Europäische Integration
Einführung für Ökonomen
0813
2014
978-3-8385-4110-5
UTB
Hans Adam
Peter Mayer
Der Europäische Binnenmarkt ist der größte der Welt. Das Wissen um die Europäische Integration ist deswegen für Studierende der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre wichtig. Das Lehrbuch führt zu Beginn in die Geschichte des europäischen Einigungsprozesses ein und stellt die institutionelle Struktur der EU vor. Europäische Politikfelder werden in Theorie und Praxis dargestellt und die Herausforderungen der Zukunft diskutiert. Jedes Kapitel zeichnet sich durch Lernziele, Zusammenfassungen und Literaturtipps aus. Ein Glossar rundet das Buch ab. Das Lehrbuch richtet sich an Bachelorstudierende der Volks- und Betriebswirtschaftslehre.
<?page no="1"?> Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · Paderborn A. Francke Verlag · Tübingen Haupt Verlag · Bern Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK / Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Bristol vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich <?page no="2"?> Hans Adam, Peter Mayer Europäische Integration Einführung für Ökonomen UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/ Lucius · München <?page no="3"?> Prof. Dr. Hans Adam und Prof. Dr. Peter Mayer lehren Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Osnabrück. Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014 Lektorat: Rainer Berger Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Cover-Illustration: © iStockphoto / mashuk Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe, Freiburg UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de UTB-Nr. 4110 ISBN: 978-3-82 52-4110-0 <?page no="4"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration Vorwort Die Dynamik des europäischen Einigungsprozesses seit den 1950er-Jahren ist atemberaubend. Aus einer Gemeinschaft mit sechs Mitgliedstaaten wurde eine Union mit 28 Mitgliedern, aus einer Zusammenarbeit, die sich auf einige wenige Politikfelder bezog, wurde eine umfassende Kooperation. Die europäische Einigung bestimmt heute ganz wesentlich das Leben der mehr als 500 Millionen Bürger in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ohne Kenntnisse der Geschichte der Integration, ohne ein Verständnis der Aufgaben der Organe und Institutionen der Europäischen Union, ohne Wissen über die Arbeitsweise der EU in bestimmten Politikbereichen ist häufig wirtschaftliches Handeln in Europa nicht mehr vorstellbar. Die europäische Einigung und die EU-Handlungsfelder spielen daher eine wichtige Rolle in den Curricula ganz unterschiedlicher Studiengänge. Das vorliegende Lehrbuch ist aus Lehrveranstaltungen für Bachelorstudenten entstanden. In zwölf Kapiteln werden zentrale Themenfelder beschrieben: Nach dem einführenden geschichtlichen Überblick wird die institutionelle und rechtliche Struktur der Union vorgestellt. Daran schließt sich ein Kapitel zur Finanzverfassung der Union an. Die drei folgenden Kapitel befassen sich mit dem Binnen- und Außenhandel und der Wettbewerbspolitik der EU. Die beiden nächsten Kapitel beschäftigen sich mit zwei Politikfeldern, die in der Vergangenheit für die Sichtbarkeit und Wahrnehmung der Union und auch für den Haushalt von größter Bedeutung waren: die Agrarpolitik und die Kohäsionspolitik. Im Anschluss daran wird mit der Wirtschafts- und Währungsunion das in den letzten Jahren dominierende Thema behandelt. Den Ausführungen zur Geld- und Währungspolitik folgt die Darstellung der Entwicklung der Wirtschaftsunion und schließlich ein Kapitel zur Eurokrise. Das Lehrbuch endet mit einem Ausblick. Damit werden in diesem Lehrbuch zentrale ökonomische Themenfelder bearbeitet. Weitere Politikfelder, die für den Fortgang der europäischen Einigung ebenfalls von großer Bedeutung sind, wie die Steuerpolitik, die Sozialpolitik, die Gesundheitspolitik und die Entwicklungspolitik, bleiben einer Vertiefung im Rahmen einer weitergehenden Lehrveranstaltung vorbehalten. Jedes Kapitel orientiert sich an Leitfragen. Um die Theorie für die Analyse der Politik nutzbar zu machen, ist jedes Kapitel durch eine Verknüpfung theoretischer Überlegungen und praktischer Entwicklungen gekennzeichnet. Darüber <?page no="5"?> 6 Vorwort hinaus finden sich auf der Internetseite des Verlages zu jedem Kapitel Multiple- Choice-Fragen, die eine schnelle Überprüfung des erworbenen Wissens ermöglichen. Osnabrück, im Juni 2014 Hans Adam und Peter Mayer Zusatzmaterialien für Studierende und Dozenten Digitale Zusatzmaterialien zum Buch finden Sie unter www.uvk-lucius.de/ integration. <?page no="6"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration Inhaltsverzeichnis Vorwort ..........................................................................................................................5 Abkürzungsverzeichnis .............................................................................................. 13 Weiterführende Literatur zur europäischen Integration........................................ 15 Teil 1: Das Entstehen der Europäischen Union........................................ 19 1 Geschichte der europäischen Integration ....................................21 1.1 Einführung .................................................................................................. 21 1.2 Die Entwicklung Europas bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ............. 21 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts ............................ 24 1.3.1 Die unmittelbare Nachkriegszeit 1945-1950 .......................................... 24 1.3.2 Die 1950er-Jahre ......................................................................................... 26 1.3.3 Die 1960er-Jahre ......................................................................................... 31 1.3.4 Die 1970er-Jahre ......................................................................................... 32 1.3.5 Die 1980er-Jahre ......................................................................................... 34 1.3.6 Die 1990er-Jahre ......................................................................................... 36 1.3.7 Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts .......................................... 41 1.3.8 Das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts............................................. 43 1.4 Schlussbemerkung ...................................................................................... 44 1.5 Wichtige Begriffe ........................................................................................ 46 1.6 Literatur........................................................................................................ 46 Teil 2: Institutionelle Strukturen ................................................................49 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen .................................................................51 2.1 Einführung .................................................................................................. 51 2.2 Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union .............. 52 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union ...................... 57 <?page no="7"?> 8 Inhaltsverzeichnis www.uvk-lucius.de/ integration 2.3.1 Parlament ..................................................................................................... 57 2.3.2 Europäischer Rat ........................................................................................ 60 2.3.3 Rat der Europäischen Union .................................................................... 61 2.3.4 Europäische Kommission ......................................................................... 64 2.3.5 Europäischer Gerichtshof ......................................................................... 67 2.3.6 Europäischer Rechnungshof..................................................................... 68 2.3.7 Europäische Zentralbank .......................................................................... 69 2.3.8 Der „Ausschuss der Regionen“ und der „Wirtschafts- und Sozialausschuss“.................................................................................................... 70 2.3.9 Der Einfluss von Interessengruppen ....................................................... 70 2.4 Schlussfolgerungen ..................................................................................... 71 2.5 Wichtige Begriffe ........................................................................................ 71 2.6 Literatur........................................................................................................ 72 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union..........................73 3.1 Einführung .................................................................................................. 73 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 2014 ......................................... 73 3.2.1 Die Haushaltsplanung in der Europäischen Union ............................... 73 3.2.2 Die Ausgabenseite des EU-Haushalts ..................................................... 76 3.2.3 Die Einnahmeseite des EU-Haushalts..................................................... 79 3.3 Die Nettoposition der Mitgliedsländer innerhalb der EU .................... 84 3.4 Mehrjähriger Finanzrahmen 2014-2020.................................................. 86 3.5 Problemfelder der Haushaltspolitik ......................................................... 87 3.6 Wichtige Begriffe ........................................................................................ 90 3.7 Literatur........................................................................................................ 90 Teil 3: Der europäische Wirtschaftsraum - Handel und Wettbewerb ......93 4 Der europäische Binnenmarkt .....................................................95 4.1 Einführung .................................................................................................. 95 4.2 Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes ..... 97 4.2.1 Statische Effekte - Handelsschaffung und Handelsumlenkung .......... 98 <?page no="8"?> Inhaltsverzeichnis 9 www.uvk-lucius.de/ integration 4.2.2 Dynamische Effekte ................................................................................. 100 4.3 Rechtsgrundlagen, Ziele, Institutionen .................................................. 102 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes..................................................................................................... 103 4.4.1 Warenverkehr ............................................................................................ 103 4.4.2 Freier Dienstleistungsverkehr ................................................................. 107 4.4.3 Personenverkehr ....................................................................................... 111 4.4.4 Kapitalverkehr........................................................................................... 113 4.5 Herausforderungen - anstehende Aufgaben ........................................ 116 4.6 Wichtige Begriffe ...................................................................................... 118 4.7 Literatur...................................................................................................... 118 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union .......................................................................................... 121 5.1 Einführung ................................................................................................ 121 5.2 Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Politik................................................................................................... 121 5.2.1 Marktwirtschaft und Wettbewerb - Zur grundsätzlichen Vorteilhaftigkeit wettbewerblicher Verfahren .................................................. 121 5.2.2 Leitbilder der Wettbewerbspolitik .......................................................... 124 5.3 Schlussfolgerungen für die Wettbewerbspolitik ................................... 126 5.4 Wettbewerbspolitik der EU..................................................................... 127 5.4.1 Geschichte der europäischen Wettbewerbspolitik ............................... 128 5.4.2 Das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union................................. 129 5.4.3 Die europäische Wettbewerbspolitik in der Praxis .............................. 130 5.5 Ausblick ..................................................................................................... 141 5.6 Wichtige Begriffe ...................................................................................... 142 5.7 Literatur...................................................................................................... 143 6 Die Handelspolitik der Europäischen Union............................. 145 6.1 Einführung - Europa und die Vorteile des Handels ........................... 145 6.2 Der Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends............................ 148 <?page no="9"?> 10 Inhaltsverzeichnis www.uvk-lucius.de/ integration 6.2.1 Der Binnenhandel..................................................................................... 148 6.2.2 Der Handel mit dem Rest der Welt ....................................................... 149 6.2.3 Die Bewertung der Handelsentwicklung ............................................... 152 6.3 Die Handelspolitik der EU...................................................................... 153 6.3.1 Rechtsgrundlagen...................................................................................... 153 6.3.2 Die Europäische Union als aktiver Akteur im System der multilateralen Handelsliberalisierung .............................................................. 154 6.3.3 Spezielle Abkommen mit Partnerländern.............................................. 156 6.4 Herausforderungen................................................................................... 160 6.5 Wichtige Begriffe ...................................................................................... 160 6.6 Literatur...................................................................................................... 161 Teil 4: Die ausgabenträchtigen EU-Politiken ......................................... 163 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union .......... 165 7.1 Einführung ................................................................................................ 165 7.2 Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt .............................. 167 7.2.1 Besonderheiten landwirtschaftlicher Güter........................................... 167 7.2.2 Abweichende Produktionsbedingungen................................................ 168 7.2.3 Externalitäten ............................................................................................ 170 7.2.4 Gründe einer Zuordnung der Agrarpolitik auf die EU-Ebene .......... 171 7.3 Ziele der GAP ........................................................................................... 171 7.4 Instrumente der GAP .............................................................................. 173 7.5 Die GAP 2014-2020 ................................................................................ 177 7.6 Wichtige Begriffe ...................................................................................... 180 7.7 Literatur...................................................................................................... 180 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik ..................................................................... 183 8.1 Einführung ................................................................................................ 183 8.2 Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union .................... 189 8.3 Kohäsion und Regionalpolitik ................................................................ 193 8.3.1 Politische Interessen................................................................................. 193 <?page no="10"?> Inhaltsverzeichnis 11 www.uvk-lucius.de/ integration 8.3.2 Rechtliche Grundlagen ............................................................................ 194 8.3.3 Regionalpolitik und Marktprozesse........................................................ 195 8.3.4 Gezielte Regionalpolitik........................................................................... 195 8.4 Evaluation der Kohäsionspolitik ............................................................ 197 8.5 Schlussbemerkung .................................................................................... 199 8.6 Wichtige Begriffe ...................................................................................... 199 8.7 Literatur...................................................................................................... 199 Teil 5: Die Wirtschafts- und Währungsunion.......................................... 201 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union ...203 9.1 Einführung ................................................................................................ 203 9.2 Der Weg zur Europäischen Währungsunion........................................ 203 9.3 Die Theorie optimaler Währungsräume ................................................ 212 9.4 Die Geld- und Währungspolitik ............................................................. 216 9.4.1 Der institutionelle Rahmen zur Durchführung der einheitlichen Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union .................... 216 9.4.2 Die Geldpolitik des Eurosystems ........................................................... 217 9.5 Die Rolle des Euros in der internationalen Währungsordnung ......... 220 9.6 Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis...................... 221 9.6.1 Die Governance-Struktur des Euro-Währungssystems ...................... 221 9.6.2 Das Mandat der EZB............................................................................... 222 9.7 Schlussfolgerung ....................................................................................... 231 9.8 Wichtige Begriffe ...................................................................................... 231 9.9 Literatur...................................................................................................... 231 10 Die Wirtschaftsunion ..................................................................233 10.1 Einführung ................................................................................................ 233 10.2 Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik ............................................ 234 10.2.1 Die rechtlichen Grundlagen der Koordinierung .................................. 234 10.2.2 Das europäische Semester und die Überwachung der nationalen Wirtschaftspolitik...................................................................................... 236 <?page no="11"?> 12 Inhaltsverzeichnis 10.2.3 Elemente der Koordinierung: Finanzpolitik, allgemeine Wirtschaftspolitik, Finanzmarktpolitik ...................................................................... 237 10.3 Schlussfolgerungen ................................................................................... 243 10.4 Wichtige Begriffe ...................................................................................... 244 10.5 Literatur...................................................................................................... 244 11 Die Eurokrise - Ursachen und Herausforderungen..................245 11.1 Einführung ................................................................................................ 245 11.2 Die Genese der Krise ............................................................................... 246 11.3 Die Ursachenanalyse - fünf miteinander verwobene Krisen ............. 251 11.3.1 Die Krise der Wettbewerbsfähigkeit ...................................................... 252 11.3.2 Die Bankenkrise ........................................................................................ 252 11.3.3 Die Staatsverschuldungskrise .................................................................. 253 11.3.4 Die makroökonomische Krise ................................................................ 254 11.3.5 Die Entscheidungsstrukturen innerhalb der Europäischen Union.... 257 11.3.6 Die Verknüpfung der Krisen .................................................................. 257 11.4 Lösungsansätze ......................................................................................... 258 11.4.1 Lösungsansätze innerhalb der Struktur der Wirtschafts- und Währungsunion......................................................................................... 258 11.4 2 Lösungen außerhalb der bestehenden Ordnung .................................. 268 11.5 Schlussbemerkung .................................................................................... 270 11.6 Wichtige Begriffe ...................................................................................... 272 11.7 Literatur...................................................................................................... 272 Teil 6: Ausblick.........................................................................................275 12 Perspektiven der europäischen Einigung ..................................277 12.1 Schlaglichter des Einigungsprozesses .................................................... 277 12.2 Wichtige Begriffe ...................................................................................... 282 12.3 Literatur...................................................................................................... 282 Sachregister ..............................................................................................285 <?page no="12"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration Abkürzungsverzeichnis AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AKP Afrika-Karibik-Pazifik BIP Bruttoinlandsprodukt BMELV Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz BMF Bundesministerium für Finanzen BMWi Bundesministerium für Wirtschaft und Energie BNE Bruttonationaleinkommen CR Konzentrationsrate EBA Everything but arms ECU European Currency Unit EEA Einheitliche Europäische Akte EFRE Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung EFTA Europäische Freihandelsassoziation EG Europäische Gemeinschaften EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ELER Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raumes ESF Europäischer Sozialfonds ESZB Europäisches System der Zentralbanken EU Europäische Union EURATOM Europäische Atomgemeinschaft EUV Vertrag über die Europäische Union EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWR Europäischer Wirtschaftsraum EZB Europäische Zentralbank GAP Gemeinsame Agrarpolitik <?page no="13"?> 14 Abkürzungsverzeichnis GASP Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GATS General Agreement on Trade in Services GATT General Agreement on Tariffs and Trade GG Grundgesetz GSP General System of Preferences HHI Herfindahl-Hirschman-Index HVPI Harmonisierter Verbraucherpreisindex IWF Internationaler Währungsfonds MdEP Mitglied(er) des Europäischen Parlaments MfV Mittel für Verpflichtungen MfZ Mittel für zu leistende Zahlungen Mrd Milliarden MwSt Mehrwertsteuer NATO North Atlantic Treaty Organization OECD Organization for Economic Cooperation and Development OEEC Organization of European Economic Cooperation OLAF Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung RCA Revealed Comparative Advantage SVR Sachverständigenrat SZ Süddeutsche Zeitung TRIPS Trade-related Aspects of Intellectual Property Rights UN United Nations USA United States of America VK Vereinigtes Königreich VO Verordnung WTO World Trade Organization <?page no="14"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration Weiterführende Literatur zur Europäischen Integration Lehrbücher Mit der Thematik der Europäischen Integration beschäftigen sich zahlreiche Lehrbücher unterschiedlichen Anspruchsniveaus und Erklärungsumfangs, die als ergänzende Literatur in Lehrveranstaltungen herangezogen werden können. Dazu zählen: Baldwin, Richard/ Wyplosz, Charles (2012): The Economics of European Integration, 4. Auflage, London, McGraw-Hill Borchardt, Klaus-Dieter (2010): Das ABC des Rechts der Europäischen Union, Luxemburg Brasche, Ulrich (2013): Europäische Integration. Wirtschaft, Erweiterung und regionale Effekte, 3. Auflage, München, Oldenbourg Verlag El-Agraa, Ali (Hrsg.) (2011): The European Union: Economics and Policies, 9. Auflage, Cambridge Jovanovi , Miroslav N. (2013): The Economics of European Integration, 2. Auflage, Cheltenham, Northampton McCormick, John (2011): Understanding the European Union - A Concise Introduction, 5. Auflage, Palgrave-Macmillan Nugent, Neill (2010): The Government and Politics of the European Union, 7. Auflage, Palgrave-Macmillan Ohr, Renate (2013): Fit für die Prüfung: Europäische Integration, Konstanz/ München, UVK-Lucius/ UTB Pelkmans, Jacques (2006): European Integration. Methods and Economic Analysis, 3. Auflage, Essex, Pearson Ranacher, Christian/ Staudigl, Fritz (2010): Einführung in das EU-Recht, 2. Auflage, Wien, / UTB Ribhegge, Hermann (2011): Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin, Heidelberg, 2. Auflage, Springer Verlag Wagener, Hans-Jürgen/ Eger, Thomas (2014): Europäische Integration. Wirtschaft und Recht, Geschichte und Politik, 3. Auflage, München, Verlag Franz Vahlen Weidenfeld, Werner/ Wessels, Wolfgang (Hrsg.) (2013): Jahrbuch der Europäischen Integration 2013, Baden-Baden, Nomos Verlag Wichtige Internetquellen EU: www.europa.eu Eurostat: www.eurostat.eu <?page no="15"?> 16 www.uvk-lucius.de/ integration Daten und Fakten zur Europäischen Union Land Hauptstadt Beitritt Bevölkerung (in Mio.) Pro-Kopf- Einkommen 2013 (EU-28 = 100) Belgien Brüssel 1952 11,1 120 Bulgarien Sofia 2007 7,3 47 Dänemark Kopenhagen 1973 5,6 126 Deutschland Berlin 1952 80,5 123 Estland Tallinn 2004 1,3 71 Finnland Helsinki 1995 5,4 115 Frankreich Paris 1952 65,6 109 Griechenland Athen 1981 11,1 75 Irland Dublin 1973 4,6 129 <?page no="16"?> 17 Italien Rom 1952 59,7 101 Kroatien Zagreb 2013 4,3 62 Lettland Riga 2004 2,0 64 Litauen Vilnius 2004 3,0 72 Luxemburg Luxemburg 1952 0,5 263 Malta Valletta 2004 0,4 86 Niederlande Amsterdam 1952 16,8 128 Österreich Wien 1995 8,5 130 Polen Warschau 2004 38,5 67 Portugal Lissabon 1986 10,5 76 Rumänien Bukarest 2007 20,0 50 Schweden Stockholm 1995 9,6 126 Slowakei Bratislava 2004 5,4 76 Slowenien Ljubljana 2004 2,1 84 Spanien Madrid 1986 46,7 96 Tschechische Republik Prag 2004 10,5 81 Ungarn Budapest 2004 9,9 67 Vereinigtes Königreich London 1973 63,9 106 Zypern Nikosia 2004 0,9 92 <?page no="18"?> Teil 1: Das Entstehen der Europäischen Union <?page no="20"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 1 Geschichte der europäischen Integration Leitfragen Welche politischen Entwicklungen und Ereignisse haben die europäische Einigung geprägt? Wie hat sich die europäische Wirtschaft seit Beginn der europäischen Integration verändert? Welche idealtypischen Vorstellungen haben die Diskussion über die Zukunft Europas bestimmt? 1.1 Einführung Die europäische Einigung seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist ein einzigartiger Prozess, mit dem sich das Zusammenleben der Völker Europas gegenüber den vorherigen Jahrhunderten fundamental geändert hat. Aus einem Kontinent des Krieges wurde ein Kontinent des Friedens, wie es in der Erklärung des Nobelpreiskomitees anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union im Jahr 2012 heißt. Die Entwicklung der europäischen Einigung der letzten Jahrzehnte war stets eng verbunden mit Veränderungen der weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Rahmendaten. Im folgenden Kapitel wird die Verknüpfung dieser Entwicklungstrends herausgearbeitet. 1.2 Die Entwicklung Europas bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Die europäische Einigung war von Anfang an ein von politischen Motiven geprägter Prozess. Sie war eine Antwort auf die Jahrhunderte alte Realität ständig wiederkehrender Kriege auf europäischem Boden. Eine Auswahl aus der langen Liste der innereuropäischen militärischen Auseinandersetzungen zeigt die <?page no="21"?> 22 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration Dimensionen: England und Frankreich bekriegten sich im Hundertjährigen Krieg 1337-1453. In den Italienischen Kriegen 1494-1559 kämpften unter anderem italienische, französische und habsburgische Truppen. Russische und schwedische Truppen standen sich wiederholt in den Russisch-Schwedischen Kriegen 1495-1497, 1590-1595 und 1611-1617 gegenüber. Im Dreißigjährigen Krieg 1618-1648 waren unter anderem deutsche, schwedische, spanische, niederländische und französische Truppen involviert. Im Großen Nordischen Krieg 1700- 1721 kämpften Truppen aus Russland, Schweden und Polen. Der Siebenjährige Krieg 1756-1763 war ein internationaler Konflikt auf deutschem Boden mit Beteiligung Englands, Frankreichs, Österreichs. In den napoleonischen Kriegen 1803-1815 waren mehr als 20 Kriegsparteien einbezogen. Der Deutsch-Französische Krieg 1870/ 71 war eine Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich. Im Ersten Weltkrieg 1914-1918 waren rund 40 Staaten involviert, 17-20 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Schließlich kamen in dem von den Nationalsozialisten ausgelösten Zweiten Weltkrieg 1939-1945 allein in Europa mehr als 50 Millionen Menschen ums Leben. Die Verluste an Menschenleben all dieser Kriege waren hoch und wuchsen mit der Entwicklung der Technik, die Lebensgrundlage der Menschen wurde wiederholt vernichtet (vgl. Simms 2013). Am Ende des Zweiten Weltkrieges war das Bedürfnis groß, die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Völkern Europas und die Machtpolitik europäischer Nationen zulasten anderer europäischer Nationen hinter sich zu lassen und eine Ordnung für ein friedliches Zusammenleben, für Völkerverständigung, für Demokratie und die Beachtung der Menschenrechte zu finden. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft kann nur vor diesem historischen Hintergrund verstanden werden. Und auch die vielen Veränderungen innerhalb der Europäischen Union, die Erweiterung der Gemeinschaft von sechs Mitgliedern auf 28 Mitgliedsländer waren ganz wesentlich von politischen Motiven geprägt, dem Ende der Diktaturen im Süden Europas, der Auseinandersetzung im Kalten Krieg und den Umwälzungen in Osteuropa am Ende des 20. Jahrhunderts. Wirtschaftlich war Europa in vielerlei Hinsicht bis in das 19. Jahrhundert fragmentiert: Hohe Transportkosten begünstigten die lokale Produktion. Unterschiedliche Maßsysteme und unterschiedliche Währungen machten den Handel beschwerlich. Die für den Tausch erforderlichen Informationen über Angebot und Nachfrage auf der Seite des Handelspartners waren nur begrenzt verfügbar. Selbst der Handel zwischen Regionen und Städten innerhalb der Staaten war durch Zölle und Abgaben für Güter belastet. Die im Mittelalter dominierende Philosophie des Merkantilismus sah den wirtschaftlichen Austausch generell <?page no="22"?> 1.1 Die Entwicklung Europas bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts 23 www.uvk-lucius.de/ integration nicht als für beide Seiten vorteilhaft an. Warenaustausch zwischen den Nationen war über Jahrhunderte auf wenige Güter und Dienstleistungen beschränkt. Die Migration der Menschen war in Friedenszeiten durch das Feudalsystem begrenzt. Erst mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert änderten sich die wirtschaftspolitischen Vorstellungen, Handel wurde nicht als ein „Null-Summen-Spiel“ begriffen, sondern als potentiell vorteilhaft für exportierende und importierende Staaten. Die wirtschaftlichen Rahmbedingungen änderten sich, Transportkosten sanken, Informationen standen schneller zur Verfügung. Der Anteil der Exporte am Bruttoinlandsprodukt europäischer Länder, im Jahr 1810 auf 3% geschätzt, stieg auf 16% im Jahr 1913. Dieser Wert fiel aber wieder auf 6% im Jahr 1938 (vgl. Molle 1990, S. 28 und S. 46), die Entwicklung in Europa in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts war durch Desintegration geprägt. Niedrige Wachstumsraten und hohe Arbeitslosigkeit waren die wirtschaftlichen Folgen, die Neigung der Bevölkerung, totalitäre Systeme zu unterstützen eine andere verheerende Konsequenz. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf von 15 europäischen Ländern, welches 1913 noch 57% des Wertes der USA betragen hatte, sank auf 47% im Jahr 1950 ab (vgl. Eichengreen 2007, S. 18). Obgleich die europäischen Völker aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Parzellierung durchaus eigenständige kulturelle Gewohnheiten entwickelten, war Europa gleichwohl ein gemeinsamer Kulturraum (vgl. Thiede 2010). Ein wesentlicher Grund waren die verbindenden religiösen und philosophischen Wurzeln. Die griechische und römische Philosophie hat Europa nachhaltig geprägt. Auch die Baukunst der Antike strahlte Jahrhunderte in ganz Europa aus. Der christliche Glaube fand seinen Weg in alle europäischen Länder und mit ihm auch die christlich geprägte Kultur. Die engen Beziehungen der europäischen Aristokratie trugen zu einem Austausch der kulturellen Werte bei. Die meist kriegs- und verfolgungsbedingte Migration trug kulturelle Vorstellungen in andere Länder. Philosophen, Musiker, Literaten des 18. und 19. Jahrhunderts suchten europaweit den Austausch. Die Gedanken der Französischen Revolution und Aufklärung verbreiteten sich schnell und beeinflussten die geistige Entwicklung in ganz Europa. Vor diesem Hintergrund wurden immer wieder Ideen zur europäischen Einigung entwickelt: Das Reich Karls des Großen kann als Versuch der Herstellung eines geeinten Europas interpretiert werden. Der Jurist Pierre Dubois schlug im Jahr 1306 eine regelmäßige „Zusammenkunft des europäischen Adels“ vor, der Quäker William Penn veröffentlichte 1693 eine Schrift mit der Forderung für ein europäisches Parlament, der Philosoph Jeremy Bentham regte eine „Europäische Versammlung“ an. Der Abt Charles-Irénée Castel de Saint-Pierre schlug die Schaffung einer „europäischen Union“ vor. Jean-Jacques Rousseau entwi- <?page no="23"?> 24 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration ckelte das Konzept einer „Europäischen Föderation“. Der Österreicher Richard Graf Coudenhove-Calergi forderte eine „Paneuropäische Bewegung“ (vgl. Eichengreen 2007, S. 41), der französische Premier und Außenminister Briand empfahl 1927 die Schaffung eines „föderativen Bandes unter den europäischen Nationen“. 1.3 Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 1.3.1 Die unmittelbare Nachkriegszeit 1945-1950 Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in der Nachkriegszeit Die dem Ende des Zweiten Weltkriegs folgenden Jahre waren eine Zeit der umfassenden Transformation der politischen Weltordnung. 1945 gründeten 51 Staaten die Vereinten Nationen, die zentrale der Erhaltung des Friedens und der Zusammenarbeit der Nationen verpflichtete internationale Organisation. Im gleichen Jahr schufen 29 Staaten den Internationalen Währungsfonds, der die Währungszusammenarbeit der Mitgliedsländer koordinieren sollte. Und mit der Unterzeichnung des „General Agreement on Tariffs and Trade“ (GATT) dokumentierten die wesentlichen Handelsnationen der damaligen Zeit ihre Bereitschaft, den internationalen Handel zu liberalisieren und gemeinsame Regeln zu beachten. Auch in Europa kam es zu einer politischen Neuordnung. Westeuropäische Staaten orientierten sich an Demokratie und Marktwirtschaft, in Osteuropa wurde eine kommunistische staatliche Ordnung eingeführt, wirtschaftspolitisch entschied man sich für zentralverwaltungswirtschaftliche Strukturen. Und da bereits die Besetzung der Tschechoslowakei durch sowjetische Truppen im Jahr 1948 signalisierte, dass die Politik der Sowjetunion auf Expansion angelegt war, betrachteten beide Seiten Europa (und andere Kontinente) im Kontext des Kampfes um Einflusssphären. Die Bipolarität, die sich bereits während des Zweiten Weltkrieges abgezeichnet hatte, mündete auf westlicher Seite in der Truman- Doktrin, die für die US-amerikanische Außenpolitik das Ziel formulierte, den „freien Völkern“ beizustehen, diese zu unterstützen, sich der „angestrebten Unterwerfung“ zu widersetzen (vgl. Brunn 2006, S. 38-42). Vor diesem Hintergrund gründeten zwölf Staaten im April 1949 die „North Atlantic Treaty Organization“ (NATO), ein Bündnis europäischer und nordamerikanischer Staaten zur gegenseitigen Unterstützung im Verteidigungsfall. Im Jahr 1949 wurde der Europarat geschaffen, eine parlamentarische Versammlung zur Stärkung der demokratischen Entwicklung in den Mitgliedsländern (vgl. Brunn 2006, S. 49-51). <?page no="24"?> 1. Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 25 www.uvk-lucius.de/ integration Die USA unterstützten den Aufbau marktwirtschaftlicher Strukturen in Westeuropa. Mit der Gründung der Organisation for European Economic Cooperation (OEEC) im Jahr 1948 wurde eine Institution geschaffen, die erhebliche Finanztransfers für den Wiederaufbau Europas bereitstellte. Vor dem Hintergrund der Bedrohung Westeuropas wurde die in den USA zunächst geführte Debatte, ob ein schwaches Deutschland im Interesse der USA liegen könne, schnell zugunsten eines stabilen demokratischen, prosperierenden, in europäische Strukturen eingebundenen Deutschlands beendet (vgl. Brunn 2006, S. 45-49). In den Jahren unmittelbar nach Ende des Krieges 1945 war das wirtschaftliche Wachstum zunächst gering. Die Unsicherheit über die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen war groß. Am Ende des Jahrzehnts änderte sich dies, die Eckdaten der neuen Wirtschaftsordnung wurden klarer. Die von den USA zur Verfügung gestellten Marshall-Plan-Mittel zeigten Wirkung, insbesondere die Auflagen, die mit den Mitteln verknüpft waren, führten zu einer besseren Ressourcenallokation. Die Reorganisation der Volkswirtschaften zugunsten ziviler Zwecke ermöglichte sichtbare Verbesserungen des Lebensstandards der Menschen in Europa. Die Anwendung der technologischen Neuerungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlaubte deutliche Fortschritte in der Arbeits- und Kapitalproduktivität. Zwischen 1947 und 1951 wuchs die Produktion in den Ländern Westeuropas, die Marshall-Plan-Mittel erhielten, um 55% (vgl. Eichengreen 2007, S. 57). Die Entwicklung der europäischen Einigung in der Nachkriegszeit In vielen europäischen Ländern mehrten sich die Stimmen, dass eine nachhaltige Lösung der wiederkehrenden Auseinandersetzungen in der Überwindung nationalstaatlicher Denkweisen besteht. Noch vor Ende des Krieges, im Jahr 1943, betonte einer der späteren Architekten der Europäischen Gemeinschaft, der Franzose Jean Monnet, dass die Staaten Europas alleine nicht stark genug sein würden, Prosperität und soziale Entwicklung für die Menschen zu garantieren. Er forderte die Einigung Europas, die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, er wünschte die Einführung einer föderalen politischen Ordnung (vgl. Gasteyger 2006, S. 52-85). Winston Churchill, von 1940-1945 und erneut von 1951-1955 Premierminister Großbritanniens, appellierte in einer Rede in Zürich 1946 an die europäischen Staaten, einen neuen Weg zu beschreiten und ein vereintes Europa zu schaffen. Churchill forderte die Etablierung „einer Art Vereinigte Staaten von Europa“ (vgl. Gasteyger 2006, S. 43-45). Frankreich und Deutschland sollten die wesentlichen Treiber der europäischen Einigung sein, Großbritannien sah er allerdings nicht als Teil eines solchen Bündnisses (vgl. Schmidt 2000, S. 123-124). <?page no="25"?> 26 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration Auch die Auseinandersetzung zwischen Ost und West förderte auf beiden Seiten des Atlantiks die Vorstellung, dass Westeuropa nur gemeinschaftlich die Zukunft gestalten kann: In Westeuropa wuchs die Angst vor der sowjetischen Bedrohung. Hinzu kam, dass kommunistische Parteien in vielen Ländern Westeuropas einflussreich waren. Vor diesem Hintergrund wuchs auch in den USA die Unterstützung für ein europäisches Einigungsprojekt, sie wurde Teil der USamerikanischen „Containment-Politik“. Die Idee einer europäischen Gemeinschaft gewann an Kraft und blieb doch umstritten: Die Überwindung nationalstaatlicher Strukturen war (und ist) für Gesellschaften ein revolutionärer Schritt, zumal die Nationalstaaten meist mit einer gemeinsamen Sprache, einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen Kultur verknüpft sind. Auch war völlig unklar, welche Form eine Gemeinschaft annehmen könnte. Verständnisfrage: Welche Veränderungen der Weltordnung und der europäischen Ordnung unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges haben den Charakter der europäischen Einigung bestimmt? 1.3.2 Die 1950er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1950er-Jahren Gleich zu Beginn der 1950er-Jahre erinnerte der Koreakrieg von 1950 bis 1953 an die Herausforderungen, die aus der Konfrontation des Westens und Ostens erwuchsen. Die wachsende Bedrohung durch die militärische Macht der Sowjetunion wurde auch durch die Niederschlagung von Aufständen in der DDR im Jahr 1953 und in Ungarn im Jahr 1956 unterstrichen. Wirtschaftlich waren die 1950er-Jahre eine Zeit des Aufschwungs, eine Zeit der „goldenen Jahre“. Das durchschnittliche Produktivitätswachstum je Arbeitnehmer in den europäischen Staaten war hoch, wie die folgende Abb. 1-1 zeigt: <?page no="26"?> 1. Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 27 www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 1-1: Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in Prozent, 1950-1960. Quelle: Eichengreen 2007, S. 88. Bessere institutionelle Rahmenbedingungen und die Vorteile aus der grundsätzlich marktwirtschaftlichen Ressourcenallokation trugen ebenso zu dem Erfolg bei wie hohe private und öffentliche Investitionen, der Einsatz moderner Technologien und funktionsfähige industrielle Beziehungen (vgl. Eichengreen 2007, S. 85-88). Die Entwicklung der europäischen Einigung in den 1950er-Jahren Nach intensiven Vorarbeiten Jean Monnets schlug der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950, exakt fünf Jahre nach Kriegsende in Europa, eine europäische Gemeinschaft vor, die zunächst auf eine sektorale Zusammenarbeit beschränkt werden sollte: Europa lasse sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es werde durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Er forderte eine enge europäische Kooperation der Kohle- und Stahlindustrie. Damit sollte die europäische Zusammenarbeit in einem für die Energieversorgung und den Wiederaufbau wichtigen Sektor beginnen. Hinzu kam, dass damit auch eine multilaterale Kontrolle der Waffenproduktion in den Mitgliedstaaten möglich war, eine mit Blick auf eine mögliche Wiederbewaffnung Deutschlands wichtige Komponente. Am 18. April 1951 wurde in Paris von den sechs Staaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und Niederlande der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) unterzeichnet. Die EGKS, auch als Montanunion bezeichnet, nahm offiziell am 1.1.1952 ihre Arbeit auf und sollte für die folgenden 50 Jahre die Rechtsbasis für die Zusammenarbeit bilden. Eine „Hohe Behörde“ und ein „Ministerrat“ waren mit der 0 1 2 3 4 5 6 7 Deutschland Italien Frankreich Niederlande Großbritannien <?page no="27"?> 28 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration Beschlussfassung betraut, während eine Parlamentarische Versammlung beratende Funktion hatte Die Mitglieder unterwarfen sich supranationaler Kontrolle, d.h. die geschaffenen Organe konnten verbindliche Beschlüsse fassen, denen sich die Mitgliedsländer beugen mussten. Nach diesem Erfolg der Integrationsbefürworter blieb der Weg zu weiteren aussichtsreichen Gemeinschaftsinitiativen jedoch beschwerlich: Im Jahr 1950 hatte Jean Monnet auch die Schaffung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vorgeschlagen, eine von der französischen Regierung unterstützte Idee einer gemeinsamen europäischen Armee (während die Mitgliedsländer mit Ausnahme Deutschlands weiterhin das Recht haben sollten, eine eigene Armee zu haben). Der Vertrag zur Gründung wurde im Jahr 1952 von denselben sechs Mitgliedstaaten unterzeichnet, die auch die EGKS gebildet hatten. Die Initiative scheiterte jedoch, als im Jahr 1954 die französische Nationalversammlung die Ratifizierung verweigerte (vgl. Bache/ George/ Bulmer 2011, S. 105). Damit kam auch die Initiative zur Schaffung einer Europäischen Politischen Gemeinschaft zu einem abrupten Ende, ein von dem belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak vorangetriebenes und schon weitgediehenes Projekt. Dieses sollte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft und die Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl eng verknüpfen und sah die gemeinsame Zuständigkeit für außenpolitische Belange und die Schaffung eines Gerichtshofes vor. Erfolg beschieden war jedoch dem Projekt der Schaffung einer engen Kooperation in Wirtschaftsfragen. Im Jahr 1955 wurde im Rahmen einer Außenministerkonferenz in Messina auf Sizilien die Arbeit an einem Vertragswerk vereinbart, für das der belgische Außenminister Spaak verantwortlich zeichnete. Am 25. März 1957 wurde schließlich der Vertrag von Rom zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft unterzeichnet. Durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten sollte, so heißt es in Artikel 2 des Vertrages, eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens, eine ausgewogene Wirtschaftsentwicklung, eine größere Stabilität und eine Anhebung des Lebensstandards erreicht werden. Und weiter heißt es in Artikel 3, dass Zölle abgeschafft und Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr beseitigt werden sollen. Eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft wurde verabredet, so auch die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften. Der Vertrag von Rom enthält zahlreiche ambitionierte Zielvereinbarungen. Gleichzeitig und ebenfalls in Rom wurde in einem weiteren Vertrag die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) vereinbart. Die Mitgliedstaaten versprachen sich davon einen engen Austausch in Kernenergiefragen, höhere Versorgungssicherheit und ein gemeinsames Schultern der hohen <?page no="28"?> 1. Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 29 www.uvk-lucius.de/ integration Kosten der Entwicklung der Nukleartechnologie. Auch hier spielte der Gedanke eine Rolle, durch die enge Kooperation einen Missbrauch der Technologie für militärische Zwecke zu verhindern. Mit der Schaffung der EGKS, der EWG und der EURATOM wurde ein Prozess der „Europäisierung“ in Gang gesetzt. Die Verhaltensweisen in den Mitgliedstaaten nähern sich einem einheitlichen europäischen Standard an, den sie gemeinsam entwickeln und prägen (vgl. Bache/ George/ Bulmer 2011, S. 63). Die Entwicklung Europas in den 1950er-Jahren zeigte gleichzeitig den beschwerlichen Weg der europäischen Integration, der auch in den folgenden Jahrzehnten den Ausbau prägen sollte: Kräften für mehr Integration standen starke Kräfte gegen die Ausweitung der Zusammenarbeit entgegen, Schritten hin zu mehr Integration folgten Rückschläge. Integration war sowohl das Ergebnis internen Drucks als auch Ergebnis des Drucks von außen. Ob gewollt oder nicht, der Weg der europäischen Integration war durch Gradualismus geprägt. Hinzu kam, dass es keinen Konsens über die optimale Form der Kooperation gab. Box 1-1: Idealtypische Vorstellungen über die Kooperation: ein föderales Europa oder intergouvernementale Zusammenarbeit europäischer Staaten Seit Beginn der europäischen Zusammenarbeit gibt es unterschiedliche Vorstellungen über die beste Form und Intensität der Kooperation, speziell über die Organisation der Hoheitsgewalt, d.h. die Kompetenzverteilung zwischen den Teileinheiten und den sie umgreifenden Gesamtverband, welche mit dem Gegensatzpaar Föderalismus und Intergouvernementalismus beschrieben wird. Der intergouvernementale Ansatz in der europäischen Integration sieht den Integrationsprozess als eine Zusammenarbeit von Staaten, bei der die Nationalstaaten im Mittelpunkt der Entscheidungsprozesse verbleiben. Entscheidungskompetenzen werden nicht an die oberhalb der Staaten angesiedelte europäische Ebene abgegeben, die Hoheitsrechte verbleiben bei den Staaten. Die Nationalstaaten können gemeinsame Entscheidungen treffen, Entscheidungen müssen aber einstimmig fallen, die Souveränität wird nicht an die europäische Ebene delegiert. Es handelt sich hierbei nicht um einen Bundesstaat (im Englischen „federal state“), sondern um einen Staatenbund (im Englischen „federation“). In einem intergouvernemental gestalteten System treiben die Nationalstaaten die Entwicklung <?page no="29"?> 30 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration voran (vgl. Nugent 2010, S. 420-425, Bache/ George/ Bulmer 2011, 97, Schmidt/ Schünnemann 2009, S. 380-398). Der föderale Integrationsansatz zur europäischen Integration sieht hingegen das Ziel der Integration in einem europäischen Bundesstaat: Souveränität ist geteilt, einige staatliche Aufgaben werden von der europäischen, der dann „supranationalen“ Ebene wahrgenommen und verantwortet, es kommt zu einer Abtretung ausgewählter Hoheitsrechte, andere verbleiben bei den Nationalstaaten. Eine föderale politische Ordnung schreibt eine bestimmte Form der vertikalen Gewaltenteilung fest. In einer Verfassung oder einem ähnlichen Dokument wird die Aufgabenverteilung zwischen der supranationalen und der nationalstaatlichen Ebene niedergeschrieben. Föderale Staaten wie Deutschland, die USA, Kanada oder die Schweiz haben die Aufgabenteilung zwischen den Ebenen sehr unterschiedlich geregelt. Allgemeine wirtschaftspolitische Aufgaben, außen- und sicherheitspolitische Aufgaben werden typischerweise von der übergeordneten Ebene verantwortet. Wie weit die Variabilität auf der zweiten Ebene geht, zeigen die unterschiedlichen Regelungen der Todesstrafe in den US-Staaten, Unterschiede in der Steuerpolitik, der Verkehrs- oder der Bildungspolitik der Gliedstaaten. Einige föderale Staaten waren das Ergebnis des Zusammenschlusses ursprünglich unabhängiger Staaten (z.B. Schweiz im Jahr 1848), in anderen Fällen sind sie das Ergebnis der gezielten Devolution wie etwa in Kanada oder Indien (vgl. Cini/ Solorzano-Borragan 2013, S. 70). Schon die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft hatten unterschiedliche Vorstellungen, wie diese ausgestaltet werden sollte. Jean Monnet war expliziter Befürworter eines föderalen Europas, die Überwindung nationalstaatlichen Denkens war ein wichtiges Motiv seines Handelns. Andere sahen die Zukunft Europas stets im Rahmen einer intergouvernementalen Zusammenarbeit. Die Verträge von Paris und Rom enthielten Elemente beider politischer Ordnungsprinzipien. Dies gilt auch für die späteren Gemeinschaftsverträge. Die Europäische Union ist eine Institution „sui generis“. <?page no="30"?> 1. Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 31 www.uvk-lucius.de/ integration 1.3.3 Die 1960er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1960er-Jahren Auch die 1960er-Jahre waren durch den Ost-West-Konflikt geprägt. Im August 1961 wurde die Berliner Mauer gebaut, die Kubakrise 1962 brachte die Weltmächte an den Rand eines Atomkrieges, der Prager Frühling 1968 zeigte erneut, wie weit die Sowjetunion im Kampf um Dominanz in Osteuropa gehen würde, der Vietnamkrieg wurde als Stellvertreterkrieg verstanden, in Afrika und Asien kämpften die Großmächte mit Beginn der Dekolonialisierung um Einflusssphären (vgl. Laqueur 1992, S. 373-450). Gleichzeitig waren die 1960er-Jahre in Westeuropa weiter durch hohe Wachstumsraten geprägt, die Arbeitslosigkeit war in den Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gering. Die Handelsverflechtung innerhalb der Gemeinschaft wuchs, auch der Handel mit den Ländern außerhalb der Gemeinschaft der sechs Staaten gewann an Bedeutung und ermöglichte erhebliche Wohlfahrtsgewinne. Die Entwicklung der europäischen Integration in den 1960er-Jahren Während erneute Initiativen zur Vertiefung der politischen Integration scheiterten (Fouchet-Plan von 1961), entschieden die sechs Mitgliedstaaten der EWG, EGKS und EURATOM, die institutionellen Strukturen der drei Gemeinschaften zusammenzuführen. Am 8. April 1965 wurde in Brüssel der Vertrag zur Fusion der Exekutivorgane der drei Gemeinschaften unterzeichnet. Ein gemeinsamer Rat und eine gemeinsame Kommission wurden geschaffen, der Vertrag trat am 1. Juli 1967 in Kraft. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft bildete den Mittelpunkt der europäischen Zusammenarbeit. Eine große Rolle spielte dabei die gemeinsame Agrarpolitik. Ein zweiter Schwerpunkt der Arbeit der EWG war die Handelspolitik: 1968 wurden zwei wichtige Etappen auf dem Weg zur Zollunion geschafft. Am 1. Juli 1968 entfielen die Binnenzölle und ermöglichten damit den Freihandel zwischen den Mitgliedstaaten. Und gleichzeitig wurden der gemeinsame Zolltarif und damit eine echte Zollunion eingeführt (siehe auch das Kapitel zur Handelspolitik). Von handelspolitischer Bedeutung war ebenfalls das Abkommen mit den 18 sogenannten AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik) aus dem Jahr 1963, ein Schritt zur Vertiefung der Integration. Während Belgien, Deutschland, Italien, Frankreich, Luxemburg und die Niederlande, die Gründungsstaaten der drei Gemeinschaften EGKS, EWG und EU- RATOM, zunehmend anspruchsvollere Ziele formulierten, schlossen sich andere europäische Staaten zu einem Freihandelsabkommen zusammen. <?page no="31"?> 32 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration Box 1-2: Die Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (European Free Trade Association EFTA) Sieben europäische Staaten gründeten 1960 die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA). Diese war dezidiert als reine Freihandelszone geplant. Zölle für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten wurden abgeschafft, Außenzölle für den Handel mit Nichtmitgliedern blieben im Verantwortungsbereich der einzelnen Mitgliedstaaten. Die Gründungsmitglieder waren Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und die Schweiz, Finnland trat 1961 dem Bündnis bei, Island 1970 (vgl. Baldwin/ Wyplosz 2012, S. 18-19). Irland, Großbritannien, Dänemark und Norwegen stellten 1961 bzw. 1962 den Antrag auf Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Wegen grundsätzlicher Bedenken von französischer Seite gegen eine Mitgliedschaft Großbritanniens kam es in den 1960er-Jahren allerdings nicht zu einem Beitritt. 1.3.4 Die 1970er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1970er-Jahren Die 1970er-Jahre bedeuteten für drei Länder Westeuropas eine Hinwendung zu einer demokratischen Ordnung. In Griechenland endete die sogenannte Obristenherrschaft, eine von 1967 bis 1974 regierende Militärdiktatur. Auch in Portugal verlor die autoritäre Regierung im Jahr 1974 die Macht, die Nelkenrevolution beendete die lange Phase des sogenannten Salazar-Regimes (Salazar selbst war bereits 1970 gestorben). Und der Tod Francos 1975 machte auch in Spanien den Weg für eine demokratische Ordnung frei (vgl. Laqueur 1992, S. 515-537). Die drastische Begrenzung der Produktionsmengen durch die erdölexportierenden Länder im Nahen und Mittleren Osten in der Nachfolge zu dem Jom- Kippur-Krieg 1973 führen zu schweren Erschütterungen der Wirtschaft Westeuropas und Nordamerikas. Der Anstieg der Ölpreise traf die Volkswirtschaften unvorbereitet. Die Inflationsraten stiegen in ganz Europa. Die Ölpreissteigerungen erklären einen Teil dieser Entwicklung, die Aufgabe der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften in den meisten europäischen Ländern war ein weiterer wichtiger Grund. <?page no="32"?> 1. Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 33 www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 1-2: Inflationsrate in der Europäischen Union 1970-1980 in Westeuropa (BIP- Deflator). Quelle: Darstellung auf Basis von Daten von UN Data (www.unstats.un.org) In den 1970er-Jahren schien das Wachstumsmodell Europas an seine Grenzen zu stoßen. Die hohen Kapitalrenditen der Nachkriegszeit, Ergebnis des Wiederaufbaus, der Bereitstellung zusätzlicher Produktionsfaktoren und des Einsatzes vorhandenen Wissens kam genauso zu einem Ende wie die Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer und Gewerkschaften. Im Ergebnis flachte das Wachstum in den 1970er-Jahren deutlich ab. Während zwischen 1962 und 1969 die Volkswirtschaften der 15 europäischen Länder (Mitgliedsländer der EU seit 1995) durchschnittlich real um 4,8% gewachsen waren, stieg die Leistung in der Zeit von 1970 bis 1982 im Jahresdurchschnitt nur um 2,8%. Die Arbeitslosigkeit wuchs: Noch in den 1960er-Jahren lag die Quote bei rund 2% und stieg in den 1970er-Jahren sukzessive auf mehr als 5% an. Die Entwicklung der europäischen Integration in den 1970er-Jahren 1973 kam es zur ersten Erweiterung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Großbritannien, Irland und Dänemark traten der Gemeinschaft bei. Auch Norwegen hatte den Antrag gestellt, in einem Referendum lehnte allerdings die Bevölkerung des Landes die Mitgliedschaft mehrheitlich ab. Mit dem Beitritt wuchs die Gemeinschaft auf neun Mitgliedsländer. Damit kam die Mitgliedschaft Großbritanniens, Irlands und Dänemarks in der EFTA zu einem Ende, die Assoziation verlor als Alternativmodell zur europäischen Gemeinschaft an Bedeutung. In ausgewählten Bereichen kam es in den 1970er-Jahren zu einer Vertiefung der Zusammenarbeit. Die institutionellen Rahmenbedingungen wurden den Herausforderungen angepasst (siehe das nächste Kapitel zu den europäischen Institutionen). Gleichzeitig wurden der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft neue Aufgaben übertragen: Die EWG zeichnete fortan für umweltpolitische Fragen verantwortlich, ein Regionalfonds zur Förderung des Lebensstandards in unterentwickelten Regionen war 1974 ein wichtiger Schritt zur Schaffung einer Regi- 0 5 10 15 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 <?page no="33"?> 34 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration onal- oder auch Kohäsionspolitik. Die Außenbeziehungen mit 46 Entwicklungsländern wurden im Rahmen des Lomé-Vertrages geordnet. Insbesondere im Bereich der Währungspolitik war die EWG gefordert. Der Zusammenbruch des über 25 Jahre währenden Systems fester Wechselkurse mit gegenüber dem US-Dollar fixierten Paritäten führte in Europa zu intensiven Diskussionen über Vorteile und Nachteile flexibler Kurse und Möglichkeiten einer europäischen Währungskooperation. Erste Ideen für eine einheitliche Währung wurden erarbeitet (Werner-Plan). Die Mitgliedsländer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft entschieden sich 1972 für eine Koordination der Paritäten ihrer Währungen im Rahmen des Europäischen Wechselkursverbundes. Zentralbanken der beteiligten Länder garantierten die fest vereinbarten Paritäten und unterstützten sich gegenseitig bei den notwendigen Interventionen und der Verteidigung der Kurse. Dies mündete schließlich in der Schaffung des Europäischen Währungssystems im Jahr 1979 (siehe Kapitel 9). Die europäische Währungseinheit ECU wurde geschaffen und war Bezugspunkt für die Berechnung der Paritäten, von denen die Währungen im Normalfall um 2,25% nach oben oder unten abweichen konnten, bevor Interventionen ausgelöst wurden. 1.3.5 Die 1980er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1980er-Jahren Auch die 1980er-Jahre waren vom Kalten Krieg geprägt. Sowjetische Truppen waren im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert. Die Rüstungsausgaben nahmen auf beiden Seiten des Ost-West-Konfliktes zu. In Polen zeigten sich mit der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc deutliche Spannungen des totalitären Systems. Ende des Jahrzehnts kam es schließlich zum Kollaps der kommunistischen Ordnung. Währenddessen war das Wirtschaftswachstum in Westeuropa weiter abgeflacht. Die durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes zwischen 1980 und 1990 lag bei 2,3%, während jene Veränderungsraten für die USA und Japan deutlich höher lagen. Das Jahrzehnt war von der Diskussion über die Rolle des Staates geprägt: Mit Ronald Reagan in den USA und Margaret Thatcher in Großbritannien standen Personen an den Spitzen der beiden Länder, die umfassende Reformen der marktwirtschaftlichen Ordnung einforderten. Weniger staatliche Koordinierung, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Senkung der Steuerlast waren wesentliche Themen der Debatte, mit erheblichen mittelfristigen Auswirkungen auf die Umgestaltung der Wirtschaftspolitik in westlichen Industrieländern. <?page no="34"?> 1. Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 35 www.uvk-lucius.de/ integration Die Entwicklung der europäischen Einigung in den 1980er-Jahren 1981 kam es zur zweiten Erweiterung der EWG. Griechenland wurde neues Mitglied. In der dritten Erweiterung kamen am 1. Januar 1986 Spanien und Portugal hinzu, die Zahl der Mitglieder war somit auf 12 angestiegen. Zwar hatten die Mitgliedstaaten der EWG den Freihandel auf den Gütermärkten grundsätzlich verwirklicht und auch die Zölle für den Warenverkehr mit Drittländern vereinheitlicht, die europäischen Länder hatten sich jedoch bereits im Vertrag von Rom anspruchsvollere Ziele gesteckt, die Kooperation sollte weit über eine Freihandelszone hinausgehen. Im Jahr 1986 verabredeten die Mitgliedsländer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in der „Einheitlichen Europäischen Akte“ einen echten Binnenmarkt zu schaffen, d.h. einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem die „vier Freiheiten“, d.h. der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Das Zieldatum für die Erreichung dieser Freiheiten war der 31. Dezember 1992. Durch die Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel sollten die nationalen und bis dahin fragmentierten Märkte zu einem einheitlichen gemeinsamen Markt verschmelzen. In der Folge wurden zahlreiche Maßnahmen beschlossen, physische, technische und steuerliche Hindernisse wurden beseitigt. Verknüpft mit der Idee des freien Personenverkehrs war das Ziel der Abschaffung der Kontrollen an den Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten. Am 14. Juni 1985 wurde in Schengen das nach dieser Stadt bezeichnete Schengen-Abkommen unterzeichnet, an dem sich einige, aber nicht alle Mitglieder der europäischen Gemeinschaft beteiligten: Das Abkommen gilt als ein Beispiel für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Box 1-3: Europa der zwei Geschwindigkeiten Die Grundidee der Europäischen Gemeinschaft bestand in dem Aushandeln gemeinsamer Integrationsschritte, die von allen Mitgliedsländern grundsätzlich gleichzeitig vollzogen werden. Je mehr Länder Mitglieder einer Gemeinschaft und je heterogener die Gegebenheiten und Interessen sind, desto schwieriger ist es, Integrationsvorhaben zu verabreden, die den Präferenzen und Möglichkeiten aller Mitgliedsländer entsprechen. Seit den 1980er-Jahren mehren sich die Vorschläge, in ausgewählten Bereichen Mitgliedern der Gemeinschaft die Entscheidung zu überlassen, einen In- <?page no="35"?> 36 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration tegrationsschritt später zu vollziehen, und damit zwei oder mehr Gruppen zu haben, welche die Integration mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vollziehen. Das Schengen-Abkommen und die Einführung des Euros sind die bekanntesten Beispiele für die Vereinbarung einer vertieften Integration, die aber zunächst nur von einer kleineren Gruppe umgesetzt wird. Getrennt davon handelt es sich bei dem Konzept „Europa à la carte“ um die Idee, dass Mitgliedstaaten auch dauerhaft unterschiedliche Integrationswege beschreiten. Statt stets gemeinsam voranzuschreiten, wählen Länder jene Bereiche aus, in denen die Integration gewollt wird. Die Heterogenität der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die Folge von Unterschieden in der Ausstattung mit Produktionsfaktoren, der Einbindung in die Weltwirtschaft und der wirtschaftspolitischen Ausrichtung hatte erhebliche Spannungen innerhalb des Europäischen Währungssystems zur Folge. Währungsparitäten wurden temporär ausgesetzt, Paritäten wurden wiederholt angepasst, Regierungen stritten über die richtige Wirtschaftspolitik, wie dies Anfang der 1980er-Jahre zwischen Deutschland und Frankreich der Fall war, bevor schließlich der Franc abwertete, die DM aufwertete und die französische Regierung zu einer fiskalisch konservativen austeritätsorientierten Politik wechselte (vgl. Eichengreen 2007, S. 286-290). Verständnisfrage: Was sind die Vorteile eines Europas der zwei Geschwindigkeiten, was sind die Nachteile? 1.3.6 Die 1990er-Jahre Die politische und wirtschaftliche Entwicklung in den 1990er-Jahren Die 1990er-Jahre waren durch die historische Umwälzung in Osteuropa geprägt (Delouche 2011, S. 416-430). Staaten, die bis dahin kommunistisch regiert wurden, erhielten die Freiheit, sich für Demokratie und Marktwirtschaft zu entscheiden. Am 3. Oktober 1990 wurde die deutsche Einheit vollzogen, die Zahl der Bürger der Gemeinschaft wuchs um 20 Millionen. In Polen wurde 1990 der ehemalige Gewerkschaftsvorsitzende Lech Walesa zum Präsidenten des Landes gewählt. Auch Litauen, Lettland und Estland, die ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, entschieden sich für Demokratie und Rechtsstaat. Die Tschechoslowakei spaltete sich 1993 in die Slowakei und die Tschechische Republik auf, beide <?page no="36"?> 1. Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 37 www.uvk-lucius.de/ integration Länder führten demokratische Strukturen ein. Ungarn ging einen friedlichen Weg zur Demokratie. Die Aufteilung Jugoslawiens verlief hingegen dramatisch. Nur nach heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen, die auch die Außenpolitik der Europäischen Union an die Grenzen der damaligen Leistungsfähigkeit führte, entstanden schrittweise die Staaten Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien und mit großer zeitlicher Verzögerung Kosovo (vgl. Delouche 2011, S. 424-431). Mit den Veränderungen in Osteuropa und dem Ende der sowjetischen Vorherrschaft in Osteuropa war der Kalte Krieg beendet. Rüstungsausgaben konnten in allen Ländern zurückgefahren werden, der Anteil der Rüstungsausgaben am BIP sank in der Europäischen Union von 2,7% im Jahr 1990 auf 1,9% im Jahr 2000. Das Wachstum der Volkswirtschaften der Europäischen Union schwächte sich währenddessen weiter ab. Der Abstand zwischen den Ländern der EU und den USA weitete sich aus, die Wachstumsraten der USA waren in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren höher als in Westeuropa. In der Folge wurde in den 1990er-Jahren intensiv über die Zukunft des europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells diskutiert. Box 1-4: Diskussion über „Spielarten der Marktwirtschaft“ Es gibt verschiedene Varianten der Marktwirtschaft. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Corporate-Governance-Systeme und des Selbstverständnisses des unternehmerischen Sektors, der industriellen Beziehungen, der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung, der Rolle des Finanzsystems, der Koordination zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft und anderes mehr. Der Franzose Albert brachte dies auf die häufig zitierte Formel „angelsächsische Form des Kapitalismus“ oder „Rheinischer Kapitalismus“ (vgl. Turowski 2006, S. 32-35). Das angelsächsische Modell basiert auf einer eindeutigen liberalen Orientierung. Ihm wird eine Offenheit für radikale Innovationen und schnelle strukturelle Änderungen zugeschrieben. Das Modell des „Rheinischen Kapitalismus“ hingegen wird als ein System beschrieben, welches gesellschaftliche Kompromisse aushandelt, durch eine stärkere wohlfahrtsstaatliche Orientierung geprägt ist und dem Staat und der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle in der Koordination der Politik zuweist. Ihm wird eine Neigung zu inkrementellen Innovationen nachgesagt (vgl. Eichengreen 2007). Eine andere Unterscheidung, die ebenfalls eine Dichotomie kapitalistischer Ordnungen betont, stellt „liberale Marktwirtschaften“ wie die USA oder Großbritannien den „koordinierten Marktwirtschaften“ wie Deutsch- <?page no="37"?> 38 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration land, Frankreich oder Japan gegenüber. In dem „varieties of capitalism“- Konzept werden die vielfältigen Ausgestaltungsmöglichkeiten marktwirtschaftlicher Systeme untersucht (vgl. Hall/ Soskice 2001). Wichtig, aber gegenwärtig unbeantwortet bleibt die Frage, ob es die generelle Überlegenheit des einen oder anderen Systems gibt, und wie die Systeme in Zeiten der Globalisierung mit den Herausforderungen umgehen. Obgleich eine gewisse Konvergenz der Systeme unbestritten ist, bleibt offen, wie weit diese Konvergenz gehen soll bzw. gehen wird. In Westeuropa war diese Diskussion Ergebnis der Wachstumsraten der Volkswirtschaften, der Arbeitslosigkeit in vielen Ländern und wachsender Belastungen für öffentliche Haushalte (vgl. Eichengreen 2007, S. 382-384). In Osteuropa mussten sich die Staaten nach der Öffnung entscheiden, wie sie ihre Sozialsysteme, Unternehmensverfassungen, Finanzsysteme, ihr Staatswesen ordnen wollten. Die staatlichen Strukturen waren grundlegend diskreditiert (gleichwohl in vielen Ländern weiterhin sehr einflussreich) und wurden von der Bevölkerung mit großer Skepsis gesehen. Andererseits waren die Erwartungen an die soziale Absicherung in vielen Ländern groß, zumal das Pro-Kopf-Einkommen im Vergleich zu westeuropäischen Ländern im Durchschnitt weniger als 30% betrug, und durch die Transformation zunächst weiter einbrach. Die Entwicklung der europäischen Einigung in den 1990er-Jahren Das Binnenmarktprojekt, welches Mitte der 1980er-Jahre gestartet wurde, zeigte Erfolge, der Abbau weiterer Hemmnisse, die Umsetzung der vier Freiheiten kam voran und wurde offiziell als erreicht verkündet (vgl. Brunn 2006, S. 254-263). Die Länder der Europäischen Gemeinschaft reagierten auf die politischen Umwälzungen in Europa mit einer umfassenden Reform der Institution. In dem Vertrag von Maastricht, der am 7. Februar 1992 unterzeichnet wurde und 1993 in Kraft trat, wurde das Spektrum der gemeinschaftlich verantworteten Politikfelder ausgeweitet. Die Kooperation im Bereich Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) wurde ebenso wie jene im Bereich der Innenpolitik und Justiz in den Aufgabenkatalog des Integrationsbündnisses aufgenommen („Drei-Säulen- Struktur“). Mit dem Vertrag von Maastricht wurde „Europäische Union“ der offizielle Name (vgl. Delouche 2011, S. 418-431). Der Maastricht-Vertrag enthielt auch den Beschluss, eine gemeinsame Währung zu schaffen. In kurzer Zeit wurde dieses anspruchsvolle Integrationsprojekt umgesetzt. Das Europäische Währungsinstitut und schließlich das Europäische <?page no="38"?> 1. Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 39 www.uvk-lucius.de/ integration System der Zentralbanken mit der Europäischen Zentralbank (EZB) wurden geschaffen und die gemeinsame Währung am 1. Januar 1999 eingeführt. 1995 kam es zur vierten Erweiterungsrunde. Österreich, Finnland und Schweden wurden am 1. Januar 1995 Mitglieder der Europäischen Union. Vor dem Hintergrund der historischen Transformation in Osteuropa stellten zehn Länder Osteuropas in den Jahren 1994 bis 1996 Anträge auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Box 1-5: Gibt es eine optimale Größe der EU? Auch wenn ein numerischer Wert für die ökonomisch wünschenswerte Zahl an Mitgliedsländern der EU nicht a priori angegeben werden kann, können aus der Theorie der Clubs (vgl. Buchanan 1965) Hinweise abgeleitet werden, wie die optimale Größe einer Gemeinschaft bestimmt werden kann. Abb. 1-3: Clubtheorie - optimale Mitgliederzahl bei gegebener Clubgröße In Abb. 1-3 wird dies am Beispiel eines Tennisvereins für eine gegebene Ausstattung (Clubhaus, Anzahl an Tennisplätzen) illustriert (vgl. Leach 2006, S. 188 ff.). Ist die Mitgliederzahl (M) noch gering, wird sich der individuelle Nutzen (N) eines Clubmitglieds mit zunehmender Mitgliederzahl zunächst erhöhen, da die Chance steigt, geeignete Partner vergleichbarer Spielstärke zu finden. Bei Überschreiten eines bestimmten Schwellenwer- M 0 Mitgliederzahl Kosten, Nutzen N, K M* Mitgliederzahl N‘, K‘ M* N‘ K‘ N K <?page no="39"?> 40 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration tes (M 0 ) für die Mitgliederzahl vermindert sich der Nutzen jedes Clubmitglieds, weil etwa Plätze zu den gewünschten Spielzeiten schon reserviert sind. Für eine gegebene Anzahl an Vereinsmitgliedern gilt umgekehrt, dass der Nutzen jedes Mitglieds mit zunehmender Clubausstattung steigt: Ein Ausweichen auf weniger präferierte Termine ist nicht erforderlich, je mehr Tennisplätze zur Verfügung stehen. Der Nutzenzuwachs eines weiteren Tennisplatzes für ein Clubmitglied dürfte allerdings mit zunehmender Clubgröße abnehmen. Hängen die Kosten des Tennisclubs proportional von der Clubausstattung ab, gilt bei gleicher Aufteilung der Clubkosten auf die Mitgliederzahl, dass die auf jedes Mitglied entfallenden Kosten (K) mit zunehmender Mitgliederzahl sinken. Die optimale Mitgliederzahl (M*) eines Clubs gegebener Größe ist erreicht, wenn die Differenz zwischen den individuellen Nutzen und Kosten maximal ist. Dies ist im Schnittpunkt von Grenznutzen (N') und Grenzkosten (K') der Fall (vgl. Klump 2013, S. 294 ff.). Der Ansatz lässt sich modifiziert für die beiden Dimensionen optimale Mitgliederzahl und optimale Integrationstiefe auf die EU übertragen. Die Union bietet Clubgüter (z.B. Handelsintegration) an, die ausschließlich den Mitgliedern zur Verfügung stehen. Die Vorteile der Bereitstellung dieser Güter sind umso ausgeprägter, je mehr Mitgliedsländer beteiligt sind. Ist die Handelsintegration schon weit fortgeschritten, dürften nur noch geringere Handelszuwächse aus einer Erweiterung der Union erwartet werden. Demgegenüber stehen die Kosten der Aufnahme weiterer Mitgliedsländer, da der Abstimmungsprozess innerhalb der EU komplizierter wird und die Entscheidungskosten umso höher sind, je stärker die Präferenzen der Mitgliedsländer divergieren. Da das Clubgut Handelsintegration die Form der Zollunion wie darüber hinaus auch des Binnenmarktes annehmen kann, lässt sich für alternative Vertiefungsgrade eine optimale Mitgliederzahl wie für alternative Mitgliederzahlen eine optimale Integrationstiefe bestimmen (vgl. Ohr 2007; Schemm-Gregory 2010). Die EU beschloss auf einem Gipfel in Dänemark die anzuwendenden Kriterien für die Aufnahme neuer Mitglieder, die „Kopenhagen-Kriterien“: Erfüllt sein müssen das Politische Kriterium: institutionelle Stabilität als Garantie für eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten. <?page no="40"?> 1. Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 41 www.uvk-lucius.de/ integration Wirtschaftliche Kriterium: funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der Union standzuhalten. Acquis-Kriterium: Fähigkeit, die aus der Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen zu übernehmen und sich die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu eigen zu machen. Sogenannte Europaabkommen, die zwischen 1995 und 1998 in Kraft traten, regelten die Zusammenarbeit mit den Ländern Osteuropas und mit einer Vielzahl von Hilfsprogrammen begleitete die EU den Transformationsprozess. 1.3.7 Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts Die politische und wirtschaftliche Entwicklung im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes gehörte die alte politische Ordnung und Konfrontation der Vergangenheit an, Staaten und Bündnisse suchten nach einem adäquaten Rollenverständnis. Dass aber nicht nur traditionelle militärische Konflikte, sondern auch terroristische Akte bedrohlich werden können, machte der Anschlag am 11. September 2001 deutlich. Auch Europa war gefordert, die eigene Rolle in der Weltpolitik zu klären. Dies galt insbesondere für die eigenen Nachbarregionen wie Russland, Zentralasien, Naher Osten und Nordafrika. Die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2008 führte zu den höchsten Rückgängen der Wirtschaftsleistung in den Industriestaaten seit der großen Depression 1929. Die Wirtschaftsleistung in der EU-27 sank im Jahr 2009 gegenüber dem Vorjahr um 4,3%, in den Ländern des Baltikums gar um mehr als 14%. Allein Polen konnte eine positive Wachstumsrate verzeichnen. Die Rettung der Banken bzw. Bankensysteme, die Ausweitung fiskal- und sozialpolitischer Programme trieb die Staatsverschuldung in die Höhe. In zwölf Staaten der Europäischen Union lag die Staatsverschuldung im Jahr 2010 über dem Schwellenwert von 60% des BIP. Die Entwicklung der europäischen Einigung in dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Die Europäische Union erkannte einen erheblichen Reformbedarf der Wirtschafts- und Sozialordnung an. Im Jahr 2000 wurde daher die „Lissabon- Strategie“ verabschiedet, ein Strategiepapier, das die Maßnahmenbereiche beschrieb, welche angegangen werden sollten, um die Wettbewerbsfähigkeit der <?page no="41"?> 42 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration Europäischen Union zu erhöhen. Das Ziel war wenig bescheiden beschrieben. Die Union sollte zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ werden, ein Wirtschaftsraum sollte entstehen, „der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“ (Europäischer Rat 2000). Gleichzeitig enthielt die Lissabon-Strategie ein eindeutiges Bekenntnis zu einem Europa, welches grundsätzlich an den gewachsenen Wertvorstellungen und institutionellen Strukturen festhält, diese aber weiterentwickelt. Am 1. Mai 2004 schließlich erfolgt die große Osterweiterung der Europäischen Union. Die drei baltischen Staaten Estland, Lettland, Litauen, die fünf mitteleuropäischen Staaten Polen, Ungarn, Slowenien, die Slowakei und Tschechien und die beiden Mittelmeerstaaten Malta und Zypern wurden Mitglied der Europäischen Union. Im Jahr 2007 stießen schließlich die beiden osteuropäischen Staaten Bulgarien und Rumänien ebenfalls hinzu. Die EU umfasste damit 27 Mitgliedsländer, die Zahl der Einwohner betrug 500 Millionen. Die Reform der Europäischen Union im Rahmen des Vertrages von Nizza, am 26. Februar 2001 unterzeichnet und am 1. Februar 2003 in Kraft getreten, war nur ein kleiner, generell als unzureichend eingeschätzter Schritt auf dem Weg, die Europäische Union den neuen Herausforderungen anzupassen. Im Jahr 2003 entschieden sich die Mitglieder für die Einberufung eines Konvents zur Zukunft der Europäischen Union. Dieser schlug nach intensiven Beratungen eine Reform der Europäischen Union vor. Eine „Europäische Verfassung“ wurde von den Staats- und Regierungschefs unterzeichnet. Diese wurde jedoch in der Nachfolge in den zwei Gründerstaaten Frankreich und Niederlande von der Bevölkerung abgelehnt. Eine Überarbeitung der geplanten Strukturen und Dokumente führte schließlich zum Lissabon-Vertrag, der unterzeichnet wurde und seit 2009 die rechtliche Grundlage für die Kooperation darstellt. Die Einführung des Euros wurde zu Beginn des Jahrzehnts als erfolgreich eingeschätzt, der Tenor der Feierlichkeiten anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Einführung im Jahr 2009 war überwiegend positiv. Die Inflationsrate in der Eurozone lag zwischen 2000 und 2010 stets unter 2,5%. Auch der Außenwert erwies sich als stabil, die anfängliche Abwertung gegenüber dem US-Dollar im Jahr 2000 war von kurzer Dauer. Ende des Jahrzehnts zeigte sich jedoch, dass externe Schocks, die Mitgliedstaaten ganz unterschiedlich treffen, eine Zone mit einheitlicher Währung an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führen. <?page no="42"?> 1. Die Entwicklung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts 43 www.uvk-lucius.de/ integration 1.3.8 Das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Entwicklung der politischen und wirtschaftlichen Ordnung Staaten, die noch in den 1980er- und 1990er-Jahren durch Schuldenkrise, niedrige Wachstumsraten und Unterentwicklung geprägt waren, entwickelten sich in den letzten Jahren zu machtvollen Volkswirtschaften. Chinas durchschnittliche Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes lag seit der Öffnung 1979 bei 10%. In Indien stieg die Wirtschaftsleistung beträchtlich, Brasilien verzeichnete beachtliche Fortschritte. Das Treffen der G8-Staaten wurde um das Treffen der G20-Staaten ergänzt, da zunehmend internationale Übereinkommen nicht mehr ohne einige erfolgreiche Schwellenländer konsensfähig waren und sind. Währenddessen kämpften die westlichen Industrieländer mit den Folgen der Wirtschaftskrise. In den USA gab es massive fiskalpolitische und geldpolitische Interventionen: Die Staatsverschuldung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt wuchs von 60% im Jahr 2008 auf 110% im Jahr 2013. Die Zentralbank der USA stützte mit massiven Käufen von Staatsanleihen die konjunkturelle Entwicklung. In Europa war der fiskalpolitische Impuls geringer, auch die geldpolitische Intervention war zunächst deutlich zurückhaltender und änderte sich erst im Verlauf der Krise, die zu einer Krise der gemeinsamen Währung mutierte. Entwicklungen der europäischen Einigung Im Jahr 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis. Damit wurde der enorme Beitrag der Union zur Friedenssicherung in einem ehemals von Kriegen geprägten Kontinent gewürdigt. Die siebte Erweiterungsrunde erfolgte im Jahr 2013 mit der Aufnahme Kroatiens. Die Staaten Island, die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Montenegro, Serbien und Türkei haben im Jahr 2014 Kandidatenstatus, mit Island und der Türkei werden konkrete Beitrittsverhandlungen geführt (im Frühjahr 2014 zeichnete sich in Island eine Mehrheit gegen den Beitritt ab, der Antrag soll zurückgezogen werden). Darüber hinaus wurde Albanien, Kosovo und Bosnien-Herzegowina die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen unter bestimmten Bedingungen zugesagt. Die größte Zerreißprobe ihrer Geschichte erlebte die Union mit der Eurokrise, die in der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ihren Ausgangspunkt hatte, zunächst die Banksysteme mehrerer Länder erschütterte und aufgrund der Rettung der Banken durch die Regierungen der betroffenen Staaten schließlich auch die Staaten in Bedrängnis brachte. Zweifel an der Zahlungsfähigkeit be- <?page no="43"?> 44 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration sonders hoch verschuldeter Länder führten schließlich zu Spekulationen über das Ende des Euros. Eine besondere Herausforderung für die Zukunft der Union stellt das Vorhaben Großbritanniens dar, durch ein Referendum seine Bürger über die Mitgliedschaft in der Europäischen Union entscheiden zu lassen. Großbritannien hat häufig den föderalen Vorstellungen der Weiterentwicklung skeptisch gegenübergestanden, ist aber gleichwohl den gemeinsamen europäischen Weg mitgegangen. Ein Austritt wäre ein harter Schlag für die Union, zumal möglicherweise weitere Staaten folgen könnten. Andere betonen, dass ohne den ständigen Widerstand der Briten gegen mehr Integration viele wichtige Integrationsschritte möglich wären, die mit den Briten unmöglich sind. 1.4 Schlussbemerkung Die Entwicklung der heutigen Europäischen Union kann man nur vor dem Hintergrund politischer und wirtschaftlicher Ereignisse und Trends verstehen. Box 1-6: Die schrittweise Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft 1952/ 1958 Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande 1973 Beitritt von Dänemark, Vereinigtes Königreich, Irland 1981 Beitritt von Griechenland 1986 Beitritt Portugal und Spanien 1995 Beitritt von Finnland, Österreich und Schweden 2004 Beitritt von Litauen, Lettland, Estland, Polen, Ungarn, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Zyperns, Malta 2007 Beitritt von Bulgarien und Rumänien 2013 Beitritt von Kroatien Politisch stand die Friedenssicherung in Europa im Vordergrund. Auch der größere weltpolitische Einfluss, der mit einem geeinten Europa einhergeht, die Stärkung der Verhandlungsposition der Europäer waren stets handlungsleitend. Gesellschaftspolitische Ziele waren gleichfalls relevant: Die Union hat sich im- <?page no="44"?> 1. Schlussbemerkung 45 www.uvk-lucius.de/ integration mer explizit zu gesellschaftlichen Werten und sozialen Zielen bekannt. Das Bekenntnis gegen die Todesstrafe, das Bekenntnis zur Freizügigkeit innerhalb der EU und der Schutz der sozialen Minderheiten stehen beispielhaft dafür. Wirtschaftlich hat der Binnenmarkt erhebliche Vorteile gebracht, die insbesondere für kleinere Länder mit starken Effizienzgewinnen durch Spezialisierung und Skaleneffekte verknüpft waren. Der intensive Wettbewerb innerhalb Europas ist langfristig für Konsumenten und Produzenten von Vorteil, er regt Innovationen an. Der Prozess der Integration war nie einfach und schwer vorhersehbar. Viele Reforminitiativen scheiterten zunächst, etwa die engere politische Zusammenarbeit, wurden aber später in anderer Form aufgegriffen und erfolgreich umgesetzt. In dem historischen Rückblick war die Entwicklung eine Abfolge vieler kleiner Schritte, die Entwicklung hin zu mehr Integration war meist eine graduelle („Gradualismus“) in Richtung Erweiterung und in Richtung Vertiefung der Kooperation. Die Politik orientierte sich an dem Erreichen kleiner Veränderungen („Inkrementalismus“). Im Ergebnis ist die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten heute deutlich schwieriger als zu Beginn des Integrationsprozesses. Die Komplexität, das Vor und Zurück, die politische Auseinandersetzung über die richtigen Instrumente sind häufig schwer vermittelbar. Innerhalb Europas gibt es keinen Konsens über die zukünftige Gestalt der EU, weder geografisch, politisch noch wirtschaftlich. Es gibt kein allgemein akzeptiertes Verständnis der „Finalität Europas“. Soll die EU auf mehr als 30 Mitglieder wachsen? Sind die USA ein Modell auch für Europa (Vereinigte Staaten von Europa)? Ist ein vom Volk gewählter Präsident wünschenswert? Bedarf es klarerer und weiterreichender Befugnisse der supranationalen Ebene? Oder passt dies nicht, angesichts der Heterogenität der gewachsenen europäischen Kulturen. Sollten weitere Bereiche vergemeinschaftet werden, soll also der Prozess der „Vertiefung“ weitergehen? Soll es mehr Bereiche geben, in denen Mehrheitsentscheidungen akzeptiert werden, oder ist es vorteilhaft für die Weiterentwicklung der europäischen Integration, wenn konsensuale Entscheidungen gefunden werden? Oder wäre ein Europa der „zwei Geschwindigkeiten“ besser? Die Zustimmung zur europäischen Integration ist angesichts des schwierigen Prozesses und der unterschiedlichen Vorstellungen zur Finalität nicht überwältigend. Während die Europaidee in der Nachkriegszeit in einigen Ländern Euphorie auslösen konnte, ist dies heute nicht mehr der Fall. Für den langfristigen Erfolg des Integrationsprojektes stellt dies eine Herausforderung dar, da ein Projekt dieser historischen Dimension der demokratischen Legitimation bedarf. <?page no="45"?> 46 1 Geschichte der europäischen Integration www.uvk-lucius.de/ integration 1.5 Wichtige Begriffe EWG EURATOM Europarat Vereinigte Staaten von Europa Föderalismus Intergouvernementalismus EFTA EGKS Werner-Plan Europa der zwei Geschwindigkeiten Spielarten der Marktwirtschaft Clubtheorie Kopenhagen-Kriterien Europäische Verfassung Friedensnobelpreis Erweiterung Vertiefung. 1.6 Literatur Bache, Ian/ George, Stephen/ Bulmer, Simon (2011): Politics in the European Union, 3. Auflage, Oxford University Press Baldwin, Richard/ Wyplosz, Charles (2012): The Economics of European Integration, 4. Auflage, London, McGraw-Hill Brunn, Gerhard (2006): Die europäische Einigung von 1945 bis heute, Bundeszentrale für Politische Bildung, Band 472, Bonn Buchanan, James McGill (1965): „An Economic Theory of Clubs“, in: Economica, Vol. 32, S. 1-14 Cini, Michelle/ Solorzano-Borragan, Nieves (Hrsg.) (2013): European Union Politics, Oxford University Press Delouche, Frederic (Hrsg.) (2011): Das europäische Geschichtsbuch - Von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, Schriftenreihe 1233 der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn Eichengreen, Barry (2007): The European Economy since 1945, Princeton University Press, Princeton und Oxford Europäischer Rat (2000): Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Lissabon), 23. und 24. März 2000, Internet: http: / / www.europarl.europa.eu/ summits/ lis1_de.htm Gasteyger, Curt (2006): Europe: From Division to Unification, Bundeszentrale für Politische Bildung, Band 554, Bonn Hall, Peter A./ Soskice, David (Hrsg.) (2001): Varieties of Capitalism - The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford, Oxford University Press Klump, Rainer (2013): Wirtschaftspolitik. Instrumente, Ziele und Institutionen, 3. Auflage, München, Pearson Laqueur, Walter (1992): Europa auf dem Weg zur Weltmacht 1945-1992, München <?page no="46"?> 1. Literatur 47 Leach, John (2006): A Course in Public Economics, Cambridge, Cambridge University Press Molle, Willem (1990): The Economics of European Integration, Dartmouth Nugent, Neill (2010): The Government and Politics of the European Union, 7. Auflage, New York, Palgrave Macmillan Ohr, Renate (2007): „Clubs im Club - Europas Zukunft? “, in: ORDO - Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 58, S. 67-82 Schemm-Gregory, R. (2010): Europa als ein Club voller Clubs. Eine clubtheoretische Betrachtung des politischen Systems der Europäischen Union. Schriften zur Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 41, Frankfurt/ Main u.a., Peter Lang Verlag Schmidt, Helmut (2000): Die Selbstbehauptung Europas - Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Stuttgart/ München, Deutsche Verlags-Anstalt Schmidt, Siegmar/ Schünemann, Wolf J. (2009): Europäische Union - Eine Einführung, Baden-Baden, Nomos Verlagsgesellschaft Simms, Brendan (2013): Europe - The Struggle for Supremacy - 1453 to the Present, New York, Penguin Group Thiede, Carsten Peter (2010): Europa - Werte, Wege, Ziele, Berlin 2010 (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung) Turowski, Jan (2006): „Varianten des Kapitalismus“, in: Neue Gesellschaft - Frankfurter Hefte, 1+2/ 2006, S. 32-35 <?page no="48"?> Teil 2: Institutionelle Strukturen <?page no="50"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 2 Funktionsweise der Europäischen Union - Der rechtliche und institutionelle Rahmen Leitfragen Welches sind die zentralen Elemente des Europarechts? Wie wirkt sich das Europarecht auf den Bürger und die Unternehmen in der Europäischen Union aus? Welche Aufgaben haben die Organe der Europäischen Union und welche Stärken und Schwächen werden ihnen zugeschrieben? 2.1 Einführung Die Europäische Union ist durch eine einzigartige rechtliche Konstruktion geprägt. Die Unionsverträge bilden den zentralen Rahmen für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Die Verträge, früher Gemeinschaftsverträge genannt, welche seit 1951 bzw. 1957 immer wieder angepasst und aktualisiert wurden, inklusive ihrer Anhänge, Anlagen und Protokolle, sind das rechtliche Fundament der Europäischen Union, sie bilden in der jeweils gültigen Fassung das Primärrecht der Union (vgl. Borchardt 2010, S. 90). Auch die völkerrechtlichen Verträge, welche die Gemeinschaft und später die Union mit anderen Staaten unterzeichneten, und allgemeine Rechtsgrundsätze können dem Primärrecht zugeordnet werden. Zielsetzung, Organisation der Arbeit der Union, das konkrete Handeln der Organe und Institutionen der Europäischen Union müssen sich an dem Primärrecht ausrichten (vgl. Krimphove 2014, S. 18-32). Auf Basis der im Primärrecht geregelten Rechte und Verfahren verabschieden die Organe der Union Vorschriften, die ebenso Teile des rechtlichen Rahmens innerhalb der Union sind und als „sekundäres Unionsrecht“ bezeichnet werden. Diese Rechtsakte sind abgeleitetes Recht. <?page no="51"?> 52 2 Funktionsweise der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration 2.2 Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union Der seit 2009 gültige „Vertrag von Lissabon“ besteht im Wesentlichen aus zwei rechtlich gleichrangigen Verträgen und deren Anhängen: In dem „Vertrag über die Europäische Union (EUV)“ sind vor allem die demokratischen Grundsätze, die grundlegende rechtliche Ordnung der Union und das auswärtige Handeln der Union und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik beschrieben. Der „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)“ behandelt insbesondere die internen Politiken der Union. Wesentliche Elemente des institutionellen Europarechts (Regelung der rechtlichen Ordnung, der Institution und Prozesse) finden sich somit im EUV, der Großteil des materiellen Europarechts (Vorschriften, die Politikfelder und Inhalte festlegen) findet sich im AEUV. Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) (Vertrag von Paris), unterzeichnet am 18. April 1951, in Kraft getreten am 23. Juli 1952 Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) (Römische Verträge), unterzeichnet am 25. März 1957, in Kraft getreten am 1. Januar 1958 Fusionsvertrag (Vertrag von Brüssel), unterzeichnet am 8. April 1965, in Kraft getreten am 1. Juli 1967 Einheitliche Europäische Akte (EEA), unterzeichnet am 17. und 28. Februar 1986, in Kraft getreten am 1.Juli 1987 Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-Vertrag), unterzeichnet am 6. Februar 1992, in Kraft getreten am 1. November 1993 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte (Vertrag von Amsterdam), unterzeichnet am 2. Oktober 1997, in Kraft getreten am 1. Mai 1999 Vertrag von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte (Vertrag von Nizza), unterzeichnet am 26. Februar 2001, in Kraft getreten am 1. Februar 2003 <?page no="52"?> . Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union 53 www.uvk-lucius.de/ integration Vertrag über die Europäische Union (EUV),Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (Vertrag von Lissabon), unterzeichnet am 13. Dezember 2007, in Kraft getreten am 1. Dezember 2009 Abb. 2-1: Chronologie der wichtigen Gemeinschaftsverträge. Quelle: Europäische Union 2013, Borchardt 2010, S. 11-17 Unter das sekundäre Unionsrecht subsumiert man vor allem die rechtskräftig verabschiedeten Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse (vgl. Borchardt 2010; Ranacher/ Staudigl 2010, S. 74-80): Eine „Verordnung“ ist ein verbindlicher Rechtsakt. Sie hat allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und regelt unmittelbar eine unbestimmte Zahl von Sachverhalten generell und abstrakt. Sie gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Artikel 288 AEUV). Es bedarf keiner weiteren Umsetzung in einzelstaatliches Recht. Verordnungen sind gewissermaßen europäische Gesetze (vgl. Ranacher/ Staudigl 2010, S. 75-76). Eine „Richtlinie“ ist für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, in Bezug auf das zu erreichenden Ziels verbindlich. Die Mitgliedstaaten sind allerdings in der Wahl der Form und Mittel, diese Ziele zu erreichen, frei (Artikel 288 AEUV). Mitgliedstaaten haben einen Regelungsspielraum, sie können selbst entscheiden, wie sie das verabredete Ziel erreichen. „Beschlüsse“ sind „in all ihren Teilen verbindlich. Sind sie an bestimmte Adressaten gerichtet, so sind sie nur für diese verbindlich“ (Artikel 288 AEUV). Die Organe der EU veröffentlichen „Empfehlungen“ und „Stellungnahmen“, die aber keine rechtliche Bindungswirkung haben. Inhalt, Grundsätze und Ziele der Verträge, die Rechtsvorschriften, die Erklärungen und andere rechtlichen Regelungen bilden den „gemeinschaftlichen Besitzstand“ („Acquis communautaire“). Dieser umfasst alle Rechte und Pflichten, die für jedes Mitglied verbindlich sind. Mit der Schaffung einer eigenen Rechtsordnung hat die Europäische Union einen im internationalen Vergleich ungewöhnlichen Weg beschritten. Die eigene Gesetzgebungshoheit der Staaten wurde beschränkt, aus dem Unionsrecht entstehen eindeutige Rechte für die Bürger der Union (direkter Effekt des Unionsrechts), das Unionsrecht hat Vorrang vor nationalem Recht (Primat des Unionsrechts) und schließlich ist der Gerichtshof der Europäischen Union unabhängig und autonom (Autonomie). Das Recht der Europäischen Union, welches im Lissabon-Vertrag formuliert ist, ist „supranationales Recht“: Es ist internationa- <?page no="53"?> 54 2 Funktionsweise der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration les Recht, welches die Mitgliedstaaten bindet. Nachdem sich die Mitgliedstaaten dem unterworfen haben, müssen sie Entscheidungen, die gemäß den Regeln des Vertrages zustande kommen, auch akzeptieren und beachten. Box 2-1: Besonderheiten des Unionsrechts Direkter Effekt - Die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts im nationalen Recht: Das Unionsrecht hat einen direkten Effekt für die Bürger. Staaten müssen die vertraglichen Verabredungen umsetzen, die Einhaltung ist einklagbar. Verträge haben die gleiche Wirkung wie Gesetze in den Mitgliedstaaten, Bürger können sich darauf berufen. Primat des Europäischen Rechts: Das europäische Recht hat Vorrang vor nationalem Recht. Im Fall einer Kollision zwischen europäischem und nationalem Recht gilt das europäische Recht. Der Vorrang des EU-Rechts ist einer der Grundpfeiler des Unionsrechts. Autonomie: Der Gerichtshof der Europäischen Union ist unabhängig von dem Gerichtssystem der Mitgliedsländer. Der Gerichtshof entscheidet eigenständig auf Basis der Rechtsordnung der Union, der Verträge und der allgemeinen Rechtsgrundsätze (vgl. Borchard 2010, S. 35). Für das Verständnis der rechtlichen Struktur ist die im Vertrag von Lissabon explizit genannte Unterscheidung nach „ausschließlicher“ und „geteilter“ Zuständigkeit wichtig. „Übertragen die Verträge der Union für einen bestimmten Bereich eine ausschließliche Zuständigkeit, so kann nur die Union gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen“ (Artikel 2 AEUV). Die Union hat gemäß Artikel 3 des AEUV die ausschließliche Zuständigkeit für die Zollunion, für die Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsregeln, für die Währungspolitik, die Erhaltung der Meeresschätze, die gemeinsame Handelspolitik und bestimmte internationale Übereinkünfte. In anderen Politikfeldern teilt die Union die Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten, so z.B. für den Binnenmarkt, die Sozialpolitik, die wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenarbeit, die Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Verbraucherschutz, Verkehr, transeuropäische Netze und Energie (Artikel 4 AEUV). In diesen Bereichen können sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten gesetzgeberisch tätig werden. Und schließlich gilt gemäß Artikel 4 AEUV, dass alle in den Verträgen nicht übertragenen Zuständigkeiten in dem Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten liegen. Diese vertraglich fixierten Aufgabenabgrenzungen dürfen nur die Mitgliedstaaten ändern, nur <?page no="54"?> . Grundlegende Aspekte des Rechts der Europäischen Union 55 www.uvk-lucius.de/ integration ihnen steht die Kompetenz zu, die Kompetenzen der Union anders zu regeln, ein mit dem Begriff „Kompetenzkompetenz“ bezeichnetes Prinzip. Ein wichtiges Element der Rechtsordnung ist darüber hinaus der Grundsatz der Subsidiarität. Gemäß diesem Prinzip „wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können“ (Artikel 5 EUV). Das Prinzip der Subsidiarität ist ein in der Sozialethik entwickeltes Prinzip, welches die Notwendigkeit der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung betont: Das Individuum ist zunächst für sich selbst verantwortlich, diese Selbstverantwortung ist Recht und Pflicht zugleich und gehört zur Menschenwürde. Die übergeordnete Einheit, z.B. die Familie, sollte nur dann eingreifen, wenn das Individuum zur Problemlösung nicht in der Lage ist. Reichen weder die Möglichkeiten des Einzelnen noch der Familie aus, so ist die Hilfestellung durch öffentliche Stellen sinnvoll und vertretbar. Bezogen auf ein politisches Mehrebenensystem bedeutet Subsidiarität, dass Leistungen der höheren Ebene nur dann erforderlich sind, wenn die tiefere hierarchische Ebene damit überfordert ist. In Politikfeldern, in denen die geteilte Zuständigkeit gilt, ist eine Regelung auf der EU-Ebene nur dann zulässig, wenn klare Kriterien zeigen, dass eine Regelung auf nationaler Ebene schlechter ist. Gemäß der Regelung im Primärrecht der Union können hierarchisch niedrigere Ebenen gegen die Union klagen, wenn eine EU-Regelung gegenüber einer Regelung auf nationaler oder regionaler Ebene keinen Mehrwert im Sinne eines Effizienzgewinns erbringt (vgl. Pelkmans 2006, S. 36-52). Ob in einer Gemeinschaft eine einheitliche zentrale Lösung oder differenzierte dezentrale Lösungen sinnvoll sind, ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren. Die Berechenbarkeit und Verantwortlichkeit der politischen Ebene, das Vorliegen externer Effekte und Skaleneffekte bei der Gestaltung von Politik sind häufig wichtig. In der ökonomischen Theorie werden drei Aspekte besonders beleuchtet: die Heterogenität der Präferenzen, die Informationsasymmetrie und der Wettbewerb um Ideen. Box 2-2: Ökonomische Argumente zur Entscheidung über die optimale Verantwortungsebene Ein erstes Argument bezieht sich auf die Heterogenität der Präferenzen der Menschen aufgrund unterschiedlicher wirtschaftlicher, politischer oder sozio-kultureller Bedingungen. Wenn diese Unterschiede erheblich sind, <?page no="55"?> 56 2 Funktionsweise der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration kann eine dezentralisierte und differenzierte Erbringung von öffentlichen Leistungen die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt erhöhen, eine zentral entschiedene und einheitlich angebotene staatliche Leistung würde umgekehrt in einigen Teilen ein zu hohes und in anderen Teilen ein zu geringes Angebot an staatlichen Leistungen erbringen. Abb. 2-2: Wohlfahrtsgewinn durch Aufteilung eines Zentralstaats in zwei Regionen Abb. 2-2 veranschaulicht das Dilemma. Es wird angenommen, dass die Bevölkerung der Region A eine hohe, durch die Nachfragekurve N A beschriebene Zahlungsbereitschaft hat und die niedrige Zahlungsbereitschaft in Region B durch N B beschrieben werden kann. Wenn die Zentralebene das Angebot in der Union an der Nachfrage der Region A ausrichtet, ist dies aus Sicht der Bevölkerung in Region B ein Überangebot. Umgekehrt wäre eine Ausrichtung an der Nachfrage in der Region B aus Sicht der Region A unbefriedigend. Auch die Ausrichtung des Angebotes an einem Durchschnitt der Zahlungsbereitschaft (N Z ) löst das Problem nicht, da für beide Teile der Bevölkerung wohlfahrtssteigernde Lösungen möglich sind. Ein zweites wichtiges Argument basiert auf der Existenz asymmetrisch vorliegender Informationen. Die Zentrale und die dezentrale Ebene sind unterschiedlich gut informiert über die wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Bedingungen und möglichen Handlungsalternativen. x Z x B GK, MZB Marginale Zahlungsbereitschaft (MZB), Grenzkosten (GK) A B E x A Menge des öffentlichen Gutes N A N Z N B C D <?page no="56"?> . Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 57 www.uvk-lucius.de/ integration Wenn die dezentrale Ebene besser informiert ist, kann sie mit ihrer Politik eher auf die besonderen Bedingungen der Region eingehen. Ein drittes, aus Sicht des Liberalismus besonders wichtiges Argument ist der Wettbewerb zwischen Regionen um die optimale Lösung gesellschaftlicher Probleme oder Herausforderungen. Dezentrale Entscheidungskompetenz erlaubt es den Mitgliedstaaten oder Regionen, eigene Wege zu gehen, der Wettbewerb der Regionen produziert aus dieser Perspektive gesellschaftspolitische Innovationen. Wettbewerb ist nicht nur für Produzenten von privaten Gütern und Dienstleistungen, sondern auch für staatliche Institutionen ein sinnvoller kreativitäts- und produktivitätsfördernder Mechanismus. Die Frage der Subsidiarität stellt sich nicht nur auf der Ausgabenseite der Union oder der Mitgliedstaaten, sondern auch bezüglich der Besteuerung. 2.3 Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 2.3.1 Parlament Das Europäische Parlament ist zusammen mit dem Rat der Europäischen Union für die Gesetzgebung in der Europäischen Union zuständig (vgl. Europäische Kommission 2013, Borchardt 2010, S. 50-60, Nugent 2010, Bieber/ Epiney/ Haag 2013, S. 127-136). Das Parlament ist gemeinsam mit dem Rat für den Haushalt der EU verantwortlich und genehmigt am Ende des Haushaltsverfahrens den Gesamthaushalt. Das Parlament übt die politische Kontrolle über alle Organe der EU aus. Die Ernennung des Kommissionspräsidenten und der Mitglieder der Kommission bedarf der Zustimmung des Europäischen Parlamentes (vgl. Artikel 14 EUV). Sitz des Europäischen Parlamentes ist Straßburg, dort finden die Plenarsitzungen statt. In Brüssel finden Sitzungen der Ausschüsse und Fraktionen und kürzere Plenarsitzungen statt und auch in Luxemburg sind parlamentsbezogene Aktivitäten angesiedelt. Die EU-Bürger wählen alle fünf Jahre die Abgeordneten des Parlamentes in freier direkter Wahl. Die folgende Tabelle zeigt die Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament. Diese sind in Anlehnung an den Anteil der Mitgliedstaaten an der EU-Bevölkerung, nicht aber direkt proportional aufgeteilt, die Verteilung wird als „degressiv proportional“ bezeichnet, wobei jeder Mitgliedstaat mindestens sechs und maximal 96 Abgeordnete hat (Artikel 14 EUV). <?page no="57"?> 58 2 Funktionsweise der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Mitgliedstaat Anzahl der MdEP Anteil an allen MdEP in % Anteil an der EU- Bevölkerung in % Belgien 21 2,8 2,2 Bulgarien 17 2,3 1,4 Dänemark 13 1,7 1,1 Deutschland 96 12,8 16,1 Estland 6 0,8 0,3 Finnland 13 1,7 1,1 Frankreich 74 9,9 12,9 Griechenland 21 2,8 2,2 Irland 11 1,5 0,9 Italien 73 9,7 11,7 Kroatien 11 1,5 0,9 Lettland 8 1,1 0,4 Litauen 11 1,5 0,6 Luxemburg 6 0,8 0,1 Malta 6 0,8 0,1 Niederlande 26 3,5 3,3 Österreich 18 2,4 1,7 Polen 51 6,8 7,6 Portugal 21 2,8 2,0 Rumänien 32 4,3 4,2 Schweden 20 2,7 1,9 Slowakei 13 1,7 1,1 Slowenien 8 1,1 0,4 Spanien 54 7,2 9,1 Tschechische Republik 21 2,8 2,1 Ungarn 21 2,8 2,0 Vereinigtes Königreich 73 9,7 12,5 Zypern 6 0,8 0,1 Insgesamt 751 100 100 Abb. 2-3: Anzahl der MdEP je Mitgliedstaat für die Wahlperiode 2014-2019. Quelle: Europäischer Rat 2013 <?page no="58"?> Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 59 www.uvk-lucius.de/ integration Verständnisfrage: Was spricht für und gegen eine degressiv-proportionale Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament? Parlamentarier bilden in der Regel zur Organisation ihrer Arbeit Fraktionen. Die größte Fraktion ist die Fraktion der Europäischen Volksparteien, gefolgt von der Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament und der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa. Das Europäische Parlament arbeitet mit den nationalen Parlamenten der Mitgliedstaaten zusammen. Die Bedeutung der nationalen Parlamente für die Arbeit der Union wird im Artikel 12 EUV herausgehoben, dort wird die aktive Mitwirkung der nationalen Parlamente an der Arbeitsweise der Union betont. In einem gesonderten Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union wird das Ziel formuliert, eine stärkere Beteiligung der nationalen Parlamente an den Tätigkeiten der EU zu fördern. Regeln für die rechtzeitige Unterrichtung der Parlamente werden festgeschrieben. Box 2-3: Europäisches Parlament kontrovers Die positive Sicht: Durch den Lissabon-Vertrag wurde die Kompetenz des Parlamentes gestärkt: In dem Gesetzgebungsverfahren hat das Parlament wichtige Rechte erhalten. Das Parlament, welches zunächst nur für wenige Arbeitsfelder Mitentscheidungsrechte hatte, hat heute umfassende Befugnisse über alle zentralen Arbeitsbereiche der Union, in 95% aller Vorhaben ist das Parlament gleichberechtigt mit dem Rat der Gesetzgeber. Es übt die demokratische Kontrolle nicht nur über die Kommission aus, sondern auch über andere Organe der EU. Auch viele internationale Abkommen erfordern die Zustimmung des Parlamentes. Das Parlament hat in den vergangenen Jahren seine Macht genutzt, um die Entwicklung der EU mitzugestalten. Die kritische Sicht: Aus Sicht der Kritiker fehlt dem Parlament noch immer die für Parlamente typische Macht, eigenständig Gesetzesinitiativen einzubringen (das „Initiativrecht“) und ist damit kein echter Gesetzgeber. Es wählt keine Regierung, ein wesentliches Recht der Parlamente in Demokratien. Das Parteiensystem ist nach wie vor national geprägt, und nicht europäisch. Kritiker bemängeln die hohen Kosten für das Europäische Parlament, für die Sitzungen und Beratungen an drei Standorten <?page no="59"?> 60 2 Funktionsweise der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration (Straßburg, Brüssel, Luxemburg), für die hohe Zahl an Abgeordneten und deren Gehälter. Sie monieren, dass in den Wahlen zum Europäischen Parlament häufig eher weniger wichtige Politiker antreten. Die Anwendung unterschiedlicher Wahlsysteme in den Mitgliedstaaten wird als problematisch angesehen. Die Aufmerksamkeit für die Arbeit des Parlamentes sei gering, die Wahlbeteiligung niedrig und sinkend: 1979, bei der ersten Wahl zum Europaparlament, lag die Wahlbeteiligung europaweit bei 63% und sank sukzessive. Bei der Europawahl 2014 betrug sie (hochgerechnet) gut 43%. Die regelmäßige Befragung der Bürger der Europäischen Union zur Wahrnehmung und Wertschätzung des Parlamentes zeigt, dass in vielen Ländern Vertrauen in die Institution und die Arbeit der Abgeordneten auf ein besorgniserregendes Niveau gesunken und daher der Reformbedarf groß ist. 2.3.2 Europäischer Rat Der Europäische Rat, der sich aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten des Europäischen Rates und dem Präsidenten der Kommission zusammensetzt, ist das zentrale Organ für die politische Gestaltung der Integration (vgl. Europäische Kommission 2013, Borchardt 2010, S. 60-61, Nugent 2010, Bieber/ Epiney/ Haag 2013, S. 136-138). Der Europäische Rat „gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest“ (Artikel 15 EUV). Grundsätzliche strategische Entscheidungen werden im Europäischen Rat getroffen, obgleich dieses Organ selbst nicht gesetzgeberisch tätig wird. Der Europäische Rat kommt mindestens viermal pro Jahr zusammen („Gipfel-Treffen“). Entscheidungen fallen gemäß Artikel 15 EUV in der Regel im Konsens. Die Arbeit des Europäischen Rates wird von dessen Präsidenten koordiniert. Der Vertrag von Lissabon sah diese Neuerung vor, um die Arbeit dieses Organs und die Kontinuität der Arbeit zu stärken. Der Präsident wird für zweieinhalb Jahre gewählt und kann einmal wiedergewählt werden. Der erste Präsident ist der Belgier Herman van Rompuy. Box 2-4: Der Europäische Rat kontrovers Die positive Sicht: Dem Europäischen Rat fällt im Integrationsprozess eine oder gar die zentrale Rolle zu, da die Staats- und Regierungschefs in ihren Heimatländern demokratisch legitimiert sind und damit das Mandat haben, Prioritäten der europäischen Einigung zu verabreden und die stra- <?page no="60"?> Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 61 www.uvk-lucius.de/ integration tegische Ausrichtung der Union festzulegen. Der Verzicht auf Souveränitätsrechte, ein der Entwicklung einer supranationalen Institution inhärenter Prozess, bedarf der Legitimation durch diese Vertreter der Mitgliedstaaten. Diese sind in der Lage, tragfähige politische Kompromisse zu schmieden und in den Heimatländern zu vertreten. Die kritische Sicht: Aus Sicht der Kritiker sollten die zentralen Ideen im Parlament verhandelt werden und nicht im Europäischen Rat. Die Macht des Europäischen Rates sei ein Zeichen der wenig demokratischen Konstruktion der Union. Zudem wird darauf hingewiesen, dass das Treffen häufig von einigen wenigen Ländern, insbesondere Deutschland und Frankreich, dominiert werde (vgl. Menasse 2012, S. 57). Für Unmut sorgen Mitgliedstaaten, die ihre Verhandlungs- und Vetomacht nutzen, um Vorteile für das eigene Land zu erzwingen, der in Ratssitzungen erstrittene Rabatt für Großbritannien oder Polens höheres Stimmgewicht im Rahmen der qualifizierten Mehrheit (bis 2014) stehen beispielsweise für solche Kompromisse. Der Europäische Rat sei vielfach nichts anderes als ein Bollwerk der Verteidigung nationaler Interessen. Treffen stünden stets unter hohem Zeitdruck, die Beratungen und Entscheidungen ließen die Nähe zur Bevölkerung vermissen (vgl. Menasse 2012, S. 90-94). 2.3.3 Rat der Europäischen Union Der „Rat“ oder „Rat der Europäischen Union“, der in den Medien meist als „Ministerrat“ bezeichnet wird, ist gemeinsam mit dem Europäischen Parlament Gesetzgeber und Beschlussorgan der Union (vgl. Europäische Kommission 2013, Borchardt 2010, S. 61-68, Nugent 2010, Bieber/ Epiney/ Haag 2013, S. 138- 146). Er ist für Haushaltsangelegenheiten der Union zuständig und genehmigt den Haushaltsplan der Union. Er koordiniert die Politik der Mitgliedstaaten in den Politikbereichen, in denen der Union die Zuständigkeit übertragen wurde. In der Außen- und Sicherheitspolitik, seit der Unterzeichnung des Maastricht- Vertrages offiziell ein Bereich der gemeinsamen Zusammenarbeit, entwickelt er Vorgaben und Strategien. Der Rat schließt internationale Übereinkünfte ab (vgl. Europäische Kommission 2013, S. 15). Der Rat der Europäischen Union besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaates auf Ministerebene. Der Rat tritt gegenwärtig (2014) in zehn Konstellationen zusammen: Auswärtige Angelegenheiten, Allgemeine Angelegenheiten, <?page no="61"?> 62 2 Funktionsweise der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Wirtschaft und Finanzen, Justiz und Inneres, Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz, Wettbewerbsfähigkeit (Binnenmarkt, Industrie, Forschung und Raumfahrt), Verkehr, Telekommunikation und Energie, Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt, Bildung, Jugend, Kultur und Sport. Der Europäische Rat kann gemäß Artikel 236 AEUV andere Zusammensetzungen beschließen. Gemeinsam mit dem Europäischen Parlament wird der Rat als Gesetzgeber tätig. Formale Beschlüsse des Rates der Europäischen Union werden meistens mit Mehrheitsentscheidung getroffen. In einigen Fragen wie z.B. der Steuerpolitik ist Einstimmigkeit gefordert. Dies bedeutet, dass das Veto eines Landes, welches Nachteile aus einem Beschluss erwartet, ausreicht, eine zur Abstimmung stehende Maßnahme abzulehnen. Dem Vorteil der Einstimmigkeitsregel, eine Entscheidung nicht gegen die eigene Überzeugung mittragen zu müssen, steht der Nachteil gegenüber, dass bei häufiger Verwendung dieser Wahloption der Status quo dominiert und Fortschritte erschwert werden. Abb. 2-4: Problematik der Einstimmigkeitsregel In Abb. 2-4 wird eine Ausgangssituation betrachtet, in der die Wohlfahrtsposition für zwei Länder mit A und B angegeben ist. Von X ausgehend sind Reformmaßnahmen nur auf und innerhalb der Begrenzungslinien des Quadranten I II III X IV I U A U B U B U A _ _ <?page no="62"?> Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 63 www.uvk-lucius.de/ integration möglich, da dann mindestens ein Land bessergestellt wird, ohne dass das andere Land schlechtergestellt wird oder beide Länder Vorteile erzielen. In den anderen drei Quadranten erfährt mindestens ein Land eine Schlechterstellung, das Veto verschafft dem Land die Möglichkeit, das eigene eng definierte Interesse mit der Vetoandrohung zu verteidigen. Da es Reformen, die alle Länder nur begünstigen, im politischen Prozess aber kaum gibt, kommt es durch das Einstimmigkeitserfordernis zu einer Beibehaltung des Status quo. Pragmatisch-politisches Handeln setzt damit in vielen Bereichen einen Übergang von der Einstimmigkeitsregel zur Mehrheitswahl voraus. In der EU wird in der überwiegenden Zahl der Entscheidungen die Mehrheitswahl angewendet. Dabei ist nicht die relative oder absolute Mehrheit der Stimmen, sondern eine „qualifizierte Mehrheit“ notwendig. Eine qualifizierte Mehrheit, viele Jahrzehnte wegen der Stimmgewichte der Länder ein höchst kontroverses Thema, ist ab dem 1. November 2014 grundsätzlich dann gegeben, wenn 55% der Mitglieder des Rates, deren Staaten mindestens 65% der Gesamtbevölkerung der Union repräsentieren, einem Vorhaben zustimmen. In bestimmten genau definierten Bereichen ist Einstimmigkeit erforderlich. Box 2-5: Der Rat der Europäischen Union kontrovers Die positive Sicht: Der Rat der Europäischen Union ist das Fachgremium und arbeitet effektiv: In den verschiedenen Zusammensetzungen des Ministerrates werden die Rechtsakte der EU beschlossen. Mit der Einführung der doppelten Mehrheit in der Großzahl der behandelten Verfahren wird zukünftig die Arbeit entscheidend vereinfacht. Die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament funktioniert gut. Häufig wird der Rat zu Unrecht gescholten, vielfach treffen Regierungsvertreter in Brüssel auf der EU-Ebene Entscheidungen, die sie im eigenen Land kritisch bewerten (vgl. Fischer 2010, S. 3). Die kritische Sicht: Für Kritiker ist der Ministerrat eine Institution, in der wenig transparent die konkrete Politik gestaltet wird. Aus deren Sicht werden die nationalen Parlamente zu wenig und zu spät eingebunden. Die Effizienz der Arbeit ist häufig abhängig davon, welches Mitgliedsland die Präsidentschaft innehat. Für Föderalisten ist der Anteil der Entscheidungen, die einstimmig fallen müssen, zu hoch, für Vertreter des Konzeptes eines Staatenbundes ist er zu niedrig. Häufig würden im Ministerrat sachfremde politische Kompromisse geschmiedet: Die Zustimmung eines Landes zu einer Verordnung zur Regelung des Kapitalverkehrs wird bei- <?page no="63"?> 64 2 Funktionsweise der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration spielsweise mit der Zustimmung der anderen Länder zur Begünstigung eines Landes im Agrarbereich erkauft und ertrotzt, eine sachgerechte Politik sei kaum möglich. 2.3.4 Europäische Kommission Die Europäische Kommission ist das Exekutivorgan der Europäischen Union (vgl. Europäische Kommission 2013, Nugent 2010). Die Kommission sorgt für die Anwendung der Verträge und der beschlossenen Maßnahmen, sie überwacht die Einhaltung der Vereinbarungen, Regelbrüche werden von ihr geahndet, wie beispielsweise die lange Liste der Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedstaaten zeigt. Die Kommission wird daher häufig als „Hüterin der Verträge“ bezeichnet. Die Kommission verwaltet den Haushalt und vertritt die Europäische Union in der Welt. Die Kommission darf politische Initiativen ergreifen, um die Integration voranzubringen. Sie schlägt hierzu Rechtsvorschriften, Strategien und Programme vor und wird daher vielfach als „Motor der Integration“ gesehen. Sie ist bei ihrer Aufgabenerfüllung politisch unabhängig. Dies muss auch für die einzelnen Kommissare gelten, sie dürfen von Regierungen keine Weisungen entgegennehmen. Die Kommission besteht aus dem Kollegium der Kommissare, die aus den 28 Mitgliedstaaten stammen. Artikel 17 EUV sieht vor, dass diese Zahl ab dem 1. November 2014 auf zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten reduziert wird (sofern nicht der Europäische Rat einstimmig eine andere Zahl beschließt). Die Kommission wird alle fünf Jahre neu zusammengesetzt. Dabei einigen sich die Regierungen zunächst auf einen Präsidenten der Kommission. Box 2-6: Kontroverse um die Wahl des Kommissionspräsidenten In der Nachfolge zur Wahl zum Europäischen Parlament 2014 wurde der Modus der Bestimmung des Kommissionspräsidenten kontrovers diskutiert. Im Lissabon-Vertrag (EUV) heißt es in Artikel 17, Absatz 7: „Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament“. Aus Sicht der Mehrheit der Parlamentarier bedeutet dies, dass der Spitzenkandidat der Fraktion, welcher die meisten Stimmen erhalten hat, zum Kommissionspräsidenten gewählt werden soll. Andere Europapolitiker argumentieren, dass eine sol- <?page no="64"?> Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 65 www.uvk-lucius.de/ integration che Festlegung auf einen Spitzenkandidaten nicht verabredet wurde. Vielmehr kann vom Europäischen Rat auch eine andere Person vorgeschlagen werden, solange die Mehrheitsverhältnisse im Europaparlament dabei Beachtung finden. Dieser designierte Kommissionspräsident sucht gemeinsam mit den Mitgliedstaaten die übrigen Mitglieder des Kollegiums aus. Die Kommission wird als Gesamtheit von dem Europäischen Parlament in einem Zustimmungsvotum gewählt und vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt. Der Präsident der Europäischen Kommission hat eine zentrale Stellung in der Wahrnehmung der Arbeit der Europäischen Union. Seit 2004 steht der Portugiese José Manuel Barroso an der Spitze der Kommission. Jedes Mitglied des Kollegiums der Kommissare steht einer Generaldirektion oder einem Dienst vor. Die Gesamtheit aller Generaldirektionen und Dienste wird ebenfalls als „Kommission“ bezeichnet. Die Kommission hat ihren Hauptsitz in Brüssel, einige Dienststellen sind in Luxemburg angesiedelt. In der Kommission arbeiten insgesamt rund 20.000 Mitarbeiter. Die Kommission ist gemeinsam mit dem Rat der Europäischen Union und dem Parlament der Europäischen Union an den Gesetzgebungsverfahren beteiligt. Dabei unterbreitet die Kommission dem Rat und dem Parlament einen Gesetzgebungsvorschlag, der dem in der Abb. 2-5 beschriebenen Ablauf folgend behandelt wird. Ein Gesetzgebungsvorhaben beginnt in der Regel mit einem Vorschlag der Kommission. Zunächst werden Stellungnahmen der nationalen Parlamente eingeholt. Im Anschluss erfolgt die erste Lesung, deren Ergebnisse an den Rat der Europäischen Union übermittelt werden. Wenn kein Dissens besteht und der Rat den vorgeschlagenen Änderungen zustimmt, ist der Rechtsakt erlassen. Kommt es zu Änderungsvorschlägen des Rates, erfolgt eine zweite Lesung im Parlament und nachfolgend eine zweite Lesung im Rat der Europäischen Union. Falls im Ministerrat die Änderungsvorschläge des Europäischen Parlamentes akzeptiert werden, gilt der Rechtsakt als erlassen. Andernfalls wird das Vorhaben im Vermittlungsausschuss beraten, entweder am Ende mit einem Kompromiss, der dann als erlassen gilt, oder ohne Kompromiss, womit das Vorhaben als gescheitert gilt. Dieses „ordentliche Gesetzgebungsverfahren“, welches früher „Mitentscheidungsverfahren“ genannt wurde, gilt in der großen Mehrzahl der Gesetzgebungsverfahren. Darüber hinaus gibt es besondere Verfahren, das Konsultationsverfahren und das Zustimmungsverfahren. In einigen Fällen können der Rat und die Kommission alleine Rechtsakte erlassen (vgl. Europäische Kommission 2013, S. 7). <?page no="65"?> 66 2 Funktionsweise der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 2-5: Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren. Quelle: Europäische Kommission 2013, S. 6 4. Erste Lesung des Europäischen Parlaments: Das Parlament legt seinen Standpunkt (mit Änderungsvorschlägen) fest. 7. Der Rat billigt den Standpunkt des Parlaments. D Der Rechtsakt ist erlassen. 11. Zweite Lesung im Rat (*) 14. Der Vermittlungsausschuss wird einberufen. 15. Der Vermittlungsausschuss einigt sich auf einen gemeinsamen Text. 5. Die Kommission kann ihren Vorschlag entsprechend ändern. 16. Parlament und Rat stimmen dem Vorschlag des Vermittlungsausschusses zu: Der Rechtsakt ist erlassen. 17. Parlament und/ oder Rat lehnen den Vorschlag des Vermittlungsausschusses ab: Der Rechtsakt ist nicht erlassen. 10. Stellungnahme der Kommission zu den Änderungsvorschlägen des Parlaments 6. Erste Lesung im Rat (*) 3. (falls vorgeschrieben) Stellungnahmen des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und/ oder des Ausschusses der Regionen 1. Vorschlag der Kommission 2. Stellungnahmen der nationalen Parlamente ERSTE LESUNG ZWEITE LESUNG (*) Der Rat legt seinen Standpunkt mit qualifizierter Mehrheit fest (Einstimmigkeit ist im Vertrag in nur wenigen Ausnahmefällen vorgesehen). Möchte der Rat jedoch vom Vorschlag oder der Stellungnahme der Kommission abweichen, so muss er seinen Standpunkt einstimmig festlegen. VERMITTLUNGSVERFAHREN 8. Rat und Parlament sind nicht einig über die Änderungsvorschläge. Der Rat legt seinen „Standpunkt in erster Lesung“ fest. 9. Zweite Lesung des Europäischen Parlaments: Entweder billigt das Parlament den „Standpunkt des Rates in erster Lesung“ - d der Rechtsakt ist dann in „früher zweiter Lesung“ e erlassen - oder es schlägt Änderungen vor. 12. Der Rat billigt alle Änderungsvorschläge des Parlaments am“Standpunkt des Rates in erster Lesung“. D Der Rechtsakt ist erlassen. 13. Der Rat und das Parlament sind sich nicht einig über die Vorschläge des Parlaments zur Änderung des „Standpunkts des Rates in erster Lesung“. <?page no="66"?> Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 67 www.uvk-lucius.de/ integration Box 2-7: Die Europäische Kommission kontrovers Die positive Sicht: Für die Vertreter eines föderalen Europas hat die Kommission in der Vergangenheit erfolgreich die Rolle der Hüterin der Verträge ausgefüllt. Sie hat das eigeninteressierte Handeln der Mitgliedstaaten korrigiert, die Vertragsverletzungsverfahren, welche die Kommission angestrengt hat, sind unvermeidlich und positiv zu bewerten. Die Kommissionsmitarbeiter sind hochqualifiziert, es handelt sich um einen „aufgeklärten Beamtenapparat“, die Mitarbeiter sind idealistisch und im wahren Sinne europäisch. Die Zahl der Mitarbeiter ist kleiner als die mancher Stadtverwaltungen in europäischen Hauptstädten (vgl. Menasse 2012, S. 26). Die kritische Sicht: Kritiker werfen der Kommission verschachtelte Strukturen, Intransparenz und eine überzogene Neigung zur Bürokratie vor. Die Regelungen zur Glühlampe oder zur Krümmung der Gurken stehen aus Sicht der Kritiker Pars pro Toto. Die Kommission mit 28 Mitgliedern sei zu groß, die Behörde habe zu viele Mitarbeiter, die Bezahlung der Beamten der Kommission sei zu hoch. Der Kommission mangele es an Kostenbewusstsein, das Kostencontrolling sei schwach, nicht-erfolgreiche Programme würden fortgeführt statt beendet. Jene, die den Europäischen Rat im Zentrum der Politik sehen, wünschen sich die Kommission eher als eine Art Verwaltungsstelle des Rats und weniger als Motor der Integration. 2.3.5 Europäischer Gerichtshof Ein weiteres zentrales Organ der Europäischen Union ist der Gerichtshof der Europäischen Union (vgl. Europäische Kommission 2013, Nugent 2010). Dieser „sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ (Artikel 19 EUV). Der Gerichtshof der Europäischen Union ist in Rechtsfragen, welche die EU betreffen, die höchste Instanz, er steht über den nationalen Gerichten. Der Gerichtshof der Europäischen Union, der seinen Sitz in Luxemburg hat, besteht aus zwei Hauptorganen, dem „Gerichtshof“, der für Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte, bestimmte Nichtigkeitsklagen und Rechtsmittelanträge zuständig ist, sowie dem „Gericht“, das in allen Nichtigkeitsklagen von Privatpersonen und Unternehmen sowie in bestimmten ähnlichen Klagen von Mitgliedstaaten entscheidet. Beide Organe setzen sich aus genauso vielen Richtern zusammen wie die EU Mitgliedstaaten hat. <?page no="67"?> 68 2 Funktionsweise der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Der Gerichtshof der EU gewährleistet, dass das europäische Recht einheitlich ausgelegt und angewandt wird. Auf Ersuchen der nationalen Gerichte legt er das EU-Recht aus. Der Gerichtshof der Europäischen Union befasst sich mit vier Verfahrensarten: Vertragsverletzungsverfahren bei Verstößen von Mitgliedsländern gegen Vertragsverpflichtungen; Nichtigkeitsklagen bei Klagen gegen Rechtsakte von Organen und Einrichtungen der EU; Untätigkeitsklagen bei Klagen gegen Organe der EU, wenn diese hätten tätig werden müssen; Dienstrechtsklagen bei Streitangelegenheiten zwischen Organen der EU und Bediensteten. Box 2-8: Der Europäische Gerichtshof kontrovers Die positive Sicht: Der Europäische Gerichtshof genießt von allen europäischen Organen die stärkste Zustimmung. Aus Sicht der Anhänger eines föderalen Europas war der Gerichtshof in der Vergangenheit ein mutiger Vertreter der europäischen Einigung und hat die Entwicklung der Union ganz wesentlich vorangebracht. Er wurde zum eigentlichen Wächter der Verträge (vgl. Brunn 2004, S. 123). Die kritische Sicht: Kritiker bemängeln, dass der Gerichtshof in der Vergangenheit häufig die Grenzen seiner Kompetenzen überschritten hat. Gesetzeslücken seien ohne ausdrückliches eigentliches Mandat geschlossen worden. 2.3.6 Europäischer Rechnungshof Der Europäische Rechnungshof mit Sitz in Luxemburg ist als Organ der Europäischen Union für die externe Rechnungsprüfung zuständig (vgl. Europäische Kommission 2013). Er überprüft gemäß Artikel 285-287 AEUV, ob die Ausführung des Haushaltsplans ordnungsgemäß erfolgt ist. Dies beinhaltet die Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Ausgaben, die Beachtung von Rechtsvorschriften und die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Mittelverwendung. Dazu überprüft er Zahlungsvorgänge und allgemein das Finanzmanagement der Organisationen der Union. „Der Rechnungshof legt dem Parlament und dem Rat eine Erklärung über die Zuverlässigkeit der Rechnungsführung sowie die Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge vor“ (Artikel 287 AEUV). Der Jahresbericht zum Gesamthaushaltsplan der Europäischen Union, besondere Jahresberichte zur Prüfung in einzelnen Organisationen der EU, Sonderberichte und Stellungnahmen gehören zu den Instrumenten, die dem Rechnungshof zur Verfügung stehen. Die Mitglieder <?page no="68"?> Die Organe und Institutionen der Europäischen Union 69 www.uvk-lucius.de/ integration des Rechnungshofes (ein Staatsangehöriger je Mitgliedstaat) üben ihre Aufgaben in voller Unabhängigkeit aus, sie dürfen während ihrer Tätigkeit für den Rechnungshof keinerlei Anweisungen von einer Regierung entgegennehmen, sie dürfen keine andere ent- oder unentgeltliche Berufstätigkeit ausüben (Artikel 285-286 AEUV). Box 2-9: Der Europäische Rechnungshof kontrovers Die positive Sicht: Der Rechnungshof ist ein zentraler Baustein in der Sicherstellung verantwortlichen Regierungshandelns. Die Berichte des Rechnungshofs führen zu wichtigen Änderungen des Verwaltungshandelns, die Organisation genießt hohe Glaubwürdigkeit. Die kritische Sicht: Einige Male stand der Rechnungshof selbst in der Kritik, da dem Verdacht auf Fehlverwendung von öffentlichen Mitteln nicht hartnäckig nachgegangen wurde, es hätte eine Kultur des Verschweigens von Missständen gegeben. Die Abstimmung mit anderen Organisationen, die sich dem Thema der Berechenbarkeit („Accountability”) widmen, wie etwa dem Amt für Betrugsbekämpfung, sei nicht optimal. 2.3.7 Europäische Zentralbank Die Europäische Zentralbank (EZB) bildet zusammen mit den nationalen Zentralbanken der Mitgliedstaaten der EU das Europäische System der Zentralbanken (ESZB). Die Europäische Zentralbank und die nationalen Zentralbanken jener Staaten, die den Euro eingeführt haben, bilden das Eurosystem. Die vorrangige Aufgabe der EZB ist die Sicherung der Preisstabilität. Die EZB ist auch dazu verpflichtet, die allgemeine Wirtschaftspolitik der Union zu unterstützen (Artikel 282 AEUV). Box 2-10: Die Europäische Zentralbank kontrovers Die positive Sicht: Die Europäische Zentralbank hat die Geschicke des Euros erfolgreich gemeistert. Der Sachverstand ist hoch, die Ziele wurden erreicht. Die größte Krise der Währungsunion ließ die Zentralbank an den Herausforderungen wachsen. Die neuen Instrumente, die eingesetzt wurden, haben Wirkung gezeigt und das Instrumentarium der Geldpolitik erweitert. Die kritische Sicht: Die Zentralbank hat in der Krise ihr Mandat überschritten. Die Governance-Struktur lässt deutliche Defizite erkennen. Die <?page no="69"?> 70 2 Funktionsweise der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration demokratische Legitimation für die weitreichenden geldpolitischen Entscheidungen, welche die EZB insbesondere in der Krise getroffen hat, ist nicht vorhanden. 2.3.8 Der „Ausschuss der Regionen“ und der „Wirtschafts- und Sozialausschuss“ In die Entscheidungsprozesse der Organe der EU sind weitere Ausschüsse eingebunden, die beratende Aufgaben übernehmen (vgl. Europäische Kommission 2013). Der „Ausschuss der Regionen“ setzt sich zusammen aus Vertretern der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, der „Wirtschafts- und Sozialausschuss“ im Wesentlichen aus Vertretern der Organisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Beide Ausschüsse haben höchstens 350 Mitglieder, sie sind in die sie betreffenden Gesetzgebungsverfahren eingebunden und können mit Stellungnahmen Beratungen beeinflussen. Box 2-11: Die Ausschüsse kontrovers Die positive Sicht: Regionen sind für die Identität der Menschen essentiell, insbesondere auch vor dem Hintergrund mehrerer europäischer Länder, in denen in Regionen mehr Autonomie eingefordert wird. Den Regionen mehr Gehör zu verschaffen, ist konsequent und verbessert die Arbeit der Union. Die Einbindung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter in Entscheidungsprozesse der EU reflektiert das europäische Modell industrieller Beziehungen, der Schaffung von Orten des Dialogs, der Suche nach sozialem Ausgleich. Die Beteiligung dieser beiden Ausschüsse reflektiert das Streben der EU, demokratische Teilhabe zu ermöglichen. Die kritische Sicht: Aus Sicht der Kritiker ist die Arbeit der Ausschüsse wenig transparent. Die Schaffung ständig weiterer Einrichtungen der Europäischen Union verkompliziert die Abläufe. Statt die Qualität des Handelns der Union zu verbessern, kommt es zu schwierigen und langwierigen Prozessen der Kompromisssuche. 2.3.9 Der Einfluss von Interessengruppen Planung und Umsetzung der Politiken erfolgen zunehmend unter Einbeziehung nationaler und europäischer Interessengruppen. Dies entspricht dem Ziel der EU, mit der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft über Europafragen stärker zu kommunizieren. Sie werden im Rahmen des als „Komitologie“ bezeichneten <?page no="70"?> Schlussfolgerungen 71 www.uvk-lucius.de/ integration Systems der Ausschüsse aus Regierungsvertretern und Experten, die Initiativen der Union vorbereiten oder die Umsetzung begleiten, in die Arbeit der EU- Institutionen einbezogen. In einigen Fällen erfolgt die Mitarbeit fallbezogen („selektives Konsultationsmodell“), in anderen Fällen systematisch durch die institutionalisierte Einbindung („prozedurales Kommunikationsmodell“) (vgl. Knodt/ Corcaci 2012, S. 219-220). Ihre Mitwirkung soll die Legitimation des europäischen Regierens und den Rückhalt in der Bevölkerung erhöhen. Box 2-12: Die Einbeziehung von Interessengruppen kontrovers Die positive Sicht: Die Öffnung der EU für die Zusammenarbeit mit Organisationen der Zivilgesellschaft gilt vielen als sinnvoll und notwendig und als positives Beispiel für die Öffnung der supranationalen Strukturen. Modernes Regierungshandeln erfordert aus dieser Perspektive neue Formen der Partizipation, die Legitimation der EU-Politik wird damit verbessert. Die Verbesserung der Qualität der Entscheidungen und Politiken sei auch dieser Öffnung zu verdanken. Die kritische Sicht: Kritiker verweisen darauf, Interessengruppen seien in der Lage, die Regulierungen zu ihren Gunsten zu verändern, das Gemeinwohlinteresse bleibe häufig auf der Strecke. Die Macht der Lobbyorganisationen sei kontraproduktiv, die zunehmende Intransparenz der Arbeit der Ausschüsse sei in diesem Zusammenhang der Legitimation der Politik abträglich. Kleine gut organisierte Gruppen wären, wie die Neue Politische Ökonomie zeigt, im Vorteil, die nicht-symmetrische Interessenvertretung würde die Qualität der Arbeit der Union beeinträchtigen. 2.4 Schlussfolgerungen Mit dem Vertrag von Lissabon wurde für die kommenden Jahre ein solides rechtliches Fundament für die Arbeit der Europäischen Union geschaffen. So wie in der Vergangenheit wird allerdings auch zukünftig die Anpassung der institutionellen Struktur erforderlich sein, um neuen Herausforderungen optimal zu begegnen. 2.5 Wichtige Begriffe Lissabon-Vertrag Europäische Verfassung Primärrecht Sekundärrecht Verordnung Richtlinie Kommission Europäischer Rat Europäi- <?page no="71"?> 72 2 Funktionsweise der Europäischen Union sches Parlament Europäischer Gerichtshof Europäischer Rechnungshof Ausschuss der Regionen Wirtschafts- und Sozialausschuss Europäische Zentralbank Interessengruppen Acquis Communautaire ausschließliche Zuständigkeit Subsidiarität Einstimmigkeit Mehrheitswahlrecht Hüterin der Verträge 2.6 Literatur Bieber, Roland/ Epiney, Astrid/ Haag, Marcel (2013): Die Europäische Union - Europarecht und Politik, 10. Auflage, Baden-Baden, Nomos Borchardt, Klaus-Dieter (2010): Das ABC des Rechts der Europäischen Union, Luxemburg Brunn, Gerhard (2006): Die europäische Einigung von 1945 bis heute, Bundeszentrale für Politische Bildung, Band 472, Bonn Europäische Kommission (2013): So funktioniert die Europäische Union - Ihr Wegweiser zu den EU-Institutionen, Brüssel Europäischer Rat (2013): The European Council decides on the composition of the European Parliament 2014-2019, 28. Juni 2013, Internet: http: / / www.europeancouncil.europa.eu/ council-meetings? meeting=f09c58bc-2f8e-41a7-b2f8- 22eb4f31fcbf&lang=de&type=EuropeanCouncil Europäische Union (2013): EU-Verträge, Internet: http: / / europa.eu/ about-eu/ basic-information/ decision-making/ treaties/ index_de.htm Fischer, Joschka (2010), „Europa 2030 - Global power or hamster on a wheel“, in: Benjamin, Daniel (Hrsg.): Europe 2030, S. 1-10, Washington, Brookings Institute Press Knodt, Michele/ Corcaci, Andreas (2012): Europäische Integration - Anleitung zur theoriegeleiteten Analyse, Konstanz/ München, UVK Verlagsgesellschaft Krimphove, Dieter (2014): Europarecht, 2. aktualisierte Auflage, Stuttgart, Kohlhammer Verlag Menasse, Robert (2012): Der Europäische Landbote - Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Wien, Paul Zsolnay Verlag Nugent, Neill (2010): The Government and Politics of the European Union, 7. Auflage, New York, Palgrave Macmillan Pelkmans, Jacques (2006): European Integration. Methods and Economic Analysis, 3. Auflage, Essex, Pearson Ranacher, Christian/ Staudigl, Fritz (2010): Einführung in das EU-Recht, 2. Auflage, Wien, facultas.wuv/ UTB <?page no="72"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 3 Die Finanzverfassung der Europäischen Union Leitfragen Wie hoch ist das Volumen des EU-Haushalts? Wofür werden die Ausgaben der EU getätigt? Wie werden die Haushaltsmittel veranschlagt und der Haushalt der EU geplant? Wie ist die Stellung des EU-Haushalts zum mehrjährigen Finanzrahmen? Welche Einnahmen dienen der Finanzierung der EU-Ausgaben? Wer ist Nettozahler und Nettoempfänger der EU? 3.1 Einführung Zentrales Instrument der Haushaltspolitik ist der Haushaltsplan, in dem für jedes Haushaltsjahr sämtliche als erforderlich erachteten Ausgaben und Einnahmen der Europäischen Union veranschlagt werden (vgl. Europäische Kommission 2013a). Während in den Mitgliedstaaten der EU das Budgetrecht den nationalen Parlamenten zusteht, beschließen in der EU hingegen der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament gemeinschaftlich über den Haushalt. Maßgeblich für die jährliche Haushaltsplanung ist der Mehrjährige Finanzrahmen, mit dem für einen mittelfristigen Zeitraum vorab die Haushaltsprioritäten festgelegt werden (vgl. Europäische Kommission 2009). 3.2 Der Haushalt der Europäischen Union 2014 3.2.1 Die Haushaltsplanung in der Europäischen Union Die grundlegenden Normen für den Prozess der Erstellung, den Haushaltsvollzug, die Kontrolle und Prüfung des Haushaltes finden sich im Primärrecht der Europäischen Union (Lissabon-Vertrag) in den Artikeln 310 bis 324 des Vertra- <?page no="73"?> 74 3 Finanzverfassung der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 3-1: Das Haushaltsverfahren in der Europäischen Union. Quelle: Europäische Kommission 2012, S. 20 Entwurf des Haushaltsplans Kommission * Die Kommission ist bestrebt, den Haushaltsentwurf vor Ende April/ Anfang Mai vorzulegen. ** Das heißt, das Parlament billigt den gemeinsamen Entwurf und beschließt binnen 14 Tagen nach der Ablehnung durch den Rat (mit der Mehrheit seiner Mitglieder und drei Fünftel der abgegebenen Stimmen), alle oder einige der Änderungen aus der ersten Lesung zu bestätigen. Haushaltsverfahren - Zeitplan 1. September* 1. Oktober Ratsposition zum Haushaltsentwurf Rat Abänderung des Europäischen Parlaments (EP) bzgl. Ratsposition Parlament 13. November (42 Tage) EP stimmt zu oder fasst keinen Beschluss (Mehrheit der abgegebenen Stimmen) EP verabschiedet Abänderungen (Mehrheit der dem Parlament angehörenden Mitglieder) Rat akzeptiert die Änderungen des Parlaments innerhalb von 10 Tagen Haushalt verabschiedet Vermittlungsverfahren 13. November bis 4. Dezember (21 Tage) Gemeinsamer Entwurf Parlament und Rat 18. Dezember (14 Tage) Ja innerhalb von 14 Tagen Nein innerhalb von 14 Tagen Parlament und Rat stimmen zu (oder treffen keinen Beschluss) Rat lehnt Entwurf ab. Parlament hat das letzte Wort.** Rat stimmt zu, Parlament lehnt ab. Rat und Parlament lehnen Entwurf ab. Haushalt verabschiedet Entwurf abgelehnt Kommission reicht neuen Entwurf ein. <?page no="74"?> Der Haushalt der Europäischen Union 2014 75 www.uvk-lucius.de/ integration ges über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Weitere Regeln finden sich im Sekundärrecht (Verordnungen und Richtlinien) der Union. Das Verfahren zur Aufstellung des Haushaltsplans beginnt mit der Erstellung des jährlichen Haushaltsentwurfs durch die Europäische Kommission, der vom Rat und Parlament als Haushaltsbehörde geprüft und über den nach weiteren Verhandlungen entschieden wird. Die Schrittfolge zur Abstimmung zwischen Parlament und Rat (vgl. Abb. 3-1) ist in Artikel 314 AEUV detailliert geregelt. Angesichts unterschiedlicher Vorstellungen über Höhe und Struktur des EU- Budgets ist verständlich, dass die Einigung zwischen den beteiligten Akteuren nicht immer einfach ist. In der Haushaltsordnung sind die Vorschriften und Grundsätze (Einheit, Haushaltswahrheit, Jährlichkeit, Haushaltsausgleich, Rechnungseinheit, Gesamtdeckung, Spezialität, Wirtschaftlichkeit und Transparenz) festgelegt. Im Einzelnen werden die Mittel nach Tätigkeitsbereichen differenziert aktivitätsbezogen veranschlagt („activity-based budgeting“). Damit unterscheidet sich diese Art der Haushaltsaufstellung von der tradierten inputorientierten Haushaltsplanung, die eine effiziente Mittelverwendung erschwert. Box 3-1: Die ethische Herausforderung: Rationalität der Haushaltsplanung Ineffizienz der Mittelverwendung im öffentlichen Sektor impliziert, dass der Gesellschaft erreichbare Möglichkeiten vorenthalten werden. Allerdings muss der Rahmen auch so gesetzt sein, dass wirtschaftliches Handeln prinzipiell machbar ist. Für die Haushaltsplanung bedeutet dies, anstelle der inputeine stärker ergebnisorientierte Steuerung der Ressourcen vorzunehmen, so dass Unwirtschaftlichkeiten vermieden werden. Grundlage der inputorientierten Haushaltsplanung für das Jahr t ist das Budget des Vorjahres B t-1 . Jeder Ressortminister versucht in den Haushaltsverhandlungen mit dem Finanzminister sein bisheriges Budgetvolumen mindestens zu halten. Wird erwartet, dass es zu einer Kürzung der Mittelforderungen kommen könnte, werden gegenüber dem laufenden Budget entsprechend höhere Mittel beantragt (B t *). Unter Berücksichtigung einer Zufallskomponenten (u t ) kann dieses Verhalten durch Gleichung (1) beschrieben werden: (1) B t * = B t-1 + u t (mit > 1). Werden die beantragten Mittelzuwächse für das Jahr t durch den Finanzminister wenigstens anteilig beschnitten, erhält man für die bewilligten <?page no="75"?