische Theoretiker gehen davon aus, dass es Institutionen, Strukturen und Systeme sind, die die Menschen und ihre Lebenswirklichkeit bestimmen. Es scheint egal zu sein, was die Menschen denken, glauben und für richtig und für falsch halten; sie steckten in Strukturen drin, die ihr Handeln erzwingen würden. Tocqueville oder auch Montesquieu würden diese Vorstellung nicht absolut gelten lassen. Denn hinter jeder Struktur wirkt ein Prinzip und eine menschliche Leidenschaft als treibende Kraft, aus denen sich die Struktur entwickelt hat und die sie auf Dauer festigen. Es stimmt, dass Strukturen das Handeln der Menschen bestimmen, denn dadurch können sich die Menschen zu Gesellschaften und Staaten verbinden, Verhaltenssicherheit schaffen und gemeinsam handeln. Die Natur von Strukturen ist ihre relative Stabilität, dass sie eben nicht von heute auf morgen verändert werden können. Aber man kann sie verändern und sie werden durch die menschliche Freiheit ständig infrage gestellt. Die Freiheit des Menschen besteht darin, anders zu denken und sein Handeln und damit seine Lebensverhältnisse selbst zu bestimmen. Das bedeutet, sich selbst Prinzipien zu geben, nach denen man seine Handlungsentscheidung trifft, weil es theoretisch immer Handlungsalternativen gibt, die allerdings verschiedene Auswirkungen haben, was jeweils abzuwägen ist, wobei persönliche Handlungsprinzipien von den gesellschaftlichen Prinzipien zu unterscheiden sind. Letztere bilden sich über einen langen Prozess von Diskursen und öffentlicher Meinungsbildung aus, begleitet von Zwang, Gewalt und Propaganda. Sowohl die geltenden Prinzipien in der Gesellschaft als auch unsere persönlichen Prinzipien sowie die gesellschaftlichen Strukturen (Gesetze, Regeln, Vereinbarungen, Verträge etc.) bestimmen unser Handeln. Weshalb den Menschen die Strukturen bei ihrer Handlungsentscheidung so dominant erscheinen, liegt an der Sanktionsgewalt, mit der sie ausgestattet sind. An der Veränderung der bestehenden Verhältnisse haben die Herrschenden allerdings kein Interesse, weshalb sie den Gebrauch der Freiheit zu unterdrücken suchen. Tocqueville hat die Französische Revolution als einen Kampf um Prinzipien verstanden. Und von diesen ausgehend, können Ereignisse anders als nach ihrem Augenschein interpretiert werden. Mittels dieser Theorieperspektive war er in der Lage, die Ansichten und Vorstellungen seiner Zeitgenossen über die gegenwärtigen Verhältnisse zu widerlegen, sie anders zu denken und neu zu beurteilen. »Ich weiß wohl, daß einige meiner Zeitgenossen die Ansicht vertreten, die Völker seien auf Erden nie ihre eigenen Herren und gehorchten notwendig ich weiß nicht welcher unüberwindlichen und blinden Macht, die früheren Ereignissen entwww.claudia-wild.de: <?page no="337"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 338 338 Kapitel XII: Alexis-Charles-Henri Clérel de Tocqueville springe, der Rasse, dem Boden oder dem Klima. Das sind falsche und kraftlose Lehren 19 , die stets nur schwache Menschen und verzagte Völker hervorbringen können: die Vorsehung hat das Menschengeschlecht weder ganz frei geschaffen, noch vollkommen sklavisch. Sie zieht zwar um jeden Menschen einen schicksalhaften Kreis, den er nicht durchbrechen kann; innerhalb dieser weiten Grenzen aber ist der Mensch machtvoll und frei; so auch die Völker.« (Tocqueville, DiA, S. 364) Die Menschen wären also grundsätzlich in der Lage, ihr Schicksal mit zu gestalten. Sollten sie ihre Situation anders empfinden, würde dies, in der Logik Tocquevilles gedacht, nicht daran liegen, dass sie generell ohnmächtig und unfrei sind, sondern dass sie sich selbst dahin gebracht haben. Aber sie hätten immer die Möglichkeit, ihre Macht wiederzuerlangen. 