> 76 3 Finanzverfassung der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Mittel (B t ) unter Einbeziehung der Zufallsgröße v t die Gleichung (2): (2) B t = B t * + v t (mit < 1). Nach Einsetzen von Gleichung (1) in Gleichung (2), Ersetzen des Produkts durch und Zusammenfassung der beiden Zufallsvariablen zu w t , erhält man Gleichung (3): (3) B t = B t-1 + w t . Wenn ausschließlich das Vorjahresbudget die Basis für die Mittelzuteilung des folgenden Jahres darstellt, ergibt sich für die Ressorts die Notwendigkeit, die einmal bewilligten Mittel auch ausgeben zu müssen, will man höhere Mittel im folgenden Jahr durchsetzen. Dies begünstigt ein verschwenderisches Verhalten im öffentlichen Sektor („Novemberfieber“). Der Haushaltsplan der Europäischen Union gliedert sich in den Gesamteinnahmenplan und in die Einnahmen und Ausgaben nach Einzelplänen für die Organe (ohne Europäische Zentralbank) und Einrichtungen der EU. Eine besondere Bedeutung kommt dem Einzelplan der Kommission zu, der 95% aller Unionsausgaben enthält. Die Kommission führt zusammen mit den Mitgliedstaaten den Haushaltsplan aus. Nach Abschluss der Haushaltsperiode und dem Haushaltvollzug muss das Europäische Parlament der Kommission Entlastung erteilen (Artikel 319 AEUV). 3.2.2 Die Ausgabenseite des EU-Haushalts In Abb. 3-2 ist das Ausgabenvolumen der EU für das Jahr 2014 dargestellt (Europäische Kommission 2013c, S. 12). Die Mittel zum Eingehen von Verpflichtungen (MfV) betragen 142,6 Mrd. €; die Mittel für zu leistende Zahlungen (MfZ) belaufen sich auf 135,5 Mrd. €. Dies entspricht 1,06% bzw. 1,00% des Bruttonationaleinkommens der EU. Ausgaben nach Rubriken (in Mio. EUR) MfV MfZ 1. Intelligentes und integratives Wachstum 63.986,3 62.392,8 1a. Wettbewerbsfähigkeit für Wachstum und Beschäftigung 16.484,0 11.441,3 1b. Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt 47.502,3 50.951,5 <?page no="76"?> Der Haushalt der Europäischen Union 2014 77 www.uvk-lucius.de/ integration 2. Nachhaltiges Wachstum: natürliche Ressourcen 59.267,2 56.458,9 3. Sicherheit und Unionsbürgerschaft 2.172,0 1.677,0 4. Europa in der Welt 8.325,0 6.191,2 5. Verwaltung 8.405,1 8.406,0 6. Ausgleichsbeträge 28,6 28,6 Insgesamt 142.184,3 135.154,6 in % des BNE 1,05 1,00 Besondere Instrumente 456,2 350,0 Reserve für Soforthilfe (EAR) 297,0 150,0 Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) 159,2 50,0 Solidaritätsfonds der Europäischen Union (EUSF) 0,0 150,0 Gesamtbetrag 142.640,5 135.504,6 in % des BNE 1,06 1,00 Abb. 3-2: Ausgaben der EU 2014 Die Unterteilung der Ausgaben nach Rubriken zeigt, dass die 1. Rubrik „Intelligentes und integratives Wachstum“ die Ausgaben für Wettbewerbsfähigkeit und die Ausgaben für die Kohäsion in der Union, d.h. den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt umfasst. Die nächste Rubrik „Nachhaltiges Wachstum: natürliche Ressourcen“ enthält die Ausgaben für die Landwirtschafts- und Fischereipolitik und für die Entwicklung des ländlichen Raums. Die 3. Rubrik „Sicherheit und Unionsbürgerschaft“ stellt auf die Ausgaben für „Gesundheit, Recht der Verbraucher und öffentlichen Dialog“ ab. Die Rubrik „Europa in der Welt“ fasst die Ausgaben für Europas Wirken international zusammen. Unter der 5. Rubrik werden die Verwaltungsausgaben der jeweiligen Organe und Einrichtungen der EU erfasst. In der 6. Rubrik werden die Ausgleichszahlungen berücksichtigt, die mit der EU-Erweiterung (Kroatien) zusammenhängen. Die besonderen Instrumente stehen im Fall unvorhergesehener Ausgaben etwa für humanitäre Einsätze oder Katastrophenschutz zur Verfügung. Der Haushaltsentwurf für das Jahr 2015 ist in Abb. 3-3 dargestellt. Die Mittel für Verpflichtungen erhöhen sich demnach auf 145,6 Mrd. Euro. <?page no="77"?> 78 3 Finanzverfassung der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 3-3: Haushaltsentwurf der Europäischen Union 2015 Quelle: Europäische Union 2014, Angaben in Millionen EUR Box 3-2: Transparenz der Ausgaben der EU Ist die Darstellung des Budgets der EU als Signal der Transparenz oder doch eher als geschicktes Public-Relation-Unterfangen einzustufen? Die beiden wichtigsten Rubriken „Natürliche Ressourcen“ und „Intelligentes und integratives Wachstum“ beschreiben wichtige Ziele der Union. In Artikel 3 des EUV heißt es: Die Union „wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums […] sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt“. Die Darstellung gemäß dieser Rubriken ist somit konsequent und weist die Prioritäten der Union aus. Kritiker verweisen darauf, dass die unter „Natürliche Ressourcen“ subsumierten Ausgaben eher die Prioritätensetzung der Vergangenheit reflektieren, vor allem Ausgaben für Landwirtschaft und ein großer Teil der Ausgaben unter der Rubrik „Intelligentes und integratives Wachstum“ in der Vergangenheit nicht Innovation und Wachstum unterstützten, sondern Infrastrukturprojekte in ärmeren EU- Ländern ermöglichten, die häufig keine Wachstumsimpulse setzten. Die Rubriken sind aus dieser Sicht eher PR-orientierter Etikettenschwindel. <?page no="78"?> Der Haushalt der Europäischen Union 2014 79 www.uvk-lucius.de/ integration 3.2.3 Die Einnahmeseite des EU-Haushalts Abgesehen von den übrigen Einnahmen ( Steuern und sonstige Abzüge von den Gehältern der EU-Bediensteten, Saldo aus dem vorhergehenden Haushaltsjahr, Beiträge von Drittländern zu bestimmten EU-Programmen etc.) erfolgt die Finanzierung der EU-Ausgaben über das System der Eigenmittel, das mit dem Eigenmittelbeschluss des Rates vom 21. April 1970 eingeführt wurde und in der Zwischenzeit verschiedene Änderungen erfahren hat (vgl. Neheider 2012). Am 1. März 2009 trat der Beschluss 2007/ 436 des Rates vom 7. Juni 2007 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften mit retroaktiver Wirkung zum 1. Januar 2007 in Kraft (vgl. Europäische Kommission 2013b, S. 31). In Abb. 3-4 sind die Einnahmen der EU für das Jahr 2014 ausgewiesen. Einnahmen in Mio. EUR in % 1. Eigenmittel 133.960,2 98,9 Traditionelle Eigenmittel 16.310,7 12,0 Mehrwertsteuer-Eigenmittel 17.882,2 13,2 Bruttonationaleinkommen-Eigenmittel 99.767,3 73,6 2. Übrige Einnahmen 1.544,4 1,1 Insgesamt 135.504,6 100,0 Abb. 3-4: Einnahmen der EU 2014. Quelle: Europäische Kommission 2013c, S. 24 Die traditionellen Eigenmittel, bei denen es sich um Zölle und Zuckerabgaben handelt, stellen originäre Einnahmen der EU dar, die mit der Bildung der Zollunion im Jahr 1968 gemeinschaftsrechtlich begründet sind. Für die Erhebung dieser Mittel zugunsten der EU behalten die Mitgliedstaaten einen Anteil von 25% des Aufkommens ein. Im Jahr 2014 belaufen sich die traditionellen Eigenmittel auf 12% der Gesamteinnahmen der EU. Entsprechend den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates zum mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 wird der Erhebungskostensatz für die Mitgliedstaaten ab 1. Januar 2014 auf 20% abgesenkt (vgl. Adam/ Mayer 2014a). Die Mehrwertsteuer-Eigenmittel bestimmen sich durch Anwendung eines für alle Mitgliedstaaten gleichen Abrufsatzes in Höhe von 0,3% auf eine nach einheitlicher Regelung abgegrenzte MwSt.-Bemessungsgrundlage, damit die Unter- <?page no="79"?> 80 3 Finanzverfassung der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration schiede in den MwSt.-Systemen der Mitgliedsländer bereinigt werden. Um die Regressionswirkung der MwSt. für die ärmeren Mitgliedsländer zu begrenzen, die aus der Abnahme der durchschnittlichen Konsumquote mit höherem Wohlstand resultiert, wird die theoretische MwSt.-Bemessungsgrundlage auf die Hälfte des Bruttonationaleinkommens eines Mitgliedslandes begrenzt. Zur Erleichterung ihrer Haushaltsbelastungen wurde der Abrufsatz in der Finanzperiode 2007-2013 für vier Länder reduziert, der für Österreich 0,225%, für Deutschland 0,15% und für die Niederlande wie für Schweden 0,10% betrug. In der vom Europäischen Rat erzielten Einigung über den mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 ist eine Verminderung des einheitlichen Abrufsatzes der MwSt.-Eigenmittel nur für die Länder Deutschland, Niederlande und Schweden vorgesehen. Der MwSt.-Abrufsatz wird auf einen Wert von jeweils 0,15% festgelegt. Im Jahr 2014 macht der Anteil der MwSt.-Eigenmittel an den Gesamteinnahmen der EU gut 13% aus. Mit einem Wert von 73,6% der Einnahmen insgesamt tragen die Bruttonationaleinkommen-Eigenmittel im Jahr 2014 wesentlich zur Deckung der EU- Ausgaben bei. Die Finanzierung ist damit stark proportional zum Wohlstandsniveau der Mitgliedstaaten. Zur Ermittlung der BNE-Einnahmen wird das Bruttonationaleinkommen jedes Mitgliedslandes mit einem einheitlichen Prozentsatz multipliziert, der im Zuge der jährlichen Haushaltsplanung aus der Differenz zwischen den EU-Ausgaben und den anderen Einnahmearten in Relation zum Bruttonationaleinkommen der EU bestimmt wird. Bei einem projizierten BNE von 13.499 Mrd. € ergibt sich für das Jahr 2014 ein Wert von gerundet 0,7390%. Mit dem Eigenmittelbeschluss von 2007 wurde eine pauschale Verringerung der jährlich an die EU abzuführenden BNE-Eigenmittel für die Niederlande um 605 Mio. € und für Schweden um 150 Mio. € (in Preisen des Jahres 2004) zugestanden. Nach den Vorstellungen des Europäischen Rates ist im mehrjährigen Finanzrahmen 2014-2020 vorgesehen, die jährlichen BNE-Eigenmittel Dänemarks um 130 Mio. €, der Niederlande um 695 Mio. €, Schwedens um 185 Mio. € und für Österreich um 30 Mio. € im Jahr 2014, um 20 Mio. € im Jahr 2015 und um 10 Mio. € im Jahr 2016 brutto abzusenken. Verständnisfrage: Wie ist das Bruttonationaleinkommen gemäß volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung definiert? Zum Eigenmittelsystem der EU gehört auch der Haushaltskorrekturmechanismus zugunsten des Vereinigten Königreichs (VK-Korrektur), der mit dem Eigenmittelbeschluss 1985 (85/ 257/ EWG, Euratom) eingeführt und seitdem <?page no="80"?> Der Haushalt der Europäischen Union 2014 81 www.uvk-lucius.de/ integration mehrfach geändert wurde. Die Korrektur („Briten-Rabatt“) wurde damit begründet, dass überproportionale Zahlungen an die Gemeinschaft bei Zöllen (Commonwealth-Importe) und der Mehrwertsteuer (hohe Konsumquote) geleistet wurden, während aufgrund des kleinen landwirtschaftlichen Sektors im Vereinigten Königreich nur unterproportionale Rückflüsse aus dem damals noch sehr starken Agrarhaushalt der Union auftraten (vgl. Wagener/ Eger 2014, S. 306). Ob angesichts grundlegend gewandelter wirtschaftlicher Rahmenbedingungen und struktureller Änderungen im EU-Haushalt diese Begünstigung des Vereinigten Königreichs in Höhe von über 5 Mrd. € im Jahr 2014 noch zu gewähren ist, wird zunehmend hinterfragt. Entsprechend der politischen Einigung des Europäischen Rats über die Eckpunkte des mehrjährigen Finanzrahmens wird die bestehende VK-Korrektur auch weiterhin beibehalten. Box 3-3: Thatchers Forderung zur Rückzahlung „[…] One of the difficulties here has been to get clear the nature of the problem. We are not asking for a penny piece of Community money for Britain. What we are asking is for a very large amount of our own money back, over and above what we contribute to the Community, which is covered by our receipts from the Community. Broadly speaking, for every £2 we contribute we get £1 back. That leaves us with a net contribution of £1,000 million pounds next year to the Community and rising in the future. It is that £1,000 million on which we started to negotiate, because we want the greater part back. But it is not asking the Community for money; it is asking the Community to have our own money back, and I frequently said to them: „Look! We, as one of the poorer members of the Community, cannot go on filling the coffers of the Community. We are giving you notice that we just cannot afford it“ […]“ Margaret Thatcher am 30. November 1979. Quelle: Margaret Thatcher Foundation 2013 Die komplizierte Korrektur zugunsten des Vereinigten Königreichs setzt sich aus drei Komponenten zusammen (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2007) (vgl. Abb. 3-5). <?page no="81"?> 82 3 Finanzverfassung der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Bezeichnung Koeffizient 1) Betrag 1. Anteil des Vereinigten Königreichs (in %) an der nicht begrenzten MwSt.-Bemessungsgrundlage 16,2077 2. Anteil des Vereinigten Königreichs (in %) am Gesamtbetrag der aufteilbaren Ausgaben nach Abzug der erweiterungsbedingten Ausgaben 6,5970 3. (1) - (2) 9,6107 4. Gesamtbetrag der aufteilbaren Ausgaben 133.640.172.409 5. Erweiterungsbedingte Ausgaben 2) 31.848.333.003 6. Gesamtbetrag der aufteilbaren Ausgaben nach Abzug der erweiterungsbedingten Ausgaben = (4) - (5) 101.791.839.406 7. Ursprünglicher Korrekturbetrag VK = (3) (6) 0,66 6.456.694.911 8. VK-Vorteil 3) 1.176.577.247 9. Eigentlicher Korrekturbetrag VK = (7) - (8) 5.280.117.664 10. Unerwartete Gewinne bei den traditionellen Eigenmitteln 4) - 17.223.040 11. Korrekturbetrag zugunsten des Vereinigten Königreichs = (9) - (10) 5.297.340.704 1) gerundet 2) Der Betrag der erweiterungsbedingten Ausgaben entspricht dem Gesamtbetrag der aufteilbaren Ausgaben in den zehn der Union am 1. Mai 2004 und den zwei der Union am 1. Januar 2007 beigetretenen Mitgliedstaaten, mit Ausnahme der Direktzahlungen im Agrarbereich und der marktbezogenen Ausgaben sowie der Ausgaben für die Entwicklung des ländlichen Raums, die aus dem EAGFL, Abteilung Garantie, finanziert werden. Dieser Betrag wird vom Gesamtbetrag der aufteilbaren Ausgaben abgezogen, um Gleichbehandlung vor und nach der Erweiterung zu gewährleisten. 3) Hierbei handelt es sich um den Vorteil, der dem Vereinigten Königreich aus der Begrenzung der MwSt.-Bemessungsgrundlagen und der Einführung der BNE-Einnahme im Vergleich zum alten System erwächst. 4) Hierbei handelt es sich um Gewinne, die sich für das Vereinigte Königreich aus der Anhebung des Prozentsatzes der traditionellen Eigenmittel ergeben, den die Mitgliedstaaten als Erhebungskosten einbehalten (von 10% auf 25% seit dem 1. Januar 2001). Abb. 3-5: Korrektur der Haushaltsungleichgewichte zugunsten des Vereinigten Königreichs, 2014. Quelle: Europäisches Parlament 2014, S. I/ 15 <?page no="82"?> Der Haushalt der Europäischen Union 2014 83 www.uvk-lucius.de/ integration Die VK-Grundkorrektur bezieht sich auf das Haushaltsungleichgewicht (des vorangegangenen Haushaltsjahrs) als Differenz zwischen dem Anteil des Vereinigten Königreichs an der nicht begrenzten MwSt.-Bemessungsgrundlage und dem Anteil des Vereinigten Königreichs an den Gesamtausgaben der EU, die den Mitgliedsländern zugerechnet (aufteilbare Ausgaben) werden können. Dieser Prozentsatz wird auf den Gesamtbetrag der aufteilbaren Ausgaben der EU angewandt und sodann mit dem Faktor 0,66 multipliziert. Genau genommen werden vom EU-Gesamtbetrag der zurechenbaren Ausgaben zuvor die zugerechneten nichtlandwirtschaftlichen EU-Ausgaben für jeden der EU in den Jahren 2004 und 2007 beigetretenen Mitgliedstaat subtrahiert. Die Anpassung im Zusammenhang mit den Heranführungsausgaben, die die EU für diese Beitrittsländer im Vorjahr des Beitritts getätigt hat, endet mit dem VK-Ausgleich für das Jahr 2013 (vgl. Europäische Kommission 2013b, S. 33). Mit dem VK- Vorteil wird die Begünstigung erfasst, die sich aus der Begrenzung der MwSt.- Bemessungsgrundlage und der Finanzierung über die BNE-Eigenmittel ergibt. Ermittelt wird der Unterschied in den Zahlungen, die das Vereinigte Königreich ohne diese Reformelemente hätte leisten müssen im Vergleich zu den tatsächlich aufzubringenden Beträgen an MwSt. und an BNE-Mitteln. Der für 2014 negative Windfall-Betrag resultiert aus der Anhebung des Kostensatzes von 10% auf 25% im Jahr 2001 für die Einziehung der traditionellen Eigenmittel durch die Mitgliedstaaten. Der Korrekturbetrag zugunsten des Vereinigten Königreichs wird von den übrigen Mitgliedsländern entsprechend ihrem jeweiligen Anteil am Bruttonationaleinkommen der EU aufgebracht. Der Beitrag, den Deutschland, die Niederlande, Österreich und Schweden zum Britenrabatt leisten, wird gekürzt und auf ein Viertel des an sich aufzubringenden Finanzierungsanteils begrenzt („Rabatt vom Rabatt“). Die vorgesehenen Änderungen des Einnahmesystems ab dem Jahr 2014 gelten erst nach erfolgter Ratifizierung eines neuen Eigenmittelbeschlusses. Bis dahin haben die bestehenden Regelungen weiterhin Gültigkeit. Dem Vorschlag der Kommission, angesichts der Komplexität alle Korrekturmechanismen abzubauen und durch ein neues System von Pauschalbeträgen zu ersetzen, wurde bisher nicht gefolgt. Allerdings wird von einer hochrangigen Arbeitsgruppe eine Überprüfung des Systems der Eigenmittel vorgenommen (vgl. Europäische Kommission 2014). Im Jahr 2014 beträgt der Anteil der Eigenmittel am BNE 0,99% (134 Mrd. €/ 13.499 Mrd. €). Damit wird die geltende EU-Eigenmittelobergrenze von 1,23% eingehalten. Hervorzuheben ist, dass der EU die öffentliche Verschuldung als Finanzierungsinstrument prinzipiell nicht zusteht. Nach Artikel 311 AEUV ist der Haushalt unbeschadet der sonstigen Einnahmen vollständig aus Eigenmitteln zu finanzieren. <?page no="83"?> 84 3 Finanzverfassung der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration 3.3 Die Nettoposition der Mitgliedsländer innerhalb der EU Aus den Regelungen auf der Ausgabenseite und den Bestimmungen auf der Einnahmeseite des EU-Haushalts resultiert die Nettoposition der Mitgliedstaaten gegenüber der EU. Nettoempfängerländer (Nettozahlerländer) weisen einen positiven (negativen) Saldo aus Mittelrückflüssen von der EU und finanziellen Leistungen an die EU auf. Von der Europäischen Kommission werden sog. operative Haushaltssalden ermittelt, für die auf der Ausgabenseite eine Bereinigung um die Verwaltungsausgaben („nicht zurechenbare Kollektivleistung“) erfolgt und auf der Einnahmeseite die traditionellen Eigenmittel („Rotterdam-Antwerpen-Effekt“) unberücksichtigt bleiben. Wenn die operativen Ausgaben und die nationalen Beiträge in ihren Summen übereinstimmen, addiert sich der Gesamtsaldo aus den Nettopositionen aller Mitgliedsländer zu Null. Die Summe aus den Nettozahlungen aller Mitgliedstaaten, die mit dem Betrag identisch ist, den die Empfängerländer insgesamt erhalten, stellt die budgetäre Umverteilung dar. In Abb. 3-6 sind die operativen Haushaltssalden in absoluten Werten und in Prozent des Bruttonationaleinkommens für das Jahr 2012 wiedergegeben (vgl. Europäische Kommission 2013b, S. 113 ff.). Die Umverteilung zwischen den Mitgliedstaaten beträgt 41,4 Mrd. €. Bei Betrachtung der absoluten Zahlen ist Deutschland mit knapp 12 Mrd. € der größte Nettozahler der EU gefolgt von Frankreich mit 8,3 Mrd. € und dem Vereinigten Königreich mit fast 7,4 Mrd. €. Größtes Nettoempfängerland ist Polen (ca. 12 Mrd. €) vor Portugal (5 Mrd. €) und Griechenland (4,5 Mrd. €). Werden die operativen Haushaltssalden in Prozent des Bruttonationaleinkommens herangezogen, liegt Schweden (-0,46%) vor Dänemark (-,45%) und Deutschland (-0,44%), während Estland (4,84%) vor Litauen (4,82%) und Lettland (4,29%) den höchsten Nettovorteil erreicht. Mitgliedsländer in Mio. EUR in v.H. des BNE Mitgliedsländer in Mio. EUR in v.H. des BNE Belgien (BE) -1.493,7 -0,39 Luxemburg (LU) -79,5 -0,25 Bulgarien (BG) +1.329,7 +3,43 Ungarn (HU) +3.280,4 +3,59 Tschechische Republik (CZ) +3.045,2 +2,14 Malta (MT) +71,4 +1,14 Dänemark (DK) -1.126,0 -0,45 Niederlande (NL) -2.364,5 -0,39 Deutschland (DE) -11.953,8 -0,44 Österreich (AT) -1.073,3 -0,35 Estland (EE) +785,3 +4,84 Polen (PL) +11.997,2 +3,30 <?page no="84"?> Die Nettoposition der Mitgliedsländer innerhalb der EU 85 www.uvk-lucius.de/ integration Irland (IE) +670,6 +0,50 Portugal (PT) +5.027,2 +3,12 Griechenland (EL) +4.544,9 +2,33 Rumänien (RO) +2.031,6 +1,56 Spanien (ES) +3.999,0 +0,39 Slowenien (SI) +572,2 +1,63 Frankreich (FR) -8.297,5 -0,40 Slowakei (SK) +1.597,0 +2,28 Italien (IT) -5.058,1 -0,33 Finnland (FI) -658,8 -0,34 Zypern (CY) -25,2 -0,15 Schweden (SE) -1.925,1 -0,46 Lettland (LV) +955,9 +4,29 Vereinigtes Königreich (UK) -7.366,1 -0,39 Litauen (LT) +1.514,0 +4,82 Abb. 3-6: Operative Haushaltssalden Über die Zeit hinweg zeigt sich für Deutschland die in Abb. 3-7 wiedergegebene Entwicklung der operativen Haushaltssalden. Im Zeitraum zwischen 2000 und 2012 lagen die Nettozahlungen absolut zwischen knapp 5 Mrd. € im Jahr 2002 und knapp 12 Mrd. € im Jahr 2012. Gemessen am Bruttonationaleinkommen schwanken die Saldenwerte zwischen -0,24 (2002) und -0,44 (2012). Erwartet wird, dass die deutsche Nettozahlerposition mittelfristig ansteigen dürfte, wenn die neuen Bundesländer künftig keinen Anspruch mehr auf die Höchstförderung im Rahmen der Kohäsionspolitik haben (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2013, S. 45 ff.). Jahre Mio. EUR % BNE Jahre Mio. EUR % BNE 2000 - 8232,4 -0,41 2007 -7415,2 -0,30 2001 -6971,5 -0,34 2008 -8774,3 -0,35 2002 -4954,0 -0,24 2009 -6357,5 -0,26 2003 -7605,4 -0,36 2010 -9223,6 -0,36 2004 -7140,4 -0,32 2011 -9002,5 -0,34 2005 -6064,3 -0,27 2012 -11953,8 -0,44 2006 -6325,2 -0,27 Abb. 3-7: Operative Haushaltssalden 2000-2012 für Deutschland <?page no="85"?> 86 3 Finanzverfassung der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Mit den Zahlungssalden wird allerdings nur die fiskalische Sicht eines Landes gegenüber der EU eingenommen (formale Inzidenz); nicht zu vernachlässigen sind ökonomisch die handelsschaffenden Effekte und die mit den Freiheiten des Binnenmarktes einhergehenden Wirkungen der Europäischen Union (effektive Inzidenz) (vgl. Feld 2006, S. 94 ff.). 3.4 Mehrjähriger Finanzrahmen 2014-2020 Für die Haushaltsplanung der EU ist der Mehrjährige Finanzrahmen (MFR) als Rahmenplan für die jährlichen EU-Haushalte verbindlich, der die politischen Prioritäten der Union über einen mindestens fünfjährigen Zeitraum reflektiert (Artikel 312 AEUV). Mit dem MFR werden Obergrenzen für die Ausgaben insgesamt und je Politikbereich (Rubrik) vorgegeben. Es handelt sich um eine Verordnung, die vom Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments mit der Mehrheit seiner Mitglieder einstimmig beschlossen wird (vgl. The Council of the European Union 2013). Aus Abb. 3-8 ist zu entnehmen, dass der neue MFR der EU für die Jahre 2014 bis 2020 insgesamt knapp 960 Mrd. € an MfV und 908,4 Mrd. € an MfZ (in Preisen des Jahres 2011) zur Verfügung stellt. Bei einem automatischen Inflationsausgleich von 2% pro anno erhält man einen Betrag von 1082,6 Mrd. € an MfV und von ca. 1024 Mrd. € an MfZ in laufenden Preisen (vgl. Europäische Kommission 2013c). Mit einem Anteil von knapp 39% dominieren die Ausgaben im Agrarbereich (Rubrik 2) gefolgt von den Ausgaben im Rahmen der Kohäsion (Rubrik 1b) mit rund 34%. Die Mittel zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit für Wachstum und Beschäftigung (Rubrik 1a) belaufen sich auf einen Anteil von etwa 13%. Nicht unter die Obergrenzen für die Verpflichtungen fallen die Mittel außerhalb des MFR für zusätzliche Ausgabenprogramme wie die Reserve für Soforthilfe und weitere Instrumente oder Fonds, um eine höhere Flexibilität bei der Mittelverwendung zu erreichen. Mittel für Verpflichtungen in Mio. EUR Preise von 2011 jeweilige Preise 1. Intelligentes und integratives Wachstum 450.763 508.921 1.a. Wettbewerbsfähigkeit für Wachstum und Beschäftigung 125.614 142.130 1.b. Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt 325.149 366.791 <?page no="86"?> Problemfelder der Haushaltspolitik 87 www.uvk-lucius.de/ integration 2. Nachhaltiges Wachstum: natürliche Ressourcen 373.179 420.034 davon: marktbezogene Ausgaben und Direktzahlungen 277.851 312.735 3. Sicherheit und Unionsbürgerschaft 15.686 17.725 4. Europa in der Welt 58.704 66.262 5. Verwaltung 61.629 69.584 davon: Verwaltungsausgaben der Organe 49.798 56.224 6. Ausgleichszahlungen 27 29 Mittel für Verpflichtungen insgesamt 959.988 1.082.555 in % des BNE 1,00 1,00 Mittel für Zahlungen insgesamt 908.400 1.023.954 in % des BNE 0,95 0,95 Verfügbarer Spielraum 0,28 0,28 Eigenmittelobergrenze in % des BNE 1,23 1,23 Besondere Instrumente Reserve für Soforthilfe 1.960 2.209 Europäischer Fonds für die Anpassung an die Globalisierung 1.050 1.183 Solidaritätsfonds der Europäischen Union 3.500 3.945 Flexibilitätsinstrument 3.297 3.716 Abb. 3-8: Mehrjähriger Finanzrahmen 2014-2020 und Besondere Instrumente außerhalb des Mehrjährigen Finanzrahmens. Quelle: Europäische Kommission (2013c), S. 7 ff. Verständnisfrage: Wie ist die Stellung des jährlichen Haushalts zum mehrjährigen Finanzrahmen? 3.5 Problemfelder der Haushaltspolitik Auf beiden Seiten des Haushalts der EU stellen sich verschiedene Herausforderungen (vgl. Adam/ Mayer 2014b). Die große Mehrzahl der Mitgliedstaaten der Union hat seit Ausbruch der Finanzkrise einen Kurs der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte verfolgt, Ausgaben mussten gekürzt werden, den Bür- <?page no="87"?> 88 3 Finanzverfassung der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration gern wurden Belastungen auferlegt. Vor diesem Hintergrund forderten einige Länder wie insbesondere Großbritannien, Deutschland und die Niederlande eine Kürzung der Ausgaben der Union. Dem traten andere Länder im Osten und Süden Europas entschieden entgegen. Mit Annahme des MFR 2014-2020 wurde zwar ein Kompromiss gefunden, angesichts der schwierigen Finanzlage in den Ländern der Union wurde aber auch beschlossen, im Jahr 2016 eine Überprüfung der Mittelzuteilung (mid-term review) vorzunehmen (vgl. The Council of the European Union 2013). Die Europäische Union verpflichtet sich zur Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und will den Einkommensabstand zwischen den Regionen der Union verringern. Ein Instrument hierfür ist der Haushalt und der Transfer von Ressourcen. Starke Länder zahlen mehr an die EU als sie unmittelbar an Rückflüssen zurückerhalten. Die wiederholte öffentliche Debatte über die Nettozahlungen verstellt dabei den Blick auf die Intention des Systems. Vor allem lassen die Daten häufig in Vergessenheit geraten, dass in einer Union mit erheblichen Einkommensunterschieden Nettozahler- und Nettoempfängerpositionen notwendig sind, um mittelfristig die Lücke in den Einkommensniveaus zwischen den Mitgliedstaaten der EU zu schließen. Die Europäische Union gibt den größten Teil der Haushaltsmittel für Agrarpolitik und Kohäsionspolitik aus. Kritiker monieren, dass damit Europa den Herausforderungen der Zukunft nicht gerecht wird. Aus deren Sicht darf die Präsentation der gegenwärtigen Ausgabenprioritäten mit den positiv konnotierten Begriffen „natürliche Ressourcen“ und „intelligentes und integratives Wachstum“ nicht übersehen, dass die EU gerade nicht hinreichend die Bereiche wie Bildung und Qualifizierung, Innovation und Technologie fördert, die für die zukünftige Stärke der europäischen Volkswirtschaften von Bedeutung sind. Demgegenüber wird angeführt, dass der Aufholprozess in den Ländern des Südens und Ostens langfristig hohe Renditen erbringt. Die EU habe sich auf die Schaffung gleicher Lebensverhältnisse verständigt; die Verpflichtung zu Gerechtigkeit in Europa erfordere den Einsatz der Struktur- und Investitionsfonds, deren Mittel fokussiert verwendet werden müssen. Zahlreiche Kontrollmechanismen sollen dazu dienen, einen ordnungsgemäßen und effizienten Einsatz der EU-Mittel zu gewährleisten. Interne Prüfungen sind gängige Praxis. Programme werden regelmäßig evaluiert. Maßnahmen seitens des Europäischen Rechnungshofs und des unabhängigen Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung OLAF ergänzen das institutionelle Gefüge. Hinzu kommt ein eigenes Finanztransparenzsystem. Angesichts des Mittelumfangs, der Ausgaben insbesondere in Ländern mit wenig leistungsfähigen öffentlichen Verwaltungen und der Risiken einiger öffentlicher Projekte sind gleichwohl <?page no="88"?> Problemfelder der Haushaltspolitik 89 www.uvk-lucius.de/ integration einige Fälle mangelnder Sorgfalt, der Nichtbeachtung von häufig extrem komplexen Bestimmungen, der Misswirtschaft oder auch des Betrugs unvermeidlich. Die Bewertung der Problemlage fällt kontrovers aus. Während Kritiker die Probleme als Beleg von - zum Teil schwerwiegenden - Fehlentwicklungen sehen, betonen andere, dass die Kontrollmechanismen funktionierten, sich die EU als lernfähige Institution erweise. Das Einnahmesystem der EU hat sich seit Einführung der Eigenmittel im Jahr 1970 deutlich gewandelt. Reformüberlegungen stellen darauf ab, die BNE- Eigenmittel als das Hauptinstrument zur Finanzierung der EU auszubauen: Abschaffung der MwSt.-Eigenmittel, die durch eine Anhebung der BNE- Einnahmen substituiert werden. Das System würde transparent und leichter verständlich werden. Allerdings würde der Auffassung von der EU als Kostgänger der Mitgliedstaaten Vorschub geleistet. Eine Einigung darüber konnte nicht erreicht werden. Auch über die Abschaffung der zahlreichen Korrekturmechanismen besteht kein Konsens. Alternativ wird vorgeschlagen, zur Finanzierung der EU den Anteil der Direkteinnahmen zu erhöhen und eine eigene EU-Steuer einzuführen: Möglichkeiten dazu werden in der Besteuerung des Luftverkehrs, der Versteigerung von Emissionszertifikaten oder der Besteuerung von Finanztransaktionen gesehen. Jede der Finanzierungsformen ist mit Vor- und Nachteilen versehen. Gegenwärtig ist nicht davon auszugehen, dass die politische Interessenlage einen Konsens für eine grundlegende Änderung des Einnahmesystems ermöglicht. Eine Eigenmittelreform ist nicht ohne Ausgabenreform zu realisieren. Im Übrigen hängen die Haushaltsentwicklungen nicht zuletzt davon ab, welche politischen Vorstellungen über die „Integrationsarchitektur“ Europas (vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen 2012, S. 21) bestehen. Mitgliedstaat Situation Interesse Belgien überproportional hohe Zolleinnahmen; Sitz zahlreicher EU-Institutionen hoher Erhebungskostensatz bei Zöllen für die Mitgliedstaaten Deutschland größter absoluter Nettozahler Reform der Haushaltsstruktur (Agrarausgaben); Abschaffung VK-Korrektur Frankreich Nettozahler; Vorteile durch die gemeinsame keine Kofinanzierung bei der gemeinsamen Agrarpolitik; Abschaf- <?page no="89"?> 90 3 Finanzverfassung der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Agrarpolitik fung VK-Korrektur; Straßburg als Sitz des Europäischen Parlaments mittel- und osteuropäische Staaten Empfänger von Strukturmitteln; Begünstigung durch Agrarausgaben ausreichende Mittelbereitstellung für arme Regionen; Fortschreibung der gemeinsamen Agrarpolitik; Abschaffung VK-Korrektur Niederlande Nettozahler; überproportional hohe Zolleinnahmen Beibehaltung des Erhebungskostensatzes bei Zöllen für die Mitgliedstaaten; kein höheres EU- Budget Spanien hoher Zufluss von Strukturmitteln Beibehaltung der Strukturförderung für nicht-ärmste Regionen Vereinigtes Königreich Nettozahler; VK- Rabatt Reduzierung der Agrarausgaben; kein höheres EU-Budget Abb. 3-9: Interessen der Mitgliedstaaten an einer Reform der EU-Finanzen. Quelle: Trüpel/ Seifert (2006), S. 222 f.; Neheider (2010), S. 99 ff. 3.6 Wichtige Begriffe Haushaltsplan mehrjähriger Finanzrahmen Rubriken Ausgabenprioritäten Ausgabentransparenz Eigenmittel Haushaltskorrekturmechanismus Nettozahlerposition EU-Steuer 3.7 Literatur Adam, Hans/ Mayer, Peter (2014a): „Der Haushalt der Europäischen Union“, in: Verwaltungsrundschau 7/ 2014, S. 233-241 Adam, Hans/ Mayer, Peter (2014b): „Die Finanzgrundlagen der Europäischen Union“, in: wisu - das Wirtschaftsstudium, H. 2, S. 229-234 Bundesministerium der Finanzen (2013): „Der neue Mehrjährige Finanzrahmen der Europäischen Union“, in: Monatsbericht des BMF Dezember 2013, S. 45-50 Europäische Kommission (2009): Die Finanzverfassung der Europäischen Union, 4. Ausgabe, Luxemburg Europäische Kommission (2012): EU-Haushalt 2011. Finanzbericht, Luxemburg <?page no="90"?> Literatur 91 www.uvk-lucius.de/ integration Europäische Kommission (2013a): Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Union und Anwendungsbestimmungen - Synoptische Darstellung - Vervollständigt durch eine Auswahl von Rechtstexten von Bedeutung für den Haushalt, Luxemburg Europäische Kommission (2013b): EU-Haushalt 2012. Finanzbericht, Luxemburg Europäische Kommission (2013c): Mehrjähriger Finanzrahmen 2014-2020 und EU- Haushalt 2014 - Übersicht in Zahlen, Luxemburg Europäische Kommission (2014): Hochrangige Gruppe arbeitet an künftiger Finanzierung der EU, IP/ 14/ 367, Brüssel Europäisches Parlament (2014): Endgültiger Erlass des Gesamthaushaltsplans der Europäischen Union für das Haushaltsjahr 2014, (2014/ 67/ EU, Euratom), in: Amtsblatt der Europäischen Union, L 51, 57. Jg., 20.2.2014 Feld, Lars (2006): „Nettozahler Deutschland? Eine ehrliche Kosten-Nutzen-Rechnung“, in: Wessels, W., Diedrichs, U. (Hrsg.), Die neue Europäische Union: im vitalen Interesse Deutschlands? Studie zu Kosten und Nutzen der Europäischen Union für die Bundesrepublik Deutschland, Berlin, S. 94-113 Kommission der Europäischen Gemeinschaften (2007): Berechnung, Finanzierung, Zahlung und Einstellung der Korrektur der Haushaltsungleichgewichte zugunsten des Vereinigten Königreichs („VK-Korrektur“) in den Haushaltsplan gemäß den Artikeln 4 und 5 des Beschlusses 2006/ xxx/ EG, Euratom des Rates über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften, Arbeitsdokument der Kommission, Brüssel, KOM(2006) 99 endgültig/ 4, 2006/ 0039 (CNS) Margaret Thatcher Foundation (2014): Press Conference after Dublin European Council, 30. November 1979, Internet: http: / / www.margaretthatcher.org/ speeches/ displaydocuments.asp? docid=104180 Neheider, Susanne (2010): Die Kompensationsfunktion der EU-Finanzen, Baden- Baden, Nomos Verlag Trüpel, Helga/ Seifert, Jan (2006): „Neue Wege bei den EU-Eigenmitteln gehen“, in: integration, H. 3, S. 219-228 The Council of the European Union (2013): Council Regulation (EU, EURATOM) No 1311/ 2013 of 2 December 2013 laying down the multiannual financial framework for the years 2014-2020, in: Official Journal of the European Union, L 347/ 884 Wagener, Hans-Jürgen/ Eger, Thomas (2014): Europäische Integration. Wirtschaft und Recht, Geschichte und Politik. 3. Auflage, München, Verlag Franz Vahlen <?page no="91"?> 92 3 Finanzverfassung der Europäischen Union Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium der Finanzen (2012): Ein Haushalt für Europa. Stellungnahme zum neuen mehrjährigen Finanzrahmen der EU 2014-2020, Berlin <?page no="92"?> Teil 3: Der europäische Wirtschaftsraum - Handel und Wettbewerb <?page no="94"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 4 Der europäische Binnenmarkt Leitfragen Welche Argumente liefert die Handelstheorie zur Analyse von Zollunionen? Warum wird der Binnenmarkt als „Herzstück der Integration“ bezeichnet? Welche Schwierigkeiten stellen sich bei der Umsetzung der vier Freiheiten des Binnenmarktes? 4.1 Einführung Bereits im Gründungsvertrag der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde in Artikel 2 als erste Aufgabe der Gemeinschaft die Errichtung eines gemeinsamen Marktes genannt. Und in Artikel 3 folgt die Konkretisierung dieses Ziels: Freihandel innerhalb der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft soll ebenso gewährleistet werden wie die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Der Prozess der Abschaffung der Binnenzölle und der Einführung eines gemeinsamen Außenzolls war bis 1968 abgeschlossen. Allerdings blieben Exporte und Importe innerhalb der Gemeinschaft deutlich komplizierter als der Handel innerhalb eines Landes. Quantitative Beschränkungen, unterschiedliche technische Normen, gesundheitliche Vorschriften, Umweltauflagen und weitere Regelungen erschwerten den Handel. Auch von einem freien Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehr wie in einem Binnenmarkt waren die Mitgliedstaaten noch weit entfernt: Die Arbeitsaufnahme in einem anderen Mitgliedsland als dem Heimatland war vielfältig beschränkt, grenzüberschreitende Kapitalbewegungen wurden streng kontrolliert. In den 1970er-Jahren gab es vor dem Hintergrund makroökonomischer Krisen in den Mitgliedstaaten keine wesentlichen Fortschritte mit Blick auf eine Öffnung der nationalen Märkte. Im Zuge der in den 1980er-Jahren geführten Diskussion über die nachlassende Wettbewerbsfähigkeit Europas wuchs die Offen- <?page no="95"?> 96 4 Der europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration heit für neue Initiativen. Das Weißbuch der Union, welches 1985 den Weg zur Vollendung eines echten Binnenmarktes aufzeigte, wurde positiv aufgenommen. Box 4-1: Grünbücher und Weißbücher der Union Die Kommission veröffentlicht in wichtigen Bereichen sogenannte „Grünbücher“: Dokumente, die einen europaweiten Diskurs zu einem spezifischen Thema anregen sollen. Sie sind in der Regel der erste Schritt in einem strukturierten Konsultationsprozess. Diesem folgt häufig die Vorlage eines „Weißbuches“, in dem denkbare Rechtsvorschriften vorgestellt und erläutert werden. Im Anschluss kann es dann zu gesetzgeberischen Maßnahmen oder Aktionsprogrammen der Union kommen. In dem Weißbuch zum Binnenmarkt und in einem von der Union in Auftrag gegebenen Bericht (dem „Cecchini-Report“) wurden die wirtschaftlichen Vorteile aus der Fortführung der Integration, der Reduzierung der Kosten der Bürokratie, der Beseitigung des Protektionismus im öffentlichen Auftragswesen, der Abschaffung der Barrieren für grenzüberschreitende Unternehmenstätigkeit, der Beseitigung der Probleme infolge abweichender technischer Normen und Vorschriften aufgezeigt (vgl. Cecchini 1988). Dem damaligen Kommissionspräsidenten Delors gelang es, die Mitgliedstaaten für eine gemeinsame Anstrengung zur Schaffung eines echten Binnenmarktes zu gewinnen, die Einheitliche Europäische Akte zeugte von der Entschiedenheit der Mitgliedstaaten, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen (vgl. Brunn 2006). Bis zum 31. Dezember 1992 sollte die Mobilität der Produktionsfaktoren vollständig gewährleistet werden und der Handel zwischen den Mitgliedstaaten wie der Handel innerhalb eines Landes funktionieren. Damit vollzog die Gemeinschaft einen weiteren Schritt in dem stufenweise vollzogenen Prozess der wirtschaftlichen Integration. Die folgende Abbildung zeigt die schematisierte Abfolge von Integrationsschritten von der Freihandelszone zur Wirtschafts- und Währungsunion: <?page no="96"?> Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes 97 www.uvk-lucius.de/ integration Freier Binnenhandel Gemeinsame Außenzölle Mobilität der Produktionsfaktoren, Abbau administrativer Beschränkungen Gemeinsame Wirtschaftspolitik Gemeinsame Wirtschaftspolitik und gemeinsame Währungspolitik Freihandelszone x Zollunion x x Binnenmarkt x x x Wirtschaftsunion x x x x Wirtschafts- und Währungsunion x x x x x Abb. 4-1: Stufen der Integration Nach umfangreichen Arbeiten und Hunderten von Einzelmaßnahmen wurde 1993 die erste große Etappe auf dem Weg zur Schaffung eines Binnenmarktes als erreicht bezeichnet. Da jedoch auch weiterhin Beschränkungen den Handel erschwerten, wurden regelmäßig weitere Strategien und Maßnahmen identifiziert. Die Realisierung des Binnenmarktes, im Grunde das zentrale wirtschaftliche Projekt der Union, der Kern des Integrationsprozesses, bleibt auch gut 20 Jahre nach Erreichen der ersten großen Etappe eine Herausforderung für die Union. 4.2 Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes Der Schaffung eines Binnenmarktes werden mehrere Effekte zugeschrieben, die sich unter anderem nach wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen, nach kurz- und langfristigen, einmaligen und dauerhaften, mikro- und makroökonomischen, statischen und dynamischen Effekten vielfältig unterscheiden lassen und für eine genaue Analyse wichtig sind. Die Vor- und Nachteile des europäischen Binnenmarktes wurden intensiv diskutiert, eine Vielzahl empirischer Studien wurde erstellt. Dabei spielten die statischen und dynamischen <?page no="97"?> 98 4 Der europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration wirtschaftlichen Effekte infolge des vermehrten Handels innerhalb der Gemeinschaft in der öffentlichen Debatte eine besondere Rolle. 4.2.1 Statische Effekte - Handelsschaffung und Handelsumlenkung Als „statische Effekte“ bezeichnet man in der Handelstheorie jene Wohlfahrtswirkungen, die entstehen, wenn durch Veränderungen der Rahmenbedingungen eine ineffiziente Allokation von Ressourcen beseitigt wird. Die messbaren Effekte der Veränderung der Produktion, des Konsums und der Terms of Trade werden hierunter erfasst (vgl. Ohr 2013, S. 49). Durch die Schaffung einer Zollunion wird einerseits in der Regel der Handel zwischen den Mitgliedern der Zollunion zunehmen, ein als Handelsschaffung bezeichneter Prozess. Andererseits kommt es durch die Begünstigung der Produzenten innerhalb der Zollunion zu einer Verdrängung der Produzenten von außerhalb der Zollunion, ein als Handelsumlenkung bezeichneter Prozess. Welcher der beiden Effekte dominiert, ist abhängig von den konkreten Umständen. Eine Zollunion kann in der Summe sowohl positive als auch negative statische Wohlfahrtseffekte für die Wirtschaftssubjekte innerhalb der Zollunion haben. Box 4-2: Handelsschaffung und Handelsumlenkung Die Wohlfahrtseffekte für den einfachen Fall ohne eigene inländische Produktion sind in Abb. 4-2 und 4-3 veranschaulicht (vgl. Pugel 2012, S. 262-265). Gezeigt wird der Fall eines Landes A, welches aus Land B und Land C importieren kann und zunächst für den Import aus beiden Ländern einen identischen Zoll von 1.000 erhebt. In Land C sind die Produktionskosten niedriger als in Land B. Land A importiert nur aus Land C. Land A entscheidet sich, eine Zollunion mit Land B einzugehen. Ein positiver Wohlfahrtseffekt infolge der Schaffung einer Zollunion der beiden Länder ist in Abb. 4-2 dargestellt. Der Beitritt des Landes B zu der Zollunion mit Land A führt zu einer Handelsumlenkung: Das Land A wird nicht mehr aus dem günstigeren Produktionsstandort C sondern vielmehr aus Land B importieren. Für die Konsumenten in Land A sinken die Preise, ihre Konsumentenrente steigt. Diesem wohlfahrtsökonomischen Gewinn steht der Verlust der Zolleinnahmen in Land A in Höhe von (a+c) gegenüber. Der Nettowohlfahrtseffekt für das Land A ergibt sich als Veränderung der Konsumentenrente abzüglich der Veränderung der Staatseinnahmen = (a + b) - (a + c) = (b - c). Im konkreten Beispiel ergibt sich ein Nettowohlfahrtsgewinn von 500.000 Geldeinheiten. <?page no="98"?> Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes 99 www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 4-2: Zollunion und Nettowohlfahrtsgewinn Abb. 4-3: Zollunion und Nettowohlfahrtsverlust <?page no="99"?> 100 4 Der europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration In Abb. 4-3 wird erneut der Wohlfahrtseffekt in Land A betrachtet, der sich aufgrund der Entscheidung, zusammen mit dem Land B eine Zollunion zu bilden, ergibt. In dem gezeigten Fall ergibt sich ein Nettowohlfahrtsverlust. Numerisch lässt sich die Größe der Flächen im konkreten Fall berechnen als (5000 600 ½) - (10.000 600), d.h. (-4.500.000) Geldeinheiten. Verständnisfrage: Prüfen Sie die Wohlfahrtsänderungen einer Zollunion zwischen Land A und Land B, wenn in Land A eine klassischverlaufende Angebotsfunktion (eigenes Angebot) vorliegt. Die Senkung der Bürokratiekosten grenzüberschreitender Handelsströme Schließlich erleichtert die Schaffung eines Binnenmarktes auch die Beseitigung bürokratischer Hindernisse: Die volkswirtschaftlichen Ressourcen, die für Zollformalitäten, für Wartezeiten am Zoll und verknüpfte Kosten entstehen, können eingespart werden. 4.2.2 Dynamische Effekte Als „dynamische Effekte“ werden jene Effekte bezeichnet, welche die Marktdynamik verändern, also nicht nur einen einmaligen Wachstumsschub implizieren. Die Wirkung positiver Skalenerträge Durch die Realisierung eines Binnenmarktes tritt ein einheitlicher Markt an die Stelle der einzelnen abgegrenzten Volkswirtschaften. Unternehmen innerhalb des Binnenmarktes haben damit ein größeres Absatzpotential. Ist die Produktion durch positive Skalenerträge und damit Einsparungen bei der Massenproduktion infolge von Fließbandproduktion, verbesserter Organisationsabläufe, wachsender Erfahrungen der Arbeitnehmer oder Fixkostendegression gekennzeichnet, dann sinken die Produktionskosten und im Wettbewerb auch die Preise für Konsumenten. Der Effekt lässt sich mithilfe des Verlaufs der kurzfristigen und der langfristigen Durchschnittskostenkurve darstellen. <?page no="100"?> Theoretische Begründung für die Schaffung eines Binnenmarktes 101 www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 4-4: U-förmige langfristige Durchschnittskostenkurve, Quelle: Mankiw/ Taylor 2012, S. 340 Wird aufgrund des gewachsenen Marktes eine größere Fabrik gebaut (Erhöhung der Produktionsmenge von 10.000 auf 25.000 Mengeneinheiten), so ist die Produktion bei niedrigeren Stückkosten möglich. Bei höheren Produktionsmengen kann es wieder zu steigenden Stückkosten kommen (abnehmende Skalenerträge). Höherer Wettbewerb und die Beseitigung der X-Ineffizienz Die Schaffung einer Zollunion erweitert den Markt und die Wettbewerbsintensität. In der neoklassischen Theorie wird angenommen, dass Unternehmen auch in geschützten Märkten mit geringer Wettbewerbsintensität mit gegebenen Inputs den maximalen Output produzieren, die Unternehmen technisch effiziente Lösungen realisieren. Das Konzept der X-Effizienz basiert demgegenüber auf der Annahme, dass in Märkten mit geringem Wettbewerbsdruck Unternehmen häufig ineffiziente Lösungen realisieren, Verbesserungsmöglichkeiten nicht konsequent gesucht und Ressourcen verschwendet werden (vgl. Leibenstein 1978). Solche Ineffizienzen (X-Ineffizienzen) können durch erhöhten Wettbewerbsdruck beseitigt werden. Sinkt beispielsweise der Außenschutz eines Marktes oder steigt die Zahl der Unternehmen in einem Markt und damit die Wettbewerbsintensität, werden Unternehmen effizienter wirtschaften, es kommt nicht mehr zu einer Verschwendung volkswirtschaftlicher Ressourcen. Menge Durchschnittskosten Kurzfristige Durchschnittskosten bei geringer Ausbringung Kurzfristige Durchschnittskosten bei mittlerer Ausbringung Kurzfristige Durchschnittskosten bei hoher Ausbringung Langfristige Durchschnittskosten <?page no="101"?> 102 4 Der europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration Die Bedeutung der statischen und dynamischen Effekte Die konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen der Schaffung eines Binnenmarktes sind abhängig von spezifischen Bedingungen wie der Größe der Märkte, der Handelsverflechtung der einzelnen Märkte miteinander und mit dem Rest der Welt, der Spezialisierung vor Öffnung des Binnenmarktes und der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen der beteiligten Länder (vgl. Deutsche Bank 2013, S. 5). 4.3 Rechtsgrundlagen, Ziele, Institutionen In Artikel 3, Absatz 3 des EUV heißt es, dass die Union einen Binnenmarkt errichtet. Im AEUV werden die Binnenmarktziele konkretisiert. Die Union hat das Funktionieren des Binnenmarktes zu gewährleisten, der als ein Raum beschrieben wird „ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist“ (Artikel 26, Absatz 2 des AEUV). Damit sind die vier Freiheiten benannt, die seit Mitte der 1980er-Jahre im Mittelpunkt der Binnenmarktpolitik standen. Die Artikel 26-66 des AEUV spezifizieren die Politik der Union in diesem Bereich. Artikel 28-37 befassen sich mit dem freien Warenverkehr und Artikel 45-66 mit der Freizügigkeit, dem freien Dienstleistungsverkehr und dem Kapitalverkehr. Im Zuge der umfangreichen Maßnahmen zur Schaffung des Binnenmarktes haben die Organe der Union gegenüber nationalen Institutionen an Bedeutung gewonnen. Dies galt zunächst für den Europäischen Rat, der das politische Ziel der Schaffung und Weiterentwicklung des Binnenmarktes vertrat und über die prioritären Schritte entschied. Mit dem Binnenmarktprojekt gewann auch die Kommission an Macht, die mit konkreten Vorschlägen für die Entwürfe der Verordnungen, Richtlinien und Initiativen verantwortlich zeichnete. In dem nachfolgenden Gesetzgebungsprozess bestimmen der Ministerrat und das Parlament die konkrete Ausgestaltung der Vorhaben. In der Umsetzung spielt die Kommission wiederum eine zentrale Rolle: Sie überwacht die Einhaltung der verabredeten Regeln, die Verfahren gegen Mitgliedsländer zeigen beispielhaft ihre Rolle als „Hüterin der Verträge“. Besondere Bedeutung für die Binnenmarktpolitik hatte stets auch der Gerichtshof, der in seinen Entscheidungen häufig nationalen Interessen entgegentrat und Wege zur Weiterentwicklung der Integration aufzeigte. Die nationalen Behörden und nationalen Parlamente hingegen gaben faktisch Macht an die europäischen Institutionen ab. Das Binnenmarktprojekt steht sinnbildlich für den Prozess der „Europäisierung“. Für <?page no="102"?> Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 103 www.uvk-lucius.de/ integration die nationalen Akteure bedeutete dies gleichzeitig, dass neue Wege der Einflussnahme auf die Gesetzgebungsprozesse und Verfahren der Erarbeitung neuer Initiativen sukzessive etabliert werden mussten. Die umfassende Bedeutung der Binnenmarktpolitik schlägt sich auch in der Organisationsstruktur der Kommission nieder. Die Generaldirektion Binnenmarkt und Dienstleistungen ist die wichtigste Organisationseinheit für die Weiterentwicklung des Binnenmarktes. Ebenfalls mit diesbezüglichen Aufgaben befasst sind die Generaldirektionen „Steuern und Zollunion“, „Unternehmen und Industrie“ und „Wettbewerb“. 4.4 Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes Die Ziele der Binnenmarktpolitik wurden öffentlichkeitswirksam stets mit Bezug auf die Realisierung der „vier Freiheiten“ und den damit verbundenen gesamtgesellschaftlichen Nettonutzen kommuniziert. Diverse empirische Studien ergaben einen positiven Wachstumsbeitrag. Die Schätzungen wiesen allerdings erhebliche Unterschiede hinsichtlich des ökonomischen Effektes auf (vgl. Deutsche Bank 2013, S. 12), ein kaum verwunderliches Ergebnis angesichts der komplexen Wirkungen und den mit Ex-ante-Schätzungen verknüpften Problemen der Unsicherheit und der zahlreichen Annahmen der Modelle. Die Berechnung eines Nutzenzuwachses für die Gesellschaft konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Gewinnern der Öffnung der Märkte in der Regel auch Verlierer gegenüberstanden. Vor diesem Hintergrund wurden die Initiativen und Maßnahmen der Union zur Umsetzung meist auch kontrovers diskutiert. 4.4.1 Warenverkehr Freier Warenverkehr bedeutet, dass die Mitgliedstaaten der Union neben der Gründung einer Zollunion und der Verfolgung einer gemeinsamen Zollpolitik gegenüber Drittländern keine Zölle und mengenmäßige Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen für den Handel innerhalb der Union anwenden. Die Beseitigung der Zölle war Ende der 1960er-Jahre für den innergemeinschaftlichen Handel erfolgt. Mit der Realisierung eines wirklich freien Warenverkehrs und der Beseitigung der tarifären und nicht-tarifären Beschränkungen sind Wohlfahrtsgewinne für die Gesellschaften verknüpft. In Abb. 4-5 lässt sich der Wohlfahrtseffekt aus der Abschaffung von Zöllen ablesen. Wird in dem betreffenden <?page no="103"?> 104 4 Der europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration Land der Zoll t abgeschafft, sinkt der inländische Preis von p 1 auf p 2 , die Konsumentenrente steigt um (a + b + c + d). Die Produzentenrente sinkt um a, die Zolleinnahmen sinken um c. Der Nettowohlfahrtsgewinn beträgt (b + d). Abb. 4-5: Wohlfahrtseffekte der Abschaffung von Zöllen Vernachlässigt man zunächst langfristige und dynamische Effekte, Externalitäten und politische Ökonomieaspekte, so ergibt die partialanalytische statische Betrachtung, dass die Öffnung der Märkte für Länder insgesamt einen Nettowohlfahrtsgewinn verspricht. In Artikel 28-37 des AEUV sind Fragen des freien Warenverkehrs geregelt. In Artikel 28 wird das Ziel der Schaffung einer Zollunion, der Abschaffung von Zöllen und Abgaben und der Einführung eines gemeinsamen Zolltarifs benannt. Mengenmäßige Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen sind gemäß Artikel 34 und 35 AEUV verboten. Legitim und möglich sind jedoch in bestimmten Fällen Beschränkungen aus „Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, Ordnung und Sicherheit, zum Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen, des nationalen Kulturguts von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert oder des gewerblichen und kommerziellen Eigentums“ (Artikel 36 AEUV). Die Ausnahmeregeln waren wichtig, um in konkreten Fällen wie z.B. bei Tierseuchen vertragskonform notwendige Beschränkungen vorzunehmen. Gleichzeitig war die Regelung des Artikels 36 AEUV auch das Einfallstor für protektionistische Politik: Staaten widerstanden häufig nicht der Versuchung, die eigene Industrie mit wohlklingenden Argumenten zu schützen. <?page no="104"?> Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 105 www.uvk-lucius.de/ integration Eine besondere Herausforderung für den Binnenmarkt ergibt sich aus der Existenz unterschiedlicher Steuersysteme. Dies gilt sowohl für direkte Steuern wie die Einkommens- und Körperschaftsteuer als auch für indirekte Steuern wie die Umsatzsteuer und Verbrauchssteuern. Für die Umsatzsteuer einigten sich die Mitgliedsländer der Union auf Mindest- und Höchstsätze, die aber den Ländern einen erheblichen Gestaltungsspielraum lassen. Beim Ex- und Import von Gütern und Dienstleistungen stellt sich vor allem deswegen die Frage, ob ein Produkt mit der Umsatzsteuer des Ursprungslandes oder mit der des Bestimmungslandes belegt werden soll. Die Entscheidung für die konsequente Anwendung des einen oder anderen Systems ist noch nicht gefallen. Box 4-3: Bestimmungsland- und Ursprungslandprinzip Bei der Anwendung des Bestimmungslandprinzips kommt die Umsatzsteuer des importierenden Landes zur Anwendung. Es kommt daher nicht zu einer Auswahl der Produkte nach dem niedrigeren Mehrwertsteuersatz des Erzeugerlandes und damit auch nicht zu einem Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten. Mit dem Bestimmungslandprinzip ist aus dieser Perspektive „Wettbewerbsneutralität“ verknüpft. Die Anwendung des Bestimmungslandprinzips ist allerdings administrativ aufwändig. Gemäß dem Ursprungslandprinzip wird die Umsatzsteuer im Exportland erhoben und verbleibt dort. Kommt es zu erheblichen Ungleichgewichten im Handel, hat die Entscheidung für das eine oder andere System deutliche Auswirkungen auf die Verteilung der Steuereinnahmen. Darüber hinaus gilt, dass der Export jener Länder gefördert wird, deren Umsatzsteuersatz niedrig ist. Dies stellt einerseits eine Wettbewerbsverzerrung dar und erhöht andererseits den Druck auf die Mitgliedstaaten, sich an den niedrigen Umsatzsteuersätzen anderer EU-Staaten zu orientieren. Für Reisende und Lieferungen an den Endverbraucher gilt bei Einkäufen prinzipiell das Ursprungslandprinzip. Für den normalen gewerblichen Wirtschaftsverkehr gilt einstweilen grundsätzlich das Bestimmungslandprinzip. Eine weitere Herausforderung für den Binnenhandel war die Existenz unterschiedlicher technischer Vorschriften und Normen, die meist in unterschiedlichen Regelungstraditionen ihren Ursprung hatten und faktisch eine Behinderung des Handels darstellten. Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs sorgte hier für Klarheit. <?page no="105"?> 106 4 Der europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration Box 4-4: Das Cassis-de-Dijon-Urteil Das Cassis-de-Dijon-Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 1979 hatte für die Entwicklung des freien Warenverkehrs wegweisende Bedeutung. Das deutsche Unternehmen Rewe-Zentral AG hatte gegen ein Importverbot von Cassis, einem in Frankreich regulär gehandelten Likör, geklagt, nachdem deutsche Behörden die fehlende Beachtung der deutschen Branntweinverordnung bemängelt hatten und die Einfuhr bzw. den Verkauf in Deutschland untersagt hatten. Der Europäische Gerichtshof entschied, dass ein Gut, welches in einem Land zugelassen ist, in einem anderen Mitgliedstaat ebenfalls in den Verkehr gebracht werden darf und eine differenzierte Behandlung der Güter innerhalb der Gemeinschaft somit grundsätzlich nicht statthaft ist (vgl. Ranacher/ Staudigl 2010, S. 130). In der Union setzte sich somit das „Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarkt“ durch, welches für die Mehrzahl der Warengruppen Anwendung findet. Dank dieses Prinzips ist die Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, ein aufwändiger Prozess wenn es in den Mitgliedstaaten bereits Regelungen gibt, nicht erforderlich. Vorschriften eines anderen EU- Landes oder eines Mitglieds des Europäischen Wirtschaftsraumes müssen von den anderen Mitgliedstaaten der EU anerkannt werden. Ausnahmeregelungen gibt es nur für jene Bereiche, in denen der Schutz der Gesundheit, besondere schutzwürdige Interessen der Verbraucher oder Umweltfragen berührt werden. Für neue Regelungen allerdings gilt, dass eine Vereinheitlichung der technischen Produktanforderungen angestrebt wird. Box 4-5: Pro und Kontra Öffnung des öffentlichen Auftragswesens Angesichts der Größe des öffentlichen Sektors ist die Öffnung des öffentlichen Auftragswesens auch für Anbieter aus anderen EU-Ländern ein besonderes Anliegen der Binnenmarktpolitik. Nationale Anbieter dominieren bei der Vergabe öffentlicher Aufträge: Nur 3,4% aller öffentlichen Aufträge in der EU gingen in den Jahren 2006 bis 2010 an ausländische Bieter (vgl. Deutsche Bank 2013, S. 14). Vergaberichtlinien definieren Schwellenwerte für öffentliche Aufträge, ab deren Erreichen eine EUweite Bekanntmachung des Auftrags erforderlich ist. Für bestimmte Sektoren („Sektorenrichtlinien“) sind genaue prozedurale Anforderungen formuliert, um den Zugang ausländischer Anbieter zu sichern. <?page no="106"?> Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 107 www.uvk-lucius.de/ integration Pro Öffnung: Die Ausschreibung öffentlicher Aufträge in Europa ist konsequent und notwendig, um den Binnenmarkt zu vollenden. Der besonders niedrige Anteil der an ausländische Unternehmen vergebenen Aufträge in Ländern wie Spanien, Frankreich und Deutschland weisen auf das Potential hin, Kosten für den öffentlichen Sektor und damit für die Steuerzahler zu sparen. Eine größere Offenheit würde eine Reallokation von Ressourcen bewirken, die Europa zugutekäme. Kontra Öffnung: Die europaweite Ausschreibung von Aufträgen ist häufig nicht zielführend. Die Komplexität der EU-weiten Ausschreibung verursacht hohe Kosten und erhebliche Verzögerungen. Die regionale Nähe der Anbieter und Nachfrager hat zahlreiche Vorteile, die nicht übersehen werden dürfen und bei einer eng definierten Kostenbetrachtung keine ausreichende Beachtung finden. Die Binnenmarktpolitik hat den Offenheitsgrad der Volkswirtschaften im Warenhandel erhöht, auch die Transparenz über alternative Angebote ist gestiegen, der Wettbewerbsdruck ist gewachsen, Arbitragegeschäfte verhindern größere Preisunterschiede. Ein Indikator für die tatsächlich erreichte Freiheit ist die durchschnittliche Preisdifferenz der identischen Güter auf unterschiedlichen Märkten der Union. Hier ist es in den letzten Jahren zu einem kontinuierlichen Prozess der Preiskonvergenz auf den nationalen Märkten des Binnenmarktes gekommen (vgl. Deutsche Bank 2013, S. 11). Gleichzeitig stellen sich der Europäischen Union im Warenhandel auch weiterhin wichtige Aufgaben. Mit Aktionsplänen, den Binnenmarktakten I und II aus den Jahren 2010 und 2012, benannte die Union Aktionsfelder und konkrete Maßnahmen. So wird beispielsweise gegenwärtig an der Einführung eines einheitlichen Patentschutzes gearbeitet. Auch strebt die Union die Erhöhung der Sicherheit der in der Union vertriebenen Produkte durch Kohärenz und bessere Durchsetzung der Vorschriften zur Produktsicherheit und Marktüberwachung an (vgl. Europäische Kommission 2012). Auch im Bereich der Besteuerung stellen sich noch zahlreiche Probleme. 4.4.2 Freier Dienstleistungsverkehr Die Öffnung der nationalen Dienstleistungsmärkte für ausländische Anbieter soll wie auch im Bereich des Güterhandels zu einer Erhöhung des Lebensstandards führen. Der freie Verkehr von Dienstleistungen umfasst eine große Vielfalt wirtschaftlicher Aktivitäten (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2009). Die folgende Grafik macht diese Heterogenität deutlich. <?page no="107"?> 108 4 Der europäische BinnenmarktDer europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration Dienstleistungen lassen sich nach nicht-handelbaren und handelbaren Dienstleistungen unterscheiden. Letztgenannte können wiederum nach nicht-regulierten und regulierten Branchen unterschieden werden. Die regulierten Dienstleistungsbereiche lassen sich weiter danach differenzieren, ob sie netzwerkbasiert sind oder nicht. Abb. 4-6: Schematische Darstellung der Heterogenität von Dienstleistungen. Quelle: Pelkmans 2006, S. 127 In den meisten Mitgliedstaaten trägt der Dienstleistungssektor 70% und mehr zu BIP und Beschäftigung bei, das Wachstumspotential vieler Dienstleistungsbranchen wird als hoch eingeschätzt, die Bedeutung des grenzüberschreitenden Handels mit Dienstleistungen hat zugenommen. Die Öffnung des europäischen Dienstleistungsverkehrs ist daher ein zentrales Politikfeld der Binnenmarktpolitik. In den Artikeln 49-62 und einer großen Zahl von Verordnungen und Richtlinien finden sich die grundlegenden Regenicht handelbar nicht reguliert reguliert staatliche Dientsleistungen lokale Dientsleistung (Friseur) Bildung öffentliche Gesundheit Tourismus Beratung Logistik Marktforschung netzwerkbasiert Rundfunk Post Telekommunikation Schienentransport handelbar nicht netzwerkbasiert realer Sektor finanzieller Sektor Konsum Autovermietung Bau Reinigung Marketing Banken Versicherungen Hotel Bildung Gesundheit alle Dientsleistungen <?page no="108"?> Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 109 www.uvk-lucius.de/ integration lungen zur Freiheit des Dienstleistungsverkehrs. Vor dem Hintergrund der Natur vieler Dienstleistungen, welche die Anwesenheit des Dienstleistungserbringers im Land des Nutzers der Dienstleistung erfordert, spielt die Niederlassungsfreiheit eine besondere Rolle: Die Mitgliedstaaten garantieren Dienstleistungserbringern aus anderen EU-Ländern das Recht, Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ihrer Niederlassung zu erbringen. Angehörige eines Mitgliedstaates können sich gemäß Artikel 49 AEUV in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen. Die Niederlassungsfreiheit umfasst die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen. Gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten können von dem Leistenden zwecks Erbringung seiner Leistungen vorübergehend in dem Mitgliedstaat ausgeübt werden, in dem die Leistung erbracht wird, „und zwar unter den Voraussetzungen, welche dieser Mitgliedstaat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt“ (Artikel 57 AEUV). Verständnisfrage: Weshalb stellt die Liberalisierung des Dienstleistungshandels innerhalb der Union eine besondere Herausforderung dar? Viele Dienstleistungen werden in regulierten Sektoren erbracht. Regulierungskonzepte und -traditionen unterscheiden sich in europäischen Ländern. Die Öffnung für grenzüberschreitende Dienstleistungen wirft daher die Frage auf, ob die Regulierung aus dem Herkunftsland des Anbieters oder dem Land des Nachfragers der Dienstleistung anzuwenden ist. Grundsätzlich gilt auch im Dienstleistungssektor das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Binnenmarkt. Von der relativen Klarheit der Regelungen im Warenverkehr ist der Dienstleistungsverkehr jedoch weit entfernt. Die lange Liste der Ausnahmen, die von der für die Öffnung des Dienstleistungssektors zentralen Dienstleistungsrichtlinie 2006/ 123/ EG nicht abgedeckt werden, weist beispielhaft auf die Komplexität des Dienstleistungssektors hin: Wenn Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, wenn die kulturelle oder sprachliche Vielfalt oder der Medienpluralismus oder wenn bestimmte arbeitsrechtliche Fragen tangiert sind, dann greifen die auf Liberalisierung ausgerichteten Regelungen der Dienstleistungsrichtlinie nicht und Sonderregelungen kommen zum Tragen. Ein weiteres Problem ergab sich durch die Regelung einiger Dienstleistungsbereiche in Form nationaler Monopole. Eine potentielle Öffnung für Dienstleistungsangebote aus dem Ausland erzwingt somit sowohl die Öffnung des Marktes für Wettbewerb als auch die Öffnung für internationale Anbieter. Die Märkte für Telekommunikations- und Postdienstleistungen, für den Lufttransport <?page no="109"?> 110 4 Der europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration und für den Schienenpersonenverkehr oder für Energie sind beispielhaft zu nennen. Die EU war ganz wesentlicher Treiber der Öffnung dieser Märkte (siehe auch das Kapitel 5). Wichtig war die Richtlinie zur Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen. Diese regelt, dass die Unternehmen ihren entsandten Arbeitnehmern bestimmte Schutzbestimmungen garantieren müssen, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sie tätig werden, verbindlich sind. Dies umfasst Arbeitszeitregelungen, Urlaubsregelungen, Mindestlohnbestimmungen, Arbeitsschutzbestimmungen und anderes mehr. Box 4-6: Das Für und Wider der Öffnung des Marktes für Versicherungen aus EU-Ländern Die Anwendung der Regelungen der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs, verbunden mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung impliziert auch die Zulassung von Versicherungen aus anderen Mitgliedstaaten. Pro Öffnung: Die Öffnung der nationalen Versicherungsmärkte ist sinnvoll, da die Wahlfreiheit der Konsumenten verbessert wird. Die Angebote ausländischer Versicherungen, z.B. französischer Versicherungen in Deutschland oder deutscher Versicherungen in Spanien sind in diesem Sinne sinnvolle Erweiterungen des Dienstleistungsangebotes. Der Preis- und Qualitätswettbewerb stärkt den Wirtschaftsstandort Europa, die Dynamik des Marktes wird gesteigert, X-Ineffizienzen werden beseitigt. Insbesondere in kleinen Ländern werden die Vorteile für die Konsumenten groß sein, da kleine beschränkte Märkte hohe Durchschnittskosten und damit Preise für Konsumenten zur Folge haben. Kontra Öffnung: Trotz Konvergenz der Versicherungsaufsichtssysteme gibt es deutliche Unterschiede in der Stabilität der Systeme und der Bonität der Versicherungen verschiedener EU-Staaten, die der Verbraucher häufig nicht erkennt. Konsumenten sind mit der Einschätzung der Qualität der Dienstleistung aufgrund der spezifischen Natur der Leistung (in der Zukunft) überfordert. Die Öffnung für dieses Dienstleistungsangebot kommt zu früh, solange es keine weitreichende Homogenität der Standards in diesem Bereich gibt. Viele zentrale Binnenmarktprojekte der letzten Jahre stellten auf die Liberalisierung im Dienstleistungssektor ab. Die Union hat in diesem Bereich deutliche Fortschritte erzielt. Angesichts der Komplexität vieler Dienstleistungssektoren <?page no="110"?> Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 111 www.uvk-lucius.de/ integration wird voraussichtlich auch zukünftig die Gestaltung des Binnenmarktes in diesem Sektor die politische Agenda dominieren. 4.4.3 Personenverkehr Eine der vier Freiheiten ist die Freiheit des Personenverkehrs. Jenseits der kulturellen, sozialen und politischen Dimension dieser Freiheit werden von der Öffnung der Märkte für temporäre oder dauerhafte Migration auch wichtige wirtschaftliche Effekte erwartet: Die Migration zu dem Ort, an dem das Grenzprodukt der Arbeit maximal gesteigert werden kann, ist sowohl für den Arbeitnehmer als auch für die Volkswirtschaft als Ganzes vorteilhaft. Die Reallokation der Produktionsfaktoren steigert den Output in der Union. Die Öffnung des Arbeitsmarktes ist mithin gesamtwohlfahrtsteigernd. Gemäß Artikel 45 AEUV ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU gewährleistet. Jede auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung sonstige Arbeitsbedingungen ist nicht zulässig (Artikel 45, Absatz 2 AEUV). Wichtig für die Realisierung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer war die Lösung der Frage der Anerkennung der Berufsqualifikationen, die in einem anderen Mitgliedstaat erworben wurden. Europäische Länder haben ganz unterschiedliche Berufsausbildungssysteme. Die Anerkennung der Berufsausbildung in einem anderen EU-Mitgliedsland als Grundlage der Aufnahme der Beschäftigung war daher stets kontrovers gesehen worden. Die Union einigte sich nach langjährigen Arbeiten an dieser Frage darauf, dass Angehörige der Union zeitweilig und gelegentlich in einem anderen Mitgliedsland der EU Dienstleistungen erbringen können, ohne dass die Beantragung der Anerkennung der Qualifikationen erforderlich ist. Der Nachweis einer mindestens zweijährigen Berufserfahrung ist allerdings erforderlich (vgl. Richtlinie 2005/ 36/ EG). Hinzu kommen sehr detaillierte Regelungen z.B. für Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Krankenschwestern und Krankenpfleger, Hebammen, Apotheker und Architekten. Ein wesentlicher praktischer Schritt auf dem Weg zur Freiheit des Personenverkehrs war auch die Einigung auf ein Abkommen zum Abbau der Grenzkontrollen für Personen, dem sogenannten „Schengen-Abkommen“, welches 1985 unterzeichnet wurde und seit 1994 den Grenzübertritt zwischen den Unterzeichnerstaaten des Abkommens ohne Vorlage von Passdokumenten ermöglicht. Sukzessive traten weitere Länder dem Abkommen bei, im Jahr 2014 wenden 22 EU-Mitgliedstaaten den Schengen-Acquis vollständig an. In einigen Mitgliedstaaten, darunter Großbritannien, wird es nicht angewendet und ist somit ein Beispiel für ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ (unter der <?page no="111"?