5. Literatur Der Große Ploetz: die Daten-Enzyklopädie der Weltgeschichte. Daten, Fakten, Zusammenhänge, begründet von Dr. Carl Ploetz, 34., neu bearbeitete Auflage, bearbeitet von 80 Fachwissenschaftlern, Freiburg i. Br. ohne Jahr. Grüner, Stefan; Wirsching, Andreas: Frankreich. Daten, Fakten, Dokumente, Tübingen 2003. Hartmann, Peter C.: Geschichte Frankreichs, München 1999. Pisa, Karl: Alexis de Tocqueville. Prophet des Massenzeitalters. Eine Biographie, München, Zürich, Stuttgart 1986. Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. Ausgewählt und herausgegeben von J. P. Mayer, Stuttgart 2006. Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. Aus d. Franz. neu übertragen von Hans Zbinden, Teil I, Zürich 1987. Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. Aus d. Franz. neu übertragen von Hans Zbinden, zweiter Teil, Stuttgart 1962. 19 Hier wendet er sich ausdrücklich gegen die »Klimatheorie«, der unter anderem auch Montesquieu und Rousseau anhingen. <?page no="338"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 339 339 Kapitel XIII: Lehren aus der Ideengeschichte-- die Idee der Demokratie Die Demokratie als Staatsform hat sich erst vor wenigen Jahrzehnten in Europa etabliert. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde euphorisch vom »Siegeszug des liberalen Demokratiemodells« gesprochen. (Vgl. Offe 2003) Zunächst nahm die Zahl demokratischer Staaten nach 1990 weltweit zu, seit 2010 ist jedoch ein Rückgang der Demokratien festzustellen. (Vgl. NZZ, 13.01.2011) Die Demokratisierungsprozesse in Osteuropa oder Asien entwickeln sich anders als erwartet; ebenso die gesellschaftspolitischen Entwicklungen im arabischen Raum. Der Arabische Frühling läutete 2011 die »Diktatorendämmerung« im Nahen Osten und Nordafrika ein. (Vgl. Stefes u. a. 2001; vgl. Zimmermann, in: FR, 28.12.2011) Doch von der Etablierung demokratischer Strukturen sind diese Länder noch weit entfernt. Und was ist mit den etablierten Demokratien der westlichen Industrieländer? Angesichts des Aufstiegs der Volksrepublik China zur globalen Wirtschaftsmacht und angesichts der Finanzkrisen der westlichen Länder wird inzwischen sowohl in den deutschen Medien als auch in der Politikwissenschaft die »Demokratiefrage« gestellt. (Vgl. Zürn 2011; vgl. Benedikter 2011; vgl. Illner, ZDF, 03.11.2011) Taugt das westliche Modell der liberalen Demokratie überhaupt noch, die ökonomischen und gesellschaftspolitischen Krisen unserer Zeit zu bewältigen oder ist unser Demokratiemodell nicht sogar Teil der gegenwärtigen Probleme? Sind wir nicht sogar schon längst im »postdemokratischen Zeitalter« angekommen? (Vgl. Crouch 2008) Die einen fordern »mehr Demokratie« durch den Ausbau der Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger, um die Legitimität und Akzeptanz politischer Entscheidungen zu erhöhen. Die anderen fordern mehr Experten in der Politik, um ökonomische Krisen besser bewältigen zu können. 1 Und nicht nur einzelne Politikwissenschaftler und Journalisten zweifeln inzwischen an der Demokratie, sondern auch bei den Bürgerinnen und Bürger wird von einer »globalen Demokratieverdrossenheit« gesprochen. (Vgl. Holmes 2012) Die Demokratie steckt offenbar in einer Akzeptanzkrise. Die Enttäuschungen über die gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Zustände in einzelnen Ländern oder gar in der Welt sind sicherlich berechtigt-- von den täglichen Zumutungen und Irrsinnigkeiten, die das Alltagsleben mit sich bringt, ganz zu schweigen. Aber ist dafür tatsächlich die Demokratie verantwortlich? Auf den ersten Blick erscheint dies naheliegend und richtig, weil Demokratie als »System« verstanden wird. Sie soll das Mittel der Wählerinnen und Wähler sein, ihren politischen Willen umzusetzen. Demokratie heißt schließlich wörtlich übersetzt »Volks- 1 In Italien wurde 2011 mit Mario Monti ein parteiloser Wirtschaftswissenschaftler als Regierungschef eingesetzt. <?page no="339"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 340 340 Kapitel XIII: Lehren aus der Ideengeschichte-- die Idee der Demokratie herrschaft«. Damit geht die Erwartung einher, dass die Bürgerinnen und Bürger über politische Macht verfügen und die Ausübung ihrer politischen Rechte-- sei es in Wahlen oder Sachabstimmungen-- einen sichtbaren und nachvollziehbaren Effekt haben. Dieser Effekt stellt sich aber meistens nicht ein, sodass sich zunehmend Enttäuschung und das Gefühl der Ohnmacht ausbreitet. Die Demokratie hält offenbar ihr Versprechen nicht-- das Versprechen der Volkssouveränität. Die Ideengeschichte zeigt, dass dieses Versprechen nur unter bestimmten Voraussetzungen eingelöst werden kann, welche die westlichen Demokratien nicht erfüllen. Tatsächlich gibt es derzeit kein Land auf der Welt, das die Voraussetzungen für Volkssouveränität und damit für ein gut funktionierendes demokratisches politisches System erfüllt. Doch worin besteht eigentlich Volkssouveränität? Wie kann sie praktisch ausgeübt werden? Souverän ist, wer bestimmt, was in einem politischen Gemeinwesen allgemein gelten soll und wer die Macht hat, dies auch durchzusetzen. Souveränität drückt sich bei einer politischen Entscheidung in einem eindeutigen Willen aus. Aber wie kann aus einer Vielfalt von Meinungen, Interessen und Wünschen ein einziger politischer Wille werden? Dies ist das philosophische Grundproblem des Politischen, das, wie im vorliegenden Buch gezeigt, insbesondere Hobbes, Locke und Rousseau in ihren politischen Theorien institutionell zu lösen versuchten. Während für Hobbes der Wille der Gesellschaft durch die Anerkennung und Unterwerfung des Einzelnen unter den Willen des absoluten Souveräns gebildet wird und für Locke durch die Anerkennung und Unterwerfung des Einzelnen unter die Mehrheitsregel, wird bei Rousseau der Gemeinwille durch die Mitbestimmung aller in einer Versammlung erzeugt. Die Hobbes’sche Lösung führt auf das politische System einer absoluten Monarchie hinaus, die Idee Lockes wird zwar in einer Art parlamentarischer Demokratie verfasst, mündet aber im Problem der »Tyrannei der Mehrheit«, die später insbesondere Tocqueville thematisiert, und Rousseaus Gemeinwille wird in einem direktdemokratisch verfassten System verankert, beruht allerdings auf der Voraussetzung, dass alle in einer Sache ein gemeinsames Interesse haben, dem gegenüber die Partikularinteressen zurückgestellt werden. Die Forderung nach mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungsprozessen zur Wiederbelebung der demokratischen Idee und um Politikverdrossenheit entgegenzuwirken, geht im Grunde auf Rousseaus radikaldemokratisches Modell zurück und findet ein praktisches Beispiel in der halbdirekten Demokratie der Schweiz. Doch Rousseaus Idee einer Volksversammlung, in der jeder Bürger durch seine Stimme Gesetze inhaltlich beeinflussen und verabschieden kann, funktioniert nur in kleinen Republiken. Weiterhin ist zu fragen, was durch das Mitbestimmungsrecht eines jeden Einzelnen überhaupt erreicht werden soll. Welcher Wille geht der Stimmabgabe seitens der Bürgerinnen und Bürger überhaupt voraus? Woran denken sie, wenn sie ihre Stimmentscheidung treffen? An die Allgemeinheit, an ihre Interessengruppe, an ihren persönlichen Vorteil oder an nichts von alldem? Worum geht es den Bürgerinnen und Bürgern <?page no="340"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 341 Kapitel XIII: Lehren aus der Ideengeschichte-- die Idee der Demokratie 341 bei der Ausübung der »Volkssouveränität«? Um vernünftige Politik im Sinne der Allgemeinheit, um persönliche Machtausübung, um Machtkontrolle der Repräsentanten, um die Auswahl des politischen Personals oder um die ideologische Grundausrichtung der künftigen politischen Entscheidungen der Regierung? Bei Rousseau resultiert eine demokratische Entscheidung aus einem Willen, der auf das Wohl der Allgemeinheit zielt und nicht an sich selbst oder eine Interessengruppe gedacht hat. Die Gemeinwohlorientierung politischer Entscheidungen ist das Merkmal jeder legitimen Herrschaft, sei sie monarchisch oder aristokratisch verfasst, aber insbesondere der demokratisch verfassten. Damit