> 112 4 Der europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration Annahme, dass andere EU-Länder, die jetzt noch nicht beigetreten sind, später beitreten), oder ein „Europa à la carte“ (unter der Annahme, es bleibt dabei, dass einige Länder kein Interesse an der Umsetzung eines solchen Integrationsschrittes haben). Migration innerhalb der Europäischen Union zum Zweck der Arbeitsaufnahme in anderen Ländern hat es in Europa stets gegeben. In den 1970er-Jahren gab es eine erhebliche Migration von Arbeitskräften aus südeuropäischen Ländern in nordeuropäische Länder. Mit der politischen Öffnung in Osteuropa verliefen die Migrationsströme von Ost nach West. Die ökonomische Bewertung einer quantitativ erheblichen Migration hängt ganz wesentlich davon ab, ob die Zunahme des Arbeitsangebotes substitutiver oder komplementärer Natur zu dem Arbeitsangebot im Inland ist (vgl. Ohr 2013, S. 73). Ist das Arbeitsangebot substitutiv, kommt es zu einer Absenkung der Löhne oder bei Erreichen eines Mindestlohnes zur Zunahme der Arbeitslosigkeit. Ist hingegen das Arbeitsangebot komplementär zu dem existierenden Arbeitsangebot bzw. Kapitalangebot, sind die Wohlfahrtseffekte der Zuwanderung anders zu beurteilen. Die heimischen Arbeitnehmer erleiden keinen Wohlfahrtsverlust, es kann gar durch die Zunahme der Arbeitsnachfrage zu einem Anstieg der Löhne kommen. Die Initiativen zur Anwerbung von hochqualifizierten Spezialisten aus aller Welt sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Box 4-7: Pro und Kontra der Öffnung des Arbeitsmarktes für Arbeitnehmer aus Bulgarien und Rumänien Zu Beginn des Jahres 2014 wurde in Großbritannien und Deutschland intensiv über das Pro und Kontra der Öffnung für Immigranten aus Bulgarien und Rumänien diskutiert, die mit Auslaufen einer Übergangsregelung ab 1.1.2014 möglich wurde. Pro: Befürworter heben die Vorteile der Immigration hervor. Industrieländer benötigen demografisch bedingt junge Einwanderer, Defizite in manchen Qualifikationsprofilen sind nur durch Immigration kurz- und mittelfristig zu beheben. Auch aus der Perspektive der europäischen Solidarität ist dies für die Befürworter geboten. Hinzu kommt, dass durch die Rücküberweisung der Einkommen aus der Tätigkeit in reicheren Ländern wichtige Impulse im Heimatland der Migranten ermöglicht werden. Viele Migranten sammeln berufliche Erfahrung und gehen nach Jahren der Tätigkeit im Gastland wieder zurück in ihr Heimatland und transferieren wichtiges Know-how. <?page no="112"?> Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 113 www.uvk-lucius.de/ integration Kontra: Kritiker behaupten, dass der Anteil der Immigranten aus diesen Ländern, die keinen Arbeitsplatz finden oder annehmen, hoch ist. Die Integration mancher Bevölkerungsgruppen sei schwierig, deren Konzentration an manchen Orten behindere die Integration. Ihr Arbeitsangebot sei häufig substitutiv, Arbeitnehmer, die ohnehin aufgrund eines niedrigen Qualifikationsprofils Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben, werden verdrängt. Die Löhne in diesem Bereich werden auf ein sozial nicht akzeptables Niveau gedrängt, die Migration führt direkt oder indirekt zu einer erhöhten Zahlung von Sozialleistungen. Die EU hat insbesondere im Rahmen der Osterweiterung die Problematik anerkannt und mit mehrjährigen Übergangsfristen den Ländern die schrittweise Vorbereitung und Anpassung an das veränderte Arbeitsangebot erleichtert, und damit den Raum geschaffen, die Anpassungskosten zu begrenzen und über die Zeit zu strecken. Die Migration in den Staaten der Europäischen Union hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Der Anteil derjenigen EU-Bürger, die in einem anderen EU-Land als in ihrem Heimatland arbeiten, hat sich verdoppelt (vgl. Deutsche Bank 2013, S. 11). Die gegenwärtige Wirtschaftskrise in einigen Ländern hat zu einer Zunahme geführt. Einige Migranten werden vermutlich wieder zurückkehren, sobald die wirtschaftliche Entwicklung wieder Tritt fasst. Der Gesamtwohlfahrtseffekt der Migration lässt sich schwer bemessen, er ist ökonomischer, politischer, sozialer und kultureller Natur, muss das Zielland und das Heimatland einschließen und muss wegen vielfältiger langfristiger Effekte lange Zeiträume umfassen. 4.4.4 Kapitalverkehr Die Kapitalverkehrsfreiheit soll die optimale Allokation der knappen Ressource Kapital ermöglichen. Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs innerhalb der Union sind verboten. Dies betrifft sowohl Direktinvestitionen als auch Finanzkapital und ist unabhängig von der Nationalität des Eigentümers des Kapitals (vgl. Ranacher/ Staudigl 2010, S. 121-122). Die folgende Abb. 4-7 beschreibt an einem einfachen Modell des Gleichgewichts von Kapitalnachfrage und -angebot den Wohlfahrtsgewinn aus der Öffnung des Binnenmarktes für Kapital. Sind die Märkte A und B durch Kapitalverkehrskontrollen voneinander getrennt und das Kapitalangebot in Land A durch O A F und das Angebot in Land B durch O B F gekennzeichnet, ergibt sich in Land A das Gleichgewicht am Schnittpunkt der Kapitalnachfragekurve (AE) <?page no="113"?> 114 4 Der europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration und der Kapitalangebotskurve (FE), der Gleichgewichtszinssatz liegt bei i AA . In Land B ist die Kapitalnachfrage durch die Kapitalnachfragekurve (HB) dargestellt, die Kapitalangebotskurve ist durch (FC) dargestellt, der Gleichgewichtszinssatz beträgt i BB . Abb. 4-7: Wohlfahrtseffekte der Öffnung von zwei Kapitalmärkten. Quelle: Pelkmans 2006, S. 199 Die Öffnung der beiden Kapitalmärkte sorgt für eine Reallokation der Ressourcen. Es kommt zu einem einheitlichen Gleichgewichtszinssatz in Höhe von i M . Die Investitionsprojekte aus Land A, die durch den mit (BE) gekennzeichneten Teil der Kapitalnachfragekurve des Landes A gekennzeichnet sind, werden nicht mehr realisiert. Nun werden stattdessen die Projekte des Landes B, die mit dem Segment der Kapitalnachfragekurve des Landes B, welches mit (BC) gekennzeichnet ist, durchgeführt. Damit werden die tatsächlich zum Zuge kommenden Investitionsprojekte mit einer niedrigeren (sozialen) Rendite durch Projekte mit einer höheren Rendite ersetzt, ein gesamtwirtschaftlich wünschenswertes Ergebnis. Die Integration der beiden Kapitalmärkte erlaubt somit eine effiziente Nutzung der knappen Ressource Kapital. Der am einfachen Modell gezeigte Nutzen aus der Liberalisierung beschreibt auch die grundsätzliche Rationalität der Öffnung der Kapitalmärkte: Wenn Portfolioinvestitionen, Direktinvestitionen und Kredite grenzüberschreitend getätigt werden können, gewinnt die Gesellschaft als Ganzes. G F D C E i M 0 B i M i B B I i AA i A 0 A i BB H A <?page no="114"?> Die Vier Freiheiten - Die konkrete Umsetzung des Binnenmarktprojektes 115 www.uvk-lucius.de/ integration Die grundlegenden Regelungen für den Kapitalverkehr im Binnenmarkt finden sich in Artikel 63-75 AEUV. „Alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern“ sind verboten (Artikel 63 AEUV). Tatsächlich wurden zahlreiche Schranken abgebaut, sowohl Portfolioanlagen als auch Direktinvestitionen sind heute im Binnenmarkt ohne wesentliche Beschränkungen möglich. Box 4-8: Kontroverse über Kapitalverkehrsfreiheit Die Öffnung der Märkte für Kapital in Europa wurde sowohl vor als auch nach erfolgter Liberalisierung kontrovers diskutiert. Die Politik der EU im Bereich der Finanzdienstleistungen umfasst Regelungen für den Banken-, den Versicherungs- und den Wertpapiersektor. Pro Öffnung: Vertreter der Öffnung erwarten davon eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Finanzsektors und einen Innovationsimpuls für den Binnenmarkt. Das Ende der Abschottung kleiner nationaler Märkte produziert deutliche Wohlfahrtsgewinne. Die regulativen Instrumente stehen zur Verfügung, um die Basis für einen wohlstandssteigernden Finanzsektor zu schaffen. Kontra Öffnung: Die Finanz- und Wirtschaftskrise zeigt, dass zahlreiche Effekte der Finanzmarktintegration nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Die Finanzmarktintegration erfordert vor dem Hintergrund der externen Effekte von Finanzmarktproblemen in europäischen Ländern funktionsfähige Aufsichtsstrukturen für Finanzintermediäre, gemeinsame Standards für den Umgang mit bestimmten Finanzprodukten oder Risiken. Die Entwicklung einer adäquaten Aufsicht ist bisher nicht erfolgt und ein komplexes Unterfangen. Der Verbraucherschutz fordert ebenso Vorsicht und Augenmaß bei der Integration der Finanzmärkte wie das Anliegen, den Steuerzahler zu schützen, die in Krisen gefordert sind, den Zusammenbruch des Finanzsektors zu verhindern. Ein besonderes Problem der Öffnung des Binnenmarktes für Kapitalmobilität war und ist das Problem der Steuerhinterziehung. In vielen Ländern wurde die Freiheit des Kapitalverkehrs missbraucht, um Steuern im Heimatland zu hinterziehen. Die Regelungen des Lissabon-Vertrages als auch die besonderen Verordnungen und Richtlinien erlauben es den Mitgliedstaaten, mit geeigneten Maßnahmen Zuwiderhandlungen gegen steuerrechtliche Vorgaben zu begegnen. Die Normen waren stets kontrovers, da in vielen Ländern der Finanzsektor genau auf die Zielgruppe abstellte. <?page no="115"?> 116 4 Der europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration Box 4-9: Die Besteuerung von Zinseinkünften - das ethische Problem Die Besteuerung von Zinseinkünften stellt für viele Länder in der Union ein besonderes Problem dar, da die Kombination aus Kapitalverkehrsfreiheit und strikter Beachtung des Bankgeheimnisses in Ländern wie Luxemburg den Transfer von Geldern beflügelte. Welche Druckmechanismen sind legitim, um dieses Problem anzugehen? Ist der Kauf illegal gehandelter Daten-CDs akzeptabel, ist der Druck auf Aufweichung des Bankgeheimnisses sinnvoll, müssen Länder innerhalb der EU gezwungen werden, eine Mindestbesteuerung anzuwenden? Verständnisfrage: Diskutieren Sie die Problematik des staatlichen Aufkaufs von Steuer-CDs und erstellen Sie eine Pro- und Kontra-Liste der Argumente für die Frage der Beschaffung illegal gehandelter Daten-CDs. Wie auch in den anderen Binnenmarktpolitikfeldern war eine Vielzahl von Verordnungen und Richtlinien erforderlich, um die Integrationsziele zu erreichen. Mit einer Richtlinie über Zahlungsdienste im Binnenmarkt aus dem Jahr 2007 zielte die EU auf die Erleichterung der Transaktionen innerhalb der EU ab, ein einheitliches europäisches Zahlungsgebiet, das „Single Euro Payments Area“ sollte geschaffen werden. Rechte der Verbraucher sind mit der Richtlinie einheitlich geregelt, die Durchführung von Zahlungsvorgängen wird beschleunigt, die Rechte der Verbraucher bei falschen Abbuchungen werden gestärkt. 4.5 Herausforderungen - anstehende Aufgaben Die Verwirklichung des Binnenmarktes bleibt ein wichtiges Thema für die Union. Die Themen der jüngsten Initiativen der Kommission zeigen beispielhaft die Vielfalt der Herausforderungen: Die Kommission arbeitet an Vorschriften für einen einheitlichen Patentschutz, eine Regelung für Sammelklagen wird erarbeitet, die Kommission plant eine Rechnungslegungsrichtlinie, die Energiebesteuerung soll europaweit geregelt werden. Die Kommission plant Maßnahmen im Bereich des Aufbaus vollständig integrierter Netze im Bereich Verkehr und Energie. Die digitale Wirtschaft soll ebenso unterstützt werden wie das soziale Unternehmertum. Allein diese Liste zeigt die Dimension der Herausforderung, der sich die Union in der Binnenmarktpolitik auch weiterhin gegenübersieht. <?page no="116"?> Herausforderungen - anstehende Aufgaben 117 www.uvk-lucius.de/ integration Mit dem „Binnenmarktanzeiger“ informiert die Kommission über Fortschritte im Bereich des Binnenmarktes. Umsetzungsdefizite werden benannt, die Zahl der Vertragsverletzungsverfahren und andere Indikatoren werden publik gemacht. Wie die Abb. 4-8 zeigt, sind die Umsetzungsdefizite abgebaut worden, die Mitgliedstaaten setzen die EU-Rechtsvorschriften in nationales Recht konsequenter um als dies noch in den 1990er-Jahren oder auch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts der Fall war, die Zahl der Vertragsverletzungsverfahren ist zurückgegangen. Abb. 4-8: Umsetzungsdefizite im Binnenmarkt in Prozent, 1997-2012. Quelle: Europäische Kommission 2013 Die Transparenz hinsichtlich der Umsetzung erhöht den Druck, die vereinbarten Politikreformen auch tatsächlich vorzunehmen. In manchen Fällen mag öffentlicher Druck auch wichtiger sein als die kritische Befassung innerhalb der Gremien der EU. Selbst wenn das Binnenmarktprojekt unvollendet und die Liste der verbleibenden Aufgaben lang ist, sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Binnenmarktpolitik der vergangenen Jahrzehnte die Realität des wirtschaftlichen Handelns in Europa substantiell in die gewollte Richtung verändert hat. Die Binnenmarktpolitik ist häufig kontrovers gewesen und wird dies auch in Zukunft sein. Die Artikulation unterschiedlicher Interessen und Positionen, auch der Streit um den richtigen Weg sind vielfach unvermeidlich. Der öffentliche Diskurs über Vorschläge der Kommission, die Suche nach guten Lösungen, das Aushandeln von Kompromissen, dies alles gehört zu dem demokratischen Prozess, dem sich die EU verschrieben hat. Und selbst wenn Reformen netto einen <?page no="117"?> 118 4 Der europäische Binnenmarkt www.uvk-lucius.de/ integration Wohlfahrtsgewinn für die Bürger der EU bringen, bedeutet dies nicht, dass es nicht auch gesellschaftliche Gruppen gibt, deren Wohlfahrt beeinträchtigt wird. Es ist Aufgabe der EU und der Mitgliedstaaten, diesbezüglich angemessene Maßnahmen zu ergreifen, welche die Akzeptanz der Reform erhöhen. Bei der Frage der Ausgestaltung des Binnenmarktes stellt sich gleichwohl wie auch in anderen Bereichen die Frage, wie weit der Prozess der Integration zu treiben ist, wie und wie schnell bestimmte Ziele am besten zu erreichen sind. Das lange und häufig bemühte Schlagwort der „immer tieferen Integration“ mag diesbezüglich falsche Erwartungen wecken oder gar angesichts des erreichten Status quo der Integration in die Irre führen. In manchen Bereichen mag auch der Erhalt des Erreichten ein angemessenes Ziel sein. Vielleicht ist sogar in einigen Bereichen die Kritik, die Regulierung auf europäischer Ebene sei nicht erforderlich und eine Rücknahme des europäischen Regelungsanspruchs sei geboten, berechtigt. Das von der Kommission verfolgte Konzept der „intelligenten Regulierung“ stellt zum Teil eine Antwort auf diese Fragen dar. Welche Regulierung angemessen ist, effektiv und effizient ist, sozial und kulturell akzeptiert wird, dies müssen Gesellschaften immer wieder neu beantworten. 4.6 Wichtige Begriffe Vier Freiheiten Handelsschaffung Handelsumlenkung Skalenerträge X-Ineffizienz Bestimmungslandprinzip Ursprungslandprinzip Cassisde-Dijon-Urteil öffentliches Auftragswesen Dienstleistungsrichtlinie 4.7 Literatur Brunn, Gerhard (2006): Die europäische Einigung von 1945 bis heute, Bundeszentrale für Politische Bildung Band 472, Bonn, Bundeszentrale für Politische Bildung Bundesministerium der Wirtschaft und Technologie (2009): „Internationaler Dienstleistungshandel - Handelshemmnisse und Potenzial für Deutschland“, in: Monatsbericht des BMWi April 2009, S. 13-17 Cecchini, Paolo (1988): Europa ‘92 - Der Vorteil des Binnenmarktes, Baden-Baden, Nomos Verlag Deutsche Bank (2013): Der EU-Binnenmarkt nach 20 Jahren - Erfolge, unerfüllte Erwartungen und Potenziale, EU-Monitor, 19. September 2013 Europäische Kommission (2012): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den <?page no="118"?> Literatur 119 Ausschuss der Regionen - Binnenmarktakte II - Gemeinsam für neues Wachstum, Brüssel Europäische Kommission (2013): „15 Jahre Binnenmarktanzeiger - Bisher beste Bilanz“, Pressemitteilung 19. Februar 2013, Internet: http: / / europa.eu/ rapid/ press-release_IP-13-127_de.htm Homburg, Stefan (2010): Allgemeine Steuerlehre, 6. Auflage, München, Verlag Franz Vahlen Leibenstein, Harvey (1978): General X-Efficiency Theory and Economic Development, New York, Harvard University Press Mankiw, N. Gregory / Taylor, Mark P. (2012): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 5. Auflage, Stuttgart, Schaeffer-Poeschel Verlag Ohr, Renate (2013): Fit für die Prüfung: Europäische Integration - Lernbuch, Konstanz/ München, UVK Lucius/ UTB Pelkmans, Jacques (2006): European Integration - Methods and Economic Analysis, 3. Auflage, Harlow Pugel, Thomas (2012): International Economics, 15. Auflage, New York Ranacher, Christian/ Staudigl Fritz (2010): Einführung in das EU-Recht, 2. Auflage, Wien UVK Lucius/ UTB <?page no="120"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union Leitfragen Welche Vorteile verspricht sich die Gesellschaft von wettbewerblich organisierten Märkten? Welche Leitbilder des Wettbewerbs prägen die europäische Wettbewerbspolitik? Welches sind die grundlegenden Instrumente der europäischen Wettbewerbspolitik? 5.1 Einführung In den Medien wird regelmäßig über wettbewerbspolitische Maßnahmen der Europäischen Union berichtet: „Razzia bei der …“, „Umstrittene Beihilfe - EU-Wettbewerbshüter stoßen sich an …“, „EU verhängt Millionenstrafe gegen …“, „EU kritisiert hohe Gehälter bei …“, „EU erwartet Milliardenersparnis bei Wegfall der Monopole im Bereich …“. Die Schlagzeilen beleuchten die Breite und Bedeutung der in Brüssel verantworteten Wettbewerbspolitik. Im folgenden Kapitel werden zunächst die theoretischen Grundlagen der Wettbewerbspolitik erläutert, um anschließend die konkreten rechtlichen Instrumente der europäischen Wettbewerbspolitik vorzustellen und zu diskutieren. 5.2 Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung der Politik 5.2.1 Marktwirtschaft und Wettbewerb - Zur grundsätzlichen Vorteilhaftigkeit wettbewerblicher Verfahren Der Preismechanismus ist ein leistungsfähiges Instrument zur Allokation knapper Güter. Eine dezentral organisierte Volkswirtschaft mit wettbewerblich organisierten Märkten ermöglicht in der Regel wirtschaftliche Ergebnisse, die alter- <?page no="121"?> 122 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration nativen Verfahren der Koordination der Produktions- und Konsumentscheidungen für private Güter deutlich überlegen sind. Unternehmen müssen sich an den Präferenzen der Verbraucher orientieren, diese bestimmen über ihre Nachfrage auch über das Güterangebot. Konsumenten genießen die Freiheit, sich gemäß ihren Vorstellungen für Produkte und Dienstleistungen zu entscheiden („Konsumentensouveränität“). Die Preise, die sich in Wettbewerbsmärkten ergeben, werden durch die Konkurrenz der Unternehmen um Konsumenten niedrig gehalten. Box 5-1: Polypol versus Monopol Anhand Abb. 5-1 lassen sich die Vorzüge des Wettbewerbs im Kontrast zwischen Polypol und Monopol illustrieren. Auf dem Wettbewerbsmarkt ist der Preis für ein Unternehmen ein Datum (Preisnehmerverhalten), so dass bei Gewinnmaximierung die Optimalbedingung Preis = Grenzkosten realisiert wird. Auf dem Markt ergibt sich die Preis-Mengen-Kombination (p W ,x W ) im Schnittpunkt von Nachfrage- und Angebotsfunktion. Demgegenüber ermittelt der Monopolist (Preissetzer) seine gewinnmaximale Preis-Mengen-Kombination gemäß der Bedingung Grenzumsatz = Grenzkosten und realisiert den Cournotschen Punkt (p M ,x M ). Der Preis im Monopol ist höher als der Wettbewerbspreis (p M > p W ) und die Menge, die der Monopolist bereitstellt, ist geringer als die Wettbewerbsmenge (x M < x W ). Abb. 5-1: Vergleich Wettbewerb und Monopol x W x M p W p M U’ x A = K’ p b a e d c N <?page no="122"?> Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung 123 www.uvk-lucius.de/ integration Gegenüber dem Wettbewerb vermindert sich die Konsumentenrente im Monopol infolge des gestiegenen Preises und der Mengenreduktion um die Flächen b + c. Die Produzentenrente im Monopol steigt um die Fläche b (Umverteilung) und sinkt um die Fläche d (suboptimaler Output). Insgesamt ergibt sich ein Wohlfahrtsverlust (deadweight-loss) durch das Monopol gegenüber dem Wettbewerb um die Flächen c + d, der allokative Ineffizienz widerspiegelt. Um die Marktmacht eines Unternehmens zu erfassen, ist vorgeschlagen worden, Lerners Monopolgrad zu bestimmen: L = (p - K')/ p = -1/ x,p . Je kleiner der Preissetzungsspielraum eines Unternehmens als Abweichung des Preises von den Grenzkosten relativ zum Preis des Produktes ist bzw. je elastischer die nachgefragte Menge auf Preisveränderungen reagiert, desto geringer ist die Marktmacht eines Unternehmens. Der Wettbewerb der Anbieter hat positive Wirkungen auf die Vielfalt und Qualität der angebotenen Produkte. Die Produktionsfaktoren werden dort eingesetzt, wo sie die höchsten wirtschaftlichen Vorteile erbringen: Die Allokation der Produktionsfaktoren ist effizient. Unternehmen passen die Produktion und die Produktionskapazitäten an die sich ständig ändernde Nachfragestruktur und Produktionstechnik an, es bedarf hierzu keiner staatlichen Eingriffe, die „unsichtbare Hand“ des Marktes lenkt die Produktionsfaktoren (Anpassungsflexibilität). Unternehmen sind ständig gezwungen, durch Innovationen ihre Marktpräsenz und ihren Markterfolg zu verteidigen, der Markt ist der Treiber von technischem und sozialem Fortschritt. Der Wettbewerb belohnt produktive und innovative Unternehmen. Diese dem Wettbewerb zugeschriebenen Vorteile und die grundsätzliche Überlegenheit des Marktes bei der Steuerung der Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen können jedoch nur unter bestimmten Bedingungen realisiert werden. So muss beispielsweise gelten: Der Wettbewerb ist nur dann ein taugliches Instrument, wenn es sich nicht um das Angebot öffentlicher Güter handelt. Das Ausschlussprinzip und das Rivalitätsprinzip müssen gelten. Positive oder negative externe Effekte auf der Konsum- oder der Produktionsseite dürfen nicht zu einer Fehlallokation der Ressourcen führen. Die Steuerung durch den Markt erfordert die Fähigkeit des Verbrauchers, Aspekte wie Produktsicherheit adäquat einschätzen zu können. Informationsasymmetrie kann zu suboptimalen Ergebnissen führen. <?page no="123"?> 124 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Anbieter stehen im Wettbewerb und konkurrieren um Nachfrager. Es liegt weder ein natürliches Monopol vor noch wird der Wettbewerb durch Unternehmen ausgeschaltet. 5.2.2 Leitbilder der Wettbewerbspolitik Wenn auch weitgehend Übereinstimmung über die grundsätzliche Vorteilhaftigkeit des Wettbewerbs herrscht, so bleibt zu klären, ob dieser durch eine besondere Marktstruktur gekennzeichnet ist und des Schutzes durch den Staat bedarf. Die theoretische Befassung mit den systemischen Bedingungen für Wettbewerb, mit den Charakteristika wettbewerblichen Verhaltens und den Ergebnissen wettbewerblicher Prozesse führte in der Wettbewerbstheorie zu der Entwicklung von „Leitbildern“, die einen geschlossenen und in sich widerspruchsfreien Zusammenhang von wettbewerbspolitischen Zielen sowie zielkonformen Instrumenten und Trägern der Wirtschaftspolitik beschreiben (vgl. Schmidt 2001). Drei Leitbilder sind von besonderer Bedeutung für das Verständnis der realen Wettbewerbspolitik in Europa: das Leitbild des vollkommenen Marktes, das Leitbild des funktionsfähigen Wettbewerbs und das Leitbild der Konsumentenwohlfahrt - die Chicago School of Anti-Trust Analysis. Das Leitbild der vollständigen Konkurrenz Die „Soziale Marktwirtschaft“, welche Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges prägt, ist eng mit der Idee des Wettbewerbs, der Konkurrenz einer Vielzahl von Unternehmen und gleichzeitig dem aktiven Schutz und der Förderung des Wettbewerbs verknüpft (vgl. Wissenschaftlicher Beirat beim Ministerium für Wirtschaft und Technologie 2010, S. 11-14). Walter Eucken, Alfred Müller-Armack und andere entwickelten die wettbewerbspolitische Konzeption, die mit dem „Leitbild der vollständigen Konkurrenz“ beschrieben werden kann, vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen Erfahrung Deutschlands vor 1945. Die gezielte Ausschaltung des Wettbewerbs gehörte zum Alltag in Deutschland. Der Sinn der Wirtschaftspolitik besteht nach Müller-Armack daher darin, Wettbewerbsbeschränkungen zu verhindern, Marktkontrolle durch Unternehmen, Marktabsprachen durch Oligopole und Kartelle zu verhindern, und den Wettbewerb im Sinne des Verbrauchers zu schützen (vgl. Müller- Armack 1966). Ein funktionsfähiges Preissystem und vollständige Konkurrenz wurden zum „wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundprinzip“ erklärt, eine umfassende und konsequente staatliche Wettbewerbspolitik wurde als erforderlich erachtet. Das Idealbild der vollständigen Konkurrenz prägte somit die Konzeption der Wettbewerbspolitik. Die Argumentation ist Teil des Ordoliberalismus, der von der Freiburger Schule vertreten wurde. <?page no="124"?> Wettbewerbspolitik - theoretische Überlegungen zur Gestaltung 125 www.uvk-lucius.de/ integration Das Leitbild des funktionsfähigen Wettbewerbs Das in den USA von John Maurice Clark entwickelte und bald in Deutschland und Europa aufgegriffene Leitbild des „funktionsfähigen Wettbewerbs“ („workable competition“) stellte das Leitbild des vollkommenen Wettbewerbs grundsätzlich infrage. Marktunvollkommenheiten, die aus Sicht des Leitbilds der vollständigen Konkurrenz zu beseitigen sind, können aus dieser Perspektive sogar den Wettbewerb beleben: Wettbewerb ist nicht nur in der Marktstruktur des Polypols anzutreffen. Auch in Oligopolen kann die Wettbewerbsintensität hoch sein. Für die Beurteilung, ob Wettbewerb stattfindet, reicht aus Sicht dieses Leitbildes der Blick auf die Marktstruktur nicht aus. Vielmehr sind die Marktstruktur, das Markverhalten und das Marktergebnis zu würdigen. Die in der Realität beobachteten Wettbewerbsprozesse sollen anhand konkreter Kriterien beurteilt werden. Die Marktstruktur kann beispielsweise anhand der Zahl und der relativen Größe der Anbieter und Nachfrager, dem Ausmaß der Produktdifferenzierung, dem Grad der Markttransparenz und dem Vorhandensein von Marktzutrittsbeschränkungen beurteilt werden. Das Marktverhalten lässt sich durch die Beobachtung der Preisstrategien und Innovationsaktivitäten bewerten. Das Marktergebnis kann durch die Analyse der allokativen und produktiven Effizienz, des technischen Fortschritts und weiterer Größen erfasst werden. Gemäß diesem Modell ist beispielsweise ein Markt mit wenigen Anbietern, aber sehr konkurrenzorientiertem Verhalten der Unternehmen, mit vielen Innovationen, niedrigen Preisen und Gewinnen als wettbewerbsorientiert zu beschreiben und nicht wettbewerbspolitisch zu bekämpfen. Das Konzept beeinflusste die Gesetzgebung in vielen Ländern. Die Wettbewerbspolitik ist vorsichtiger, sie muss differenzierter argumentieren, die Einschätzung von Wettbewerbssituationen ist nicht mehr rein marktformorientiert. Das Leitbild einer Steigerung der Konsumentenwohlfahrt - Die Chicago School Das Leitbild der Steigerung der Konsumentenwohlfahrt, das auch als Konzept der „Chicago School“ oder auch „Chicago School of Antitrust Analysis“ bekannt ist, ist durch ein Grundvertrauen in die Kräfte des Marktes geprägt und skeptisch gegenüber dem Staat. Aus Sicht der Chicago School muss Wettbewerbspolitik durch große Zurückhaltung des Staates geprägt sein. Wettbewerbsfreiheit ist erforderlich, das Vertrauen des Staates in die Marktkräfte ist geboten, der reflexartige Blick vieler Wirtschaftspolitiker auf die Marktstruktur führt in die Irre. Wenn Unternehmen Skalenvorteile ausnutzen, ihre produktive Effizienz erhöhen und in der Folge der Konzentrationsgrad steigt, ist dies aus dieser Perspektive nicht grundsätzlich negativ zu beurteilen und soll von Wettbewerbs- <?page no="125"?> 126 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration behörden nicht unterbunden werden. Pioniergewinne sind gut, sie stellen Anreize für Innovationen dar und locken Wettbewerber an. Eine Bestrafung kreativer und erfolgreicher Unternehmen, die für eine gewisse Zeit eine Monopolstellung einnehmen und entsprechende Monopolgewinne erwirtschaften, ist nicht nur nicht nötig, sondern kontraproduktiv. Ein Nachlassen der produktiven Effizienz im Monopol, also X-Ineffizienz, werde von anderen Unternehmen, welche die Marktchancen erkennen, bestraft. Der Staat soll nur bei klaren fortdauernden wettbewerbsbeschränkenden Maßnahmen eingreifen. Solange ein Markt „bestreitbar“ (contestable) ist, kann davon ausgegangen werden, dass die Wohlfahrt der Konsumenten gesteigert wird. Grundsätzlich ist nicht der Eingriff in Marktprozesse, sondern Entbürokratisierung, Liberalisierung und Deregulierung die prioritäre Aufgabe der Wettbewerbspolitik. Eine großzügige Einstellung gegenüber Zusammenschlüssen und Monopolen ist die aus diesem Leitbild abgeleitete Empfehlung. Eng damit verknüpft ist auch die Argumentation des Nobelpreisträgers Friedrich A. von Hayek, der die Rolle des Marktes als Ort des Entdeckens von Wissen beschrieb, dessen Ergebnis nicht bekannt sei und auch der Staat nicht einschätzen kann. Im Vergleich zum Marktversagen sei das Staatsversagen die größere Gefahr, der Staat sei nicht allwissend und unterliege Fehlanreizen, die zur Vorsicht gegenüber öffentlicher Beaufsichtigung mahnen (vgl. Klausinger 2013, S. 113-116). Auch die politische Dimension der Freiheit spielte eine wichtige Rolle, Freiheit von staatlicher Einmischung, Anordnung und Bevormundung sei ein wesentliches Ziel einer Wirtschaftsordnung, Wettbewerb erfordert Selbstverantwortung und schafft Selbstachtung. Verständnisfrage: Erörtern Sie, welche Aufgaben dem Staat in dem jeweiligen wettbewerbspolitischen Leitbild zukommen. 5.3 Schlussfolgerungen für die Wettbewerbspolitik Die Leitbilder prägen grundsätzlich die Sicht auf das Marktgeschehen, auf die Marktformen und das Vertrauen in die Dynamik der Märkte. Allen Leitbildern gemeinsam ist die Überzeugung, dass der Staat einheitliche Rahmenbedingungen für den Wettbewerb („level playing field“) schaffen muss. Das Leitbild des vollkommenen Marktes empfiehlt jedoch für den Staat eine starke wettbewerbsschützende Rolle, während das Leitbild der Chicago School auf der anderen Seite des Kontinuums der Handlungsoptionen angesiedelt ist und dem Staat größte Zurückhaltung nahelegt. Das Leitbild des funktionsfähigen Wettbewerbs nimmt diesbezüglich eine Zwischenposition ein. <?page no="126"?> Wettbewerbspolitik der EU 127 www.uvk-lucius.de/ integration 5.4 Wettbewerbspolitik der EU Die EU bekennt sich im Vertrag von Lissabon und in der Strategie „Europa 2020“ zur Schaffung einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die „economic governance“ der EU beruht auf dem Prinzip einer wettbewerbsorientierten Wirtschaft. Eine marktwirtschaftliche Ordnung wird als Grundlage für Wachstum und hohen Lebensstandard für die Bevölkerung gesehen. Die Union verpflichtet sich zur Unterstützung des Wettbewerbsprozesses im Binnenmarkt der EU, innerhalb dessen der Wettbewerb unverfälscht sein soll. Die Unternehmen sollen zu einem wettbewerbsorientierten Verhalten veranlasst werden, womit dynamisches, effizienzsteigerndes Verhalten und Innovation verknüpft wird (vgl. Europäische Kommission 2005). Wettbewerbspolitik, d.h. die Gesamtheit der rechtlichen Regeln und staatlichen Maßnahmen, die Wettbewerbsbeschränkungen verhindern sollen, kann verschieden weit beschrieben werden: Wettbewerbspolitik im weiteren Sinne umfasst zunächst die Definition von Spielregeln und die Schaffung von Rahmenbedingungen für das Handeln der Unternehmen. Wettbewerbspolitik im engeren Sinne beinhaltet die Politik gegenüber Monopolen, die Verhinderung von wettbewerbsbedrohenden Unternehmensübernahmen und Zusammenschlüssen, und die Politik gegenüber Kartellen und Absprachen der Unternehmen. Da staatliche Beihilfen den Wettbewerb zwischen Unternehmen verzerren können, ist die Wettbewerbspolitik auch mit der Schaffung fairer Bedingungen hinsichtlich der selektiven Eingriffe des Staates befasst. Die Wettbewerbspolitik muss schließlich auch die Frage beantworten, wann die Begrenzung des Wettbewerbes in Form von Patenten und Markenschutz legitim und angezeigt sein kann (vgl. Schmidt 2001). Das vorherrschende Paradigma der Wettbewerbspolitik der EU war lange Zeit das Leitbild des funktionsfähigen Wettbewerbs. Seit einigen Jahren gewinnt allerdings das von der Chicago-School propagierte Leitbild an Bedeutung. Unter dem Begriff des „more economic approach“ entsteht ein neues Verständnis der Wettbewerbspolitik (die „Neue Wettbewerbspolitik“, vgl. Schmidtchen 2005, Christiansen 2010): Die Dynamik der Märkte, die Berücksichtigung auch potentiellen Wettbewerbs, die Betrachtung der langfristigen Wirkungen der Marktprozesse, die Konsequenzen für die gesamte Wohlfahrt der Gesellschaft finden stärker Berücksichtigung als dies zuvor der Fall war. <?page no="127"?> 128 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Box 5-2: Die Ziele der europäischen Wettbewerbspolitik Die Wettbewerbspolitik trägt zu einer effizienten Ressourcenallokation, technischem und sozialen Fortschritt und damit zu einem hohen Lebensstandard bei. Neben diesem wirtschaftlichen Ziel ist Wettbewerbspolitik aber auch ein Instrument zur Sicherung der Freiheit der Wirtschaftssubjekte und der Etablierung einer durch dezentrale Entscheidungen geprägten Gesellschaft. 5.4.1 Geschichte der europäischen Wettbewerbspolitik Zu Beginn der europäischen Einigung gab es in den Mitgliedstaaten der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie die Wettbewerbspolitik gestaltet werden soll (vgl. Young/ Metcalfe 1997, S. 118-131). In Deutschland gab es die von dem Ordoliberalismus geprägte Wettbewerbspolitik, sie war ein zentrales Element der „Sozialen Marktwirtschaft“. Auch Frankreich blickte auf eine Tradition wettbewerbspolitischer Maßnahmen zurück und verfügte in der Nachkriegszeit über ein wettbewerbspolitisches Instrumentarium, allerdings mit einer stärkeren industriepolitischen Akzentsetzung als in Deutschland: Der Staat sollte durch wettbewerbspolitische Eingriffe die Restrukturierung der Wirtschaft begleiten oder gestalten. Der 1952 in Kraft getretene Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl enthielt klare Regeln für den Wettbewerb innerhalb der Gemeinschaft. Und der 1958 in Kraft getretene Vertrag von Rom betonte das Ziel der Einführung eines gemeinsamen Marktes mit gemeinsamen Vorgaben. Damit war der Grundstein für eine gemeinsame Wettbewerbspolitik gelegt. Bis in die 1970er-Jahre war die Wettbewerbspolitik der Gemeinschaft jedoch kein zentrales Politikfeld. Die nationalen wettbewerbspolitischen Konzeptionen dominierten. Dies änderte sich erst mit der Entwicklung eines echten Binnenmarktes, dem Abbau diverser Barrieren für den Handel in der Gemeinschaft, dem Wachstum der grenzüberschreitenden Investitionen innerhalb Europas und damit der verstärkten Notwendigkeit, innerhalb der Union faire Bedingungen zu schaffen. Die Wettbewerbspolitik ist zunehmend in das Zentrum des wirtschaftspolitischen Instrumentariums der Gemeinschaft bzw. Union gerückt, sie gehört heute zu den wichtigsten Politikfeldern der Union. Zentrale Instanz für die Ausführung der Wettbewerbspolitik ist die Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission. Auch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs haben das wettbewerbspolitische Handeln der Union wesentlich beeinflusst. <?page no="128"?> Wettbewerbspolitik der EU 129 www.uvk-lucius.de/ integration 5.4.2 Das Wettbewerbsrecht der Europäischen Union Die Mitgliedstaaten haben im Vertrag von Lissabon die ausschließliche Zuständigkeit für die „Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Wettbewerbsregeln“ (Artikel 3 AEUV) an die Union übertragen. Nur die Europäische Union kann gesetzgeberisch tätig werden, insofern Wettbewerbsregeln bestimmt werden, die für den Binnenmarkt gültig sind. Die Kompetenzübertragung an die Union ist eindeutig, die Union hat die ausschließliche Kompetenz, allerdings beschränkt auf jenen Wettbewerbsbereich, der für das Funktionieren des Binnenmarktes relevant ist. Wettbewerbsfragen, die eine rein nationale Bedeutung haben, verbleiben im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten, die mittlerweile alle über nationale wettbewerbsrechtliche Regeln verfügen. Die Union folgt damit dem Prinzip der Subsidiarität. Die zentralen primärrechtlichen Regelungen finden sich in Artikel 3 EUV und Artikel 101-109 AEUV: In Artikel 3 des EUV wird als zentrales Ziel der Union formuliert: „Die Union errichtet einen Binnenmarkt“. Im dritten Teil des AEUV (Titel I-IV) werden hierzu detaillierte Regeln bezüglich des freien Verkehrs von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital (die „vier Freiheiten“) festgeschrieben. Für das Grundverständnis der Wettbewerbspolitik ist diese Verpflichtung zur Öffnung der nationalen Märkte der Mitgliedstaaten der Union von zentraler Bedeutung: Die Sicherung des Wettbewerbs ist für das Funktionieren des Binnenmarktes essentiell. Nationale Märkte sollen geöffnet und bestehende Wettbewerbsbeschränkungen abgebaut werden. In den Artikeln 101-109 des AEUV finden sich die Regeln zur Förderung des wirksamen Wettbewerbs in der Union. Das Kapitel ist in Vorschriften für Unternehmen (Abschnitt I) und für staatliche Beihilfen (Abschnitt II) unterteilt. Verboten sind gemäß Artikel 101 alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen, „welche den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarkts bezwecken oder bewirken“. Absprachen über An- oder Verkaufspreise, Vereinbarungen über die Absatzmengen, die Aufteilung von Märkten sind nicht zulässig. Gemäß Artikel 102 ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder auf einem wesentlichen Teil desselben verboten. Auch öffentliche Unternehmen und Unternehmen, denen in einem Mitgliedsland besondere Rechte gewährt werden, müssen sich an den Wett- <?page no="129"?> 130 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration bewerbsregeln des Lissabon-Vertrages orientieren. Dies gilt auch für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind. Die Artikel 107-109 AEUV regeln die Gewährung staatlicher Beihilfen. Grundsätzlich sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen mit dem Binnenmarkt unvereinbar, wenn sie den Wettbewerb im Binnenmarkt zu verfälschen drohen. Absatz 2 und 3 des Artikels 107 regeln eine Reihe von Ausnahmetatbeständen. Neben diesen primärrechtlichen Regelungen finden sich die wichtigen rechtlichen Regelungen zur Fusionskontrolle im Sekundärrecht der Europäischen Union. Die Fusionskontrollverordnung regelt beispielsweise den Umgang der Union mit Zusammenschlüssen und Unternehmensübernahmen. Schließlich gibt es Regelungen für öffentliche Unternehmen, die in Sektoren wie dem Verkehr oder der Telekommunikation tätig sind. 5.4.3 Die europäische Wettbewerbspolitik in der Praxis Öffnung der Märkte Die Wettbewerbssituation in Europa wird ganz entscheidend von der Offenheit der nationalen Märkte beeinflusst. Die Handelspolitik der EU und die Binnenmarktpolitik tragen dazu bei, eine hohe Wettbewerbsintensität auf den europäischen Märkten zu sichern. Größere, offene Märkte mindern tendenziell das Problem der Konzentration und Marktmacht. Wettbewerbsbeschränkungen Ein zentrales Aktionsfeld der Wettbewerbspolitik ist die Bekämpfung von Absprachen zwischen Unternehmen, gleichgültig ob diese in schriftlicher oder mündlicher Form, direkt oder nur indirekt, sehr konkret oder nur lose erfolgen. Entscheidend für die Bewertung sind die Intention und die Wirkung der Absprachen. Im Mittelpunkt stehen die Absprachen über Preise, Konditionen und Marktabgrenzungen. Dies gilt sowohl für Absprachen zwischen Unternehmen auf horizontaler Ebene, also Unternehmen die auf der gleichen Produktionsstufe stehen, als auch für Unternehmen, die vertikal verbunden sind, also Unternehmen auf vor- oder nachgelagerten Produktionsstufen. <?page no="130"?> 5.6 Wettbewerbspolitik der EU 131 www.uvk-lucius.de/ integration Box 5-3: Kooperation versus Eigeninteresse im Duopol Absprachen zwischen Unternehmen etwa über den Preis des Produktes, die angebotene Gesamtmenge und deren Aufteilung stellen wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen dar. Die Spieltheorie bietet ein Instrument zur Analyse der Dynamik der Preissetzung im Oligopol. Gegeben sei der spezielle Fall eines Duopols als ein Oligopol, das aus den beiden Anbietern A und B besteht. Einigen sich die beiden Unternehmen auf die Produktion einer geringeren Menge, so sei ihr Gewinn jeweils 8.000 Geldeinheiten. Erstellen beide eine größere Menge, so betrage der Gewinn für jedes Unternehmen 7.000 Geldeinheiten. Produziert ein Unternehmen eine größere Menge als der Konkurrent, so sei der Gewinn 9.000 Geldeinheiten und der Gewinn des Unternehmens mit der kleineren Menge 6.000 Geldeinheiten. Die folgende Matrix beschreibt die Entscheidungssituation, die das Dilemma der Unternehmen verdeutlicht: das Spannungsverhältnis zwischen Kooperation und Wettbewerb (vgl. Bofinger 2011, S.138 ff.) Verhalten sich beide Anbieter kooperativ, maximieren sie ihren Gesamtgewinn (16.000 Geldeinheiten). Die in der Spieltheorie als dominante Strategie bezeichnete Verhaltensweise, d.h. jene, die unter Berücksichtigung des Verhaltens der Gegenseite optimal ist, ist jedoch die Produktion einer größeren Menge. Im Bestreben, den individuellen Gewinn zu maximieren, kommt in diesem Fall das für die Duopolisten schlechtere Ergebnis zustande. Anbieter B B bietet große Menge an B bietet kleine Menge an Anbieter A A bietet große Menge an Gewinn A: 7.000, Gewinn B: 7.000 Gewinn A: 9.000, Gewinn B: 6.000 A bietet kleine Menge an Gewinn A: 6.000, Gewinn B: 9.000 Gewinn A: 8.000, Gewinn B: 8.000 <?page no="131"?> 132 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Absprachen sind grundsätzlich verboten, allerdings regelt Artikel 101, Absatz 3 eine Reihe von Ausnahmen, die ökonomisch begründet und als gesellschaftlich vorteilhaft angesehen werden (können). Hierunter fallen beispielsweise Vereinbarungen über das einstufige Vertriebs- und Dienstleistungsfranchising, Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen im Kraftfahrzeuggewerbe und Absprachen zwischen kleinen und mittleren Unternehmen zur Förderung gemeinsamer Forschung und Entwicklung: In solchen Fällen sind Freistellungen von dem Verbot von Absprachen möglich, die in Form einer Einzelfreistellung oder häufig pauschal im Rahmen einer Gruppenfreistellung genehmigt werden. Wird das Vorliegen unzulässiger Kartelle nachgewiesen, kann die Europäische Kommission hohe Strafen verhängen und hat hierbei einen weiten Ermessensspielraum. Wesentlich für die Festlegung der Geldbuße ist die Orientierung an dem Gesamtumsatz (bis zu 10% des Jahresumsatzes), an der Dauer der Zuwiderhandlung und an dem Gedanken der Abschreckung. Wesentliche Merkmale, die bei der Bemessung der Strafe berücksichtigt werden, sind in Abb. 5-2 beschrieben. Grundbetrag der Geldbuße prozentualer Anteil des relevanten Umsatzes (0%-30%) Dauer (Jahre oder Zeiträume von weniger als einem Jahr) +15% bis 25% des relevanten Umsatzes: zusätzliche Abschreckung Erhöhung Erschwerende Umstände z.B. Rolle als Anführer oder Anstifter des Verstoßes, „Wiederholungstäter“, Behinderung der Ermittlungen Ermäßigung Mildernde Umstände z.B. geringfügige Beteiligung; Vorschriften oder Verhalten von Behörden, die die Zuwiderhandlung begünstigten Höchstbetrag 10% des Umsatzes (pro Zuwiderhandlung) weitere mögliche Ermäßigungen Kronzeugenregelung 100% für das Unternehmen, das als erster Kartellbeteiligter Beweismittel vorlegt; bis zu 50% für das nächste Unternehmen, 20% bis 30% für das dritte Unternehmen und bis zu 20% für alle weiteren Unternehmen Vergleichsverfahren: 10% Ermäßigung bei Zahlungsunfähigkeit Abb. 5-2: Kriterien für die Bemessung von Kartellstrafen Quelle: Europäische Kommission 2014 <?page no="132"?> Wettbewerbspolitik der EU 133 www.uvk-lucius.de/ integration Die von der Kommission verhängten und in manchen Fällen von dem Europäischen Gerichtshof später angepassten Geldbußen sind in der Summe beträchtlich. Die höchsten Geldbußen wurden für Kartelle auf dem Markt für Fernseh- und Computerbildschirme (gegen Philips und LG Electronics) und Erdgas (gegen GDF Suez und E.ON) ausgesprochen. Strafzahlungen sollen geeignet sein, die rein ökonomische Kosten-Nutzen- Überlegung zu beeinflussen: Mit steigenden Strafzahlungen sinkt der aus ökonomischer Perspektive relevante Barwert der erwarteten Kartellgewinne minus der Aufdeckungswahrscheinlichkeit multipliziert mit der Höhe der Geldbuße. Mit den hohen Strafzahlungen ist die Erwartung verbunden, dass der Nutzen der Teilnahme an Kartellen deutlich reduziert wird. Die Kommission untersucht auf eigene Veranlassung oder Hinweisen von Wettbewerbern, Verbänden oder Verbrauchern Anzeichen von Absprachen. Häufig wurden auch Kartelle aufgrund der Kronzeugenregelung aufgedeckt, die Straffreiheit für jenes am Kartell beteiligte Unternehmen vorsieht, welches das Kartell der Kommission aufdeckt. Box 5-4: Ethische Herausforderung: Die Kronzeugenregelung in der Wettbewerbspolitik Die Kronzeugenregelung in der Wettbewerbspolitik wird kontrovers gesehen. Die Kronzeugenregelung ist richtig Die Regelung hat sich als effektives Instrument zur Beendigung der Kartellkultur erwiesen. Nur dank dieser Regelung konnten viele Kartelle nachgewiesen werden. Die Akzeptanz der Kronzeugenregelung im Wettbewerbsrecht ist hoch. Die Kronzeugenregelung ist falsch Die Kronzeugenregelung passt nicht in die Rechtstradition Europas. Die rechtsstaatliche Absicherung ist nicht unumstritten. Die Straffreiheit für das Unternehmen, welches das Kartell aufdeckt, ist ungerecht und führt zu illegitimen Vorteilen. Das Zusammenwirken des Staates mit den Unternehmen, die Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht begangen haben, ist unmoralisch. <?page no="133"?> 134 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Um Absprachen zu erschweren, setzt die Kommission auch auf die Erhöhung der Transparenz auf Märkten. So veröffentlichte sie beispielsweise über viele Jahre Preisvergleiche für Personenkraftwagen in Europa, um Druck auf die Beendigung der Trennung der nationalen Märkte auszuüben. Marktbeherrschung Artikel 102 AEUV verbietet die missbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt. Nicht die Marktbeherrschung selbst ist verboten, sondern die Ausnutzung der Marktmacht für die Durchsetzung besonders hoher Preise (oder auch temporär besonders niedriger, um Wettbewerber aus dem Markt zu drängen). Verboten sind die Einschränkungen der Erzeugung bzw. des Absatzes und die Diskriminierung von Handelspartnern. Zur Bestimmung der Marktbeherrschung ist die Erfassung der Konzentration in einer Branche wichtig. Box 5-5: Messung der Branchenkonzentration - Die Konzentrationsrate und der Herfindahl-Hirschman-Index Die Konzentrationsrate CR n ist ein häufig genutzter und intuitiv eingängiger Ansatz: Die Summe des Marktanteils x der n größten Unternehmen wird berechnet: CR n = x i , mit x i = Marktanteil des Unternehmens i. Die Berechnung des CR 1 , CR 3 , CR 4 und CR 5 ist in der Literatur und der öffentlichen Diskussion gebräuchlich (im deutschen Kartellrecht wird von einer Marktbeherrschung ausgegangen, wenn der CR 1 größer 33,3%, wenn der CR 3 größer 50 und der CR 5 größer als 66,67% ist). Der Herfindahl-Hirschman-Index HHI ergibt sich aus der Summe der für alle Unternehmen quadrierten Marktanteile x i : HHI = x i2 . Für den Wertebereich gilt: 1/ n HHI 1 bzw. 0 HHI 10.000 (bezogen auf Prozent). Liegt der HHI unter 1000, ist von keiner Konzentration auszugehen, liegt der Wert zwischen 1000 und 1800, ist die Konzentration mäßig. Ab einem Wert oberhalb von 1800 geht man von einer hohen Konzentration aus. Die Verwendung solcher quantitativen Indikatoren ist hilfreich, jedoch auch mit Schwächen behaftet. Die Messung wird ganz entscheidend von der Markt- und Produktabgrenzung beeinflusst. Auch gibt es zahlreiche Branchen, in denen die größten n Unternehmen erhebliche Marktanteile hatten, die Unternehmen in dieser Gruppe im Zeitablauf aber wechselten. Der reine Blick auf einen gleichbleibend hohen Wert würde die Dynamik und den Wettbewerb auf einem solchen Markt ausblenden (vgl. Baimbridge/ Harrop/ Philippides 2004, S. 45) <?page no="134"?> 5.6 Wettbewerbspolitik der EU 135 www.uvk-lucius.de/ integration Durch die Schaffung des Binnenmarktes ist die Konzentration in vielen Branchen im Vergleich zu den vorher national geprägten Märkten gesunken. Gleichwohl gibt es nach wie vor eine Reihe von Branchen mit hoher Konzentration (Flugzeugbau, Herstellung von Kraftfahrzeugen, Produktion von Computern). Im Primärrecht der Union gibt es keine klare Spezifizierung der „beherrschenden Stellung“. In Verordnungen und Erläuterungen der Kommission wird konkretisiert, welche Kriterien zur Beurteilung der „Marktbeherrschung“ herangezogen werden. Auch in Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, der häufig angerufen wird, wird konkretisiert, wann Marktbeherrschung angenommen wird. Ein CR 1 von 40% stellt einen wichtigen Schwellenwert für Marktbeherrschung dar. Unterhalb eines Marktanteils von 40% ist aufgrund der Erfahrung der Vergangenheit von Ausnahmen abgesehen eine Dominanz des Unternehmens nicht anzunehmen. Auch der Herfindahl-Hirschman-Index wird zur Einschätzung einer Wettbewerbssituation genutzt. Bei einem HHI von weniger als 1000 wird nicht von einer Marktbeherrschung ausgegangen. Danach setzt eine differenzierte Bewertung ein. Die EU macht ihre konkrete Einschätzung der wettbewerblichen Situation auch von weiteren Faktoren abhängig, z.B. der Verhandlungsstärke der Konsumenten und der glaubwürdigen Existenz potentieller Wettbewerber. Entscheidend ist, dass das marktbeherrschende Unternehmen in seiner Fähigkeit eingeschränkt ist, „unabhängig“ von anderen Wettbewerbern Preise zu setzen. Insofern Marktbeherrschung auf dem Binnenmarkt oder einem wesentlichen Teil desselben vorliegt, greift die Verhaltenskontrolle der marktbeherrschenden Unternehmen. Die Kommission kann die Änderung der Preis- oder Konditionenpolitik oder anderer Variablen erzwingen. Die auferlegten Geldbußen richten sich ähnlich wie bei den Absprachen nach mehreren Kriterien wie z.B. Umsatz der Unternehmen, der Dauer der Ausnutzung der Marktbeherrschung, und Notwendigkeit der Abschreckung. Box 5-6: Die EU geht gegen die Marktbeherrschung von Microsoft vor Besonders bekannt geworden ist das Verfahren der Kommission gegen Microsoft wegen der Verknüpfung des Betriebssystems Windows mit dem Media Player, einer Bündelung, die geeignet sei, Wettbewerber im Audio- und Video-Wiedergabebereich aus dem Markt zu drängen: Die Kommission warf Microsoft den Missbrauch der marktbeherrschenden Stellung vor und verfügte eine Rekordstrafe. Die Entscheidung wurde von Microsoft ange- <?page no="135"?> 136 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration fochten, aber vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg im Jahr 2007 bestätigt. Wegen Nichteinhaltung der Vereinbarung wurde im Jahr 2013 eine weitere Strafe verfügt. Insgesamt wurde Microsoft zur Zahlung von 2,2 Mrd. EUR verurteilt. Fusionskontrolle Fusionen, d.h. Zusammenschlüsse von Unternehmen, bei denen zwei oder mehr bisher voneinander unabhängige Unternehmen oder Unternehmensteile fusionieren, waren in den letzten Jahrzehnten weltweit ein bestimmendes Thema im Wirtschaftsgeschehen. Die EU begrüßt grundsätzlich den Strukturwandel allgemein und die Umstrukturierung der Unternehmen, dies wird als Teil eines dynamischen Wirtschaftsgeschehens gesehen. Die Union muss allerdings sicherstellen, dass dieser Prozess nicht dauerhaft den Wettbewerb schädigt. Die europäische Wettbewerbspolitik hat daher Regelungen für Fusionen von gemeinschaftsweiter Bedeutung verabschiedet. Eine erste wichtige Regelung stammt aus dem Jahr 1989, im Jahr 2004 trat die novellierte EG-Fusionskontrollverordnung in Kraft. Auch hier greift das Subsidiaritätsprinzip: Fusionen von rein nationaler Bedeutung fallen in den Verantwortungsbereich der nationalen Wettbewerbsbehörden. Ein Zusammenschluss von gemeinschaftsweiter Bedeutung wird dann als gegeben angesehen, wenn der Gesamtumsatz der beteiligten Unternehmen die beiden folgenden Schwellenwerte überschreiten: Der weltweite Gesamtumsatz aller beteiligten Unternehmen zusammengenommen beträgt mehr als 5 Mrd. EUR; der gemeinschaftsweite Gesamtumsatz von mindestens zwei beteiligten Unternehmen beträgt mehr als 250 Millionen EUR. Falls die beteiligten Unternehmen jeweils mehr als zwei Drittel ihres gemeinschaftsweiten Gesamtumsatzes in ein und demselben Mitgliedsland erzielen, greift die Verordnung nicht. Artikel 3, Absatz 3 der Fusionskontrollverordnung 2004 enthält die Verbotsregelung: „Zusammenschlüsse, durch die wirksamer Wettbewerb im Gemeinsamen Markt oder in einem wesentlichen Teil desselben erheblich behindert würde, insbesondere durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung, sind für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar zu erklären.“ Die Beurteilung der „erheblichen Behinderung“ erfolgt anhand einer Reihe von Aspekten: der Konzentration in diesem Markt, gemessen anhand der absoluten Höhe der Konzentrationsrate, und des Herfindahl-Hirschman-Index und dessen Veränderung. Explizit wird in den Erläuterungen zur Verordnung benannt, dass die Kommission nicht nur die aus einer Fusion erwachsenden möglichen Nachteile für die <?page no="136"?> Wettbewerbspolitik der EU 137 www.uvk-lucius.de/ integration Verbraucher berücksichtigt, sondern auch die Effizienzvorteile eines Zusammenschlusses in die Entscheidung einfließen lässt. Das Trade-off-Modell von Oliver Williamson Aus wohlfahrtsökonomischer Sicht ist zunächst ein Zusammenschluss, wenn dieser zu Preiserhöhungen führt, wegen des Verlustes an gesamtgesellschaftlicher Wohlfahrt negativ zu beurteilen. Differenzierter fällt das Urteil aus, wenn durch den Zusammenschluss Skaleneffekte der Produktion entstehen (vgl. Williamson 1968). Abb. 5-3 zeigt für das „naive Trade-off-Modell“ den denkbaren Effekt eines Zusammenschlusses zweier Unternehmen mit der Folge größerer Marktmacht und der Möglichkeit zur Durchsetzung des höheren Monopolpreises. Abb. 5-3: Wohlfahrtswirkung eines Zusammenschlusses Im Wettbewerb, so sei angenommen, fordern die Unternehmen den Preis, der ihren (identischen) Grenzkosten entspricht. Nach dem Zusammenschluss fordern sie einen höheren Preis: Dieser ergibt sich aus dem Schnittpunkt der Grenzerlös- und Grenzkostenkurve. Damit sind folgende Veränderungen der Wohlfahrt zu beobachten: Die Fläche unterhalb des Preises im Monopol und oberhalb der (niedrigeren) Grenzkosten beschreibt den Gewinn an Produzentenrente. Die Konsumenten zahlten im Wettbewerb den niedrigeren Preis und zahlen nun einen höheren Monopolpreis. Damit verlieren sie die Konsumentenx p x m p Wettbewerb p Monopol x Grenzkosten nach Fusion Grenzkosten vor Fusion p Nachfrage Grenzerlös a b c <?page no="137"?> 138 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration rente, die durch die Fläche (a + c) gekennzeichnet ist. Die Fläche a ist als Verlust der Konsumentenrente und gleichzeitiger Gewinn an Produzentenrente wohlfahrtsökonomisch neutral, so dass aus Sicht der Wohlfahrtsökonomik für die Beurteilung des Zusammenschlusses die beiden Felder b und c entscheidend sind: Ist die Fläche b größer als die Fläche a, also der Gewinn an produktiver Effizienz größer als der Verlust infolge der allokativen Ineffizienz, so ist der Zusammenschluss wohlfahrtssteigernd. Überträgt man diese theoretische Überlegung auf die praktische Politik, so folgt, dass die Union in konkreten Fusionsverfahren prüfen muss, welche Wohlfahrtswirkungen mit dem Zusammenschluss verbunden sind. Die Bedrohung des Wettbewerbs, die beispielsweise auch von der Offenheit des Marktes für Importe, von den Wahlmöglichkeiten der Lieferanten und Abnehmer, dem Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten, beeinflusst wird, und der potentielle Effizienzgewinn werden gegenübergestellt. Die folgende Abb. 5-4 zeigt eine Klassifikation von Branchen mit Blick auf potentielle Effizienzgewinne und der Gefahr für den Wettbewerb. Abb. 5-4: Effizienz und Wettbewerb infolge von Fusionen Quelle: Hansen/ Nielsen 1997, S. 105 In diesem vereinfachten Schema wären Fusionen von Unternehmen in Gruppe 1 abzulehnen, bei Gruppe 2 wären sowohl positive als auch negative Entscheischwach stark Gruppe 1: Industrien, in denen durch Fusionen wenig Effizienzgewinne realisiert werden und die Gefahr für den Wettbewerb erheblich ist. Gruppe 4: Industrien, in denen Fusionen Effizienzgewinne erwarten lassen, aber die Gefahr für den Wettbewerb erheblich ist. Gruppe 2: Industrien, in denen Fusionen wenig oder keine Effizienzgewinne erwarten lassen und wenig Gefahr für den Wettbewerb gegeben ist. Gruppe 3: Industrien, in denen Fusionen Effizienzgewinne erwarten lassen und die Gefahr für den Wettbewerb niedrig ist. schwach stark Gefahr reduzierter Wettbewerb potentielle Effizienzgewinne <?page no="138"?> Wettbewerbspolitik der EU 139 www.uvk-lucius.de/ integration dungen vertretbar. Fusionen in Gruppe 3 wären akzeptabel, Fusionen in Gruppe 4 wären zu prüfen (vgl. Hansen/ Nielsen 1997, S. 105-106). Die Kommission kann eine Fusion von gemeinschaftsweiter Bedeutung, die bei der Kommission gemäß Artikel 4 der Fusionskontrollverordnung angemeldet werden muss, ohne weitere Vorgaben oder mit Auflagen genehmigen oder untersagen. Das Fusionskontrollverfahren ist mehrstufig. Häufig beginnt ein Verfahren mit einer vertraulichen Konsultation mit der Kommission, bevor die offizielle Mitteilung erfolgt und die erste Phase der Prüfung beginnt. Sowohl in der Vorphase als auch in der ersten Phase können Unternehmen im Fall möglicher Probleme Abhilfemaßnahmen vorschlagen, um eine Zustimmung der Kommission zur Fusion zu erlangen. Drei Entscheidungen der Kommission aus dem Jahr 2013 zeigen die Handlungsmöglichkeiten: Die Kommission untersagte den Aufkauf von Aer Lingus durch Ryanair. Die Kommission genehmigte den Aufkauf von Net4gas aus Tschechien durch die Allianz Infrastructure Luxemburg und Boerealis aus den Niederlanden. Sie genehmigte mit Auflagen den Zusammenschluss von US Airways und der Holding AMR Corporation, die Eigentümer von American Airlines ist. Der zuletzt genannte Beschluss demonstriert, dass die Kommission auch Zusammenschlüsse von Unternehmen außerhalb der EU, die potentiell auf den europäischen Markt Auswirkungen haben, prüfen und untersagen kann („Auswirkungsprinzip“ = „effects doctrine“). Beihilfekontrolle Staatliche Beihilfen sind geeignet, den Wettbewerb der Unternehmen innerhalb des Binnenmarktes zu verzerren. Grundsätzlich sind „staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar“ (Artikel 107 AEUV). Allerdings gibt es eine umfangreiche Liste von Ausnahmen: Beihilfen sozialer Art, Beihilfen zur Beseitigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen entstanden sind, Beihilfen für bestimmte Regionen und bestimmter Wirtschaftszweige sind beispielsweise unter bestimmten Umständen mit dem Binnenmarkt vereinbar. Beihilfen für die durch die Teilung Deutschlands betroffene Gebiete Deutschlands sind im Vertrag explizit als weiterer Ausnahmebereich genannt. Und der Rat der Europäischen Union kann auf Vorschlag der Kommission weitere Arten von Beihilfen genehmigen (Artikel 107, Absatz 3 e). Liegen außergewöhnliche Umstände vor, kann der Rat einstimmig auf Antrag eines Mitgliedstaates eine geplante Beihilfe genehmigen (Artikel 108, Absatz 2, AEUV). Die Kommission überprüft regelmäßig die Beihilferegelungen der Mitgliedstaa- <?page no="139"?> 140 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration ten. Kommt die Kommission zu dem Ergebnis, dass bestimmte Beihilfen mit dem Wettbewerb im Binnenmarkt unvereinbar sind, kann sie die Staaten zwingen, die Beihilfen zu beenden oder zu ändern. Die Union setzt teilweise auch auf die Substitution nationaler Hilfen durch EU-Hilfen und die Koordinierung und Harmonisierung der innerstaatlichen Beihilfepraxis. Die Schaffung eines fairen Wettbewerbs in der Union ist eine große Herausforderung für die Kommission, da Mitgliedstaaten häufig versuchen, auf die Entscheidung Einfluss zu nehmen, das Entscheidungsverfahren ist politisiert. Vielfach nutzen Mitgliedstaaten ihre Einflussmöglichkeiten, um Verfahren zu blockieren. Die „Neue Politische Ökonomie“, die die Eigeninteressen der Politiker und der Bürokratie in die Analyse einbezieht, wird verschiedentlich herangezogen, um die weiterhin bestehende Vielfalt an Beihilfen zu erklären; der diskretionäre Spielraum der Kommission bzw. des Rates, der auch mit Vorteilen verbunden sein kann, hat in diesem Bereich und aus dieser Perspektive seine Schattenseiten (vgl. Schmidt/ Schmidt 1997, S. 161-162). Regelungen für mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrauten Unternehmen In den Sektoren Energie, Post, Telekommunikation, Transport sind häufig öffentliche Unternehmen mit der Erbringung der Dienstleistungen betraut. Der Lissabon-Vertrag verleiht der Union das Recht und die Pflicht, auch in diesem Bereich für die Beachtung von Regeln zu sorgen, die dem Wettbewerbsverständnis im Binnenmarkt nicht widersprechen. Der Lissabon-Vertrag ist neutral hinsichtlich privaten oder öffentlichen Eigentums, fordert aber Wettbewerbsneutralität, wenn ein Staat sich entscheidet, bestimmte Dienstleistungen durch öffentliche Unternehmen erbringen zu lassen. Die Kommission hat in den vergangenen Jahren in den genannten Bereichen die Liberalisierung der Märkte mit eigenen Vorschlägen vorangebracht. Der Telekommunikationssektor ist ein Beispiel für das positive Wirken der Wettbewerbskräfte nach Öffnung des Marktes. Bei Postdiensten hat die Kommission mit eigenen Vorschlägen den Strukturwandel befördert. Im Bankensektor spielt die Kommission im Rahmen der Restrukturierung eine starke Rolle, insbesondere vor dem Hintergrund der häufigen staatlichen Beihilfen und Schutzmechanismen (siehe auch das Kapitel 4 zum Binnenmarkt). Institutionelle Fragen Die Kommission arbeitet bei den Binnenmarkt betreffenden wettbewerbspolitischen Fragen eng mit den nationalen Behörden zusammen. Diese unterstützen die Kommission bei Ermittlungen in den Binnenmarkt betreffenden Verfahren. <?page no="140"?> Ausblick 141 www.uvk-lucius.de/ integration Aufgrund des Subsidiaritätsprinzips sind die nationalen Wettbewerbsbehörden für jene Wettbewerbsverstöße zuständig, die von nationaler Bedeutung sind. Gelegentlich ist die Zuständigkeit unklar, wie im Jahr 2013 die Überprüfung der Übernahme von E-Plus durch Telefonica zeigte, wo sich zunächst das Bundeskartellamt zuständig sah, dann aber die Kommission die Prüfung übernahm. Verschiedentlich wurde die Schaffung eines unabhängigen Kartellamtes und eines unabhängigen Subventionskontrollrates gefordert (vgl. Schmidt 2001, S. 408-410). Vor dem Hintergrund der Politisierung der Entscheidungsverfahren wäre dies einerseits eine institutionelle Alternative zu dem jetzigen Verfahren. Andererseits haben sich die Mitgliedstaaten gezielt für ein Verfahren entschieden, welches Spielräume für diskretionäre Entscheidungen der Politik lässt, vielleicht bewusst und richtigerweise auf die schrittweise Entwicklung der Union setzend. Das kritisierte „Do-ut-des-Prinzip“ mag theoretisch unbefriedigend, aber vielleicht angesichts der Herausforderungen für die Union die politökonomisch beste Vorgehensweise sein. 5.5 Ausblick Vor dem Hintergrund der häufigen Verbote und Auflagen für Fusionen, der Geldbußen wegen wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen der Unternehmen, der kritischen Stellungnahmen gegenüber Regierungen ist es kaum verwunderlich, dass die Kommission in das Kreuzfeuer der Kritik gerät. Insgesamt wird der Kommission von Experten eine geradlinige und überzeugende Politik bescheinigt. Die gerichtliche Überprüfung mehrerer Entscheidungen durch den Gerichtshof, die dazu beigetragen hat, das Wettbewerbsrecht weiterzuentwickeln, ist weniger als Kritik an der Arbeit der Kommission zu verstehen. Die Urteile helfen an bestimmten Stellen, die unbestimmten Begriffe des Lissabon-Vertrages zu konkretisieren. Die Entscheidungen auf Basis des Auswirkungsprinzips gegen Zusammenschlüsse außerhalb der Europäischen Union sorgten gelegentlich in anderen Ländern für Irritationen. Das Zusammenwachsen der Märkte fordert im Bereich der Wettbewerbspolitik eine intensive Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden, da in einigen Fällen voneinander abweichende Entscheidungen getroffen wurden: Die amerikanische Wettbewerbsbehörde genehmigte die Fusion von General Electric und Honeywell, während die Kommission diese untersagte. Der Aufbau des International Competition Network (ICN) stellt eine sinnvolle Antwort auf die Herausforderung dar. Die Wettbewerbsbehörden der EU und zwölf weiterer Länder arbeiten im Rahmen eines losen globalen Netzwerks <?page no="141"?> 142 5 Wettbewerb und Wettbewerbspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration zusammen, um die Kooperation zu erleichtern und die Entwicklung gemeinsamer wettbewerbspolitischer Vorstellungen voranzutreiben. Das Wettbewerbsrecht entwickelt sich weiter. Eine Initiative der Kommission zur privaten Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen gegen Unternehmen, denen ein Kartell nachgewiesen wird, würde die Kosten für Unternehmen, wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen zu ergreifen, deutlich erhöhen und hätte auch Auswirkungen auf einen Teil der Instrumente, die der Kommission zur Verfügung stehen, wie etwa die Kronzeugenregelung. Die Wettbewerbspolitik wird sich auch in Zukunft dem Spannungsfeld mit industriepolitischen Überzeugungen stellen müssen. Selektive industriepolitische Interventionen stellen Eingriffe in ein von privatwirtschaftlichen Interessen dominiertes Wettbewerbssystem dar. An vielen Stellen des Lissabon-Vertrages ist eine Offenheit für die Förderung bestimmter Industrien erkennbar: Kleine und mittlere Unternehmen, Unternehmen im Bereich Umwelt, Raumfahrt etc. finden explizit Erwähnung. Die europäische Unterstützung für den Aufbau von Airbus ist ein Musterbeispiel für eine industriepolitische Politik. Die Abwägung zwischen Wettbewerbsgrundsätzen und industriepolitischen Überlegungen ist komplex. Einerseits ist aus der kritischen Perspektive Industriepolitik ein Beispiel für die von Hayek kritisierte „Anmaßung des Wissens“ aufseiten des Staates und häufig fokussiert in der Realität Industriepolitik nicht die zukunftsfähigen Industriezweige, sondern jene, die wenig Zukunft (in Europa) haben. Andererseits lassen sich industriepolitische Maßnahmen auch in der Theorie mit Marktunvollkommenheiten, Marktversagen und dynamischen Effekten im Bereich der Innovation begründen. Die USA, Japan und die Schwellenländer in Asien wie China und Korea haben in vielen Bereichen klare industriepolitische Ziele, setzen entsprechende Instrumente ein, und es wird auch in Zukunft eine Herausforderung für die EU bleiben, hier einen Kurs zu steuern, der den Prinzipien des Wettbewerbs verpflichtet bleibt, und gleichzeitig die in der Realität bestehenden Marktunvollkommenheiten angemessen zu berücksichtigen. Auch aus strategischer und politökonomischer Perspektive mag eine rigorose Ablehnung industriepolitischer Maßnahmen suboptimal sein. 5.6 Wichtige Begriffe Leitbilder der Wettbewerbspolitik Ordoliberalismus „more economic approach“ Kartellstrafen Kronzeugenregelung Branchenkonzentration Herfindahl-Hirschman-Index Fusionskontrolle Trade-off-Modell Beihilfekontrolle <?page no="142"?> 5. Literatur 143 5.7 Literatur Baimbridge, Mark/ Harrop, Jeffrey/ Philippidis, George (2004): Current Economic Issues in EU Integration, New York, Palgrave Macmillan Bofinger, Peter (2011): Grundzüge der Volkswirtschaftslehre - Eine Einführung in die Wissenschaft von Märkten, 3. Auflage, München, Pearson Christiansen, Arndt (2010): Der „More Economic Approach“ in der EU-Fusionskontrolle. Entwicklung, konzeptionelle Grundlagen und kritische Analyse, Frankfurt/ Main Europäische Kommission (2014): Geldbußen bei Verstoß gegen das EU-Wettbewerbsrecht, Brüssel, internet: ec.europa.eu/ competition/ cartels/ overview/ fact sheet_fines_de.pdf Hansen, Jorgen Drud/ Nielsen, Jorgen Ulff-Moller (1997): An Economic Analysis of the EU, 2. Auflage, London, McGraw-Hill Klausinger, Hansjörg (2013): Die Größten Ökonomen: Friedrich A. von Hayek, Konstanz, UTB Müller-Armack, Alfred (1966): Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, Freiburg, Verlag Rombach Schmidt, Andre (2001): „Europäische Wettbewerbspolitik“, in: Ohr, Renate und Theresia Theurl (Hrsg.): Kompedium Europäische Wirtschaftspolitik, München, Verlag Franz Vahlen, S. 363-416 Schmidt, Ingo/ Schmidt, Andre (1997): Europäische Wettbewerbspolitik, München, Verlag Franz Vahlen Schmidtchen, Dieter (2005): „Der “more economic approach” in der Wettbewerbspolitik“, CSLE Discussion Paper, No. 2005-04 Williamson, Oliver E. (1968): „Economies as an Antitrust Defense: The Welfare Tradeoffs“, in: American Economic Review, Vol. 58, Nr. 1, S. 18-36 Wissenschaftlicher Beirat beim Ministerium für Wirtschaft und Technologie (2010): Akzeptanz der Marktwirtschaft: Einkommensverteilung, Chancengleichheit und die Rolle des Staates, Gutachten, Berlin Young, David/ Metcalfe, Stan (1997): „Competition Policy“, in: Artis, M.J./ Lee, N. (Hrsg.): The Economics of the European Union - Policy and Analysis, 2. Auflage, Oxford, Oxford University Press, S. 118-138 <?page no="144"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 6 Die Handelspolitik der Europäischen Union Leitfragen Warum treibt die EU den weltweiten Austausch von Gütern und Dienstleistungen voran? Mit welchen Gütern und Dienstleistungen handelt die EU? Wer sind die zentralen Handelspartner der EU und wie haben sich die Handelsströme entwickelt? Wie ist die Struktur des Handels zu beurteilen? Wie engagiert sich die EU in der multilateralen Handelsliberalisierung? Warum unterzeichnet die EU zunehmend Abkommen mit einzelnen Handelspartnern? 6.1 Einführung - Europa und die Vorteile des Handels Der wirtschaftliche Wohlstand Europas ist ohne Handel nicht vorstellbar. Dies gilt sowohl für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten als auch für den Handel mit dem Rest der Welt. Schon im Vertrag von Rom wurde die Öffnung der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft für den Handel mit dem Rest der Welt zur zentralen Aufgabe erklärt. Die Europäische Gemeinschaft bzw. Union wurde zur treibenden Kraft der Liberalisierung des Handels: Dies galt für den gemeinsamen Markt und später Binnenmarkt und dies galt für den Handel mit dem Rest der Welt. Adam Smith beschrieb in seinem berühmten Werk „Vom Wohlstand der Nationen“ eine wesentliche Grundlage des Handels: Solange ein Land einem anderen Land in der Produktion eines Gutes überlegen ist, ist es für dieses Land vorteilhaft, die Waren zu exportieren. Umgekehrt ist bei höheren Produktionskosten im eigenen Land der Import vorteilhaft. Länder können von dem Handel wechselseitig profitieren, wenn Länder sich auf die Produktion und den Export jener Güter oder Gütergruppe spezialisieren, die ein Land zu absolut niedrigeren Kosten herstellen kann. <?page no="145"?> 146 6 Die Handelspolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Wenige Jahrzehnte nach Adam Smith veröffentlichte der Engländer David Ricardo sein Grundlagenwerk „Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung“, in dem er die Analyse weiterführte und zeigte, dass Länder auch dann wechselseitig vom Handel profitieren können, wenn ein Land in keinem Bereich über absolute Kostenvorteile verfügt (vgl. Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2012, Pugel 2012). Zur Erläuterung der Überlegung, die als Theorie der komparativen Kostenvorteile bekannt geworden ist, wählte er die Länder Portugal und England und die Produktion von Wein und Tuch. Er zeigte, dass der Handel für England selbst dann vorteilhaft ist, wenn Portugal sowohl in der Produktion von Wein als auch in der Produktion von Tuch eine höhere Arbeitsproduktivität aufweist. Das Land mit der niedrigeren Arbeitsproduktivität sollte sich dann auf die Produktion jener Güter spezialisieren, bei denen dieser Nachteil geringer ist, oder anders formuliert, es spezialisiert sich auf jenes Produkt, für dessen Herstellung es weniger Mengeneinheiten des anderen Produktes aufgeben muss, d.h. die Opportunitätskosten niedriger sind. Dieser Gedanke, dass nicht absolute Kostenvorteile, sondern die relativen, die komparativen Kostenvorteile entscheidend sind, hat den Blick auf den Handel revolutioniert. Box 6-1: Ricardo-Theorem für 2 Länder, 2 Güter, 1 Faktor Gemäß dem Ricardo-Theorem kommt es für die Vorteilhaftigkeit des Handels nicht auf die absoluten Kosten, sondern auf die komparativen Kosten (Opportunitätskosten) der Produktion von Gütern und Diensten an. Sind die Produktionsfunktionen der beiden Güter in den beiden Ländern (X ij = ij A ij ) bekannt und ist jeweils die Ausstattung mit dem Faktor Arbeit ( j ) gegeben, lässt sich die zugehörige Transformationsfunktion der beiden Güter in jedem Land ermitteln. Während der absolute Kostenvorteil der Produktion eines Gutes in dem Land liegt, das eine höhere Arbeitsproduktivität (z.B. 11 > 12 bzw. 21 > 22 ) oder reziprok einen geringeren Faktoreinsatz (1/ 11 < 1/ 12 ) bzw. (1/ 21 < 1/ 22 ) aufweist, ergeben sich die Opportunitätskosten als Steigung der Transformationsfunktion. Für Land 1 erhält man beispielsweise dX 11 / dX 21 = - ( 11 / 21 ) bzw. dX 11 / dX 21 = ( 11 / 21 ). Das Land mit den geringeren Opportunitätskosten weist den komparativen Kostenvorteil auf, der für Gut 1 mit 21 / 11 < 22 / 12 bei Land 1 liegt. Entsprechend kann Land 2 das Gut 2 relativ kostengünstiger produzieren ( 12 / 22 ) < ( 11 / 21 ). Durch Spezialisierung und Handel können beide Länder profitieren, wenn das internationale Austauschverhältnis von X 2 zu X 1 (terms of trade) innerhalb der Tauschspanne liegt. Es muss gelten: ( 21 / 11 ) ( * 2 / * 1 ) ( 22 / 12 ). <?page no="146"?> Einführung - Europa und die Vorteile des Handels 147 www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 6-1: Komparative Kostenvorteile X ij = Produktionsmenge von Gut i im Land j ij = Arbeitsproduktivität für Gut i im Land j j = verfügbare Faktormenge (z.B. in Arbeitsstunden) im Land j insgesamt A ij = Faktoreinsatz für die Produktion von Gut i im Land j Die Überlegung wurde von den Ökonomen Eli Heckscher und Bertil Ohlin weitergeführt und um eine wichtige Perspektive ergänzt: Entscheidend für die komparativen Kostenvorteile sind Unterschiede in der Faktorverfügbarkeit und der Intensität der Nutzung der Produktionsfaktoren für die Erstellung der Güter. Ein Land wird jene Güter(-gruppen) exportieren, welche in der Produktion den reichhaltig vorhandenen Faktor stärker nutzen. Einige grundlegende Elemente der europäischen Handelspolitik sind mithilfe dieser Ansätze erklärbar: Die Union ist offen für internationalen Handel und Land für j = 1 2 Gut X für i = 1 X 11 = 11 A 11 X 12 = 12 A 12 2 X 21 = 21 A 21 X 22 = 22 A 22 Faktorausstattung 1 = A 11 + A 21 2 = A 12 + A 22 Transformationskurve X 11 = 11 1 - ( 11 / 21 ) X 21 X 12 = 12 2 - ( 12 / 22 ) X 22 absoluter Kostenvorteil Gut X für i = 1 11 > 12 bzw. 1/ 11 < 1/ 12 2 21 > 22 bzw. 1/ 21 < 1/ 22 komparativer Kostenvorteil Gut X für i = 1 ( 21 / 11 ) < ( 22 / 12 ) 2 ( 12 / 22 ) < ( 11 / 21 ) Tauschspanne für Handelsgewinne ( 21 / 11 ) ( * 2 / * 1 ) ( 22 / 11 ) <?page no="147"?> 148 6 Die Handelspolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Arbeitsteilung, da insgesamt damit eine Wohlstandssteigerung verknüpft ist. Sie handelt, um jene Güter zu erhalten, deren Produktionskosten unter denen der Gemeinschaft liegen. Sie spezialisiert sich auf die Produktion jener Güter, für die sie komparative Kostenvorteile in der Produktion hat. Die tatsächlichen Handelsströme innerhalb Europas und zwischen Europa und dem Rest der Welt können aber nicht allein über komparative Kostenvorteile erklärt werden. Auch die Größe der Märkte der Handelspartner, die geografische Distanz und damit die Höhe der Kosten des Handels haben einen wesentlichen Einfluss auf den Güteraustausch. Theoretisch wird dies mithilfe des Gravitationsmodells beschrieben und diskutiert. Die Exporte eines Landes können in Beziehung zur Entfernung zum Zielland und der „ökonomischen Masse“ der Handelspartner gesetzt werden (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2005, S. 427-429). 6.2 Der Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends Wie viel, was und mit wem handelt die Europäische Union 6.2.1 Der Binnenhandel Die Vorteile des freien Handels zwischen den Mitgliedstaaten spielten in der Begründung der europäischen Einigung von Anfang an eine wichtige Rolle. Der EU-Binnenhandel dominiert den Alltag des grenzüberschreitenden Handels der europäischen Länder, rund 2 / 3 des europäischen Handels ist Binnenhandel (vgl. Eurostat 2012, Europäische Zentralbank 2013). Vier Länder betreiben gar weniger als 25% ihres Handels mit Ländern außerhalb der Europäischen Union. Am niedrigsten ist dieser Anteil in Luxemburg. Am anderen Ende des Spektrums wickelt Großbritannien fast 50% des Handels mit Ländern außerhalb der Europäischen Union ab. Für Deutschlands Handel liegt dieser Wert bei 35%, leicht überdurchschnittlich, nimmt man den Wert für die EU-27 zum Vergleich. Auch der Handel mit Ländern außerhalb der EU trägt ganz wesentlich zum Wohlstand der Bürger der Union bei. Handel sichert die Versorgung mit Gütern, die nicht oder nur zu prohibitiv hohen Kosten in der EU produziert werden können, Handel erlaubt Konsumenten den Zugang zu einer Vielfalt von Produkten, Handel erlaubt die Nutzung von Skaleneffekten, ohne die eine wettbewerbsfähige Produktion nicht denkbar ist, Handel sichert Beschäftigung und Wachstum. <?page no="148"?> Der Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends 149 www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 6-1: Intra- und Extra-EU-Handel 2011 6.2.2 Der Handel mit dem Rest der Welt Der wirtschaftliche Austausch mit anderen Ländern außerhalb Europas hat seit Jahrhunderten das Leben der Menschen in Europa mitgeprägt. Das Römische Reich hatte umfangreiche Handelsbeziehungen mit anderen Ländern, insbesondere im Süden des Reiches, Portugal und Spanien eröffneten im 15. und 16. Jahrhundert mit ihren Flotten neue Wege des internationalen Handels, die Phase des Imperialismus im 19. Jahrhundert fügte ein neues Kapitel im wirtschaftlichen Austausch mit fern gelegenen Regionen hinzu. Der transatlantische Handel im 19. Jahrhundert war bedeutsam. Die Europäische Union gehört heute zu den größten Handelsnationen der Welt (vgl. World Trade Organization 2013). Auf Basis aller grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen und damit unter Einschluss auch des EU-Intra-Handels ist die EU weltweit mit großem Abstand der wichtigste Akteur im Güterhandel. Aber auch wenn man nur den Handel der EU mit dem Rest der Welt (Extra- EU-Handel) mit dem Handel anderer Länder vergleicht, ist die EU 2013 der bedeutsamste Einzelakteur im Welthandel, gefolgt von China und den USA. Die führende Position der Europäischen Union ist in der jüngsten Zeit unverändert geblieben, mit Verschiebungen auf den weiteren Rängen in den letzten Jahren: China ist im letzten Jahrzehnt zu einer bedeutenden Exportnation aufgestiegen, Korea gehörte vor einer Dekade noch nicht zu den zehn größten Exportländern und ist heute unter den fünf größten Handelsnationen. <?page no="149"?> 150 6 Die Handelspolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Rang Exportland Wert in Mrd. USD Anteil in % Rang Importeur Wert in Mrd. USD Anteil in % 1 Extra-EU (27) 2.131 14,9 1 Extra-EU (27) 2.344 16,2 2 China 1.899 13,3 2 US 2.265 15,6 3 USA 1.481 10,3 3 China 1.743 12,0 4 Japan 823 5,7 4 Japan 854 5,9 5 Korea 555 3,9 5 Korea 524 3,6 Abb. 6-2: Anteil am Welthandel mit Gütern 2012 WTO: World Trade Report 2012a, S. 31 Noch höher sind die Anteile der EU am weltweiten kommerziellen Dienstleistungshandel. Sowohl bei Exporten als auch bei Importen liegt der Anteil des Extra-EU-Handels am Welthandel jeweils über 20%. Die Liste der fünf wichtigsten Handelsnationen wird ähnlich wie bei den Güterexporten von der EU angeführt. China und USA sind ebenfalls wieder in der Liste der größten Handelsnationen vertreten. Bemerkenswert ist die wichtige Rolle Indiens im Bereich Dienstleistungen. Südkorea ist anders als im Güterhandel im Dienstleistungshandel eher unbedeutend. Rang Exportland Wert in Mrd. USD Anteil in % Rang Importeur Wert in Mrd. USD Anteil in % 1 EU 789 24,8 1 EU 639 21,1 2 USA 578 18,2 2 USA 391 12,9 3 China 182 5,7 3 China 236 7,8 4 Indien 148 4,7 4 Japan 165 5,4 5 Japan 143 4,5 5 Indien 130 4,3 Abb. 6-3: Anteil am weltweiten kommerziellen Dienstleistungshandel 2011 WTO: World Trade Report 2012a, S. 33 <?page no="150"?> Der Außenhandel der EU - Daten, Fakten, Trends 151 www.uvk-lucius.de/ integration Die hohen Wachstumsraten der Exporte einiger Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien haben den relativen Anteil der EU am Welthandel sinken lassen. Die EU bleibt allerdings in der Rangliste der Exportnationen/ -regionen auf Platz 1, vor China und den USA. Die folgende Abb. 6-4 zeigt die fünf wichtigsten Handelspartner der EU-27 im Jahr 2013, gemessen am Anteil an den Exporten und an den Importen mit den Ländern außerhalb der EU. Export der EU Importe der EU Rang Handelspartner Mio. EUR Anteil Rang Handelspartner Mio. EUR Anteil 1 USA 287.962 16,6 1 China 279.931 17,3 2 Schweiz 169.549 9,8 2 Russland 206.581 11,8 3 China 148.131 8,5 3 USA 195.964 10,9 4 Russland 119.763 6,9 4 Schweiz 94.261 5,5 5 Türkei 77.733 4,5 5 Norwegen 90.008 5,4 Abb. 6-4: Die wichtigsten Handelspartner der EU, absolut und in Prozent 2013 Quelle: Europäische Kommission 2014 Die USA, China, Russland und die Schweiz gehören sowohl exportals auch importseitig zu den fünf wichtigsten Partnerländern der EU. Die Liste der wichtigsten Handelspartner ist über die letzten 15 Jahre relativ konstant geblieben. Nach regionalen oder anderen gängigen Bündnissen zusammengefasst zeigt sich, dass die EU besonders intensiv mit BRIC-Ländern handelt. Es folgt der Handel mit den nordamerikanischen Staaten, die in der NAFTA zusammengeschlossen sind. Die Länder der EU-27 exportieren vor allem verarbeitete Güter. Im Jahr 2012 waren mehr als 80% aller Warenexporte in Länder außerhalb der EU dieser Kategorie zuzuordnen. 10% der Exporte waren Brennstoffe und Bergbauprodukte, 7,6% waren Landwirtschaftsprodukte. Auf der Importseite waren mehr als 30% der Einfuhren Brennstoffe und Bergbauprodukte. Sowohl exportals auch importseitig dominieren somit verarbeitete Produkte (vgl. Europäische Union/ Eurostat 2013, S. 17-19). Die Analyse der Zahlungsbilanz und der Leistungsbilanz bietet einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die Analyse des Handels. Die Zahlungsbilanz, die syste- <?page no="151"?> 152 6 Die Handelspolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration matische Darstellung der wirtschaftlichen Transaktionen einer Volkswirtschaft mit der übrigen Welt über einen bestimmten Zeitraum, besteht aus der Teilbilanz Leistungsbilanz (die Transaktionen mit Waren und Dienstleistungen, Erwerbs- und Vermögenseinkommen sowie laufende Übertragungen umfasst) und der Teilbilanz Kapitalbilanz (die Transaktionen im Zusammenhang mit Direktinvestitionen, Wertpapieranlagen, dem übrigen Kapitalverkehr, Finanzderivaten und Währungsreserven umfasst). Verständnisfrage: Welche Indikatoren sind besonders geeignet, die Einbindung einer Volkswirtschaft in die Weltwirtschaft zu beschreiben? Was sind die Vor- und Nachteile der verschiedenen Indikatoren? 6.2.3 Die Bewertung der Handelsentwicklung Für die Analyse des Handels der Europäischen Union bietet sich der Rückgriff auf die theoretischen Konzepte an: Unterscheidet man die Produktionsfaktoren Boden, einfache Arbeit, humankapitalintensive Arbeit und Kapital, so zeigt ein internationaler Vergleich der relativen Ausstattung mit diesen Produktionsfaktoren, dass die EU eher reichhaltig mit dem Faktor Kapital und gut qualifizierter Arbeit ausgestattet ist. Nimmt man nur Deutschland, Frankreich und England, so verfügten diese drei EU-Länder 2007-2010 über 15% des weltweit erfassten Produktionsfaktors Kapital, über 9% des besonders hoch qualifizierten Humankapitals, aber nur über 2% der landwirtschaftlich bewirtschaftbaren Fläche (vgl. Pugel 2012, S. 77). Auf Basis des Heckscher-Ohlin-Modells lässt sich daher eine Spezialisierung auf Güter, die diese Ausstattungsvorteile nutzen, prognostizieren. Die Exportgüterstruktur sollte mithin durch kapitalintensiv hergestellte verarbeitete Produkte geprägt sein. Ebenso ist zu erwarten, dass Produkte und Dienstleistungen, die humankapitalintensiv hergestellt werden und forschungsintensiv sind, in der Exportpalette stark vertreten sind. Auf der Importseite ist zu erwarten, dass Güter, bei denen einfache Arbeit und der Faktor Land dominieren, überproportional vertreten sind. Verschiedene Ansätze stehen zur Verfügung, um die Spezialisierung und die Übereinstimmung mit der theoretischen Aussage zu analysieren. Ein häufig genutzter Ansatz setzt an der Theorie der komparativen Kostenvorteile an. Der „Revealed Comparative Advantage“-Ansatz beruht auf der Bestimmung des Weltexportanteils eines Landes bei einer Warengruppe bezogen auf den Weltexportanteil des Landes am Gesamthandel. Ein Wert größer 1 wird als Hinweis auf einen ausgewiesenen Wettbewerbsvorteil angesehen. <?page no="152"?> 5.6 Die Handelspolitik der EU 153 www.uvk-lucius.de/ integration Auf Basis der Bestimmung der RCA-Werte hat die EU Vorteile bei forschungsintensiven und kapitalintensiv hergestellten Gütern und Dienstleistungen (vgl. Galar 2012). Auf Basis der realen Handelsströme ergeben sich beispielsweise für die Produktion von Automobilen oder pharmazeutischen Produkten signifikante Werte deutlich über 1 (vgl. Europäische Kommission 2011, S. 107). Ein verwandter Ansatz bezieht sich auf den Anteil der wissensintensiven Güter- und Dienstleistungsexporten an allen Exporten. Je höher der Anteil, desto besser ist ein Land auf die Herausforderungen der Globalisierung vorbereitet. Differenzierte Analysen zeigen, dass Europa vor dem Hintergrund der Fortschritte in anderen Ländern gefordert ist, Innovationen zu fördern (vgl. European Commission 2013). Und schließlich bietet die Entwicklung der Leistungsbilanz mehrere Ansatzpunkte für die Analyse der Entwicklung des Außenhandels. Die Vorstellungen, welche Außenhandelsstruktur ideal ist, sind durchaus unterschiedlich. Viele Autoren gehen davon aus, dass eine mittelfristig ausgeglichene Leistungsbilanz optimal ist. Eine negative Leistungsbilanz wäre mit einem dauerhaften Aufbau von Verbindlichkeiten gegenüber dem Rest der Welt verbunden, eine umgekehrt dauerhaft überschüssige Leistungsbilanz würde umgekehrt einen Kapitalexport zur Folge haben. Dieser wäre nicht nur aus Sicht der anderen Länder problematisch, die ja im Gegenzug eine defizitäre Leistungsbilanz hätten, er würde auch bedeuten, dass die EU dauerhaft mehr Güter und Dienstleistungen produziert als diese selbst zu konsumieren. Die Leistungsbilanz der EU-27 war in den letzten Jahren negativ und kehrte sich erst in jüngster Zeit um. Die aggregierten Zahlen verbergen erhebliche nationale Ungleichgewichte innerhalb Europas. Deutschlands Leistungsbilanz war in diesem Zeitraum stets positiv, während die Leistungsbilanz insbesondere Spaniens, aber auch Italiens und Großbritanniens deutlich negativ waren. 6.3 Die Handelspolitik der EU 6.3.1 Rechtsgrundlagen Der Vertrag über die Europäische Union beinhaltet ein klares Bekenntnis zur Offenheit Europas für den Handel mit Ländern außerhalb der Union. In Artikel 3, Absatz 5 heißt es, die EU leistet einen Beitrag „zu freiem und gerechtem Handel“. Und in Artikel 21 des Vertrages über die Europäische Union wird dies konkretisiert: „Die Union legt die gemeinsame Politik sowie Maßnahmen fest, führt diese durch und setzt sich für ein hohes Maß an Zusammenarbeit auf allen <?page no="153"?> 154 6 Die Handelspolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Gebieten der internationalen Beziehungen ein, um […] e) die Integration aller Länder in die Weltwirtschaft zu fördern, unter anderem auch durch den schrittweisen Abbau internationaler Handelshemmnisse.“ Im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist in Artikel 3 (1) die Zuständigkeit der Europäischen Union für Angelegenheiten des internationalen Handels klar geregelt. Die EU hat die ausschließliche Zuständigkeit in den Bereichen Zollunion und gemeinsame Handelspolitik. Die Konkretisierung der Arbeitsweise erfolgt in dem Titel II „Der freie Warenverkehr“ mit den Artikeln 28-37. Die EU ist für die Einführung eines gemeinsamen Zolltarifs zuständig (Artikel 28 AEUV). Der Rat ist für die Festlegung der Sätze des Gemeinsamen Zolltarifs (auf Vorschlag der Kommission) zuständig (Artikel 31 AEUV). Das Parlament und der Ministerrat teilen sich die Zuständigkeiten für die Handelspolitik. Neue Handelsabkommen bedürfen der Zustimmung des Parlamentes. Die Verhandlungsführung in internationalen Handelsgesprächen obliegt der Kommission, die mit der Generaldirektion Handel eine spezialisierte Behörde für Handelsfragen hat. Die Kommission muss das Parlament regelmäßig über wichtige Verhandlungsergebnisse unterrichten. Darüber hinaus ist die Kommission verpflichtet, bei Handelsfragen eng mit den Mitgliedstaaten zusammenzuarbeiten. Entscheidungen im Rat erfordern in den meisten Fällen keine Einstimmigkeit, sondern nur die qualifizierte Mehrheit. 6.3.2 Die Europäische Union als aktiver Akteur im System der multilateralen Handelsliberalisierung Mit dem Beginn der europäischen Integration waren die Europäische Union bzw. die Vorläuferinstitutionen aktiv an der weltweiten Handelsliberalisierung beteiligt. Diese erfolgt im Rahmen des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) und später der Welthandelsorganisation, die am 1.1.1995 die Nachfolge des GATT antrat. Diese in Genf beheimatete Institution, die aktuell 160 Mitglieder (Stand 2014) hat, bietet ein Forum für die Aushandlung von Handelserleichterungen, und sie schafft eine Struktur zur Lösung von Handelskonflikten. Das GATT von 1948 bis 1993 und seit 1994 die WTO haben ganz wesentlich zur Liberalisierung des Welthandels beigetragen. Zentral für den Erfolg der multilateralen Handelspolitik sind die fünf Arbeitsprinzipien, denen sich die WTO-Mitglieder verpflichten. <?page no="154"?> Die Handelspolitik der EU 155 www.uvk-lucius.de/ integration Box 6-2: Die fünf Prinzipien der Welthandelsorganisation Meistbegünstigung: Die größtmöglichen Vorteile, die ein Mitgliedsland einem anderen Mitgliedsland gewährt, werden im Zuge der Gleichberechtigung automatisch auch anderen Mitgliedsländern gewährt. Nichtdiskriminierung oder Prinzip der Gleichbehandlung: Importierte Güter und Dienstleistungen müssen nach dem Überschreiten der Grenze wie inländische Güter und Dienstleistungen behandelt werden. Reziprozität: Die Mitgliedsländer räumen sich gleichwertige Zugeständnisse ein. Transparenz: Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, Regelungen, Bedingungen, Beschränkungen des Handels offenzulegen. Konsens: Veränderungen im System der Zollsätze sollen von allen Mitgliedstaaten einstimmig verabschiedet werden. Die Welthandelsorganisation, die sich dem Abbau aller Hindernisse des weltweiten Handels verschrieben hat, ist zuständig für die Formulierung und Umsetzung gemeinsamer Regeln für den internationalen Handel. Dies betrifft den Handel mit Gütern, mit Dienstleistungen und den Handel mit geistigem Eigentum. Die den Güterhandel betreffenden Regeln sind im Rahmen des sogenannten „General Agreement on Tariffs and Trade“ (GATT) enthalten. Das „General Agreement on Trade in Services“ (GATS) enthält die Regeln zum Dienstleistungshandel. Der Schutz des geistigen Eigentums ist im Rahmen des Übereinkommens über handelsbezogene Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS) geregelt. Daneben schafft die WTO durch ihre regelmäßigen öffentlich zugänglichen Bewertungen der Handelspolitik der Mitgliedsländer, den sogenannten „trade policy reviews“ Transparenz. Und schließlich stellt die Welthandelsorganisation eine institutionelle Struktur bereit, die bei handelspolitischen Streitigkeiten Lösungen anbietet, das Streitschlichtungsverfahren („Dispute Settlement Body“). Aufgrund des erfolgreichen Arbeitens im Rahmen der multilateralen Handelsliberalisierung wurden Zölle und nicht-tarifäre Handelshemmnisse in den vergangenen Jahren abgebaut. Für die Europäische Union bedeutet dies, dass im Jahr 2013 der durchschnittliche Zollsatz für Nicht-Agrarprodukte bei 4,2% lag und für Agrargüter bei 13,7%. Gewichtet man diese mit den Anteilen am Gesamthandel, ergibt sich ein durchschnittlicher Zollsatz von 5,5%. Die folgende Abbildung vergleicht diese Werte mit den wichtigsten Handelspartnern. <?page no="155"?> 156 6 Die Handelspolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration EU-27 China Japan USA Durchschnittlicher Zollsatz auf alle Güter 5,5 9,6 4,6 3,4 davon landwirtschaftliche Güter 13,7 15,6 16,6 4,7 davon nicht-landwirtschaftliche Güter 4,2 8,7 2,6 3,2 Abb. 6-5: Durchschnittliche Zollsätze der führenden Welthandelsnationen im Jahr 2013. Quelle: World Trade Organization 2013, statistics database Die Europäische Union ist, gemessen an den Zollsätzen, eine offene Volkswirtschaft (vgl. European Commission 2013). Die durchschnittlichen Zollsätze der USA und Japans liegen jedoch unterhalb jener der Europäischen Union. Insbesondere landwirtschaftliche Güter werden in den USA mit einem deutlich niedrigeren Zollsatz belegt. Nichttarifäre Handelshemmnisse werden - im Vergleich zu vielen Handelspartnern - eher überdurchschnittlich stark eingesetzt. Die Europäische Union hat seit Beginn des Streitschlichtungsverfahrens 1995 diesen Weg besonders häufig beschritten, nur übertroffen von den USA. Sie leitete in 85 Fällen Verfahren ein (die USA leitete in 98 Fällen ein Verfahren ein), und die EU war Beklagter in 70 Fällen (die USA in 113 Fällen). Die EU hat in besonders vielen Fällen das Instrument der Anti-Dumping-Zölle eingesetzt, in 45% aller Fälle im Jahr 2011 richtete sich dies gegen die Volksrepublik China. Die EU reagiert auch auf wettbewerbsverzerrende öffentliche Subventionen mit der Antisubventionspolitik (vgl. Europäische Kommission 2010). Verständnisfrage: Auf den Internetseiten der EU und auf den Seiten der WTO finden sich Angaben über den Einsatz der „trade defense“- Instrumente. In welchen Bereichen gibt es Konflikte? 6.3.3 Spezielle Abkommen mit Partnerländern Die Handelsbeziehungen der EU sind durch eine Vielzahl spezieller Abkommen geprägt (vgl. World Trade Organization 2013). Hierzu zählen das Allgemeine Präferenzabkommen für eine große Gruppe armer Länder, spezielle Abkommen mit Nachbarstaaten und Abkommen über Präferenzzonen/ Freihandelszonen. <?page no="156"?> Die Handelspolitik der EU 157 www.uvk-lucius.de/ integration Spezielle Präferenzen für Entwicklungsländer Seit 1971 ermöglicht die Europäische Gemeinschaft einer großen Zahl von Entwicklungsländern den nicht-reziproken erleichterten Zugang zum europäischen Markt („Generelles Präferenzsystem“). Die meisten Produkte können zollfrei in die Europäische Union eingeführt werden. Wichtige Ausnahmen sind jedoch Agrarprodukte und Textilien, hier gelten häufig erleichterte Bedingungen, aber keine Einfuhrfreiheit. Das „Generelle Präferenzsystem +“ bietet weitere Erleichterungen, falls die Länder sich verpflichten, internationale Arbeitnehmerstandards umzusetzen und bestimmte Prinzipien des „good governance“ zu beachten. Schließlich umfasst das Allgemeine Präferenzabkommen die unter dem Stichwort „Everything but arms“ (EBA) bekannt gewordenen Regelungen. Box 6-3: Die ethische Herausforderung: Menschenrechte und Handelspolitik In internationalen Handelsverträgen verabredet die Europäische Union mit Handelspartnern nicht nur rein ökonomische Fragen, sondern nimmt auch Regelungen zu Menschenrechten, Arbeitnehmerrechten und zum Umweltschutz auf. Wie ist dies zu beurteilen? Ist dies zu begrüßen oder abzulehnen? Pro Die EU hat sich in Artikel 3 (5) des Vertrages über die EU verpflichtet, einen Beitrag zum Schutz der Menschenrechte zu leisten. Bei den Menschenrechtsstandards, Arbeitnehmerrechten und Umweltstandards handelt es sich um ganz grundlegende, völlig unstrittig zum Kernbestand der weltweit gültigen Grundrechte. Die Bürger Europas, aber auch die häufig rechtlosen Arbeiter in anderen Ländern außerhalb Europas erwarten von Europa, Position zu beziehen. Kontra Bei der Festlegung von Mindeststandards handelt es sich um eine versteckte Form des Protektionismus. Die EU hindert Entwicklungsländer daran, ihre Wettbewerbsvorteile zu nutzen. Arbeitsstandards und Umweltstandards waren auch in Europa oder anderen entwickelten Ländern zu Beginn ihrer Entwicklung auf einem niedrigen Niveau. Dies muss auch Entwicklungsländern zugestanden werden. Die Nutzung der Macht Europas schafft einen gefährlichen Präzedenzfall, es handelt sich <?page no="157"?> 158 6 Die Handelspolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Es geht nicht um einseitige Vorteile zugunsten Europas, sondern um die Sicherung absolut grundlegender Mindeststandards. Von einer indirekten Form der Intervention kann keine Rede sein. um den Missbrauch von Macht, es handelt sich um eine höchst problematische Form des Eurozentrismus. Spezielle Abkommen mit Nachbarstaaten In Artikel 8 des Vertrages über die Europäische Union werden gutnachbarschaftliche Beziehungen als zentrales Ziel benannt und der Weg für besondere Übereinkünfte eröffnet. Mit der Europäischen Freihandelszone EFTA und deren Mitgliedern Island, Liechtenstein, Norwegen und Schweiz gibt es besonders enge Verbindungen. Die Europäische Union und die Länder Liechtenstein, Norwegen und Island bilden zusammen mit der EU den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Für diesen Raum gelten die vier Grundfreiheiten und die Mehrzahl der Binnenmarktregeln der EU. In der Schweiz wurde in einem Referendum die Mitgliedschaft im EWR abgelehnt, daher gibt es mit der Schweiz gesonderte Regelungen. Mit Nachbarländern der EU, die eine Mitgliedschaft in der EU anstreben, wurden stets Assoziierungsabkommen ausgehandelt, die ein besonders enges wirtschaftliches Kooperationsverhältnis begründeten und über reine handelspolitische Verabredungen hinausgehen. Im Jahr 2013 waren sogenannte Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit den europäischen Staaten Bosnien und Herzegowina, Albanien, Montenegro in Kraft. Mit nordafrikanischen Staaten sind Euro-mediterane Abkommen in Kraft (vgl. World Trade Organization 2013). Die Internetseite der European Union External Action mit allen Verträgen zeigt die Vielfalt der Abkommen. Präferenzabkommen und Freihandelsabkommen Die EU hat mittlerweile ein großes Netz von WTO-konformen Freihandelsabkommen ausgehandelt. Im Jahr 2013 wurde in den USA und in Ländern der EU die Verhandlung über eine Freihandelszone aufgenommen. <?page no="158"?> Die Handelspolitik 59 www.uvk-lucius.de/ integration Box 6-4: Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA Seit 2013 wird konkret an einem Handels- und Investitionsabkommen zwischen der Europäischen Union und den USA gearbeitet. Ziel eines solchen Abkommens ist nicht allein die Senkung der Zölle, sondern der Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse. Die „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“ soll dem Wachstum und den bilateralen Beziehungen neuen Schwung verleihen. Mit einem Abkommen wäre die Hälfte der weltweiten Handels- und Investitionsströme erfasst. Die Herausforderungen sind jedoch ebenfalls enorm: Der Handel zwischen Europa und den USA ist in der Vergangenheit häufig durch unterschiedliche Regulierungstraditionen und gesundheits- und umweltpolitische Vorstellungen beeinträchtigt worden. Die Inhalte des potentiellen Abkommens, die Zielsetzung, die Transparenz der Verhandlungen, die Verknüpfung mit politischen Themen werden auf beiden Seiten sehr kritisch begleitet und kontrovers gesehen. In Europa wurden in einer Unterschriftenaktion gegen das Abkommen mehrere Hunderttausend Unterschriften gesammelt (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2014a). Wirtschaftspolitisch stellt sich für alle beteiligten Handelspartner die Frage, ob regionale oder bilaterale Handelsliberalisierung der multilateralen Handelsliberalisierung vorzuziehen ist. Die Doha-Runde kam schließlich im Jahr 2014 zu einem Abschluss (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2014b), die Verhandlungen zeigten aber die Schwierigkeiten, angesichts der heutigen Strukturen und Herausforderungen auf multilateraler Ebene Fortschritte zu erzielen. Für den Abschluss regionaler oder bilateraler Abkommen spricht, dass dies handelspolitisch der einfachere Weg ist, weiterhin an einer Liberalisierung zu arbeiten. Zudem kann in spezifischen Abkommen den jeweiligen Besonderheiten der Vertragspartner entsprochen werden. Mit bilateralen Abkommen können Aspekte historischer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Art beachtet werden. Andererseits schwächt die Vielzahl der Abkommen die Bedeutung der WTO und reduziert damit weiter die Chance eines erfolgreichen Abkommens auf multilateraler Ebene. Die WTO wurde von vielen Experten in der Vergangenheit als Institution gesehen, die kleine und schwache Länder gegenüber den starken Ländern schützte. Stimmt diese Bewertung, so ist aus Sicht der kleinen Nationen diese Entwicklung nachteilig. <?page no="159"?> 160 6 Die Handelspolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Verständnisfrage Wie stellen sich die Vor- und Nachteile bilateraler versus multilateraler Handelsliberalisierungsbemühungen aus Sicht der Handelspartner der EU dar? Unterscheiden Sie dabei nach Größe und Macht des Handelspartners, z.B. USA und Ghana. 6.4 Herausforderungen Auch wenn sich die Gewichte im Welthandel mit der Entwicklung vieler Länder im Süden verschieben werden, so bleibt die EU einer der wichtigsten, bedeutendsten und einflussreichsten Akteure im Welthandel. Wirtschaftliche Entwicklungen innerhalb der EU sind für den Welthandel ebenso wichtig wie handelspolitische Weichenstellungen. Die Handelsstruktur reflektiert teilweise die natürlichen Ausstattungsbedingungen: Europa wird ein Rohstoffimporteur bleiben. In Zukunft mag die Export- und Importstruktur stärker als in der Vergangenheit durch erworbene Ausstattungsvorteile geprägt sein: Europa ist bestrebt, im Bereich des Humankapitals die Faktorbedingungen - im Vergleich zum Rest der Welt - zu verbessern. Gelingt dies, ist mittelfristig die Außenhandelsstruktur stärker noch durch wissensintensive Exporte geprägt als gegenwärtig. Handelspolitisch ist die Europäische Union sowohl der multilateralen als auch der regionalen und bilateralen Handelsliberalisierung verpflichtet. Mit dem hohen Anteil am Welthandel ist Europa an klaren Welthandelsregeln und der Weiterführung der Handelsliberalisierung interessiert. Die lang andauernden Verhandlungen im Rahmen der Doha-Runde zeigten, wie schwierig die Kompromissfindung in einer multipolaren Welt geworden ist. Die parallele Arbeit an einem Netz von bilateralen oder regionalen Abkommen gehört weiterhin zur handelspolitischen Agenda der Union. 6.5 Wichtige Begriffe Handelsanteile Komparative Kostenvorteile Spezialisierung Revealed Comparative Advantage Zahlungsbilanz Leistungsbilanzsalden Zollschutz GATT GATS TRIPS Dispute Settlement Body Präferenzabkommen Reziprozität multilaterale Handelsliberalisierung Protektionismus WTO <?page no="160"?> 161 www.uvk-lucius.de/ integration 6.6 Literatur Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2014a): „Das Transatlantische Handels- und Investitionsabkommen (TTIP) - Eine Vernunftpartnerschaft des 21. Jahrhunderts“, in: Schlaglichter der Wirtschaftspolitik. Monatsbericht 6/ 2014, S. 1 - 10 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2014b): „Das Wunder von Bali: die multilaterale Handelspolitik ist zurück“, in: Schlaglichter der Wirtschaftspolitik. Monatsbericht 1/ 2014, S. 9 - 15 European Commission (2013a): European Competitiveness Report 2013 - Towards Knowledge-Driven Reindustrialization, Commission Staff Working Document SWD (2013) 347 final, Luxemburg Europäische Kommission (2010): Trade, Growth and World Affairs - Trade Policy as a Core Component of the EU’s 2020 strategy, Brüssel Europäische Kommission (2011): Innovation Union Competitiveness Report 2011, Brüssel Europäische Kommission (2013): The European Union Trade Policy 2013, Brüssel Europäische Kommission (2014): EU Position in World Trade - Statistics, Internet: http: / / ec.europa.eu/ trade/ policy/ countries-and-regions/ statistics/ index_en.htm Europäische Union/ Eurostat (2013): International trade and foreign direct investment, 2013 edition, Luxemburg Europäische Zentralbank (2013): „Handelsverflechtungen innerhalb des Euro-Währungsgebiets und außenwirtschaftliche Anpassung“, in: EZB Monatsbericht, Januar 2013, S. 69-86 Eurostat (2012): External and intra-EU-trade - A statistical yearbook, data 1958- 2010, Brüssel Galar, Malgorzata (2012): „Competing within global value chains“, ECFIN Economic Brief, Issue 17, December 2012 Krugman, Paul R./ Obstfeld, Maurice/ Melitz, Marc (2012): International Economics - Theory and Policy, 9. Auflage, Boston, Addison-Wesley Pugel, Thomas (2012): International Economics, 15. Auflage, New York, Oxford University Press Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2005): Jahresgutachten 2005/ 2006 - Die Chancen nutzen - Reformen mutig voranbringen, Wiesbaden World Trade Organization (2012a): World Trade Report, Genf <?page no="161"?> 162 6 Die Handelspolitik der Europäischen Union World Trade Organization (2012b): Annual Report 2012, Genf World Trade Organization (2013): Trade Policy Review European Union, Genf <?page no="162"?> Teil 4: Die ausgabenträchtigen EU-Politiken <?page no="164"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union Leitfragen Welche Ziele verfolgt die Gemeinsame Agrarpolitik der EU? Wie werden Eingriffe in den Agrarmarkt theoretisch gerechtfertigt? Gibt es Vorteile einer Gemeinsamen Agrarpolitik gegenüber einer Agrarpolitik, die von den Mitgliedstaaten betrieben wird? Welche Instrumente werden im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik eingesetzt? Welche Probleme sind mit der Gemeinsamen Agrarpolitik verbunden? 7.1 Einführung Nur wenige Jahre nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs war die Überwindung der Lebensmittelknappheit in Europa und die Gewährleistung der Ernährungssicherheit der Bevölkerung von essentieller Bedeutung. Hinzu kam, dass für die Landwirtschaft im Zuge der sektoralen Wirtschaftsentwicklung (Drei- Sektoren-Hypothese von Clark und Fourastié) ein rückläufiger Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt und zur Gesamtbeschäftigung erwartet werden konnte. Politisch wurde mit der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) ein Interessensausgleich vor allem zwischen Deutschland und Frankreich vollzogen. Im Gegenzug für die Exporte landwirtschaftlicher Produkte aus Frankreich wurde der Marktzugang für die Industriegüter aus Deutschland geöffnet. Daher gehörte die GAP schon mit Beginn des Integrationsprozesses zu den zentralen Aufgabenbereichen der EU. Bereits im EWG-Vertrag von 1957 wurde in Artikel 3 die Einführung einer gemeinsamen Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft verankert und dem Agrarsektor in den Artikeln 38 ff. ein eigener Abschnitt gewidmet. Nach Erarbeitung der Grundlinien für eine gemeinschaftliche Agrarpolitik auf der Konferenz von Stresa/ Italien (1958) trat die GAP mit der Marktorganisation für Getreide schließlich im Jahr 1962 in Kraft (vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 2014). <?page no="165"?> 166 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 7-1: Agrarausgaben absolut und in Prozent der EU-Ausgaben insgesamt, 1980- 2012. Quelle: European Commission 2014, Angaben in Preisen des Jahres 2011 Die im Laufe der Zeit mehrfach reformierte GAP basiert auf drei Prinzipien: Markteinheit: einheitliche Rahmenbedingungen auf dem gemeinsamen Agrarmarkt ohne Beschränkungen im innergemeinschaftlichen Handel mit Agrarprodukten; Gemeinschaftspräferenz: der landwirtschaftlichen Produktion innerhalb der EU wird gegenüber Produkten aus Drittländern der Vorrang eingeräumt; Finanzielle Solidarität: gemeinschaftliche Finanzierung der GAP aus dem EU-Haushalt. Die starke Stellung der gemeinschaftlichen Agrarpolitik zeigt sich an der Höhe der Agrarausgaben gemessen am EU-Budget (Abb. 7-1). Auch wenn der Mittelanteil für die Durchführung der GAP im Laufe der Zeit deutlich reduziert wurde, beansprucht die Agrarpolitik aktuell rund 40% des Gemeinschaftshaushalts insgesamt (vgl. Kapitel 3). <?page no="166"?> Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt 167 www.uvk-lucius.de/ integration 7.2 Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt Gemäß der Theorie der Wirtschaftspolitik sind Eingriffe des Staates in den Marktprozess sorgfältig zu begründen (1. Hauptsatz der Wohlfahrtstheorie). Welche Rechtfertigungsgründe für ein Marktversagen im Agrarsektor lassen sich anführen? (vgl. Jovanovi 2013; Köster 2010; Wagener/ Eger 2014) 7.2.1 Besonderheiten landwirtschaftlicher Güter Agrarprodukte sind Güter mit einer geringen direkten Preis- und Einkommenselastizität der Nachfrage. Damit es zur Markträumung kommt, werden bei unelastischer Nachfrage (-1 x,p = ( x/ x)/ ( p/ p) 0) steigende Mengen eines Gutes nur nachgefragt, wenn der Preis des betrachteten Gutes überproportional sinkt. Dies geht mit Umsatzeinbußen in der Landwirtschaft einher. Demgegenüber bedeutet eine geringe Einkommenselastizität der Nachfrage (0 x,Y = ( x/ x)/ ( Y/ Y) 1) eine unterproportionale Zunahme der Güternachfrage bei steigendem Einkommen. Bezogen auf die Ausgaben für Nahrungsmittel gilt nach dem Engelschen Gesetz, dass der Einkommensanteil, der für Ernährung verwandt wird, mit steigendem Einkommen sinkt. Abb. 7-2: Der Markt für Agrarprodukte In Abb. 7-2 ist das langfristige Gleichgewicht (p 0 ,x 0 ) auf dem Markt für Agrarprodukte im Schnittpunkt der Nachfragefunktion (N) und der Angebotsfunktion (A) dargestellt. x 1 x 0 p 0 A A’ x p N’ N p 1 <?page no="167"?> 168 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Produktivitätssteigerungen durch Rationalisierung und Innovation im landwirtschaftlichen Sektor führen zu einer Rechtsverschiebung der Angebotsfunktion von A nach A'. Im Zuge des wirtschaftlichen Wachstums nimmt auch das gesamtwirtschaftliche Einkommen zu, so dass sich im Zeitablauf die Nachfragefunktion von N nach N' verlagert. Welche Auswirkungen davon auf die Preise der Agrarprodukte und damit auf die Umsätze der Landwirte ausgehen, hängt von den jeweiligen Elastizitäten ab. Verschiebt sich die Nachfragefunktion aufgrund der geringen Einkommenselastizität weniger stark als die Angebotsfunktion und wird gegebenenfalls sogar noch preisunelastischer, wird ein Preisdruck auftreten und der Preis von p 0 auf p 1 sinken. Entsprechend gehen die Umsätze von p 0 x 0 auf p 1 x 1 zurück. Bei fehlender Mobilität der eingesetzten Produktionsfaktoren vermindert sich das Pro-Kopf-Einkommen in der Landwirtschaft und bleibt hinter der Einkommensentwicklung in anderen Wirtschaftssektoren zurück. 7.2.2 Abweichende Produktionsbedingungen Gegenüber der industriellen Fertigung hängt die landwirtschaftliche Erzeugung von Umweltfaktoren ab. Witterungseinflüsse und Schädlingsbefall können Outputschwankungen und Preisausschläge auf den Agrarmärkten verursachen. Aufgrund des Erntezyklus sind kurzfristige Produktionsanpassungen in der Landwirtschaft nicht möglich. Abb. 7-3: Stabilisierung auf dem Agrarmarkt x’’ - x’ x’ - x ’’’ p’ p 1 x A’ p d A p 0 x’ x 0 x 1 x’’’ x’’ <?page no="168"?> Rechtfertigungen für Eingriffe in den Agrarmarkt 169 www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 7-3 enthält die Gleichgewichtssituationen auf dem Agrarmarkt für unterschiedliche Witterungsverhältnisse. Bei gutem Wetter gilt die Preis-Mengen- Kombination (p 0 , x 0 ), während sich bei schlechten Bedingungen eine geringere Menge und ein höherer Preis im Punkt (p 1 , x 1 ) einstellt. Prinzipiell könnte eine Marktstabilisierung durch wirtschaftspolitische Intervention erreicht werden, würde ein Preis p' = ½(p 0 + p 1 ) für die Agrarprodukte genommen und eine Menge von x' bereitgestellt. Dies erfordert, dass Marktordnungsstellen das sich bei gutem Wetter ergebende Überschussangebot (x'' - x') aufkaufen, um damit den bei schlechtem Wetter auftretenden Nachfrageüberhang (x' - x''') auszugleichen. In der Konsequenz werden witterungsunabhängig gleichbleibende Umsätze (p'x') im Agrarsektor realisiert. Neben der Lagerfähigkeit der landwirtschaftlichen Erzeugnisse wird stark vereinfachend auch Gleichverteilung für das Auftreten der unterschiedlichen Wetterkonstellationen vorausgesetzt. Um solcher Art von Risiken wie Hageleinschlag und Dürreschäden zu begegnen, könnte anstelle staatlicher Markteingriffe die Etablierung von Versicherungslösungen erwogen werden (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2010). Die Preisentwicklung auf den Agrarmärkten hängt aber auch von dem verstärkten Einsatz agrarischer Rohstoffe (Raps, Mais, Getreide) als Energieträger (Box 7-1) und von der zunehmenden Spekulation mit Nahrungsmitteln durch Finanzinvestoren ab (vgl. Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2013). Box 7-1: Teller-oder-Tank-Dilemma: Verwendung agrarischer Rohstoffe zur Nahrungsmittelproduktion oder als Energieträger? Pro Begrenzte Reichweite fossiler Energieträger erfordert klimafreundliche Alternativen der Energieproduktion. Energiediversifizierung mindert die Importabhängigkeit und fördert Innovation und Beschäftigung im Agrarbereich. Kontra Nahrungsmittelknappheit durch Bereitstellung von Ackerflächen zur Produktion energetisch verwendeter Agrargüter führt zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise, was insbesondere die Bevölkerung in Entwicklungsländern trifft. Indirekte Klimaschädigung durch Abholzung von Regenwäldern für den Getreideanbau, <?page no="169"?> 170 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration weil auf den bisher zur Nahrungsmittelproduktion genutzten Flächen Energiepflanzen angebaut werden. 7.2.3 Externalitäten Landwirtschaftliche Produktion ist mit vielfältigen Auswirkungen auf das natürliche Umfeld verknüpft. Negativen externen Effekten eines Umweltverbrauchs stehen positive externe Effekte gegenüber, die in der Schaffung naturnaher Lebensräume, der Bewahrung des Landschaftsbildes oder im Erhalt der biologischen Artenvielfalt bestehen. Soweit derartige Leistungen marktlich nicht berücksichtigt werden (vgl. Cooper/ Hart/ Baldock 2009), bedarf es der Intervention in Form staatlicher Regulierung oder des Einsatzes von Steuern und öffentlicher Ausgaben zur Internalisierung dieser Effekte. So mag die Flächenbewirtschaftung in einer Bergregion aus individueller Sicht nur begrenzt rentabel erscheinen; aus gesellschaftlicher Sicht trägt sie dazu bei, eine Bodenerosion zu verhindern, der Erdrutschgefahr vorzubeugen und das gewünschte Landschaftsbild zu erhalten („öffentliche Güter“). Abb. 7-4: Positive externe Effekte im Agrarsektor s p x x* x** K ’ E ’ ges E ’ priv <?page no="170"?> Ziele der GAP 171 www.uvk-lucius.de/ integration In Abb. 7-4 werden die Konsequenzen einer positiven Externalität illustriert. Aus individueller Sicht wird die landwirtschaftliche Produktion im Ausmaß x* angestrebt, solange der private Grenzertrag (E' priv ) höher ist als die Grenzkosten (K'). Da bei dieser Ausbringung der gesellschaftliche Vorteil (E' ges ) den individuellen Vorteil übersteigt, ist eine Ausdehnung der Bewirtschaftung auf x** wünschenswert. Dies kann durch Gewährung einer Subventionszahlung in Höhe von s erreicht werden. 7.2.4 Gründe einer Zuordnung der Agrarpolitik auf die EU-Ebene Eine Akzeptanz wirtschaftspolitischer Interventionen in den Agrarmarkt reicht allein noch nicht aus, auch die Übertragung dieses Aufgabenbereichs auf die EU-Ebene schon zu rechtfertigen. Welcher Mehrwert resultiert aus einer gemeinschaftlichen Agrarpolitik gegenüber einer Agrarpolitik, die von den Mitgliedstaaten selbst durchgeführt wird (vgl. European Commission 2009)? Eine Re-Nationalisierung der Agrarpolitik würde mit einer Auflösung des Prinzips der Markteinheit einhergehen, wenn die Staaten jeweils eigene Instrumente einsetzen, um den landwirtschaftlichen Bereich zu fördern. Nicht auszuschließen wäre sogar ein Subventionswettlauf im Agrarsektor und eine Politik, die sich auf Kosten der Nachbarländer (beggar-thy-neigbour-Politik) Vorteile zu verschaffen sucht. Soweit der Einfluss starker nationaler Lobbyaktivitäten auf der EU-Ebene eher zurückgedrängt werden kann, wird durch die GAP sogar eine Ausgabeneinsparung auftreten. Unter Hinweis auf ein „common pool“-Problem könnte dem allerdings entgegnet werden, dass die Finanzierung über einen gemeinsamen EU-Haushalt für die Mitgliedsländer Anreize setzt, höhere Ausgaben zu fordern als dies im Fall einer Mittelbereitstellung aus eigenen Budgets der Fall wäre (vgl. von Cramon-Taubadel u.a. 2013). Eine gemeinsame Politik, die den Zusammenhalt zwischen den Mitgliedstaaten fördert, ist insbesondere bei grenzüberschreitenden Problemen zielführend. Dies betrifft die Bereiche des Umweltschutzes, der Klimaveränderung, des Wassermanagements oder des Erhalts der biologischen Artenvielfalt, zu denen die GAP europäische Lösungsansätze beisteuern kann. 7.3 Ziele der GAP Die im EWG-Vertrag enthaltenen Ziele der GAP wurden auch im Lissabon- Vertrag in Artikel 39 AEUV aufgenommen. Danach soll die GAP: <?page no="171"?> 172 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration die Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung des technischen Fortschritts, Rationalisierung der Produktion und durch bestmöglichen Ressourceneinsatz vor allem der Arbeitskräfte steigern; auf diese Weise der landwirtschaftlichen Bevölkerung insbesondere durch Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft eine angemessene Lebenshaltung ermöglichen; die Märkte stabilisieren; die Versorgung sicherstellen; angemessene Verbraucherpreise gewährleisten. Verständnisfrage: Welche Zielbeziehungen bestehen zwischen den agrarpolitischen Zielen? Ergänzend wird angeführt, dass für die Gestaltung der GAP drei Rahmenbedingungen zu beachten sind: die besondere Eigenart der landwirtschaftlichen Tätigkeit (sozialer Aufbau der Landwirtschaft, strukturelle und naturbedingte Unterschiede der verschiedenen landwirtschaftlichen Gebiete); das Erfordernis, Anpassungen im landwirtschaftlichen Sektor geeignet und stufenweise vorzunehmen; die Erkenntnis, dass die Landwirtschaft einen Wirtschaftsbereich darstellt, der mit der Volkswirtschaft eng verflochten ist. Der Zielerreichung ist eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte zugrunde zu legen, die als Maßnahmen „insbesondere Preisregelungen, Beihilfen für die Erzeugung und die Verteilung der verschiedenen Erzeugnisse, Einlagerungs- und Ausgleichsmaßnahmen, gemeinsame Einrichtungen zur Stabilisierung der Ein- oder Ausfuhr“ (Artikel 40 AEUV) umfassen. Als gemeinsame Organisation der Agrarmärkte wurden für zahlreiche landwirtschaftliche Erzeugnisse (von Bananen über Getreide, Milch, Reis, Obst und Gemüse bis hin zu Wein und Zucker) Marktordnungen eingerichtet, die mit der Verordnung „Einheitliche GMO“ (VO (EG) Nr. 1234/ 2007 zusammengeführt und gestrafft wurden. Mit Wirkung vom 1. Januar 2014 ist die neue Verordnung (EU) Nr. 1308/ 2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse in Kraft getreten. <?page no="172"?> Instrumente der GAP 173 www.uvk-lucius.de/ integration 7.4 Instrumente der GAP Zentraler Ansatzpunkt der gemeinschaftlichen Agrarpolitik war die Schaffung eines Preissystems, das in Abb. 7-5 skizziert wird. Die EU garantierte, dass die landwirtschaftliche Produktion zu einem politisch bestimmten Mindestpreis - dem Interventionspreis p I - abgenommen wird, der den Weltmarktpreis p W deutlich übertraf. Dies verschaffte dem landwirtschaftlichen Sektor Preis- und Planungssicherheit. Für Agrarimporte wurde ein über dem Interventionspreis liegender Schwellenpreis p S vorgegeben, der dem Weltmarktpreis einschließlich Abschöpfungen bzw. Zöllen (z) entsprach („Festung Europa“). Genau genommen gab es mit dem Richtpreis p R noch einen weiteren Preis, der über den Schwellenpreis hinaus die Vermarktungs- und Transportkosten enthielt. Dieser Preis entsprach dem Preisniveau, das in der EU nach Auffassung der Agrarbehörden gelten sollte. Lag der tatsächliche Marktpreis (Erzeugerpreis) für Agrarprodukte unterhalb des Interventionspreises p I , wurde die Preisstützung wirksam; übertraf der Marktpreis den Richtpreis, konnte auf Importmengen vom Weltmarkt zurückgegriffen werden. Vereinfachend wird in Abb. 7-5 die Gleichheit von p R und p S neben der Konstanz des Weltmarktpreises angenommen. Verständnisfrage: Warum wird der Schwellenpreis stets höher als der Interventionspreis sein? In den Anfängen der GAP war die EU ein Nettoimporteur landwirtschaftlicher Güter (Abb. 7-5A). Beim Marktpreis gemäß p S wird die Menge x N nachgefragt, die durch die inländische Produktion x A und die Importe (x N - x A ) gedeckt wird. Im Vergleich zum Weltmarktpreis sinkt zwar die Konsumentenrente, aber beim Preis p S erhöht sich die Produzentenrente und die EU erzielt Zolleinnahmen in Höhe von (x N x A )z. Für die EU als Nettoimporteur war die Interventionsregelung daher nur von begrenzter Relevanz. Ihre Bedeutung ergab sich im Zuge der Entwicklung der EU zum Nettoexporteur, als sich mit Ausdehnung der Produktion durch biologischen und technischen Fortschritt die Angebotsfunktion nach rechts verlagerte (Abb. 7-5B) und beim Preis p I Agrarüberschüsse (Getreide-, Rindfleisch-, Butterberge) erwirtschaftet wurden (AÜ). Um der Preissenkungstendenz entgegenzutreten, mussten die Mengen von der EU aufgekauft werden, was zu Interventionsausgaben von (x' A - x' N ) p I führte. Dies erklärt den enormen Anstieg des Agrarbudgets. Da durch das Preisstützungssystem diejenigen Anbieter bevorteilt wurden, die viel produzierten, kam es zu einer stärker industrialisierten Nahrungsmittelerzeugung und zu einem Konzentrationsprozess, <?page no="173"?> 174 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 7-5: Das GAP-Preissystem X A X N p W p S Z A X P p I N A) EU als Nettoimporteur X ' N X* N p W p I P N B) EU als Nettoexporteur p*I X* A X ' A AÜ A ' X <?page no="174"?> Instrumente der GAP 175 www.uvk-lucius.de/ integration der große landwirtschaftliche Betriebe begünstigte. Die vom Markt genommenen Überschüsse mussten von der EU gelagert bzw. bei fehlender Lagermöglichkeit vernichtet werden. Alternativ bestand die Möglichkeit, die Produktionsmengen über Exporterstattungen im Ausmaß der Differenz zwischen p I und p W je Mengeneinheit am Weltmarkt anzubieten, was allerdings mit einem Druck auf den Weltmarktpreis einherging und Nachteile insbesondere für Länder mit exportorientiertem Agrarsektor (z.B. USA) hervorrief. Auch mittels angebotsbezogener Maßnahmen wie Flächenstillegungsprogrammen oder der Zuweisung von Produktionsquoten auf die Mitgliedsländer im Rahmen der Garantiemengenregelung (Milchmarkt) konnte das Problem der Überschussproduktion nicht gelöst werden. Eine Änderung der GAP war unvermeidlich. In Abb. 7-6 werden die verschiedenen Reformetappen überblicksartig aufgelistet. Im Zuge des Umgestaltungsprozesses der GAP erlangten die Direktzahlungen an die Landwirte zunehmende Bedeutung. Über diese Ausgaben im Rahmen der sog. 1. Säule der gemeinschaftlichen Agrarpolitik hinaus wurde mit der Entwicklung des ländlichen Raums die 2. Säule der GAP begründet. Anders als die 1. Säule der GAP, die vollständig aus dem EU-Haushalt finanziert wird, werden die Ausgaben der 2. Säule im Rahmen der geteilten Mittelverwaltung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten kofinanziert. Die frühen Jahre (1960er und 1970er) Nahrungsmittelsicherheit; verbesserte Produktivität; Marktstabilisierung; Einkommensunterstützung Die Krisenjahre (1980er) Überproduktion; ausufernde Ausgaben; internationale Reibungsmomente; strukturelle Maßnahmen GAP-Reform (1992) Verringerte Überschüsse; Umwelt; Einkommensstabilisierung; Haushaltsstabilisierung Agenda (2000) Vertiefung des Reformprozesses; Wettbewerbsfähigkeit; ländliche Entwicklung GAP-Reform (2003) Marktorientierung; Verbraucheranliegen; ländliche Entwicklung; Umwelt; Vereinfachung; WTO-Kompatibilität Gesundheitscheck (2008) Verstärkung der Reform 2003; neue Herausforderungen; Risikomanagement Abb. 7-6: Reformen der GAP Quelle: European Commission 2011, S. 2 (leicht modifiziert) <?page no="175"?> 176 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Um die Probleme durch das Preisstützungssystem in den Griff zu bekommen, wurden die Interventionspreise (z.B. für Getreide) abgesenkt, die sich den Weltmarktpreisen annäherten (Abb. 7-5B). Die Preisreduktion von p I auf p I* verringerte den Anreiz zur Überproduktion (x A* - x N* ) und beseitigte weitgehend die Preisverzerrungen am Weltmarkt für Agrarprodukte. Damit verlor das Preisstützungssystem seine Bedeutung als zentrales Instrument der Agrarpolitik. Eine Entlastung des Agrarbudgets trat allerdings nicht ein, da mit der Verminderung der Interventionspreise eine Einkommensreduktion für die Landwirte einherging, die durch Direktzahlungen aus dem Agrarhaushalt aufgefangen wurde. Der Einkommensausgleich im Umfang von (p I - p I* )x' A übertraf sogar den Verlust an Produzentenrente (vgl. Köster, El-Agraa 2007, S. 396) um ½ (p I - p I* )(x' A - x A* ). Die anfänglich an die Erzeugung gebundenen Einkommensbeihilfen wurden mit der Reform von 2003 weitgehend entkoppelt und als von der Produktion unabhängige Betriebsprämien zur Grundsicherung des Einkommens gewährt. Diese Trennung bietet die Möglichkeit, landwirtschaftliche Produktionsentscheidungen nicht mehr nach den gewährten Subventionen, sondern an den Marktbedürfnissen auszurichten. Um die Direktzahlungen der Öffentlichkeit gegenüber rechtfertigen zu können, wurde die Gewährung von Einkommensbeihilfen an Verpflichtungen geknüpft (Cross-Compliance), bestimmte Grundanforderungen der landwirtschaftlichen Produktion für die öffentliche Gesundheit, beim Umwelt- und Tierschutz, der Tier- und Pflanzengesundheit zu erfüllen (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2012). Um den erforderlichen Anpassungsprozess im Agrarsektor zu unterstützen und der Landwirtschaft neue Betätigungsfelder zu eröffnen, wurde mit den Beschlüssen der Agenda 2000 die Basis für die Entwicklung des ländlichen Raums gelegt (2. Säule der gemeinschaftlichen Agrarpolitik). Die Förderung betrifft Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Agrarwirtschaft (Humanressourcen, Produktionsbedingungen), zum Umweltschutz (Energieverbrauch, Emission) und zur Stärkung der ländlichen Strukturen (Dorferneuerung, Fremdenverkehr). Die Mittelbereitstellung erfolgt durch eine Kürzung der Direktzahlungen aus der 1. Säule der GAP und Umschichtung zugunsten der 2. Säule der gemeinschaftlichen Agrarpolitik (Modulation). Für die 1. Säule der GAP wurde institutionell der Europäische Garantiefonds für die Landwirtschaft (EGFL) und für die 2. Säule der Europäische Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums (ELER) eingerichtet. <?page no="176"?> Die GAP 2014-2020 177 www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 7-7: Die Marktausrichtung der GAP, 1990-2020 a) a) 1990-2012: Mittel für Zahlungen; 2013: Mittel für Verpflichtungen; 2014-2020: Werte des mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) Quelle: European Commission 2013, S. 4 Die forcierte Marktausrichtung der gemeinschaftlichen Agrarpolitik wird in Abb. 7-7 dokumentiert. Der Anteil der Agrarmarktmittel, die für Interventionsausgaben und Exporterstattungen verwandt wurden, sank von mehr als 90% im Jahr 1992 auf ungefähr 5% im Jahr 2013. Von den Direktzahlungen entfallen 94% auf unabhängig von der Produktion geleistete (entkoppelte) Betriebsprämien (vgl. European Commission 2013, S. 4). 7.5 Die GAP 2014-2020 Vor dem Hintergrund der allgemeinen Ziele der GAP stellen sich zukünftig vor allem Herausforderungen, die aus dem Zusammenwachsen der Weltwirtschaft, der Bewältigung von Umweltproblemen durch Klimawandel, Bodenerosion oder Wasserknappheit wie aus der Entwicklung und Stärkung der Lebensfähigkeit vieler vom Agrarsektor abhängigen ländlichen Regionen resultieren. <?page no="177"?> 178 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Für den Zeitraum des mehrjährigen Finanzrahmens bis zum Jahr 2020 werden von der GAP daher drei Hauptziele angestrebt (vgl. Europäische Kommission 2010): Ziel 1: Rentable („viable“) Nahrungsmittelerzeugung Infolge der Globalisierung und Liberalisierung des Handelssystems wird die Landwirtschaft der EU in zunehmendem Maße dem Druck des internationalen Wettbewerbs ausgesetzt, während gleichzeitig in Europa hohe Anforderungen an die Produktqualität, die Lebensmittelsicherheit und das Erfüllen von Umwelt- und Tierschutzstandards gestellt werden. Angesichts des weltweit zunehmenden Nahrungsmittelbedarfs ist die Wettbewerbsfähigkeit des landwirtschaftlichen Sektors in der EU zu steigern, um die Ernährungssicherheit auch global erfüllen zu können (vgl. Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz 2012). Ziel 2: Nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen und Klimamaßnahmen Die Landwirtschaft beeinflusst die ländlichen Räume und trägt maßgeblich zur Landschaftsgestaltung („Kulturlandschaft“) bei. Die ökologische und nachhaltige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen schützt die Biodiversität und hilft bei der Bewältigung des Klimawandels. Dessen negative Folgen für die Landwirtschaft können durch Förderung umweltgerechter Arbeitsmethoden und innovativer Technologien gemildert werden. Ziel 3: Ausgewogene räumliche Entwicklung Strukturschwächen ländlicher Gebiete mit Landflucht und Überalterung der Bevölkerung ziehen einen Anpassungsbedarf bei Infrastruktur und Grundversorgungseinrichtungen nach sich, der sich nachteilig auf das gesellschaftliche Zusammenleben auswirkt. Die Unterstützung der Landwirtschaft und der Ausbau der lokalen Märkte erleichtern den Erhalt und die Gestaltung zukunftsfähiger Dorfstrukturen und des sozialen Gefüges in den ländlichen Regionen. Zur Erreichung dieser Ziele werden im Einzelnen zahlreiche Maßnahmen eingesetzt (vgl. European Commission 2013). Dazu zählen: die Vertiefung der Marktorientierung: Abbau von noch bestehenden Produktionsbeschränkungen (Auslaufen der Zuckerquotenregelung 2017 parallel zum Auslaufen der Milchquote 2015); Direktzahlungen nur noch an „aktive“ Landwirte zur Erhöhung der Zielgenauigkeit der Fördermittel; Erleichterung der Anerkennung von Erzeugerorganisationen; mehr Flexibilität für die Mit- <?page no="178"?> Die GAP 2014-2020 179 www.uvk-lucius.de/ integration gliedstaaten durch begrenzte Mittelumschichtung zwischen der 1. und 2. Säule der GAP. eine ökologischere und gerechtere Ausrichtung: über die der Betriebsprämie entsprechenden sog. Basisprämie hinaus, die 70% der nationalen Direktzahlungen umfasst, werden die restlichen 30% der verfügbaren Mittel („Ökologisierungszuschlag“) an Umweltauflagen wie Anbaudiversifizierung, Erhaltung artenreicher Landschaftselemente und einer Mindestfläche an Dauergrünland gebunden; mindestens 30% der Mittel für die Entwicklung des ländlichen Raums sind für Maßnahmen des Umwelt- und Klimaschutzes zu reservieren; ausgewogenere Verteilung der Direktzahlungen zwischen den Mitgliedstaaten. die Stärkung der ländlichen Entwicklung: engere Zusammenarbeit zwischen Agrarwirtschaft und Forschung; „wissensbasierte Landwirtschaft“ durch Förderung von Betriebsberatungsdiensten; Unterstützung von Junglandwirten und Landwirten in Gebieten mit naturbedingten oder sonstigen spezifischen Benachteiligungen. Box 7-2: Das Pro und Kontra der EU-Agrarpolitik Erfolgreiche EU-Agrarpolitik Die Vertreter der europäischen Agrarpolitik betonen die Leistungen des Agrarsektors für die Wohlfahrt der Menschen in Europa und rechtfertigen damit den hohen Anteil der Agrarpolitik an den Ausgaben der EU. Quantität und Qualität der Nahrungsmittel sind aus ihrer Sicht und mit Blick auf den internationalen Vergleich vorbildhaft, die Produktionsmethoden tragen den modernen Erwartungen an Naturschutz und an nachhaltiger Bewirtschaftung Rechnung. Die Agrarstrukturpolitik hat aus dieser Perspektive den Strukturwandel erfolgreich begleitet, es kam zu einer maßvollen und die ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen berücksichtigenden Veränderung der Betriebsstruktur. Die Pflege der Landschaften, die zunehmend in den Blickpunkt der Gesellschaft und der Politik gerückt ist, ist erfolgreich gewesen, die hohe Lebensqualität in Europa ist auch dieser erfolgreichen Politik zu verdanken. Die Reform der Agrarförderung ist ein Beispiel für die Anpassungsfähigkeit europäischer Politik. Kritik an der Agrarpolitik Die absolute Höhe der Zahlungen und ihr Anteil an den Gesamtausgaben der EU werden im In- und Ausland kritisiert. Im Ausland wird insbesondere die wettbewerbsverzerrende Wirkung der Agrarpolitik bemängelt, die <?page no="179"?> 180 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration EU-Agrarpolitik verdränge leistungsstarke Exporteure anderer Länder und substituiere einheimische Produktion in Entwicklungsländern. Die Kritik entzündet sich auch daran, dass die EU zu wenig in Zukunftstechnologien investiert. Die EU-Agrarpolitik wird häufig als intransparent gesehen. In osteuropäischen Ländern wird darauf verwiesen, die Agrarpolitik trage zu wenig den Bedürfnissen ihrer Landwirtschaft Rechnung. Kritiker fordern von der EU eine stärkere Orientierung an Prinzipien der Nachhaltigkeit. Der Status quo der EU-Agrarpolitik sei der Macht der Agrarindustrie und der häufig auf großbäuerliche Interessen ausgerichteten Bauernverbände geschuldet. Verschiedentlich wird eine Rückverlagerung agrarpolitischer Verantwortung auf die nationale Ebene gefordert. Die EU-Agrarpolitik muss sich aus Sicht der Kritik deutlich ändern. 7.6 Wichtige Begriffe Marktorganisation Gemeinschaftspräferenz Produktivitätssteigerungen Externalitäten Marktordnung Interventionspreis Einkommensbeihilfen Biodiversität räumliche Entwicklung 7.7 Literatur Bundesministerium der Finanzen (2012): Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), Internet: http: / / www.bundesfinanzministerium.de/ Web/ DE/ Themen/ Europa/ EU_auf_ einen_Blick/ Politikbereiche_der_EU/ EU_Agrarpolitik/ eu_agrarpolitik.html Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (2014): Geschichte der Gemeinsamen Agrarpolitik, Internet: http: / / www.bmel.de/ DE/ Landwirtschaft/ Agrarpolitik/ _Texte/ GAP-Geschichte.html Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2013): Preisvolatilität und Spekulation auf den Märkten für Agrarrohstoffe, Berlin Bundesministerium der Finanzen (2012): Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), Internet: http: / / www.bundesfinanzministerium.de/ Content/ DE/ Standardartikel/ Theme n/ Europa/ EU_auf_einen_Blick/ Politikbereiche_der_EU/ EU_Agrarpolitik/ 201 2-03-21-ueberblick-gemeinsame-agrarpolitik.html Cooper, T./ Hart, K./ Baldock, D. (2009): „The Provision of Public Goods through Agriculture in the European Union“, Report Prepared for DG Agriculture and <?page no="180"?> Literatur 181 www.uvk-lucius.de/ integration Rural Development, Contract No 30-CE-0233091/ 00-28, Institute for European Environmental Policy: London 2009 European Commission (2009): Why do we need a Common Agricultural Policy? Discussion paper by DG Agriculture and Rural Development, Brüssel European Commission (2011): „The CAP in perspective: from market intervention to policy innovation“, Agricultural Policy Perspectives Briefs, Brief n o 1 rev, Internet: http: / / ec.europa.eu/ agriculture/ analysis/ perspec/ app-briefs/ index_en.htm European Commission (2013): Overview of CAP reform 2014-2020, Agricultural Policy Perspectives Brief, N o 5, December 2013, Internet: http: / / ec.europa.eu/ agriculture/ policy-perspectives/ policy-briefs/ 05_en.pdf Europäische Kommission (2010): Die GAP bis 2020: Nahrungsmittel, natürliche Ressourcen und ländliche Gebiete - die künftigen Herausforderungen. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen KOM(2010) 672/ 5, Brüssel European Commission (2014): CAP post-2013: Key graphs & figures, Internet: ec.europa.eu/ agriculture/ cap-post-2013/ graphs/ index_en.htm Jovanovi , Miroslav N. (2013): The Economics of European Integration, 2 nd ed., Cheltenham, Northampton Köster, Ulrich (2010): Grundzüge der landwirtschaftlichen Marktlehre, 4. Auflage, München Köster, Ulrich/ El-Agraa, Ali (2007): The Common Agricultural Policy, in: El-Agraa, A. M. (Hrsg.): The European Union. Economics and Policies, 8 th ed., Cambridge, S. 373-410 Von Cramon-Taubadel, Stephan/ Heinemann, Friedrich/ Misch, Florian/ Weiss, Stefani (2013): „Does the CAP cap agricultural spending in the EU? “, in: Bertelsmann-Stiftung: The European Added Value of EU Spending: Can the EU Help its Member States to Save Money? Exploratory Study, Gütersloh/ Brüssel, S. 36-55 Wagener, Hans-Jürgen/ Eger, Thomas (2014): Europäische Integration. Wirtschaft und Recht, Geschichte und Politik, 3. Auflage, München, Verlag Franz Vahlen Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2012): Ernährungssicherung und nachhaltige Produktivitätssteigerung. Stellungnahme, Berlin <?page no="181"?> 182 7 Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union Wissenschaftlicher Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (2010): EU-Agrarpolitik nach 2013. Plädoyer für eine neue Politik für Ernährung, Landwirtschaft und ländliche Räume. Gutachten, Berlin <?page no="182"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 8 Kohäsion in der Europäischen Union und die Bedeutung der Regionalpolitik Leitfragen Welche Empfehlung gibt die neoklassische Wirtschaftstheorie hinsichtlich der Kohäsion in Wirtschaftsräumen? Wie begründet die EU die Notwendigkeit der Regionalpolitik in der EU? Wie lässt sich die Architektur der Regionalpolitik beschreiben? Welche kritischen Einwände gegen die Regionalpolitik werden diskutiert? 8.1 Einführung In der Präambel des Lissabon-Vertrages wird das Selbstverständnis der Union als Gemeinschaft mit Blick auf regionale Disparitäten deutlich artikuliert: Die EU will den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt, d.h. die Kohäsion in der Union, fördern. Die Lebensverhältnisse in der EU sollen durch geringe regionale Unterschiede des Entwicklungsstands gekennzeichnet sein, der Abstand zwischen den verschiedenen Regionen soll reduziert werden, ein besonderes Augenmerk erhalten die am wenigsten begünstigten Gebiete. Eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes wird angestrebt. Die Union bekennt sich zur solidarischen Unterstützung der schwächsten Mitgliedstaaten. Auch in der Bundesrepublik Deutschland hat ein solches Bekenntnis Tradition. Im Grundgesetz wird auf die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse hingewiesen (Artikel 72, Absatz 2 GG). Zahlreiche Indikatoren stehen zur Verfügung, um den Entwicklungsstand und die Qualität der Lebensverhältnisse zu erfassen und vergleichbar zu machen, und damit Handlungsbedarf für die Union zu identifizieren. Die Betrachtung der Unterschiede des Bruttoinlandsproduktes pro Kopf ist trotz der Kritik an dem Konzept hilfreich und üblich. Abb. 8-1 zeigt für ausgewählte Länder und für den Zeitraum 1996-2012 die Entwicklung des durchschnittlichen Bruttoinlandsproduktes pro Kopf. Die Werte sind im Vergleich zu dem Durchschnitt der EU-28 angegeben und basieren auf den Daten, die um Kaufkraftunterschiede in den Ländern bereinigt wurden (Kaufkraftparitäten). <?page no="183"?> 184 8 Kohäsion in der Europäischen Union und Bedeutung der Regionalpolitik www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 8-1: Konvergenz der Lebensverhältnisse in sechs Mitgliedstaaten der EU, EU-28 = 100. Quelle: Eurostat 2014 Der Abstand zwischen den reichen Ländern und den ärmeren Ländern ist in diesem Zeitraum tendenziell gesunken. Die am Beispiel von sechs Ländern gezeigte Entwicklung kann verallgemeinert werden und wird durch zahlreiche empirische Beobachtungen gestützt: Die ärmeren Staaten der Union konnten infolge eines Wachstums des Pro-Kopf-Einkommens, das höher als in den reichen EU-Staaten ausfiel, den Entwicklungsrückstand verringern, die Unterschiede im Entwicklungsniveau sind gesunken. Gleichwohl bleiben die Unterschiede substantiell, gemessen in Kaufkraftparitäten beträgt beispielsweise das BIP pro Kopf in dem reichsten Land der EU, in Luxemburg, das 5,6-fache des Wertes in Bulgarien, dem ärmsten Land der EU. Ein Indikator, der einen Hinweis auf die langfristigen Wachstumsperspektiven zu geben vermag, ist die Innovationsorientierung, die beispielsweise durch die Ausgaben (pro Kopf) für Forschung und Entwicklung oder die Zahl der Patentanmeldungen erfasst werden kann. Die Europäische Kommission hat für den Zeitraum 2006-2013 vier Länder als Innovationsführer identifiziert (Dänemark, Finnland, Deutschland und Schweden). In der Schlussgruppe der „bescheidenen Innovatoren“ finden sich Bulgarien, Lettland und Rumänien (vgl. Europäische Kommission 2014a). Gemäß den Annahmen der Wachstumstheorie ist die Kohäsion für jene Länder, in denen Innovationsimpulse schwach ausgeprägt sind, auch mittelfristig gefährdet. Ein anderer Indikator, der ein Schlaglicht auf die Lebensverhältnisse wirft und für die Bewertung des Zusammenhalts in der Union Verwendung findet, ist die Arbeitslosenquote. Nach der historischen Umwälzung in Europa in den 1990er- Jahren war die Arbeitslosigkeit in osteuropäischen Ländern ein schwerwiegendes 0 20 40 60 80 100 120 140 2002 2004 2006 2008 2010 2012 Deutschland Vereinigtes Königreich Spanien Griechenland Polen Litauen <?page no="184"?> 5.6 Einführung 185 www.uvk-lucius.de/ integration Problem. Hier kam es mittlerweile zu einer deutlichen Entspannung. Die Eurokrise hat seit 2008 zu einem erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit vor allem in Ländern Südeuropas geführt. Die folgende Abb. 8-2 zeigt die Verteilung der Arbeitslosigkeit im Jahr 2013. Abb. 8-2: Arbeitslosigkeit in der EU, Ende 2013 Quelle: Eurostat 2014 Die fünf Länder mit der höchsten Arbeitslosenquote liegen im Süden Europas: Griechenland, Spanien, Kroatien, Zypern, Portugal. In Griechenland ist nicht allein die allgemeine Arbeitslosenquote, sondern auch die Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen im Vergleich zu anderen europäischen Ländern am höchsten. Der Zusammenhalt in der Union kann nicht nur durch Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch durch Entwicklungsunterschiede zwischen den Regionen der Mitgliedstaaten bedroht werden. Die folgende Abb. 8-3 zeigt die Spannbreite der durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen, demonstriert am Unterschied zwischen den Regionen mit dem höchsten und dem niedrigsten Wert. 0 5 10 15 20 25 30 Österreich Deutschland Luxemburg Tschechische Republik Malta Dänemark Niederlande Rumänien Vereinigtes Königreich Schweden Belgien Frankreich Estland Ungarn Polen Slowenien EU 28 Frankreich Litauen EU 17 Irland Lettland Italien Bulgarien Slowakei Portugal Zypern Kroatien Spanien Griechenland <?page no="185"?