Demokratie ihr Versprechen der Volkssouveränität erfüllen kann und gerechte gesellschaftspolitische Verhältnisse entstehen, bedarf es nicht nur räumlich überschaubarer politischer Einheiten, sondern auch Bürgerinnen und Bürger, die fähig sind, politische Entscheidungen im Sinne und zum Wohl der Allgemeinheit zu treffen. Wenn all die demokratieverdrossenen Bürger auf der Welt diese Voraussetzung erfüllten, könnten sich dann die Verhältnisse in den einzelnen Ländern und in der Welt verbessern? Oder würde durch die Einführung von »mehr Demokratie« der Egoismus der Wenigen durch den Egoismus der Vielen bloß erweitert? Die Volkssouveränität wurde in der Ideengeschichte aus zwei Anlässen »erfunden«. (1) Im antiken Griechenland diente sie als technisches Mittel, in größenmäßig überschaubaren Stadtstaaten mit sehr eingeschränktem Bürgerrecht legitime politische Entscheidungen zu treffen, die von allen Bürgern akzeptiert werden können, da jeder das Recht hat, in der Volksversammlung seine Stimme zu erheben und über Gesetzesvorlagen mit abzustimmen. (2) Im Mittelalter wurde (beispielsweise seitens Marsilius von Padua) die Volkssouveränität als provokante Forderung formuliert, um die Macht der Kirche infrage zu stellen. Das Bürgertum erlangte bereits im Hochmittelalter eine enorme ökonomische und kulturelle Bedeutung und forderte politische Mitbestimmungsrechte, die in der politischen Philosophie als Forderung nach »Volkssouveränität« Eingang fanden. Bei den Theorien der Frühen Neuzeit ging es stets darum, den personellen Kreis der politisch Entscheidungsbefugten über den Adel und den Klerus hinaus zu erweitern. Jedoch dauerte es rund 500 Jahre, bis sich die Adels- und Kirchenherrschaft mit durchschlagendem Erfolg brechen ließ, die politischen Mitbestimmungsrechte auf das »Volk« ausgeweitet und Republiken bzw. konstitutionelle Monarchien gegründet wurden. Zum Volk zählten lange Zeit nur die männlichen Steuerzahler. Auch die Theoretiker dürften bei ihrer Forderung nach »Volkssouveränität« nicht alle Menschen gemeint haben. Entscheidend ist, dass sie für die Veränderung der Herrschaftsverhältnisse und Verbesserung der Lebensbedingungen mit Argumenten kämpften, die allgemeingültig und damit epochen- und situationsunabhängig waren und es heute noch sind. Die Herrschaft des Adels war theoretisch durch Gott legitimiert und um die göttliche Legitimität der Adelsherrschaft infrage zu stellen, musste ein stärkeres und überzeugenderes Argument als die göttliche Gnade angeführt werden. Die »Volkssouveräwww.claudia-wild.de: <?page no="341"?> Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 342 342 Kapitel XIII: Lehren aus der Ideengeschichte-- die Idee der Demokratie nität« bedurfte einer Rechtfertigung jenseits des herrschenden Glaubens. So wurde versucht, allgemein auf der Grundlage des gesunden Menschenverstandes, der Berufung auf die Vernunft und die Natur, aber auch auf Gott als Schöpfer der Natur und des Menschen die »Volkssouveränität« zu begründen. Man führte den menschlichen Verstand und die in der Natur der Dinge steckende Weisheit Gottes gegen den herrschenden Glauben ins Feld und verwies auf die Menschheit und den persönlichen Nutzen als Bezugsgröße, statt auf Gottesfurcht und Jenseitslohn. Was die Menschen miteinander verbindet, ist die Vernunft. Sie allein verfügt über die Kraft, allgemein zu überzeugen. Für die Philosophen der Frühen Neuzeit und Moderne stand die Vernunft aber keineswegs im Widerspruch zu Gott. Gott habe den Menschen die Vernunft verliehen, »damit sie den Menschen untereinander als Richtschnur diene und ihr gemeinsames Band sei, das Menschengeschlecht zu einer einzigen Gemeinschaft und Gesellschaft zu vereinigen« (Locke, II, § 172, S. 309). Um die demokratische Idee zu begründen, bedurfte es also (1) der Erfindung der Idee der Menschheit als abstrakte Bezugsgröße, (2) der Vernunft und des rationalen Verstandes als Grundlage des Denkens, (3) des