> 186 8 Kohäsion in der Europäischen Union und Bedeutung der Regionalpolitik www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 8-3: Einkommensunterschiede innerhalb der EU-Mitgliedstaaten nach Regionen, 2011. Quelle: Eurostat 2014 Abb. 8-3 zeigt die erheblichen regionalen Unterschiede auf, die im Vereinigten Königreich am stärksten ausgeprägt sind. Viele mit unterschiedlichen Messmethoden (Theil-Index, Gini-Index etc.) arbeitende empirische Studien zeigen, dass die Ungleichheit der Lebensverhältnisse innerhalb der Nationen der EU generell nicht abgenommen hat und von einer Konvergenz der Lebensverhältnisse in dieser Hinsicht nicht gesprochen werden kann (siehe z.B. Pelkmans 2006, S. 345-346, Baldwin/ Wyplosz 2012, Economist 2011). Insofern gibt es simultan eine Konvergenz zwischen den Ländern, ohne dass in den Ländern die Ungleichheit abnimmt. Box 8-1: Konvergenzkonzepte Konvergenz bedeutet, dass es zu einer Angleichung in der Wirtschaftskraft zwischen den Mitgliedstaaten der EU über die Zeit hinweg kommt. Mit der Sigma-Konvergenz und der Beta-Konvergenz liegen zwei Messkonzepte vor. Abb. 8-4 zeigt schematisch, dass sich die Variation der realen Pro-Kopf- Einkommen (y) in den Mitgliedstaaten zwischen den beiden Zeitpunkten t und t + T verringert. Da die Streuung einer Größe anhand ihrer Standardabweichung (Symbol: ) gemessen wird, liegt Sigma-Konvergenz vor. <?page no="186"?> Einführung 187 www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 8-4: Schematische Darstellung der -Konvergenz Soweit sich im Zuge der wirtschaftlichen Entwicklung auch der Durchschnittswert der Pro-Kopf-Einkommen verändert, wird auf den Variationskoeffizienten als Maß für die Streuung relativ zum Mittelwert zurückgegriffen. Abb. 8-4 enthält den Variationskoeffizienten des realen BIP pro Kopf der EU-15-Staaten im Zeitraum zwischen 1950 und 2012. Während die Entwicklung der Einkommensdisparität bis zur Mitte der 1990er-Jahre eine fallende Tendenz aufweist, scheint sich ab 2009/ 2010 die Streuung der Pro-Kopf-Einkommenswerte wieder zu erhöhen (vgl. Goecke 2013, S. 7). Auch andere Untersuchungen gelangen zu vergleichbaren Ergebnissen (vgl. Monfort 2008). Abb. 8-5: Variationskoeffizient des realen BIP pro Kopf der EU-15-Staaten. Quelle: Goecke 2013, S. 7. Zeit t t + T t + T t Pro-Kopf- Einkommen <?page no="187"?> 188 8 Kohäsion in der Europäischen Union und Bedeutung der Regionalpolitik www.uvk-lucius.de/ integration Gegenüber der -Konvergenz stellt die (unbedingte) Beta-Konvergenz auf die negative Korrelation zwischen den Wachstumsraten des BIP pro Kopf und dem Ausgangsniveau des BIP pro Kopf ab. Eine konvergente Entwicklung bedeutet, dass die Länder mit geringerem Pro-Kopf-Einkommen eine höhere Wachstumsrate aufweisen müssen als Länder mit einem höheren Pro-Kopf-Einkommen. In einer Gleichung mit der Wachstumsrate des BIP pro Kopf als abhängige Variable und dem (logarithmierten) BIP pro Kopf als unabhängige Variable werden Betrag und Vorzeichen des Regressionsparameters (Symbol: ) der unabhängigen Variablen geschätzt. In Abb. 8-6 ist die entsprechende Regressionsgerade für den Zeitraum 1950-2012 für die EU-15-Länder ausgewiesen, mit der ein Konvergenzprozess dokumentiert wird. Abb. 8-6: Durchschnittliche Wachstumsrate des realen BIP pro Kopf der EU-15- Staaten zwischen 1950 und 2012 in Abhängigkeit vom Logarithmus des BIP pro Kopf 1950. Quelle: Goecke 2013, S. 5. Weitere Schätzungen für verschiedene Zeitabschnitte zeigen aber auch, dass sich die Konvergenzgeschwindigkeit über den betrachteten Zeitraum vermindert. Die Eurokrise hat darüber hinaus in Erinnerung gerufen, dass die wachsende Arbeitslosigkeit, insbesondere auch bei jungen Menschen, den Zusammenhalt gefährdet. In manchen Ländern ist der Anteil der Bevölkerung, der durch Armut bedroht ist, deutlich gestiegen. Die Unzufriedenheit mit der Politik, sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in der Europäischen Union reflektiert dieses Wachstum BIP/ Kopf Griechenland Portugal Spanien Irland Finnland Italien ÖsterreichDeutschland Belgien Frankreich Niederlande UK Schweden Dänemark Luxemburg 4,0 3,5 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 7,5 7,7 7,9 8,1 8,3 8,5 8,7 8,9 9,1 <?page no="188"?> Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union 189 www.uvk-lucius.de/ integration wachsende Problem. Kohäsion stellt für die Union eine bisher nicht befriedigend gelöste Aufgabe dar. 8.2 Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union Kohäsion zählt zu den gemeinsam verabredeten Zielen der Union. Folgt man der Logik, dass Kohäsion abhängig von gleichen Lebensverhältnissen in allen Regionen der EU ist, ist nachfolgend zu klären, welche Handlungsempfehlungen daraus für die Wirtschaftspolitik abgeleitet werden können. Dabei kann die Frage, welches wirtschaftspolitische Handeln geeignet ist, um die Gleichheit der Lebensverhältnisse in einem Wirtschaftraum herbeizuführen, sehr unterschiedlich beantwortet werden. Die Antwort ist unter anderem abhängig von der Einschätzung der Wirkungsweise der Märkte, der Potenz staatlichen Handelns und der als verantwortlich angesehenen Ebene. Die beste Kohäsionspolitik ist Ordnungspolitik und Vertrauen in die marktgetriebenen Prozesse Aus einer neoklassischen Sicht kann argumentiert werden, dass die wirtschaftlichen Anpassungsprozesse stark genug sind, zu einer Gleichheit der Lebensbedingungen zu führen (vgl. Heinemann 2009, S. 8). Notwendig ist die Schaffung funktionierender Märkte, Zugänge zu Produktionsfaktoren müssen ermöglicht werden, eine interventionistische auf Kohäsion ausgerichtete Politik ist nicht erforderlich. Kohäsion findet dort statt, wo Staaten die richtigen Anreize für die Wirtschaftsakteure setzen, verlässliche Grundlagen für Investitionen schaffen, Löhne die Produktivität der Arbeitnehmer widerspiegeln, wo Unternehmen die Möglichkeiten, die sich an den Standorten bieten, nutzen können. In funktionierenden Märkten, so die Überzeugung jener, die diese Position vertreten, kommt es zu Anpassungsprozessen bei Löhnen und damit den Einkommen. Die Theorie der komparativen Kostenvorteile und das Heckscher- Ohlin-Theorem (siehe auch das Kapitel 6) beschreiben die Wirkungsweise der Marktmechanismen, welche die Attraktivität von zunächst unterentwickelten Regionen heben können und damit zur Kohäsion beitragen. Gemäß der Theorie spezialisieren sich Länder und auch Regionen auf jene Güter und Dienstleistungen, die von dem Produktionsfaktor Gebrauch machen, der reichhaltig vorhanden ist. Kommt es in einer weit vom Zentrum entfernten Region zu hoher Arbeitslosigkeit und nicht zur Migration der Arbeitskräfte, sinken tendenziell die Löhne und machen die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, die diesen Produktionsfaktor nutzen, wieder attraktiv. Unternehmen nutzen diese <?page no="189"?> 190 8 Kohäsion in der Europäischen Union und Bedeutung der Regionalpolitik www.uvk-lucius.de/ integration Kostenunterschiede und sorgen mittelfristig für einen Anstieg der Lebensbedingungen. Es kommt zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse. Kohäsion bedarf gezielter wirtschaftspolitischer Interventionen Die alternative Sicht betont, dass eine gezielte Kohäsionspolitik erforderlich ist und die Schaffung von Rahmenbedingungen nicht ausreicht, da die Marktkräfte und Marktprozesse entweder den Ausgleich der Lebensverhältnisse nicht herbeiführen, oder dies nur in langen sozial und politisch nicht akzeptablen Zeiträumen erreicht wird. Eine gezielte Politik zur Herstellung der Kohäsion ist notwendig. Die Argumentation rekurriert dabei auf mehrere theoretische Überlegungen. Kohäsion und infrastrukturelle Vorleistungen des Staates Zunächst wird auf die klassische Funktion des Staates verwiesen, die infrastrukturelle Basis für Wachstum und Entwicklung zu garantieren. Der Staat muss Bildungsinvestitionen tätigen, er muss die physische Infrastruktur schaffen (vgl. Aschauer 1989). Der Staat hat mit seinen Investitionen die Externalitäten zu berücksichtigen, die im Kalkül der privaten Investoren nicht ausreichend bedacht werden. Regionalpolitik ist somit klassische staatliche Wirtschaftspolitik und unerlässlich, um ein nachhaltiges Wachstum zu erzeugen. Kohäsion und Clusterbildung Mit Verweis auf die „neue Wirtschaftsgeografie“ wird auf die Tendenz zur geografischen Konzentration wirtschaftlicher Aktivitäten verwiesen (vgl. Heinemann 2009, S. 8-9). Insbesondere die Beiträge von Paul Krugman zur Neuen Wirtschaftsgeographie und Michael Porter zu den Bedingungen der Herausbildung von Clustern haben die volkswirtschaftliche Diskussion über die Voraussetzungen erfolgreicher ökonomischer Entwicklung und der Bedeutung regionaler Wirtschaftspole belebt. Ökonomen befassen sich heute verstärkt mit den Prozessen, welche das Entstehen von Räumen wirtschaftlicher Konzentration erklären können. Es lassen sich Cluster allgemeiner Konzentration (z.B. Paris oder Hamburg) von Clustern mit speziellem Fokus (z.B. Automobilindustrie in Baden-Württemberg) unterscheiden. Weiterhin kann man nach Clustern mit einem zentralen „Ankerunternehmen“ (VW in Wolfsburg) und Clustern mit zahlreichen starken auch im Wettbewerb stehenden Akteuren (Finanzzentrum London oder Frankfurt/ Main) unterscheiden. In manchen Fällen ist die Entstehung des Clusters Ergebnis gezielter Wirtschaftsförderung, in anderen Fällen ist das Clusterergebnis unabhängig von staatlichen Initiativen entstanden. <?page no="190"?> Theoretische Überlegungen zur Kohäsion in der Union 191 www.uvk-lucius.de/ integration Box 8-2: Die Neue Wirtschaftsgeografie Die Neue Wirtschaftsgeografie beschreibt die Kräfte, welche die weitere Konzentration unterstützen (Agglomerationskräfte) oder dieser entgegenstehen (Streuungskräfte). Die Agglomerationskräfte Positive geografisch begrenzte externe Effekte der Produktion unterstützen die Clusterbildung ebenso wie das Vorhandensein eines großen spezifischen Arbeitsmarktes (Arbeitskräftepool). Die Agglomeration wird ebenso über die Nachfrage unterstützt, die durch vermehrte Beschäftigung in einer Region entsteht und es für andere Unternehmen attraktiv machen, dort zu investieren. Die Streuungskräfte Löhne und Mieten in Ballungsräumen sorgen für eine umgekehrte Entwicklung. Mit wachsender Attraktivität des Agglomerationsraums kommt es zu Lohn- und Preissteigerungen. Diese haben zur Folge, dass Unternehmen ihre Standortentscheidung überdenken und es in einigen Fällen zur Verlagerung der Industrie in andere Regionen kommt. Schlussfolgerungen für die Regionalpolitik In vielen Regionen bemüht sich die Wirtschaftsförderung einerseits gezielt um die Schaffung günstiger Bedingungen für die Entwicklung von Clustern. In einigen Fällen soll die Ansiedlung eines Ankerunternehmens den Nachzug weiterer Produzenten herbeiführen. Andererseits lässt sich kritisch einwenden, dass staatliche Institutionen über kein besonderes Wissen über die Dynamik von Clusterbildung verfügen, eine gezielte Förderung mithin problematisch ist. Kohäsion und Sozialkapital Ein anderer theoretischer Ansatz, der ebenfalls zu erklären sucht, weshalb es zu dauerhaften persistenten Entwicklungsunterschieden kommt, stellt auf die Bildung von „Sozialkapital“ ab. Dieses in verschiedenen Varianten in der Ökonomie und anderen Sozialwissenschaften reflektierte Phänomen des Vorhandenseins von Vertrauen, von Stabilität der sozialen Beziehungen in bestimmten Kontexten sucht zu erklären, warum es an bestimmten Orten zur Expansion kommt und an anderen nicht. Sozialkapital lässt sich als der Wert der sozialen Netzwerke für wirtschaftliche Entwicklung betrachten (vgl. Putnam 2000a). <?page no="191"?> 192 8 Kohäsion in der Europäischen Union und Bedeutung der Regionalpolitik www.uvk-lucius.de/ integration Kontexten sucht zu erklären, warum es an bestimmten Orten zur Expansion kommt und an anderen nicht. Sozialkapital lässt sich als der Wert der sozialen Netzwerke für wirtschaftliche Entwicklung betrachten (vgl. Putnam 2000a). Sozialkapital kann Ergebnis der Erwartung einer Gegenleistung für eine Handlung sein („spezifischer Reziprozität“). Wichtig ist auch die „generelle Reziprozität“: Personen erbringen eine Vorleistung, ohne dass sie unmittelbar konkrete Gegenleistungen erwarten. Dies erfolgt gleichwohl in der Erwartung, dass andere ebenso handeln und in der langen Frist die erbrachte Vorleistung auch andere Personen veranlasst, so zu handeln. Je mehr eine Gesellschaft durch generelle Reziprozität gekennzeichnet ist, desto eher kommt es zur wirtschaftlichen Entwicklung (vgl. Putnam 2000a, S. 21). Sozialkapital kann zwischen Akteuren entstehen, die in homogenen Gruppen eng miteinander arbeiten („verbindendes Sozialkapital“), und zwischen Menschen und Gruppen, die durch die Kooperation zusammengebracht werden („überbrückendes Sozialkapital“) (vgl. Putnam 2000b, S. 96). Die Überlegungen zu der Bedeutung des Sozialkapitals können für die Entwicklung einer erfolgreichen Kohäsionspolitik nutzbar gemacht werden: Nicht der Aufbau der physischen Infrastruktur, der Straßen, der Flughäfen, der Industriegebiete ist entscheidend für die Entwicklung von Regionen, sondern die Schaffung von Bedingungen für Vertrauen, für intakte Netzwerke, für das Wirken sozialer Gruppen, die gemeinsam an der Entwicklung einer Region arbeiten. Dies ist im Vergleich zur Schaffung der physischen Infrastruktur eine ungleich schwerere Aufgabe. Verständnisfrage: Nehmen Sie die Position eines Kritikers der Kohäsionspolitik ein und argumentieren Sie, dass es einer gezielten Kohäsionspolitik nicht bedarf. Die Verantwortung für die Kohäsion in einer Mehrebenenpolitik Wird eine gezielte Förderpolitik als notwendig erachtet, ist die Frage zu klären, welche institutionelle Ebene damit betraut werden soll. Während tendenziell Konsens besteht, dass die Konzipierung und Umsetzung in den regionalen Verantwortungsbereich fällt, ist die Frage nach der Verantwortung insgesamt und der Finanzierung weniger leicht zu beantworten. Die Theorie des Fiskalischen Föderalismus kann hinsichtlich der Frage des Designs und der Umsetzung der Politik Orientierung geben. Haben die regionalpolitischen Maßnahmen starke externe Effekte, sind sie nur in koordinierten Aktionen sinnvoll, eine zentrale Steuerung der Regionalpolitik ist dann sinnvoll. Hat hingegen die höhere Ebene kein ausreichendes Wissen über den Bedarf an <?page no="192"?> Kohäsion und Regionalpolitik 193 www.uvk-lucius.de/ integration Box 8-3: Pro und Kontra supranationale Verantwortung für regionale Disparitäten Pro supranationale Verantwortung: Mehrere Argumente werden von den Befürwortern einer supranational finanzierten Kohäsionspolitik vorgebracht: Es ist ethisch geboten, den Menschen in weniger entwickelten Gebieten vergleichbare Lebensverhältnisse zu ermöglichen; die Solidarität in Europa erfordert die Unterstützung; es ist auch im wohlverstandenen Eigeninteresse aller Europäer, da schwierige Lebensbedingungen in weniger entwickelten Regionen Spannungen in der Union produzieren. Die Migration in überlastete Agglomerationsräume ist nicht wünschenswert. Die Zufriedenheit mit der Politik der EU ist auch abhängig davon, dass regionale Unterschiede gering sind. Kontra supranationale Verantwortung: Die Staaten oder die Regionen sind grundsätzlich gemäß dem Subsidiaritätsprinzip für die Gestaltung ihres Schicksals verantwortlich. Sie aus ihrer Verantwortung zu entlassen, sorgt für Fehlanreize. Wenn in Mitgliedstaaten der Union die Bekämpfung der regionalen Ungleichheit eine niedrige politische Priorität hat, dann kann es nicht Aufgabe der Union sein, hier tätig zu werden. Der Wettbewerb der Länder oder Regionen um die beste Politik ist ein starker Mechanismus, um innovative Wege zu identifizieren. 8.3 Kohäsion und Regionalpolitik Der Begriff „Kohäsionspolitik“ bezeichnet den politischen Rahmen für Maßnahmen zur Sicherung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts in der Union und der Solidarität auf europäischer Ebene. Seit vielen Jahren ist Kohäsion nach der Agrarpolitik der wichtigste Etatposten, in diesen Bereich fließen rund ein Drittel der Haushaltsmittel der EU (vgl. Europäische Kommission 2011). 8.3.1 Politische Interessen Die grundlegende Entscheidung für eine gezielte Politik zur Unterstützung von Anpassungsprozessen in Regionen mit Entwicklungsdefiziten fiel bereits während der Verhandlungen über den Vertrag von Rom, als Italien auf Unterstützung für unterentwickelte Regionen drang: Der „Europäische Sozialfonds“ wurde geschaffen. Einen weiteren Schritt auf dem Weg zu einer ausdifferenzier- <?page no="193"?> 194 8 Kohäsion in der Europäischen Union und Bedeutung der Regionalpolitik www.uvk-lucius.de/ integration ten Regionalpolitik stellten die Verhandlungen im Rahmen der ersten Erweiterungsrunde dar: Auf Drängen des Vereinigten Königreichs wurde 1975 der „Europäische Fonds für Regionale Entwicklung“ geschaffen. Mit der Aufnahme weiterer Mitglieder aus dem Süden Europas in den 1980er-Jahren wuchs das politische Gewicht jener Länder, die wenig Interesse an dem Zugriff auf die Mittel aus der Agrarpolitik hatten, sondern stattdessen regionalpolitische Unterstützung einforderten. Mit der großen Erweiterung der EU im Jahr 2004 war in vielen Ländern der EU eine vergleichbare politökonomische Interessenlage gegeben: Die absolute Ausweitung der Mittel für Regionalpolitik und ihr relativer Anteil an den Gesamtausgaben der EU wie auch die konkrete Ausgestaltung der Mittel ist ohne die politökonomische Konstellation und ohne das Abstimmungssystem im Rat der Europäischen Union, welches den betroffenen Ländern implizit eine Vetomacht ermöglichte, nicht zu verstehen (vgl. Baldwin/ Wyplosz 2012). 8.3.2 Rechtliche Grundlagen Die wichtigsten Regelungen zur Regional- und Kohäsionspolitik finden sich in Artikel 174-178 AEUV. Die Union verpflichtet sich zu einer Politik zur „Stärkung ihres wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts, um eine harmonische Entwicklung der Union als Ganzes zu fördern“ (Artikel 174 AEUV). Unterschiede des Entwicklungsstands der Regionen und der Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete sollen verringert werden. Während in Artikel 174 und 175 AEUV die Ziele und Mittel der Kohäsionspolitik geregelt sind, finden sich die Rechtsgrundlagen der in der Kohäsionspolitik wichtigen Fonds in Artikel 176-178, 162-164 und Artikel 40 AEUV. Mehrere Verordnungen regeln detailliert die Umsetzung der Kohäsionspolitik und die Regeln für die Verwendung der Mittel. In einer übergreifenden Verordnung sind die allgemeinen Regelungen für die Verausgabung der Mittel festgelegt, weitere Verordnungen legen detailliert fest, wie die Programme zu planen sind, welche Kontroll- und Berichterstattungsinstrumente zum Einsatz kommen. Wie in anderen Politikbereichen hat der Europäische Rat die Funktion, die strategischen Leitlinien festzulegen. Der Ministerrat und das Parlament sind gemeinsam für die Konzeption verantwortlich, die Kommission ist die zentrale Institution in der Umsetzung. Daneben ist für dieses Politikfeld der Ausschuss der Regionen essentiell. Er hat in vielen Feldern Mitgestaltungsrechte. <?page no="194"?> Kohäsion und Regionalpolitik 195 www.uvk-lucius.de/ integration 8.3.3 Regionalpolitik und Marktprozesse Die Bedeutung der allgemeinen wirtschaftspolitischen Rahmensetzungen für Kohäsion wird in Artikel 175 herausgestellt: „Die Mitgliedstaaten führen und koordinieren ihre Wirtschaftspolitik in der Weise, dass auch die in Artikel 174 genannten Ziele erreicht werden“. Bei der Gestaltung der Binnenmarktpolitik, der Wettbewerbspolitik und vieler anderer Politikfelder sollen die regionalpolitischen Implikationen bedacht werden. So soll beispielsweise die Freiheit des Kapitalverkehrs dazu beitragen, dass ausländische Direktinvestitionen die Spezialisierungspotentiale, die in Regionen vorliegen, ausnutzen können, wenn etwa einheimischen Unternehmern der Zugang zu Kapital oder sonstigen komplementären Inputs fehlt. 8.3.4 Gezielte Regionalpolitik Wenn allerdings die allgemeine Wirtschaftspolitik nicht ausreicht, die Ungleichheiten zu beseitigen, so verpflichtet sich die Union zur gezielten Hilfe für die weniger entwickelten Gebiete. „Die Union unterstützt auch diese Bemühungen durch die Politik, die sie mithilfe der Strukturfonds (Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtshaft - Abteilung Ausrichtung, Europäischer Sozialfonds, Europäischer Fonds für regionale Entwicklung), der Europäischen Investitionsbank und der sonstigen vorhandenen Finanzierungsinstrumente führt“ (Artikel 175 AEUV). Das Oberziel der Regionalpolitik ist ihr Beitrag zu den Europa 2020-Zielen. Projekte, die im Rahmen der Kohäsionspolitik realisiert werden, sollen das von der EU angestrebte intelligente, nachhaltige und integrative Wachstum befördern. Die Prioritäten und Aktionsfelder der Europa 2020-Strategie sind daher bestimmend für die Regionalpolitik, diese soll keinesfalls eine reine Umverteilung von Mitteln sein. Konkrete Zielvorgaben der Regionalpolitik sind ihr Beitrag zu „Investieren in Wachstum und Beschäftigung“ und „Europäische territoriale Zusammenarbeit“. Box 8-4: Die fünf EU-Kernziele für das Jahr 2020 Beschäftigung (75% der 20bis 64-Jährigen sollen in Arbeit stehen). Forschung und Entwicklung (3% des BIP der EU sollen für Forschung und Entwicklung aufgewendet werden). Klimawandel und nachhaltige Energiewirtschaft (Verringerung der Treibhausgasemissionen um 20% gegenüber 1990; Erhöhung des An- <?page no="195"?> 196 8 Kohäsion in der Europäischen Union und Bedeutung der Regionalpolitik www.uvk-lucius.de/ integration teils erneuerbarer Energien auf 20%; Steigerung der Energieeffizienz um 20%). Bildung (Verringerung der Schulabbrecherquote auf unter 10%; Steigerung des Anteils der 30bis 34-Jährigen mit abgeschlossener Hochschulbildung auf mindestens 40%). Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung (die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffenen oder bedrohten Menschen soll um mindestens 20 Millionen gesenkt werden. Quelle: Europäische Kommission 2014b, S. 14-16. Die Umsetzung der Regionalpolitik erfolgt im Rahmen spezieller Fonds: Der Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE), der Kohäsionsfonds und der Europäische Sozialfonds (ESF). Der größte Teil der für die Kohäsionspolitik vorgesehenen Mittel ist für „weniger entwickelte Regionen“ vorgesehen, d.h. Regionen mit einem Durchschnittseinkommen von weniger als 75% des EU-Durchschnitts. Übergangsregionen mit 75-90% des EU-Durchschnittseinkommens profitieren ebenfalls von spezieller Förderung, allerdings in deutlich geringerem Umfang. Schließlich sind auch Mittel für stärker entwickelte Regionen mit einem Durchschnittseinkommen von mehr als 90% vorgesehen. In der Förderperiode 2014-2020 sind für weniger entwickelte Regionen 164 Mrd. EUR vorgesehen, für Übergangsregionen 32 Mrd. EUR und für stärker entwickelte Regionen 49 Mrd. EUR. Periode 2014-2020 Zielvorgaben Regionenkategorie Fonds Investieren in Wachstum und Beschäftigung weniger entwickelte Regionen EFRE ESF Übergangsregionen Kohäsionsfonds stärker entwickelte Regionen EFRE ESF Europäische territoriale Zusammenarbeit EFRE Abb. 8-7: Architektur der Kohäsionspolitik. Quelle: Europäische Kommission 2011, S. 14. <?page no="196"?> Evaluation der Kohäsionspolitik 197 www.uvk-lucius.de/ integration Um die Regionalpolitik umzusetzen, erarbeiten die Mitgliedstaaten, die finanzielle Mittel aus den Fonds nutzen wollen, Partnerschaftsvereinbarungen. In diesen wird die Strategie des Landes zur Förderung der Kohäsion dargelegt und eine Liste von Programmen vorgeschlagen. Nach einer Prüfung durch die Kommission und unter Umständen notwendigen Änderungen werden diese Programme fest vereinbart und dann von den Mitgliedstaaten und den Regionen umgesetzt (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2014). Für die Umsetzung der Regionalpolitik orientiert sich die Union an „Förderprinzipien“ wie etwa der Konzentration der Mittel auf die ärmsten Regionen, mehrjährige Programmplanung und partnerschaftliche Abstimmungsverfahren, Zusätzlichkeit und Ko-Finanzierung, Komplementarität, Koordinierung und Konformität mit den Prioritäten der Europa 2020-Strategie, der Subsidiarität und Nachhaltigkeit. Europäische territoriale Zusammenarbeit Spezielle Fördermaßnahmen für die Unterstützung der europäischen territorialen Zusammenarbeit ergänzen das Instrumentarium. 8.4 Evaluation der Kohäsionspolitik Die kontroverse Diskussion über die Kohäsionspolitik wird in der folgenden Gegenüberstellung zusammenfassend dargestellt (vgl. auch Bergemann/ Müller/ Wettach 2014; Heinemann 2009; Armstrong/ Taylor/ Willams 1997, S. 190-198, Economist 2012). Box 8-5: Pro und Kontra EU-Regionalpolitik Pro Regionalpolitik Befürworter der Regionalpolitik sehen in der langfristig beobachtbaren Konvergenz der Lebensverhältnisse in den Mitgliedstaaten einen Beleg für den Erfolg der Politik. Einige unterentwickelte Gebiete haben deutlich aufgeschlossen und belegen die Wirksamkeit der Regionalpolitik. Kontra Regionalpolitik Kritiker verweisen darauf, dass die Entwicklung auch ohne regionalpolitische Förderung so oder ähnlich verlaufen wäre. Einen Beleg für die Wirksamkeit der Politik sehen sie darin nicht. Viele Entwicklungsprozesse wären auch ohne spezielle Förderung erfolgt. Nicht der Vergleich „vorher/ nachher“, sondern „mit/ ohne“ ist relevant. <?page no="197"?> 198 8 Kohäsion in der Europäischen Union und Bedeutung der Regionalpolitik www.uvk-lucius.de/ integration Die Förderung ist ein Akt der Solidarität und konsistent mit dem Geist der europäischen Einigung. Länder werden bei ihren Bemühungen unterstützt, gute Politik zu betreiben. Regionalpolitische Maßnahmen haben durch ihre Akzentsetzung zu Wachstum beigetragen. Die Kontrolle der Verwendung der Mittel ist angemessen. Angesichts des Umfangs der Mittel und der Unterentwicklung einiger Länder und Regionen sind administrative Schwächen unvermeidlich. Das Monitoring wurde verbessert, Sanktionen wurden verhängt, Zahlungen ausgesetzt, wo dies erforderlich war. Die EU hat detaillierte Regelungen verabredet, die für eine ordnungsgemäße Verwendung der Mittel sorgen. Alle Länder profitieren von der Förderung, nicht allein die am wenigsten entwickelten Länder, sondern auch andere Länder, da territoriale Zusammenarbeit gestärkt wird. Die Eigenanstrengungen der Regionen und der Mitgliedstaaten werden durch die Hilfen von außen substituiert. Dies ist nicht „gelebte Solidarität“, sondern schlechte Politik. Die EU höhlt das Subsidiaritätsprinzip aus. Es bleibt authentische Aufgabe der Mitgliedstaaten, innerhalb ihrer Länder für Kohäsion zu sorgen. Viele regionalpolitische Projekte sind durch eine niedrige soziale Rendite geprägt. Die Union hat nur unzureichend aus den Fehlern Konsequenzen gezogen. In einigen Mitgliedstaaten sind schwerwiegende Betrugsfälle bekannt geworden. Die Glaubwürdigkeit der Union hinsichtlich der ordnungsgemäßen Verwendung der Mittel hat gelitten. Die starren Vorgaben für die Verwendung der Mittel aus den Fonds haben zu einem enormen Verwaltungsaufwand geführt, der eine Verschwendung darstellt (vgl. Deutscher Industrie- und Handelskammertag 2006, S. 22). Die „Umverteilungsmaschinerie“ der Regionalpolitik ist kontraproduktiv. Die Zahlungen reicher Länder an die EU, nur um dann später bürokratisch aufwändig wieder Mittel zurückzuerhalten, ist keine kluge Politik. Reiche Länder sollten keine Förderung für Regionalpolitik erhalten (vgl. Economist 2012, Bergemann/ Müller/ Wettach 2014). <?page no="198"?> Schlussbemerkung 199 www.uvk-lucius.de/ integration 8.5 Schlussbemerkung Die Kohäsionspolitik ist neben der Agrarpolitik in fiskalischer Hinsicht das wichtigste Politikfeld der Union. Weniger entwickelte Regionen sehen in der Förderung ein hilfreiches und wichtiges Instrument zur Unterstützung ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Die Konzipierung einer Politik, die hohe soziale Renditen in unterentwickelten Gebieten erzeugt, ist kein einfaches Unterfangen, zumal die Unterentwicklung häufig mit niedrigem Bildungsstand und schlechten Governance-Strukturen einhergeht, Faktoren also, die wiederum die Wirksamkeit der Regionalpolitik beeinträchtigen. Die ständige Überprüfung der Politik, die Anpassung der Schwerpunkte und Instrumente ist eine Reaktion auf die Herausforderung, auf die Probleme und Erfahrungen der Vergangenheit, auf die Kritik. Welches auch immer die Instrumente sind, die erfolgreich sind, das Ziel, in allen Regionen der Union angemessene Lebensverhältnisse zu sichern, bleibt eine wichtige Aufgabe für die Union. 8.6 Wichtige Begriffe Konvergenz Konvergenzkonzepte Einkommensdisparität Ordnungspolitik Regionalpolitik Clusterbildung Neue Wirtschaftsgeografie Sozialkapital Mehrebenenpolitik Kohäsionsfonds EFRE Europäischer Sozialfonds territoriale Zusammenarbeit 8.7 Literatur Armstrong, Harvey/ Taylor, Jim/ Williams, Allan (1997): „Regional Policy“, in: Artis, M. J./ Lee, N. (Hrsg.): The Economics of the European Union - Policy and Analysis, 2. Auflage, Oxford University Press Aschauer, David Alan (1989): „Is public expenditure productive? “, in: Journal of Monetary Economics 23 (1989), S. 177-200 Baldwin/ Wyplocz (2012): The Economics of European Integration, 4. Auflage, London, McGraw-Hill Bergemann, Melanie/ Müller, Stefanie/ Wettach, Silke (2014): „Der Milliardenwahnsinn“, in: WirtschaftsWoche, 3.2.2014, S. 20-25 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2014): Deutsche Partnerschaftsvereinbarung zur Umsetzung der europäischen Struktur- und Investitionsfonds genehmigt. Pressemitteilung vom 22.5.2014 <?page no="199"?> 200 8 Kohäsion in der Europäischen Union und Bedeutung der Regionalpolitik Deutscher Industrie- und Handelskammertag (2006): Europa: unsere Zukunft - Herausforderungen, Chancen, Aufgaben, Berlin 2006 Economist (2011): „Internal affairs“, 12. März 2011 Economist (2012): „Too timid by half“, 1. Dezember 2012 Europäische Kommission (2011): Kohäsionspolitik 2014-2020 - Investieren in Wachstum und Beschäftigung, Luxemburg Europäische Kommission (2014a): Innovation performance: EU Member States, International Competitors and European Regions compared, Memo, Brüssel 4. März 2014, Internet: http: / / europa.eu/ rapid/ press-release_MEMO-14-140_ en.htm? locale=en Europäische Kommission (2014b): Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Bestandsaufnahme der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, Internet: http: / / ec.europa. eu/ europe2020/ index_de.htm Eurostat (2014): Pressemitteilung: Regionales BIP pro Kopf in der EU im Jahr 2011: Sieben Hauptstadtregionen unter den zehn wohlhabendsten Regionen, 27. Februar 2014, STAT/ 14/ 29 Goecke, Henry (2013): „Europa driftet auseinander - Ist dies das Ende der realwirtschaftlichen Konvergenz? “, IW-Trends, Vierteljahreszeitschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, IW-Studie 4/ 2013, S. 1-15 Heinemann, F. (2009): „Über die ökonomische Rechtfertigung regionalpolitischer Interventionen“, in: ZEW Wachstums- und Konjunkturanalysen September 2009, S. 8-9 Monfort, Philippe (2008): „Convergence of EU regions. Measures and evolution“, Working papers No. 01/ 2008, European Union, Regional Policy Pelkmans, Jacques (2006): European Integration - Methods and Economic Analysis, 3. Auflage, Essex, Pearson Putnam, Robert D. (2000a): Bowling alone - The collapse and revival of American community, New York, Simon & Schuster Paperbacks Putnam, Robert D. (2000b): „Niedergang des sozialen Kapitals. Warum kleine Netzwerke wichtig sind für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft“, in: Dettling, Warnfried (2000): Denken, Handeln, Gestalten. Neue Perspektiven für Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt/ Main, Edition Politeia <?page no="200"?> Teil 5: Die Wirtschafts- und Währungsunion <?page no="202"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union Leitfragen Wie hat sich die Währungspolitik in der Nachkriegszeit entwickelt? Welche Lehren lassen sich aus der Theorie der optimalen Währungsunion für die europäische Währungsunion ableiten? Welche institutionellen Strukturen bestimmen die Geldpolitik in der Währungsunion? 9.1 Einführung Die Geld- und Währungspolitik in den Ländern der Europäischen Union ist ganz wesentlich durch die Erfahrungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges geprägt. Sowohl das Bretton-Woods-System als auch das Europäische Währungssystem waren wichtige Vorläufer der Währungsunion. 9.2 Der Weg zur Europäischen Währungsunion Noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in dem US-amerikanischen Bretton-Woods die Eckdaten der Währungsordnung der Nachkriegszeit vereinbart: 1944 wurde ein „Abkommen über den Internationalen Währungsfonds“ unterzeichnet. Ein multilaterales System fester, gegenüber dem US-Dollar fixierter Wechselkurse wurde eingeführt. Die beteiligten Währungen waren konvertibel. Länder waren in ihren wirtschaftspolitischen Zielsetzungen unabhängig. Die an dem System beteiligten Staaten verpflichteten sich zur Aufrechterhaltung der festen Wechselkurse, die festgelegten Paritäten durften jeweils 1% nach oben und unten von dem so festgelegten Kurs abweichen, bevor die Zentralbanken verpflichtet waren, am Devisenmarkt mit Devisenkäufen oder -verkäufen zu intervenieren. Kam es zu erheblichen und dauerhaften Ungleichgewichten in den Leistungsbilanzen der Länder und damit zu Spannungen auf <?page no="203"?> 204 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration dem Devisenmarkt, konnten die Paritäten angepasst werden. Der Internationale Währungsfonds übernahm die koordinierende Rolle in der Währungspolitik. Die Staaten waren grundsätzlich frei, die ihnen angemessen erscheinende Geldpolitik zu verfolgen (vgl. Deutsche Bundesbank 2004). Ende der 1960er-Jahre stiegen die Spannungen in dem System. Die Heterogenität der wirtschaftlichen Entwicklung der beteiligten Länder war groß und führte zur Belastung des Systems. Die Wachstumsraten, die Inflationsraten und Leistungsbilanzsalden innerhalb der Staatengemeinschaft Europas und gegenüber den USA und Japan unterschieden sich erheblich, die US-Wirtschaft war durch den Vietnamkrieg besonderen Herausforderungen ausgesetzt. Das Vertrauen in die Deckung des US-Dollars durch Gold sank. Die Rolle des US-Dollars als Leitwährung und die Golddeckung des US-Dollars erwiesen sich als Hypothek für das Währungsregime. Die USA beendeten im Jahr 1971 die Gold-Bindung des US-Dollars. Aus dem Gold-Dollar-Standard wurde ein Dollar-Standard. Nach einem Versuch der Rettung des Systems durch die Ausweitung der Schwankungsbreiten im Rahmen des „Smithsonian Agreements“ endete schließlich im Jahr 1973 auch formal das Bretton-Woods-System fester Wechselkurse mit dem US-Dollar als Leitwährung. Die USA entschieden sich grundsätzlich für flexible Wechselkurse gegenüber den wichtigsten Handelspartnern. Box 9-1: Pro und Kontra Flexible Wechselkurse Der Wechselkurs ist der Preis einer Währung, ausgedrückt in Einheiten einer anderen Währung (vgl. Pugel 2012, S. 475-491). Wie bei Gütern wird der Preis durch Angebot und Nachfrage an bzw. nach dieser Währung bestimmt. Die konkrete Form der Bestimmung des Preises hängt von dem von Regierungen oder Zentralbanken gewählten Wechselkursregime ab. Dabei sind insbesondere die beiden Idealformen „flexibles Wechselkurssystem“ und „festes Wechselkurssystem“ zu unterscheiden. In einem System flexibler Wechselkurse wird der Preis tagtäglich am Devisenmarkt durch das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage bestimmt, Zentralbanken beteiligen sich nicht am Markt, erhebliche Kursausschläge sind möglich. In einem festen Wechselkurssystem legt die Regierung oder die Zentralbank eines Landes einen Wechselkurs zu einer anderen Währung fest. Die Zentralbank ist dann verpflichtet, durch Interventionen am Devisenmarkt Nachfrage- und Angebotslücken auszugleichen. In Abb. 9-1 ergibt sich der Preis in USD für den Euro in einem flexiblen Wechselkurssystem bei 1 USD = 1 Euro. <?page no="204"?> Der Weg zur Europäischen Währungsunion 205 www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 9-1: Währungsangebot und Nachfrage In der Abb. 9-2 wird der neue Wechselkurs bei einer gestiegenen Nachfrage nach dem Euro gezeigt. Die Nachfragekurve verschiebt sich nach rechts, der Preis in USD steigt. In USD gerechnet ist der Euro teurer geworden, in Euro betrachtet erhält man mehr USD je Euro. Der Euro hat aufgewertet, der USD abgewertet. Abb. 9-2: Preisbildung in einem flexiblen Wechselkurssystem bei steigender Nachfrage Euro US-$/ Euro 1 Nachfrage Angebot US-$/ Euro 1 1,2 Nachfrage N 1 Angebot Nachfrage N 2 x 0 x 1 Euro <?page no="205"?> 206 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 9-3: Angebot und Nachfrage nach Devisen bei Veränderung innerhalb eines Bands In der Abb. 9-3 wählt die Zentralbank einen festen Wechselkurs mit einem Band. Die Bandränder dürfen nicht überbzw. unterschritten werden. Ergibt der Markt einen Wechselkurs von weniger als 1,30 USD pro Euro und mehr als 0,8 USD pro Euro, so bildet sich der Kurs wie innerhalb eines flexiblen Wechselkurssystems, d.h. ohne Intervention der Zentralbank, der Preis bildet sich bei x 1 und p 1 . Abb. 9-4: Angebot und Nachfrage nach Devisen bei steigender Nachfrage und notwendiger Intervention Euro US-$/ Euro 0,8 Nachfrage N 1 Nachfrage N 2 Angebot x 0 x 1 p 0 p 1 1,3 US-$/ Euro 0,8 1,3 Nachfrage N 1 Nachfrage N 2 Angebot x 0 x 1 x 2 Euro <?page no="206"?> Der Weg zur Europäischen Währungsunion 207 www.uvk-lucius.de/ integration In der Abb. 9-4 wird der Fall gezeigt, dass der durch das Marktangebot und die Marktnachfrage resultierende Kurs oberhalb des festgelegten Kurses von 1,30 USD pro Euro liegt. Jetzt ist die Zentralbank verpflichtet, mit Interventionen den Wechselkurs zu stabilisieren. Sie wird das Marktangebot (x 2 - x 0 ) durch das eigene Devisenangebot im Umfang von (x 1 - x 2 ) ergänzen. Damit wird der Kurs am oberen Rand des Bandes stabilisiert. Die Befürworter flexibler Wechselkurse argumentieren, dass die Bestimmung des Kurses über das ungehinderte Spiel der Marktkräfte den marktgerechten Wechselkurs erbringt Die Zentralbanken sind nicht zur Intervention gezwungen, sie sind damit in ihrer Geldpolitik autonom. Spekulationen gegen die Zentralbanken haben in einem solchen System keinen Platz. Ein flexibles Wechselkurssystem gibt währungspolitischen Interessen der Regierungen weniger Raum zu Manipulationen. Der im Markt bestimmte Kurs führt tendenziell ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht herbei. Die über Wechselkursanpassungen erzwungenen Reallohnänderungen sind leichter zu vermitteln als die Anpassungsprozesse in alternativen Währungsregimen. Die Befürworter fester Wechselkurse sind skeptisch gegenüber den Marktkräften, die durch Übertreibungen und Spekulation die Wechselkurse von jenem Kurs, der ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht erzeugt, wegbewegen. Mit einem Festkurssystem (mit Bandbreiten) wird ein heilsamer Druck auf die Politik assoziiert, eine verantwortungsvolle und stabilitätsorientierte Wirtschaftspolitik zu betreiben. Kurssicherungskosten werden vermieden, wechselkursrisikobedingte Zinsaufschläge entfallen und die Kosten infolge spekulativer Kapitalbewegungen sinken. Aufbauend auf theoretischen Vorarbeiten in den 1960er-Jahren und in Antizipation eines denkbaren Endes der Paritäten gegenüber dem US-Dollar wurde im Jahr 1970 der sogenannte „Werner-Plan“ vorgestellt (der damalige luxemburgische Ministerpräsident Werner hatte die Arbeitsgruppe geleitet), der die Entwicklung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zum Inhalt hatte. Dieser Plan sah die Koordination der Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Vorbereitung auf die Einführung einer Währungsunion vor. Ein Konsens über diesen aus der damaligen Sicht kühnen Schritt konnte jedoch nicht erzielt werden. In den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft dominierte das Unbehagen über flexible Wechselkurse für den Handel in der Gemeinschaft. Im Jahr 1972 unterzeichneten die sechs EG-Länder das „Basler Abkommen zwischen den EG- <?page no="207"?> 208 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Notenbanken“, welches feste Paritäten zwischen den Währungen der EG- Mitgliedstaaten vorsah. Diese konnten innerhalb einer Bandbreite von +/ - 2,25% um die festgelegte Parität schwanken. Großbritannien, Irland und Dänemark schlossen sich dem System an. Die Notenbanken verpflichteten sich zur gegenseitigen Hilfestellung bei den notwendigen Interventionen am Devisenmarkt. Die Kurse bewegten sich somit gemeinsam gegenüber anderen Währungen wie dem US-Dollar, woraus sich der in der Öffentlichkeit dafür benutzte Begriff „Währungsschlange“ herleitet. Auch in diesem System kam es zu erheblichen Spannungen. Infolge abweichender wirtschaftspolitischer Prioritätensetzungen gab es erhebliche Unterschiede in den Steigerungsraten der Preise und Nominallöhne, die Anpassung der Paritäten war regelmäßig notwendig und unvermeidlich, wollte man den Aufbau hoher außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte und Veränderungen der Währungsreserven der Notenbanken verhindern. Staaten wie etwa Frankreich mussten temporär das Festkursystem verlassen. Ende der 1970er-Jahre kristallisierte sich ein Hartwährungsblock heraus, mit Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Dänemark. Diese Staaten verfolgten grundsätzlich eine stabilitätsorientierte Politik, während die anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft abweichende wirtschaftspolitische Ziele in den Mittelpunkt ihrer Politik rückten. Insbesondere der Konflikt zwischen Bekämpfung der Inflation und der Arbeitslosigkeit spielte eine große Rolle und wurde von den Regierungen unterschiedlich gesehen. Box 9-2: Arbeitslosigkeit oder Inflation - Die Phillipskurve Der Ökonom Alban Phillips hatte für Großbritannien für einen fast hundertjährigen Zeitraum (1861-1957) einen stabilen negativen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Nominallöhne und der Arbeitslosenquote ermittelt. Auch für andere Länder wurde ein ähnlicher Zusammenhang beobachtet. Der über die Arbeitsproduktivität hinausgehende Lohnanstieg schlägt sich in einer höheren Inflationsrate nieder (cost-push). Für die Wirtschaftspolitik schien ein Zielkonflikt zu bestehen: Will eine Regierung eine niedrigere Arbeitslosenquote erreichen, so kann dies durch eine leicht höhere Preissteigerung angestrebt werden. Dieses Denken war in Europa und den USA einflussreich, in einigen Ländern wurde mit Verweis auf diese Erkenntnis eine höhere Inflation zugelassen. In den 1980er-Jahren wuchs die Skepsis gegenüber dem postulierten Zusammenhang. In vielen Ländern waren beide Größen gestiegen. Robert Lucas, Milton Friedman und andere argumentierten, dass Wirtschaftssubjekte langfristig aus den Inflationserfahrungen lernen und ihre Erwartun- <?page no="208"?> Der Weg zur Europäischen Währungsunion 209 www.uvk-lucius.de/ integration gen anpassen. Ist dies der Fall, kann die Beschäftigung durch Inflation nicht positiv beeinflusst werden. Die langfristige Phillipskurve hat dann einen vertikalen Verlauf. Abb. 9-5: Die kurz- und langfristige Phillipskurve Viele Ökonomen halten jedoch an dem Zusammenhang der kurzfristigen Phillipskurve fest, sehen die Annahme rationaler Erwartungen als wirklichkeitsfremd an und erachten eine übermäßig restriktive Geldpolitik mit dem Ziel besonders niedriger Inflationsraten als kontraproduktiv mit Blick auf die Beschäftigungssicherung (vgl. Akerlof/ Shiller 2009, S. 107-115). Im Jahr 1979 wurde vor dem Hintergrund der Erfahrungen das System weiterentwickelt: Das Europäische Währungssystem trat in Kraft. Die Vereinbarung beinhaltete ein System fester, aber veränderlicher Wechselkurse mit Schwankungsbreiten von 2,25% um die vereinbarte Parität, für einige Länder allerdings mit erweiterten Bandbreiten von +/ -6%. Die Europäische Währungseinheit ECU (European Currency Unit) wurde geschaffen, eine künstliche Währungseinheit, die sich aus einem Korb europäischer Währungen zusammensetzte. Schließlich wurde ein Kreditmechanismus vereinbart, der die gegenseitigen Hilfen der Zentralbanken der beteiligten Staaten regelte. Die Erfahrungen während des Bretton-Woods-Systems und der Zeit der Währungsschlange hatten den Staaten gezeigt, dass währungspolitische Stabilität die Bereitschaft der Staaten voraussetzt, wirtschaftspolitisch ähnliche Wege einzuschlagen. Die Divergenzen in den Inflationsraten, noch in den 1970er-Jahren ein großes Problem (im Jahr 1979 hatte beispielsweise Deutschland eine Inflationsrate von 2,7%, Italien eine Rate von 12,1%), nahmen seit Mitte der 1980er-Jahre sukzessive ab. Gleichwohl gab es auch in den 1980er-Jahren vielfach Turbulenzen, die Paritä- Arbeitslosenquote Inflationsrate Phillipskurve kurzfristig Phillipskurve langfristig <?page no="209"?> 210 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration ten mussten zwischen März 1979 und Januar 1987 elf Mal angepasst werden. Das Band um die vereinbarte Parität musste im Jahr 1993 für die meisten Länder auf +/ - 15% ausgeweitet werden. Großbritannien und Italien mussten zwischenzeitlich den Wechselkursmechanismus verlassen. Einige Länder führten Kapitalverkehrskontrollen wieder ein (vgl. Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2012, S. 510). Während dieser Phase der Währungszusammenarbeit wurde deutlich: Feste Wechselkurse, freier Kapitalverkehr und geldpolitische Autonomie implizieren einen Zielkonflikt, der die gleichzeitige Erreichung aller drei Ziele ausschließt, ein als „Trilemma des Wechselkursregimes“ bezeichnetes Problem. Abb. 9-6: Trilemma des Wechselkursregimes Quelle: Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2012, S. 510 Verständnisfrage: Erläutern Sie zwei Beispiele für das Trilemma des Wechselkursregimes. Im Jahr 1990, in Reaktion auf die Weiterentwicklung des Binnenmarktes und die fundamentalen Veränderungen in Europa, wurde die Schaffung einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion vereinbart und schließlich im 1993 in Kraft getretenen Maastricht-Vertrag festgeschrieben. Es sah die Einführung einer gemeinsamen Währung in drei Stufen vor. Die erste Stufe umfasste die Liberalisierung des Kapitalverkehrs innerhalb der Union. Auch die zweite Stufe diente der Vorbereitung: die nationalen Zentralbanken mussten rechtlich unabhängig werden, was bis dahin noch nicht in allen Mitgliedstaaten der Fall war, das Europäische Währungsinstitut als Vorgängerinstitution der Europäischen Zentralbank wurde gegründet und die Koordination der Geldpolitik untereinan- Trilemma des Wechselkursregimes Freie Kapitalbewegungen Geldpolitische Autonomie Flexibler Wechselkurs Wechselkursstabilität <?page no="210"?> Der Weg zur Europäischen Währungsunion 211 www.uvk-lucius.de/ integration der wurde intensiviert. Die dritte Stufe bestand in der eigentlichen Einführung der gemeinsamen Währung. Hierfür wurde ein Kriterienkatalog verabredet, der Referenzwerte für fiskalische und monetäre Indikatoren festlegte. Nur wenn Staaten alle Kriterien erfüllten, sollten diese der Währungsunion beitreten dürfen. Damit sollte die Stabilität der Währungsunion gesichert werden. Die fiskalische Konvergenz wurde anhand zweier Verschuldungskriterien gemessen. Die Forderung einer „auf Dauer tragbaren Finanzlage der öffentlichen Hand, ersichtlich an einer öffentlichen Haushaltslage ohne übermäßiges Defizit“, wurde präzisiert: Das öffentliche Defizit, gemessen in Prozent des Bruttoinlandsproduktes, sollte unter 3% liegen. Der öffentliche Schuldenstand, gemessen in Prozent des Bruttoinlandsproduktes, sollte unter 60% liegen. Darüber hinaus gab es die Forderung nach monetärer Konvergenz: Die Inflationsrate eines zukünftigen Mitgliedstaates des Euro-Währungsgebietes sollte höchstens 1,5 Prozentpunkte über jener Rate der drei Mitgliedstaaten mit den besten Ergebnissen auf dem Gebiet der Preisstabilität liegen. Kriterium des langfristigen Zinssatzes: Die langfristigen Nominalzinssätze eines Landes sollten nicht mehr als 2 Prozentpunkte vom Nominalzins für langfristige Schuldverschreibungen der drei Mitgliedstaaten abweichen, die in Bezug auf die Preisstabilität das beste Ergebnis haben. Wechselkurskriterium: Ein Mitgliedstaat musste in den letzten beiden Jahren vor der Entscheidung die normalen Bandbreiten des Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems ohne starke Spannung eingehalten haben. Box 9-3: Nettokreditaufnahme und Schuldenstand des Staates Die fiskalischen Konvergenzkriterien der Schuldenstandsquote und der Defizitquote des Staates sind nicht unabhängig voneinander. Bei gegebener Wachstumsrate des nominellen BIP (w BIP ) resultiert der Wert für die Neuverschuldungsquote aus der Festlegung der Schuldenstandsquote; umgekehrt wird die Höhe der Schuldenstandsquote von der Normierung der Defizitquote beeinflusst. <?page no="211"?> 212 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Der Schuldenstand in der Periode t (D t ) entspricht dem Schuldenstand der Vorperiode (D t-1 ) und dem laufenden Defizit (Nettokreditaufnahme) (NK t ) des Staates: D t = D t-1 + NK t . Für die Nettokreditaufnahme in Relation zum BIP gilt: NK t = BIP t = BIP t-1 (1 + w BIP ) Die Vorgabe einer Schuldenstandsquote von (maximal) 60% (D t = 0.6BIP t bzw. D t-1 = 0.6 BIP t-1 ) führt zu: 0.6 = D t / BIP t = (D t-1 + NK t )/ BIP t = (D t-1 + NK t )/ BIP t-1 (1 + w BIP ). Wird ein Anstieg des nominellen BIP von 5% pro anno unterstellt, erhält man: 0.6 = (0.6BIP t-1 + BIP t-1 (1.05))/ BIP t-1 (1.05). Auflösen nach der Defizitquote erbringt für den Wert (0.6 0.05)/ 1.05 = 0.0286 bzw. gerundet 3%. Die Einhaltung einer Schuldenstandsquote von 60% bedeutet, dass die Neuverschuldungsquote beim angenommenen Wirtschaftswachstum den Wert von 3% pro anno nicht übersteigen darf (vgl. Ribhegge 2011, S. 108ff.). 9.3 Die Theorie optimaler Währungsräume Die Einführung einer Währungsunion war ein mutiger Schritt. Einer gemeinsamen Währung werden neben Vorteilen auch Nachteile zugeschrieben. Welche dominieren, ist auch davon abhängig, welche Funktionsbedingungen die Union kennzeichnen. In einem System flexibler Wechselkurse spielt der Wechselkurs eine wichtige Rolle im Anpassungsprozess, wenn es zu erheblichen Divergenzen in der wirtschaftlichen Entwicklung der Länder und damit einhergehend zu Ungleichgewichten in der Leistungsbilanz kommt. Die Divergenz kann Ergebnis unterschiedlicher Wirtschaftspolitiken sein. Sie kann auch Resultat eines makroökonomischen Schocks sein, der einen Staat (oder eine Teilgruppe) einseitig oder in besonderer Weise trifft und daher als asymmetrischer Schock bezeichnet wird. Diese beiden Probleme, nämlich grundsätzlich auseinanderlaufende ökonomische Entwicklung und asymmetrisch wirkende Schocks, stellen wesentliche Grundprobleme einer Währungsunion dar. <?page no="212"?> Die Theorie optimaler Währungsräume 213 www.uvk-lucius.de/ integration Unterscheiden sich die Wachstumsraten der Volkswirtschaften deutlich, so steigen tendenziell die Exporte des wachstumsstarken Landes stärker als die Importe und die Währung des Landes wertet auf. Damit werden die Importe für dieses Land günstiger und im Ausland werden die Exporte des Landes teurer. Im wachstumsstärkeren Land kommt es mithin zu Leistungsbilanzüberschüssen. Umgekehrt sinkt der Wert der Währung des schwächeren Landes, dessen Exporte für das Ausland attraktiver werden, und Importe werden teurer: Mit der Veränderung des Wechselkurses gewinnt das wachstumsschwächere Land wieder an Wettbewerbsfähigkeit und es findet - vermittelt über den Wechselkurs - zurück zu einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht. Mit der Einführung einer gemeinsamen Währung verlieren Staaten die Möglichkeit, durch Auf- oder Abwertung auf Unterschiede in der Wachstumsdynamik der Staaten und auf asymmetrische Schocks zu reagieren. Dies bedeutet potentiell einen Wohlfahrtsverlust, der aber bei Vorliegen bestimmter Bedingungen begrenzt werden kann. Die Theorie optimaler Währungsräume, die wesentlich durch die Arbeiten des Nobelpreisträgers Robert Mundell angestoßen und beeinflusst wurden, beschreibt die Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit eine Währungsunion die innere Stabilität besitzt, um dauerhaft die Grundlage für Wohlstand und Entwicklung zu schaffen. Es lassen sich mehrere Bedingungen benennen, die einen Wirtschaftsraum auch zu einem „optimalen Währungsraum“ machen: Mobilität der Arbeitskräfte: Mundell betonte die Faktormobilität als notwendigen Ersatz für den Verzicht auf die eigene Geldpolitik und das Instrument der Währungsanpassung: Kommt es zu wesentlichen Unterschieden in der wirtschaftlichen Entwicklung der beteiligten Länder, z.B. aufgrund asymmetrischer Schocks, und kann das schwächere Land nicht durch eine eigenständige Geldpolitik und Abwertung der eigenen Währung seine Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen, kann die Mobilität der Produktionsfaktoren Abhilfe schaffen. Wenn Arbeitskräfte innerhalb des Währungsraums mobil sind, dann werden Arbeitskräfte und Kapital an den Ort höherer Produktivität wechseln. Arbeitslosigkeit und Fehlallokation des Kapitals wird somit vermieden, der Mechanismus der Wechselkursanpassung wird substituiert. Offene Märkte: Sind die Mitgliedstaaten einer Währungsunion intensiv in internationale Handelsbeziehungen einbezogen, sorgen die Preisbewegungen auch ohne Wechselkursbewegungen für Anpassungsprozesse auf den Märkten. Diversifikation der Produktion: Die Produktion in den beteiligten Ländern sollte möglichst breit gestreut sein, da ein hoher Diversifikationsgrad die <?page no="213"?> 214 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Wahrscheinlichkeit asymmetrischer Schocks mit substantiellen Auswirkungen auf die Volkswirtschaft deutlich senkt. Homogene Präferenzen: In dem Währungsraum müssen homogene Präferenzen hinsichtlich der Grundzüge der Wirtschaftspolitik vorliegen. Verfolgen Länder unterschiedliche Strategien hinsichtlich Preisstabilität, Haushaltsdisziplin oder anderer zentraler Aspekte der Wirtschaftspolitik und haben Länder unterschiedliche Vorstellungen über die Arbeitsweise der zentralen wirtschaftspolitischen Institutionen wie Notenbank, Staat, Tarifparteien, kommt es zu Spannungen in der Währungsunion. Fiskaltransfers: Transferzahlungen der starken Länder an die schwachen Länder können zur Linderung der Anpassungsprobleme und zu einer Belebung der wirtschaftlichen Entwicklung in dem schwachen Land führen, ein Mechanismus, der in den meisten Staaten via Steuersystem, staatliche Investitionen oder Sozialversicherungssystem funktioniert: Verläuft die wirtschaftliche Entwicklung in einer Region schleppend und in anderen Regionen gut, erhält die schwächere Region diskretionär oder regelgebunden Unterstützung (in Deutschland beispielsweise über den Länderfinanzausgleich). Verständnisfrage: Ist vor dem Hintergrund der genannten Kriterien die Europäische Union ein optimaler Währungsraum? Die Frage, ob die Europäische Union oder die sich an der Währungsunion beteiligenden Staaten einen optimalen Währungsraum darstellen, war zu Beginn der 1990er-Jahre umstritten. Befürworter sahen die Kriterien grundsätzlich als erfüllt an oder hatten die Erwartung, dass die Währungsunion genügend Druck erzeugt, diese Kriterien mittelfristig zu erfüllen. Dies galt beispielsweise für die Hoffnung, dass die Flexibilität der Löhne zunehmen würde und die Tarifparteien in Staaten mit einer wenig ausgeprägten Stabilitätskultur die Notwendigkeit, die Lohnentwicklung von der Produktivitätsentwicklung abhängig zu machen, erkennen würden. Sie postulierten, dass die Union nicht nur den Weg der ökonomischen Konvergenz beschreiten würde, sondern hatten auch die Hoffnung, dass die Elemente einer politischen Union, die für das Funktionieren notwendig sind, mittelfristig erkannt und umgesetzt werden. Den Befürwortern standen zahlreiche Kritiker gegenüber, die den Schritt zu einer Währungsunion als verfrüht oder als grundsätzlich falsch ansahen. Sie sahen die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen für eine Währungsunion als nicht gegeben an und warnten, dass die Einführung einer ge- <?page no="214"?> Die Theorie optimaler Währungsräume 215 www.uvk-lucius.de/ integration meinsamen Währung nicht zur Einigung Europas führt. Viele Staaten Europas seien ökonomisch, politisch, sozial und kulturell zu verschieden, um für diesen Weg vorbereitet zu sein, der Verzicht auf den Wechselkursanpassungsmechanismus sei falsch (Scharpf 2013). Entscheidend für die Einführung waren jedoch nicht ökonomische Argumente, sondern politische Überlegungen. Aus französischer Sicht war die Einführung einer gemeinsamen Währung der Preis für die Zustimmung zur deutschen Einheit, erhofft war damit die Einbindung Deutschlands und der Deutschen Bundesbank in ein Gesamteuropa, welches weniger durch die Führungsposition Deutschlands geprägt sein sollte (vgl. Marsh 2013, S. 17). 1999 führten zunächst elf Mitgliedstaaten den Euro als gemeinsame Währung ein, bis 2014 kamen sieben weitere Länder hinzu. Die Umrechnungskurse der Währungen der teilnehmenden Staaten wurden unwiderruflich gegenüber dem Euro festgelegt. ab 1. Januar … Land vorherige Währung 1999 2001 2007 2008 2009 2011 2014 Belgien Deutschland Finnland Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande Österreich Portugal Spanien Griechenland Slowenien Malta Zypern Slowakei Estland Lettland Belgischer Franc Deutsche Mark Finnmark Französischer Franc Irisches Pfund Italienische Lira Luxemburgischer Franc Holländischer Gulden Schilling Escudo Peseta Drachme Tolar Maltesische Lira Zypern-Pfund Slowakische Krone Estnische Krone Lettischer Lats Abb. 9-7: Zeitliche Struktur des Euro-Beitritts <?page no="215"?> 216 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Im Jahr 2015 wird Litauen voraussichtlich 19. Mitgliedsland der Eurozone werden, nachdem in den Konvergenzberichten der Europäischen Kommission (2014) und der EZB (2014) die Erfüllung der Maastricht-Kriterien bestätigt wurde. Die endgültige Entscheidung fällt Ende Juli 2014 im Rat nach Abstimmung mit dem Europäischen Parlament (vgl. Europäisches Parlament 2014). 9.4 Die Geld- und Währungspolitik Die Union hat die ausschließliche Zuständigkeit für die Währungspolitik jener Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist (Artikel 3 AEUV). Die Europäische Zentralbank ist eines der sieben Organe der Union. Sie wurde 1998 gegründet und steht im Mittelpunkt der Geld- und Währungspolitik. 9.4.1 Der institutionelle Rahmen zur Durchführung der einheitlichen Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union Die Europäische Zentralbank (EZB) und die nationalen Zentralbanken aller EU-Mitgliedstaaten bilden das Europäische System der Zentralbanken (ESZB). Die EZB und die Zentralbanken jener Länder, die den Euro eingeführt haben, bilden das Eurosystem (Artikel 282 AEUV). Der Rat der Europäischen Zentralbank, das zentrale Beschlussorgan des Systems, besteht aus den Mitgliedern des Direktoriums der Europäischen Zentralbank und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken, deren Währung der Euro ist. Das Direktorium der EZB besteht aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten und vier weiteren fachkundigen Mitgliedern (Artikel 283 AEUV). Die detaillierten Regelungen zur Geld- und Währungspolitik finden sich in der „Satzung des europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank“, welche als Protokoll Nr. 4 dem Lissabon-Vertrag angefügt ist. Die grundlegenden Aufgaben des Europäischen Systems der Zentralbanken bestehen in der Festlegung und Durchführung der Geldpolitik der Union, Durchführung von Devisengeschäften im Einklang mit dem Lissabon-Vertrag, Verwaltung der offiziellen Währungsreserven, Förderung des reibungslosen Funktionierens der Zahlungssysteme (Protokoll Nr. 4 zum Lissabon-Vertrag, Artikel 3). Die Europäische Zentralbank und das Europäische System der Zentralbanken sind unabhängig. <?page no="216"?> Die Geld- und Währungspolitik 217 www.uvk-lucius.de/ integration Box 9-4: Unabhängigkeit der Zentralbank Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und der nationalen Zentralbanken ist im Europarecht verankert und hat vier Dimensionen: die EZB ist institutionell unabhängig, ihre funktionelle Unabhängigkeit ist gewährleistet, die personelle Unabhängigkeit der Mitglieder des EZB- Rates ist rechtlich garantiert, und die EZB ist finanziell unabhängig. Pro und Kontra Pro: Erfahrungen haben gezeigt, dass in Ländern ohne Unabhängigkeit der Zentralbank die Inflationsraten höher liegen. Regierungen nutzten in der Vergangenheit häufig ihren Einfluss, um ihnen genehme geldpolitische Entscheidungen herbeizuführen. Die Abschottung dieses für eine Volkswirtschaft zentralen Handlungsfeldes gegenüber politischen Interessen ist essentiell. Kontra: Zentrale wirtschaftspolitische Entscheidungen werden in die Hände von Technokraten gegeben, die kein entsprechendes politisches Mandat haben. Die Entscheidungen der Zentralbanken haben erhebliche Auswirkungen, ohne dass die Entscheider für falsche Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Transparenz ihres Handelns ist gering. 9.4.2 Die Geldpolitik des Eurosystems Das vorrangige Ziel des Eurosystems ist die Gewährleistung der Preisstabilität (in der deutschen Literatur wurde in der Vergangenheit meist von Preisniveaustabilität gesprochen, um zu betonen, dass es nicht um die Stabilität einzelner Preise geht, sondern um jene des Preisniveaus). Die Bedeutung des Ziels der Preisstabilität wird mit den Kosten der Inflation und insbesondere den sozialen Folgen inflationärer Entwicklungen begründet (vgl. Europäische Zentralbank 2008, S. 35-36). Die Europäische Zentralbank hat das in den Verträgen nicht exakt quantifizierte Ziel konkretisiert: Preisstabilität wird definiert als der Anstieg des Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) für das Euro-Währungsgebiet von unter, aber nahe bei 2% gegenüber dem Vorjahr. Kurzfristig ist eine Überschreitung der Marke von 2% möglich, die 2%-Marke soll mittelfristig leicht unterschritten werden (vgl. Europäische Zentralbank 2008, S. 37). Eine Inflationsrate von 0% wird nicht angestrebt, da mit einer solchen Zielgröße und den Schwankungen der Preissteigerungsraten die Gefahr einer Deflation verknüpft wird. Soweit das Ziel der Preisstabilität nicht beeinträchtigt wird, unterstützt die Geldpolitik die allgemeine Wirtschaftspolitik. <?page no="217"?> 218 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Die Geldpolitik des Eurosystems beruht auf der Analyse sowohl der monetären als auch der wirtschaftlichen Entwicklung, ein Analyserahmen, der als „Zwei- Säulen-Struktur“ oder „Zwei-Säulen-Strategie“ bezeichnet wird. In der monetären Analyse wird die Entwicklung der Geldmengenaggregate, der Kredit- und Zinsentwicklung erfasst. In der wirtschaftlichen Analyse werden Daten über die Konjunktur, Preise und Kosten im Euro-Währungsgebiet erhoben und ausgewertet. Risiken für die Preisstabilität werden aufgrund der so gewonnen Informationen identifiziert und geben Orientierung für die Durchführung der Geldpolitik. Für die Umsetzung der Geldpolitik stehen dem Eurosystem grundsätzlich drei Instrumente zur Verfügung: die Offenmarktgeschäfte, die ständigen Fazilitäten und die Mindestreservepflicht. Die Offenmarktgeschäfte sind für die Steuerung der Liquiditätsbedingungen des Bankensektors das wichtigste Instrument der EZB. Die von den Zentralbanken des Eurosystems durchgeführten Offenmarktgeschäfte werden in Hauptrefinanzierungsgeschäfte, längerfristige Refinanzierungsgeschäfte, Feinsteuerungsoperationen und strukturelle Operationen unterschieden. Die beiden erstgenannten Instrumente werden von den Zentralbanken regelmäßig eingesetzt und sind zentral für die Bereitstellung von Liquidität für die Banken des Eurosystems. Das Eurosystem vergibt über Offenmarktgeschäfte im Durchschnitt täglich Kredite mit einem Volumen von insgesamt mehreren Hundert Mrd. EUR an den Bankensektor des Euro-Währungsgebiets. Feinsteuerungsoperationen wie etwa Devisenswapgeschäfte werden nicht regelmäßig eingesetzt, sie kommen nur im Bedarfsfall zum Einsatz. Bei strukturellen Operationen können anders als bei den üblichen Hauptrefinanzierungsgeschäften endgültige Käufe und Verkäufe von Schuldverschreibungen vorgenommen werden, ein Instrument, das in der Eurokrise an Bedeutung gewonnen hat. Die ständigen Fazilitäten bieten den Banken die Möglichkeit, über Nacht Liquidität bei der Zentralbank anzulegen (Einlagefazilität) oder Liquidität über Nacht zu erhalten (Spitzenrefinanzierungsfazilität). Die beiden Zinssätze legen den Korridor fest, innerhalb dessen sich der Geldmarktzins bildet. Der Rat der Europäischen Zentralbank verlangt von im Euro-Währungsgebiet ansässigen Kreditinstituten, Mindestreserven auf Konten der nationalen Zentralbanken zu halten. Die Mindestreservesätze werden für die mindestreservepflichtigen Bilanzpositionen der Kreditinstitute festgelegt. Mit diesem Instrument stabilisiert die Zentralbank die Geldmarktsätze. <?page no="218"?> Die Geld- und Währungspolitik 219 www.uvk-lucius.de/ integration Box 9-5: Geldpolitisches Instrumentarium der EZB Geldpolitische Geschäfte Transaktionsart Laufzeit Rhythmus Verfahren Liquiditätsbereitstellung Liquiditätsabschöpfung Offenmarktgeschäfte Hauptrefinanzierungsinstrument befristete Transaktion - eine Woche wöchentlich Standardtender Längerfristige Refinanzierungsgeschäfte befristete Transaktion - drei Monate monatlich Standardtender Feinsteuerungsoperationen befristete Transaktionen Devisenswaps Devisenswaps Hereinnahme von Termineinlagen Befristete Transaktionen nicht standardisiert unregelmäßig Schnelltender bilaterale Geschäfte endgültige Käufe endgültige Verkäufe - unregelmäßig bilaterale Geschäfte Strukturelle Operationen befristete Transaktionen Emission von Schuldverschreibungen standardisiert/ nicht standardisiert regelmäßig und unregelmäßig Standardtender endgültige Käufe endgültige Verkäufe - unregelmäßig bilaterale Geschäfte Ständige Fazilitäten Spitzenrefinanzierungsfazilität befristete Transaktionen - über Nacht Inanspruchnahme auf Initiative der Geschäftspartner Einlagefazilität - Einlagenannahme über Nacht Inanspruchnahme auf Initiative der Geschäftspartner Quelle: Europäische Zentralbank 2008 Mit dem Einsatz der drei Instrumente zielt die Geldpolitik auf ihr operatives Ziel, die Steuerung des kurzfristigen Geldmarktzinssatzes, ab. Sie verspricht sich damit einen Einfluss auf das Preisniveau. <?page no="219"?> 220 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Box 9-6: Hauptrefinanzierungsgeschäfte und Tenderverfahren In weit überwiegendem Maße erfolgt die Liquiditätsbereitstellung des Bankensektors durch das Eurosystem über die Hauptrefinanzierungsgeschäfte, denen Tenderverfahren zugrunde liegen. Beim Mengentender gibt die Notenbank den Zinssatz vor, zu dem sie bereit ist, Zentralbankgeld zur Verfügung zu stellen. Die Geschäftsbanken geben Gebote ab, welche Geldbeträge sie abrufen wollen. Werden alle Gebote bedient, hängt die Geldmenge von der Geldnachfrage ab. Schwankungen der Geldnachfrage beeinflussen den Zinssatz nicht. Übersteigt das Bietungsvolumen einen von der Notenbank vorgegebenen Zuteilungsbetrag, werden die Gebote in Relation des Zuteilungsbetrags zum Bietungsvolumen proportional erfüllt (Repartierung). Beim Zinstender legt die Notenbank eine Obergrenze fest, wie viel Zentralbankgeld dem Bankensektor zugeteilt werden soll und gibt in aller Regel einen Mindestbietungssatz vor. Die Gebote der Geschäftsbanken enthalten neben der Betragshöhe auch den Zinssatz, mit dem sie sich am Hauptrefinanzierungsgeschäft beteiligen. Veränderungen der Geldnachfrage führen beim Zinstender zu Zinsänderungen. Die Zuteilung des Zentralbankgeldes auf die Geschäftsbanken kann entweder zu den individuellen Bietungssätzen (amerikanisches Verfahren) oder zu einem einheitlichen Zinssatz (holländisches Verfahren) erfolgen, der dem letzten von der Notenbank angenommenen Gebot (marginaler Zinssatz) entspricht (vgl. Spahn 2012, S. 97 ff.; Görgens/ Ruckriegel/ Seitz 2014, S. 226 ff.) 9.5 Die Rolle des Euros in der internationalen Währungsordnung Die grundlegenden Entscheidungen hinsichtlich der Währungspolitik sind im Lissabon-Vertrag dem Rat der Europäischen Union übertragen. Der Rat der Europäischen Union kann entweder auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank oder auf Empfehlung der Kommission und nach Anhörung der Europäischen Zentralbank Vereinbarungen über ein Wechselkurssystem für den Euro gegenüber den Währungen von Drittstaaten treffen. Die enge Abstimmung ergibt sich vor dem Hintergrund der erheblichen Rückwirkungen währungspolitischer Beschlüsse auf die Durchführung der Geldpolitik. <?page no="220"?> Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis 221 www.uvk-lucius.de/ integration Der Wechselkurs des Euros ist kein Instrument der Wirtschaftspolitik (vgl. Europäische Zentralbank 2008, S. 27). Der Euro wird gegenüber den großen Handelspartnern außerhalb Europas zu flexiblen Wechselkursen gehandelt. Dies gilt auch gegenüber einigen Währungen in Europa, insbesondere dem britischen Pfund. Gegenüber diesen Währungen gibt es kein Wechselkursziel. Für einige europäische Länder sind feste, aber anpassungsfähige Wechselkurse vereinbart: Mit dem Beginn der letzten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion wurde das EWS durch den Wechselkursmechanismus II abgelöst: Damit sind die Währungen von EU-Mitgliedstaaten außerhalb des Euro-Währungsgebietes, mit Ausnahme Großbritanniens, Ungarns, Polens, Rumäniens, der Tschechischen Republik und Schwedens, an den Euro gebunden. Diese Währungen sind gegenüber dem Euro in Form eines Leitkurses festgelegt, der grundsätzlich +/ - 15% um den Leitkurs schwanken kann. Bei Erreichen der Ober- oder Untergrenze sind die Zentralbanken der betroffenen Länder und die EZB verpflichtet, automatisch und unbegrenzt an den Devisenmärkten zu intervenieren. Dieses System wurde zum Zeitpunkt der Schaffung grundsätzlich als Übergangssystem betrachtet, da von einer späteren Einführung des Euros in den an dem Wechselkursmechanismus teilnehmenden Staaten ausgegangen wurde. Mit der Einführung des Euros war auch die Erwartung verbunden, dass dieser als Recheneinheit, als Zahlungsmittel, als Währung zur Wertaufbewahrung und als Ankerwährung eine wichtige Rolle im internationalen Währungssystem einnehmen würde. Da insbesondere die DM in Europa diese Funktion partiell übernommen hatte, war erwartet worden, dass dies auch zukünftig so sein würde, es war aber kein explizites proklamiertes Ziel. 9.6 Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis 9.6.1 Die Governance-Struktur des Euro-Währungssystems Die Governance-Struktur der Währungsunion war in den Verhandlungen zum Maastricht-Vertrag und dem Lissabon-Vertrag lange und kontrovers debattiert worden. Strittig waren vor allem die Entscheidungsverfahren im EZB-Rat, die Besetzung des Direktoriums der EZB und die Abstimmungsmechanismen mit den anderen Organen und Institutionen, die für die Durchführung der Geld- und Währungspolitik von Belang sind. Im EZB-Rat gibt es keine Stimmgewichtung auf Basis der Größe der Volkswirtschaft oder der Bevölkerung, jeder Mitgliedstaat des Euro-Währungsgebietes hat eine Stimme. Aus der Tatsache, dass zwar die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Union den Euro eingeführt, bisher aber nicht alle EU-Mitgliedstaaten diesen Schritt getan <?page no="221"?