persönlichen Nutzens als Motivation sowie (4) einer bestimmten Vorstellung über die Natur des Menschen, der eine politische Ordnung zu entsprechen habe, damit sie auf Dauer bestehen kann. Die Natur des Menschen wurde in der Gleichheit aller und im Bestreben des Einzelnen nach Freiheit gesehen. Deshalb können die Menschen auf Dauer nur friedlich miteinander leben, wenn Gerechtigkeit herrscht. Das politische System der Demokratie ist die institutionelle Antwort auf die Forderung nach gerechten Lebensbedingungen für alle. Die Grundlage für Gerechtigkeit wird in der Anerkennung der Menschen als Gleiche bzw. Gleichwertige gesehen und in der Ermöglichung, innerhalb der Gemeinschaft das persönliche Leben selbst zu bestimmen. Damit sind die Menschen frei von der Beherrschung durch andere und können autonom (selbstbestimmt) und nicht heteronom (fremdbestimmt) agieren. Sie sind Selbstzweck und nicht Zweck und Instrument zum Nutzen eines anderen. Diese Allgemeinheit der Argumentation für die »Volkssouveränität« ließ sich in der Geschichte von unterdrückten Gruppen innerhalb des Volkes nutzen, um die Forderung nach politischen Mitbestimmungsrechten philosophisch zu untermauern, sodass inzwischen in den meisten Demokratien auch Frauen, Arme und teilweise dort lebende und arbeitende »Fremde« den Bürgerstatus und damit politische Mitbestimmungsrechte errungen haben. Aus diesen Ideen hat sich unser Verständnis von Demokratie gebildet, woraus letztlich unsere Erwartungen an eben diese Demokratie resultieren. Die Idee der Demokratie, wie sie sich ideengeschichtlich entwickelt hat, bezieht sich allerdings auf gesellschaftspolitische Realitäten, die ihr nicht gerecht werden. Weder ist die Voraussetzung der »kleinen« Republik gegeben, noch muss die Vernunft bei den Bürgerinnen und Bürgern vorausgesetzt werden, sondern bei der politischen Elite. Hinter der Idee der »Volkssouveränität« steckt folgende Annahme: Wenn alle Bürger das gleiche Recht haben, allgemein verbindliche Entscheidungen zu treffen, dann <?page no="342"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 343 Kapitel XIII: Lehren aus der Ideengeschichte-- die Idee der Demokratie 343 wird keiner unterdrückt und niemand gegenüber dem anderen bevorteilt, womit die Bedingungen von Freiheit und Gleichheit erfüllt sind. Die politische Mitbestimmung hat den Zweck, die Lebensbedingungen zu gestalten. Ein Mitbestimmungsrecht, das keinen Effekt auf die persönlichen Lebensbedingungen hat, erscheint demnach sinnlos. Aufgrund der sukzessiven Erweiterung der Volkssouveränität auf nahezu alle Menschen in der Gesellschaft, greifen Demokratien organisatorisch auf das Repräsentationsprinzip zurück, wodurch politisches Handeln in Massengesellschaften praktikabler und effizienter werden soll. Das Repräsentationsprinzip hat aber zur Folge, dass Volkssouveränität nur noch indirekt ausgeübt wird. Dadurch bekommt sie einen ganz anderen Charakter und Effekt, was spezifische Probleme verursacht, die in einer direkten Demokratie nicht vorkommen. Das Mitbestimmungsrecht der Bürgerinnen und Bürger beschränkt sich in repräsentativen Demokratien auf die Auswahl des politischen Personals und von Parteien. Sie beruhen auf einem komplexen institutionellen Arrangement, das durchaus Gelegenheiten und Raum für Korruption bietet. Da die Repräsentanten stellvertretend für die Bürger politische Entscheidungen treffen, muss nun analog zu vorhin die Frage gestellt werden, wovon sie ihre politische Willensbildung abhängig machen. Von der Meinung der Wählermehrheit, von ihrem Wählerklientel, ihrem persönlichen Machterhalt, vom Erfolg ihrer Partei, von der Erfüllung von Verträgen und Zusagen, vom Erhalt der Europäischen Union, von internationalen Bündnisverpflichtungen, vom Wohl der deutschen Wirtschaft, von allgemein geltenden Wertvorstellungen, von Ideologien oder von persönlichen Verpflichtungen, die sie eingegangen sind? Aus welchen Motiven heraus sie auch immer ihre politischen Entscheidungen getroffen haben, im Gegensatz zum Bürger bei einem Volksentscheid müssen sich die Repräsentanten bei Wahlen vor dem Volk für ihre Entscheidungen rechtfertigen. Wenn es darum gehen soll, dass aus politischen Prozessen vernünftige Entscheidungen hervorgehen, dann hat das Repräsentationsprinzip gegenüber der direkten Demokratie einen strukturellen Vorteil. Denn während in einer direkten Demokratie für eine vernünftige Politik die Vernunft beim Bürger vorausgesetzt werden muss 2 , untersteht der gewählte Volksvertreter dem Zwang, seine Entscheidung vernünftig in der Öffentlichkeit zu begründen, um wiedergewählt zu werden. Weil der Bürger gegenüber niemandem rechenschaftspflichtig ist, wird er durch nichts gezwungen, vernünftig zu entscheiden. Bei den Repräsentanten hingegen kann die Rechenschaftspflicht einen disziplinierenden Effekt auf ihre Willensbildung haben, nämlich bei ihrer Entscheidung an das Wohl der Allgemeinheit zu denken. Dabei würden sie einen fiktiven vernünftigen Volkswillen annehmen, auf dem die Begründung ihrer Entscheidung beruht. So bietet das Repräsentationsprinzip einen Mechanismus, sich um vernünftige politische Entscheidungen zu 2 Rousseau steht bei seiner Argumentation im »Gesellschaftsvertrag« vor dem Problem, dass er die Vernunft beim Volk voraussetzen muss-- obwohl er den eigennutzorientierten Menschen voraussetzen will--, um als Ergebnis vernünftige Politik zu erhalten. <?page no="343"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 344 344 Kapitel XIII: Lehren aus der Ideengeschichte-- die Idee der Demokratie bemühen, ohne dass bei den politisch Handelnden tatsächlich Vernunft vorausgesetzt werden muss. 3 Während in einer direkten Demokratie ein öffentlicher Diskurs über politische Entscheidungen theoretisch entbehrlich ist, wird durch den Zwang zur Rechtfertigung des politischen Handelns der Repräsentanten eine Öffentlichkeit konstituiert, die vonseiten der Medien eine kritische sein muss. So wird der Effekt erreicht, dass Volkswille und Wille der Repräsentanten möglichst identisch sind. Die Voraussetzungen dafür, dass der Mechanismus für vernünftige Entscheidungen in repräsentativen Demokratien funktioniert, sind also (1) kritische (d. h. in ihrem Urteil am Gemeinwohl orientierte), aber politisch-weltanschaulich neutrale Medien, (2) politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger, die über die Medien die Begründungen der Politiker verfolgen und in Wahlen der Partei und den Politikern ihre Stimme geben, denen sie vertrauen, künftig im Sinne des Gemeinwohls politisch zu handeln sowie (3) Politikerinnen und Politiker, die in der Lage sind, ihre politischen Entscheidungen allgemein zu begründen, wozu sie normative Ansprüche und Entwicklungsziele für die Gesellschaft vertreten müssen, die mit ihren Entscheidungen und Forderungen im Einklang stehen. Die Volksvertreter werden in ihrer Willensbildung umso mehr diszipliniert, vernünftige Entscheidungen zu treffen, je mehr sie den Eindruck haben können, von den Wählerinnen und Wählern in diesem Sinne ernsthaft kontrolliert zu werden und mit Medien zu tun haben, in denen kompetentes und faires Personal arbeitet, das keine Eigeninteressen und Funktionslogiken der Medien verfolgt und versucht Politik zu vermarkten und medientauglich zu machen. Doch warum sollten die politischen Akteure sich so verhalten? Es gibt keinen zwingenden Grund. Sie müssten sich selbst dazu zwingen. Damit das Repräsentationsprinzip seine positiven Wirkungen entfalten kann, müssten demokratische Pflichten der Bürger gegenüber den Politikern, der Politiker gegenüber den Bürgern und der Medien gegenüber den Politikern und den Bürgern erfüllt werden. Nur im Zusammenspiel dieser drei Akteure kann eine repräsentative Demokratie überhaupt funktionieren. Politiker brauchen einen Souverän hinter sich, der diesem Ausdruck würdig und gewachsen ist, um die Motivation und den Respekt