> 222 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration haben, entsteht eine besondere Problematik der Abstimmung. Wesentliche geldpolitische Entscheidungen fallen im Eurosystem und damit dem EZB-Rat, der erweiterte EZB-Rat hat hier eine geringe Bedeutung. Spiegelbildlich stellt sich das Problem auch bei der Abstimmung der Finanzminister der Europäischen Union dar. Wichtige den Euro betreffende Entscheidungen werden von den Finanzministern der Euro-Staaten im Rahmen der „Euro-Gruppe“ getroffen, andere Entscheidungen werden vom ECOFIN, dem Treffen aller Finanzminister der EU, getroffen. Auch die Koordinationsmechanismen mit anderen Organen und Einrichtungen wie dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission sind komplex. Insgesamt erfordert die Abstimmung eine intensive Zusammenarbeit in Form von Berichtspflichten, häufigeren Zusammentreffen mit Ausschüssen der Organe der Europäischen Union, eine Ausweitung und Vertiefung der behandelten Themen (vgl. Europäische Zentralbank 2008, S. 30-31, Europäische Zentralbank 2010c, S. 87). Mit der Erweiterung der Zahl der Staaten, die den Euro eingeführt haben, wuchs die Zahl der Mitglieder des EZB-Rates. Damit ging aus Sicht einiger Beobachter eine Politisierung der Entscheidungen einher, da in der Realität die nationalen Notenbankpräsidenten der beteiligten Staaten in bestimmten Situationen möglicherweise ihre nationalen Interessen einbringen. Und mit der wachsenden Zahl der Staaten (und deren Stimmrecht im EZB-Rat), die ein kurzfristiges Interesse an einer expansiven Geldpolitik und unkonventionellen Zentralbankoperationen zur Refinanzierung der Staaten haben, verändert sich potentiell die Natur der verfolgten Geldpolitik. Ein Reformvorschlag empfiehlt die Abkehr von der nationalen Vertretung im EZB-Rat und die Einführung von länderübergreifenden Distrikten, wie es die US-amerikanische Notenbank praktiziert (vgl. Burda 2013). 9.6.2 Das Mandat der EZB Das Mandat der EZB ist expressis verbis auf Preisstabilität bezogen, dies ist das vorrangige Ziel. Beschäftigungssicherung und die Unterstützung der Wirtschaftspolitik ist erst dann zu verfolgen, wenn das primäre Ziel erreicht ist. Diese Priorisierung war umstritten, die Federal Reserve in den USA hat ausdrücklich beide Ziele gleichrangig zu verfolgen. Kritiker des EZB-Mandats warnten vor einem verengten Verständnis des Beitrags der Geldpolitik. In der Eurokrise rückte eine weitere das Mandat betreffende Frage in den Vordergrund. Während des Höhepunkts der Eurokrise erklärte der EZB-Präsident Draghi 2012 in London, dass die EZB innerhalb ihres Mandats bereit sei, „alles zu tun, um den Euro zu erhalten.“ <?page no="222"?> Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis 223 www.uvk-lucius.de/ integration Box 9-7: Mario Draghi zur Zukunft des Euros Wörtlich erklärte der EZB-Präsident: „And so we view this, and I do not think we are unbiased observers, we think the euro is irreversible. And it’s not an empty word now, because I preceded saying exactly what actions have been made, are being made to make it irreversible. But there is another message I want to tell you. Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.“ (Draghi 2012) Diese Ankündigung markierte einen wichtigen Wendepunkt in der Krise, Spekulationen gegen den Euro kamen zu einem Ende, und wurde daher von vielen Beobachtern als sinnvolles Signal begrüßt. Kritiker bestreiten, dass es das Mandat der EZB ist, den Euro um jeden Preis zu verteidigen. Das Ziel der Preisstabilität Die Abb. 9-8 zeigt die Entwicklung der jährlichen Preissteigerung seit 1999. Bedenkt man die erheblichen Inflationsraten in vielen europäischen Staaten vor Gründung der Währungsunion (in den 1970er-Jahren war die durchschnittliche Inflationsrate der Mitgliedstaaten 13%, in den 1980er-Jahren 7%), so hat die Europäische Zentralbank ihr zentrales Ziel der Sicherung der Preisstabilität aus Sicht der meisten Beobachter erreicht, im Durchschnitt lag die Steigerungsrate bei 2%, obgleich in den meisten Jahren die Obergrenze von 2% leicht überschritten wurde. Abb. 9-8: Inflationsraten im Euro-Währungsgebiet in %, 1999-2012 Quelle: Europäische Kommission 2013, online Allerdings gab es eine erhebliche regionale Asymmetrie der Inflationsentwicklung. Während von 1999 bis 2011 die Preise in Deutschland um insgesamt 20% gestiegen waren, lag der entsprechende Wert für Griechenland bei 48% und für Spanien bei 41% (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2012). 0 2 4 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 <?page no="223"?> 224 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Der Außenwert des Euros Das zentrale Ziel der Geldpolitik der EZB ist der Binnenwert des Geldes. Der Außenwert des Geldes, der sich im Wechselkurs ausdrückt, wird davon beeinflusst, wird aber auch von anderen Einflussfaktoren bestimmt. Ein Währungsgebiet, in dem Preisstabilität herrscht, hat gemäß der Kaufkraftparitätentheorie tendenziell einen stabilen Außenwert gegenüber anderen Währungen mit vergleichbarer Preisstabilität. Die folgende Abb. 9-9 zeigt die Entwicklung des Außenwertes des Euros gegenüber dem USD seit 1999. Nach einer anfänglichen Phase der Abwertung des Euros gewann der Euro an Wert, erreicht im Jahr 2008 seinen Höhepunkt. Der Kurs liegt Anfang 2014 deutlich über dem Wert zur Zeit der Einführung. Abb. 9-9: Die Entwicklung des Wechselkurses Euro/ US-Dollar von 1999-2014 (Dollar pro Euro). Quelle: Europäische Zentralbank 2014, online Nicht nur gegenüber dem US-Dollar erwies sich der Euro als relativ stabil, auch gegenüber den Währungen der wichtigsten Handelspartner war dies der Fall: Der effektive reale Wechselkurs gegenüber den 21 wichtigsten Handelspartnern, welcher auch die preisliche Wettbewerbsfähigkeit des Eurogebietes angibt, lag auf Basis des Wertes von 100 zu Beginn des Jahres 1999 im Januar 2013 bei 100,4 (vgl. Deutsche Bundesbank 2013, S. 78). Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht des Euro-Währungsgebietes Der reale Wechselkurs des Euro-Währungsgebietes gegenüber dem Rest der Welt beeinflusst die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Exportgüter und -dienstleistungen auf Märkten außerhalb der Eurozone. Zu Beginn der Währungsunion hatte das Eurowährungsgebiet gegenüber dem Rest der Welt einen leichten Leistungsbilanzüberschuss, gemessen in Prozent des BIP in Höhe von 0,7%. Die folgende Abb. 9-10 zeigt die Entwicklung des Leistungsbilanzsaldos des Euro-Währungsgebietes. 0 1 2 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 <?page no="224"?> Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis 225 www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 9-10: Handels- und Dienstleistungsbilanzsaldo des Euro-Währungsgebietes in Prozent des BIP, 2003-2012 Quelle: Verschiedene Ausgaben des Eurostat Statistics Pocket Book, 2003-2012 Der Leistungsbilanzsaldo in Prozent des BIP schwankte im Betrachtungszeitraum zwischen 0 und 2%. Insgesamt erzielten die Staaten des Euro-Währungsgebietes gegenüber dem Rest der Welt einen Überschuss. Die unproblematisch erscheinende Entwicklung für den Gesamtraum verdeckt jedoch die Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone. Der Wechselkurs des Euros war für einige Staaten zu niedrig, sie bauten Leistungsbilanzüberschüsse auf, für andere Staaten war der Euro zu teuer, ihre Exportgüter und Exportdienstleistungen waren im internationalen Handel wenig wettbewerbsfähig. Importe waren zu günstig, sie bauten Leistungsbilanzdefizite auf, die mit einer Ausweitung der nationalen Verschuldung gegenüber dem Rest der Welt einhergingen. Die Entwicklung der Leistungsbilanz zurück zu einem Gleichgewicht ist Ländern mit flexiblen Wechselkursen gegenüber dem Euro am besten gelungen. Die Länder mit festen Wechselkursen gegenüber dem Euro hatten die stärksten Ausschläge nach unten, haben aber mittlerweile wieder positive Leistungsbilanzen. In diesem Fall ist es den Ländern der Eurozone am schwersten gefallen, wieder zurück zu einem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht zu finden (vgl. Deutsche Bundesbank 2013). Das einer Währungsunion inhärente Problem der Unterschiedlichkeit der Entwicklung in Teilregionen der Union forderte interne Anpassungsprozesse in den Ländern. Schon 2008 schrieb die Europäische Zentralbank: „Die Tatsache, dass die wirtschaftlichen Divergenzen im Euroraum tendenziell von Dauer sind, deutet darauf hin, dass die Volkswirtschaften im Eurogebiet nicht flexibel genug sind“ (Europäische Zentralbank 2008, S. 30). Die Schärfe dieses Problems wurde gleichwohl bis zum Zeitpunkt des Ausbruchs der Finanzkrise nicht hinreichend erkannt. 0 1 2 3 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 <?page no="225"?> 226 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Die Rolle des Euros in dem Weltwährungssystem Es war kein explizites Ziel der Union, dass der Euro eine führende Rolle im Weltwährungssystem spielt, d.h. der Euro weltweit als Transaktionswährung benutzt wird oder Zentralbanken ihre Währungsreserven in Euro anlegen oder bei internationalen Transaktionen der Euro als Recheneinheit verwendet wird. Gleichwohl wurde erwartet, dass der Euro eine starke Stellung einnehmen würde. Der Anteil des Euros an den Währungsreserven lag im Jahr der Einführung der gemeinsamen Währung bei 18%, stieg bis 2009 auf 28% und liegt im Jahr 2014 bei 24% (vgl. Handelsblatt 2014). Einheitliche Geldpolitik für das Euro-Währungsgebiet Eine einheitliche Geldpolitik impliziert einheitliche Zinssätze für das Euro- Währungsgebiet. Das reale Auseinanderdriften der konjunkturellen Entwicklung und der Inflation in der Eurozone hätte im ersten Jahrzehnt des Bestehens des Eurosystems differenzierte Zinssätze erfordert. Der einheitliche Zinssatz war für einige Länder zu niedrig und führte dort zur Überhitzung, für andere Länder war er zu hoch. Hierin ist eine der Ursachen der Eurokrise zu sehen. Geldpolitische Strategie Die EZB verfolgt, anders als die Deutsche Bundesbank, die ihre Geldpolitik im Wesentlichen am Wachstum der Geldmenge ausgerichtet hatte, einen geldpolitischen Ansatz, der Elemente der Geldmengensteuerung mit einer Inflationssteuerung verbindet. Box 9-8: Geldmengensteuerung Analytischer Ansatzpunkt der Geldmengensteuerung ist die Quantitätsgleichung, die einen Zusammenhang zwischen Geldmenge (M), Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (V) und dem nominellen Bruttoinlandsprodukt (Y n = P Y r ) postuliert: M V = P Y r . In Wachstumsraten ausgedrückt und nach w M aufgelöst, erhält man: w M = w P + w Yr - w V . Die Wachstumsrate der Geldmenge entspricht der Inflationsrate einschließlich der Wachstumsrate des BIP real abzüglich der Veränderungsrate der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes. Inflation ist nur dann möglich, wenn die Geldmenge stärker als das um die Umlaufsgeschwindigkeit korrigierte BIP real steigt. <?page no="226"?> .6 Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis 227 www.uvk-lucius.de/ integration Die Zwei-Säulen-Struktur steht symbolisch für diese Orientierung, wobei die Bedeutung der Säule „wirtschaftliche Analyse“ in jüngster Zeit wegen der Schwankungen der Geldnachfrage und der instabilen Beziehung zwischen Geldmenge und dem Preisniveau noch zugenommen hat. Mindestreserve Die Mindestreservesätze wurden einheitlich von 1999 bis 2012 bei 2% festgelegt, seit dieser Zeit liegt der Satz bei 1%. Zinssätze Die Europäische Zentralbank hat die Leitzinsen seit Gründung wiederholt geändert. In der Finanzkrise seit 2008 reagierte die EZB mit einer drastischen Senkung der Zinssätze von 4,25% auf 0,25% Ende des Jahres 2013. Gleichwohl kam es zunächst nicht zu der erhofften Wirkung auf den Konsum und die Investitionen im Euro-Währungsgebiet. Dies war insbesondere die Folge der großen Unsicherheit im Bankensektor, der Transmissionsmechanismus der Geldpolitik war erheblich gestört. Die EZB unterstützte vor diesem Hintergrund die Abb. 9-11: Zinsentwicklung in der Eurozone, 1999-2014 Quelle: Deutsche Bundesbank 2014 <?page no="227"?> 228 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union www.uvk-lucius.de/ integration Kreditvergabe mit einer Reihe außergewöhnlicher Maßnahmen, unter anderem durch die Bereitstellung von Liquidität an Banken in unbegrenzter Höhe zu einem festen Zinssatz und durch die Verlängerung der maximalen Laufzeit der Refinanzierungsgeschäfte (vgl. Europäische Zentralbank 2010a, S. 73). Die Grafik veranschaulicht die monetäre Richtungsänderung im Jahr 2009. Abb. 9-12: Die Entwicklung der Zinssätze der EZB 1999-2014, Quelle: Deutsche Bundesbank 2014 Mit Wirkung vom 11. Juni 2014 wurde der Leitzins auf 0,15 % und der Zinssatz der Spitzenrefinanzierungsfazilität auf 0,4% gesenkt und für die Einlagenfazilität ein Negativzinssatz von -0,1% beschlossen. Notenbankfähige Sicherheiten Für ihre geldpolitischen Geschäfte verlangt die Europäische Zentralbank „notenbankfähige“ Sicherheiten. In der Krise wurden die von der EZB formulierten Standards herabgesetzt. Damit wurde auch ein Weg eröffnet, Staatsanleihen von Krisenländern als Sicherheiten zu akzeptieren, ein Schritt, der sehr unterschiedlich beurteilt wurde: Befürworter dieser Politik betonten die Notwendigkeit, in außerordentlichen Zeiten auch außerordentliche Schritte zu gehen, sie sehen die langfristigen Gefahren als verantwortbar an. Kritiker sahen hierin ein Überschreiten des Mandats der EZB, einen einzigartigen Schritt der Notenbank hin zur Übernahme von Risiken und einen Schritt hin zur im Lissabon-Vertrag eindeutig ausgeschlossenen monetären Staatsfinanzierung. 0 1 2 3 4 5 6 7 1999 01 1999 10 2000 07 2001 04 2002 01 2002 10 2003 07 2004 04 2005 01 2005 10 2006 07 2007 04 2008 01 2008 10 2009 07 2010 04 2011 01 2011 10 2012 07 2013 04 2014 01 Zinssatz der EZB für die Einlagefazilität Zinssatz der EZB für die Spitzenrefinanzierungs fazilität Zinssatz der EZB für Hauptrefinanzierungs geschäfte <?page no="228"?> .6 Die Geld- und Währungspolitik der EZB in der Praxis 229 www.uvk-lucius.de/ integration OMT-Programm Besonders kontrovers war die Bekanntgabe des OMT-Programms („Outright Monetary Transactions“), mit dem gegebenenfalls unbegrenzt Anleihen von europäischen Krisenstaaten am Sekundärmarkt aufgekauft werden können (vgl. Joebges/ Grabau 2013, S. 23-24). Der Aufkauf ist mit der Bedingung verknüpft, dass die betroffenen Staaten ein wirtschaftliches Anpassungsprogramm durchführen. Befürworter der Maßnahme sehen in diesem Programm ein positives Signal der EZB zur Beruhigung und Stabilisierung. Sie verweisen weiter darauf, dass bereits die Ankündigung ausreichte, um die Märkte zu beruhigen, und tatsächlich lange Zeit keinerlei Aufkauf notwendig war. Kritiker sehen darin eine Form der monetären Staatsfinanzierung, die mit dem Mandat der EZB nicht kompatibel ist. In Deutschland stand dieses Programm im Mittelpunkt der 2013 eingereichten Klage bei dem Bundesverfassungsgericht. In einem Aufruf deutscher Ökonomen im September 2013 heißt es, die monetäre Staatsfinanzierung sei zu Recht verboten, da die Unabhängigkeit der Zentralbank Priorität habe. Ihre Aufgabe sei die Sicherung der Preisstabilität und nicht, die Risikoprämien von Staatsanleihen zu verringern (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 2013). Im Februar 2014 verwies das Bundesverfassungsgericht den Fall an den Europäischen Gerichtshof. Forward Guidance Vor dem Hintergrund volatiler Finanzmärkte ist die Kommunikation der geldpolitischen Schritte und der Strategie von essentieller Bedeutung. Die Europäische Zentralbank kommuniziert in vielfältiger Form ihre Intentionen und Aktionen durch Pressekonferenzen, Presseinformationen, Veröffentlichungen. In der Eurokrise übernahm die EZB im Jahr 2013 die in den USA eingeführte und als „forward guidance“ bezeichnete Kommunikationspolitik. Sie soll Orientierung über die Ausrichtung der Geldpolitik und damit einen Ausblick auf die zukünftige Zinsentwicklung geben. Die EZB beabsichtigt damit die Stabilisierung der Erwartungen, ohne sich rechtlich und verbindlich festzulegen. Befürworter sehen darin ein angemessenes Instrument zur Beruhigung und Orientierung der Märkte, Kritiker halten diese Politik für problematisch, die Antizipation zukünftiger Schocks sei nicht möglich, ein Vertrauensverlust bei einem notwendigen Kurswechsel vorprogrammiert (vgl. Deutsche Bundesbank 2013, S. 31-33). Vertraulichkeit und Transparenz In den ersten Jahren der Existenz der EZB waren die Beratungen des Zentralbankrates vertraulich. Im Jahr 2013 wurde vorgeschlagen, die Statuten zu ändern und künftig die Protokolle zu veröffentlichen, um damit das Vertrauen in die <?page no="229"?> 230 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union Arbeit der Notenbank zu stärken. Befürworter sehen darin einen wichtigen Schritt zu mehr Transparenz, Kritiker befürchten, dass die Mitglieder des Zentralbankrates stärker als vorher nationale Interessen verfolgen, wenn sie davon ausgehen müssen, dass in ihren Heimatländern ihre Äußerungen und Entscheidungen stets bekannt werden. Die Grenzen der Geldpolitik Die Geld- und Währungspolitik ist von herausragender Bedeutung für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes und der europäischen Volkswirtschaft. Die Geldpolitik kann wichtige Signale setzen, sie kann wesentlich auf die Dynamik des wirtschaftlichen Geschehens Einfluss nehmen. Ihre Macht ist jedoch gering, wenn die Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten der Währungsunion nicht stabilitäts- und zukunftsorientiert ist. Die Grundlage für die Stabilität einer Währung ist nicht die Geldpolitik, sondern eine solide Wirtschaftspolitik (vgl. Marsh 2013, S. 50). Die Eurokrise hat diesen Zwiespalt immer wieder deutlich werden lassen: Gelingt es den Staaten nicht, ihre fiskalischen Probleme zu lösen, schaffen die Länder es nicht, die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft zu erhöhen, dann ist die Geldpolitik überfordert. Die Staaten sind für eine stabilitätsgerechte Politik verantwortlich. Die EZB als „lender of last resort“ - Liquiditätsgeber der letzten Instanz Die intensive wissenschaftliche Befassung mit den Eigenheiten einer Währungsunion im Vorfeld ihrer Einführung in Europa ließ einen wichtigen Aspekt einer solchen Gemeinschaft vergessen: Die „Lender of last resort“-Funktion der Zentralbank ändert sich (vgl. Marsh 2013, S. 31-35). Die EZB übernimmt diese Funktion für die Währungsunion als Ganzes. Dies gilt aber nicht für einzelne Mitgliedstaaten. Box 9-9: Gemeinsame Währung und „lender of last resort” „A country that gives up its monetary sovereignty by dollarising or adopting the euro may gain greater credibility on inflation but may have to pay more to compensate investors for counter-party risk. […] This can be seen starkly by comparing Britain with Spain […] Based on debts, deficits and inflation, Britain should be the riskier credit. But British bonds yield around 2.3% whereas Spain’s yield around 5.5%. One reason is that Britain can still devalue to boost growth; Spain can’t. Another is that it has a lender of last resort; Spain doesn’t” (Economist, 5. November 2011). <?page no="230"?> . Schlussfolgerung 231 www.uvk-lucius.de/ integration 9.7 Schlussfolgerung Die Geld- und Währungspolitik wird auch in den kommenden Jahren einen zentralen Platz in der Entwicklung der Europäischen Union einnehmen. Die Eurokrise hat eine Reihe von Problemen offengelegt, die nur mittel- und langfristig gelöst werden können. Die Geldpolitik wird ihren Beitrag zur Lösung der Eurokrise leisten müssen. Ganz wesentlich sind aber andere Politikbereiche gefordert, die Eurozone und die europäische Wirtschaft auf eine solide Grundlage zu stellen. 9.8 Wichtige Begriffe Feste Wechselkurse flexible Wechselkurse Golddeckung Werner-Plan Phillipskurve Europäische Währungseinheit Trilemma des Wechselkursregimes fiskalische Konvergenz optimaler Währungsraum Europäische Zentralbank Preisstabilität Offenmarktgeschäfte Ständige Fazilitäten Mindestreservesätze Tenderverfahren Mandat der EZB außenwirtschaftliches Gleichgewicht Geldmengensteuerung Sicherheiten Transmissionsmechanismus OMT-Programm 9.9 Literatur Akerlof, George A./ Schiller, Robert J. (2009): Animal Spirits - How Human Psychology Drives the Economy and Why it Matters for global capitalism, Princeton/ Oxford, Princeton University Press Burda, Michael (2013): „Plädoyer für eine neue EZB“, in: WirtschaftsWoche, 17.6. 2013, S. 28 Deutsche Bundesbank (2004): Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, Frankfurt/ Main Deutsche Bundesbank (2013): „Forward Guidance“ - Orientierung über die zukünftige Ausrichtung der Geldpolitik“, in: Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, August 2013, S. 31-33 Draghi, Mario (2012): Verbatim of the remarks made by Mario Draghi, speech by Mario Draghi, at the Global Investment Conference in London 26. Juli 2012 Economist (2011): „Central-bank lending to government serves a valuable, though risky, purpose“, in: Economist, 5. November 2011 <?page no="231"?> 232 9 Die Geld- und Währungspolitik in der Europäischen Union Europäisches Parlament (2014): „Eurozone: Litauen wird 2015 voraussichtlich 19. Mitglied“, Pressemitteilung vom 5. Juni 2014, www.europarl.europa.eu/ news/ de / news-room/ content/ 20/ 40604STO48906/ Europäische Zentralbank (2008): Monatsbericht - 10 Jahre EZB, Frankfurt/ Main Europäische Zentralbank (2010): „Entwicklungen und Perspektiven der Beziehungen der EZB zu den Organen und Einrichtungen der Europäischen Union“, in: EZB Monatsbericht, Januar 2010, S. 77-90 Europäische Zentralbank (2011): Die Geldpolitik der EZB, Frankfurt/ Main Frankfurter Allgemeine Zeitung (2013): „Neuer Appell. Deutsche Ökonomen werfen der EZB Staatsfinanzierung vor“. 11. September 2013 Handelsblatt (2014): „Euro verliert an Gewicht“, 10.1.2014 Görgens, K./ Ruckriegel, K./ Seitz, F.: Europäische Geldpolitik. Theorie, Empirie und Praxis, 6. Auflage, Konstanz, München 2014 Krugman, Paul/ Obstfeld, Maurice/ Melitz, Marc J. (2012): International Economics - Theory & Policy, 9. Auflage, Boston, Addisson-Wesley Marsh, David (2013): Europe’s deadlock - How the Euro Crisis could be solved - and why it won’t happen, Totton Pugel, Thomas (2012): International Economics, 15. Auflage, New York Ribhegge, Hermann (2011): Europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik, 2. Auflage, Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2012): Stabile Architektur für Europa - Handlungsbedarf im Inland. Jahresgutachten, Wiesbaden Scharpf, Fritz W. (2013): „Entmündigung als Lösung? “, in: Internationale Politik und Gesellschaft, Dezember 2013 Spahn, Heinz-Peter (2012): Geldpolitik: Finanzmärkte, neue Makroökonomie und zinspolitische Strategien, 3. Auflage, München <?page no="232"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 10 Die Wirtschaftsunion Leitfragen Warum erzwingt die Schaffung einer Währungsunion die Schaffung einer Wirtschaftsunion? Welche Mechanismen wurden im Vertrag von Lissabon vorgesehen, um die Zusammenarbeit im Rahmen der Wirtschaftsunion zu organisieren? Welche Veränderungen der Wirtschaftsunion wurden infolge der Eurokrise vorgenommen? Welche Herausforderungen ergeben sich für die Zukunft der Wirtschaftsunion? 10.1 Einführung In dem EWG-Vertrag war die schrittweise Annäherung, die Konvergenz der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten verabredet worden. In Artikel 2 heißt es: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern.“ Die Konvergenz wurde nicht um ihrer selbst willen angestrebt, sondern auch wegen der Verbindung mit dem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht. In Artikel 3 heißt es, dass die Mitgliedstaaten Verfahren anwenden sollen, „welche die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und die Behebung von Störungen im Gleichgewicht ihrer Zahlungsbilanzen ermöglichen.“ Der Fokus der Politik der Gemeinschaft lag zunächst jedoch auf der Öffnung der Märkte für den Handel innerhalb der Gemeinschaft, der Handelspolitik mit Ländern außerhalb der Gemeinschaft und der Agrarpolitik. Eine wachsende Einsicht in die Notwendigkeit der Koordination der Wirtschaftspolitik ergab sich aus den Erfahrungen mit der währungspolitischen <?page no="233"?> 234 10 Die Wirtschaftsunion www.uvk-lucius.de/ integration Zusammenarbeit. Als Anfang der 1970er-Jahre das Bretton-Woods-System kollabierte und die Mitgliedstaaten der Union nicht den Weg flexibler Wechselkurse wählten, sondern weiterhin die Währungsschwankungen innerhalb der Gemeinschaft begrenzen wollten, war klar, dass die Zusammenarbeit eine besondere wirtschaftspolitische Disziplin notwendig macht. Dies erforderte die Weiterentwicklung der Koordination der Wirtschaftspolitik. Die schmerzhaften Erfahrungen mit der währungspolitischen Zusammenarbeit zeigten, dass besondere institutionelle Mechanismen erforderlich sind, um die Abstimmung der Wirtschaftspolitik zu organisieren. Mit der Einführung der gemeinsamen Währung in den 1990er-Jahren und der Verfolgung einer einheitlichen Geld- und Währungspolitik wurde dieser Koordinationsbedarf der Mitgliedstaaten noch dringlicher und stärker. Entsprechende Abstimmungsmechanismen wurden entwickelt und in den Verträgen festgeschrieben. Die Eurokrise offenbarte jedoch, dass das System erhebliche Schwachstellen aufwies, eine erneute Verfeinerung des Instrumentariums der Koordination wurde notwendig. 10.2 Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik Vor dem Hintergrund der Anforderungen an eine funktionsfähige Währungsunion wurde im Maastricht-Vertrag ein institutionelles Rahmenwerk zur Koordination der Wirtschaftspolitik beschlossen. Dieses wurde im Lissabon-Vertrag weiter präzisiert und in den Folgejahren weiterentwickelt. Zwar verbleibt die Verantwortung für die Haushalts-, Finanz- und Strukturpolitik grundsätzlich in den Händen der nationalen Regierungen, die Koordinierung der Wirtschaftspolitik und die Beachtung gemeinsam verabredeter Regeln wird allerdings als notwendig erachtet, da unterschiedliche Inflationsraten, eine Schieflage der Staatsfinanzen durch hohe Haushaltsdefizite bzw. eine enorme öffentliche Verschuldung, Ungleichgewichte in der Zahlungsbilanz und andere wirtschaftspolitischen Fehlentwicklungen die Währungsunion bedrohen können. 10.2.1 Die rechtlichen Grundlagen der Koordinierung Ausgangspunkt der Koordinierung der Wirtschaftspolitik ist zunächst das Bekenntnis der EU-Staaten zur Notwendigkeit der Abstimmung der Wirtschaftspolitik. In Artikel 5 des AEUV heißt es, dass die Mitgliedstaaten ihre Wirtschaftspolitik innerhalb der Union koordinieren. Die Wirtschaftspolitik wird als eine „Angelegenheit von gemeinsamem Interesse“ bezeichnet. In Artikel 119 AEUV wird konkretisiert, dass Mitgliedstaaten stabile Preise und gesunde öffentliche Finanzen anstreben und bei der Entwicklung ihrer Zahlungsbilanz auf <?page no="234"?> Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik 235 www.uvk-lucius.de/ integration die dauerhafte Finanzierbarkeit achten. In dem Strategiepapier „Europa 2020“, dem Nachfolgedokument der Lissabon-Strategie finden sich ergänzende Erläuterungen zur Koordinierung. Details der wirtschaftspolitischen Koordinierung sind auch in Protokollen zum Lissabon-Vertrag, in Verordnungen und Richtlinien kodifiziert. Box 10-1: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt Der 1997 unterzeichnete Stabilitäts- und Wachstumspakt enthielt die zentralen Eckpunkte der Koordinierung in der Wirtschaftsunion. Im Mittelpunkt standen zunächst die Fiskalkriterien: Die öffentliche Neuverschuldung sollte 3% des BIP nicht überschreiten, die gesamtstaatliche Verschuldung sollte maximal 60% gemessen am BIP betragen. In dem Pakt werden Regeln, die präventiv wirken und Schieflagen vermeiden sollen, und Regeln, die korrektiv wirken, d.h. dann greifen, wenn ein Problem eingetreten ist, unterschieden. Um der Notwendigkeit der Haushaltsdisziplin Nachdruck zu verleihen, war bereits im Maastricht-Vertrag die „Nobail-out-Regel“ festgehalten worden: Die Verabredung, dass Mitgliedstaaten auch in Krisen nicht für die Schulden anderer EU-Staaten einstehen müssen. Box 10-2: Die No-bail-out-Regel im Lissabon-Vertrag Im Lissabon-Vertrag heißt es in Artikel 125 AEUV: „Die Union haftet nicht für die Verbindlichkeiten der Zentralregierungen, der regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaften, sonstiger Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder öffentlicher Unternehmen von Mitgliedstaaten und tritt nicht für derartige Verbindlichkeiten ein; dies gilt unbeschadet der gegenseitigen finanziellen Garantien für die gemeinsame Durchführung eines bestimmten Vorhabens.“ (Artikel 125 AEUV) Die mit der Wirtschafts- und Finanzkrise aufgedeckten Probleme zeigten die Notwendigkeit, das Instrumentarium zu verfeinern und zu schärfen. Mit mehreren Reformpaketen wurde der Steuerungsrahmen ergänzt: Der 2011 in Kraft getretene Sechserpack (fünf Verordnungen und eine Richtlinie), der 2013 in Kraft getretene Zweierpack (zwei Verordnungen), der 2013 in Kraft getretene Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung und der Euro-Plus-Pakt <?page no="235"?> 236 10 Die Wirtschaftsunion www.uvk-lucius.de/ integration enthalten weiterführende Regelungen. Die wirtschaftspolitische Koordinierung umfasst auch gemeinsame Bestimmungen zur Architektur der europäischen Finanzmärkte, einen Rahmen zur Abwicklung von Banken, einen einheitlichen Aufsichtsmechanismus und die Entwicklung eines Gesamtkonzeptes, welches als „Bankenunion“ bezeichnet wird. 10.2.2 Das europäische Semester und die Überwachung der nationalen Wirtschaftspolitik Organisatorisch stehen auf europäischer Ebene die Kommission, der Rat der Europäischen Union bzw. die Eurogruppe und das Europäische Parlament im Zentrum der Koordinierung. Die Beratungen erfolgen im Rahmen sogenannter formeller oder informeller Triloge. Seit 2011 erfolgt die Koordinierung der Wirtschafts-, Finanz- und Beschäftigungspolitik im Wesentlichen im Rahmen des sogenannten „Europäischen Semesters“, ein Zyklus von Maßnahmen, der mit einem Jahreswachstumsbericht der Europäischen Kommission, der die wichtigsten finanz-, wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Herausforderungen für die Europäische Union benennt, beginnt. Auf dieser Basis entscheidet der Europäische Rat über „Leitlinien für die Wirtschafts- und Finanzpolitik für die Mitgliedstaaten und die Europäische Union“. Diese Leitlinien sollen die Staaten dabei unterstützen, eine nachhaltige und wachstumsorientierte Politik zu verfolgen. Die Empfehlungen geben konkrete Orientierungsmaßstäbe für die Finanzpolitik, die Wirtschaftspolitik und die Beschäftigungspolitik der Mitgliedstaaten (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2013, S. 61). Die Mitgliedstaaten der Union erarbeiten auf dieser Grundlage ihre nationalen Reformprogramme bzw. Stabilitäts- und Konvergenzprogramme, in denen die makroökonomischen Daten und die abgeleitete Strategie beschrieben werden. Die Programme enthalten die Maßnahmen, die zur Erreichung der Ziele und der Erfüllung der Empfehlungen des Vorjahrs gedacht sind. Die Kommission prüft die Programme und im Juni des Jahres beschließen der Rat der Europäischen Union bzw. der Europäische Rat Empfehlungen für die Wirtschaftspolitik des Landes. Die Reformfortschritte werden insbesondere für jene Länder, welche die Kriterien nicht erfüllen, ständig überwacht. Sie sind unter Umständen verpflichtet, wirtschaftliche Anpassungsprogramme vorzulegen, die vom Rat der Europäischen Union gebilligt werden müssen. Falls Mitgliedstaaten Finanzhilfeprogramme benötigen und erhalten, sind weitergehende wirtschaftspolitische Maßnahmen erforderlich. Hinzu kommt, dass vierteljährlich Überwachungsmissionen entsandt werden, um den wirtschaftlichen Fortschritt zu überprüfen. <?page no="236"?> Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik 237 www.uvk-lucius.de/ integration 10.2.3 Elemente der Koordinierung: Finanzpolitik, allgemeine Wirtschaftspolitik, Finanzmarktpolitik Verantwortungsvolle Haushaltspolitik - Staatsverschuldung reduzieren Für die öffentlichen Haushalte ist bereits im Stabilitäts- und Wachstumspakt von 1997 die Obergrenze für die Nettoneuverschuldung von 3% des BIP und für den öffentlichen Schuldenstand von 60% des BIP verbindlich festgelegt worden. Staaten, die den Referenzwert für die öffentliche Verschuldung überschreiten, müssen den Schuldenüberhang sukzessive abbauen. Das Ausgabenwachstum der öffentlichen Hand wird grundsätzlich auf das Wachstum des mittelfristigen Potentialwachstums begrenzt. 25 Mitgliedstaaten haben sich darüber hinaus in dem „Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ und speziell in dessen Teil, den man als Fiskalpakt bezeichnet, verpflichtet, Schuldenobergrenzen in nationales Recht zu übertragen. Die Bewertung der Haushaltsposition orientiert sich heute nicht nur an dem absoluten Wert der Verschuldung oder dessen Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Das Defizit wird analytisch nach der strukturellen und konjunkturellen Dimension unterschieden. Box 10-3: Strukturelles Defizit Das Staatsdefizit eines Landes wird sowohl durch konjunkturelle Faktoren als auch durch strukturelle Fehlentwicklungen bestimmt. Während ein konjunkturelles Defizit mit dem Anziehen der Konjunktur abgebaut wird, ist ein strukturelles Defizit dauerhaft und eine permanente Belastung für eine Volkswirtschaft. Im Fall einer schweren konjunkturellen Krise erscheint ein Anstieg der relativen Verschuldung vertretbar, wenn die strukturelle Komponente des Defizits nicht ebenfalls steigt. Damit soll ein Problem vermieden werden, dass in dem konjunkturellen Abschwung eine überzogene Austerität die Krise verschlimmert. Entscheidend sind die mittelfristige Konsolidierung und der Trend des strukturellen Defizits. Um die Durchsetzung der Regeln zu verbessern, wird die Transparenz erhöht, ein Frühwarnsystem (Verwarnungen, Sanktionen) und ein geordnetes Verfahren bei einem übermäßigen Defizit eingeführt. Sanktionen gegen Staaten, welche die Regeln nicht beachten, sind möglich. <?page no="237"?> 238 10 Die Wirtschaftsunion www.uvk-lucius.de/ integration Die Koordinierung der allgemeinen Wirtschaftspolitik Nicht nur haushaltspolitische Ungleichgewichte stellen in einer Währungsunion Risiken dar. Makroökonomische Ungleichgewichte im internationalen Handel, dem Arbeitsmarkt, dem Finanzmarkt, dem Immobilienmarkt können ebenfalls erhebliche Auswirkungen für die Stabilität von Volkswirtschaften und der Union haben. Die Überwachung der EU-Staaten wurde daher auf diese Bereiche ausgeweitet, eine wichtige Lücke im Koordinierungsrahmen wurde damit geschlossen (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2011). Elf Indikatoren werden regelmäßig erhoben und veröffentlicht, das Erkennen von Risikobereichen soll damit erleichtert und frühzeitiges Gegensteuern ermöglicht werden. Erfasst werden die folgenden Indikatoren: Leistungsbilanzsaldo in Prozent des BIP, Nettoauslandsvermögensstatus in Prozent des BIP, Veränderung des realen effektiven Wechselkurs gegenüber 16 bzw. 36 Handelspartnern über die letzten drei Jahre, Veränderung der Weltexportmarktanteile über die letzten fünf Jahre, Veränderung der nominalen Lohnstückkosten über die letzten drei Jahre, Veränderung des Hauspreisindex über ein Jahr, privater Kreditfluss in Prozent des BIP, privater Schuldenstand in Prozent des BIP, Staatsverschuldung in Prozent des BIP, Arbeitslosenquote, Veränderung der Verbindlichkeiten des gesamten Finanzsektors über ein Jahr. Die entsprechenden Daten sind auch Teil der von der Kommission erstellten Berichte (des Gesamtberichts und der Länderberichte), in denen die Ungleichgewichte beschrieben werden. Die Kommission veröffentlicht „Länderspezifische Empfehlungen“. In besonders gefährdeten Staaten werden nachfolgend eingehende Überprüfungen der Situation und der Handlungsoptionen durchgeführt. Die Kommission kann den Staaten Korrekturmaßnahmen empfehlen. Auch bei makroökonomischen Ungleichgewichten sind Sanktionen möglich. Die Stabilisierung der Finanzmärkte Angesichts der Bedeutung der Finanzmärkte für die wirtschaftliche Entwicklung und der engen Verbindung zwischen der Entwicklung der Staatshaushalte und der Situation der Banken ist auch in diesem Bereich die wirtschaftliche Koordi- <?page no="238"?> Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik 239 www.uvk-lucius.de/ integration nierung intensiviert worden. Eine Währungsunion erfordert die Zusammenarbeit im Bereich der Finanzaufsicht, damit die Stabilität des privaten Finanzsystems gesichert werden kann (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2010, S. 13). Die Stabilität soll durch makroprudenzielle (das ganze Bankensystem betreffende) und mikroprudenzielle (einzelne Finanzintermediäre betreffende) Regulierung erreicht werden. Zahlreiche institutionelle Reformen wurden beschlossen, um einen einheitlichen Aufsichtsmechanismus für Banken in Europa zu haben, Fehlentwicklungen und den Vertrauensverlust in das Bankensystem und eine Fragmentierung des europäischen Finanzmarktes zu verhindern. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich zur strengen Regulierung der nationalen Finanzmärkte und zur engen Koordinierung der Maßnahmen. EU-weit koordinierte Stresstests sollen frühzeitig auf Fehlentwicklungen aufmerksam machen. Das Europäische Finanzaufsichtssystem (European System of Financial Supervision) mit der Europäischen Bankenaufsicht (European Banking Authority, EBA), der Aufsicht über Versicherungen und betriebliche Altersversorgung (European Insurance and Occupational Pensions Authority, EIOPA), der Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (European Securities and Markets Authority, EMA) und dem Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (European Systems Risk Board, ESRB) wurden geschaffen. Die Europäische Zentralbank ist die federführende Institution bei der Aufsicht systemrelevanter Banken. In der folgenden Abb. 10-1 sind die Kernelemente der Kooperation im Rahmen der Wirtschaftsunion dargestellt. Stabile Haushalte Stabile Wirtschaft Stabile Finanzmärkte 3% Defizitobergrenze + Verpflichtung zu mittelfristig ausgeglichenem Haushalt 1) verpflichtende Schuldenrückführung (Abbau der Differenz zwischen Schuldenstand und Referenzwert von 60% vom BIP um 1/ 20 p.a. 1) genauere Überwachung von Mitgliedstaaten im Defizitverfahren 3) gemeinsame Wachstumsstrategie 6) makroökonomisches Überwachungsverfahren zur Früherkennung von Ungleichgewichten und politische Vorgaben zur Korrektur 2) Euroländer vereinbaren jährliche Ziele zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit 4) Europäisches Semester 2) neue Finanzmarktaufsicht EU-weit koordinierte regelmäßig wirksame Stresstests strengere Regulierung (mehr Eigenkapital, weniger spekulative Produkte) Regelungen zur Bankenabwicklung und nationale Fonds zur Bankenrestrukturierung <?page no="239"?> 240 10 Die Wirtschaftsunion www.uvk-lucius.de/ integration verstärkte Überwachung von Staaten mit gravierenden Schwierigkeiten in Bezug auf finanzielle Stabilität 3) quasi-automatische Sanktionen bei Nichteinhaltung Haushaltsüberwachung 3) Verpflichtung zur Einrichtung von nationalen Fiskalregeln (Schuldenbremse) 5) Europäisches Semester 2) Aufbau adäquater Einlagensicherungssysteme 1) Reformierter Stabilitäts- und Wachstumspakt, 2) Sechserpack, 3) Zweierpack, 4) Euro-Plus-Pakt, 5) Fiskalvertrag, 6) Europa 2020 Abb. 10-1: Kernelemente der wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit in Europa Quelle: Bundesministerium der Finanzen 2013, S. 24; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2012, S. 62-84 Die wirtschaftspolitische Koordinierung wurde in den letzten Jahren entscheidend intensiviert, insbesondere in Reaktion auf die Finanzkrise in Europa, die seit 2010 die EU in besonderer Weise fordert. Box 10-4: Wirtschaftspolitische Koordinierung kontrovers Die Befürworter der bisherigen Koordinierung sehen in dem sich entwickelnden institutionellen Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung einen wesentlichen Fortschritt in der europäischen Integration. In Ländern mit einer schwachen Stabilitätskultur und schwachen Institutionen sorge die europäische Koordinierung für einen heilsamen Druck. Die währungspolitische Zusammenarbeit erhöhe die politischen Kosten inflationärer Politik, Abwertungen im Rahmen fester Wechselkurse führten zu einem höheren Ansehensverlust für Politik und Zentralbank der betroffenen Länder als in einem flexiblen Wechselkurssystem, und zwinge daher die Verantwortlichen zu einer stabilitätskonformen Politik, wie die Glaubwürdigkeitstheorie postuliert (vgl. Krugman/ Obstfeld/ Melitz 2012, S. 561). Die europäische Einigung sei stets ein Lernprozess, der sukzessive einen gangbaren Weg offenlegt. Die Berücksichtigung konjunktureller Belastungen sei ein Beispiel für die sinnvolle Weiterentwicklung. Es sei in den letz- <?page no="240"?> Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik 241 www.uvk-lucius.de/ integration ten Jahren eine Konvergenz der wirtschaftspolitischen Konzepte zu beobachten. Kritiker betonen die Schwierigkeiten der Koordinierung. Schon die Entscheidung über die an der Währungsunion teilnehmenden Staaten habe die Schwäche der Koordinierung gezeigt: Politische Interessen dominierten wirtschaftliche Fakten: Die Koordinierung scheitere immer wieder an den Realitäten politischer Macht in der EU. So verhinderte der Europäische Rat die Einleitung eines von der Kommission angestrengten Defizitverfahrens, als im Jahr 2003 und 2004 Deutschland und Frankreich überhöhte Defizite aufwiesen. Die fortdauernde Souveränität der Staaten im Hinblick auf die Fiskalpolitik sei mit der Währungsunion angesichts fehlender Disziplin einiger Mitgliedstaaten nicht vereinbar. Die Abwesenheit klarer Sanktionen in der Vergangenheit beweise, wie wenig die Politik in der Lage sei, Fehlentwicklungen zu korrigieren. Stabilitätsgerechte Politik der Mitgliedstaaten Die in einer Währungsunion von der Zentralbank verfolgte Politik bedarf der Flankierung durch die Wirtschaftspolitik, insbesondere der Finanzpolitik, aber auch der Lohnpolitik. Diese Bedingung für eine funktionsfähige Währungsunion wurde seit ihrer Gründung immer wieder betont, die Notenbankpräsidenten des Euro-Währungsgebietes und der Präsident der EZB hatten immer wieder Kritik an den Regierungen geübt und gefordert, dass diese mehr tun müssen, um einen stabilen Rahmen für die wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen. In der Zeit bis zur Finanzkrise hatten einige Staaten die öffentliche Verschuldung entschieden reduziert: Belgien verminderte die öffentliche Schuldenbelastung von 1999 bis 2007 um 30 Prozentpunkte auf 84%, Spanien um 26 Prozentpunkte auf 25% und Irland im gleichen Zeitraum um 22 Prozentpunkte auf 25%. Die beiden großen Mitgliedstaaten Frankreich und Deutschland erhöhten jedoch die Staatsverschuldung, gemessen in Prozent am BIP. Insgesamt sank für die EU-27 die Staatsverschuldung von 66% auf 59%. In der Finanzkrise allerdings wuchsen die Staatsschulden in allen Mitgliedstaaten, mit Ausnahme Schwedens. Die durchschnittliche öffentliche Verschuldung aller EU-Staaten belief sich Ende 2012 auf 85%. Im Euro-Währungsgebiet wuchs in zehn Staaten die Staatsverschuldung von 2007 bis 2012 um mehr als 20 Prozentpunkte, am stärksten war der Anstieg in Irland mit einem Sprung von 25% auf 117%. In Portugal stieg die Quote von 69 auf 124%, in Griechenland stieg die Quote von 107 auf 157%, in Spanien von 36 auf 84%. Auch die Lohn- und Preisentwick- <?page no="241"?> 242 10 Die Wirtschaftsunion www.uvk-lucius.de/ integration lung in vielen Ländern entsprach nicht den Anforderungen an eine stabilitätsgerechte Entwicklung. In mehreren Ländern waren die allgemeine Wirtschaftspolitik der Regierung und das Handeln der Tarifpartner nicht geeignet, die Notenbank in ihrem Mandat zur Sicherung der Preisstabilität zu unterstützen. Vielmehr wurde die Arbeit der Notenbank deutlich erschwert. Box 10-5: Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen Ein wesentliches Element wirtschaftspolitischer Stabilität besteht darin, die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu gewährleisten. Darunter ist die Fähigkeit eines Staates zu verstehen, seine Verbindlichkeiten auf lange Sicht bedienen zu können (vgl. Europäische Zentralbank 2011, S. 63 ff., Bundesministerium der Finanzen 2014, S. 44 ff). Abb. 10-2: Öffentlicher Haushalt In Abb. 10-2 sind schematisch die Einnahmen und Ausgaben des Staates für ein gegebenes Jahr t gegenübergestellt. Ein Budgetdefizit (Nettokreditaufnahme) ergibt sich demnach als Summe aus einem Primärdefizit PD (Staatsausgaben ohne Zinszahlungen abzüglich Steuern) und den Zinsausgaben (mit i = Zinssatz) aus der Bedienung der aufgelaufenen Staatsschuld (vgl. Blanchard 1990): NK t = D t - D t-1 = E t - T t + iD t-1 = PD t + iD t-1 . Bei einem schuldenfreien Staat (D t-1 = 0) stimmen Primär- und Budgetdefizit überein. Liegen Schulden aus der Vergangenheit vor, übersteigt das Budgetdefizit das Primärdefizit um die zusätzlichen Zinszahlungen (Sekundärdefizit). Während das Primärdefizit durch die Änderung von Einnahmen und Ausgaben des Staates aktuell noch beeinflussbar ist, stellt ein iD = Zinsen auf aufgelaufene Staatsschuld G = Personal- und Sachausgaben Tr = Transfers NK = Netto- Kreditaufnahme E E - T = Primärdefizit Einnahmen Ausgaben T = Steuern <?page no="242"?> Schlussfolgerungen 243 www.uvk-lucius.de/ integration Sekundärdefizit das Ergebnis zurückliegender und nicht mehr korrigierbarer Entscheidungen dar (vgl. Homburg 2005, S. 7 ff.). Erst wenn negative Primärdefizite, d.h. Primärüberschüsse, (T t - E t ) erzielt werden, die höher als die laufenden Zinsausgaben sind, kann der Schuldenstand vermindert werden. Durch Auflösen nach D t ergibt sich als Gleichung für den Schuldenstand zum Ende des Jahres t: D t = PD t + (1+ i)D t-1 . Um eine Ländervergleichbarkeit vornehmen zu können, werden die Größen relativ zum BIP ausgedrückt. Wächst das BIP mit der Rate w BIP pro anno, lässt sich für die Schuldenstandquote schreiben: D t / BIP t = PD t / BIP t + (1+ i)D t-1 / (1 + w BIP )BIP t-1 bzw. d t = pd t + [(1 + i)/ (1 + w BIP )] d t-1 . Nach geeigneter Erweiterung erhält man als dynamische Gleichung der Schuldenakkumulation: d t = pd t + [(i - w BIP )/ (1 + w BIP )] d t-1 . Neben der Primärdefizitquote hat das Verhältnis von Zinssatz und BIP-Wachstumsrate („Schneeballeffekt“) einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Staatsschuldenquote. Zur Erreichung einer stabilen oder sinkenden Schuldenquote ( d t 0) müssen daher ausreichend hohe Primärüberschüsse erwirtschaftet werden, wenn das Zins-Wachstums-Differenzial positiv ist (vgl. Europäische Zentralbank 2011, S. 66). Die Projektionen auf der Grundlage dieser konventionellen Schuldendienstfähigkeitsanalyse unterliegen aber Einschränkungen. Neben der Berücksichtigung von Eventualverbindlichkeiten und impliziten Schulden des Staates dürfen auch die Interdependenzen zwischen den Bestimmungsgrößen der Staatsschuldentwicklung nicht außer Acht gelassen werden (vgl. Europäische Zentralbank 2012, S. 63 ff.). 10.3 Schlussfolgerungen Es ist nicht möglich, eine einheitliche Währung zu haben, ohne dass wirtschaftlich eng zusammengearbeitet wird: Fiskalisch sind die Staaten gefordert, einen verantwortlichen Kurs zu fahren, die Kontrolle der nationalen Finanzsysteme kann angesichts der Externalitäten von Bankenkrisen keine nationale Angelegenheit alleine sein. Auch die allgemeine Wirtschaftspolitik muss bestimmte gemeinsam vereinbarte und akzeptierte Grundprinzipien beachten. Über den Abstimmungsbedarf besteht grundsätzlich Konsens. Die Mechanismen der Zusammenarbeit und deren konkrete institutionelle Umsetzung, die Fragen, ob und welche Eingriffe in die Souveränitätsrechte der Staaten erlaubt, angemessen und geboten sind, bleiben umstritten. <?page no="243"?> 244 10 Die Wirtschaftsunion 10.4 Wichtige Begriffe Konvergenz Koordinierung Europäisches Semester Stabilitäts- und Wachstumspakt makroökonomisches Ungleichgewicht strukturelles Defizit Systemrisiken Tragfähigkeit 10.5 Literatur Blanchard, Olivier Jean (1990): Suggestions for a New Set of Fiscal Indicators, OECD, Department of Economics and Statistics, Working Papers, No 79 Bundesministerium der Finanzen (2011): „Die Gesamtstrategie zur Stabilisierung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion“, in: Monatsbericht des BMF April 2011, S. 39-62 Bundesministerium der Finanzen (2013): Das Europäische Semester 2013, in: Monatsbericht des BMF, Juli 2013, S. 61-73 Bundesministerium der Finanzen (2014): „Langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. Zwischenaktualisierung zu Beginn der neuen Legislaturperiode“, in: Monatsbericht März, S. 44-53 Europäische Zentralbank (2011): „Sicherung der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen im Euro-Währungsgebiet“, in: Monatsbericht April, S. 63-81 Europäische Zentralbank (2012): „Analyse der Tragfähigkeit der Staatsverschuldung im Euro-Währungsgebiet“, in: Monatsbericht April, S. 63-79 Homburg, Stefan (2005): Nachhaltige Finanzpolitik für Niedersachsen, Hannover Krugman, Paul/ Obstfeld, Maurice/ Melitz, Marc J. (2012): International Economics - Theory & Policy, 9. Auflage, Boston, Addison-Wessley Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2010): Chancen für einen stabilen Aufschwung, Jahresgutachten 2010/ 11, Wiesbaden Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2012): Stabile Architektur für Europa - Handlungsbedarf im Inland, Jahresgutachten 2012/ 13, Wiesbaden <?page no="244"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 11 Die Eurokrise - Ursachen und Herausforderungen Leitfragen Welche Rolle spielte die Staatsverschuldungskrise in der Entwicklung der Eurokrise? Welche Lösungsmöglichkeiten sind kurzfristig, welche langfristig zu ergreifen, um innerhalb der bestehenden Währungsunion den Weg zurück zu Wachstum zu finden? Welche Szenarien gibt es, wenn die Währungsunion in der bestehenden Form nicht weiterbesteht? 11.1 Einführung Die Bewertung der Einführung des Euros zehn Jahre nach dem Start war überwiegend positiv. Die EZB kam 2008 zu der Einschätzung: „Der Euro hat erheblich zum Funktionieren unseres großen kontinentalen Marktes und somit zur Verwirklichung eines echten Binnenmarktes beigetragen. Zudem hat er die Wirtschaft des Eurogebiets vor den zahlreichen globalen Schocks und erheblichen Turbulenzen der vergangenen Jahre geschützt.“ (Europäische Zentralbank 2008, S. 6) In den Medien und wissenschaftlichen Publikationen überwog ein positiver Tenor. 2009 änderte sich dies. Die Euro-Krise begann mit einer wachsenden Skepsis hinsichtlich der Fähigkeit der griechischen Regierung, die Staatsschulden zu bedienen. In kurzen Abständen weitete sich die Sorge auf die Zahlungsfähigkeit Irlands, Spaniens, Portugals, Italiens und Zyperns aus. Zahlreiche Maßnahmen wurden ergriffen, um die Liquidität der besonders von der Krise betroffenen Länder zu gewährleisten. Gleichwohl wuchsen Zweifel an der Fähigkeit der Eurozone, die Probleme der Finanzkrise unbeschadet zu überstehen. Aus nationalen Krisen wurde die „Eurokrise“. Die Ursachen lassen sich fünf Problemfeldern zuordnen, die jeweils spezifische Lösungen erfordern. <?page no="245"?> 246 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration 11.2 Die Genese der Krise Die Finanz- und Wirtschaftskrise in den USA löste eine schwere Vertrauenskrise im weltweit vernetzten Finanzsystem aus. Das Vertrauen in die Kreditwürdigkeit von bis dahin als solvent und liquide angesehenen Instituten war erschüttert. Die Weltwirtschaft stand vor dem Zusammenbruch, Panik beherrschte die Märkte, die wirtschaftliche Ungewissheit war auf einem historischen Hoch. In diesem Klima wurden traditionelle Kapitalbewegungen hinterfragt und Bewertungen aus der Vergangenheit überprüft. Dies betraf auch Staaten, Finanzinstitutionen und Unternehmen aus Europa. Besondere Dynamik erhielt die Krise in Europa, als Griechenland, dessen Pro- Kopf-Einkommen in den Jahren 1999-2007 jährlich um durchschnittlich 4% gewachsen war, ankündigte, ein deutlich höheres als das bis dahin kommunizierte Staatsdefizit zu haben. Hinzu kam das Eingeständnis, dass die in der Vergangenheit der EU übermittelten Werte für die Staatsverschuldung manipuliert waren. Die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Regierung rückte in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der internationalen Beobachter. Die Fähigkeit der griechischen Regierung, die wachsenden Staatsschulden zu bedienen, wurde bezweifelt. Das positive Länderrating der führenden Ratingagenturen und damit die Bewertung des Risikos durch die Kapitalmärkte wurden in kurzer Zeit komplett revidiert (vgl. Konrad/ Zschäpitz 2010). Box 11-1: Die Kontroverse um das Rating von Staatsanleihen Für Käufer und Verkäufer von Anleihen ist das Rating der Anlage von zentraler Bedeutung. Ratingagenturen bereiten Informationen auf, sie ermöglichen Käufern in einem komplexen Umfeld mit sehr detaillierten Regelungen für einzelne Finanzprodukte durch kompakte Informationen die Entscheidungsfindung. Das Rating verringert Transaktionskosten, insbesondere die Kosten der Beschaffung und Verarbeitung von Informationen. Die Informationsverdichtung auf eine Kennzahl, die Ratingnote, reduziert die Komplexität erheblich. Das Rating stellt dabei eine Einschätzung der Bonität eines Schuldners dar. Sie gibt die Schätzung der Ausfallwahrscheinlichkeit einer Anlage wieder. Die Ausfallwahrscheinlichkeiten werden in Klassen zusammengefasst. Die drei führenden Ratingagenturen Standard & Poors, Moody’s und Fitch nutzen leicht unterschiedliche Systeme. <?page no="246"?> Die Genese der Krise 247 www.uvk-lucius.de/ integration Moody’s Standard & Poors Fitch Beschreibung Aaa AAA AAA maximale Sicherheit Aa1/ Aa2/ Aa3 AA+/ AA/ AA - AA+/ AA/ AA - hoch qualitativ A1/ A2/ A3 A+/ A/ A - A+/ A/ A - hochwertig Baa1/ Baa2/ Baa3 BBB+/ BBB/ BBB - BBB+/ BBB/ BBB - weniger hochwertig Ba1 BB+ BB+ unsicheres Investment Ba2/ Ba3 BB/ BB - BB/ BB - spekulativ B1/ B2/ B3 B+/ B/ B - B+/ B/ B - hoch spekulativ Caa1 CCC+ CCC substantielles Risiko Caa2/ Caa3 CCC/ CCC - riskant, Ausfälle möglich Ca - extrem spekulativ C - - Zahlungsverzugsgefahr D D DDD/ DD/ D in Zahlungsverzug Abb. 11-1: Das Bewertungsschema der Ratingagenturen Bereits in früheren Finanzkrisen und so auch während der Finanz- und Wirtschaftskrise wurde die Rolle der Ratingagenturen sehr kontrovers diskutiert: Die Sicht der Ratingagenturen: Die Agenturen stellen hilfreiche ergänzende Informationen bereit, sie bündeln das verfügbare Wissen und geben Entscheidern Orientierung. Im Kontext der substantiellen Informationsasymmetrie und der hohen Kosten für die Beschaffung und Verarbeitung von Informationen senken sie Transaktionskosten, insbesondere für Anleger mit kleineren Anlagebeträgen. Die Risikomodelle der <?page no="247"?> 248 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration Ratingagenturen helfen, mit der Komplexität des Finanzsektors umzugehen. Der Ratingprozess gleicht dem der Banken bei ihren Kreditvergabeentscheidungen. Die Formalisierung der Bewertung ist hilfreich und objektiviert Entscheidungsprozesse. Die Sicht der Kritiker der Ratingagenturen: Ratingagenturen haben Eigeninteressen, die ihre Unabhängigkeit beeinträchtigen. Sie haben in der Vergangenheit mehrfach substantielle Bewertungsfehler gemacht. Die Abhängigkeit des Finanzsystems von Entscheidungen der Ratingagenturen ist zu weitgehend. Das Herdenverhalten von Kapitalanlegern ist teilweise dieser Abhängigkeit geschuldet und für die Instabilität des Finanzsystems mitverantwortlich. Ratingagenturen haben darüber hinaus einen „home bias“: Sie bewerten Anleihen des eigenen Landes besser als andere Anleihen (vgl. Fuchs/ Gehring 2013). Die Situation Griechenlands veranlasste eine Umkehr der Kapitalströme, die von Gläubigern geforderten Zinsaufschläge stiegen in bis dahin in Europa nicht gekannte Höhen. Die Bewertung durch die Ratingagenturen führte darüber hinaus zu einem sich selbst verstärkenden Mechanismus. Fonds mussten Anleihen aufgrund der gesenkten Bewertung verkaufen, was wiederum den Preisdruck erhöhte und die Position der Länder verschlechterte. Abb. 11-2: Die Entwicklung des Ratings Griechenlands. Quelle: OECD 2013, S. 142. <?page no="248"?> Die Genese der Krise 249 www.uvk-lucius.de/ integration Die genaue Betrachtung der wirtschaftspolitischen Grunddaten, die auch in das Rating eingeflossen waren, ließ jetzt strukturelle Defizite der griechischen Wirtschaft offenbar werden, die von den oberflächlichen Analysen der Zeit vor der Krise nicht erfasst wurden. Die Leistungsfähigkeit des Staates, die Lohn- und Preisentwicklung, die Entwicklung der Ex- und Importe, der Steuereinnahmen und anderes mehr machten deutlich, dass die Zahlungsfähigkeit des griechischen Staates ernsthaft gefährdet war. Auch in Spanien und in Irland kam es zu schweren Krisen. Insbesondere Irland war über viele Jahre zum Musterbeispiel nachholender Entwicklung erklärt worden und wurde in Anlehnung an die „asiatischen Tigerstaaten“ als „keltischer Tiger“ bezeichnet. Die jährlichen Wachstumsraten des BIP waren zwischen 1999 und 2007 mit 6,2% hoch, die Arbeitslosigkeit niedrig, ausländische Direktinvestitionen flossen in das Land, für Migranten war Irland ein attraktives Ziel, die Immobilienpreise stiegen. Als die Immobilienkrise in den USA zu hohen Wertverlusten auch bei Finanzinstitutionen in Europa führte, waren auch irische Finanzinstitutionen davon betroffen. Hinzu kam, dass auch in diesem Land ein Immobilienboom die Preise in die Höhe trieb, und viele Bürger in der Erwartung weiter steigender Preise mit wenig Eigenkapital Häuser und Wohnungen erworben hatten. Ähnlich wie in den USA konnten nach dem Einbruch der Immobilienpreise viele Eigentümer bei gesunkenen Preisen und steigender Arbeitslosigkeit die Kredite nicht mehr bedienen. Als mehreren wichtigen Finanzintermediären die Insolvenz drohte, sprang der Staat mit Hilfsgeldern ein, die Staatsverschuldung explodierte, aus dem vorher scheinbar musterhaft wirtschaftenden Staat wurde in kürzester Zeit ein hoch verschuldeter Staat, der Hilfe benötigte, um die Staatsschulden zu bedienen. Für die Krise in Irland war daher im Wesentlichen der Finanzsektor verantwortlich. Der irische Staat hatte im Grunde solide gewirtschaftet. Allerdings hatte er die Aufgabe der Finanzaufsicht vernachlässigt, die ungebremste und riskante Expansion des Finanzsektors wurde hinsichtlich der daraus resultierenden Gefahr verkannt (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2013a). In Spanien war in den Jahren vor der Krise die Staatsverschuldung zurückgefahren worden, die Arbeitslosigkeit war gesunken, einige spanische multinationale Konzerne waren auf internationalen Märkten sehr erfolgreich. Spanien hatte zu Beginn des 21. Jahrhunderts, gespeist auch von Anlagekapital aus Ländern mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen, einen Immobilienboom erlebt, der wie in den USA und Irland die Investoren und Banken Vorsichtsmechanismen vergessen ließ. In Spanien gab es anders als in Griechenland eine übermäßige Verschuldung des privaten Sektors. Als die Immobilienpreise einbrachen, Bauprojekte unrentabel wurden, Hausbesitzer ihre Schulden nicht bedienen konnten, <?page no="249"?> 250 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration mussten zahlreiche Banken hohe, nicht durch ihr Eigenkapital abgedeckte Verluste hinnehmen. Um den Zusammenbruch des Bankensystems zu verhindern, intervenierte die Regierung, die Staatsverschuldung stieg deutlich an. Die internationale Wirtschaftskrise ließ die Exporte einbrechen und die Arbeitslosigkeit ansteigen. Als in der Krise die Aufmerksamkeit für Spaniens Wirtschaft wuchs, rückte zunehmend die Analyse der makroökonomischen Trends in den Vordergrund. Der sukzessive Verlust der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der spanischen Industrie, welcher sich in einem wachsenden Leistungsbilanzdefizit niederschlug, die hohe Arbeitslosigkeit und die Fähigkeit des Staates, die Krise zu managen, wurde skeptisch beurteilt. Die Risikoaufschläge auf Anleihen stiegen und erschwerten die Finanzierung des öffentlichen Sektors am internationalen Kapitalmarkt (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2013a). Der Einbruch der Wirtschaft Portugals infolge der sinkenden Exporte und der Schwäche des Binnenmarktes ließ Staatseinnahmen zurückgehen. Gleichzeitig stiegen die Staatsausgaben für die soziale Stabilisierung. Die öffentliche Verschuldung stieg stark an. Die Kapitalbeschaffung am internationalen Markt wurde wie auch in den anderen Krisenländern schwierig und teuer, die Konsequenzen für die langfristige Liquidität und Solvenz Portugals waren schwerwiegend. Zyperns wirtschaftlicher Aufschwung der letzten Jahre war insbesondere dem drastischen Ausbau des Finanzsektors zu verdanken. Die Expansion und Bedeutung des Finanzsektors war ganz wesentlich das Ergebnis des Zustroms ausländischen, insbesondere russischen Kapitals. Die Größe des Finanzsektors des kleinen Staates mit nur 800.000 Einwohnern war überdimensional. Als mehrere Banken schwere Verluste aus Finanztransaktionen mit griechischen Staatsanleihen hinnehmen mussten, war externe Hilfe zur Sicherung der Zahlungsfähigkeit des Staates notwendig. In weiteren Ländern spitzte sich die Situation ebenfalls zu: Italien hatte bereits vor der Krise eine Staatsverschuldung, die weit oberhalb der Maastricht-Zielmarke von 60% lag: Im Jahr 2007 lag die öffentliche Verschuldung gemessen am BIP des Landes bei 119%. Als infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit anstieg, die Staatsausgaben zunahmen und die Staatseinnahmen sanken, wuchsen die Zweifel an der italienischen Haushalts- und Wirtschaftspolitik. Die skeptischen Einschätzungen wurden bestimmend, die Risikoaufschläge auf neu emittierte Anleihen stiegen und bedrohten die Zahlungsfähigkeit des Staates. Auch die Wirtschaftspolitik Frankreichs wurde international zunehmend schlechter eingeschätzt. Frankreich hatte die Jahre vor der Wirtschafts- und <?page no="250"?> Die Ursachenanalyse - fünf miteinander verwobene Krisen 251 www.uvk-lucius.de/ integration Finanzkrise nicht für eine Politik der Haushaltskonsolidierung genutzt, die öffentliche Verschuldung war stattdessen gewachsen. Die im Jahr 2012 neu gewählte Regierung hatte zunächst eine Politik versprochen, die ganz offenbar mit dem von den Unionsorganen erwarteten und den Kapitalmärkten geforderten Kurs unvereinbar war. Die Spekulation, dass auch Frankreich schließlich Rettungsmittel benötigen würde, ließ die Zweifel an der Stabilität des Euros deutlich anwachsen. 11.3 Die Ursachenanalyse - fünf miteinander verwobene Krisen Im Jahr 2012 erreichten die Sorgen und die Spekulation, dass die Währungsunion in der bestehenden Form auseinanderbrechen würde, ihren Höhepunkt. Die Anspannung in den Märkten hat sich nachfolgend gelegt. Die Eurokrise ist aber auch im Jahr 2014 nicht vorüber. Die EU befindet sich aufgrund der Kumulation mehrerer Krisen, die miteinander verknüpft sind und sich gegenseitig verstärken, mit einer besonderen Herausforderung konfrontiert. Es handelt sich um eine Krise der Wettbewerbsfähigkeit, um eine Bankenkrise, um eine Staatsverschuldungskrise, um eine makroökonomische Krise und um eine Krise der EU-Governance-Struktur. Abb. 11-3: Fünf miteinander verwobene Krisen Krise der Wettbewerbsfähigkeit Makroökonomische Krise Governance-Krise Bankenkrise Verschuldungskrise <?page no="251"?> 252 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration 11.3.1 Die Krise der Wettbewerbsfähigkeit Die Krise hat die Aufmerksamkeit auf die Frage der Wettbewerbsfähigkeit einiger EU-Staaten gelenkt. Die durchschnittlichen Lohnkosten waren in den Krisenländern deutlich stärker gestiegen als in anderen EU-Ländern. Der durchschnittliche jährliche Anstieg der Lohnstückkosten betrug in den Jahren 1999-2007 in Irland 3,5%, in Spanien 3%, in Griechenland 2,7%, in Portugal 2,7%, in Zypern 2,9% und in Italien 2,2%. In allen EWU-Ländern betrug die Steigerungsrate für diesen Zeitraum nur 1,4%, in Deutschland gar waren die Lohnstückkosten durchschnittlich um 0,1% gesunken (vgl. Deutsche Bundesbank 2014a, S. 23). Viele Länder der Union hatten in der Folge erhebliche Leistungsbilanzdefizite aufgebaut, die mit wachsender Auslandsverschuldung einhergingen. In mehreren EU-Staaten waren die strukturellen Rigiditäten erheblich. Einige der von der Krise besonders betroffenen Staaten hatten notwendige Strukturreformen vernachlässigt. Dies galt insbesondere für den Arbeitsmarkt, aber auch für Gütermärkte. Die einheitliche Zinspolitik in der Eurozone hatte schwerwiegende Ungleichgewichte produziert, Investitionen, die vor der Euroeinführung wegen hoher Zinssätze unterblieben waren, wurden getätigt, obgleich die langfristige Rendite gering war. Die Divergenzen hinsichtlich des langfristigen Wachstumspotentials der Länder der Eurozone waren erheblich. Dies war im Vorfeld befürchtet und immer wieder punktuell beobachtet und herausgestellt worden. Doch weder die Institutionen der EU noch die Kapitalmärkte, die Wissenschaft oder die Medien hatten diesem Problem genügend Aufmerksamkeit geschenkt. In der Krise rückten diese Probleme in den Blickpunkt. 11.3.2 Die Bankenkrise Banken und andere Finanzintermediäre hatten bis zum Ausbruch der weltweiten Finanzkrise hohe Risiken übernommen, deren Dimension für die einzelnen Institute und für das Bankensystem insgesamt verkannt wurde. Insbesondere auch die Gefahren, die aus der weltweiten Verflechtung der Finanzinstitutionen resultierte, wurden von den Verantwortlichen in den Banken und den Aufsichtsbehörden falsch eingeschätzt. Dabei spielten Finanzinnovationen, zu niedriges Eigenkapital der Banken, Anreizprobleme in den Banken („moral hazard“ und „too big to fail“), mangelnde Mechanismen zur Abwicklung von Banken und Fehler in der Finanzaufsicht eine wesentliche Rolle. Als der Einbruch der Immobilienpreise in den USA und die Insolvenz der Lehman-Bank eine weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise auslöste, wurden die international stark vernetzten Banken von der Krise schwer getroffen: Forderungen wurden uneinbringlich und mussten wertberichtigt oder abgeschrieben <?page no="252"?> Die Ursachenanalyse - fünf miteinander verwobene Krisen 253 www.uvk-lucius.de/ integration werden. Die angepassten Ratings der Anleihen der Krisenländer blieben nicht ohne Konsequenzen, auch für die Banken, welche die Anleihen hielten. Eine Reihe von Automatismen zwang die Institute, ihre Bilanzpositionen neu zu bewerten oder bestimmte Vermögenswerte zu verkaufen. Dies beschleunigte den Abwärtstrend auf dem Markt für Anleihen. In der Summe mussten Banken substantielle Verluste hinnehmen. Die Aktienkurse der Banken gaben dramatisch nach. Angesichts der systemischen Relevanz der Banken verhinderten viele Regierungen mit umfangreichen Rettungsmaßnahmen einen Kollaps der Institute und damit des nationalen Bankensystems. Die Implikationen der Bankenkrise für die Realwirtschaft waren gleichwohl dramatisch, Banken waren häufig nicht in der Lage oder angesichts der großen Unsicherheit willens, Kredite für Unternehmen bereitzustellen. Das Ausmaß der Probleme in den Ländern Europas war unterschiedlich ausgeprägt, abhängig von der Internationalisierung der nationalen Finanzmärkte und der Akteure, deren Strategien und der Qualität der Aufsichtsstrukturen der Länder. Die Belastungen waren in Europa asymmetrisch verteilt, am stärksten waren Irland, Spanien und Griechenland betroffen. 11.3.3 Die Staatsverschuldungskrise Obwohl der Stabilitäts- und Wachstumspakt klare Ziele hinsichtlich der öffentlichen Verschuldung und der Defizite vorgegeben hatte, hatten die Staaten die ersten Jahre der Währungsunion sehr unterschiedlich genutzt, um die verabredeten Ziele zu erreichen. In 17 der 27 Mitgliedstaaten der Eurozone war es gelungen, von 1999 bis 2007 die Staatsverschuldung in Prozent der nationalen Wertschöpfung zurückzuführen, darunter in Irland und Spanien, während in drei Staaten der Wert sogar um mehr als 10 Prozentpunkte gestiegen war, darunter Portugal und Griechenland. Abb. 11-4: Veränderung der öffentlichen Verschuldung ausgewählter Länder von 1999 bis 2007. Quelle: OECD 2013, online 78 58 114 62 64 47 94 51 17 27 84 36 40 25 107 68 0 20 40 60 80 100 120 <?page no="253"?> 254 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration Die in der Krise notwendigen konjunktur- und sozialpolitischen Maßnahmen trieben die Staatsausgaben in die Höhe. Und die staatlichen Ausgaben für die Bankenrettung ließen die Staatsverschuldung weiter anwachsen. In Irland, dem Land mit dem drittniedrigsten Wert für die Staatsverschuldung in Prozent des BIPs aller Staaten des Euro-Raumes im Jahr 2007, führten im Wesentlichen die Rettungs- und Stabilisierungsmaßnahmen des Bankensystems zu einer Verfünffachung der öffentlichen Verschuldung, in Spanien kam es zu mehr als einer Verdopplung der öffentlichen Verschuldung (siehe auch Kapitel 10). Im Jahr 2012 hatten schließlich alle EU-Staaten eine höhere Staatsverschuldung (gemessen in Prozent des BIP) als im Jahr 2008. Auch in europäischen Staaten außerhalb des Euro-Währungsgebietes war in der Krise die Staatsverschuldung stark gestiegen, in Großbritannien von 2008 bis 2012 um fast 40 Prozentpunkte auf 90% oder in Dänemark im gleichen Zeitraum von 33 auf 46%. Aufgrund der von den Eurostaaten stets kommunizierten Obergrenzen von 60% Staatsverschuldung und 3% Neuverschuldung bezogen auf das BIP war allerdings die tatsächliche Entwicklung der Staatsverschuldung viel stärker als Scheitern der Wirtschaftspolitik interpretiert worden als dies in Großbritannien, Japan oder den USA der Fall war. Wichtig für die Dynamik der Krise war nicht nur das Scheitern an selbst proklamierten Zielen, sondern auch die Funktion der Zentralbank in der Eurozone. Obwohl die Staatsverschuldung der Staaten der Eurozone und damit auch der Krisenstaaten überwiegend in der eigenen Währung (Euro) erfolgt war, entfiel für die einzelnen Staaten der Eurozone eine Funktion der Zentralbank, die diese typischerweise übernimmt oder übernehmen kann: Im Extremfall könnte die Zentralbank Japans, der USA oder Großbritanniens (drei Staaten, die eine deutlich höhere Staatsverschuldung haben als die meisten Staaten des Euroraumes) durch monetäre Staatsfinanzierung eine Zahlungsunfähigkeit des Staates verhindern, ein Staatsbankrott ist praktisch ausgeschlossen. Nicht so in der Euro-Währungszone, in der die einzelnen Staaten keinen solchen Einfluss auf die Zentralbank haben. Eine Zahlungsunfähigkeit des Staates mit Anleihen der eigenen Währung ist somit möglich und wird von den Märkten entsprechend bewertet. 11.3.4 Die makroökonomische Krise Der einzigartige Einbruch der Wertschöpfung infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise hatte starke Ansteckungseffekte. Aufgrund der engen Verflechtung der Märkte erfasste die Krise fast alle Länder, das BIP schrumpfte, die Exporte sanken, die staatlichen Investitionen gingen zurück, die Arbeitslosigkeit stieg. <?page no="254"?