zu haben, ihn anständig zu vertreten. Ein Blick auf die Entwicklung der Wahlbeteiligungen in Deutschland zeigt, dass der Souverän offenbar das Interesse an seiner Aufgabe verloren hat. Damit berauben die Bürgerinnen und Bürger sich selbst ihrer kontrollierenden Wirkung gegenüber den Repräsentanten. Eine hohe Wahlbeteiligung würde den Politikern demonstrieren, dass der bürgerliche Wähler präsent und bereit ist, seine Macht auszuüben. Damit die Regierung ihre Macht nicht missbraucht, schlägt Rousseau in seinem »Gesellschaftsvertrag« vor, dass die Volksversammlung öfter einberufen werden muss, um Präsenz zu zeigen und die Regierung zu disziplinieren. »Man kann nur allgemein 3 Durch populistische Politik, die auf Umfragewerten basiert, wird dieser Mechanismus allerdings konterkartiert. Es handelt sich also lediglich um eine Möglichkeit der vernünftigen politischen Willensbildung, die das Repräsentationsprinzip bietet, die praktisch aber ungenutzt bleiben kann. <?page no="344"?> www.claudia-wild.de: Kreiner__Demokratie_als_Idee__[Druck-PDF]/ 03.04.2013/ Seite 345 Kapitel XIII: Lehren aus der Ideengeschichte-- die Idee der Demokratie 345 sagen, daß der Souverän sich umso häufiger zeigen muß, je stärker die Regierung ist.« (Rousseau, GV, S. 99) Das Wahlrecht auszuüben, ist die vornehmste demokratische Pflicht der Bürgerinnen und Bürger. Die Bürger brauchen Politiker, die ihr politisches Handeln nicht nur propagandistisch (dem Volk »aufs Maul schauend«) oder aus Sachzwängen heraus (angebliche »Alternativlosigkeit« von Entscheidungen) begründen, sondern auch allgemein erklären können. Hiermit sind keine bürokratischen Details gemeint, die eher einen Entfremdungseffekt haben, weil sie die Bürger überfordern und bewirken, dass sie sich dumm vorkommen. Müssen die Bürger tatsächlich darüber informiert werden und ihr politisches Urteil darüber bilden, dass das Kreditvolumen vom »Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus« (ESFM), der auf der »Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität« (EFSF) beruht, auf 500 Milliarden Euro begrenzt wurde und beim »Europäischen Stabilitätsmechanismus« (ESM) nicht erhöht werden wird und Deutschland im schlimmsten Fall mit 379 Milliarden Euro haften müsste? Würde es nicht genügen, allgemein darüber zu informieren, dass die Regierung gemeinsam mit den anderen EU-Mitgliedstaaten die finanzielle Stabilität der Euro-Währungszone sichern muss, wofür Deutschland relativ den größten Beitrag leisten wird, weil es die stärkste Wirtschaftskraft in Europa und die viertstärkste in der Welt ist und dies unter anderem deshalb, weil es dem Euro-Währungsgebiet angehört, das nun zusammenzubrechen droht und das es im eigenen Interesse zu sichern gilt? Für die Bürger ist letztlich der Output entscheidend, also dass es nach den politischen Maßnahmen mit der Stabilität der Euro-Währungszone aufwärts geht und sich die europäischen Wirtschaften erholen. Dies muss statistisch nachgewiesen werden. Und wenn der Output nicht stimmt, dann waren möglicherweise die Instrumente nicht geeignet und die Klugheit der Bürokratie und der Sachverständigen hat versagt. Die Politiker müssen dafür die Verantwortung tragen und möglicherweise wird ihnen bei der nächsten Wahl das Vertrauen in ihre politische Kompetenz entzogen und die Stimmen bekommt die Opposition. Diese wird sich dann Mühe geben, so gute Politik zu machen, dass sie das Vertrauen bis zur nächsten Wahl nicht enttäuscht, und auf die Bürokraten und Sachverständigen Druck ausüben, sich andere und besser funktionierende Instrumente auszudenken. Nicht die Details der politischen Instrumente von Regierungshandeln können das Urteilsvermögen der Wähler ansprechen, sondern sinnstiftende Begründungen, die besagen, was sich die Politiker von bestimmten Maßnahmen erhoffen und welche Logik (und nicht welche Technik) dahinter steckt. 4 4 Weil aber die Regierungstechnik nicht den Beschlüssen folgt, sonder