> Die Ursachenanalyse - fünf miteinander verwobene Krisen 255 www.uvk-lucius.de/ integration Box 11-2: Die Wirkung der Finanz- und Wirtschaftskrise auf Produktion und Beschäftigung Die Krise führte weltweit zu einem Einbruch der Wirtschaftstätigkeit, die Nachfrage des privaten Sektors brach ein, Exporte sanken, in der Abbildung dargestellt durch eine Linksverschiebung der gesamtwirtschaftlichen Nachfragekurve (vgl. Blanchard/ Illig 2014). Gleichzeitig führte die Erschütterung des Finanzsektors zu einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazität, dargestellt durch einen Linksverschiebung der kurzfristigen gesamtwirtschaftlichen Angebotskurve. Abb. 11-5: Verschiebung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und des kurzfristigen Angebots In der Krise wurde offenbar, dass in einigen Ländern Sektoren auf nichtnachhaltigen Strukturen aufbauten, das gesamtwirtschaftliche Produktionspotential sank, eine umfassende Reallokation der Produktionskapazitäten wurde erforderlich: Grafisch lässt sich dies durch die Linksverschiebung der langfristigen gesamtwirtschaftlichen Angebotskurve darstellen. Der Punkt C zeigt den neuen Gleichgewichtspunkt mit niedriger Produktion und niedrigerem Preisniveau. Preisniveau Kurzfristiges Angebot SRAS 1 Gesamtwirtschaftliche Nachfrage AD 2 Kurzfristiges Angebot SRAS 2 Langfristiges Angebot Gesamtwirtschaftliche Nachfrage AD 1 Output A B <?page no="255"?> 256 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration Abb. 11-6: Gesamtwirtschaftlicher Effekt der Verschiebung der langfristigen Angebotskurve Während in der Krise 2008 und 2009 zunächst die meisten Staaten mit Konjunkturprogrammen reagierten, setzte sich vor dem Hintergrund der Staatsverschuldung in der EU das Verständnis durch, dass die Rückgewinnung der Wettbewerbsfähigkeit grundlegende Reformen erfordert, und dies die Rückführung staatlicher Leistungen erfordert. Die als Austeritätspolitik bezeichnete Strategie der Gesundung der Wirtschaft durch Kürzung staatlicher Leistungen war und ist aus Sicht der Befürworter dieser Politik notwendig und unvermeidlich, um die langfristige Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen: Staaten müssen primär ihre strukturellen Probleme in den Griff bekommen, es handelt sich nicht um ein konjunkturelles Problem, welches einfach durch einen keynesianischen Nachfrageimpuls gelöst werden kann. Für überschuldete Staaten, die für die Finanzierung ihrer Defizite auf den Kapitalmarkt angewiesen sind, besteht zudem keine Möglichkeit, die Staatsausgaben auszuweiten, da die Länder nur zu prohibitiv hohen Zinssätzen Kapital erhalten. Erst durch die notwendigen strukturellen Reformen werde die Basis für nachhaltiges Wachstum geschaffen. Aus Sicht der Kritiker ist die Austeritätspolitik ein schwerer Fehler, sie sehen die Grunderkenntnis der keynesianischen makroökonomischen Lehre missachtet, Preisniveau Kurzfristiges Angebot SRAS 1 Gesamtwirtschaftliche Nachfrage AD 2 Kurzfristiges Angebot SRAS 2 Langfristiges Angebot LRAS 1 Gesamtwirtschaftliche Nachfrage AD 1 Langfristiges Angebot LRAS 2 Output A C B <?page no="256"?> Die Ursachenanalyse - fünf miteinander verwobene Krisen 257 www.uvk-lucius.de/ integration dass nämlich in der Krise, in der es an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage fehlt, nicht noch weitere Schritte eingeleitet werden sollen, welche die Nachfrage schwächen. Europa beschreitet aus dieser Perspektive den falschen Weg, die EU produziert soziale Kosten, die vermeidbar sind, und belastet darüber hinaus mit der daraus resultierenden Wachstumsschwäche die Weltwirtschaft (vgl. Krugman 2013). 11.3.5 Die Entscheidungsstrukturen innerhalb der Europäischen Union Die Krise traf die Europäische Union völlig unvorbereitet, es fehlte ein Mechanismus für das Krisenmanagement (vgl. Griesse 2010, S. 30). Die Governance- Struktur der Wirtschafts- und Währungsunion mit ihren komplexen Abstimmungsmechanismen ist für normale Zeiten konzipiert, nicht aber für schwere Krisen, es mangelte an der notwendigen Zuordnung der Entscheidungskompetenz und in der Folge an der notwendigen Geschwindigkeit der Entscheidung (vgl. Pisani-Ferry/ Sapir 2009, Marsh 2013, S. 31). Auch die Mitgliedstaaten waren teilweise politisch paralysiert. Die Vermittlung der Strukturanpassungspolitik war in den Krisenstaaten schwierig, oftmals dominierten wahltaktische Überlegungen über entschiedenes Handeln. Die Unzufriedenheit mit der Politik in den EU-Staaten und der EU wuchs, in allen Krisenstaaten wurden seit 2009 die Regierungen abgewählt. Auch diese nationalen Entwicklungen wirkten zurück auf die Fähigkeit der EU-Organe, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. 11.3.6 Die Verknüpfung der Krisen Die Krisen sind eng miteinander verknüpft. Die Bankenkrise hat ganz wesentlich die Eskalation der Staatsschuldenkrise verursacht. Die Staatsschuldenkrise wiederum erschwert die Lösung der Bankenkrise und der makroökonomischen Krise. Die makroökonomische Krise impliziert, dass sich die Lösung für die Bankenkrise besonders schwierig gestaltet. Die Governance-Krise erschwert beherzte Schritte zur Lösung der Banken- und Staatsverschuldungskrise. Die Staatsverschuldungskrise lässt wiederum die Skepsis gegenüber der Politik wachsen und erschwert die Verabredung neuer Governance-Regeln. Würde die Bankenkrise mit staatlichen Geldern bereinigt werden, verschärfte sich die Staatsverschuldungskrise. Europa befindet sich in einem Teufelskreis, aus dem auszubrechen schwerfällt (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2013, Holtfrerich 2014, Sinn 2012). <?page no="257"?> 258 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration 11.4 Lösungsansätze Die Eurokrise hat eine Vielzahl sehr kontrovers diskutierter Lösungsvorschläge hervorgebracht. Unterscheiden lassen sich diese danach, ob sie an der bisherigen Währungsordnung festhalten, und welches Problem damit gelöst werden soll. Zudem sind einige Ansätze eher auf die lange Frist angelegt, andere sind kurzfristig ausgerichtet. 11.4.1 Lösungsansätze innerhalb der Struktur der Wirtschafts- und Währungsunion Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten der Währungsunion Die Wachstumstheorie zeigt auf, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um das Wachstum einer Volkswirtschaft zu sichern. Investitionen in Humankapital, Verbesserung der Rahmenbedingungen und Steigerung des technischen Fortschritts sind von zentraler Bedeutung. Diese und weitere Aspekte spielten eine wesentliche Rolle bei der Erarbeitung der Lissabon-Strategie und dem Nachfolgekonzept, der Europa 2020-Strategie. In der Bewertung der nationalen Politiken im Rahmen des Benchmarking-Prozesses stehen diesbezügliche Maßnahmen im Zentrum der Diskussion. Auch die Theorie der optimalen Währungsunion zeigt auf, welche Schritte in einem Raum mit gemeinsamer Währung erforderlich sind, um langfristig die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Nachdem die Krise die Staaten der Europäischen Union mit Wucht getroffen hatte, gehörten Reformen der Marktorganisation zu den wichtigen Reformvorhaben. Flexible Produkt- und Faktormärkte sind zentral für die Funktionsweise von Märkten und in einer Währungsunion besonders essentiell. Denn bei divergierenden Entwicklungen steht die externe Abwertung als Anpassungsmechanismus nicht mehr zur Verfügung. Die Euro-Krise hat in vielen Ländern das Bewusstsein für die Notwendigkeit geschaffen, die nominale Lohnentwicklung an der Produktivitätsentwicklung und der - im Vergleich zu früher - niedrigeren Inflationsrate zu orientieren. Die baltischen Staaten, aber auch Irland haben gezeigt, dass der Weg der internen Abwertung möglich ist, d.h. eine Lohnsenkung oder zumindest ein Lohnanstieg unterhalb des Anstiegs in anderen Ländern. Die Veränderung der Wirtschaftsstruktur, häufig Ergebnis eines mehrjährigen Prozesses, musste kurzfristig erfolgen. Die Reallokation der Produktionsfaktoren vom Immobiliensektor in andere Sektoren war beispielsweise in mehreren Krisenländern eine zentrale Aufgabe. Einige Staaten konnten in kurzer Zeit wesentliche Teile des Anpassungsprozesses erfolgreich bewältigen. In Spa- <?page no="258"?> Lösungsansätze 259 www.uvk-lucius.de/ integration nien, Portugal und Italien wurden Fortschritte erzielt, wie die regelmäßig der Kommission eingereichten Reformprogramme zeigen, die in Gang gekommenen realwirtschaftlichen Anpassungsprozesse haben zu einem Abbau der makroökonomischen Ungleichgewichte beigetragen. Es gibt spürbare Fortschritte im Anpassungsprozess (vgl. Deutsche Bundesbank 2014b). Die Zuwanderung ist ein weiteres in der Theorie der optimalen Währungsräume genanntes Element der Reaktion auf Veränderungen der Wettbewerbsfähigkeit von Nationen oder Regionen. Sprachliche, kulturelle und bildungspolitische Traditionen erschweren Wanderungsbewegungen innerhalb Europas. Gleichwohl hat die Migration innerhalb Europas zugenommen. Angesichts der Dimension des Problems der Arbeitslosigkeit ist jedoch von der Migration kein substantieller Beitrag zur Linderung der Arbeitslosigkeit in Ländern Europas zu erwarten. Eine Währungsunion, so die Erkenntnis der Theorie der optimalen Währungsräume, beseitigt einen wichtigen Anpassungsmechanismus. Diese benötigt im Gegenzug andere Mechanismen, die für die Anpassung sorgen können. Transferzahlungen stellen eine Möglichkeit dar: Box 11-3: Anforderungen an einen gemeinsamen Währungsraum Der Nobelpreisträger Paul Krugman beschreibt das Problem durch einen Vergleich Nevadas mit Irland, die in der Krise beide schwer getroffen wurden: „Nevadas Lage ist weit weniger dramatisch als Irlands. Denn die steuerliche Situation ist in Irland viel bedrohlicher als in Nevada, obwohl die Haushalte beider Länder in der Krise extrem gelitten haben. Das liegt daran, dass große Teile der staatlichen Ausgaben, von denen das Leben in Nevada abhängt, aus Washington kommen. Insbesondere die Rentner, die wegen des guten Wetters nach Nevada gezogen sind, müssen sich keine Sorgen machen […] Im Gegensatz dazu stehen in Irland Renten und Gesundheit auf der staatlichen Kürzungsliste.“ (Krugman 2011) Der Haushalt der Europäischen Union enthält einen Mechanismus für den Transfer von Kaufkraft, vor allem im Rahmen der Agrar- und Kohäsionspolitik. Die Krisenländer waren über viele Jahre und sind weiterhin Nettoempfänger. Allerdings hat die Europäische Union in den Jahren seit der Krise keinen klaren politischen Schritt hin zu einer stärkeren Bereitschaft, Transferzahlungen auf der Basis solidarischen Handelns zu leisten, gemacht. Einige zusätzliche Transfers erfolgen indirekt, eher unbemerkt von der Öffentlichkeit. Der Zugang zu den <?page no="259"?> 260 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration EU-Strukturfonds wurde erleichtert. Andere Formen der Transferzahlungen, etwa in Form einer europaweit finanzierten Arbeitslosenversicherung oder der Ausweitung des EU-Budgets zum Zwecke eines Finanzausgleichs wurden zwar vorgeschlagen, sind aber bisher nicht weiterverfolgt worden. Ein Transfer erfolgte im Fall von Griechenland durch einen Schuldenschnitt. Aufgrund der politischen Gegebenheiten erfolgten diese der Krise geschuldeten Transaktionen jedoch nicht proaktiv, sondern reaktiv, mit negativen Konsequenzen für die Wahrnehmung der Union als intakte Wirtschafts- und Währungsunion. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ist ein langfristiger Prozess, Reformmaßnahmen zeigen häufig erst nach mehreren Jahren ihre beabsichtigte Wirkung. Eine Vielzahl von Veränderungen ist notwendig, um die sektorale Reallokation der Ressourcen zu bewirken. Dabei kommt es nicht nur auf die Wahl der richtigen Politikinstrumente an, sondern auch auf die zeitliche Abfolge der Reformen („sequencing“) und den richtigen Zeitpunkt („timing“) der Maßnahmen. Der Internationale Währungsfonds, der in vielen Strukturanpassungsprogrammen Erfahrungen mit Reformkonzepten in Entwicklungs- und Schwellenländern gesammelt hat, kommt zu einer kritischen Einschätzung hinsichtlich der konkret realisierten Reformpolitik in den Krisenländern der Eurozone. Die Neuordnung der Wirtschaftspolitik zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit stellt insbesondere im Fall Griechenlands ein besonderes Problem dar. Die Krise hat offengelegt, dass die Leistungsfähigkeit der griechischen Regierung mit jenen anderer europäischer Staaten nicht vergleichbar ist, Griechenland in mancher Hinsicht eher ein Entwicklungs- oder Schwellenland als ein Industrieland ist. Die regelmäßige Überprüfung der Fortschritte bei der Konzipierung und Umsetzung von Reformen, die Koppelung der Auszahlung von Kredittranchen an nachweisbare Gesetzesänderung stehen beispielhaft für Eingriffe, die außerhalb Griechenlands, jedoch auch teilweise im Land für notwendig erachtet werden und einen faktischen Souveränitätsverzicht bedeuten. Dies mag im Fall Griechenlands aufgrund der Dysfunktionalität des Parteiensystems unerlässlich sein, da es den politischen Parteien ohne externen Druck offenbar nicht gelingt, die notwendigen Reformen durchzuführen, damit Griechenland die Wertschöpfung auch eigenständig erarbeitet. Die Weiterentwicklung der Union könnte ein formales Verfahren zum temporären Souveränitätsverzicht von Krisenländern beinhalten. Im Fall Irlands gibt es wenig Zweifel an der Fähigkeit der politischen Führung, die notwendigen Reformen zu konzipieren und durchzusetzen, ein vergleichbar weitgehender Schritt wird hier überwiegend für verzichtbar erachtet. Auch Spanien, das die Risiken unterschätzt hatte, die aus der Immobilienblase, der wachsenden privaten Verschuldung und der unausgeglichenen Leistungsbilanz resultierten, wird von Beobachtern die Fähigkeit zu strukturellen Reformen zuge- <?page no="260"?> Lösungsansätze 261 www.uvk-lucius.de/ integration sprochen. Portugals Regierung ist das Management des Anpassungsprozesses nach Einschätzung vieler internationaler Organisationen gut gelungen. Italiens schwierige Phasen der Regierungsbildung werden angesichts der Herausforderung von vielen Beobachtern als Belastung gesehen. Kapitalmärkte, deren Macht in der Krise gewachsen ist, zeigen in der Regel kein Verständnis für die besonderen Probleme politischer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Auch die im Jahr 2012 neu gewählte Regierung in Frankreich wird angesichts der während des Wahlkampfs versprochenen Politiken und der Diskrepanz zwischen diesen und den von internationalen Beobachtern gesehenen Herausforderungen kritisch gesehen. Ein besonderer Fall stellt die Krise in Zypern dar. Das dort praktizierte Geschäftsmodell der Attrahierung von Fluchtkapital aus Russland hat dem Land einige Jahre einen wachsenden Finanzsektor und Beschäftigung und Einkommen ermöglicht, ist aber nicht zukunftsfähig. Box 11-4: Der alternative Blick auf die richtige Wirtschaftspolitik In der Gruppe jener, die eine Währungsunion befürworten, gibt es eine wichtige alternative Sicht zur Frage, wie die Länder der Eurozone ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen können. Die gegenwärtig von den Unionsorganen verfolgte Politik setzt aus dieser Perspektive zu sehr auf Wettbewerb, Abbau sozialer Sicherungssysteme und den Rückbau des Staates. Die Union müsse die Heterogenität der wirtschaftspolitischen Ordnungen, die Bestandteil der europäischen Vielfalt sind, akzeptieren, die Vielfalt der Kapitalismen (siehe Kapitel 1) müsse erhalten werden. Die Annahme der Effizienz der Kapitalmärkte, die hinter der Liberalisierung der Kapitalmärkte vor der Krise stand, habe sich als falsch erwiesen, Kapitalmärkte seien unzuverlässig, Herdenverhalten und andere Irrationalitäten prägten die Kapitalmärkte, die gegenwärtige Politik liefere die politischen Gestaltungsoptionen an die Kapitalmärkte aus (vgl. Streeck 2013, Habermas 2013). Die Vorstellung, dass Wirtschaftsordnungen nur mit einem schlanken Staat und niedrigen Steuersätzen erfolgreich sein könnten, sei falsch, wie der Blick auf den Erfolg der skandinavischen Länder zeige. Die sozialen Sicherungssysteme seien Bestandteil der europäischen Kultur. Nicht ein Rückbau, sondern allenfalls ein Umbau sei erforderlich. Auch sei die Anpassung nicht nur von den Defizitländern zu fordern, sondern auch von den Überschussländern, deren Politik weder verallgemeinerbar noch nachhaltig sei. Der Erhalt der Währungsunion erfordere somit eine andere wirtschaftspolitische Grundorientierung. <?page no="261"?> 262 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration Die Lösung der Bankenkrise Die Bankenkrise hat strukturelle Fehlentwicklungen der europäischen Finanzmarktarchitektur aufgezeigt. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Banken- und Finanzkrise sind hoch, die Rettung der Banken ließ die Staatsverschuldung ansteigen, insbesondere in Krisenländern war der Zugang zu Kredit und Kapital auch für wettbewerbsfähige Unternehmen für mehrere Jahre erheblich gestört und erschwert den Anpassungsprozess. Die Lösung der Bankenkrise erfordert substantielle Veränderungen der institutionellen Organisation des europäischen Finanzmarktes, die mit dem Begriff „Einführung einer Bankenunion“ beschrieben werden und auf die Stärkung der Widerstandskraft der Kreditinstitute gegenüber Schocks aus Stresssituationen im Finanzsektor und der Wirtschaft abstellen (vgl. Deutsche Bundesbank 2013, S. 23-41, Bundesverband Deutscher Banken 2013). Diese Bankenunion enthält mehrere Elemente, häufig auch mit „Säulen“ beschrieben: eine gemeinsame Finanzaufsicht, ein gemeinsames System für die Abwicklung von Banken und ein gemeinsames Einlagensicherungssystem. Die Stärkung der Finanzaufsicht umfasst bessere Regeln für die Aufsicht von Banken und sogenannten Schattenbanken (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2013b, Deutsche Bundesbank 2014c). Banken müssen zukünftig mehr Eigenkapital vorhalten, auch die Anforderungen an die Qualität des Eigenkapitals wurden erhöht (Basel III). Neue Regelungen für den Umgang mit Finanzinnovationen, insbesondere Finanzderivaten wurden erlassen. Zahlreiche Reformen sollen die Anreizprobleme („moral hazard“) beseitigen, die sich aus Bonusregeln für Bankmanager und aus Regelungen zum Ausweis notleidender Kredite ergeben. Während über die große Richtung der Reformen innerhalb Europas Konsens herrscht, gibt es erheblichen Dissens über die Ausgestaltung neuer institutioneller Maßnahmen. Insbesondere Großbritannien blockiert einige Regelungen, die aus seiner Sicht den Finanzmarkt im eigenen Land schädigen würden, aber in anderen Ländern als essentiell angesehen werden, um den Finanzsektor wieder zurück zu seiner zentralen Aufgabe zu führen. Regelungen zur Abwicklung von Banken stellen die zweite Säule der Bankenunion dar. Mechanismen, die die Ansteckungsgefahr reduzieren, sollen dazu beitragen, dass der Staat nicht erpressbar wird und Banken retten muss („bailout“), deren Fehlverhalten im Vorfeld evident ist. Welche Aufgabe haben die Europäische Kommission und das Parlament, welche Rolle spielen die Mitgliedstaaten? Wie können die Prozesse so organisiert werden, dass man der zeitlichen Problematik einer Finanzkrise und der Panik der Anleger gerecht wird. Wer trägt die Kosten: die Eigentümer, die Gläubiger, andere Banken, der Staat oder die Gemeinschaft der Staaten? <?page no="262"?> Lösungsansätze 263 www.uvk-lucius.de/ integration Die Schaffung eines europäischen Einlagensicherungssystems stellt die dritte Säule der geplanten Bankenunion dar. Solche Systeme basieren auf dem Versicherungsgedanken und sorgen dafür, dass für Einleger bei einer Bank im Fall des Zusammenbruchs der Bank (ein Teil) des Vermögens gesichert ist. Die Existenz eines solchen Systems verhindert die Panik von Anlegern, die bei Schieflagen einer Bank entstehen kann und im weiteren Prozess das Problem verschärft. Die Konstruktion einer solchen Versicherung muss gewährleisten, dass diese tatsächlich stabilisiert und nicht wegen Fehlanreizen eher destabilisiert: Eine nicht optimal beaufsichtigte Bank könnte angesichts der garantierten Einlagen eine riskantere Strategie wählen, als dies ohne die Versicherung der Fall wäre. Die Schaffung einer Versicherung erfordert zwingend Mechanismen, die das moralische Risiko, welches einer Versicherung immanent ist, begrenzt. Die Reform der europäischen Finanzarchitektur ist ein Unterfangen, das sofortiges Handeln einfordert. Gleichzeitig sind die notwendigen Anpassungen des regulatorischen Rahmens so komplex, dass eine kurzfristige Lösung nicht möglich ist. Die Lösung der Staatsschuldenkrise Die Lösung des Verschuldungsproblems stellt für die Staaten, deren öffentliche Verschuldung über 100% des BIP liegt, eine zentrale Herausforderung dar. Zwar hatte Belgien vor der Krise bewiesen, dass auch eine Rückführung eines hohen Verschuldungsgrads von über 100% des BIP möglich ist, allerdings war dies in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs in Europa gelungen, nicht in einer Phase des Null-Wachstums in den Staaten, mit denen die Volkswirtschaft in besonderer Weise verflochten ist. In der europäischen Öffentlichkeit der Länder des Nordens ist trotz der prekären wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen in den Krisenländern die These populär, Hilfen seien nicht nötig, gar kontraproduktiv, die Krisenstaaten hätten noch immer das Potential, sich selbst zu helfen. Länder, die ihrerseits durch schwierige Anpassungsprozesse gegangen sind, wie Finnland 1990-1993, die osteuropäischen Länder nach dem Zusammenbruch der politischen und ökonomischen Ordnung 1990 und Deutschland fordern weitere Anstrengungen der Defizitländer und stellen die Gefahr des „moral hazards“ heraus: Großzügige Hilfen würden nur die Eigenanstrengungen erlahmen lassen. Allerdings ist aufgrund der Krise seit 2008 die Fähigkeit der Defizitstaaten beschränkt, den Schuldendienst planmäßig zu leisten. Die Schuldendiensttragfähigkeit eines Landes ergibt sich aus mehreren Variablen: der absoluten Höhe <?page no="263"?> 264 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration der öffentlichen Schulden und ihrer Relation zur gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung, der zu zahlenden Zinssätze und der Laufzeitstruktur, der Währung, in der die Anleihen denominiert sind, und auf der Seite der öffentlichen Haushalte den zukünftigen Einnahmen und Ausgaben des Staates. Verschiedene, sich teils ergänzende, teils aber auch ausschließende Möglichkeiten stellen sich, um die Schuldendiensttragfähigkeit zu gewährleisten: [1] Der kurzfristige Aufkauf von Anleihen durch die Europäische Zentralbank: Das OMT-Programm der EZB sieht vor, dass diese Anleihen von Staaten, die mit der Union ein Reformprogramm vereinbart haben, aufkaufen können. Das Problem der mangelnden Platzierbarkeit der Anleihen oder der Verkauf nur zu prohibitiv hohen Zinssätzen wird somit gelöst. Das Risiko der Illiquidität und Insolvenz eines Staates wird von der Zentralbank und damit den Staaten der Europäischen Union getragen. Diese Maßnahmen sind umstritten, sie stellen aus Sicht der Kritiker eine monetäre Staatsfinanzierung dar (vgl. Wirtschaftsdienst 2013). Die EZB löst sich hiermit von ihrer originären monetären Aufgabe, die als temporär bezeichnete Maßnahme könnte sich als dauerhaft erweisen und zu schweren Verwerfungen führen. Für die Befürworter dieser unkonventionellen Politik ist diese den Umständen geschuldet und angesichts der Herausforderungen gerechtfertigt (vgl. Winkler 2013). [2] Die Senkung der Finanzierungslasten für Defizitländer über einen gemeinsam von europäischen Staaten dotierten Fonds: Die Union hat den Europäischen Stabilisierungsmechanismus geschaffen, um die Finanzierungslast für die Staaten zu reduzieren, die entweder wegen ihrer wachsenden Verschuldung oder dem regelmäßigen Roll-over ihrer Altschulden keine Anleihen am internationalen Kapitalmarkt platzieren oder Kredite nur zu prohibitiv hohen Zinssätzen erhalten können. Der Hintergrund der Schaffung des Fonds ist das Problem der gewachsenen Risikoaufschläge, die sich aus der skeptischen Einschätzung der Kreditwürdigkeit, abzulesen an dem Rating der Länder, ergeben. Der von den Euro-Staaten geschaffene Europäische Stabilitätsmechanismus wurde mit Stammkapital von 700 Mrd. EUR ausgestattet und kann Krisenländern auf unterschiedlichen Wegen bei der Bewältigung ihrer Liquiditätskrise helfen. Er kann direkte Kredite an Krisenstaaten geben, einzelnen Banken der Krisenstaaten Finanzhilfen gewähren, er kann Staatsanleihen der Krisenländer am Primärmarkt kaufen oder auch entsprechend am Sekundärmarkt aktiv werden. Diese Hilfen setzen voraus, dass Staaten, welche die Hilfen nutzen, makroökonomische Reformprogramme verfolgen. Die wesentliche Hilfe besteht in der Senkung der Zinslast für die betroffenen <?page no="264"?> Lösungsansätze 265 www.uvk-lucius.de/ integration Länder, da die Garantie durch die Euro-Staaten für den Europäischen Stabilitätsmechanismus die Beschaffung von Kapital zu niedrigeren Zinssätzen erlaubt, als dies den Krisenstaaten gegenwärtig möglich ist (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2012, S. 31-36). [3] Senkung der Finanzierungslast über gemeinsame Anleihen der Euro- Staaten: Eine andere Option ist die Finanzierung der Staaten nicht mehr über nationale Anleihen, sondern über gemeinschaftlich von der Europäischen Union oder dem Euro-Währungsgebiet emittierte Anleihen. Diese als Stabilitätsfonds oder Euro-Bonds bezeichneten Anleihen wären aufgrund der gemeinschaftlichen Haftung mit einem geringeren Risikoaufschlag platzierbar als dies den Defizitländern möglich wäre. Die Finanzierungslasten für die Schuldnerstaaten könnten so reduziert werden. Eine Differenzierung nach der Finanzierung aller Anleihen oder eines Teils (z.B. bis zu 60% des BIP eines Landes) wäre möglich (vgl. Delpla/ von Weizsäcker 2011). Die Umsetzung dieser Idee ist, wegen vermuteter Anreizprobleme aufseiten der Schuldnerländer und den höheren Kosten für die Finanzierung der öffentlichen Verschuldung aufseiten der Länder mit guter Bonität, bisher nicht erfolgt. [4] Schuldenschnitt für überschuldete Länder. Ein Schuldenschnitt bedeutet, dass private oder öffentliche Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderung verzichten. Dies kann durch eine Reduzierung des Nominalwertes der Anleihe oder des Kredits oder durch eine Senkung der Zinssätze erfolgen. Box 11-5: Schuldenschnitt für Griechenland Im Jahr 2013 erfolgte für Griechenland ein solcher Schuldenschnitt: Privaten Gläubigern wie Banken, Fonds und Versicherungen wurde der Umtausch ihrer Anleihen in neue Anleihen angeboten. Die Gläubiger akzeptierten im Rahmen des Umtauschs einen niedrigeren Nominalwert ihrer Forderung im Volumen von rund 200 Mrd. EUR, einen niedrigeren Nominalzins und längere Laufzeiten. Die Höhe des Schuldenschnitts wurde mit mehr als 50% des Wertes der Forderung angegeben. Die privaten Gläubiger trugen somit einen Teil der Last. Befürworter eines Schuldenschnitts begründen dies mit der faktischen Insolvenz Griechenlands, der in einer marktwirtschaftlichen Ordnung notwendigen Verknüpfung von Risiko und Haftung: Wenn Gläubiger hochverzinsliche Wertpapiere kaufen, dann geht dies mit einem höheren Risiko einher. Der Wertverlust im Fall des Eintretens einer Illiquidität oder faktischen <?page no="265"?> 266 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration Insolvenz ist in diesem Sinne konsistent. Ein „bail-out“ privater Investoren durch staatliche Hilfen wäre kontraproduktiv und systemdestabilisierend, da privates Kapital in riskante Projekte fließt, private Investoren im Erfolgsfall hohe Renditen erwirtschaften und der Staat im Fall eines Scheiterns die Rückzahlung garantiert. Ein solches System wäre untragbar. Gegner des Schuldenschnitts argumentierten vor allem mit Verweis auf die Gefahr der Ansteckung: Wenn für Griechenland ein Schuldenschnitt erfolgt, so die Befürchtung, würden Gläubiger sich aus anderen Krisenländern zurückziehen, diese könnten noch stärker unter Druck geraten als zuvor. [5] Ein Fonds zur gemeinsamen Tilgung der über die Belastungsgrenze hinausgehenden Schulden: Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2012) schlug die Schaffung eines Schuldentilgungsfonds vor. Dabei soll der Fonds Anleihen der Krisenstaaten auf dem Primärmarkt aufkaufen, die Refinanzierung erfolgt über den internationalen Kapitalmarkt. Die Krisenländer, die somit wieder einen Zugang zu Kapital haben, nutzen dies, um Altschulden zu tilgen. [6] Eine Insolvenzordnung für faktisch insolvente Staaten: Eine grundsätzliche Forderung für den Umgang mit hoch verschuldeten Staaten zielt auf die Schaffung eines geordneten rechtlichen Mechanismus zum Umgang mit der Insolvenz eines Staates. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie hat 2011 die Einführung einer solchen Ordnung empfohlen und detaillierte Vorschläge ausgearbeitet. In Zukunft müsste bei der Emission neuer Anleihen eine Umschuldungsklausel („collective action clause“) aufgenommen werden. Diese regelt, wie die notwendige Transparenz hergestellt wird, wie die Fortführung der Zins- und Tilgungszahlung erfolgt, wie die Verhandlungen organisiert werden und wie verhindert wird, dass eine Minderheit eine Einigung blockiert. Solche Regelungen müssten mit internationalen Rechtsnormen, insbesondere dem US-amerikanischen und britischen Recht vereinbar sein (vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie 2011). [7] Vermögensabgabe zur Rückführung der Schulden: Die Analyse des Reichtums in den EU-Staaten zeigt, dass der öffentlichen Armut häufig großer privater Reichtum gegenübersteht (vgl. Deutsche Bundesbank 2014b, S. 52-54). Die Beteiligung der vermögenden Bürger - im nationalen oder europäischen Kontext - ist für die Befürworter dieser Maßnahme vertretbar und sozial angemessen. Andererseits wäre die Entscheidung für eine Vermögensabgabe mit erheblichen Risiken verbunden. [8] Inflation als Instrument der Schuldenbereinigung: In der Öffentlichkeit kaum diskutiert und doch manchen Lösungen immanent ist die Idee, <?page no="266"?> Lösungsansätze 267 www.uvk-lucius.de/ integration durch leicht höhere Inflationsraten zu einer realen Abwertung der öffentlichen Verschuldung beizutragen. Die hohe Inflation in den USA in den 1970er- und 1980er-Jahren half dem Land, die Staatsverschuldung zurückzuführen. Diese Lösung ist allerdings mit erheblichen Verlusten aufseiten der Vermögensbesitzer verbunden. Die Lösung der makroökonomischen Krise Der vierte Problemkreis ist die kurzfristige Belebung der Wirtschaft. Hier stehen sich zwei Positionen gegenüber: die Forderung nach einer keynesianisch orientierten Nachfragestimulierung oder die Forderung nach einer Austeritätspolitik. Die Krisenbewältigung in den USA erfolgte über eine expansive Geldpolitik, die mit dem „quantitative easing“ neue und ungewöhnliche Wege beschritt, und über eine entschiedene Ausweitung der Staatsausgaben. Krugman, der profilierteste Vertreter dieser Position, plädierte wiederholt mit Bezug auf die keynesianische Lehre auch für Europa für eine Ausweitung der Staatsausgaben und sieht darin den Weg zur schnellen Rückkehr zu Wachstum und niedriger Arbeitslosigkeit. Die Sorge um kurzfristige Defizite und die Ausweitung der öffentlichen Schulden sei nicht gerechtfertigt und sinnvoll. Europa könnte aus dieser Perspektive durch eine entschiedene Politik die makroökonomische Krise beenden. Da die EU selbst über keine oder sehr geringe konjunkturpolitische Mittel verfügt, müsse insbesondere Deutschland seiner Verantwortung nachkommen und die Staatsausgaben erhöhen. Auch andere starke Regierungen könnten günstig Kredite aufnehmen, sie hätten eine Verpflichtung, die Nachfrage zu stabilisieren (vgl. Kulish 2011). Die Lohnpolitik könne einen wichtigen Beitrag leisten, Löhne sollten deutlich stärker steigen als sie es in Ländern wie Deutschland taten. Die Geldpolitik sollte entschiedener intervenieren. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage könnte auf diesem Weg stabilisiert, die Arbeitslosigkeit reduziert und die gesellschaftlichen Kosten der Krise verringert werden. Für Nobelpreisträger Krugman ist die Kürzung der Staatsausgaben in der Krise „inflicting pain for no good reason“. Das Drängen insbesondere der deutschen Regierung auf die Befolgung eines Austeritätskurses sei falsch (vgl. Krugman 2012). Die in Europa gewählte Austeritätspolitik basiert hingegen auf der Annahme, dass der in den USA beschrittene Weg in Europa weder sinnvoll noch möglich ist. Die Vertreter der Austeritätspolitik sehen keine Möglichkeit, die Staatsausgaben in der Krise auszuweiten, da die Erhöhung der Defizite und damit der öffentlichen Verschuldung die Schuldendiensttragfähigkeit weiterer Länder gefährde und die Finanzierung der Defizite von den Kapitalmärkten nicht mitgetragen werde. Die Krise sei eine Gelegenheit, die Probleme mangelnder Wettbewerbsfähigkeit, welche die eigentliche Ursache der Schwierigkeiten sei, anzu- <?page no="267"?> 268 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration gehen. Die Geldpolitik sei bereits an die Grenze der rechtlich zulässigen und ökonomisch sinnvollen Krisenbekämpfung gegangen. Die Reform der Entscheidungsstrukturen Mechanismen der Koordinierung müssen in der Krise funktionsfähig sein und damit einen Beitrag zur Stärkung der Krisenfestigkeit des Systems leisten. Die Arbeit der Organe der Union im Rahmen der Reform der Wirtschaftsunion mit der verbesserten Transparenz hinsichtlich der Entwicklung in den Mitgliedstaaten, den regelmäßigen Dialogen zur Wirtschaftspolitik (Europäisches Semester), der Intensivierung des europaweiten Austauschs über „best practice-Beispiele“, der verstärkten Zusammenarbeit mit Staaten im Defizitverfahren, der Bindung von Hilfen an Reformen dienen dazu, Fehlentwicklungen früher und entschiedener zu begegnen. Die Union hat inhaltlich und strukturell in dieser Hinsicht seit Ausbruch der Krise vieles erreicht, weitere Schritte, vor allem auf nationaler Ebene sind jedoch erforderlich, um die Krisenfestigkeit der nationalen Volkswirtschaften zu stärken. Die „politische Union“, stets von Wissenschaft und Politik als das notwendige Pendant zur Wirtschafts- und Währungsunion gedacht, müsse vollendet werden, wie es meist kurzgefasst heißt. Dazu muss die Europapolitik mit dem Grundsatz brechen, dass jeder Mitgliedstaat in wirtschaftspolitischen Fragen autonom entscheiden kann (vgl. Wagstyl/ Barker 2014, Habermas 2013, S. 87). Wie eine politische Union konkret aussehen kann, muss jedoch erarbeitet werden. 11.4.2 Lösungen außerhalb der bestehenden Ordnung Aus Sicht der Kritiker der Währungsunion und der Krisenstrategie der Union ist der beste Weg zur Wiederbelebung der Entwicklung in Europa die geordnete Auflösung der Währungsunion in der bestehenden Form. Kurzfristig sei dies zwar mit hohen Kosten verbunden, langfristig jedoch die bessere Lösung, sowohl für die wirtschaftliche als auch für die politische Entwicklung, da die gegenwärtige Krise eine Spaltung Europas herbeigeführt habe, die durch das Festhalten nur perpetuiert werde. Die konservative Kritik an der Währungsunion: Aus Sicht konservativer Kritiker der Währungsunion wird durch die Krise offenbar, dass die Einheit von Verantwortung und Haftung aufgelöst wurde, das in den Verträgen festgeschriebene „no bail-out-Prinzip“ nicht beachtet werde. Die gegenwärtige Krise schaffe die Grundlage für dauerhafte Abhängigkeit der Krisenländer von den solide wirtschaftenden Staaten, damit werde eine völlig unhaltbare Situation geschaffen (vgl. Sarrazin 2012). Wenn Staaten nicht willens oder in <?page no="268"?> Lösungsansätze 269 www.uvk-lucius.de/ integration der Lage seien, die Disziplin aufzubringen, welche Grundbedingung für eine Währungsunion ist, müsse der Weg der Auflösung der Währungsunion in ihrer bisherigen Form gewählt werden. Die Kritik an der Währungsunion aus progressiver Perspektive: Aus Sicht progressiver Kritiker ist das Festschreiben neoliberaler Lösungen für alle europäischen Länder der falsche Schritt. Dies werde der Heterogenität der Gesellschaften nicht gerecht, notwendig sei keine „kapitalistische Monokultur“, sondern Vielfalt. Das immer enger werdende Korsett für die Wirtschaftspolitik, die Verschärfung der Vorgaben für die Mitgliedstaaten der Währungsunion, die Einschränkung ihrer Autonomie, die Stärkung der Rechte der europäischen Institutionen und die Einführung von Strafen sind Regeländerungen, die Europa nicht nach vorne bringen, sondern zurückwerfen und die Demokratie gefährenden (vgl. Streeck 2013, S. 147-159). Die von dem Druck der Kapitalmärkte getriebenen Reformen gingen in die falsche Richtung. Die gemeinsame Währung sei unvereinbar mit diesem Ziel (vgl. Scharpf 2013). Die Kritik an der Währungsunion aus liberaler ökonomischer Perspektive: Viele Ökonomen hielten die Einführung einer Währungsunion für falsch, da sie zentrale wirtschaftliche Anpassungsmechanismen außer Kraft setzt. Der Ersatz der von den Märkten erzwungenen Disziplin durch politische Mechanismen sei unrealistisch und nicht nachhaltig (vgl. Krugman 2013). Aus der Sicht der Befürworter einer Beendigung der Währungskooperation in der jetzigen Form könnten die Staaten unter diesen Umständen schneller ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen (vgl. Scharpf 2013). Die Auflösung der Währungsunion könnte auf verschiedenen Wegen erfolgen: Ein oder einige wenige Staaten treten aus der Euro-Währungszone aus; das Euro-Währungsgebiet wird in zwei oder wenige Währungsgebiete mit jeweils gemeinsamen Währungen aufgeteilt; oder es erfolgt eine Rückkehr zu nationalen Währungen, eventuell in Verbindung mit der Einführung von Parallelwährungen. Kurzfristig wäre diese Lösung mit beträchtlichen Kosten verbunden, sowohl auf der Gläubigerseite als auch auf der Schuldnerseite. Banken müssten mit hohen Verlusten umgehen, Staatsdefizite würden ansteigen, die Anpassung der Wechselkurse würde eine erhebliche Reallokation von Kapital bedingen. Die Schuldnerstaaten wären für einige Zeit von dem internationalen Kapitalmarkt abgeschnitten, die makroökonomische Krise würde sich kurzfristig verschärfen. Allerdings sehen die Befürworter dieser Lösung langfristig Vorteile, welche die Nachteile überwiegen: Selbstverantwortliches Handeln, Haushaltsdisziplin, <?page no="269"?> 270 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration Entlastung der EU-Strukturen von „Überwachung“ und „Kontrolle“ anderer Staaten sind hier zu nennen. Befürworter sehen damit auch einen Gewinn für die Demokratien in diesen Ländern, die gegenwärtig nicht wirklich selbst entscheiden können, sondern andernorts erdachten Politikempfehlungen folgen müssen. Damit könne auch wieder die Akzeptanz für Europa steigen, die in der Krise schwer gelitten habe. An der Notwendigkeit, in den Staaten eine solide nachhaltige Wirtschaftspolitik zu verfolgen, führt aber dieser Weg nicht vorbei: Die Hebung des Lebensstandards ist, will ein Land nicht dauerhaft Empfänger von Hilfsleistungen anderer Länder sein, Ergebnis der Produktivität der Produktionsfaktoren in dem Land. 11.5 Schlussbemerkung Die Krise hat die Union an die Grenze ihrer Belastbarkeit geführt, sowohl ökonomisch als auch politisch. Die Einführung des Euros hat die Länder nicht wie gewünscht näher aneinandergeführt, sondern eher Gräben aufgeworfen. Die Einführung des Euros hat eine „Verantwortungsgemeinschaft“ geschaffen, die in ihrer Dimension erst in der Krise erkannt wurde: Politische Unsicherheiten in einem hoch verschuldeten Land können die Währung aller Mitgliedstaaten der Union gefährden und werden somit zur gemeinsamen Angelegenheit. Diese Gefährdung gilt selbst dann, wenn der Beitrag zur Gesamtwirtschaft in Europa gering ist, wie dies im Fall Griechenlands oder Zyperns deutlich wurde. Angesichts der Vielfalt von Faktoren und Akteuren, die den weiteren Weg in der Eurokrise bestimmen, ist die Abbildung der möglichen Entwicklungspfade durch Szenarien hilfreich. Drei Szenarien können den weiteren Weg beschreiben: Szenario „Europa gelingt kein Durchbruch, aber verhindert den Zerfall - Muddling through“: Die Europäische Union begegnet den Herausforderungen mit kurzfristigen Lösungen für die jeweils auftauchenden Probleme. Die Krise absorbiert alle Kräfte, die Union schafft es nicht, sich mit anderen drängenden Zukunftsaufgaben zu befassen. Es gelingt den Krisenländern nicht, auf einen Wachstumspfad zurückzufinden. Europa könnte ähnlich wie Japan in den Jahren nach dem Zusammenbruch des dortigen Immobilienbooms in eine vergleichbare deflationäre Phase mit niedrigem Wachstum eintreten (vgl. Marsh 2013). Szenario „Europa wächst aus der Krise“: Dies ist das Wunschszenario der Union. Europa gelingt es, vor dem Hintergrund der konsequenten Umsetzung der begonnenen Reformen in den Mitgliedstaaten, der Verbesserung der Governance-Struktur der Union und einer weltweit anziehenden Konjunktur die <?page no="270"?> Schlussbemerkung 271 www.uvk-lucius.de/ integration Probleme in den meisten Krisenländern in den Griff zu bekommen. Die Krisenstaaten führen ihre Verschuldung zurück und betreiben zukünftig eine Wirtschaftspolitik, die makroökonomische Ungleichgewichte verhindert und asymmetrischen Schocks durch frühzeitiges Gegensteuern begegnet. Die Union entwickelt ihre Koordinierungsmechanismen weiter und handelt zukünftig proaktiv. Dieses Szenario ist voraussetzungsreich, diverse Bedingungen müssen erfüllt sein. Allerdings hat Europa in der Vergangenheit mehrere Krisen bewältigt und ist danach gestärkt aus diesen hervorgegangen. Die Entscheidung Irlands und Spaniens Ende 2013, keine Mittel mehr aus den EU-Rettungsfonds in Anspruch zu nehmen, und deren Fähigkeit, wieder eigenständig am Kapitalmarkt Anleihen mit moderaten Risikoprämien platzieren zu können, deutet darauf hin, dass in einigen Bereichen deutliche Fortschritte erzielt wurden. Strukturreformen wurden ergriffen, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2013a), die Finanzmarktreformen greifen, der Anstieg der Staatsverschuldung ist gebremst. Szenario „Die Europäische Währungsunion zerfällt“: Die Zentrifugalkräfte der Krise führen nach dem Ausscheiden eines Staates aus der Währungsunion zu gewaltigen Spekulationen gegen die in der Währungsunion verbleibenden Staaten, die Währungsunion zerbricht. Die Verluste aus den dann uneinbringlichen Krediten und Anleihen sind erheblich und reduzieren den Lebensstandard der Menschen in den Gläubigerländern drastisch. Auch in den Krisenländern käme es kurzfristig zu einem weiteren Einbruch der wirtschaftlichen Aktivität. Die resultierenden Aufbzw. Abwertungen verursachen schwere wirtschaftliche Anpassungsprobleme in Überschuss- und Defizitländern. Die Länder der Union sind auf viele Jahre in einem Teufelskreis niedriger oder gar negativer Wachstumsraten gefangen. Die Eurokrise hat zahlreiche Schwächen in der Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion aufgezeigt. Die Schärfe der Krise hat viele Reformen ermöglicht, die, so die Hoffnung der Verantwortlichen, langfristig die Krisenfestigkeit der Eurozone stärken werden. Die Eurokrise hat einen Modernisierungsschub ausgelöst. Der Prozess der Erarbeitung von Lösungsansätzen, die Konzipierung, Verabschiedung und Implementierung von Maßnahmen war schwierig, in der Öffentlichkeit häufig kaum nachvollziehbar. Die Dynamik der Krise und die Konstruktionseigenschaften der Währungsunion erzeugten Situationen, welche die Politik zu Handlungen veranlasste, die sie als „alternativlos“ ansah. Für das Selbstverständnis der Europäischen Union auch als demokratische Gemeinschaft war die wiederholte Nichtberücksichtigung partizipativer Strukturen belastend und ist langfristig nach Meinung vieler geeignet, die Stabilität der Wertegemeinschaft zu gefährden. Die Staats- und Regierungschefs sind daher <?page no="271"?> 272 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen www.uvk-lucius.de/ integration gewillt, die Wirtschafts- und Währungsunion weiter zu reformieren, um die Krisenfestigkeit der Union zu verbessern. 11.6 Wichtige Begriffe Rating Wettbewerbsfähigkeit Bankenkrise Verschuldungskrise makroökonomische Krise Fiskaltransfer Reformpolitik OMT ESM Euro-Bonds Schuldenschnitt 11.7 Literatur Blanchard, Olivier/ Illig, Gerhard (2014): Makroökonomie, 6. Auflage, München, Pearson Bundesministerium der Finanzen (2012): „Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM)“, in: Monatsbericht des BMF April 2012, S. 31-36 Bundesministerium der Finanzen (2013a): „Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Haushaltslage in den Ländern des Euroraums“, in: Monatsbericht des BMF, Dezember 2013, S. 6-16 Bundesministerium der Finanzen (2013b): „Basel III - ein Meilenstein im Bankenaufsichtsrecht“, in: Monatsbericht des BMF, Oktober 2013, S. 7-22 Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) (2011): „Eine Insolvenzordnung für den Euroraum“, in: Monatsbericht 02-2011, S. 14-19 Bundesverband Deutscher Banken (2013): „Bankenunion: IWF drängt zur Eile“, in: Bankenbrief - Wichtiges vom Tage, 10. September 2013 Delpla, Jacques und Jakob von Weizsäcker (2011): „Eurobonds - Das Blue Bond- Konzept und seine Implikationen“, in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Perspektive, Juni 2011 Deutsche Bundesbank (2013): Geschäftsbericht 2013, Frankfurt/ Main Deutsche Bundesbank (2014a): „Realwirtschaftliche Anpassungsprozesse und Reformmaßnahmen“, in: Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, Januar 2014, S. 21-40 Deutsche Bundesbank (2014b): „Staatsfinanzen: Konsolidierung nach Vertrauenskrise“, in: Monatsbericht der Deutschen Bundesbank, Januar 2014, S. 41-56 Deutsche Bundesbank (2014c): „Das Schattenbankensystem im Euro-Raum - Darstellung und geldpolitische Implikationen“, in: Monatsbericht der Deuschen Bundesbank, März 2014, S. 15-35 <?page no="272"?> .6 Literatur 273 www.uvk-lucius.de/ integration Europäische Zentralbank (2008): Monatsbericht - 10 Jahre EZB, Frankfurt/ Main Fuchs, Andreas/ Gehring, Kai (2013): The Home Bias in Sovereigns Ratings, University of Heidelberg Discussion Paper Series Griesse, Jörn (2010): „Fact Sheet - Europäische Union“, in: Pohlmann, Christoph/ Reichert, Stephan/ Schillinger, Hubert Rene (Hrsg.): Die G-20: Auf dem Weg zu einer „Weltregierung“? , Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin, S. 30-34 Habermas, Jürgen (2013): „Im Sog der Technokratie - Ein Plädoyer für europäische Solidarität“, in: Habermas, Jürgen (2013): Im Sog der Technokratie, Berlin, S. 82- 111 Holtfrerich, Carl-Ludwig (2014): Special Issue on Government Debt in Democracies: Causes, Effects, and Limits, in: German Economic Review, Vol. 15, Issue 1, Februar 2014 Konrad, Kai A./ Zschäpitz, Holger (2010): Schulden ohne Sühne? Warum der Absturz der Staatsfinanzen uns alle trifft, 2. Auflage, München, Verlag C.H. Beck Krugman, Paul (2011): „Das Ende der Euro-Romantik“, in: Cicero, 3/ 2011, S. 84-91 Krugman, Paul (2012): „Europe’s Austerity Madness“, in: New York Times, 28. September 2012 Krugman, Paul (2013): Years of tragic waste, in: Global edition of New York Times, 7./ 8. September 2013 Kulish, Nicholas (2011): „America and Germany in a battle of Ideas“, in: New York Times/ Süddeutsche Zeitung, 19. September 2011 Marsh, David (2013): Europe’s deadlock - How the Euro Crisis could be solved - and why it won’t happen, Totton OECD (2013): OECD Sovereign Borrowing Outlook 2013, Paris, OECD Publishing Pisani-Ferry/ Sapir, Andre (2009): Weathering the storm. Fair-weather versus stormyweather governance in the euro-area, Bruegel Policy Contributions, Brüssel Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2012): „Der europäische Schuldentilgungspakt - Fragen und Antworten“, Arbeitspapier 01/ 2012, Wiesbaden Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2013): Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik, Jahresgutachten 2013/ 14, Wiesbaden Sarrazin, Thilo (2012): Europa braucht den Euro nicht - Wie uns politisches Wunschdenken in die Krise geführt hat, München, Deutsche Verlags-Anstalt Scharpf, Fritz (2013): „Entmündigung als Lösung? Noch mehr Souveränitätsverzicht kann den Euro auch nicht retten“, in: Internationale Politik und Gesellschaft, Internet: http: / / www.ipg-journal.de/ archiv/ year/ 2013/ 12/ page/ 2/ <?page no="273"?> 274 11 Die Euro-Krise - Ursachen und Herausforderungen Sinn, Hans-Werner (2012): Die Targetfalle - Gefahren für unser Geld und unsere Kinder, Hanser Verlag Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit - Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, 4. Auflage, Berlin, Suhrkamp Wagstyl, Stefan/ Barker, Alex (2014): „Germany pushes eurozone fusion“, in: Financial Times, 28. März 2014 Winkler, Adalbert (2013): „EZB - Krisenpolitik - OMT - Programme, Vollzuteilungspolitik und Lender of Last Resort“, in: Wirtschaftsdienst, Heft 10/ 2013, S. 678-685 Wirtschaftsdienst (2013): Bundesverfassungsgericht und Krisenpolitik der EZB- Stellungnahme der Ökonomen, mit Beiträgen von Kai A. Konrad, Clement Fuest, Harald Uhlig, Marcel Fratzscher, Hans-Werner Sinn, Heft 7/ 2013, S. 431- 454 <?page no="274"?> Teil 6: Ausblick <?page no="276"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration 12 Perspektiven der europäischen Einigung 12.1 Schlaglichter des Einigungsprozesses Die allgemeine politische und wirtschaftliche Entwicklung hat die Entwicklung der Integration geprägt Die Geschichte der europäischen Integration hat gezeigt, dass die Entwicklung der Integration insgesamt und der einzelnen Politikbereiche stets in Verbindung mit den ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu sehen ist. Die wirtschaftlichen Realitäten zu Beginn des Integrationsprozesses haben die Schwerpunkte der Arbeit der Europäischen Gemeinschaft in den ersten Jahrzehnten, die politischen Entwicklungen im Süden Europas haben den Erweiterungsprozess in den 1980er-Jahren, die völlige Veränderung der politischen Landkarte Osteuropas hat die Entwicklung der EU in den letzten 25 Jahren ganz wesentlich bestimmt. Der Pfad der Entwicklung der Union war nicht das Ergebnis einer nüchternen technokratischen Abwägung von Vor- und Nachteilen alternativer Entwicklungsoptionen, welche die Gründerväter der Union im Blick haben konnten, sondern Ergebnis spontaner Kräfte und Entscheidungen, die Geschichte der Union ist ganz wesentlich den Besonderheiten historischer Momente und Trends geschuldet. Auch in Zukunft wird dies so sein. Dies entbindet die Union, die Verantwortlichen in den Mitgliedstaaten, die Wissenschaft und die Zivilgesellschaft nicht von der Pflicht, über Handlungsoptionen nachzudenken, Pläne für die Zukunft der Union zu entwickeln, Europa mit Weitsicht auf die Herausforderungen vorzubereiten. Die konkreten Entwicklungswege werden aber auch in Zukunft ganz wesentlich von schwer vorhersehbaren politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereignissen bestimmt werden. Hier Gewissheiten einzufordern mag populär sein, ist aber nicht realistisch. Implikationen der Erweiterung der Union Sechs Staaten haben die Europäische Gemeinschaft gegründet, im Jahr 2014 hat die Union 28 Mitgliedstaaten. Und weitere Staaten stehen ante portas: Beitrittsgespräche werden mit mehreren Ländern geführt, einige Länder sind Kandidatenländer, anderen Ländern wurden Verhandlungen zugesichert, sobald sie wirtschaftlich und politisch so weit sind. Die Erweiterungsschritte der Vergan- <?page no="277"?> 278 12 Ausblick www.uvk-lucius.de/ integration genheit folgten häufig vor allem der Logik der Stabilisierung junger Demokratien und Volkswirtschaften. Dies ist gelungen und ein Gewinn für Europa. In der Folge sind Meinungsbildungsprozesse in der Union komplexer geworden, die konsensuale Gestaltung einer zukunftsorientierten Politik wird schwieriger, die Vorstellungen von einer zukünftigen Union weichen stärker voneinander ab, als dies in den 1980er- oder 1990er-Jahren der Fall war. Und da notwendige institutionelle Reformen unterblieben sind, sind Mehrheiten für Reformen häufig schwer zu organisieren. Auch mit Blick auf zukünftige Erweiterungen muss die Union daran arbeiten, die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu sichern. Ziele - Die praktische ersetzt die emotionale Perspektive Alle Mitgliedstaaten der Union haben den Vertrag von Lissabon, in dem die Ziele der Integration benannt werden, unterzeichnet. Und doch reflektiert die Debatte über das Handeln der EU auch erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Vorstellungen über die Ziele der Integration. Und diese Unterschiede sind mit der Erweiterung noch gewachsen. Das Ringen um Kompromisse bei Vertragsänderungen, die in vielen Fällen knappen Entscheidungen in Referenden, wenn die Bevölkerung zustimmen musste, signalisiert die beträchtliche Divergenz hinsichtlich der Zielvorstellungen. Historisch war das europäische Projekt ein Friedensprojekt und wurde in den Nachkriegs- und Gründungsjahren der Union von vielen Menschen unterstützt. Der Integrationsprozess wurde von vielen emotional mitgetragen. Heute dominieren für viele Akteure praktische Erwägungen: Der britische Premier meint: „We come to the European Union with a frame of mind that is more practical than emotional.“ (Cameron 2013) Für einige Akteure stehen wirtschaftliche Ziele im Vordergrund Trotz der gemeinsam verabschiedeten und vertraglich verabredeten umfassenden Ziele der Union sehen viele Politiker und Bürger das eigentliche Ziel der Zusammenarbeit im Wesentlichen in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, in der Vollendung des Binnenmarktes und in der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit Europas. Für viele Europäer ist die Union jedoch auch die Institution, welche Europa eine Stimme in der Welt gibt, welche die Außenpolitik bündelt, der Klimapolitik die entscheidende Kraft gibt. Die Union ist aus dieser Sicht auch jenes institutionelle Gefüge, welches Demokratie und Menschenrechte für die Bürger Europas sichern kann. <?page no="278"?> Schlaglichter des Einigungsprozesses 279 www.uvk-lucius.de/ integration Verschiedene Wege zur Integration - intergouvernemental oder föderal Es gibt zwei idealtypische Wege zur Integration Europas: das föderale Europa oder das intergouvernementale Europa. In der deutschen öffentlichen Debatte dominiert häufig das Bild, Integration bedeute zwangsläufig Abgabe an Kompetenzen an die supranationale Ebene und die Stärkung der föderalen Ordnung. In der Gruppe der Integrationsbefürworter gibt es aber ebenfalls zahlreiche Stimmen, welche die europäische Zusammenarbeit eher intergouvernemental regeln wollen: Die Staaten sollen nicht Weisungen von der Kommission erhalten dürfen, sondern von Fall zu Fall einstimmig entscheiden können, ob sie gemeinsam vorangehen wollen. Aus dieser Sicht ist die Kritik an der Macht der Kommission, an den Entscheidungen des Europäischen Parlamentes, an Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes und an Mehrheitsentscheidungen des Europäischen Rates konsequent, die im Vertrag von Lissabon vereinbarte Abgabe von Souveränitätsrechten ist problematisch und korrekturbedürftig. Nicht das Europäische Parlament oder die Kommission sollen im Zentrum der Integrationsprozesse stehen, sondern die nationalen Parlamente und Regierungen. Einer der tieferliegenden Gründe für die Kritik an europäischen Institutionen ist mithin die Uneinigkeit über das „Wie“ der Integration, die mit der wachsenden Zahl der Mitglieder der Europäischen Union und der Unterschiedlichkeit der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Perspektiven zugenommen hat. Faktisch hat die Union sowohl föderale als auch intergouvernementale Elemente. Es muss immer wieder neu definiert werden, wie konkret die Integration ausgestaltet werden soll (vgl. Schäuble 2011). Institutionelle Reformen finden ständig statt Alle zentralen Organe und Institutionen der Union haben im Verlaufe ihrer Existenz erhebliche Veränderungen erlebt. Ihre Arbeits- und Funktionsweise wurde in den großen Vertragsreformen immer wieder angepasst. Sie wurden auch von Personen geprägt, denen es gelang, den Spielraum, den ein unfertiges politisches Projekt den Gestaltern lässt, zu nutzen. Auch in Zukunft werden die Institutionen der Union dem Wandel unterliegen. Die Union ist gefordert, jede einzelne Institution sowie das Gesamtgefüge den Erfordernissen der Zeit anzupassen, und dabei die Handlungsstärke der einzelnen Institutionen und der Union als Ganzes im Blick zu behalten. Die Vorstellungen von der Weiterentwicklung unterscheiden sich erheblich und werden von dem Demokratieverständnis, von nationalen Rechtstraditionen, von den Erfahrungen mit der Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen, von dem Vertrauen in die Verantwortung der politischen Elite geprägt. Kleine Länder blicken anders auf Europa als große Länder, Menschen in wohl etablierten Demokratien sehen Europa anders als Menschen in jungen fragilen Staatswesen. <?page no="279"?> 280 12 Ausblick www.uvk-lucius.de/ integration Die Zufriedenheit mit der europäischen Demokratie als Herausforderung für die Union Repräsentative Befragungen zur Zufriedenheit mit der Funktionsweise der europäischen Demokratie im Jahr 2013 haben deutliche Unterschiede in der Wahrnehmung der Demokratie in Europa offengelegt: In Polen, Dänemark, Belgien und Luxemburg lag die Zufriedenheit mit der Funktionsweise der europäischen Demokratie bei über 60%, in Spanien, Portugal, Zypern und Griechenland lag sie unter 30% (vgl. Europäische Kommission 2013). Abb. 12-1: Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie in der Europäischen Union. Quelle: Europäische Kommission 2013, S. 59 Aufschlussreich ist auch der Vergleich mit dem Vertrauen in nationale Regierungen. Nur in Deutschland, Finnland, Großbritannien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich und Schweden genießt die nationale Regierung höheres Vertrauen als die EU. Vergleicht man, welches Vertrauen die verschiedenen europäischen Institutionen in der Bevölkerung genießen, so war dies in den Europäischen Gerichtshof am größten: 49% der Befragten gaben an, diesem „eher zu vertrauen“. Für das Europäische Parlament lag der Wert bei 44%, für die Kommission bei 40% und für den Rat der Europäischen Union bei 36% (vgl. Europäische Kommission 2012, S. 80). In diesem Kontext ganz unterschiedlicher Wahrnehmungen und Perspektiven überzeugende und konsensfähige Vorschläge für eine Reform der institutionellen Struktur zu machen, ist einerseits eine große Herausforderung. Viele Ideen für die Weiterentwicklung der Union wurden vorgestellt, von der Einführung direkter Demokratieelemente und der Direktwahl der zentralen Repräsentanten bis zur Einführung neuer Institutionen. Der Wunsch der Bevölkerung nach effektiven Strukturen und ständigen Verbesserungen ist wichtig und erscheint 0 50 100 Pl Dk Be Lu Lv Mt Bg Lt EE Hu Fi Ro NL De Cz Se Ie At Fr Sk Si EU27 It Uk Es Cy El Pt Und wie ist es mit der Art und Weise, wie die Demokratie in der Europäischen Union funktioniert? zufrieden <?page no="280"?> Schlaglichter des Einigungsprozesses 281 www.uvk-lucius.de/ integration angesichts vieler Schwächen und Probleme sinnvoll. Andererseits mag auch der mahnende Aufruf, bei aller Kritik doch auch die Erfolge der bisherigen europäischen Integration nicht zu vergessen, seinen Platz haben (vgl. Sandschneider 2011). Wichtige wirtschaftliche Politikfelder der Zukunft Jedes einzelne Politikfeld der Union stellt die Gemeinschaft auch zukünftig vor große Herausforderungen. Die Wirtschafts- und Währungspolitik fordet die Union gegenwärtig in besonderer Weise (vgl. Marsh 2013, Pilz 2013). Der Währungsunion ist der Zwang zur Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung systemimmanent. Die Eurokrise hat die Verwundbarkeit bei Missachtung dieser Logik gezeigt. Dies kann nur bedeuten, dass die Union die Mechanismen der Abstimmung, die in der Eurokrise erarbeitet wurden, weiter verfeinert und stärkt. Die Eurokrise, welche die Union an die Grenze ihrer Möglichkeiten geführt und viel Vertrauen in das europäische Projekt zerstört hat, hat das Potential, den Integrationsprozess dauerhaft und schwer zu schädigen. Sie bedeutet aber gleichzeitig eine Chance, die Modernisierung der Staaten und der Union voranzubringen. Europas Sozialmodell darf kein Nebenaspekt bleiben Die Angleichung der Lebensverhältnisse bleibt eine Sorge für die Bürger Europas. In der Kohäsionspolitik wird dies vor allem im Sinne regionaler Unterschiede interpretiert. Die Disparität manifestiert sich aber auch innerhalb der Gesellschaften in wachsender Einkommens- und Vermögensungleichheit, in den unterschiedlichen Chancen, die den Einzelnen gewährt werden. In der Union muss die soziale Durchlässigkeit Teil der sozialen und wirtschaftlichen Realität sein. Die soziale Dimension der europäischen Marktwirtschaft wird für die Zukunft der Union eine wichtige Rolle spielen (vgl. Giddens 2007, S. 230). Das Subsidiaritätsprinzip muss beachtet werden Das Subsidiaritätsgebot findet sich an prominenter Stelle im Lissabon-Vertrag. Europa muss nicht alles machen, Europa darf nicht alles machen. Jenseits wichtiger abstrakter Argumente für bessere Lösungen auf der höheren oder der niedrigeren Ebene oder der Existenz externer Effekte müssen Menschen das Gefühl bewahren, ihr Schicksal selbst gestalten zu können (vgl. Schmidt 2000, S. 143-144). Das Wort der „Alternativlosigkeit“ mag in bestimmten Zeiten und Kontexten Geltung haben. Je häufiger Bürger damit konfrontiert werden, desto mehr verabschieden sich die europäischen Bürger von dem europäischen Projekt, welches aber der Unterstützung durch den Demos bedarf. <?page no="281"?> 282 12 Ausblick www.uvk-lucius.de/ integration Nicht nur die Ökonomie zählt Die EU sieht sich zentralen ökonomischen Herausforderungen gegenüber. Diese sind zweifellos wichtig für die Zukunft Europas. Sie sind aber immer nur ein Ausschnitt der gesellschaftlichen Realität: Europa ist auch ein gemeinsamer kultureller Raum, Europa versteht sich als Ort demokratischer Teilhabe, Europa will ein Bündnis der Solidarität und sozialer Gerechtigkeit sein, Europa hat auch weltpolitisches Gewicht, welches die EU einbringen möchte (vgl. Beck 2013). Die Lektüre der Präambel des Lissabon-Vertrages bietet Anlass, über das Selbstverständnis und die Identität Europas nachzudenken. Die heutige Europäische Union, entstanden als Ergebnis historischer Prozesse und unzähliger Kompromisse, ist ein einzigartiges institutionelles Gebilde, welches nun in den Händen der Politik und Zivilgesellschaft genutzt werden kann, um den Herausforderungen der Zeit zu begegnen. Die Union ist nicht fertig, sie ist ständig im Werden, vermutlich wird man nie von dem finalen Ergebnis der Einigung sprechen können. Die politischen Handlungskapazitäten müssen häufig den realen Herausforderungen nachwachsen (vgl. Habermas 2011, S. 104). Dazu bedarf es der steten Offenheit für neue Lösungen, der Reflexion geeigneter Wege, der offenen gesellschaftlichen Debatte. Vorschläge für weitere institutionelle Reformen und für neue Wege sind ebenso wie skeptische Einwände oder Kritik an bestehenden oder empfohlenen Lösungen im Sinne der Suche nach besten Lösungen positiv zu sehen. Die Veränderung Europas wird auch zukünftig das Ergebnis vieler kleiner Schritte sein. 12.2 Wichtige Begriffe Institutionelle Reformen Zufriedenheit mit europäischer Demokratie Subsidiaritätsprinzip 12.3 Literatur Beck, Ulrich (2012): Deutsches Europa, Berlin, Suhrkamp Cameron, David (2013): Rede zu europäischen Fragen, Internet: http: / / www. telegraph.co.uk/ news/ newsvideo/ uk-politics-video/ 9820375/ David-Camerons- Europe-speech-in-full.html Europäische Kommission (2012): Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Standard-Eurobarometer 78, Herbst 2012, Internet: http: / / ec.europa.eu/ public_opinion/ archives/ eb/ eb78/ eb78_en.htm <?page no="282"?> Literatur 283 Europäische Kommission (2013): Die öffentliche Meinung in der Europäischen Union, Standard-Eurobarometer 79, Frühjahr 2013 http: / / ec.europa.eu/ public_ opinion/ index_en.htm Giddens, Anthony (2007): Europe in the Global Age, Cambridge, Polity Habermas, Jürgen (2011): Zur Verfassung Europas - Ein Essay, Berlin, edition suhrkamp Marsh, David (2013): Europe’s Deadlock - How the Euro Crisis could be solved - and why it won’t happen, New Haven/ London, Yale University Press Pilz, Gerald (2013): Europa im Würgegriff, Konstanz/ München, UVK Sandschneider, Eberhard (2011): Der erfolgreiche Abstieg Europas - Heute Macht abgeben, um morgen zu gewinnen, München, Carl Hanser Verlag Schäuble, Wolfgang (2011): „Für eine bessere Verfassung Europas“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. Januar 2011 Schmidt, Helmut (2000): Die Selbstbehauptung Europas - Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Stuttgart/ München, Deutsche Verlags-Anstalt <?page no="284"?> wwww.uvk-lucius.de/ integration Sachregister Abkommen mit Partnerländern 156 Absprachen 132 Acquis communautaire 53 approach, more economic - 127 Ausschuss der Regionen 70 Außenhandel 148 Außenwert des Euros 224 Austeritätspolitik 256 Auswirkungsprinzip 141 Bankenkrise 252 Beihilfekontrolle 139 Beihilfen, staatliche 127 Berufsqualifikationen 111 Beschlüsse 53 Besteuerung von Zinseinkünften 116 Bestimmungslandprinzip 105 Bewirtschaftung, nachhaltige 178 Binnenmarktanzeiger 117 Binnenmarktpolitik 116 Bipolarität 24 Branchenkonzentration, Messung der - 134 Bürokratiekosten 100 Cecchini-Report 96 Chicago School 125 Churchill, Winston 25 Clusterbildung 190 Containment-Politik 26 Defizit, strukturelles 237 Dienstleistungsrichtlinie 109 Disparitäten, regionale 183 Dispute Settlement Body 155 Doha-Runde 159 Effekte, dynamische 100 Effekte, statische 98 Effekte, Wohlfahrts- 98 EFTA 32 EGKS 27 Eigenmittel, Mehrwertsteuer- 79 Eigenmittel, traditionelle 79 Einkommensunterschiede 186 Einlagensicherungssystem 263 Einstimmigkeit 62 Empfehlungen 53 Entwicklung, räumliche 178 Entwicklungsländer 157 Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft 44 Euro, Außenwert des - 224 Euro-Bonds 265 <?page no="285"?> 286 Sachregister www.uvk-lucius.de/ integration Europa à la carte 36, 112 Europa der zwei Geschwindigkeiten 35, 111 Europäische Föderation 24 Europäische Kommission 64, 67 Europäische Verfassung 42 Europäische Versammlung 23 Europäische Zentralbank 69, 216 Europäischer Fonds für regionale Entwicklung 196 Europäischer Gerichtshof 67 Europäischer Rat 60 Europäischer Rechnungshof 68 Europäischer Sozialfonds 196 Europäisches Semester 236 Europäisches System der Zentralbanken 216 Europarat 24 Eurosystem 216 EU-Steuer 89 Everything but arms 157 EWR 158 Externalitäten 170 Extra-EU-Handel 149 EZB, Mandat der - 222 Fazilitäten, ständige 218 Finalität Europas 45 Finanzarchitektur 263 Finanzmärkte, Stabilisierung der - 238 Finanzrahmen, mehrjähriger 86 Fonds für regionale Entwicklung, Europäischer 196 Fonds zur gemeinsamen Tilgung 266 Fonds, Europäischer Sozial- 196 Fonds, Kohäsion- 196 Fonds, Stabilitäts- 265 Forward Guidance 229 Freihandelsabkommen 158 Friedensnobelpreis 43 Fusionskontrolle 136 GATS 155 GATT 24, 154 Geldmengensteuerung 226 Geldpolitik, einheitliche 226 Gemeinschaftspräferenz 166 Gerichtshof, Europäischer 67 Handel mit dem Rest der Welt 149 Handelsabkommen EU und USA 159 Handelsentwicklung 152 Handelsliberalisierung 154 Handelspartner, wichtigtse 151 Handelspolitik 145, 153 Handelsschaffung 98 Handelsumlenkung 98 Handelsvorteile 145 Haushalt 73 Haushaltskorrekturmechanismus 80 Haushaltsplanung 73 <?page no="286"?> Sachregister 287 www.uvk-lucius.de/ integration Haushaltspolitik 237 Haushaltssalden 84 Herausforderung, ethische 157 Hohe Behörde 27 Inflation 266 Insolvenzordnung 266 Integration, Stufen der - 97 Integrationsschritte 96 Interessengruppen 70 intergouvernemental 29 Interventionspreis 173 Intra-EU-Handel 149 Kapitalverkehrsfreiheit 113 Kartellstrafen 132 Klimamaßnahmen 178 Kohäsionsfonds 196 Kommission, Europäische 64, 67 komparative Kostenvorteile 147 Konkurrenz, vollständige 124 Konvergenz der Wirtschaftspolitik 233 Konvergenzkonzepte 186 Konzentrationsrate 134 Koordination der Wirtschaftspolitik 233 Kopenhagen-Kriterien 40 Kostenvorteile, komparative 147 Kronzeugenregelung 133 Leistungsbilanz 151 Leitbilder der Wettbewerbspolitik 124 lender of last resort 230 Lissabon-Vertrag 53 Maastricht-Vertrag 52 makroökonomische Krise 254 Mandat der EZB 222 Marktbeherrschung 134, 135 Marktstabilisierung 169 Marktwirtschaft, Spielarten der - 37 Mehrebenenpolitik 192 Mehrheitsentscheidung 62 Migration 112 Mindestpreis 173 Mindestreserven 218 Monnet, Jean 25 Monopol 122 more economic approach 127 Nachbarstaaten 158 NAFTA 151 Nettokreditaufnahme 211 Nettoposition 83 Neue Wirtschaftsgeografie 191 no-bail-out-Regel 235 Offenmarktgeschäfte 218 öffentliche Finanzen, Tragfähigkeit der - - 242 OMT-Programm 229, 264 Opportunitätskosten 146 <?page no="287"?> 288 Sachregister www.uvk-lucius.de/ integration Ordnungspolitik 189 Parlament 57 Phillipskurve 208 Präferenzabkommen 158 Preisstabilität 217 Primärrecht 51 Produktivitätssteigerungen 168 Rat der Europäischen Union 61 Rat der Europäischen Zentralbank 216 Rat, Europäischer 60 Rating von Staatsanleihen 246 Rechnungshof, Europäischer 68 Regionalpolitik 193 Revealed Comparative Advantage- Ansatz 152 Ricardo-Theorem 146 Richtlinie 53 Schengen-Abkommen 35, 111 Schock, makroökonomischer 212 Schuldenschnitt 265 Schuman, Robert 27 Sekundärrecht 75 Semester, Europäisches 236 Sicherheiten, notenbankfähige 228 Skalenerträge 100 Sozialkapital 191 Staatsanleihen, Rating von - 246 Staatsverschuldungskrise 253 Stabilisierung der Finanzmärkte 238 Stabilitäts- und Wachstumspakt 235 Stabilitätsfonds 265 Stellung, beherrschende 135 Stellungnahmen 53 Streitschlichtungsverfahren 155 Stufen der Integration 97 Subsidiarität 55 Szenarien 270, 271 Teller-oder-Tank-Dilemma 169 Tenderverfahren 220 Theorie optimaler Währungsräume 212 Trade-off-Modell 137 Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen 242 Transparenz 78, 229 Trilemma des Wechselkursregimes 210 TRIPS 155 Truman-Doktrin 24 Überproduktion 176 Ungleichgewichte, haushaltspolitische 238 Ursprungslandprinzip 105 Vereinigte Staaten von Europa 25 Vermögensabgabe 266 Verordnung 53 Vertrag von Amsterdam 52 <?page no="288"?> Sachregister 289 Vertrag von Lissabon 53 Vertrag, Maastricht- 52 Vertrag von Nizza 52 Vier Freiheiten 103 Völkerverständigung 22 Wachstumstheorie 258 Währungsräume, Theorie optimaler - 212 Wechselkurse, feste 207 Wechselkurse, flexible 204, 207 Wechselkursmechanismus 210 Wechselkursregime, Trilemma des - 210 Welthandelsorganisation 155 Werner-Plan 207 Wettbewerb, funktionsfähiger 125 Wettbewerbsbeschränkungen 130 Wettbewerbsneutralität 140 Wettbewerbspolitik, Leitbilder 124 Wirtschafts- und Sozialausschuss 70 Wirtschaftsgeografie, Neue 191 Wirtschaftspolitik, Konvergenz der - 233 Wirtschaftspolitik, Koordination der - 233 Wohlfahrtseffekte 98 WTO 154 X-Ineffizienz 101 Zahlungsbilanz 151 Zentralbank, Europäische 69, 216 Zentralbank, Rat der Europäischen - 216 Zentralbank, Unabhängigkeit der - 217 Zentralbanken, Europäisches System der - 216 Zollunion 98 Zusammenarbeit, territoriale 197 Zuständigkeit, ausschließliche 54 <?page no="289"?> 120 Lernkarten vollgepackt mit Prüfungswissen. 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ISBN 978-3-8252-3792-9 € (D) 12,99 / € (A) 13,40 freier Preis SFr 19,50 Harald Hagemann Die größten Ökonomen: Joseph A. Schumpeter 2012, 140 Seiten, br. ISBN 978-3-8252-3795-0 € (D) 12,99 / € (A) 13,40 freier Preis SFr 19,50 www.die-groessten-oekonomen.de <?page no="291"?> www.uvk-lucius.de Grundlagen mit Aufgaben Sinkende Geburtenrate, steigende Lebenserwartung und eine wachsende Zuwanderung: All das hat großen Einfluss auf die Wirtschaftsstatistik. Dieses Lehrbuch behandelt daher systematisch bevölkerungsstatistische Methoden, um anschließend die Wirtschaftsstatistik zu vermitteln. Der Stoff wird durch statistisches Datenmaterial zu Deutschland und durch zahlreiche Beispiele illustriert. Am Ende jeden Kapitels finden sich Aufgaben, die das Verständnis vertiefen. 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